Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und fange dabei mit den
Schriftführerinnen an.
({0})
Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,
gibt es eine Reihe von Geburtstagen zu würdigen. Heute
begeht die Kollegin Dr. Rosemarie Hein ihren 60. Geburtstag, zu dem ich ihr ganz herzlich gratulieren
möchte.
({1})
Das krönt gewissermaßen die Reihe der Geburtstage, die
in der Weihnachtspause und unmittelbar danach stattgefunden haben: am 20. Dezember die Kollegin Marlene
Rupprecht, am selben Tag die Kollegin Lena
Strothmann und am 29. Dezember die Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl. Sie alle haben ihren 60. oder 65. Geburtstag gefeiert. Wer dies ganz präzise haben möchte, den
verweise ich auf den Kürschner, in dem Sie all die Informationen finden, wenn Sie diese nicht ohnehin im Kopf
haben.
({2})
- Ich bin noch nicht durch. - Am 31. Dezember hat der
Kollege Klaus Hagemann seinen 65. Geburtstag gefeiert, am 6. Januar der Staatsminister Bernd Neumann
seinen 71., am 7. Januar der Kollege Bernd Scheelen
seinen 65., am 12. Januar der Kollege Friedrich
Ostendorff seinen 60., am 13. Januar der Kollege
Norbert Geis seinen 74. und gestern der Kollege
Gregor Gysi seinen 65. Geburtstag.
({3})
Ihnen allen einzeln und gemeinsam alle denkbar guten
Wünsche für das neue Lebensjahr. Wir freuen uns auf
eine weitere gute, bewährte und hinreichend eingeübte
Zusammenarbeit.
({4})
Der Kollege Fritz Kuhn hat, wie den meisten von Ihnen aufgefallen sein wird, eine neue Aufgabe übernommen
({5})
und deswegen mit Wirkung vom 7. Januar 2013 auf
seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet.
({6})
Ich habe mir fast gedacht, dass die Begeisterung über die
beiden Hälften dieser Mitteilung unterschiedlich ausfällt.
({7})
Für ihn ist die Kollegin Susanne Kieckbusch nachgerückt, die ich herzlich begrüße.
({8})
Auch der Kollege Christian Ahrendt, der zum Bundesrechnungshof gewechselt ist, hat mit Wirkung vom 8. Januar 2013 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. An seiner Stelle begrüße ich als neuen
Kollegen Hagen Reinhold in der FDP-Fraktion.
({9})
Ihnen beiden ein herzliches Willkommen und gute Zusammenarbeit.
Schließlich möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt,
den Tagesordnungspunkt 24 abzusetzen. Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entsprechend vor.
Außerdem soll die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden:
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Steuerbeschlüsse der SPD sowie Steuererhöhungspläne des SPD-Kanzlerkandidaten und
ihre Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5
Nummer 1 Buchstabe b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Frage 8 auf Drucksache 17/12041
({10})
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Schärfere und effektivere Regulierung der Fi-
nanzmärkte fortsetzen
- Drucksache 17/12060 -
ZP 4 Beschlussempfehlungen des Vermittlungsaus-
schusses
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({11}) zu dem Gesetz zu dem Ab-
kommen vom 21. September 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zu-
sammenarbeit in den Bereichen Steuern und
Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012
- Drucksachen 17/10059, 17/11093, 17/11096,
17/11635, 17/11693, 17/11840 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({12}) zu dem Gesetz zur Änderung
und Vereinfachung der Unternehmensbesteue-
rung und des steuerlichen Reisekostenrechts
- Drucksachen 17/10774, 17/11180, 17/11189,
17/11217, 17/11634, 17/11694, 17/11841 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({13}) zu dem Gesetz zum Abbau
der kalten Progression
- Drucksachen 17/8683, 17/9201, 17/9202,
17/9644, 17/9672, 17/11842 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({14}) zu dem Gesetz zur steuerlichen
Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden
- Drucksachen 17/6074, 17/6251, 17/6358,
17/6360, 17/6584, 17/7544, 17/11843 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({15})
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({16}) zu dem Jahressteuergesetz
- Drucksachen 17/10000, 17/10604, 17/11190,
17/11191, 17/11220, 17/11633, 17/11692,
17/11844 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann
ZP 5 Vereinbarte Debatte
zu steuerpolitischen Beschlüssen
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan
Schwartze, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mit einer eigenständigen Jugendpolitik Freiräume schaffen, Chancen eröffnen, Rückhalt
geben
- Drucksache 17/12063 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({17})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({18}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Opfer des Brustimplantate-Skandals unterstützen - Keine Kostenbeteiligung bei medizinischer Notwendigkeit
- Drucksachen 17/8581, 17/12092 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer
Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Schließlich darf ich noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam machen:
Der am 29. November 2012 ({19}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Kultur und Medien ({20}) zur
Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten
und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts
- Drucksache 17/11468 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ich frage Sie, ob Sie mit all diesen Vereinbarungen
einverstanden sind. - Das ist offenkundig der Fall. Dann
haben wir eine einvernehmliche Tagesordnung.
Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe,
darf ich Sie über eine weitere Veränderung in Kenntnis
setzen. Mit Beginn des Jahres hat Herr Dr. Risse die
Position des Direktors beim Deutschen Bundestag eingenommen.
({22})
Den meisten wird er hinreichend bekannt sein; aber wir
begrüßen ihn heute das erste Mal in dieser neuen Auf-
gabe und freuen uns auf die Zusammenarbeit.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Jahreswirtschaftsbericht 2013 - Wettbewerbs-
fähigkeit - Schlüssel für Wachstum und Be-
schäftigung in Deutschland und Europa
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2013 der Bundesregierung
- Drucksache 17/12070 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({23})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2012/13 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 17/11440 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({24})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Debattenzeit von 90 Minuten vorgesehen. - Auch
dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so
verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Philipp Rösler.
({25})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Schauen wir uns die
Zahlen des Jahreswirtschaftsberichts doch einfach einmal an:
({0})
0,7 Prozent Wachstum waren im letzten Jahr zu verzeichnen, und das, obwohl die Wirtschaft im übrigen
Teil der Euro-Zone seit mehr als vier Quartalen
schrumpft.
({1})
Wir liegen damit bei den Wachstumswerten europaweit
an der Spitze.
({2})
In der Folge gibt es mehr Chancen für mehr Menschen,
Rekordbeschäftigung, höhere Einkommen, niedrigere
Schulden.
({3})
Ich sage Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Es ist kein Zufall, dass Deutschland europaweit am
besten durch die Krise gekommen ist. Es ist kein Zufall,
dass wir wirtschaftlich gut dastehen. Es ist auch kein Zu26748
fall, dass jeden Tag neue Arbeits- und Ausbildungsplätze
geschaffen werden. Das ist ein Verdienst der Menschen
in unserem Lande, aber es ist auch ein Verdienst der
Politik dieser Regierungskoalition aus CDU, CSU und
FDP.
({4})
Während die Opposition ihre eigenen Leute und ihre
eigenen Mitarbeiter mit Hausbesuchen beglückt, arbeiten Union und FDP weiter an der nächsten Etappe dieser
deutschen Erfolgsgeschichte:
({5})
für die Unternehmen, auf dem Arbeitsmarkt, für die öffentlichen und für die privaten Haushalte. Ich sage Ihnen: Die deutsche Wirtschaft hat alle Chancen. Für das
Jahr 2013 erwarten wir ein Wachstum von 0,4 Prozent.
({6})
Diese technische Zahl darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir für das Jahr 2013 natürlich ein starkes
Wachstum und für das Jahr 2014 mit 1,6 Prozent ein
noch viel stärkeres Wachstum erwarten. Auch in diesem
und in den nächsten Jahren bleibt Deutschland der Stabilitätsanker in Europa und der Wachstumsmotor in Europa und für Europa, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({7})
Warum haben wir reduzierte Wachstumszahlen? Der
Grund dafür liegt allein in der Wachstumsdelle im Winterhalbjahr 2012.
({8})
Diese wiederum hat ihre Ursache zum einen in der weltwirtschaftlichen Lage, zum anderen aber auch in der
Verunsicherung innerhalb der Euro-Zone.
({9})
Insofern ist es richtig, dass wir alles dafür tun, die EuroZone weiter zu stabilisieren.
({10})
Wenn Sie sich die entsprechenden Zahlen und die
Stimmung auch auf den europäischen Märkten ansehen,
dann werden Sie feststellen: Wir sind auf einem ausgesprochen guten Weg. Die Märkte fassen wieder Vertrauen in die Euro-Zone; das sieht man an den niedrigeren Zinsen. Vor allem aber fassen auch die Unternehmen
und die Menschen wieder Vertrauen in unsere gemeinsame Währung. Das ist ein Verdienst unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel, des Finanzministers Wolfgang
Schäuble, aber auch der gesamten Regierungskoalition.
Wir haben Schluss gemacht mit Schulden. Wir haben für
einen neuen Stabilitätspakt, für eine Stabilitätsunion gesorgt.
({11})
Deswegen vertrauen die Menschen unserer gemeinsamen Währung, dem Euro.
Vergessen wir nicht, wie verheerend Ihre Europapolitik war: Sie waren es doch, die den Stabilitätspakt I willentlich aufgelöst haben. Jetzt wollen Sie eine Vergemeinschaftung der Schulden durch Euro-Bonds, und Sie
wollen an die Einlagensicherung der kleinen Sparer in
Deutschland gehen. Wenn wir uns Ihre Europapolitik ansehen, angefangen bei Gerhard Schröder und Joschka
Fischer bis hin zu Ihrer Trümmer-Troika, dann wissen
wir doch eines: Die rot-grüne Europapolitik war auch
das historische Versagen von Rot und Grün in Deutschland und in Europa.
({12})
Wir müssen und wir werden gemeinsam die Währung
stabilisieren, und wir sind dabei auf einem guten Wege.
Wir sind bereit, einen Preis dafür zu zahlen; denn wir
alle kennen den Wert Europas für unser Land.
({13})
Den Preis, den die Sozialdemokraten offensichtlich
gerne zahlen würden, sind wir aber nicht zu zahlen bereit: Das ist der Preis der Geldwertstabilität.
({14})
Eine Schwächung der Währung, Inflation, ein Zusammenbruch der Währung träfe nicht die Reichen und die
Superreichen. Durch eine Inflation oder einen Zusammenbruch der Währung würde die Mitte in unserer Gesellschaft enteignet, diejenigen, die ihr Leben lang hart
gearbeitet und sich für das Alter etwas zur Seite gelegt
haben. Einer solchen Enteignung dürfen wir niemals zustimmen. Deswegen kämpfen wir für die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank.
({15})
Wir kämpfen
({16})
auch für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Die beste Basis für eine starke Wirtschaft
({17})
sind solide Haushalte im Bund und in den Ländern. Deswegen treten wir für eine wachstumsorientierte Konsolidierungspolitik ein. Wir sind dabei sehr erfolgreich.
({18})
Vier Jahre früher, als es die Schuldenregel vorgibt, haben
wir im Rahmen der Schuldenbremse solide Haushalte
auf den Weg gebracht.
({19})
Wir haben gemeinsam vor, für das Jahr 2014 einen
strukturell ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen.
Damit gerät das Ziel, das wir uns vorgenommen haben
- einen ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2016 -, in
greifbare Nähe. Das wäre dann, meine Damen und Herren, der erste ausgeglichene Bundeshaushalt seit mehr
als 50 Jahren. Das zeigt die Solidität, die Stabilität in der
Haushalts- und Finanzpolitik dieser Regierungskoalition.
({20})
Schauen wir uns nun Ihre Politik an: Sie sind gegen
eine Schuldenbremse in den Bundesländern. Das beste
Beispiel ist Niedersachsen, wo die Sozialdemokraten gerade eine entsprechende Verfassungsänderung abgelehnt
haben. In Nordrhein-Westfalen hat Rot-Grün gerade beschlossen, die Schuldenbremse bis zum Jahre 2020 nicht
einhalten zu wollen. Das, meine Damen und Herren, ist
Verfassungsbruch mit Ansage.
({21})
Die Schulden in Deutschland, die Schulden im Bund und
in den Ländern, haben zwei Farben, nämlich Rot und
Grün.
({22})
Sie belasten nicht nur die nachfolgenden Generationen, Sie wollen schon heute den Menschen in die Tasche greifen. Nach dem Steinbrück-Papier, nach den
Steinbrück-Thesen würden, wie im Tagesspiegel zu lesen war, nicht nur Familienunternehmer, sondern auch
Angestellte um bis zu 16 Prozent stärker belastet.
({23})
Wenn man das, was die Grünen vorschlagen, hinzurechnet, erkennt man: Rot und Grün sind gut für 40 Milliarden Euro Mehrbelastung der Menschen. Sie können gar
nicht genug kriegen vom Abkassieren. Das ist Ihre Politik: Entweder Sie machen Schulden, und/oder Sie holen
sich das Geld bei den Menschen. Das Gegenteil ist notwendig: Sie müssen daran arbeiten, die Menschen zu
entlasten.
({24})
Ich sage Ihnen: All das, was Sie sich vorgenommen haben, was Sie sich erträumen für Deutschland, das können
wir in Europa schon heute umgesetzt sehen, sei es die
Einführung einer Vermögensteuer, die Erhöhung der
Erbschaftsteuer oder ein hoher Spitzensteuersatz.
({25})
Es wäre egal, wenn dann einige Schauspieler unser
Land verlassen.
({26})
Aber wenn dank Ihrer Politik mittelständische Unternehmen darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen,
dann müssen wir aufmerksam werden; denn es sind unsere Mittelständler, die neue Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen. Dafür müssen wir gemeinsam kämpfen.
({27})
Anstatt die Menschen zu belasten, wie Sie das gemeinsam vorhaben, wäre es klug, diejenigen zu entlasten,
({28})
die uns das Wachstum und den Wohlstand in Deutschland erarbeiten.
Kommen wir einmal zu der Entlastung. In diesem
Jahr, 2013, hat ein durchschnittlicher Angestellter laut
Gesellschaft für Konsumforschung 550 Euro mehr
Netto. 550 Euro mögen für Sozialdemokraten nicht viel
sein - dafür bekommt man vielleicht ein paar Flaschen
Pinot Grigio; ich weiß es nicht genau -,
({29})
aber für die Menschen da draußen ist das verdammt viel
Geld.
({30})
Fast 7 Milliarden Euro Entlastung durch die Senkung
des Rentenversicherungsbeitrages, fast 1 Milliarde Euro
Entlastung durch die Anhebung des Grundfreibetrages
und 1,8 Milliarden Euro Entlastung durch die Abschaffung der Praxisgebühr in Deutschland:
({31})
Das ist Politik für die Mitte in unserem Lande, das ist
Politik, die bei den Menschen ganz konkret ankommt.
({32})
Kommen wir zu den Energiepreisen. Es bedeutet eine
Belastung und eine Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit, wenn wir es nicht schaffen, die Energiepreise in den
Griff zu bekommen.
({33})
Deswegen brauchen wir eine grundlegende Reform des
Gesetzes zur Förderung der erneuerbaren Energien.
({34})
Das, was wir jetzt haben, ist ein planwirtschaftliches
System. Damit kennt sich vielleicht die Linkspartei aus,
aber damit werden wir die Preise nicht in den Griff bekommen.
({35})
Deswegen haben wir uns vorgenommen, diese Reform
anzugehen.
({36})
Wir wollen drei Dinge gemeinsam: Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit von
Energie für 4 Millionen Unternehmen in Deutschland,
vor allem aber auch für 40 Millionen Haushalte, die alle
unter den Strompreisen zu leiden haben.
({37})
Schauen Sie sich die Ergebnisse dieser Politik auf
dem Arbeitsmarkt doch einmal an: die höchste Beschäftigungszahl seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, 41,6 Millionen Erwerbstätige, die niedrigste Arbeitslosenquote seit der deutschen Wiedervereinigung,
die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu rot-grünen Zeiten
abgebaut, 2 Millionen Menschen mehr in Lohn und
Brot, 2 Millionen Chancen mehr für Menschen und ihre
Familien.
({38})
Schauen Sie sich die Zahlen wirklich an! 117 Seiten
Jahreswirtschaftsbericht. Was die Menschen wirklich
spüren: Sie bemerken die Verbesserungen nicht anhand
der Kennzahlen, aber in ihrem eigenen persönlichen Leben. Ich sage Ihnen: Deutschland geht es gut, den Menschen in unserem Lande geht es gut, und wir als Regierungskoalition stehen dafür, dass genau dies auch in
Zukunft so bleibt. Das ist unser gemeinsamer Auftrag,
und das sagt der Jahreswirtschaftsbericht für 2013.
({39})
Es wird der richtige Weg sein, alles dafür zu tun, die
Euro-Zone weiter zu stabilisieren, damit das Vertrauen
der Menschen und der Unternehmen noch weiter zunehmen kann,
({40})
damit sie wieder anfangen, zu investieren, und die Investitionsbereitschaft zunimmt, für stabiles Geld zu sorgen für Menschen und Unternehmen gleichermaßen.
({41})
Es wird der richtige Weg sein, die Wettbewerbsfähigkeit
zu verbessern, neben Rohstoffversorgung und Fachkräftesicherung vor allem dafür zu sorgen, dass Energie auch
in Zukunft bezahlbar bleibt, und diejenigen am Ende zu
entlasten, die uns diesen Wohlstand erwirtschaften, nämlich die Menschen in unserem Lande. Das ist die Politik,
die Deutschland braucht, um Wachstum zu verstetigen
und für Wohlstand und Beschäftigung zu sorgen. Der
Jahreswirtschaftsbericht drückt das nicht nur in seinen
Zahlen aus, sondern er zeigt auch, dass dieser Politikansatz richtig ist.
Sie denken nur ans Abkassieren, Weitergeben und
Umverteilen.
({42})
Es muss eben auch eine Koalition geben, so wie wir, die
an diejenigen denkt, die uns all das erwirtschaften.
({43})
Sie gilt es zu stärken und zu entlasten. Das ist unsere
politische Botschaft für das Wirtschaftsjahr 2013.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({44})
Ich eröffne nun die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister für Wirtschaft, der Sie ja sein
sollen, Herr Rösler,
({0})
ich finde einen Satz in Ihrer launigen Rede von eben sehr
bemerkenswert, nämlich den schönen Satz, es sei nicht
schlimm, wenn Schauspieler Deutschland verließen. Ich
sage Ihnen, es wäre gut, wenn schlechte Laiendarsteller
diese Regierung verließen. Das sage ich Ihnen ganz
deutlich
Hubertus Heil ({1})
({2})
Wenn es wirklich so wäre, Herr Rösler, dass die
Wachstumsentwicklung in diesem Land etwas mit Ihnen
zu tun hätte,
(Volker Kauder ({3}): Mann, war das
eine tolle Nummer! Ha, ha, ha!
dann müssten wir einmal einen Blick auf die Wachstumsentwicklung in Ihrer Amtszeit werfen: Sie sind mit
3 Prozent gestartet, haben dann 0,7 Prozent gehabt, und
müssen jetzt auf 0,4 Prozent herunter. Wenn es so wäre,
dass Sie mit dem Wirtschaftswachstum in Deutschland
etwas zu tun hätten, dann müsste man sagen: Durch Sie
ist das Wachstum in Deutschland noch stärker geschrumpft als die Wahlergebnisse der FDP.
({4})
Wir haben hier keine Rede eines Bundeswirtschaftsministers erlebt, sondern die eines FDP-Vorsitzenden,
der um sein nacktes Überleben als Politiker kämpft.
({5})
Das, Herr Rösler, ist angesichts der wirtschaftlichen
Lage in diesem Land nicht angemessen.
Gucken wir uns die wirtschaftlichen Daten an! Sie
mussten die Wachstumserwartung für dieses Jahr auf
0,4 Prozent herunterschrauben. Das hat nicht nur Gründe
in Deutschland, sondern das hat vor allen Dingen damit
zu tun, dass die Krise, die wir bis dato besser überstanden haben als andere Volkswirtschaften in Europa, jetzt
nach Deutschland zurückkommt.
Wir als Exportnation erleben, dass die Nachfrage im
Ausland, vor allen Dingen in der Euro-Zone, zusammengebrochen ist. Das hat Folgen für die deutsche Wirtschaft. Deshalb müssen Sie sich nicht zurechnen lassen,
dass in anderen Ländern tatsächlich auch Fehler gemacht
wurden - das ist nicht Ihr Problem -, aber Sie, Frau
Merkel, haben in den letzten drei Jahren die Krise in
Europa nicht gelöst, sondern mit der Art und Weise, wie
Sie sie gemanagt haben, diese Krise verschärft. Daher
tragen Sie, Frau Merkel, die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung, die jetzt nach Deutschland zurückkommt.
({6})
Wir haben erlebt, dass Sie sich drei Jahre lang in
Deutschland auf guten konjunkturellen Entwicklungen,
auf Entscheidungen der Vorgängerregierung ausgeruht
haben.
({7})
Sie haben keine Zukunftsvorsorge getroffen. Sie haben
tatsächlich von dem Mut Ihrer Vorgängerregierungen für
Veränderungen in diesem Land profitiert. Sie haben davon profitiert, dass die Große Koalition mit Olaf Scholz
veränderte Regeln zur Kurzarbeit eingeführt hat, Sie haben davon profitiert, dass wir Konjunkturprogramme auf
den Weg gebracht haben. Das hat Deutschland in den
letzten drei Jahren stabilisiert.
({8})
Aber Sie, Herr Rösler, haben in diesen Jahren die
Chance verpasst, sich für schwierigere Zeiten zu wappnen. Ich kann Ihnen das an einzelnen Stellen nachweisen. Sie haben es ja geschafft, nach drei Jahren guter
konjunktureller Entwicklung und nach recht positiven
Entwicklungen am Arbeitsmarkt jetzt bei der Bundesagentur für Arbeit ein Milliardendefizit in die Kasse zu
reißen.
({9})
Sie müssen sich fragen lassen, ob das tatsächlich das
ist, was wir brauchen; denn möglicherweise brauchen
wir wieder veränderte Regeln zur Kurzarbeit, und zwar
weit über das hinaus, wie Sie jetzt zaghaft einräumen,
was in diesem Land notwendig ist. Es ist sinnvoller, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Deshalb werden wir entsprechende Vorschläge in den Deutschen
Bundestag einbringen.
({10})
Was haben Sie in drei Jahren guter konjunktureller
Entwicklung mit der Art und Weise, wie Herr Schäuble
mit dem Haushalt umgegangen ist, gemacht? Sie hätten
die Neuverschuldung in diesem Land stärker senken
können, aber Sie haben mit Buchungstricks versucht,
Ihre Haushaltszahlen zu schönen, indem Sie beispielsweise die Kasse der Kreditanstalt für Wiederaufbau
plündern, und zwar gegen die über Jahrzehnte hinweg
praktizierte Übung.
({11})
Die KfW, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, wird in
Zukunft dringend gebraucht, und die braucht tatsächlich
Unterstützung in diesem Land und keinen Bundesfinanzminister, der seine klebrigen Finger in das Portfolio der
KfW steckt.
({12})
Nein, meine Damen und Herren, Zukunftsvorsorge
sieht anders aus. Wir brauchen eine aktive Wirtschaftspolitik, die jetzt anpackt,
({13})
die auch dafür sorgt, dass das, was strukturell in diesem
Land notwendig ist, stattfinden kann. Die deutsche Wirtschaft muss wettbewerbsfähig bleiben, gar keine Frage.
Dafür brauchen wir stärkere Unterstützung für Investitionen in Deutschland, beispielsweise steuerliche Forschungsförderung; die haben Sie versprochen, aber an
dieser Stelle eben nicht geliefert.
Hubertus Heil ({14})
Wir brauchen nicht nur eine stärkere Wettbewerbsfähigkeit, sondern wir bleiben in Deutschland auch hinsichtlich der Binnennachfrage weit unter unseren Möglichkeiten. Der Schlüssel dazu sind nicht irgendwelche
Stellschrauben allein im Steuersystem, der Schlüssel
dazu ist, dafür zu sorgen, dass wir eine faire Entwicklung bei Löhnen und Gehältern in diesem Land bekommen. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt,
damit die Menschen tatsächlich faire Löhne bekommen.
Das stützt die Kaufkraft und die Binnennachfrage in diesem Land. Auch das verweigert diese Bundesregierung.
({15})
Ich schaue einmal in diesen Jahreswirtschaftsbericht,
in dieses Dokument Ihrer Untätigkeit, und zitiere mit der
Erlaubnis des Herrn Präsident aus dem Bericht, Seite 47.
Frau Merkel, hören Sie gut zu; denn das ist kennzeichnend für Ihre Regierung.
({16})
- Sie werden erlauben müssen, dass eine Opposition einer Regierung aus Ihrem eigenen Bericht vorliest. Oder
macht Sie schon das nervös?
({17})
Ich lese Ihnen einen Satz auf Seite 47 vor - Zitat -:
Die Meinungsbildung zu einer allgemeinen gesetzlichen Lohnuntergrenze ist innerhalb der Regierungskoalition nicht abgeschlossen.
Wie lange diskutieren wir in Deutschland über den gesetzlichen Mindestlohn? Sie müssen hier vorankommen.
Sie sind eine Koalition der wechselseitigen Blockade.
Aber Sie schaffen keinen gesetzlichen Mindestlohn in
diesem Land.
({18})
Herr Kollege Heil, darf Ihnen der Kollege Lindner
eine Zwischenfrage stellen?
Bitte schön.
Herr Kollege Heil, ich stelle Ihnen eine Frage, weil
Sie uns gerade erzählten, dass diese Koalition nicht für
Schuldenabbau steht. - Haben Sie heute den GeneralAnzeiger Bonn gelesen? Minister Walter-Borjans - kennen Sie den? - sagt: Schulden sind kein Drama. - Das ist
die Überschrift. - Er sprach davon, dass es in Deutschland ein gesundes Verhältnis von Schulden, Vermögen
und Einkommen gebe. Die gesamten Schulden beliefen
sich auf etwa 6 Milliarden Euro. Er wolle damit nicht sagen, dass die Landesschulden nicht zurückgezahlt werden müssten. Aber das sei alles gar kein Problem. Problematisch sei es, wenn die Menschen das Gefühl hätten,
dass sie das Geld nicht mehr zurückbekämen, das sie
dem Staat liehen.
Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie uns
hier erzählen. Dort, wo Sie Verantwortung tragen, in
Nordrhein-Westfalen und anderswo, machen Sie genau
das Gegenteil dessen, was Sie gesagt haben: noch mehr
Schulden und eine Aushebelung der Schuldenbremse.
Sie wollen Inflation, Sie bekennen sich zur Inflation.
Aber das ist genau das Gegenteil von dem, was der Mittelstand, die Mittelschicht braucht. Die Mittelschicht in
Deutschland legt ihr Geld in Lebensversicherungen und
Barvermögen an. Das unterscheidet übrigens die Mittelschicht in Deutschland von der US-Mittelschicht.
Wenn Sie hier diesen Kurs in Deutschland realisieren,
sei es in Niedersachsen oder sonst wo, dann entwerten
Sie das Vermögen der ganz normalen Menschen in der
Mittelschicht, die hart für dieses Geld gearbeitet haben.
Das ist die Wahrheit. Das ist der große Unterschied zu
dem, was Sie uns hier erzählen.
({0})
Sind Sie zu Ende, Herr Lindner?
({0})
Herr Dr. Lindner, ich danke Ihnen für die Gelegenheit,
auf diese - ich sage es einmal so - Zwischenbemerkung
({1})
- auf diese Zwischenintervention - zu antworten. Das
mache ich sehr gern. Ich will Ihnen Folgendes sagen:
Was den Bundeshaushalt betrifft, so haben Sie die
Chance verpasst, tatsächlich dafür zu sorgen, dass wir
von der hohen Neuverschuldung in Deutschland herunterkommen. In Zeiten guter konjunktureller Entwicklung
haben Sie Folgendes gemacht: Sie haben mit Ihrer Hotelsteuer Klientelinteressen bedient.
({2})
Sie haben gleichzeitig mit dem unsinnigen Betreuungsgeld 2 Milliarden Euro verschleudert. Sie verschleudern
Steuergeld, weil Sie den Mindestlohn nicht einführen.
Was ist denn die Realität? Die Realität ist, dass immer
mehr Menschen in Deutschland zwar Vollzeit arbeiten,
aber sich dann ergänzend dazu Arbeitslosengeld II, also
Steuergeld, vom Amt abholen müssen.
({3})
Wir sagen: Mit einem Mindestlohn hätten wir Steuermehreinnahmen für Investitionen. Diese Investitionen
sind bei Kommunen, Ländern und im Bund notwendig:
in Schulen, in Bildung, in Infrastruktur. Diese MöglichHubertus Heil ({4})
keiten verspielen Sie mit der Art und Weise, wie Sie
Politik gemacht haben.
({5})
Sie haben das Ergebnis von drei Jahren guter Konjunktur
verfrühstückt. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({6})
Deshalb, Herr Lindner, herzlichen Dank für diese Gelegenheit.
({7})
Wenn wir über die wirtschaftspolitische Bilanz von
Herrn Rösler und dieser Bundesregierung reden, dann
müssen wir auch über Energiepolitik in diesem Land reden. Herr Rösler, Sie haben eben gesagt: man müsste
einmal, man sollte einmal. Deutschland könnte mit einer
gelungenen Energiewende, die im Kern eine Riesenchance für dieses Land ist, in einer Welt, die einen großen Energiehunger hat, Ausrüster der Welt sein: bei erneuerbaren Energien, bei Energieeffizienz, bei modernen
Energieversorgungssystemen.
Sie haben in Ihrer Amtszeit aus der Chance der Energiewende ein wirtschaftliches und ein soziales Risiko für
Deutschland gemacht. Die Strompreise steigen, die Versorgungssicherheit ist gefährdet, und Rösler und
Altmaier als Mitglieder dieser Bundesregierung zanken
sich wie zwei Kinder um - ({8})
- Das passiert Ihnen natürlich nie. Herr Hinsken, es regt
mich wirklich auf, wie sich Herr Altmaier und Herr
Rösler wechselseitig blockieren, wenn es um die notwendigen Maßnahmen geht. - Wo ist denn Ihr Masterplan zur Energiewende? Die Art und Weise, wie Sie die
Energiewende gegen die Wand fahren, wird zu einem
wirtschaftlichen Risiko in diesem Land.
({9})
Die Strompreise sind dramatisch gestiegen, insbesondere für Unternehmen, die nicht von den Ausnahmeregelungen profitieren, die Sie auf eine Art und Weise ausgeweitet haben, die nur noch unsinnig zu nennen ist. Die
Stromzahler, die Verbraucher und diese Unternehmen,
haben die Kosten dafür zu wuppen. Wir erleben, dass es
zum sozialen Problem wird, wenn Strompreise steigen.
Wo sind Ihre Sofortmaßnahmen, und wo ist Ihr Masterplan, um die Energiewende zum Erfolg zu führen?
Nein, Herr Rösler, das nenne ich Energiewendeversager.
In der Art und Weise, wie Sie das machen, werden Sie
zum wirtschaftlichen Risiko. Wenn Sie das nicht glauben, dann fahren Sie einmal in unsere niedersächsische
Heimat und informieren sich darüber, wie gerade die
SIAG Nordseewerke in die Insolvenz getrieben wurden,
weil Sie die Planungs- und Investitionssicherheit für die
Energieversorgung in Deutschland kaputtgemacht haben. Das ist die Schadensbilanz Ihrer Energiepolitik.
({10})
Unterm Strich erleben wir zurzeit eine Situation, die
wir realistisch einschätzen müssen. Deutschland hat gute
Voraussetzungen, aus dieser schwierigen Situation herauszukommen. Aber das liegt nicht an dieser Bundesregierung, sondern daran, dass wir in diesem Land eine
breite industrielle Wertschöpfungskette haben: von den
Grundstoffindustrien über die kleinen und mittelständischen Unternehmen bis zu den Hightechschmieden.
Wir haben in Deutschland die Möglichkeit, mit der
Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, die es bei uns gibt, vernünftige Lösungen zu
finden. Was wir brauchen, ist eine politische Rahmensetzung und eine aktive Wirtschaftspolitik, die diese Voraussetzungen und Chancen nutzt. Wir dürfen nicht zugucken, wie die Energiepreise steigen und eine Spaltung
von Gesellschaft und Arbeitsmarkt entsteht.
Zum Thema Fachkräftesicherung habe ich eben nur
warme Worte gehört, Herr Rösler. Was ist denn notwendig, um die Spaltung am Arbeitsmarkt abzuwenden? Wir
haben zurzeit die Situation, dass auf der einen Seite immer mehr Unternehmen, vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, in einzelnen Regionen händeringend qualifizierte Fachkräfte suchen und auf der anderen
Seite Menschen in prekärer Arbeit und Langzeitarbeitslosigkeit abgehängt sind. Diese Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, wäre Aufgabe dieser Bundesregierung. Aber Sie legen nichts vor. Im Gegenteil: Sie
vertiefen die Spaltung, weil Sie die prekäre Arbeit in
Deutschland mit Ihren unsinnigen Maßnahmen zu den
Minijobs noch ausweiten, weil Sie sich dem Mindestlohn verweigern und weil Sie keinen gleichen Lohn für
gleiche Arbeit für Männer und Frauen und für Stammund Leihbelegschaften in Unternehmen ermöglichen.
Das ist der Zusammenhang. Sie haben nicht begriffen,
dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit
keine Gegensätze, sondern wechselseitige Bedingungen
sind. Wir brauchen eine vorausschauende Wirtschaftspolitik, die die Chancen dieses Landes nutzt, statt zuzugucken, wie die Gesellschaft dabei zerfällt.
Herr Rösler, wenn ich daran denke, welche Gesetzgebungsinitiativen Sie in den letzten drei Jahren an die
Wand gefahren oder gar nicht erst ergriffen haben,
({11})
dann muss ich sagen: Wir haben leider Gottes im Moment einen Totalausfall im Bundeswirtschaftsministerium, der zum Risiko für dieses Land wird. Deshalb
brauchen wir den Politikwechsel in der Wirtschaftspolitik in Deutschland.
({12})
Hubertus Heil ({13})
- Herr Kauder, angesichts Ihrer Zwischenrufe müssen
Sie heute wirklich sehr nervös sein.
({14})
Ich sage Ihnen, Herr Kauder: Wenn wir ernsthaft über
die wirtschaftliche Situation in diesem Land diskutieren
wollen, dann werden auch Sie in diesem Zusammenhang
nicht bestreiten können, dass wir einen Bundeswirtschaftsminister haben, der ein Problem für diese Koalition geworden ist. Er ist mehr mit der Krise seiner Partei
als mit der Krise der Wirtschaft beschäftigt. Das nimmt
viel Arbeitskraft weg.
({15})
Wenn andere Teile der Regierung das kompensieren
würden, wäre es gut. Aber die Wahrheit ist: Sie sind eine
Koalition, die sich bei den Themen wechselseitig blockiert. Beim Mindestlohn sagen die einen hü, die anderen hott. Bei der Fachkräftesicherung gibt es keine Initiative, bei der Energiewende wechselseitige Blockaden,
bei der steuerlichen Forschungsförderung einen Totalausfall, und bei der Krise, die wir in Europa zu bewältigen haben, gab es - daran sei erinnert - das unverantwortliche Gerede durch den Bundeswirtschaftsminister
im vergangenen Jahr, das die Krise eher verschärft hat.
Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen den
Politikwechsel in der Wirtschafts- und in der Sozialpolitik in Deutschland.
({16})
Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Dokument der Handlungsunfähigkeit dieser Regierung. Wir müssen darüber
reden, wie wir in dieser Gesellschaft die Chancen, die
wir haben, tatsächlich nutzen können. Deutschland ist
bisher Gott sei Dank ein starkes Land.
({17})
- Deutschland ist ein starkes Land trotz dieser Regierung, Herr Hinsken. - Wir brauchen schleunigst den
Wechsel im Land. Wir brauchen veränderte Mehrheitsverhältnisse. Durch die Niedersachsenwahl am Sonntag
ist das im Bundesrat schon möglich. Aber wir brauchen
sie auch im Bund,
({18})
damit Deutschland wirtschaftlich wieder auf Erfolgskurs
kommt, statt bei 0,4 Prozent Wachstum weiterzudümpeln. Sie nehmen Wirtschaftspolitik nicht ernst. Genau
das ist Ihr Problem.
Herzlichen Dank.
({19})
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Heil, ich
kann durchaus verstehen, dass Sie aufgeregt sind. Ich
kann auch durchaus verstehen, dass Sie bei den Umfrageergebnissen der letzten Tage von 23 Prozent meinen,
hier etwas retten zu können. So werden Sie das aber
nicht erreichen.
({0})
Die Bevölkerung hat schon lange kapiert, dass diese Koalition die richtige Arbeit macht, und deswegen sind die
Umfrageergebnisse so gut, wie sie sind.
Deutschland geht es gut. Diese Koalition war erfolgreich und hat dazu beigetragen, dass die Wirtschaftsleistung steigt. Wir hatten in den letzten drei Jahren ein
Wirtschaftswachstum von kumuliert 8 Prozent, Herr
Heil. Das ist eine exzellente Zahl. Zahlen wie diese finden Sie in keinem einzigen Land in Europa; die finden
Sie in fast keinem anderen Industrieland der Welt. Bei
einem Bruttoinlandsprodukt von circa 2,5 Billionen
Euro hat Deutschland in den letzten drei Jahren ein
Wachstum in Höhe von gut 200 Milliarden Euro zustande gebracht. Das entspricht beispielsweise dem
Bruttoinlandsprodukt von Hongkong, von Singapur oder
auch von Finnland. Das ist doch eine Erfolgsstory. Dies
können Sie auch mit noch so viel dümmlichem Geschrei
nicht bestreiten.
({1})
Die Erwerbstätigenzahl ist - der Bundeswirtschaftsminister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen - auf
41,6 Millionen gestiegen. Eine so hohe Zahl hatten wir
noch nie in Deutschland. Das heißt ganz konkret - ich
liebe es, solche Zahlen herunterzubrechen, weil man das
dann wesentlich besser versteht -, dass in Deutschland
pro Tag im Durchschnitt 1 000 Menschen mehr erwerbstätig sind.
Noch beachtlicher ist die Entwicklung bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen. Deren Zahl
ist um 1,5 Millionen, von 27,5 Millionen auf jetzt
29 Millionen, angestiegen. Das sind deutlich mehr als
1 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze pro
Tag, seitdem diese Regierung an der Macht ist, Herr
Heil. Der BDI hat vor kurzem bekannt gegeben, dass
von diesen 1 000 Arbeitsplätzen allein 500 industrielle
Arbeitsplätze sind. Daher können Sie nicht behaupten,
dass das alles prekäre Arbeit sei.
({2})
Ich denke nicht, dass die deutsche Industrie prekäre Arbeitsplätze anbietet.
Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken. Pro Tag sind über 400 Menschen in Arbeit gekommen, die vorher nicht in Arbeit waren, seitdem Angela
Merkel diese christlich-liberale Regierung führt.
({3})
In der gesamten EU ist Deutschland die Wachstumslokomotive.
Eines muss ich Ihnen sagen - ich empfehle die Lektüre des Handelsblatts; Sie haben es ja vor sich liegen -:
In den Ländern, wo Sie etwas zu sagen haben, sieht die
Situation schlecht aus. Heute wird bekannt gegeben,
dass Hamburg ein Nettonehmerland wird. Das reiche
Hamburg war über Jahrzehnte ein Geberland. Jetzt wird
es ein Nehmerland. Das haben Sie mit Ihrer Politik in
Hamburg fertiggebracht.
({4})
Es gibt überhaupt nur noch drei Geberländer: Das ist an
allererster Stelle Bayern, das ist Hessen, und das ist Baden-Württemberg; ich befürchte, das kriegen Sie auch
noch kaputt. Sie arbeiten ja daran.
({5})
Meine Damen und Herren, das alles ist kein Selbstläufer, das alles ist nicht selbstverständlich. Da sind mit
der Politik der Bundeskanzlerin vernünftige Weichenstellungen vorgenommen worden. Wir stehen vor strategischen Voraussetzungen für unseren Standort. Wir sind
lange noch nicht am Ende. Wir brauchen wettbewerbsfähige Energiepreise, und vor allen Dingen müssen wir
freien Zugang zu den Rohstoffmärkten der Welt haben.
Beides sind Faktoren, die sich immer mehr zu ganz
wichtigen Standortfaktoren entwickeln.
Mir macht die Situation mit Blick auf die Amerikaner
erhebliche Sorge. Ich hatte vor kurzem ein längeres Gespräch mit amerikanischen Senatoren, die mir gesagt haben, dass sie eine Reindustrialisierung der USA erwirken möchten. Wie wollen sie das machen? Indem sie für
die niedrigsten Energiepreise in der ganzen Welt sorgen.
Und wie machen sie das? Indem sie Schiefergas und
Schieferöl ausbeuten und sich von jeglichen Importen
unabhängig machen. Sie können sich überlegen, was das
für uns bedeutet. Dann werden energieintensive Unternehmen in die USA abwandern. Das darf nicht passieren. Wenn wir heute unsere Wertschöpfungsketten kaputtmachen, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dann
haben wir à la longue Probleme mit unseren Arbeitsplätzen. Deswegen sollten wir alle daran arbeiten, dass die
Industriestrompreise niedriger werden.
({6})
Unsere Industriestrompreise sind 40 Prozent höher als
die Frankreichs; ich will jetzt gar keine anderen Vergleiche ziehen. Das zeigt, wie notwendig es ist, dass wir eine
Energiepolitik betreiben, die dafür sorgt, dass zumindest
unsere exportintensive Wirtschaft von Schwankungen
der Industriestrompreise nicht betroffen ist.
Der nächste Punkt betrifft das gesamte Thema Rohstoffsicherheit. Ich empfinde es als völlig richtig, dass
die Bundeskanzlerin in die Mongolei gereist ist, um dort
ein Rohstoffabkommen abzuschließen. Ich halte es auch
für notwendig, dass wir das noch viel intensiver machen.
Die Chinesen zum Beispiel tun das in vielen Ländern bereits sehr intensiv, besonders in Schwarzafrika. Das kann
uns nicht egal sein.
Wir sind sehr gut im Recycling; da sind wir vermutlich das Land, das in der Welt an der Spitze steht. Wenn
man weiß, dass schon heute über 50 Prozent unserer
Kupfervorkommen aus recyceltem Material stammen,
dann sieht man die Erfolgsstory. Man kann der deutschen Wirtschaft nur dazu gratulieren, dass sie das hinbekommen hat. Aber das reicht nicht. Wir müssen zusätzlich sicherstellen, dass alle Rohstoffe zu beschaffen
sind; denn die sind das Rückgrat der deutschen Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, auch den Menschen geht
es gut unter dieser Koalition, zumal ich weiß, dass es in
den letzten drei Jahren erstmalig dreimal hintereinander
jeweils rund 3 Prozent Lohnerhöhung gab. Das war unter Rot-Grün nie der Fall. Unter Rot-Grün gab es viel
niedrigere Lohnerhöhungen. Jetzt zeigt sich, dass die
von der Koalition betriebene Politik in einer Zeit, in der
die Wirtschaft wächst und stärker wird, auch dazu führt,
dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr in
der Tasche haben. Darüber können wir froh sein.
({7})
Die Unternehmen haben ausreichende Mittel für Investitionen. Es wird viel mehr investiert als in den Jahren zuvor, und der Staat hat deutlich höhere Steuereinnahmen. Jedes Jahr gab es ein neues All-Time High; im
letzten Jahr waren es über 600 Milliarden Euro. Das
zeigt - das haben Sie alle nicht kapiert -, dass in Ländern, in denen eine vernünftige Haushaltspolitik gemacht wird, Wachstum möglich ist. Sie behaupten ja immer, mit unserer Sparpolitik würden wir Wachstum
verhindern. Das ist völliger Unsinn. Mit einer vernünftigen Haushaltspolitik ist Wachstum möglich, und das
muss auch so sein.
({8})
Der Bundeswirtschaftsminister hat es gesagt: Zu Anfang dieses Jahres haben wir die Bürger erneut entlastet,
nämlich um 12 Milliarden Euro. Wenn Sie die Senkung
des Rentenversicherungsbeitrags, die Abschaffung der
Praxisgebühr - das war ja einer der wenigen Beschlüsse,
denen Sie zugestimmt haben - und die Erhöhung des
Grundfreibetrags - das konnten Sie im Bundesrat nicht
verhindern - zusammenrechnen, dann stellt dies eine
deutliche Entlastung der Bürger dar. Alle anderen Entlastungsschritte, die wir darüber hinaus in die Wege leiten wollten, haben Sie doch im Bundesrat verhindert.
Das ist eine Schande;
({9})
denn gerade die Mittelschicht hätte weitere Entlastungen
verdient gehabt. Sie aber haben dies verhindert. Trotzdem - auch da haben Sie eben wieder Unsinn geredet,
Herr Heil - sind die Sozialversicherungen sehr gut aufgestellt. In allen Versicherungen haben wir Überschüsse.
({10})
Die Bundesagentur für Arbeit hat im letzten Jahr ein
Plus in Höhe von rund 2,5 Milliarden Euro gemacht.
({11})
Das liegt daran, dass wir wesentlich weniger Arbeitslose
haben als noch zu Ihrer Zeit. Angela Merkel hat von
Gerhard Schröder 5 Millionen Arbeitslose übernommen.
Im letzten Jahr sind es im Jahresdurchschnitt 2,8 Millionen gewesen. Das zeigt, dass wir die richtige Politik gemacht haben, dass wir einen guten Schritt weitergekommen sind.
({12})
Genau auf diesem Wege werden wir weitergehen.
Es macht keinen Sinn, in dem Maße, in dem Sie das
geplant haben, Steuern zu erhöhen. Ich nenne nur die
Einkommensteuer. Die können Sie natürlich erhöhen.
Aber was bedeutet das denn? Bei allen Personengesellschaften ist die Gesellschaftsteuer die Einkommensteuer.
Das heißt, Sie belasten im Falle einer Erhöhung der Einkommensteuer die Mittelständler ganz gewaltig. Wir
werden das verhindern.
Ich gehe davon aus, dass wir die erfolgreiche Politik
fortführen können.
({13})
Sie werden das am Sonntag merken.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Rösler, ich habe Ihrem Bericht zugehört. Aber wissen
Sie, was mich am meisten ärgert? Bevor Sie Ihren Bericht dem Kabinett zeigen und bevor Sie ihn gestern dem
Ausschuss gezeigt haben und heute dem Plenum, beraten Sie mit allen Wirtschaftsbossen, ob der Jahreswirtschaftsbericht so in Ordnung sei. Mein Gott! Brauchen
Sie immer die Genehmigung der Wirtschaftsbosse?
Wann stellen wir denn endlich wieder das Primat der
Politik über die Wirtschaft her statt des Primats der Wirtschaft über die Politik? Das wird wirklich höchste Zeit.
({0})
Ihr Bericht ist schöngefärbt; das wissen Sie. Das liegt
natürlich an der Wahl in Niedersachsen. Deshalb sprechen Sie auch heute hier. Aber nun muss ich Ihnen eines
sagen, meine Damen und Herren von der FDP: Willy
Brandt hat bei einer Bundestagswahl damit angefangen, seine Wählerinnen und Wähler aufzufordern, mit
den Zweitstimmen der FDP zu helfen, damit sie über
die 5-Prozent-Hürde kommt. McAllister und die CDU in
Niedersachsen machen jetzt dasselbe. Ich weiß nicht, ob
Frau Merkel und die CDU bei der Bundestagswahl auch
dasselbe machen werden. Das heißt, Ihr Ergebnis basiert
nicht auf eigener Leistung, sondern auf Leihstimmen.
Wir haben es viel schwerer, weil weder Union noch SPD
ihre Wählerinnen und Wähler jemals aufrufen würden,
mit der Zweitstimme die Linke zu wählen. Wir müssen
das ganz alleine schaffen. Ich will nur darauf hinweisen,
dass wir hier eine größere Leistung erbringen.
({1})
Noch etwas: Das Ding hat eine Kehrseite. Wenn
Union und FDP in den Landtag Niedersachsen einziehen
- damit rechnen jetzt viele -, haben Sie von Rot-Grün in
Niedersachsen höchstwahrscheinlich keine Mehrheit.
Jetzt müssten Sie Ihre Wählerinnen und Wähler doch
aufrufen, mit der Zweitstimme die Linke zu wählen. Da
Sie das aber nicht machen werden, ersetze ich Sie und
sage es ihnen selbst.
({2})
Kommen wir einmal zu dem Bericht. Das Bruttoinlandsprodukt ist immer der Gradmesser für die Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft. Das Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts sinkt von 3 Prozent im Jahr 2011
über 0,7 Prozent im letzten Jahr nach Ihrer Einschätzung, Herr Rösler, 2013 auf 0,4 Prozent. Darf ich vielleicht noch an etwas erinnern? Sie haben den Fiskalpakt
beschlossen. Im Fiskalpakt steht, dass ein Staat nicht
mehr als 60 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts als
Schulden haben darf. Gleichzeitig ist geregelt, dass man,
wenn man darüber liegt - wir liegen bei über 80 Prozent -,
die Schulden pro Jahr um 5 Prozent zu senken hat. Ich
weiß noch, dass ich, als Herr Schäuble und ich beim
Bundesverfassungsgericht saßen, gefragt habe, welche
Kürzungen eigentlich geplant sind; denn die Regelung
bedeutet ja, dass wir die Schulden jährlich um 25 Milliarden Euro senken müssen. Darauf hat er geantwortet,
dass das, was ich sage, völlig falsch sei, weil ja die Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt, so zunehmen
kann, dass der Schuldenstand gemessen daran geringer
wird; ich will das gar nicht weiter erklären.
({3})
- Ja, das stimmt. - Nur, das Problem ist: Dann brauchen
wir eine Wirtschaftsleistungssteigerung von 1 Prozent
pro Jahr. Sie gehen in Ihrer Prognose aber von einem
Wachstum von 0,4 Prozent aus. Wir hatten auch schon
einmal Jahre mit Minuswerten. Was ist denn dann? Sie
müssen die Schulden abbauen. Das heißt, dann werden
Sie wieder Sozialkürzungen vornehmen. Man hört ja
auch schon von Geheimplänen im Bundesfinanzministerium, Stichwort „Witwenrente“ und vieles andere.
({4})
Genau so geht es nicht!
({5})
Ich sage Ihnen auch: Sie dürfen nicht vergessen, dass
das sinkende Wachstum der Wirtschaftsleistung - 0,4 Prozent Wachstum in 2013 ist doch wirklich nicht erheblich damit zu tun hat, dass wir in einer Euro-Finanzkrise sind
und dass Sie eine völlig falsche Politik gegenüber Südeuropa machen. Sie bauen Südeuropa ab. Die Wirtschaftsleistung nimmt dort ab. Die Steuereinnahmen nehmen ab.
Von „sozial“ kann man gar nicht mehr reden. Es wird
immer extremer unsozial. Die Folge ist, dass die Exporte
Deutschlands in diese Länder zurückgehen. Ich habe mir
das bei Opel angesehen. Bei Opel ist die Krise angekommen; die Opelaner in Bochum werden aus diesen Gründen kaputtgemacht. Übrigens: Ich habe auch mit dem
Betriebsratsvorsitzenden von VW gesprochen. Der hat
gesagt, VW habe einen dramatischen Rückgang der Verkäufe nach Italien, Portugal usw., aber könne das noch
ausgleichen durch eine Steigerung des Exports nach
China, nach Brasilien und in die USA.
Wir leben doch über unsere Verhältnisse. Dieses Ungleichgewicht zwischen Export und Import innerhalb der
Euro-Zone kann nicht funktionieren. Wir alle wissen,
dass der Export wahrscheinlich nachlassen wird. Dann
gibt es nur eine mögliche Gegenmaßnahme: Sie müssen
die Binnenwirtschaft stärken. Die können Sie nur stärken, wenn Sie sich endlich sozialer verhalten und die
Renten, Löhne und Sozialleistungen erhöhen. Es gibt
keinen anderen Weg, um die Binnenwirtschaft zu stärken; das wissen Sie auch.
({6})
Ich komme zum Arbeitsmarkt. Herr Rösler, was mich
am meisten ärgert, ist, wenn Sie überall sagen: Es gibt
jetzt eine wunderbare Arbeitslosenstatistik. Im nächsten
Jahr wird es nur 60 000 Arbeitslose mehr geben. - Immerhin sagen Sie ja, dass es mehr geben wird. Wissen
Sie, was mich daran so stört? Wenn man es sich genauer
ansieht, stellt man fest: Das Problem ist, dass die Zahl
der Vollzeitarbeitsplätze in den letzten zehn Jahren abgenommen hat, Herr Kauder. Es sind 1,6 Millionen weniger geworden. Wenn Sie sagen könnten, dass es mehr
geworden sind, dann könnten Sie stolz sein. Es sind aber
weniger geworden. Das Einzige, was zugenommen hat,
ist die prekäre Beschäftigung. Deshalb können Sie eine
bessere Statistik vorweisen.
({7})
Ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet im Niedriglohnsektor; das sind 7,9 Millionen. Davon sind 4,66 Millionen Vollzeitbeschäftigte. Diese Zahl hat seit 2005 um
677 000 zugenommen. Die Leiharbeit weitet sich aus.
Machen Sie etwas, um diese zu begrenzen? Nein, nichts!
Sie lassen alles laufen. Im Jahre 2003 hatten wir einmal
5,5 Millionen Minijobs. Jetzt sind es 7,4 Millionen. Sie
weiten dies noch aus, indem Sie die Verdienstgrenze von
400 Euro auf 450 Euro erhöht haben. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten stieg um 1,6 Millionen; jetzt haben wir
8,7 Millionen.
Zudem haben wir 1,3 Millionen Aufstockerinnen und
Aufstocker. Wissen Sie, was die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler über die Jobcenter jährlich für die Aufstockerinnen und Aufstocker zahlen? 10 Milliarden Euro.
Man muss sich das einmal vor Augen führen: Herr
Brüderle, da geht ein Arbeitnehmer eine ganze Woche,
einen Monat, ein Jahr den ganzen Tag arbeiten und verdient damit so wenig, dass er zum Jobcenter gehen muss,
um zusätzlich Steuergelder zu erhalten. Das ist ein Skandal. Wer einen Vollzeitjob hat, muss Anspruch auf einen
Lohn haben, von dem er in Würde leben kann. Das wird
höchste Zeit.
({8})
Dafür brauchen wir den flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn. Ich garantiere Ihnen, dass der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn trotz des Widerstandes der FDP spätestens im Jahre 2014 beschlossen wird.
Darum kommen Sie gar nicht umhin. Man kann sich einem solchen Trend auf Dauer nicht widersetzen.
Auf der anderen Seite müssen wir uns mit den Reallöhnen beschäftigen. Die Reallöhne sind in den letzten
zehn Jahren um 4,5 Prozent gesunken. Bei den 10 Prozent, die am schlechtesten verdienen, ist der Reallohn
sogar um 9 Prozent gesunken. Die Armut nimmt zu.
({9})
- Natürlich nimmt sie zu. - Zwar ist die Arbeitslosenquote von 11,7 auf 7,1 Prozent gesunken; doch in derselben Zeit, so das Statistische Bundesamt, ist das Armutsrisiko von 14,6 Prozent auf 15,3 Prozent gestiegen. Wie
kommt das, wenn Sie doch eine so tolle Arbeitslosenstatistik haben? Wieso nimmt die Armut zu? Ich sage Ihnen: Dass Vollzeitbeschäftigte von Armut bedroht sind,
hat es früher nicht gegeben. Jetzt aber ist es Realität.
Mich interessiert auch die andere Seite. Man könnte
darüber diskutieren und sagen: Na gut, das Vermögen in
Deutschland nimmt insgesamt ab. Wenn das Vermögen
abnimmt, muss man sich überlegen, wie man es gerechter verteilen kann. - Aber das Gegenteil ist der Fall.
1992 hatten wir in Deutschland ein Vermögen von
4,6 Billionen Euro; im Jahre 2012 betrug es 10 Billionen
Euro. Seit der Finanzkrise im Jahre 2007 gab es eine Zunahme von 1,4 Billionen Euro. Hier hat eine gigantische
Umverteilung von unten nach oben stattgefunden. Darum kommen Sie nicht herum. 0,6 Prozent der Haushalte
in Deutschland besitzen ein Vermögen von 1,9 Billionen
Euro; das sind 20 Prozent. Die unteren 50 Prozent der
Haushalte besaßen 1998 einen Anteil von 4 Prozent am
Gesamtvermögen; heute ist es nur noch ein Anteil von
1 Prozent. Erklären Sie doch einmal diesen 50 Prozent
der Haushalte, weshalb sie immer stärker in Armut gestürzt werden? Warum berichten Sie so etwas nicht, Herr
Rösler?
({10})
Sie betreiben nur Schönfärberei. Das ist meines Erachtens nicht hinzunehmen. Sie weigern sich, Vermögen zu
besteuern. Meinen Sie nicht, dass es Zeit wird, dass die
Kosten für die Finanzkrise von denjenigen getragen werden, die sie erstens verursacht haben und die zweitens
davon profitieren?
({11})
- Ich rede nicht vom Mittelständler. Ich rede von den
wirklich Vermögenden. - Herr Fuchs, wir fordern eine
Vermögensteuer von 5 Prozent auf ein privates Vermögen von mehr als 1 Million Euro. Mein Gott, die merken
gar nicht, wenn das abgebucht wird. Es würde aber ein
Stück weit mehr Gerechtigkeit in Deutschland entstehen.
({12})
Dasselbe gilt übrigens auch für Griechenland. Sie
müssen einmal den griechischen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern, den
Frauen, die entbinden wollen, erklären, warum sie die
Krise zu bezahlen haben. Welchen Schuldanteil haben
diese Menschen an der Krise?
Ich erinnere mich daran, wie Herr Schäuble begründet
hat, dass zur Sanierung des Haushaltes das Elterngeld
für Hartz-IV-Empfänger gestrichen wird. Da habe ich
Sie gefragt, Herr Kauder, was die Hartz-IV-Empfänger
falsch gemacht haben. Sie sollten sich hier hinstellen
und die fünf Gründe nennen, warum die Hartz-IV-Empfänger die Krise verursacht haben. Das konnten Sie
nicht. Es waren nämlich doch die Ackermänner, die die
Krise verursacht haben. Aber genau die werden nicht herangezogen. Das ist das Problem der sozialen Ungerechtigkeit bei uns.
({13})
Jetzt steuern wir auf eine Altersarmut zu, und Sie von
der CSU und der FDP weigern sich, etwas dagegen zu
unternehmen. Selbst der Vorschlag von Frau von der
Leyen zur Zuschussrente wird abgelehnt. Das Rentenniveau soll bei 43 Prozent liegen. Viele verdienen nur
noch 1 000 Euro. Ich sage Ihnen, hier entsteht eine Armut, die nicht zu rechtfertigen ist.
({14})
Herr Rösler, Sie haben den Jahreswirtschaftsbericht
geschönt und ein bisschen frisiert. Dasselbe haben Sie
schon mit dem Armuts- und Reichtumsbericht gemacht.
Der bleibt trotzdem skandalös. Ich will gar nicht sagen,
an welche Zeiten mich das erinnert, in denen Berichte
derart getürkt wurden. Das haben Sie doch nicht nötig.
Da haben Sie aber fast Glück, dass dafür auch gar
keine Zeit mehr besteht.
Herr Bundestagspräsident, ich werde mir jetzt einmal
notieren, wann Sie Geburtstag haben. Dann werde ich
Ihnen eine neue Uhr schenken.
({0})
Ich muss Ihnen Folgendes erklären: Es gibt hier Leute,
die elf Minuten reden, und das kommt mir dann wie eine
halbe Stunde vor. Bei mir rennt Ihre Uhr immer.
Aber ich danke Ihnen trotzdem. Alles Gute.
({1})
Herr Kollege Gysi, falls Sie den verwegenen Gedanken mit der Uhr weiterverfolgen wollen, bitte ich herzlich darum, die Wertgrenzen einzuhalten, da Sie mich
ansonsten zwingen würden, zunächst beim Bundestagspräsidenten die Genehmigung einzuholen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Gysi, ich gratuliere Ihnen nachträglich zu
Ihrem 65. Geburtstag;
({0})
aber das ist alles, was ich Ihnen an Nettigkeiten sagen
kann.
({1})
Ihre Reden hier haben einen hohen Unterhaltungswert;
({2})
aber das kommt dadurch zustande, weil sie mit Fakten
überhaupt nichts zu tun haben.
({3})
Ich will Sie auf zwei Fakten hinweisen. Sie sprachen
davon, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Vollzeitbeschäftigten in den letzten zehn Jahren abgenommen hätte. Sie vergessen jedoch, dass die Union seit
2005 und die FDP seit 2009 an der Regierung sind und
seitdem die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um rund 2 Millionen gestiegen ist. Das ist ein
wichtiges Faktum, wenn Sie sich mit dieser Regierung
auseinandersetzen und nicht mit der Vorgängerregierung.
({4})
Außerdem möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen:
Wenn Sie sich einmal die Statistik der Länder anschauen, die einen Mindestlohn haben, und einen Vergleich mit den Ländern anstellen, die keinen Mindestlohn haben, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass in
den Ländern mit Mindestlohn die Arbeitslosigkeit signifikant höher ist als in den Ländern ohne Mindestlohn. So
viel in diesem Zusammenhang.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
ausdrücklich bestätigen, was der Bundeswirtschaftsminister eben vorgetragen hat: Deutschland geht es gut.
({6})
Wir haben Wirtschaftswachstum, wir haben Preisstabilität, wir haben ein steigendes Einkommen der Arbeitnehmer, wir haben einen hohen Beschäftigungsstand.
({7})
In anderen Ländern Europas fragt man mich: Wie macht
ihr das? Wir wären froh, wenn wir in der Situation wären, in der Deutschland jetzt ist. - Diese Bundesregierung hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die
Entwicklung so positiv verlaufen konnte. Das ist ein
Faktum. Jetzt sorgen wir dafür, dass auch in Zukunft die
Entwicklung positiv verläuft. Das ist doch das Entscheidende.
({8})
Auf dem Arbeitsmarkt verzeichnen wir einen Rekordstand. Die Einkommen steigen. Die Schuldenbremse
wird eingehalten, und das vier Jahre, bevor sie eingehalten werden müsste. Im Jahr 2014 werden wir einen
strukturell ausgeglichenen Haushalt haben. Das war
doch gar nicht vorauszusehen.
Ich möchte daran erinnern, was der Kollege Lindner
vorhin zitiert hat: Der fabelhafte Herr Walter-Borjans in
Nordrhein-Westfalen wirbt jetzt dafür, die Schulden
durch Inflation zu bekämpfen. Das ist die unsozialste
Politik, die man sich vorstellen kann.
({9})
Inflation belastet diejenigen, die fixe Einkommen haben,
die ihre Einkommen nicht anpassen können. Inflation
belastet außerdem die Sparer, deren Sparvermögen entwertet wird. Das können wir doch nicht zulassen. Das
kann auch gar nicht ernst gemeint sein.
Obwohl es im Umfeld, insbesondere in Europa, aber in
den letzten Monaten auch in Asien und in den USA, zu einer schwachen Rezession gekommen ist - in Europa
schon zu einer stärkeren -, geht es Deutschland gut. Das
ist doch das Herausragende. Und jetzt zieht die Konjunktur in Asien, in China und neuerdings auch in den
Vereinigten Staaten wieder an, sodass wir eine steigende
Exportnachfrage und damit eine positive Entwicklung
erwarten können. Das wird dazu beitragen, dass wir aus
der leichten Depression, in der wir im letzten Quartal
waren, wieder herauskommen und in ein steigendes
Wachstum hineinkommen.
Wo liegen eigentlich die Risiken? Die Risiken liegen
in der zu geringen Investitionsquote in Deutschland. Investiert wird nur, wenn man Vertrauen hat. Es gelingt der
Bundesregierung mit vereinten Kräften - insbesondere
der Bundeskanzlerin in Europa -, Stabilität wiederherzustellen, was den Euro anbetrifft, und das wird Vertrauen
zurückbringen.
Das zweite Risiko liegt in den Bundestagswahlen.
Denn die Menschen haben die Sorge,
({10})
dass das, was Sie ihnen versprechen, nämlich Steuererhöhungen in voller Bandbreite, realisiert wird. Das, was
der Kollege Fuchs gesagt hat, stimmt genau: Die Einkommensteuer ist die Betriebsteuer für den Mittelstand.
Wenn Sie die Einkommensteuer anheben - man muss
bedenken, dass die mittelständischen Unternehmen fast
die gesamten Gewinne reinvestieren -, dann geht das zu
100 Prozent zulasten der Investitionsquote. Die Investitionen von heute sind die Arbeitsplätze von morgen.
Wenn Sie die Investitionen erschweren, dann sorgen Sie
für Arbeitslosigkeit in der Zukunft. Das können Sie sich
einmal hinter den Spiegel stecken.
({11})
Man muss erreichen, dass die Unternehmen investieren.
Das erreicht man nicht durch Belastung, sondern durch
Entlastung und Flexibilisierung der Rahmenbedingungen für Investitionen in der Wirtschaft.
Weil Ihnen jetzt nichts anderes mehr einfällt, Herr
Steinbrück, kommen Sie jetzt auf die Steuerhinterziehung,
({12})
als ob Deutschland ein Land von Steuerhinterziehern
wäre. Also, das muss ich mit allem Nachdruck zurückweisen. Die Deutschen zahlen ehrlich ihre Steuern.
({13})
Es gibt wie immer und überall Ausnahmen. Aber die
Leute, die Geld beispielsweise in die Schweiz gebracht
haben, werden jetzt von Ihnen geschont:
({14})
Sie haben das Abkommen mit der Schweiz verhindert.
({15})
Wenn das realisiert worden wäre, hätten sie nicht nur in
Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit Steuern
zahlen müssen. Weil Sie das verweigert haben, sind Sie
der Schutzpatron der Steuerhinterzieher.
({16})
Wenn Sie sich jetzt hingegen in der Öffentlichkeit als
derjenige präsentieren, der die Steuerhinterziehung bekämpfen will, dann ist das nun wirklich doppelte Moral;
das ist doppelzüngig.
({17})
- Sie wissen genau, dass das ein Fehler war; denn Sie
sind in diesem Zusammenhang viel zu informiert und
gescheit. Da hat Ihnen Herr Walter-Borjans wirklich einen Tort angetan.
({18})
Das ist nicht nur falsch; das ist eine absolute Dummheit.
Es perpetuiert die Steuerungerechtigkeit, mit der wir es
hier zu tun haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Die Kollegin Kerstin Andreae ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Rösler, der Titel des Jahreswirtschaftsberichts lautet: „Wettbewerbsfähigkeit - Schlüssel für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und
Europa“. Und was ist das Hochrelevante für unsere
Wettbewerbsfähigkeit in den nächsten Jahren? Es ist die
Frage, ob wir in der Lage sind, die Energiewende zu
schaffen. Das Energieeinspeisegesetz, das EEG, schuf
die Grundlage für das große industrielle Projekt der letzten Dekade. Das ist zukunftsorientierte Industriepolitik,
wie wir sie brauchen. Das schafft Arbeitsplätze, das
schafft neue Märkte, das schafft Zukunft, und das ist vor
allem auch umweltpolitisch sinnvoll. Deswegen sage
ich: Ja, wir müssen das EEG reformieren; aber wir müssen es nicht abschaffen und vor allem nicht durch ein
Quotenmodell ersetzen.
({0})
Anstatt dass der Wirtschaftsminister hergeht und sagt:
„Wir nutzen die Energiewende als großen Konjunkturpush, um hier wirklich etwas voranzubringen“, stellt er
das Quotenmodell in den Raum, das in anderen Ländern
gescheitert ist und dessen Umsetzung zur Folge hätte,
dass Windenergie onshore gefördert würde, was einen
gigantischen Netzausbau nach sich ziehen würde und
vor allem unseren Vorsprung bei Innovationen, unseren
technologischen Vorsprung bei weltweit nachgefragten
Energieprodukten, kaputtmachen würde. Das ist nicht
das, was ein Wirtschaftsminister leisten muss. Er muss
vorangehen bei diesem Thema.
({1})
Natürlich sind die Kosten der Energiewende ein äußerst wichtiges Thema. Nichts treibt die Unternehmen
gerade mehr um als die Frage der Entwicklung der Energiepreise. Im Übrigen ist das auch für die privaten Haushalte ein großes Problem.
Dann muss man aber fair bleiben und für eine faire
Verteilung sorgen. Was erleben wir aber? Wir erleben
eine enorme Schieflage. Die Großunternehmen werden
immer weiter befreit, während die kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie die Privaten diese Befreiung bezahlen müssen. Gleiches gilt für die Netzentgelte.
Wir haben es ausgerechnet, und das können Sie sich
genau anschauen. Wenn wir das zurückfahren und die
Ausnahmen auf die Unternehmen begrenzen, die energieintensiv produzieren und die wirklich im internationalen Wettbewerb stehen, dann können wir ein Einsparvolumen von 4 Milliarden Euro erzielen. Das senkt die
Energiepreise für Mittelständler und Privathaushalte.
({2})
Nach wie vor herrscht große Unsicherheit aufgrund
der europäischen Entwicklung. Die Krise hat und hatte
Europa fest im Griff. Dann griff die EZB ein. Das war
nicht die beste Lösung. Die EZB musste aber eingreifen,
weil die Bundesregierung nicht zu einem entschiedenen
gemeinsamen europäischen Vorgehen in der Lage war.
Erst durch das Eingreifen der EZB haben sich die Finanzmärkte beruhigt.
Überwunden ist die Eurokrise aber noch lange nicht.
Das weiß auch der Wirtschaftsminister. Denn im Jahreswirtschaftsbericht steht als Begründung für diese Wahlkampfzahl „1,6 Prozent im nächsten Jahr“:
Als zentrale Annahme über den Fortgang der
Schuldenkrise wird unterstellt: Es kommt zu keiner
weiteren negativen Entwicklung, in deren Folge die
Verunsicherung der Marktteilnehmer steigt.
({3})
Diese Annahme wird zugrunde gelegt für die Prognose des Wirtschaftswachstums von 1,6 Prozent. Wenn
man das aber zugrunde legt, dann muss man auch etwas
dafür tun.
({4})
Sie sprechen vom Fiskalpakt. Zentral bei den Verhandlungen des Fiskalpakts war aber nicht nur, dass die
Schuldenbremse in den Ländern implementiert wird,
sondern zentral war vor allem, dass wir gesagt haben:
Wir brauchen Investitionen zur wirtschaftlichen Entwicklung in den Ländern.
Wir - SPD und Grüne - haben in zähen Verhandlungen
mit Ihnen durchgesetzt, dass die Finanztransaktionsteuer
kommt, dass Investitionen in Schiene, Energienetze und
Datentransfer getätigt werden, dass Maßnahmen gegen
Jugendarbeitslosigkeit und Maßnahmen für mehr Energieeffizienz ergriffen werden.
Was sehen wir jetzt aber? Vereinbarte Maßnahmen
werden nicht oder nur schleppend umgesetzt. Am eklaKerstin Andreae
tantesten zeigt sich das meines Erachtens bei der Frage
der Energieeffizienzrichtlinie.
({5})
Alle - vor allem Mittelstand und Handwerk - wollen die
Energieeffizienzrichtlinie. Was aber unternimmt das
Wirtschaftsministerium? Es arbeitet an Studien, die der
Frage nachgehen, wie man um diese Energieeffizienzrichtlinie herumkommen kann, anstatt zu sagen: Ja, wir
nehmen das als Konjunkturpush zur wirtschaftlichen
Entwicklung für unseren Mittelstand und für unser
Handwerk.
({6})
Jetzt wende ich mich den Linken zu. Dabei bitte ich
dringend um Ihre Aufmerksamkeit. Für die Menschen in
den Krisenländern ist die Situation teilweise wirklich
eine Katastrophe. Die Probleme wie zum Beispiel die
hohe Arbeitslosigkeit und massive Einsparungen treiben
uns alle um. Wir müssen aufpassen, dass die Menschen
ihre Hoffnung in Europa und ihren Glauben an die Wirkung von Strukturreformen nicht verlieren.
Es geht aber nicht an, dass Ihr Oskar Lafontaine im
Morgenmagazin uns alle in Haftung nimmt für persönliche Dramen bis hin zu Selbstmorden. Das ist schäbiger
Populismus und absolut inakzeptabel.
({7})
Herr Rösler, Sie sagen, Haushaltskonsolidierung sei
zentral für Wettbewerbsfähigkeit. Das stimmt. Die Bundesregierung lobt sich für eine weiter sinkende Neuverschuldung. Damit haben Sie aber gar nichts zu tun.
Tatsache ist, dass Sie erstens viel weniger eingespart
haben, als Sie Zuwächse an Einnahmen hatten. Zweite
Tatsache ist, dass Sie im Augenblick nur aufgrund der
niedrigen Zinsen einen solchen Haushalt vorlegen können, wie Sie ihn vorlegen. Dritte Tatsache ist, dass Sie
die Kassen der Sozialversicherung um fünf Milliarden
Euro geplündert haben. Die Bundesagentur für Arbeit
sagt Ihnen: Uns fehlen die Gelder, um die Kurzarbeit zu
finanzieren, uns fehlen die Gelder für die Förderung der
Langzeitarbeitslosen. - In Bezug auf den Konsolidierungsbeitrag gibt es nichts, wofür Sie sich auf die Schulter klopfen könnten.
({8})
In Zukunft wird es nicht mehr nur um die Frage gehen: Wie hoch ist die Neuverschuldung? Vielmehr geht
es um die Frage: Sind wir in der Lage, den Schuldenberg
abzubauen? Sie sagen immer - nicht nur sonntags, sondern auch montags bis samstags -: Der Abbau von
Schulden ist wichtig. Dann verraten Sie uns doch einmal, wie Sie das machen wollen. Wo ist denn Ihr Vorschlag, wie wir von diesem Schuldenberg herunterkommen können?
({9})
Sie haben kein Konzept. Aber Sie wagen es allen Ernstes, uns für den Vorschlag, eine Vermögensabgabe einzuführen, anzugreifen. Zum ersten Mal legt jemand ein
Konzept vor, das zeigt, wie man von dem Schuldenberg
von über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts herunterkommt. Wir reißen die Kriterien von Maastricht doch jedes Jahr. Sie haben keinen Vorschlag, was man dagegen
tun könnte. Hören Sie also auf, uns Vorschriften zu machen!
({10})
Das nächste Sparschwein, das Rösler schlachten will,
ist die KfW. Sie wollen ohne Rücksicht auf die anstehenden Aufgaben, die auf die KfW zukommen, im nächsten
Jahr 1 Milliarde Euro herausnehmen. Ich warne Sie: Öffnen Sie nicht die Büchse der Pandora! Sie dürfen es gar
nicht. Es ist gesetzlich nicht erlaubt, dass Sie sich an den
Erträgen der KfW bedienen. Das ist auch richtig so.
Lernen Sie von Mappus! Mappus hat irgendwann in
der Endphase seiner Regierungszeit als Ministerpräsident in Baden-Württemberg sogar unterjährig die Förderbank in Baden-Württemberg geschröpft. Sie wissen,
was aus Mappus geworden ist. Grundsätzlich ist es einfach falsch: Wir brauchen diese Förderbank für die Mittelstandsfinanzierung und für Energiemaßnahmen. Ich
sagen Ihnen: Hände weg von der KfW!
({11})
Über Weihnachten hat der Wirtschaftsminister noch
eine Sau durchs Dorf getrieben: Privatisierung. Ganz
toll! Durch Privatisierung die Neuverschuldung schneller abzubauen, das ist ein Märchen aus Absurdistan. Ein
Teil der Privatisierung, die Sie in den Raum gestellt haben, wird schon seit langem gemacht. Aber entscheidend
ist doch, dass wir hier - im Übrigen in einem, wie ich
wahrgenommen habe, sehr breiten Konsens - dafür entschieden haben, dass die Bahn nicht privatisiert wird,
weil es eine Aufgabe der Daseinsvorsorge ist und weil
das Schienennetz ein natürliches Monopol ist.
({12})
Lassen Sie die Hände weg! Da irrt der Ordnungspolitiker
Rösler gewaltig.
Mich interessiert, ob die Sozialministerin in diesem
Bericht ebenso herumgestrichen hat, wie Sie es im Armutsbericht getan haben.
({13})
Was Sie sich da geleistet haben, das war schon grandios.
Man kann Armut nicht dadurch bekämpfen, indem man
sie aus einem Bericht herausstreicht. Das funktioniert
nicht.
({14})
Was wurde denn verändert zwischen Entwurf und Abschluss? Die Lohnuntergrenze ist raus, der Schutz von
atypischen Beschäftigungsverhältnissen ist raus, es wird
nicht mehr überprüft, wie sich das Betreuungsgeld auf
die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirkt, und es soll
auch nicht mehr geprüft werden - nicht einmal nur geprüft werden! -, ob privater Reichtum stärker zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden
sollte. All das ist draußen. Dabei wissen wir: 1,4 Millionen Menschen beziehen ergänzendes Arbeitslosengeld II.
Statt hier sinnvoll gegenzusteuern, weiten Sie die Niedriglohnfalle Minijobs weiter aus.
Der Gedanke, dass Menschen von ihrem Lohn leben
können müssen und dass das etwas mit Menschwürde zu
tun hat, trägt sich inzwischen auch weit in diese Koalition hinein. Wer es verhindert, ist die FDP mit ihrem
Wirtschaftsminister. Machen Sie den Weg frei für eine
gesetzliche Lohnuntergrenze! Das werden Ihnen im Übrigen auch viele Mittelständler danken.
Eines kann ich Ihnen versprechen: Nach der Bundestagswahl 2013 werden wir einen Mindestlohn einführen,
und vor allem werden wir die Energiewende zum Konjunkturprogramm für Deutschland und für Europa machen.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schlecht.
Frau Andreae, Sie sind auf die Folgen der deutschen
Politik in den südeuropäischen Ländern wie Griechenland eingegangen. Ich selbst war im Oktober in Athen.
Das war der Tag, an dem auch die Kanzlerin dort unterwegs war. Wir haben ein Kinderkrankenhaus besucht. In
diesem Kinderkrankenhaus ist uns vom Leiter der psychiatrischen Abteilung mitgeteilt worden, dass eine der
Folgen der Veränderungen des desaströsen Kurses, der
dort gefahren wird, darin besteht, dass die Anzahl der
Kinder, die bei ihnen mit Depressionen und anderen
derartigen psychiatrischen Erkrankungen eingeliefert
werden, dramatisch gestiegen ist. Uns ist auch berichtet
worden, dass der Anteil der Kinder - wohlgemerkt: Kinder -, die Suizid begehen, deutlich angestiegen ist. Das
ist wirklich eine der skandalösesten und dramatischsten
Folgen dieser Politik. Das, was in den südeuropäischen
Ländern, vor allen Dingen in Griechenland, passiert ist,
ist Folge der Kürzungsauflagen, ist Folge der bestialischen Politik, die maßgeblich von Deutschland, auch
vom Deutschen Bundestag ausgeht. Sie drückt sich in
solch zugespitzten Situationen aus. Für diese Folgen
trägt die Regierung, aber auch SPD und Grüne, die diesen ganzen sogenannten Maßnahmen mit übergroßer
Mehrheit zugestimmt haben, Verantwortung. Insofern
zieht die deutsche Politik mittlerweile mindestens durch
Südeuropa eine breite Blutspur, und das ist ein Skandal.
Zur Erwiderung Frau Andreae, bitte sehr.
Herr Kollege, ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie sagen, dass Sie durchaus anerkennen, dass uns dies alle
umtreibt. Mit Ihrem letzten Satz haben Sie das aber kaputtgemacht. Ja, uns alle treibt um, wie es den Menschen
in Griechenland und in den anderen Krisenländern geht.
Und ja, diese Berichte sind erschreckend. Aber stellen
Sie sich bitte die Frage: Was wäre gewesen, wenn wir
Griechenland nicht geholfen hätten? Und stellen Sie sich
die Frage: Wie bekommen wir die griechische Regierung dazu, dass sie in ihrem Land endlich Strukturreformen vollzieht, dass sie bessere Einnahmen erzielt, dass
sie an die Besitzer der Jachten herangeht, dass sie die
Steuerpolitik überarbeitet? All das müssen wir jetzt machen, und zwar gemeinsam. Mit diesem populistischen
Vortrag spalten Sie. Man kann sich in der Sache streiten:
Ist das die richtige oder die falsche Maßnahme? Was
man aber nicht machen darf, ist, auf dem Rücken der
Menschen, die wirklich extrem leiden, billigen Wahlkampf zu machen. Wer von „Blutspur“ und Haftung für
Selbstmorde spricht, macht billigen Wahlkampf.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Nadine Schön für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jahreswirtschaftsbericht 2013 - das klingt trocken, wissenschaftlich und abstrakt. Das klingt nach
Zahlen und Diagrammen. An der lebhaften Debatte
heute Morgen merkt man aber, dass mehr dahintersteckt,
dass das ein besonderer Bericht ist. Das Besondere an
diesem Bericht ist, dass er ein Indikator dafür ist, wie es
den Menschen in unserem Land geht. Er lässt Rückschlüsse zu, wie die Menschen in unserem Land konkret
leben, wie sich die Lebensbedingungen verändern, wie
wir im Konzert der europäischen Nachbarstaaten dastehen.
({0})
Hinter all den abstrakten Zahlen, die dem Bericht zugrunde liegen, stehen Menschen. Dahinter stehen Lebensbedingungen und reelle Lebenssituationen. Hinter all
den Zahlen und Diagrammen steht eine Botschaft - auch
wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, diese Botschaft nicht gerne hören -: Seit diese
Koalition regiert,
({1})
geht es den Menschen besser. Seit Angela Merkel in diesem Land Verantwortung trägt, geht es den Menschen
Nadine Schön ({2})
besser. Es hat sich vieles zum Besseren verändert. Genau
deswegen vertrauen die Menschen dieser Koalition und
dieser Bundeskanzlerin.
({3})
41,6 Millionen Beschäftigte ({4})
das sind 41,6 Millionen Menschen, die wissen, dass sie
sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können, die
selbst ihres Glückes Schmied sind. Diese Menschen wissen, weshalb sie morgens aufstehen. Das sind 41,6 Millionen Menschen, so viele wie noch nie seit der Wiedervereinigung.
Die Jugendarbeitslosigkeit war im November mit
8,1 Prozent die geringste in ganz Europa. Die meisten
jungen Menschen in Deutschland haben einen Job. Das
sind Tausende junger Menschen, die sich ihre Zukunft
selbst aufbauen, die sich mit ihrem eigenen Geld ihre
Wünsche, ihre Träume erfüllen können.
({5})
500 Milliarden Euro - auch diese Zahl ist wichtig. In
dieser Höhe exportiert unser Land Güter in alle Welt,
Güter und Produkte, die von klugen Köpfen in unserem
Land entwickelt worden sind, die von fleißigen Menschen produziert worden sind. Dahinter stehen Tausende
Unternehmer. Das sind Unternehmer, die den Weg in die
Selbstständigkeit gegangen sind und Verantwortung für
sich und für ihre Mitarbeiter übernommen haben. Sie haben Mut, Risiken in Kauf zu nehmen, die Zukunft zu gestalten und anderen Menschen einen Arbeitsplatz zu ermöglichen. Hinter all diesen Zahlen stehen Menschen,
Schicksale und Lebensbedingungen. Diese Zahlen sagen: Den meisten Menschen in unserem Land geht es
gut.
({6})
Liebe Kollegen, gerade weil es um Menschen geht,
muss man bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Lage
selbstverständlich auch kritisch auf das schauen, was
nicht so gut ist; denn auch davon sind Menschen betroffen. So etwa die Beschäftigten im Niedriglohnbereich.
Natürlich sind das noch zu viele. Weiter gilt das für die
Einkommensunterschiede zwischen Mann und Frau. Die
sind noch zu groß. Das kann uns nicht zufriedenstellen,
und deshalb arbeitet diese Regierung mit Hochdruck daran, dass das weiter besser wird.
({7})
Falsch ist es allerdings, die Zahlen zu verallgemeinern. Es war wirklich ärgerlich, dass Sie sich heute Morgen hier hingestellt und ein Bild von Deutschland gemalt
haben, das - nur weil Sie alles verallgemeinern - rabenschwärzer nicht sein könnte. Es ist falsch, zu sagen, dass
vorwiegend prekäre Beschäftigung geschaffen wird und
dass überwiegend Minijobs dazugekommen sind. Im
Gegenteil: In Deutschland entstehen in erster Linie sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
({8})
In erster Linie entsteht gute Arbeit in Deutschland. Dabei geht es um gute Jobs, nicht um Minijobs. Natürlich
steigt auch die Zahl der Minijobs, wenn die Anzahl der
Beschäftigten insgesamt steigt. In weit überwiegendem
Maße aber entstehen zur Zeit sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. Das sind gute Arbeitsplätze,
echte Jobs. Darauf können wir stolz sein.
Es ist auch falsch, zu sagen, dass der Niedriglohnsektor explodiert. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wahrheit
ist nämlich, dass unter Gerhard Schröder der Niedriglohnsektor zugenommen hat. Seit die CDU regiert, geht
er zurück. Das ist die Wahrheit. Sie sollten da auch mit
Ihren Darstellungen bei der Wahrheit bleiben.
({9})
Im Übrigen ist nicht alles, was Sie als prekär bezeichnen, wirklich prekär.
({10})
Wollen Sie etwa dem Studenten, der einen Minijob hat,
sagen, dass er prekär beschäftigt sei? Oder können Sie
das etwa dem Rentner sagen, der sich nebenher noch etwas dazuverdient, indem er beim Nachbarn den Rasen
mäht?
({11})
Ich will die Probleme, die es im Niedriglohnsektor, bei
Zeitarbeit und bei geringfügiger Beschäftigung gibt,
nicht kleinreden. Das Horrorszenario aber, das Sie, liebe
Kollegen der Opposition, hier heute gemalt haben, entspricht schlicht nicht der Realität.
({12})
Noch ein Wort zum Thema Löhne. Auch hierzu haben
Sie wieder Horrorszenarien gemalt. Die Wahrheit ist:
Seit wir an der Regierung sind, steigen die Löhne in
Deutschland. Jahrelang sind sie immer nur gesunken.
Seit drei Jahren aber steigen die Löhne in Deutschland.
Die Frankfurter Rundschau hat gestern getitelt: „Aufschwung begünstigt Arbeiter“. Das ist wahr. Vom Aufschwung in Deutschland profitieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist die Wahrheit.
({13})
Für den Arbeitnehmer ist allerdings nicht nur interessant, was er verdient, sondern vor allem auch, was er davon später in der Tasche hat. Seit die CDU an der Regierung ist, haben die Menschen mehr in ihrer Tasche. Der
Arbeitnehmer hat im letzten Jahr durchschnittlich
550 Euro mehr verdient. Er hätte im nächsten Jahr noch
mehr in der Tasche haben können. Das wäre nämlich der
Fall gewesen, wenn Sie im Bundesrat unsere Pläne zur
Bekämpfung der kalten Progression nicht verhindert hätten.
({14})
Nadine Schön ({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn heute ein Arbeitnehmer eine Lohnerhöhung bekommt, wird sie nicht
selten durch die kalte Progression bei der Steuer komplett aufgefressen. Das ist es, was wir gerne abschaffen
wollen, was Sie aber im Bundesrat verhindert haben.
Wegen Ihrer Blockadehaltung im Bundesrat sind Sie dafür verantwortlich, dass die Lohnerhöhungen derjenigen,
die sich anstrengen, weiter von der Steuer aufgefressen
werden. Wir wollten Leistung belohnen, Sie haben das
verhindert. Auch diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen. Sie können sich deshalb nicht hier hinstellen
und über kleine Löhne sowie mangelnde Möglichkeiten
klagen, in diesem Land Geld auszugeben.
Mit der Blockadehaltung im Bundesrat haben Sie
auch verhindert, dass die Binnenkonjunktur weiter gestärkt wird. Sie haben sich heute Morgen hier hingestellt
und haben gesagt: Wir müssen unbedingt etwas für die
Stärkung der Binnenkonjunktur machen. Auf der anderen Seite verhindern Sie im Bundesrat aber alles, was die
Binnenkonjunktur stärken würde, etwa die Abschaffung
der kalten Progression oder auch das Gebäudesanierungsprogramm. Das wäre ein wirkliches Konjunkturprogramm für unser Handwerk gewesen. Sie aber haben
sich dazu im Bundesrat verweigert. Deshalb kann ich an
Sie nur appellieren: Es bringt nichts, hier nur zu reden
und zu sagen, dass wir die Binnenkonjunktur stärken
müssen. Wenn es konkret wird, müssen Sie auch mit dabei sein. Sie müssen da mitmachen. Damit können Sie
etwas für unser Land tun. Vielleicht, liebe Kollegen,
lenkt das dann auch ein wenig von Redehonoraren,
Weinpreisen oder auch Eierlikör ab.
({16})
Es ist Fakt, dass Deutschland zurzeit sehr gut dasteht.
Fakt ist aber auch, dass wir zurzeit konjunkturell in einer
Schwächephase sind. Das ist auch klar; denn als exportstarke Nation bleiben wir nicht unverschont von den
Entwicklungen auf den Weltmärkten und in Europa.
Deshalb stehen wir vor zwei Herausforderungen: Zum
einen müssen wir in Europa wieder auf Wachstumskurs
kommen; die Kollegen haben einiges dazu gesagt. Es ist
richtig, dass wir die Euro-Stabilisierung und auch die
Strukturmaßnahmen in der EU vorantreiben. Zum anderen müssen wir selbst stark bleiben.
Die Parameter dafür sind genannt. Wir brauchen einen soliden Haushalt. Denn auf Schulden kann man
keine Zukunft bauen. Wir brauchen eine gute Infrastruktur, Rohstoffe und bezahlbare Energie.
({17})
Wir brauchen wachstumsfördernde Rahmenbedingungen. Wir brauchen Fachkräfte: Junge, Alte, Frauen und
Männer, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Um sie alle müssen wir werben.
({18})
Wir brauchen kluge Köpfe, und wir machen dazu die
richtige Politik.
({19})
Schließlich brauchen wir Innovationen. Denn der
Schlüssel zum Erfolg liegt in der Innovation. Deutschland ist das Land der Ideen, der Innovationen. Deutschland war schon immer eine Innovationsschmiede in der
Welt. Aus Deutschland kommen der Hybrid und das
MP3-Format. Der Computer wurde in Deutschland erfunden. Unser Maschinenbau ist weltweit bekannt. Wir
sind das Land der Ideen, und wir wollen, dass aus den
Ideen Produkte werden, dass aus den Ideen Wertschöpfung wird.
Mir fehlt die Zeit, noch länger darauf einzugehen. Daher nur so viel: Ideen und Innovationen entstehen dort,
wo investiert wird. Auch das tun wir. Noch nie wurde so
viel in Bildung und Forschung investiert wie unter dieser
Regierung. Gerhard Schröder hatte es zwar groß angekündigt und sich vorgenommen, gemacht hat er es aber
nicht. Gemacht hat es erst die CDU-geführte Bundesregierung. Wir investieren mittlerweile 2,9 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung. Damit liegen wir im Spitzenbereich in Europa. Das ist
wirklich Investition in Köpfe. Das ist Investition in
Ideen. Das ist Investition in unsere Zukunft, und das ist
die richtige Politik.
({20})
Ich bin überzeugt: Wir haben die richtigen Weichen
gestellt, dass es Deutschland und den Menschen in unserem Land gut geht, dass es ihnen besser geht. Der Jahreswirtschaftsbericht gibt Zeugnis davon. Ich bin sicher,
dass wir diesen Kurs auch in Zukunft weiterfahren werden. Wir nehmen die Herausforderungen an. Ich kann
Ihnen nur empfehlen, uns auf diesem Weg zu begleiten.
Denn er ist gut für Deutschland und gut für die Menschen in unserem Land.
({21})
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Tiefensee
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 115 Seiten
Bundeswirtschaftsbericht - ich will ihn einmal in fünf
Schlagworten zusammenfassen. Deutschland geht es
gut.
({0})
Die Bundesregierung hat daran keinen Anteil.
({1})
Die Konjunktur trübt sich in Europa und zunehmend
auch in Deutschland ein.
({2})
Die Bundesregierung hat kein Konzept, wie sie dagegen
vorgehen soll.
({3})
Fünftens. Es wird Zeit, dass wir eine aktive Wirtschaftspolitik mit einer anderen Regierung machen.
({4})
Sehr verehrter Herr Minister, ich habe Sie zum ersten
Mal in Niedersachsen, in Hannover erlebt. Wir hatten
auf der Hannover Messe ein gutes Gespräch geführt; Sie
entsinnen sich vielleicht. Ich persönlich bin erschrocken
darüber, welche Wandlung in Ihnen vorgegangen ist. Wir
haben einen Wirtschaftsbericht, der schönfärbt, der die
Probleme nicht beim Namen nennt
({5})
und der vor allen Dingen voll von Zielstellungen ist und
keine Konzeption aufweist, wie wir dieses Land dort, wo
es im Umfeld schwieriger wird, tatsächlich stabilisieren
können. Fehlanzeige!
Ein Wirtschaftsbericht ist eine Momentaufnahme.
Entscheidend ist: Wo kommen wir her, und wo gehen
wir hin? Ist es eine aufsteigende oder eine absinkende
Linie? Darauf muss man reagieren. Zuerst bedarf es einer Analyse, warum es Deutschland gut geht. Es geht
Deutschland gut - Sie schreiben es in Ihrem Geleitwort -, weil wir leistungsstarke Menschen und Unternehmen haben. Deutschland hat aber keine leistungsstarke Bundesregierung. Sie bauen mit Ihrer Politik auf
den Maßnahmen auf, die unter Rot-Grün und in der Großen Koalition eingeleitet worden sind, und heften sich
den Erfolg ans Revers.
Was waren das für Maßnahmen? Zunächst einmal haben die Unternehmen umstrukturiert. Von dieser Stelle
aus sollte man noch einmal denjenigen danken, die die
Zeichen der Zeit Anfang der 2000er-Jahre erkannt haben.
({6})
Wir haben Arbeitsmarktreformen durchgeführt und dafür gesorgt, dass in der schwierigen Zeit 2008/2009 das
Kurzarbeitergeld eingeführt wurde; das hat die Unternehmen stabilisiert. Ich durfte damals die Konjunkturprogramme für den Bereich Verkehr und Bau schreiben,
und wir haben sie gemeinsam durchgesetzt.
({7})
Das sind die Grundlagen dafür, dass es uns jetzt gut geht.
({8})
Sie sind die Nutznießer der Vorräte, die andere angelegt
haben; das ist das Erste.
({9})
Das Zweite. Wir befinden uns momentan in einer kritischen Situation, und zwar deshalb, weil Deutschland in
Europa eingebettet ist und es Deutschland selbst in diesem und im nächsten Jahr nicht so gut geht. Denken Sie
zum Beispiel an die Aussagen des DIW. Das DIW sagt,
dass es frühestens 2014 wieder zu einer Konjunkturbelebung kommen wird. Fragen Sie auch einmal Unternehmer - und zwar nicht nur Verantwortliche in großen Unternehmen, sondern auch Mittelständler -, wie sie die
Zukunft sehen. Sie prognostizieren ein Dreijahrestief.
Oder nehmen Sie die Aussagen der Weltbank. Die Weltbank spricht davon, dass bis 2014 ein deutlicher Abschwung zu verzeichnen sein wird. Was tut die Bundesregierung dagegen? Nichts! Sie ruht sich aus und hofft,
dass der lange Bremsweg durch die vorangegangenen
Maßnahmen schon ausreichen wird. Von einer Delle
bzw. einer vorübergehenden Schwäche zu sprechen, wie
Sie, Herr Minister Rösler, es in Ihrem Bericht tun, hilft
hier nicht weiter.
Ich will kurz einige Bereiche aufzählen, in denen wir
dringend ein Umsteuern brauchen.
Zunächst zur Investitionstätigkeit. Wir stellen fest - es
ist bereits angeklungen -: Die Ausrüstungsinvestitionen
sind im Laufe des letzten Jahres um 4,4 Prozent gesunken. Das, so schreiben Sie ehrlich in Ihrem Bericht, hat
etwas mit mangelndem Zutrauen zu tun. Was tun Sie
also, um eine Exportnation zu stabilisieren und Investitionen zu ermöglichen bzw. zu festigen? Sie gehen an
die GRW. Die Mittel für diese Gemeinschaftsaufgabe
wurden gekürzt. Dabei geht es um die Förderung strukturschwacher Regionen und die Förderung von Unternehmen, die dringend investieren müssen. Sie wissen,
dass die Strukturförderung der EU zurückgeht. Sie wissen auch, dass wir dunkle Wolken am Horizont sehen,
nicht zuletzt in Ostdeutschland. Aber was tun Sie? Sie
kürzen diese Mittel.
Ein anderes Beispiel ist die in Ihrer Koalitionsvereinbarung verankerte steuerliche Forschungsförderung.
Fehlanzeige! Es ist nichts zu sehen.
Zu einem weiteren schwierigen Thema, Herr Rösler.
Investitionen kommen zustande, wenn wir exportieren.
Wenn Sie aber die südeuropäischen Länder verunsichern
({10})
und in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal keine
Wachstumsimpulse setzen, sondern über einen Ausstieg
dieser Länder aus der Euro-Zone schwadronieren, dann
brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass dort keine
Kaufkraft entsteht und dass dort nicht investiert wird.
Ein solches Verhalten ist sträflich, auch für Deutschland,
und es ist eines Wirtschaftsministers nicht würdig.
({11})
Zum Stichwort „Investitionen“ gehört ein weiterer
Aspekt. Dabei geht es nämlich auch um die Arbeitskräfte, die unsere Werte schaffen. In dem Bericht, den
Sie uns vorgelegt haben, steht nahezu nichts zu der für
Deutschland - aber nicht nur für Deutschland - elementaren und existenziellen Frage: Wie gehen wir eigentlich
mit unserem Fachkräftebedarf um? Auch dies ist ein
wichtiges Thema.
Sie wissen genau, dass wir in Zukunft Frauen und
Männer, junge Leute und ältere Arbeitnehmer brauchen.
Aber was tun Sie, damit Familie und Beruf besser zu
vereinbaren sind? Sie führen ein Betreuungsgeld ein und
belasten damit die Kassen. Das Betreuungsgeld muss
weg! Es ist das genaue Gegenteil dessen, was wir brauchen, um Fachkräfte für unsere Wirtschaft zu gewinnen.
({12})
In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht lese ich, dass die
Meinungsbildung über eine einheitliche gesetzliche Lohnuntergrenze noch nicht abgeschlossen sei. Das ist eine
fromme, eine kindliche Umschreibung für die Tatsache,
dass Sie sich in einem für Deutschland wichtigen
Thema, nämlich der Frage eines gesetzlichen Mindestlohns, nicht einigen können.
({13})
Lösen Sie endlich die Blockaden und führen Sie als unterste Haltelinie einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Ost und West ein! Dann kann die unsägliche
Praxis der Aufstockerei, die ja eine Belastung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mit sich bringt, ein Ende
haben.
({14})
Jedes Jahr verlassen 50 000 Jugendliche die Schule
ohne Ausbildung. Die Bundesagentur für Arbeit prognostiziert, dass wir mit relativ einfachen Maßnahmen
5,2 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte generieren könnten. In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht steht dazu nichts.
Lassen Sie mich schließlich zu einem weiteren wichtigen Thema kommen, der Energiewende. Dieses Megaprojekt, das von Rot-Grün angeschoben wurde, ist bei
Ihnen in schlechten Händen. Sie haben von den drei
wichtigen Zielen gesprochen: Wir wollen zum Ersten
den CO2-Ausstoß minimieren, den Klimawandel verhindern, erneuerbare Energien einführen. Wir wollen zum
Zweiten die Versorgungssicherheit garantieren, und wir
wollen zum Dritten, dass die Energiewende bezahlbar
bleibt.
Fangen wir am Ende an: Sie haben es mit einer unsäglichen Politik geschafft, dass die Risiken des Netzausbaus beim Privatkunden und beim kleinen Mittelstand
landen. Ihre Ministerin Aigner - Bayern, CSU - hat
jetzt, wie ich hören musste, den Vorschlag gemacht, wir
sollten die Netze nationalisieren. Hat nicht gerade der
sehr verehrte Herr Kollege Glos die Netze verkauft, zum
Beispiel an TenneT? TenneT, ein niederländisches Unternehmen mit staatlicher Eigentümerschaft, hat nicht
genug Eigenkapital, um den Ausbau der Netze zu bezahlen. Wer bezahlt diesen Unsinn? Die Privatkunden und
der Mittelstand. Das muss sich ändern, und das werden
wir ab 2013 ändern.
({15})
Wie sieht es mit der Versorgungssicherheit aus? Im
letzten Jahr hat die Bundesnetzagentur zehnmal so oft
wie sonst eingreifen müssen, um die Netzstabilität zu gewährleisten. Sehr verehrter Herr Rösler, Sie werden sich
darum kümmern müssen, dass es nicht zu Stromabschaltungen kommt. Wir brauchen endlich eine Art Masterplan, damit die Länder nicht untereinander streiten. Es
muss Koordination zwischen Bund und Ländern stattfinden, und es darf nicht sein, dass in der Bundesregierung
zwei Minister ein Hü und Hott, ein Links und Rechts,
ein Vor und Zurück praktizieren. Damit wir einerseits
unsere Energieziele erreichen und andererseits mit neuen
Produkten und Technologien Arbeitsplätze schaffen,
brauchen wir für die Energiewende zwingend einen
Fahrplan. Auch hier ist bei Ihnen auf der gesamten Linie
Fehlanzeige.
Dieser Jahreswirtschaftsbericht stellt entlarvend dar,
dass wir in der Wirtschaftspolitik eine Umkehr brauchen. Auf allen Feldern - sei es Europa, seien es Investitionen, sei es die Demografie, sei es die Energiewende,
seien es die Finanzen, sei es die Wirtschaftsförderung -,
überall ist nur das Minimale getan.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
einen guten Stand in Deutschland. Mit der Regierung hat
das nichts zu tun. Die aufkommende Konjunkturschwäche gilt es zu bekämpfen - aber nicht mit dieser Regierung.
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Martin
Lindner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Es
gibt Dinge, die jährlich wiederkehren, zum Beispiel
Neujahrsfeste und -empfänge
({0})
- sowie der Jahreswirtschaftsbericht.
Seit Januar 2010 ist es ein immer wiederkehrendes
Erlebnis, dass sich Vertreter der Opposition, der SPD,
wie Herr Heil und Herr Tiefensee, hier hinstellen und sagen: Die wunderbaren Zahlen, die der Bundeswirtschaftsminister vorstellen kann, haben mit allem zu tun,
Dr. Martin Lindner ({1})
nur nicht mit der aktuellen Bundesregierung - sie hätten
etwas mit der SPD zu tun.
({2})
Wenn wir hier im kommenden Jahr über den nächsten
Jahreswirtschaftsbericht sprechen, werden - das verspreche ich Ihnen - Herr Tiefensee und Herr Heil wieder hier
stehen
({3})
und erklären, die guten Zahlen hätten mit der alten SPD
zu tun. Gewisse Traditionen muss man einfach bewahren.
Derzeit entstehen in Deutschland jeden Tag 500 Industriearbeitsplätze. Mit 6,5 Prozent haben wir die niedrigste Arbeitslosenquote seit vielen Jahren. 1,6 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind
unter Schwarz-Gelb geschaffen worden - keine Spur
von Dumpinglöhnen und ähnlichem Kokolores,
({4})
den wir vom ewigen Herrn Gysi - der ist auch so ein
Murmeltier, das immer wiederkehrt - hier hören. Unsere
Zahlen können sich nicht nur in Europa, sondern auch
weltweit wirklich sehen lassen.
Auch die Armut ist gesunken; auch das muss man sehen. Alleine die Kinderarmut ist von 2006 bis 2011 um
13,5 Prozent gesunken.
({5})
Es gibt in Deutschland eine Zunahme an Armutsberichten, aber keine Zunahme an Armut. Das muss man an
dieser Stelle auch klarmachen.
({6})
Wir versuchen nicht nur, den Menschen zu helfen, in
sozialversicherungspflichtige Arbeit zu kommen, sondern sie parallel dazu auch zu entlasten. Wenn Sie sich
diesen Jahreswirtschaftsbericht anschauen, dann können
Sie genau lesen, wie dramatisch die Reallöhne gerade in
den letzten Jahren seit 2010 gestiegen sind. Das hat Ursachen.
Das hat mit der jüngst abgeschafften Praxisgebühr zu
tun, und das hat mit der zweimaligen Absenkung des
Rentenbeitragssatzes auf 18,9 Prozent zu tun, trotzdem
wir übrigens dafür gesorgt haben, dass sowohl in der
Kranken- als auch in der Rentenversicherung Rücklagen
in zweistelliger Milliardenhöhe gebildet wurden.
Herr Kollege Lindner, lassen Sie nun auch eine Zwischenfrage zu, und zwar des Kollegen Birkwald?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Lindner, vielen
Dank, dass Sie die Frage zulassen.
Sie haben eben behauptet, die Armut in Deutschland
sinke und steige nicht. Ich tue jetzt einmal etwas Ungewöhnliches und zitiere einfach. Der Paritätische Gesamtverband sagt zum Beispiel in seinem Statement zur regionalen Armutsentwicklung 2012: „Deutschland ist,
was Armut anbelangt, ein tief zerrissenes Land“. Ein
weiteres Zitat: „Die Krise ist in Deutschland angekommen. Die Armut ist auf Rekordhoch.“
Weiter heißt es: „Die Armutsgefährdungsquote übersprang erstmals die 15-Prozent-Schwelle und befindet
sich damit auf einem absoluten Rekordhoch seit der Vereinigung. Es sind 12,4 Millionen Menschen betroffen vier Prozent, rund eine halbe Million mehr als noch im
Vorjahr.“ Mehr, nicht weniger, Herr Kollege!
({0})
Hier steht weiter:
Interessanterweise stieg die Armutsgefährdungsquote in den letzten fünf Jahren trotz sinkender Arbeitslosigkeit und trotz sinkender Hartz-IV-Quoten. … Viele Menschen haben Arbeit, aber immer
weniger können von ihrer Arbeit leben.
Das alles sind Originalzitate des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der bekanntermaßen keine
Vorfeldorganisation der Linken ist.
Deutschland ist dreigeteilt. Mittlerweile hat sich auch
die Ost-West-Spaltung verändert: Bremen hat die Rote
Laterne übernommen usw.
Ein wichtiger Punkt kommt hinzu: Am schlimmsten
sind die Befunde in Nordrhein-Westfalen und Berlin.
Das ist das Letzte, was ich Ihnen jetzt noch vortragen
will: In Nordrhein-Westfalen stieg die Armutsgefährdungsquote von 15,4 Prozent auf 16,6 Prozent und in
Berlin von 19,2 Prozent auf 21,1 Prozent, und im Ruhrgebiet ist die Entwicklung dramatisch.
Erkennen Sie also bitte an, dass das, was Sie hier gerade eben gesagt haben, eine falsche Aussage war!
({1})
Herr Kollege, zunächst einmal hat die Situation in
Berlin vielleicht damit zu tun, dass die Linke und die
SPD von 2001 bis vor kurzem dort gemeinsam regiert
haben. Alles hat seine Wirkungen; nichts ist ohne Wirkung und Gegenwirkung.
({0})
Dr. Martin Lindner ({1})
Zweitens. Wenn man bei Ihren Ausführungen gerade
die Ohren spitzte, dann hat man natürlich die Differenzierung zwischen Armut und Armutsgefährdung zur
Kenntnis nehmen müssen. Ich sage Ihnen: In diesem
Lande gibt es eine Armutsdefinition, die aus sich heraus
dafür sorgt, dass Armut niemals abgeschafft werden
kann. „Armut“ wird nämlich so definiert, dass jeder, der
weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens bezieht, in Armut lebt.
({2})
- Es sind 60 Prozent! D’accord! Das ändert aber nichts
an dem Umstand, dass Menschen, die im Jahr vorher
noch nicht in der Armutsstatistik waren, automatisch in
die Armut rutschen, wenn der Volkswohlstand, der
Reichtum, in der Breite relativ steigt.
({3})
Das ist ein relativer und kein absoluter Armutsbegriff.
({4})
Hinzu kommt: Nachdem die Armut in den letzten
Jahren gesunken ist, gibt es jetzt einen neuen Armutsbegriff, nämlich die „Armutsgefährdung“.
({5})
Vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband und
anderen wird jetzt der Begriff Armutsgefährdung verwendet. Das weitet den Kreis noch aus.
Das kann man natürlich tun, aber das alles hat nichts
damit zu tun, dass wir hier dafür gesorgt haben, dass
die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze - sie sind keine Aufstocker oder das, was Sie immer propagieren - dramatisch gestiegen ist. Das ist das,
was ich vorhin meinte: Die Anzahl der Berichte über Armut oder Armutsgefährdung ist gestiegen, aber nicht die
Armut unter dieser Regierung. Nehmen Sie das bitte zur
Kenntnis.
({6})
Das hat eben Ursachen, die ich gerade genannt hatte.
Wenn Sie - zu Recht - einfordern, dass wir etwas für
die Binnenkonjunktur tun müssen, warum tun Sie denn
eigentlich in Ihren Parteiprogrammen genau das Gegenteil? Warum veranstalten Sie denn geradezu eine Orgie
von Vorschlägen zu Steuererhöhungen? Jeden Tag werden Ihre Vorschläge radikaler, sie beschränken sich ja
nicht auf Vermögensteuer, auf Substanzbesteuerung, die
natürlich kleine und mittlere Unternehmen angreifen.
Herr Gysi,
({7})
Sie werden uns doch nicht ernsthaft weismachen wollen,
dass man Privatvermögen und betriebliches Vermögen
systematisch trennen kann. Das gibt es doch gar nicht.
Die kleinen und mittleren Betriebe - das geht beim
Handwerksunternehmen los und geht bis zum Mittelstand - thesaurieren einen erheblichen Teil ihrer Gewinne und belassen sie im Unternehmen. Da gibt es gar
keine Differenzierung zwischen betrieblichem Vermögen und privatem Vermögen. Sie glauben immer, das
seien alles Dagobert Ducks, die zu Hause einen Goldspeicher haben, in dem sie baden gehen und aus dem
man einfach einmal 5 Prozent Goldbarren herausschaffen könnte. Das ist doch nicht die Wahrheit, das ist doch
nicht die Realität in Deutschland. Das Vermögen ist in
den kleinen und den mittleren Betrieben, und da muss es
auch bleiben.
({8})
Der Staat darf nicht versuchen, seine Probleme - es
ist erstaunlich, Kollegin Andreae, dass das ausgerechnet
von Ihnen kommt - durch die Wegnahme von schon
zehnmal versteuertem Vermögen zu lösen und so seine
Schulden abzubauen. Schauen Sie sich doch einmal Ihren Großmeister Hollande an, der ja nicht ohne Grund
beim 150. Geburtstag der SPD gesprochen hat.
({9})
- Na ja, ich fasse Sie da jetzt einfach einmal zusammen;
denn das ist doch alles eine Soße, was Rot-Grün hier
produziert.
({10})
Schauen Sie sich doch einmal an, was der in Frankreich
macht! Der hat eine wunderbare Reichensteuer eingeführt, und nach eigener Einschätzung
({11})
kommen dabei gerade einmal 230 Millionen Euro heraus.
Das Einzige, was er produziert hat, ist eine großflächige Flucht. Da rede ich gar nicht von einzelnen Schauspielern, die nach Russland oder Belgien flüchten, sondern von kleinen und mittleren Unternehmen, die gerade
aus Frankreich abhauen. Damit geht dem Staat nicht nur
der erhöhte Steuerbetrag verloren, sondern er verliert die
gesamten Steuern und Abgaben, die diese Unternehmen
vorher geleistet haben. Dieser Weg ist ein Irrweg. Es ist in
den letzten 100 Jahren mindestens schon 80- bis 100-mal
bewiesen worden, dass das nicht funktioniert. Der Staat
muss seine Ausgaben reduzieren. So kann er die Haushalte konsolidieren, aber nicht dadurch, dass er glaubt, er
könne immer mehr kassieren.
({12})
Aber Sie wollen ja auch die Familienfreibeträge reduzieren, höre ich von Herrn Gabriel. Das wird auch immer
radikaler. Sie glauben, überall zuschlagen zu können,
und meinen, Sie könnten Ihre Probleme, die wir in Nordrhein-Westfalen und anderswo sehen, auf Kosten der
Mittelschicht lösen.
({13})
Das, sage ich Ihnen, wird nicht funktionieren. Das werden wir auch nicht zulassen, und das wird vor allen Dingen der Bürger nicht zulassen.
Dr. Martin Lindner ({14})
Ich möchte zum Schluss auf ein paar Gefahren hinweisen, die ich natürlich sehe und über die wir ernsthaft
reden müssen. Wir haben eine Situation, die ich so einschätze: Viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Land
vergessen manchmal, dass der Zuwachs an Wohlstand in
den letzten 50, 60 Jahren natürlich auch etwas mit Infrastruktur zu tun hat und dass es kein freies Mittagessen
gibt.
({15})
Heute haben wir beispielsweise in normalen Supermärkten ein Angebot von bis zu 20 000 Produkten. In
den 70er-Jahren lag das Angebot noch bei 700 Produkten. Die Leute vergessen manchmal - darin werden sie
durch Sie bestärkt -, dass diese Waren auch transportiert
werden müssen, dass Straßen, Schienen und auch der
Luftverkehr ausgebaut werden müssen. Dieser Ausbau
in den vergangenen Jahren hat in der Breite für Mobilität
gesorgt. Menschen, die es sich in den 70er-, 80er-Jahren
noch nicht leisten konnten, mit dem Flugzeug in den Urlaub zu fliegen, können es jetzt. Aber das hat seinen
Preis, und das führt natürlich auch zu Belästigungen.
Dazu muss man als Regierung, als Partei, als Koalition
stehen, und man darf sich nicht bei jeder Gelegenheit,
wenn irgendwo Flugrouten geschaffen werden, wenn irgendwo Flugplätze ausgebaut werden, wenn irgendwo
Schienen verlegt werden, populistisch hinter lokale Protestbewegungen stellen und sich gegen den Ausbau der
Infrastruktur wenden.
({16})
Wir brauchen diese Infrastruktur. Ohne Infrastrukturausbau wird es in diesem Land keinen Wohlstand geben.
({17})
Eine Regierung, die verantwortungsbewusst ist, muss
dafür sorgen, dass das gemacht wird.
Ein anderer Punkt ist die Investitionsquote. Wir reden
oft über Mieten oder Ähnliches: Die teilweise zu hohen
Mietpreise sind doch nicht die Folge von zu viel Marktwirtschaft, sondern von zu wenig Marktwirtschaft. Wir
haben einen völlig überregulierten Wohnungsbau in
Deutschland. Die Anforderungen, vom Bürgermeister
über den Ministerpräsidenten bis hin zur Bundesebene,
an das Bauen sind einfach zu hoch. Das Geld steht zur
Verfügung, wird aber nicht in den Wohnungsbau investiert.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Wenn Sie jetzt glauben,
man könne das Problem der hohen Mieten durch dramatische Mietpreisdeckelungen lösen, dann werden Sie genau das Gegenteil erleben: Es wird noch weniger in den
Wohnungsbau investiert, und es wird noch mehr spekuliert. Damit sind diejenigen, die Eigentum besitzen, besser gestellt. Aber wir wollen doch, dass alle Menschen in
einer vernünftigen Wohnung mit einer bezahlbaren
Miete wohnen können. Daher müssen wir dafür sorgen,
dass Investitionen in diesem Lande weiterhin möglich
sind und ausgebaut werden können.
Deswegen ist es gut, dass wir regieren. Deswegen ist
es gut, wenn wir weiterregieren, egal auf welcher Ebene.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn des Jahres ist jeder von uns bei vielen
Veranstaltungen und wird gefragt: Wie geht es dir? - Die
meisten antworten: Mir geht es gut. Die Bundesregierung unter Angela Merkel arbeitet hervorragend.
({0})
Deutschland ist auf einem guten Weg, die anstehenden
Probleme zu lösen.
({1})
Wir haben Vertrauen in diese Regierung. - Recht haben
die, die so argumentieren.
({2})
Ich meine auch, gerade die hervorragende Rede des
Bundeswirtschaftsministers Herrn Dr. Rösler - das war
heute eine Regierungserklärung ({3})
wäre es wert gewesen, dass sie auch die Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Frau Künast und Herr Trittin, gehört
hätten.
({4})
Beide glänzen durch Abwesenheit. Vielleicht befinden
sie sich im Moment in Niedersachsen.
Hier spielt die Musik. Hier geht es um Deutschland.
Hier geht es um weitreichende Entscheidungen. Hier
geht es darum, dass der Jahreswirtschaftsbericht beraten
wird, der uns als Ganzes vorliegt und den wir heute teilweise durchleuchten möchten, um daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen, um weiterhin voranzukommen.
({5})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Herr Kollege
Heil, ich schätze Sie sehr.
({6})
Aber heute haben Sie ein bisschen überzogen. Schwarzmalerei und Panikmache sind wahrlich nicht angebracht.
Genauso wenig ist es angebracht, in Euphorie zu verfal26770
len; denn es gibt natürlich einige Probleme. Es gibt einige kleine dunkle Wolken am Himmel. Aber ich bin der
festen Überzeugung: Wir werden im Laufe des Jahres zu
besseren Ergebnissen kommen.
Es wird sich zeigen, dass die deutsche Wirtschaft in
der Lage ist, das, was sie bisher erarbeitet hat, nicht aufzugeben, und die Projekte, die sie bisher nur aufgeschoben hat, jetzt umzusetzen. Die Wirtschaft wird Gas geben, damit wir auch in diesem Jahr nach vorne kommen.
({7})
Es ist doch unbestreitbar: Vieles wurde in den letzten
Jahren erreicht, auch in der Großen Koalition; das
möchte ich nicht beiseiteschieben. Deutschland steht im
Vergleich zu anderen Nationen wirklich und wahrlich
blendend da. Ich darf ergänzen, weil ich davon überzeugt bin: Wir haben zurzeit die beste Bundesregierung
seit der Wiedervereinigung Deutschlands.
({8})
Es gibt einige Probleme, die gelöst werden müssen.
So ist zum Beispiel die Staatsschuldenkrise noch nicht
bewältigt. Hier liegt noch viel Arbeit vor uns, um diese
Herausforderungen zu meistern. Auf das Geleistete sollten wir alle stolz sein. Dabei gilt es, die guten Zahlen zu
würdigen, weil sie insbesondere auf die Leistungsfähigkeit und Robustheit unserer Wirtschaft, unseres Mittelstandes und der deutschen Arbeitnehmer zurückzuführen
sind.
Deutscher Arbeitnehmerfleiß, deutscher Unternehmergeist und vernünftige Rahmenbedingungen, die diese
Bundesregierung setzt, sind die Grundlagen dafür, dass
es weiter aufwärtsgeht und dass Deutschland ein Hort
von Stabilität nicht nur in Europa, sondern in der ganzen
Welt bleiben wird;
({9})
denn in keinem anderen Land funktioniert das Ganze
besser als bei uns.
Überall im Ausland werden wir gefragt: Wie macht
ihr Deutschen das bloß? Denn wir haben, wie heute
schon mehrmals gesagt worden ist, 41,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Wir können darauf verweisen - darauf können wir stolz sein -, dass wir
so gut durch die Krise gekommen sind wie kein anderes
Land und dass sich Deutschland in einer sehr guten Verfassung präsentiert, und das trotz des schwierigen Umfelds weltweit und in Europa.
Die Auftragseingänge zeigen eine Stabilisierung, und
das Geschäftsklima hellt sich von Tag zu Tag mehr auf.
Auch wenn in den letzten Monaten des vergangenen Jahres die Wirtschaft schwächelte, erreichte unser Land anders als die Euro-Zone insgesamt auch in 2012 ein beachtliches Wachstum von 0,7 Prozent. Für 2013 werden
derzeit 0,4 Prozent Wachstum erwartet. Ich wiederhole
mich: Ich meine, dass diese Zahl zu niedrig angesetzt ist
und höher ausfallen wird.
Ich bin überzeugt, dass, wenn die außenwirtschaftlichen Unsicherheiten und die Belastungen durch die Vertrauenskrise im Euro-Land nachlassen, erwartet werden
kann, dass sich die derzeitige Investitionszurückhaltung
nach und nach auflösen wird. Dann wird sich zeigen,
dass die Investitionen der Unternehmen nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben sind. Dazu dürfte beitragen, dass die Wachstumsraten im Verlauf des Jahres zunehmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirtschaft ist aber auch auf stabile Rahmenbedingungen im
Euro-Raum angewiesen. Die Euro-Mitgliedstaaten müssen jetzt Strukturreformen nachholen und ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken. Deutschland ist solidarisch.
Aber Solidarität darf keine Einbahnstraße sein. Unsere
Unterstützung ist Hilfe zur Selbsthilfe; sie ist kein Ersatz
für Reformen.
Ich darf erwähnen, dass der Export von Waren made
in Germany eine tragende Säule dieser Entwicklung ist.
Bereits im November 2012 übertraf der Wert deutscher
Exporte die Schwelle von 1 Billion Euro. Damit wurde
zum zweiten Mal nach 2011 die Schwelle von 1 Billion
Euro geknackt, nur dieses Mal weit früher als in früheren
Jahren.
Die außenwirtschaftlichen Impulse werden erheblich
schwächer sein als im Vorjahr. Deshalb wird die Konjunktur durch die Binnennachfrage getragen. Diese gilt
es zu stärken. Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen werden deshalb 2013 um 8 Milliarden Euro entlastet. Dass die Binnenkonjunktur angekurbelt werden
muss, ist aber leider bei Ihnen von Rot-Grün und Knallrot nicht angekommen. Sagen Sie uns doch, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, warum Sie im Bundesrat
wichtige steuer- und wirtschaftspolitische Maßnahmen
wie den Abbau der kalten Progression, die energetische
Gebäudesanierung, das Jahressteuergesetz, die 8. GWBNovelle usw. blockieren!
({10})
Es ist in dieser Zeit erforderlich, dass wir diese Maßnahmen durchsetzen. Aber Sie treten auf die Bremse und
wollen den Erfolg ausschließen. Sie wollen ihn nicht haben.
({11})
Denn ein Erfolg ist dann gegeben, wenn die gute Konjunktur aufbauend auf Reformen sich weiter entwickeln
kann. Eine der größten Herausforderungen seit der Wiedervereinigung ist die Bewältigung der Energiewende.
({12})
Dazu ist eine grundlegende Reform des EEG erforderlich. Diese muss Investitionssicherheit, ein besseres Zusammenspiel der erneuerbaren Energien mit den Stromnetzen und den grundlastfähigen Kraftwerken sowie
günstige Strompreise für die Bürger und die Betriebe gewährleisten.
Ich möchte noch eines in die Debatte mit einführen.
Ja, aber ganz knapp, Herr Kollege Hinsken.
Ja, sehr wohl, Herr Präsident.
({0})
Es trifft Gerechte und Ungerechte, Herr Kollege Gysi.
Was zum Beispiel BASF in der Bundesrepublik
Deutschland an Strom benötigt, ist genauso viel wie das,
was das ganze Land Dänemark an Strom pro Jahr verbraucht. Da können wir doch nicht zuschauen! Da muss
etwas gemacht werden,
({0})
damit die Betriebe bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland auch weiterhin bereit sind, mitzuhelfen und
zu investieren, und Arbeitsplätze vorhalten. Denn davon
profitieren nicht nur die Firmen und der Staat, sondern
zu guter Letzt auch der Arbeitnehmer, der einen Arbeitsplatz erhält, den er sich immer sehnlichst wünschte, als
er keinen hatte. Und der Arbeitnehmer, der einen solchen hat, möchte ihn behalten. Dafür sorgen wir. Das
wird gewährleistet. Das weist gerade dieser Jahreswirtschaftsbericht aus. Ich wünsche, dass die Bundesregierung mit Wirtschaftsminister Rösler und Herrn Bundesfinanzminister Schäuble so erfolgreich bleibt.
Herr Kollege.
Dann ist mir nicht bange, dass es mit der Bundesrepublik Deutschland unter Angela Merkel weiterhin aufwärtsgeht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Heinz Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am Ende dieser faszinierenden Debatte stellen
wir fest: Von zwei Seiten werden wir angegriffen. Die einen sagen: Wir sparen nicht entschieden genug. Die anderen sagen: Wir geben nicht genug Geld für Wachstum
aus.
({0})
Ja, Freunde, das ist immer ein Zielkonflikt. Geld hat man
nur einmal. Aber ob es gelingt, diesen Zielkonflikt aufzulösen, zeigen die Resultate. Das, was der Wirtschaftsminister und die anderen glanzvollen Redner der Koalition mit wohlerwogenen Argumenten hier vorgetragen
haben, zeigt eindeutig, dass die Ergebnisse in allem, was
die handfesten Zahlen hergeben, von überzeugender
Standfestigkeit sind. Ich rede jetzt nicht davon, dass wir
Jahre vor dem angezeigten Termin die Konsolidierung
der Haushalte erreichen. Ich rede nicht davon, dass wir
die höchste Zahl von Arbeitsplätzen haben. Ich rede
nicht davon, dass wir die seit vielen Jahren niedrigste
Zahl von Arbeitslosen haben. Ich rede nicht von all den
Zahlen, die der Jahreswirtschaftsbericht so triumphal
und mit wohlbegründeten Argumenten vorträgt. Das ist
das eine.
Das andere ist: Herr Tiefensee, den ich mag, weil er
ein netter Mensch ist, sagt, die Bundesregierung habe
kein Konzept. Ja, lieber Herr Tiefensee, wie sieht die
Welt aus? Wir sind nicht einem majestätischen und hektischen Aktionismus verfallen, sondern wir machen eine
verlässliche, vertrauenschaffende, stetige Politik, die
Schritt für Schritt das Richtige aufbaut. Das haben wir
schon gemacht, als Sie, Herr Steinbrück, noch mit in der
Regierung gewesen sind. Gell, längst vergangene Zeiten! Schon damals hat Angela Merkel eine klare Linie
gefahren, und wir alle haben mit Freude gesehen, wie erfolgreich sie sich auf den Märkten niedergeschlagen hat.
Was mich in dieser Debatte gefreut hat: Es hat niemand den durchaus entschlossenen Titel des Jahreswirtschaftsberichts „Wettbewerbsfähigkeit - Schlüssel für
Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und Europa“ angegriffen. Das heißt, unser Ziel ist, dass wir so
tüchtig sind, wie wir sein können. Da haben wir noch
nicht alles erreicht, was wir wollen; aber wir haben die
richtigen Instrumente. Dort, wo es notwendig ist, haben
wir sehr viel Geld in die Hand genommen.
In der Forschung kommt es nicht nur darauf an, dass
wir hohe Milliardenbeträge - mehr als jemals zuvor ausgegeben haben.
({1})
Es kommt auch darauf an, dass man die Mittel intelligent
ausgibt. Und wir haben deshalb mehr und mehr Gelder
im Wettbewerb vergeben. Die Vergabe der Mittel im
Wettbewerb ist auch ein Instrument. Ich verweise auf die
Exzellenzinitiative, den Spitzencluster-Wettbewerb, den
früheren „BioRegio“-Wettbewerb und den LeibnizPreis. Einst waren die orthodoxen Finanzer hier überzeugt, dass Preise wie dieser unsittliche Anschläge seien.
Wir sind in vielen relevanten Bereichen dank unserer
Politik stetig weitergekommen. Wir sind nicht fertig,
sonst könnten wir aufhören. Und weil wir nicht fertig
sind, müssen wir weitermachen.
({2})
Wir haben hier in einer Vielzahl von Bereichen noch
große Arbeitspakete vor uns, auch wenn wir vorangekommen sind.
({3})
Es gab die Diskussion, ob wir es uns erlauben könnten, auf tüchtige Frauen im Arbeitsleben zu verzichten.
Vor wenigen Tagen kam die Nachricht, 72 Prozent der
Frauen seien jetzt schon in Arbeit, mehr als die Hälfte in
Vollzeit. Von dem Rest wollen vier Fünftel oder mehr
nicht mehr als Teilzeit arbeiten. Um Frauen im Beruf
noch besser zu unterstützen, müssen wir einiges tun.
Deshalb gibt die Bundesregierung für Kinderbetreuung
bis 2014 5,4 Milliarden Euro aus und wird sich danach
an den Betriebskosten in einer Größenordnung von
845 Millionen Euro jährlich beteiligen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine Voraussetzung nicht
nur für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes, sondern auch für Freude an der Arbeit, damit die Menschen
die Chance haben, auch das, was sie wünschen, aus ihrem eigenen Leben zu machen.
Da gibt es die Frage, wie weit die Älteren im Beruf
bleiben. Ich kann Ihnen versichern: Es gibt hier Leute
auch über 60, die mit Freude ihre Arbeit machen. Gell,
Herr Gysi?
({4})
Es gibt hier Leute über 60, die mit fröhlicher Entschlusskraft jeden Morgen aufstehen und in das einsteigen, was
zu tun ist.
({5})
Die Tatsache, dass sich die Zahl der über 60-Jährigen in
Arbeit in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat, die Tatsache, dass wir heute schon fast die Hälfte der über 60-Jährigen in Arbeit haben, ist eine exzellente Geschichte, auf
der wir weiter aufbauen können. Das ist wichtig für die
Rente; das ist wichtig für die Wirtschaft; das ist aber
auch wichtig für die Lebenserfülltheit, den Lebenssinn,
die Freude daran, täglich aufzustehen und wieder in die
Arbeit einzusteigen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist
insoweit in den verschiedensten Bereichen tätig geworden. Wenn wir versuchen, das zu bewerten, kann ich auf
die Zahlen des Jahreswirtschaftsberichts verweisen. Es
gibt natürlich auch eine Reihe von qualitativen Indikatoren in sensiblen Bereichen. Unsere entsprechende Enquete-Kommission arbeitet hier an einem umfassenden
ganzheitlichen Wohlstandsindikator.
Das ist ein bisschen schwierig, aber schauen wir uns
einmal die einzelnen Bereiche an: Der Nachhaltigkeitsindikator 2012 der KfW, der uns im Dezember auf den
Tisch geflattert ist, zeigt, dass Deutschland in den relevanten Bereichen noch nie so nachhaltig war. Der Nachhaltigkeitsindikator insgesamt hat den höchsten Wert seit
sechs Jahren erreicht. Der Nachhaltigkeitsindikator im
Teilbereich Wirtschaft hat den höchsten Wert. Im Teilbereich Umwelt hat er den höchsten Wert. Im Teilbereich
des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts hat
er den höchsten Wert.
Das alles bedeutet nichts anderes, als dass diese Bundesregierung nicht nur eine Politik betreibt, die ökonomisch erfolgreich ist - jawohl, das wollen wir -, sondern
auch eine Politik, die den Menschen weitere Lebenschancen eröffnet, die das Vertrauen der Menschen in einer Weise gewonnen hat, dass man mit dieser Politik
auch gerne in die Zukunft schreitet, im Bund, in den
Ländern oder wo auch immer darüber zu entscheiden ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht,
den Sie, Herr Rösler, hier vorgelegt haben, handelt von
Deutschland und von Europa. Mit den gleichen Ideen,
auf deren Grundlage wir in Deutschland arbeiten, versuchen wir mit allen Kräften, in Europa zu helfen. Aber
auch unsere Kraft als starke Industrienation ist nicht unbegrenzt. Wo wir jedoch helfen, beruht die Hilfe auf der
Idee, dass die Länder, die in Schwierigkeiten sind, die
Möglichkeit erhalten, sich selber zu helfen. Wir unterstützen sie dabei, dass sie Reformen in Gang bringen,
dass sie neue Strukturen schaffen, dass sie die Idee der
Wettbewerbsfähigkeit in ihre eigene Wirklichkeit umsetzen, und das nicht nur, damit die Zahlen stimmen, sondern weil das die eigentliche Art ist, menschlich mit der
Wirklichkeit und mit dem Leben umzugehen: sich in seinen Leistungen gefordert zu sehen, sich in seinen Fähigkeiten gefordert zu sehen, zugleich aber zu wissen, dass
andere dann helfen, wenn es schwierig ist, wenn es
hängt, wenn man nicht mehr so kann, wie man will.
Wenn wir aus diesem Geist heraus - das ist der Geist
der sozialen Marktwirtschaft - unsere Politik auch in den
kommenden Jahren aufbauen, dann werden wir in einer
schwierigen Zeit mit einer klaren Linie Deutschland voranbringen und unseren Beitrag dazu leisten, dass Europa steht. Da vertrauen wir auf unsere tatendurstige Regierung und ihre hohe Kompetenz.
({6})
Da vertrauen wir auf die faire Begleitung durch unsere
tüchtige Opposition. Möge sie uns noch lange so begleiten, wie sie uns heute begleitet hat!
Herr Riesenhuber.
Wir vertrauen auch darauf, dass wir hier in diesem
Geist in einem neuen Jahr wieder das hinbekommen,
was wir uns vorgenommen haben: dass uns Deutschland
gelingt, dass uns mit unseren Partnern Europa gelingt
und dass wir frohgemut in das nächste Jahr schreiten mit einem Erfolg, den wir gemeinsam erarbeitet haben.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen 17/12070 und 17/11440 an die
Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
angegeben finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 3 auf:
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peer
Steinbrück, Joachim Poß, Ingrid Arndt-Brauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte - Für eine starke europäische Bankenunion zur Beendigung der Staatshaftung bei
Bankenkrisen
- Drucksache 17/11878 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Schärfere und effektivere Regulierung der Finanzmärkte fortsetzen
- Drucksache 17/12060 Es ist hierzu verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Peer Steinbrück für
die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lieber Herr Riesenhuber, ich
glaube, wir kennen uns seit der zweiten Hälfte der 70erJahre. Nehmen Sie mir deshalb das folgende Kompliment als aufrichtig ab: Sie sind mit Abstand der eleganteste Tänzer am Podium dieses Deutschen Bundestages.
({0})
Der gerade debattierte Jahreswirtschaftsbericht,
meine Damen und Herren, zeigt sehr deutlich eine Verunsicherung der deutschen Wirtschaft hinsichtlich der
Perspektiven für dieses Jahr und wahrscheinlich auch
noch für das nächste Jahr. Diese Verunsicherung ist natürlich ganz maßgeblich geprägt von den wirtschaftlichen
Schwierigkeiten, mit denen wir es in Europa mit Blick
auf die Situation in vielen europäischen Partnerländern
zu tun haben. Das ist kein Wunder, kein Wunder bei den
wirtschaftlichen Verflechtungen, mit denen wir es zu tun
haben, und kein Wunder bei einem so exportgetriebenen
Wachstums- und Wirtschaftsmodell, wie wir es in
Deutschland haben.
Fünf Jahre nach Ausbruch der internationalen Finanzkrise, 2007/08 eskalierend, haben wir es immer noch mit
deren nicht bewältigten Folgen zu tun. Die Krise stellt
die Frage nicht nur nach dem Zusammenhalt in Europa,
sondern auch nach der Zukunft in Europa. Sie hat einige
Länder nicht nur in eine Rezession, ja in eine Depression, sie hat einige Länder in eine Situation der Austerität getrieben, angesichts der sich die Frage nach der sozialen und politischen Stabilität dieser Länder stellt.
({1})
Deshalb bleibe ich dabei, dass diese Krise sehr viel mehr
kosten könnte als Geld. Das wird gelegentlich unterschätzt in all den europapolitischen Debatten, die wir
führen.
Die ungelöste Krise hat auch etwas mit der Ursachenanalyse gerade dieser schwarz-gelben Bundesregierung
zu tun. Viel zu lange hat die Regierung von Frau Merkel
so getan, als ginge es im Wesentlichen um eine Verschuldungskrise anderer Länder, einzelner Staaten. Das
ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Die fällt Ihnen und den
deutschen Steuerzahlern jetzt auf die Füße; denn die
Konsequenz dieser Ursachenanalyse ist, dass wir mit unserem politischen Gewicht, mit unserer ökonomischen
Kraft in Europa einen Sparkurs, Konsolidierungszwänge
durchgesetzt haben, was von den betroffenen Ländern
zunehmend nicht nur als nachteilig, sondern sogar als
gefährlich empfunden wird.
({2})
Diese Länder fragen sich, ob das Spardiktat, für das wir
verantwortlich sind, eine lebensbedrohende Dosis oder
eine lebensfördernde Dosis enthält. Das ist exakt die
Frage, vor der wir stehen.
Die Krise in Europa ist also nicht maßgeblich auf eine
Verschuldungskrise zurückzuführen, sondern sie ist in
weiten Teilen nach wie vor eine Krise labiler Banken
und ungezähmter Finanzmärkte.
({3})
Das lässt sich leicht belegen; denn in der sehr kurzen
Zeit zwischen Oktober 2008 und Dezember 2010 wurden die Banken europaweit mit insgesamt - stellen Sie
sich das einmal vor! - 1,6 Billionen Euro Staatshilfen
gerettet. Das entspricht ziemlich exakt dem Jahreseinkommen aller Deutschen zusammen. Hier liegt deshalb
der Hase im Pfeffer.
Es gibt Finanzinstitute in Europa, denen es gelungen
ist, Infektionskanäle in die Staatshaushalte zu legen. Sie
haben ein Drohpotenzial, das lautet: Wenn ihr mich nicht
rettet, bricht eure Volkswirtschaft zusammen; und im
Übrigen bin ich so groß, dass ich gar nicht scheitern
darf, und deshalb werden mich die Staaten finanzieren
müssen. - Diejenigen, die die Haftenden in letzter Instanz sind, sind die Steuerzahler in diesen Staaten. Die
Folge ist die steigende Schuldenlast gewesen, die jetzt
aber als Ursache dargestellt wird, obwohl sie eine Konsequenz, eine Folge dieser Entwicklung ist.
({4})
Das beste Beispiel ist übrigens Irland. Irland galt einmal als Musterknabe der Europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion. Ich kann mich erinnern, dass es vor
über zehn Jahren Empfehlungen aus den Reihen der FDP
gab, wir sollten uns an Irland ein Beispiel nehmen,
({5})
auch und gerade ordnungspolitisch, auch und gerade
hinsichtlich der Deregulierung und der Privatisierung.
Es ist erstaunlich, dass das Kurzzeitgedächtnis einigen
Parteien mehr nützt als anderen, wenn man sich daran
erinnert, dass die FDP uns dieses Irland in mehreren Reden im Deutschen Bundestag als nachahmenswert vorgehalten hat.
Irland musste inzwischen Mittel in der sagenhaften
Größenordnung von 269 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung aufwenden, um seine Banken zu stützen
- fast 270 Prozent; das entspricht fast dreimal seiner
jährlichen Wirtschaftsleistung -, um die irischen Banken
vor einem Kollaps zu bewahren. Deshalb war es kein
Wunder, dass die irische Staatsverschuldung, die im
Jahre 2007 mit 25 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, relativ niedrig war, nun inzwischen über
100 Prozent beträgt.
Die Finanzmarktkrise als Verursacher der Staatsverschuldung kommt aber in der Analyse der Bundesregierung schlichtweg nicht vor. Ich zitiere die Bundeskanzlerin aus einer Regierungserklärung vom Oktober des
letzten Jahres:
… die Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben,
… sind auf eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit,
- nicht falsch sie sind auf die Überschuldung einzelner Mitgliedstaaten sowie auch auf Gründungsfehler des Euro
zurückzuführen.
Das alles ist nicht zu dementieren. Der Punkt ist aber:
Der labile Bankensektor und die Finanzmarktkrise kommen dabei nicht vor.
({6})
Das Gegenteil stimmt aber nicht nur für Irland, wie
Sie wissen. Das Gegenteil stimmt auch für Spanien, das
übrigens vorher eine günstigere Verschuldungsquote
hatte als Deutschland. Und der nächste Fall, der uns hier
im Deutschen Bundestag beschäftigen dürfte, wird, wie
ich befürchte, im März Zypern sein. Es hat einen Bankensektor, dessen Bilanzsumme so aufgebläht ist, dass
sie fünf- bis sechsmal so hoch wie die jährliche zypriotische Wirtschaftsleistung ist. Auch andere Faktoren, die
im Fall von Zypern eine Rolle spielen, werden uns in
den Debatten hier noch sehr stark beschäftigen.
Das Ergebnis dieser Politik ist, dass sich die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sowie auch
die anderer europäischer Länder in einer riesigen Haftungsunion befinden und vom Geschäftsgebaren einzelner Banken abhängig sind. Sie sind abhängig von Fehlentscheidungen der Risikoignoranz, der Renditejagd
dieser Banken und haften in letzter Instanz. Das ist grotesk und verletzt zunehmend das Gerechtigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger.
({7})
Das berührt eine Gretchenfrage der sozialen Marktwirtschaft, nämlich, ob in einer sozialen Marktwirtschaft
Haftung und Risiko zusammenfallen. Deshalb sage ich
häufiger, dass diese Krise nicht nur Geld und Vertrauen
kosten kann, sondern eventuell auch das Vertrauen in unsere wirtschaftliche Ordnung, weil viele Menschen den
Eindruck haben, dass sie die Geschädigten sind und für
Schäden haften müssen, die andere verursacht haben, die
aber zu deren Folgekosten nicht herangezogen werden.
Bei der Bundesregierung wird die neue Bankenunion
zu einer Umwälzanlage von Kapital aus den Staatshaushalten in Bankbilanzen; denn anstatt beim Europäischen
Rat Ende Juni 2012 endlich einen europäischen Abwicklungsmechanismus zu etablieren und damit die Staatshaftung zu beenden oder zumindest deutlich einzugrenzen,
haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
zugestimmt, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus in Zukunft - jetzt kommt es - Banken direkt rekapitalisieren kann, und das, obwohl weite Teile von Ihnen
im Haushaltsausschuss vorher aus einer richtigen Erkenntnis heraus explizit das Gegenteil beschlossen haben. Jetzt haften die Steuerzahler in Deutschland nicht
nur für die Banken im eigenen Land - siehe das Finanzmarktstabilisierungsgesetz und Folgegesetze, die wir
hier gemeinsam beschlossen haben -, sondern auch für
Banken in der gesamten Euro-Zone.
Richtig ist, Sie haben eine Konditionierung vorgenommen, Herr Schäuble und Frau Merkel. Sie haben die
Konditionierung vorgenommen, dass vorher eine Bankenunion geschaffen werden muss. Es fällt auf, wie
lange Sie die Schaffung der Bankenunion vor sich herschieben, sodass diese Union garantiert nicht vor dem
magischen Datum im September 2013 gegeben sein wird
- das hätte nämlich zur Folge, dass Banken dann direkt
rekapitalisiert werden könnten und eine gewisse Empörungswelle auch bei deutschen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern zu erwarten wäre -, sondern erst im Folgejahr nach der Bundestagswahl. Das ist das, was ich als
Schleiertanz bezeichne, Herr Kauder.
({8})
Was, so frage ich, nützt eine bessere Bankenaufsicht
auf europäischer Ebene, wenn das Kind bereits in den
Brunnen gefallen ist und der Steuerzahler weiterhin der
Haftende in letzter Instanz ist? Sagen Sie den BürgerinPeer Steinbrück
nen und Bürgern im Sinne von Wahrhaftigkeit endlich,
was Sie im Juni beschlossen haben. Sie haben mit Ihrer
Zustimmung auf dem Europäischen Rat Ende Juni 2012
eine Staatshaftung für Bankenrisiken in Europa geschaffen.
Wir brauchen, meine Damen und Herren, einen klaren
Blick auf den Kern dieser Krise. Fünf Jahre nach dem
Bankrott von Lehman sind die Infektionskanäle aus den
Bankenbilanzen in die Staatshaushalte immer noch nicht
trockengelegt. Das heißt, wir brauchen endlich einen
Schutz der öffentlichen Haushalte vor den Gefahren der
Finanzmärkte. Wir brauchen ein Ende der Staatshaftung,
und wir brauchen eine Beendigung des Erpressungspotenzials großer, systemrelevanter Banken, die uns
auch hier im Deutschen Bundestag Entscheidungen abnötigen, weil wir wissen, dass ein Scheitern dieser Banken Konsequenzen hätte, die wir dem öffentlichen Wohl
schlechterdings nicht mehr zumuten können.
({9})
Wir brauchen einen wirksamen Schutz der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler als Haftende in letzter Instanz.
Sie legen heute einen Antrag vor mit dem Titel:
„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanzmärkte fortsetzen“. Nehmen Sie es mir nicht übel - fern
jedes Florettangriffs -, aber Sie haben sich mit dem Begriff „fortsetzen“ einfach vergriffen.
({10})
Sie erwecken nämlich den falschen Eindruck, als hätten
Sie bereits in den letzten drei Jahren Grundlegendes oder
gar Wegweisendes zur Regulierung der Finanzmärkte
unternommen. Das haben Sie nicht!
({11})
- Ihre Broschüre oder Ihre Anträge mögen ja schön sein.
Das ist ja alles in Ordnung. In denen muss man auch
nicht wahrhaftig sein.
({12})
- Gemach, Gemach, keine Aufregung, keine Blutdrucksteigerung. - Das, was Sie in diesem Antrag aufführen,
ist ganz interessant. Sie führen beispielsweise das Restrukturierungsgesetz auf, weiterhin die Bankenabgabe,
die Reform der Vergütungssysteme und ein Verbot ungedeckter Leerverkäufe. Das sind jedoch Reformmaßnahmen, die aus der Zeit der Großen Koalition resultieren.
Dafür haben Sie gar kein Urheberrecht.
({13})
Sie sollten mit dem Urheberrecht vorsichtiger sein. Die
Maßnahmen sind alle in der Großen Koalition angelegt
worden. Die Vorarbeiten zum Restrukturierungsgesetz in
Deutschland stammen noch aus der Feder von Frau
Zypries und von mir. Die Bankenabgabe ist angelegt
worden in der Großen Koalition. Dem Thema des Verbots von Leerverkäufen habe ich mich erstmals zugewandt.
({14})
- Entschuldigen Sie, Sie haben das dann nachgemacht,
und das werfe ich Herrn Schäuble auch gar nicht vor.
Das hat er ja richtig gemacht.
({15})
- Entschuldigen Sie, ich würde sehr vorsichtig sein;
denn ich hatte mich auch mit anderen Ländern darüber
abgestimmt, dass das Ganze nicht nur auf Deutschland
zu begrenzen ist, sondern sich auch auf Europa erstreckt.
Unbenommen dessen: Das, was Sie hier betreiben, ist
schlicht und einfach die Verletzung von Copyrights. Die
Reformen stammen alle aus der Großen Koalition.
({16})
Im Übrigen verweisen Sie auf Initiativen, die durchaus richtig sind: die Regulierung von Ratingagenturen,
Hedgefonds und Derivatemärkten - nur, dies sind alles
Initiativen der Europäischen Kommission, und Sie kommen gar nicht darum herum, diese nach europäischem
Recht umzusetzen.
({17})
Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Gemeinsam
mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben wir hier
einen Antrag zu einem Aspekt vorgelegt. Die weiteren
Aspekte finden sich in umfangreicheren Papieren, zu denen ich auch etwas gesagt oder beigetragen habe. Wir
äußern uns hier in unserem Antrag ganz gezielt zu einer
europäischen Bankenunion und zeigen die wirklichen
Probleme und Lösungen auf. Wir fordern eine europäische Abwicklungsbehörde, ein europäisches Abwicklungsregime und einen Restrukturierungsfonds, meine
Damen und Herren, der nicht von den Steuerzahlern gespeist wird - nein! -, sondern von den Banken selber
und damit die deutschen Steuerzahler entlastet.
({18})
Eine europäische Bankenaufsicht ist wichtig. Ich sage
kein böses oder kritisches Wort dazu. Selbstverständlich
ist es richtig, dass die europäische Bankenaufsicht befördert wird. Ich bin sehr froh darüber, dass die Lösung herausgekommen ist, die sich jetzt anbahnt, die sich jedenfalls in einem ersten Schritt auf die systemrelevanten,
großen Banken erstreckt. Es ist auch richtig, die Bankenaufsicht bei der EZB anzusiedeln, wenn es eine klare
Trennung der Zuständigkeiten gibt. Aber in der Haftungsfrage verbessert sich durch die Verbesserung der
Bankenaufsicht zunächst einmal gar nichts. Vielmehr
entspricht der Umgang mit der Haftungsfrage dem Satz
des von Herrn Schäuble und mir sehr respektierten Chefs
der Bank of England, Mervyn King, der gesagt hat:
„Global in life, but national in death.“ Das gilt für die
Banken: Sie sterben immer noch auf nationaler Ebene,
mit der Folge, dass Steuerzahler und Steuerzahlerinnen
dafür aufkommen müssen.
Wir brauchen eine europäische Abwicklungsbehörde,
um künftig die von der EZB beaufsichtigten systemrelevanten Banken in einem grenzüberschreitenden Verfahren geordnet restrukturieren oder auch abwickeln zu
können. Das ist übrigens eine Forderung, die gar nicht so
originell ist; sie ist in den Reihen meiner Fraktion schon
vor drei, vier Jahren geäußert worden. Ich würde gerne
wissen: Was haben Sie denn seitdem gemacht, um das
auf der europäischen Ebene durchzusetzen?
({19})
Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe in diesem
Haus ist es, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in
Europa zu schützen, vor den Risiken in Europa, aber
auch vor Steuerbetrug und Steuerhinterziehung. Herr
Solms ist vorhin darauf eingegangen. Ich will Ihnen die
Zahlen in Erinnerung rufen: Allein in Deutschland fehlen aufgrund illegaler Steuerpraktiken nach seriösen
Schätzungen jährlich bis zu 150 Milliarden Euro; in
ganz Europa, sagen einige Fachleute, sind es 900 Milliarden Euro. Das heißt, eine Reihe von Problemen, mit
denen wir uns hier beschäftigen, gäbe es nicht, wenn wir
bei der Erzielung dieser Steuerzahlungen erfolgreicher
wären.
Wenn ein so traditionsreiches Haus wie die Schweizer
Wegelin-Bank offen zugeben muss: „Wir haben betrogen“, wenn Beihilfe zum Steuerbetrug zum Geschäftsmodell geworden ist, dann ist der Weckruf in meinen
Augen unüberhörbar. In meinen Augen gehört es zur
Wiederherstellung der Grundprinzipien der Marktwirtschaft - darum geht es -, das Thema der Bekämpfung
des Steuerbetruges sehr ernst zu nehmen
({20})
und uns nicht durch den Entwurf eines deutsch-schweizerischen Steuerabkommens ablenken zu lassen, das
nichts anderes als einen Ablasshandel darstellen würde mehr nicht. Sie wedeln mit Mehreinnahmen; aber Sie
sind bereit, dafür Grundprinzipien über Bord zu schmeißen. Was Sie verschweigen, ist, dass Steuerstraftäter laut
diesem Entwurf nach dem Willen der Bundesregierung
auch noch Rabatt bekommen sollten. Was Sie verschweigen, ist, dass diese Steuerstraftäter anonym bleiben sollten, dass sie der Strafverfolgung entzogen werden sollten. Sie von der Bundesregierung wollten
Steuerbetrüger entkriminalisieren und zugleich der deutschen Steuerfahndung Fesseln an die Füße legen, um zu
verhindern, dass sie auch mithilfe von Steuer-CDs das
tut, wozu sie da ist.
({21})
Herr Steinbrück, Sie müssten zum Ende kommen.
Steuergerechtigkeit, meine Damen und Herren, ist
nicht nur eine Frage der Staatseinnahmen - darauf will
ich hinaus -, sondern sie ist, ebenso wie die Bändigung
des Raubtierkapitalismus, von dem Helmut Schmidt
schon vor über zehn Jahren gesprochen hat, sehr viel
mehr: Steuergerechtigkeit ist eine Demokratiefrage. Sie
betrifft die Balance und das Gleichgewicht in unserer
Gesellschaft.
Vielen Dank.
({0})
Der Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble hat das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Steinbrück, wir haben gut zusammengearbeitet
in der Regierung der Großen Koalition. Ich habe ein
Grundverständnis - das mag altmodisch sein - einer gewissen Solidarität zwischen Amtsvorgängern und Amtsinhabern.
({0})
Das macht es mir ein bisschen schwer, auf Sie einzugehen. Da ich Protestant bin, habe ich auch ein bisschen
Mitleid. Das macht es mir darüber hinaus schwer, auf
Sie einzugehen.
({1})
Was werfen Sie uns eigentlich vor? Im ersten Teil Ihrer Rede werfen Sie uns vor, wir hätten alles falsch gemacht. Im zweiten Teil Ihrer Rede werfen Sie uns vor,
wir hätten nur das gemacht, was Sie gemacht haben. Entweder das eine oder das andere, aber doch nicht beides
zusammen und das auch noch in einer Rede. Das geht
doch nicht.
({2})
Natürlich sind Lehren zu ziehen aus der Finanz- und
Bankenkrise, die ihren Ursprung übrigens in Amerika,
bei Lehman Brothers, und nicht im Euro-Raum hatte.
Daran muss man auch einmal erinnern. Natürlich ist das
Ziehen der Konsequenzen mit dem Ziel einer besseren
Regulierung des Finanzmarkts eine große Aufgabe, die
übrigens nicht über Nacht bewältigt werden kann. Vielmehr müssen in einem langwierigen beharrlichen Prozess auf globaler, europäischer und nationaler Ebene die
richtigen Konsequenzen gezogen werden.
Angesichts der Volatilität in den modernen Finanzmärkten geht es doch gar nicht anders. Ich kann hier jede
Regel einführen, aber wenn mit einem Knopfdruck alle
Aktivitäten aus Deutschland heraus verlagert werden,
habe ich nichts erreicht. Infolgedessen geht es doch nicht
so einfach, wie Sie es hier gesagt haben.
({3})
Es hat doch keinen Sinn, den Menschen, wie es die
Linken in Ihrer Partei tun, mit uralten klassenkämpferischen Parolen einzureden, nur die Banken seien an allen
Problemen schuld. Das haben wir schon 100 Jahre lang
gehört, und das war schon immer falsch.
({4})
Das hat schon einmal Deutschland und Europa geteilt,
und das ist überwunden. Das sind so alte Hüte, dass ich
mich eigentlich wundere, dass Sie uns das hier vorgetragen haben.
({5})
Ursache der Euro-Krise ist, dass wir in der gemeinsamen europäischen Währungsunion unterschiedliche
Finanzpolitiken in den Ländern haben. Das ist nicht nur
im Euro-Raum, sondern überall in der Welt der Fall. Im
Übrigen ist die Staatsverschuldung außerhalb des EuroRaums höher als innerhalb des Euro-Raums. Großbritannien hat eine höhere Staatsverschuldung als der Durchschnitt des Euro-Raums. Die Vereinigten Staaten von
Amerika will ich gar nicht erwähnen.
Ich füge hinzu, dass mir die Politik der neu gewählten
japanischen Regierung ziemlich große Sorgen bereitet.
Wir haben ein Übermaß an Liquidität in den globalen
Finanzmärkten. Dieses wird durch ein falsches Verständnis von Notenbankpolitik weiter geschürt. Das alles sind
unsere Herausforderungen und unsere Aufgaben, denen
wir uns stellen.
Wir haben ein unterschiedliches Maß an Wettbewerbsfähigkeit in den europäischen Volkswirtschaften.
Das ist in einer gemeinsamen Währungsunion natürlich
ein Riesenproblem, das in Angriff genommen werden
muss.
Natürlich haben wir den Fehler gemacht - wir alle,
sowohl in der Regierung als auch in der Opposition; ich
war auch lange genug dabei -, zu glauben: Je weniger
Regulierung, umso besser für den Finanzplatz Deutschland. Am Schluss hatten wir überall auf der Welt so wenig Regulierung, dass die Finanzmärkte begonnen haben, sich ohne Regeln und Grenzen selbst zu zerstören.
So ist die Wirklichkeit, und das müssen wir ändern.
Es ist aber nicht getan mit einer einfachen Beschimpfung der Banken oder mit der Behauptung, dass die
Finanzinstitute Infektionskanäle in die Staatshaushalte in
Europa gelegt hätten. Das ist eine Verschwörungstheorie, die nun wirklich zum Himmel schreit, und zwar
schreit sie nach Erbarmen.
({6})
- In Spanien haben wir eine Immobilienkrise,
({7})
ausgelöst übrigens möglicherweise durch ein falsches
Verständnis von Wachstumsförderung, indem man nämlich glaubt, dass man mit schuldenfinanzierten Anreizprogrammen in den Immobiliensektor eingreifen kann.
Das Entstehen der spanischen Immobilienblase können
Sie doch exakt verfolgen. Diese wiederum hat den spanischen Sparkassensektor so infiziert, dass sich daraus
weitere Probleme ergeben haben.
Irland ist ein Sonderproblem. Die spanische Immobilienkrise hat übrigens ziemlich viel Ähnlichkeit mit dem
Entstehen der Subprimekrise in den Vereinigten Staaten
von Amerika - um auch daran zu erinnern.
({8})
Ich sage noch einmal: Wir sind auf dem richtigen
Weg, Schritt für Schritt. Wir sind nicht über den Berg,
aber wir sind auf dem richtigen Weg, die Vertrauenskrise
in Bezug auf den Euro - denn aus all dem ist eine Vertrauenskrise entstanden - Schritt für Schritt zu lösen.
({9})
Die realen Zahlen um den Jahreswechsel belegen
dies. Die Haushaltssituation in allen Ländern - mit Programm oder auch in solchen Ländern ohne Programm hat sich verbessert. Die Unterschiede bei den Lohnstückkosten sind geringer geworden. Das betrifft das Thema
Wettbewerbsfähigkeit und die zu großen Verzerrungen.
Die Zinsdifferenzen werden geringer. Das Vertrauen in
die Finanzmärkte kommt Schritt für Schritt zurück. Wir
sind nicht über den Berg, aber wir sind auf dem richtigen
Weg.
Aber eines dürfen wir nicht machen - und das ist der
grundlegende Unterschied -: exakt die Fehler fortsetzen,
die zu der Krise geführt haben. Sie haben einen richtigen
Satz gesagt. Die Gretchenfrage jeder wirtschaftlichen
Ordnung ist: Haftung und Entscheidung, Risiko und
Chance dürfen nicht auseinanderfallen. Das ist im
Finanzsektor so - „too big to fail“, das kennen wir -, und
das gilt natürlich auch für eine Politik der Vergemeinschaftung in Europa: keine Vergemeinschaftung von
Haftung, wenn wir nicht auch eine Vergemeinschaftung
der Entscheidung beschließen. Wer Schulden machen
kann, für die andere das Risiko tragen, macht sie. Deswegen ist Ihr Weg der Vergemeinschaftung von Haftung
ein Weg, der die Krise verschlimmert, statt sie zu lösen.
({10})
Ich habe mit dem Sachverständigenrat darüber diskutiert. Sie übernehmen ja den Vorschlag des Sachverstän26778
digenrates. Ein Altschuldentilgungsfonds, wie vom
Sachverständigenrat vorgeschlagen, setzt, um es rechtlich zu sagen, zumindest eine Vertragsänderung voraus,
denn mit dem Bail-out-Verbot ist er nicht zu vereinbaren; dafür müsste man die Verträge ändern.
Aber unterstellen wir einmal, dass wir das Risiko der
zusätzlichen Haftung - das sind über 60 Prozent der Gesamtverschuldung der Mitgliedsländer in der Euro-Zone in einer Größenordnung des deutschen Bruttoinlandsprodukts zulasten der deutschen Wirtschaft übernehmen
würden. Die unmittelbare Folge wäre, dass die deutsche
Wirtschaft die Last nicht mehr tragen könnte, dass wir
heruntergeratet werden würden und dass das Vertrauen
in die Solidität der deutschen Wirtschaft zerstört würde.
Damit zerstören Sie übrigens Europa; denn wir sind der
Anker für Europa. Das dürfen wir schon aufgrund unserer Verantwortung für Europa nicht machen. Deswegen
ist Ihr Vorschlag nicht zu verwirklichen.
({11})
Nächstes Beispiel. Sie schlagen in Ihrem Antrag einen europäischen Bankenfonds mit einem Volumen von
200 Milliarden Euro vor, den die Banken schnell auflegen sollen. Sie wissen genau: Wenn die Banken zu den
Anforderungen - zusätzliches Eigenkapital, Umsetzung
von Basel III; wir sind ja in der Endphase der Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament; es geht in
Europa halt nicht so schnell, wie ich mir das wünschen
würde, aber das Parlament muss seine Rolle wahrnehmen - noch 200 Milliarden Euro zusätzliches Kapital
aufbringen sollen,
({12})
dann wird das eine dramatische Kreditverknappung für
die gesamte europäische Wirtschaft zur Folge haben; das
heißt, wir erleben einen weiteren wirtschaftlichen Absturz, und das, wo wir gerade dabei sind, uns aus der
weltwirtschaftlichen Konjunkturdelle herauszubewegen. Das wäre das Dümmste, was man machen kann,
völlig unverantwortlich.
({13})
Sie müssen sich inzwischen schon so weit nach links
bewegen, dass Sie von Herrn Trittin rechts überholt werden.
({14})
- Reden Sie doch nicht andauernd dazwischen, das nützt
sowieso nichts.
({15})
Selbst Herr Trittin hat gesagt, es wird einige Zeit dauern,
bis die 200 Milliarden Euro aufgebracht werden können.
Daraufhin haben Sie einen noch intelligenteren Vorschlag gemacht. Sie haben gesagt: Der europäische Bankenfonds soll für diese 200 Milliarden Euro Anleihen
ausgeben. Wer nimmt die? Wie werden sie refinanziert?
Durch die EZB. Sagen Sie doch gleich: Wir lösen die
Probleme, indem wir die Banknotenpresse anwerfen und
so viel Geld drucken, wie wir brauchen. Sie untergraben
jedes Vertrauen in die Stetigkeit unserer wirtschaftlichen
Entwicklung. Exakt deswegen werden wir das nicht machen.
({16})
- Das ist ein grundlegender Unterschied. Darüber werden
wir noch öfter streiten. Wenn Sie wollen, dass die Notenbank nicht nur für die Stabilität des Geldes, in erster Linie
für die Preisstabilität, verantwortlich ist, sondern wir mit
der Banknotenpresse alle unsere wirtschaftspolitischen,
sozialpolitischen und sonstigen Probleme lösen,
({17})
dann schaffen Sie Inflation als Grundlage aller politischen Entscheidungen.
Aus genau diesem Grund haben wir schon vor 60 Jahren, zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland, den
politischen Mehrheiten die Banknotenpresse entzogen,
die Unabhängigkeit der Notenbank beschlossen und eine
Beschränkung auf das eng ausgelegte geldpolitische
Mandat vorgenommen. Dabei hat uns die Erkenntnis geleitet, dass politische Mehrheiten lieber Geld ausgeben,
als den Bürgern die Rechnung für die Ausgaben zu präsentieren.
Wenn Sie das ändern wollen, können wir darüber
streiten. Ich sage Ihnen: Die große Mehrheit der Deutschen weiß, dass Inflation die schlimmste soziale Ungerechtigkeit ist
({18})
und wir nachhaltiges Wirtschaftswachstum nur auf der
Grundlage von Stabilität erreichen.
({19})
Jeder internationale Vergleich belegt doch inzwischen, dass die Länder, die eine einigermaßen verantwortliche Finanzpolitik betreiben, wirtschaftlich sehr
viel besser dastehen als die anderen. Warum lassen Sie
sich durch diese Tatsache nicht belehren?
({20})
Wir wissen inzwischen - das hat selbst der frühere Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Herr Rogoff,
nachgewiesen -, dass ab einer bestimmten Höhe der
Staatsverschuldung eine weitere Erhöhung der Staatsverschuldung Wachstum nicht mehr fördert, sondern
mittelfristig behindert. Genau deswegen machen wir das
nicht. Weil wir das nicht machen, sind wir im europäischen Vergleich diejenigen mit den besten Stabilitätserfolgen und den besten nachhaltigen Wirtschaftserfolgen. Genau diese Politik werden wir fortsetzen.
({21})
- Ich weiß, warum Sie dauernd dazwischenreden.
({22})
- Oh Gott, Sie sind ja sowieso - - Das lohnt ja gar nicht.
({23})
- Sie wollen das nicht hören. Wir hören uns Ihre Auffassungen doch auch mit großer Ruhe an. Wir hören aufmerksam zu, setzen uns damit auseinander und sagen,
warum wir Ihre Auffassungen für falsch halten. Das ist
der Sinn einer parlamentarischen Debatte. Es ist nie angenehm, wenn man gesagt bekommt, dass ein anderer
nicht die eigene Meinung teilt. Trotzdem sage ich Ihnen:
Wir können mit realen ökonomischen Zahlen und mit
Erfolgen belegen, dass unser Weg zwar anstrengend ist,
er uns aber Schritt für Schritt voranführt. Das ist auch in
der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht sichtbar
geworden. Deswegen werden wir exakt diesen Weg weitergehen.
Wir haben jetzt einen einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus für die systemrelevanten Institute geschaffen. Dieser Mechanismus macht aber nur Sinn, wenn die
Bankenaufsicht mindestens die gleiche Qualität wie die
in Deutschland hat. Natürlich gibt es Länder in Europa,
in denen die Bankenaufsicht nicht die Qualität unserer
Bankenaufsicht erreicht. Deswegen sage ich Ihnen: Der
Mechanismus einer europäischen Bankenaufsicht ist mit
Blick auf grenzüberschreitende Problematiken richtig,
aber nur unter der Voraussetzung, dass die Bankenaufsicht so gut ist wie die, die wir haben. Es kann nicht sein,
dass wir auf europäischer Ebene ein schlechteres Niveau
haben. Das ist auch die Position der Europäischen Zentralbank. Daher müssen die Regeln für die Trennmauer
zwischen Geldpolitik und Bankenaufsicht so streng wie
möglich sein. Wir haben auf der Grundlage der geltenden Verträge - das haben Sie anerkannt - das Bestmögliche, das Optimale herausgeholt. Deswegen werden wir
das Schritt für Schritt umsetzen.
Im Übrigen bleibt es dabei: Die Interpretation der Beschlüsse zur direkten Bankenrekapitalisierung war
falsch, Herr Steinbrück. Auch in der Entscheidung der
Staats- und Regierungschefs vom frühen Morgen des
29. Juni 2012 - ich habe den Tag noch gut in Erinnerung - steht ausdrücklich:
({24})
Wenn eine europäische Bankenaufsicht die Arbeit aufgenommen hat, unter Beteiligung der EZB, dann können
die Banken bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen
des ESM-Vertrages direkt Kapital bekommen. Die übrigen Voraussetzungen sind: Der ESM bleibt Lender of
Last Resort, das heißt subsidiär. Nur wenn die Banken
sich das Kapital nicht selbst besorgen können und auch
der Mitgliedstaat das Kapital nicht besorgen kann, kann
der Mitgliedstaat beim ESM einen Antrag stellen.
({25})
Dann muss ein Anpassungsprogramm vereinbart werden, ein Memorandum of Understanding. Nur so und
nicht anders geht es. Würden wir es anders machen,
wäre der ESM innerhalb von vier Wochen völlig leergelaufen. Damit würden wir alles vergemeinschaften.
Das wäre exakt der falsche Weg; es wäre eine Fehlinterpretation der Beschlüsse. Es gibt manche in Europa, die
das wollen. Deswegen muss ich hier klarstellen: Wir
werden es nicht machen. Die Verträge sind völlig anders
zu verstehen.
({26})
Ein letztes Wort, weil Sie auch in dieser Debatte noch
auf das Thema der Steuerhinterziehung zu sprechen
gekommen sind. Herr Kollege Steinbrück, Steuerhinterziehung ist - das wissen Sie - ein Riesenproblem. Auch
Sie haben in Ihrer Amtszeit - das habe ich Ihnen nie vorgeworfen - an der Wirklichkeit nicht sehr viel ändern
können. Die moderne Verflechtung der Wirtschaft bringt
unglaubliche Möglichkeiten mit sich. Denken Sie an die
Mehrwertsteuer. Für die organisierte Kriminalität ist die
Ausnutzung der Tatsache, dass wir die Mehrwertsteuer
notwendigerweise nach vereinbarten Entgelten erheben,
ein unglaubliches Geschäftsmodell. Denken Sie daran,
dass mit der großen Mobilität der Geschäftsaktivitäten
im Internet - ich habe das Thema zum ersten Mal aufgegriffen und auf die G-20-Ebene gehoben - eine starke
Erosion der Steuerbasis verbunden ist.
Ich muss jetzt aber noch etwas zur Schweiz sagen.
Das Abkommen ist gescheitert; es konnte nicht zum
1. Januar in Kraft treten. Sie haben dazu aber schon wieder etwas gesagt, was mit meinem Respekt vor Ihnen
einfach nicht zu vereinbaren ist. Sie sagen etwas, von
dem ich nicht glaube, dass das von dem „richtigen
Steinbrück“ stammt. Sie waren federführend dafür zuständig und verantwortlich, dass bei der Besteuerung
von Kapitalerträgen eine Abgeltungsteuer eingeführt
wurde. Wenn ein deutscher Steuerpflichtiger bei deutschen Banken und Sparkassen bzw. Raiffeisenbanken
Kapitalerträge erzielt, behalten diese von den Kapitalerträgen - von den Zinsen, Dividenden etc. - die Kapitalertragsteuer ein und führen sie an das Finanzamt ab.
Gäbe es das Abkommen, dann hätten wir seit dem 1. Januar in der Schweiz exakt dieselbe Praxis; dann würden
auch Schweizer Banken das machen. Wir haben das
Abkommen jetzt aber nicht. Sie haben es blockiert und
verhindert. Deswegen sind wir seit dem 1. Januar darauf
angewiesen, dass uns die Schweizer Banken freiwillig
die Daten nennen - oder auch nicht.
Wenn Sie Steuerhinterziehung bekämpfen wollen,
({27})
müssen Sie zu internationaler Kooperation bereit sein.
({28})
Internationale Kooperation kann nur heißen, dass die
Regeln, die bei uns gelten, auch im Nachbarland gelten.
Das genau haben Sie zerstört.
({29})
Es gibt nur einen Grund dafür: parteipolitisch motivierten Missbrauch.
Herzlichen Dank.
({30})
Jetzt hat Richard Pitterle das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die IWF-Chefin, Madame
Lagarde, urteilte Ende letzten Jahres - ich zitiere -: „Das
Finanzsystem als Ganzes ist noch nicht viel sicherer, als
es zur Zeit des Zusammenbruchs von Lehman Brothers
war.“ Die Koalition hingegen hat in ihrem gestern hastig
vorgelegten Antrag aufgezählt, was die Bundesregierung
alles getan habe. Ein Großteil des Reformprogramms sei
abgearbeitet, heißt es dort. Außerdem habe Deutschland
eine Vorreiterrolle übernommen. Wesentliche Ursachen
der Finanzkrise seien beseitigt worden. Ich sage Ihnen:
Eigenlob stinkt.
({0})
Wie sieht Ihre Bilanz tatsächlich aus? Die von Ihnen
genannten Vorschriften bezüglich eines höheren Eigenkapitals für Banken sind Vorgaben von europäischen
Gremien. Ich nenne nur die Stichworte Basel III und
CRD IV. Sie sind aber doch nicht das Ergebnis Ihrer
Regierungspolitik.
Sie loben sich wegen des neuen gesetzlichen Selbstbehalts von 5 Prozent bei Verbriefungen, also bei der
Umverpackung schlechter und besserer Kredite zu neuen
Bündeln, deren Verteilung rund um den Globus als eine
der Hauptursachen für den Ausbruch der Finanzkrise
gilt. Doch schon vor Ihrem Gesetz lag der sogenannte
Selbstbehalt in der Praxis bei mindestens 10 bis 15 Prozent der Kreditforderungen.
Sie preisen die neuen Vergütungsregeln für Manager
und Mitarbeiter von Banken. Doch wie die Bankenaufsicht selber zugibt, sind sie nur sehr schwer bei ausländischen Tochtergesellschaften deutscher Banken durchzusetzen, bei ausländischen Banken ohnehin nicht.
Ratingagenturen tragen, wie Sie richtig erkannt haben, eine große Mitverantwortung an der Finanzkrise.
Seit 2010 müssen sich Ratingagenturen registrieren und
beaufsichtigen lassen. Wo ist da ein Fortschritt?
({1})
Kannten wir vorher ihre Anschrift nicht? Wussten wir
vorher nicht, wer Geschäftsführer ist? Wie soll die deutsche bzw. europäische Aufsicht bei den drei dominierenden Ratingagenturen mit Sitz in den USA stattfinden?
Die Koalition verkündet stolz: Kundeneinlagen sind
bis zu einem Betrag von 100 000 Euro gesetzlich geschützt. Schön. Aber die Sparkassen und Genossenschaftsbanken hatten schon immer die Institutssicherung, und die privaten Banken haften seit Jahrzehnten
mit 30 Prozent ihres Eigenkapitals für die Einlagen der
Bürgerinnen und Bürger.
Ich frage Sie: Wo bitte sind Einschränkungen beim
spekulativen Eigenhandel, also den Geschäften, die
Banken im eigenen Namen und auf eigene Rechnung
tätigen? Die Finanzkrise hat gezeigt, dass in diesen
Geschäften enorme Risiken liegen. Etliche große Banken gerieten ins Schlingern und wurden mit Milliardenbeträgen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gerettet. Die Linke ist daher für ein grundsätzliches Verbot
des spekulativen Eigenhandels.
({2})
Denn im Gegensatz zu diversen Vorschlägen der EUKommission oder der Anhänger eines Trennbankensystems wollen wir den Spekulanten nicht einen Extraraum
zur Verfügung stellen, in dem sie sich austoben können,
sondern wir wollen, dass das Zocken der Banken endlich
aufhört.
({3})
Wir halten von einem Trennbankensystem gar nichts.
Lehman Brothers war eine reine Investmentbank in einem grundsätzlichen Trennbankensystem. Die großen
US-Investmentbanken sind bis auf eine Ausnahme unter
das Dach von Geschäftsbanken geschlüpft. Das soll für
Deutschland die Zukunft sein? Wie man gestern im
Handelsblatt lesen konnte, liebäugelt Herr Schäuble gerade mit der französischen Trennbankenreform. Doch
das ist ein Reförmchen. Das hochspekulative Handelsgeschäft soll nicht unterbunden, sondern lediglich in
eine Tochtergesellschaft ausgegliedert werden. Nein, da
gehen wir nicht mit.
({4})
Die Linke will das bewährte Universalbankensystem behalten.
Sie behaupten in Ihrem Antrag außerdem, dass Sie die
Eingriffsbefugnisse der Bankenaufsicht gestärkt hätten.
Doch auch hier sind Sie wieder auf halber Strecke stehen
geblieben. Gestern in der Anhörung zum Hochfrequenzhandel hat die Bankenaufsicht einräumen müssen, dass
ihr das Personal für eine echte Kontrolle fehlt. Marktmanipulationen finden statt, ohne dass die BaFin sie
überhaupt entdecken könnte.
({5})
Das ist doch keine Erfolgsgeschichte.
Die Bundesregierung schmückt sich mit fremden
Federn und zündet Nebelkerzen. Ihr Antrag ist mit
„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanzmärkte fortsetzen“ überschrieben. Was heißt hier „fortsetzen“? Fangen Sie doch erst einmal richtig an!
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing für
die FDP-Fraktion.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Steinbrück, zwei Dinge zeichnen Sie aus: Erstens wissen
Sie hinterher immer alles besser, und zweitens wurden
alle erfolgreichen Gesetze, die CDU/CSU und FDP hier
im Bundestag - im Übrigen mit Gegenstimmen der
SPD-Fraktion - durchgesetzt haben, heimlich von Peer
Steinbrück geschrieben. Das haben wir heute dazugelernt.
({0})
Das ist, Herr Steinbrück, im besten Falle lächerlich.
Aber sich hier hinzustellen, nachdem Ihre eigene
Fraktion und Sie persönlich das Restrukturierungsgesetz
abgelehnt haben, nachdem Sie unsere Regulierungsgesetze hinsichtlich Leerverkäufen und anderer Dinge
abgelehnt haben, und zu sagen, Sie hätten sie eigentlich
geschrieben
({1})
und wir hätten bei Ihnen abgeschrieben, das ist, Herr
Steinbrück, wirklich eine maßlose Täuschung der
Öffentlichkeit.
({2})
Sie haben hier die Probleme der Finanzwirtschaft in
den letzten Jahren eindringlich beschrieben. Es ist wahr:
Es gab dramatische Exzesse mit erheblichen Problemen.
Aber man fragt sich doch: Wie konnte sich der Bankensektor unter einem nordrhein-westfälischen Finanzminister Peer Steinbrück eigentlich so entwickeln? Wie
konnte sich der Finanzsektor unter einem Ministerpräsidenten Peer Steinbrück so weiterentwickeln?
({3})
Wie konnte sich der Finanzsektor unter einem Bundesfinanzminister Peer Steinbrück so weiterentwickeln,
dass es zu einer Zuspitzung der Krise kam? Ja, wie war
denn das alles möglich? Wollen Sie der Öffentlichkeit
das vielleicht irgendwann einmal sagen? Das ist eine
Frage des Anstands und der Aufrichtigkeit.
({4})
Sie stellen sich hier hin und sagen, dass Sie gemeinsam mit den Grünen einen neuen Anlauf zur Bändigung
der Finanzmärkte unternehmen wollen. Wo ist denn Ihr
damaliger Anlauf gewesen?
({5})
Sie haben damals, vom Zeitgeist geprägt - Herr
Schäuble hat das richtig ausgeführt -, Hedgefonds zugelassen und die Deregulierung der Finanzmärkte betrieben.
({6})
Das war ein breiter Konsens.
({7})
Das war damals aber auch die Auffassung von RotGrün. Es war Ihre Regierung, die das betrieben hat. Sie
haben die Finanzmärkte dereguliert. Sie haben also gar
keinen ersten Anlauf unternommen. In Ihrer ganzen
Amtszeit haben Sie kein einziges Gesetz zur Regulierung der Finanzmärkte auf den Weg gebracht.
({8})
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben mit ansehen müssen, dass Finanzminister Peer Steinbrück, als die
Krise in Amerika eskalierte, der deutschen Öffentlichkeit - selbstbewusst wie immer - mitgeteilt hat, das sei
ein amerikanisches Problem, das in Deutschland nicht
ankommen werde. Wir haben im Rahmen eines Untersuchungsausschusses herausarbeiten müssen - sonst hätten
Sie auch das verschwiegen -, dass Peer Steinbrück die
Berichte der Finanzaufsicht im Jahre 2008, also mitten
in der Krise, noch nicht einmal gelesen hat;
({9})
das war eine eklatante Fehleinschätzung der Bedrohungsund Gefährdungslage. Aber Sie stellen sich hier hin und
sagen, man müsse den Steuerzahler schützen. Was haben
Sie denn letztlich anderes gemacht, als die Banken auf
Steuerzahlerkosten zu rekapitalisieren? Sie haben ja noch
nicht einmal die warnenden Hinweise der Bankenaufsicht
in Deutschland gelesen, Herr Steinbrück. Das ist die
Wahrheit. Das ist die Bilanz Ihrer Verantwortung als Bundesfinanzminister.
({10})
Meine Damen und Herren, wir als christlich-liberale
Regierung haben die richtige Reaktion auf die Krise gezeigt. Wir haben einen Selbstbehalt bei Verbriefungen
eingeführt. Wir haben ein Leerverkaufsverbot durchgesetzt, das im Übrigen in ganz Europa Schule macht. Wir
haben die Beaufsichtigung von Ratingagenturen umgesetzt. Wir haben ein Hochfrequenzhandelsgesetz auf den
Weg gebracht. Wir setzen strenge Eigenkapital- und
Liquiditätsvorschriften für Banken durch. Wir haben die
nationale Bankenaufsicht reformiert und sie unabhängiger von der Wirtschaft gemacht; in Zukunft wird es das
rot-grüne Modell, nach dem die Beaufsichtigten selbst
als Mitglieder in den Gremien der Bankenaufsicht sitzen, nicht mehr geben. Wir haben für Unabhängigkeit
von der Wirtschaft gesorgt. Wir haben in Deutschland
ein Restrukturierungsregime aufgebaut, einen Bankenrestrukturierungsfonds geschaffen und eine Bankenabgabe durchgesetzt. Wir haben uns dafür starkgemacht,
dass wir auch auf europäischer Ebene eine schlagkräftige Bankenaufsicht bekommen. Das alles ist christlich26782
liberale Politik zur Stabilisierung der Finanzmärkte,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Sie, Herr Steinbrück, haben hier gesagt, wir bräuchten
einen europäischen Bankenrestrukturierungsfonds.
({12})
Dann haben Sie der Öffentlichkeit erklärt, er sei notwendig, um den deutschen Steuerzahler vor Risiken zu
schützen. Ich sage Ihnen: Wir müssen einen europäischen Restrukturierungsfonds verhindern, um den deutschen Steuerzahler und die deutsche Steuerzahlerin zu
schützen. Das Gegenteil von dem, was Sie vorschlagen,
ist richtig.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie vergessen etwas
- Herr Schäuble hat es Ihnen eben schon gesagt -:
({14})
Sie vergessen, dazuzusagen, woher das Geld für die
Bankenrekapitalisierung aus einem europäischen Fonds
am Ende kommen soll.
({15})
Wir sagen: Wir wollen die Stabilisierung des Finanzsektors in Europa, die in unserem nationalen Interesse
ist, unterstützen, aber nur dann, wenn auch ein Auflagenprogramm durchgesetzt wird, damit die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften, die heute nicht
wettbewerbsfähig sind, gestärkt wird. Das muss man
allerdings über den ESM machen, und das darf man auf
keinen Fall über einen europäischen Restrukturierungsfonds machen. In diesem Rahmen kann man nämlich
keine Auflagen durchsetzen, sondern muss am Ende in
Notaktionen bedingungslos helfen und Risiken für den
deutschen Steuerzahler übernehmen, die man überhaupt
nicht kontrollieren kann.
({16})
Sie wollen die Kasse öffnen. Das wollen wir verhindern.
Wir setzen uns für Stabilität in der Euro-Zone ein. Sie
hingegen suchen - auch in den Papieren, die Sie vorlegen - immer wieder nach Auswegen, um letzten Endes
die Notenpresse anwerfen zu können.
({17})
Genau das unterscheidet Sie von dieser christlich-liberalen Regierung.
({18})
Das, was Herr Steinbrück in seinen Papieren sonst so
vorschlägt, sind entweder Dinge, die längst umgesetzt
sind oder auf europäischer Ebene auf dem Weg sind,
({19})
oder es sind Nebelkerzen.
({20})
Das beste Beispiel für eine Ihrer Nebelkerzen, Herr
Steinbrück, ist diese Braunschweiger Erklärung, in der
Sie vorgeschlagen haben, das Kreditwesengesetz so zu
ändern, dass Banken die Lizenz entzogen werden kann,
wenn sie fortgesetzt Beihilfe zum Steuerbetrug leisten.
Herr Steinbrück, ich weiß nicht, ob Sie das nicht wissen
oder ob Sie die Öffentlichkeit bewusst täuschen; aber
das, was Sie herbeiführen wollen, ist in Deutschland bereits geltendes Recht: Nach dem Kreditwesengesetz
kann die Bankenaufsicht bei fortgesetztem Verstoß gegen deutsches Recht schon heute Managern die Zulassung und Banken die Lizenz entziehen. Wir brauchen
dazu keine SPD und keinen Peer Steinbrück und keine
Braunschweiger Erklärung. Die Neue Zürcher Zeitung
hat Ihnen bescheinigt, dass es offenbar selbst Ihrer eigenen Partei peinlich ist, dass Sie Dinge vorschlagen, die
längst geltendes Recht in Deutschland sind.
Das, was Sie in der Vergangenheit beigetragen haben,
war kein sinnvoller Beitrag zur Stabilisierung des Finanzsektors, und was Sie heute vorschlagen, sind Nebelkerzen. Ich sage Ihnen: Sie liegen in allen Punkten
falsch. Sie sind in diesem Sektor nicht Vorreiter, sondern
hinken hinterher.
Vorreiter in Europa ist die christlich-liberale Koalition, die zur Stärkung des Wettbewerbs die Finanzmärkte reguliert
Herr Wissing.
- ich komme zum Ende, Frau Präsidentin - und mit
strengen Auflagen dafür sorgt, dass die Wettbewerbsfähigkeit zu- und nicht abnimmt. Wir sind stolz auf diese
Regierung und haben da, wo Sie die Dinge haben schleifen lassen, vieles erreicht.
({0})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Es gibt auch in der Frage der Finanzmarktregulierung verschiedene Punkte, bei denen man
unterschiedlicher Auffassung sein kann. Das hört allerdings da auf, wo die Fakten, die Sie schildern, Herr Bundesfinanzminister, genau das Gegenteil sind von dem,
was in der Wirklichkeit stattfindet.
({0})
So war es gerade beim Thema Inflation. Natürlich gibt
es Blasen an den Finanzmärkten, die uns Sorgen bereiten
müssen. Aber es gibt zurzeit nur zwei Berufsgruppen,
die mit der Angst der Menschen vor Inflation unverantwortlich spielen: Das sind windige Anlageberater und
das sind Politiker der Koalition wie der Wirtschaftsminister heute morgen und Sie, Herr Bundesfinanzminister. Das ist unverantwortlich.
({1})
Lesen Sie, was die Europäische Zentralbank zu diesem
Thema schreibt: Es gibt im Moment keine konkrete Inflationsgefahr in dieser Form. - Das ist genau die Stellungnahme.
Natürlich müssen wir aufpassen, dass nicht die Europäische Zentralbank die entscheidenden Aufgaben übernimmt. Aber da war das, was Sie erzählt haben, Herr
Schäuble, faktisch falsch: Nicht die Vorschläge, die wir
machen, führen dazu, dass die Europäische Zentralbank
die Märkte mit Geld flutet. Wenn die Europäische Zentralbank in den letzten Monaten mit Billionen auf den
Märkten interveniert hat, dann deswegen, weil die Bundesregierung die entscheidenden Reformen in Europa
blockiert. Sagen Sie den Menschen die Wahrheit, sagen
Sie ihnen, wie die Zusammenhänge sind, und machen
Sie ihnen nicht etwas vor!
({2})
Das Ziel unseres Antrages ist klar: Wir müssen den
Automatismus brechen, dass immer dann, wenn eine
Bank in Europa ein Problem hat, der Steuerzahler einspringen muss. - Man könnte meinen, das müsste eigentlich selbstverständlich sein.
({3})
2008, als die Banken mit Milliarden gerettet wurden, gaben alle politischen Akteure das Versprechen, dass so etwas nie wieder passieren soll. Dieses Versprechen wurde
gebrochen. Die Logik einer Bankenrettung durch den
Steuerzahler geht unvermindert weiter, nicht nur über
die Bilanz der Europäischen Zentralbank. Was passiert
denn in Zypern? Der Steuerzahler muss einspringen, um
Banken zu retten. Was passiert denn in Spanien? Der
spanische Steuerzahler muss sich mit Milliarden beteiligen, um die Banken zu retten. Was passierte denn im
September 2012 - das ist gar nicht so lange her - in unserem Nachbarland Frankreich? Wieder musste eine
Bank, Crédit Immobilier de France, vom Steuerzahler
gerettet werden. Das sind doch alles keine Petitessen.
Hier werden in den verschiedenen europäischen Staaten
Milliarden aufgewendet. Muss das so sein? Nein, das
muss nicht so sein;
({4})
denn wir wissen aus den USA, dass es anders geht.
Das sind ja keine Riesenbanken, die man nicht retten
könnte, sondern das sind Banken - nehmen wir als Beispiele die Crédit Immobilier de France, eine Bank mit einem Kreditvolumen von 33 Milliarden Euro, die Alpha
Bank in Griechenland mit einem Kreditvolumen von
70 Milliarden Euro und die spanische Banco de Valencia
mit einem Kreditvolumen von 20 Milliarden Euro -, die
in den USA selbstverständlich abgewickelt werden würden. Über 400 Banken sind in den USA seit Ausbruch
der Krise ohne Kosten für den Steuerzahler abgewickelt
worden. Wir wollen dasselbe endlich auch für Europa erreichen.
({5})
Warum gelingt das denn in den USA und bei uns
nicht? Es gibt zwei Vorgehensweisen, wenn eine Bank in
der Schieflage ist. Die eine ist, dass Aktionäre, Gläubiger und Investoren daran beteiligt werden, die Kosten zu
tragen, der andere Weg ist, dass dies die Steuerzahler
tun.
Die Kanzlerin hat im November 2010 beim G-20Gipfel gesagt, die privaten Gläubiger sollen das tun. Ich
zitiere: Die Lasten der Krisenbewältigung dürfen nicht
einfach wieder dem Steuerzahler aufgebürdet werden. Auch dieses Versprechen wurde gebrochen; denn genau
das passiert doch.
In Irland hat man den Staat daran gehindert, die Investoren zu beteiligen. Wenn Sie die Leute in Irland fragen, wer sie denn daran gehindert hat, dann sagen sie:
the Germans. Die Tatsache, dass die europäischen Staaten Irland daran gehindert haben, die Investoren zu beteiligen, sollten wir ernst nehmen. In Spanien gelingt die
Beteiligung der Investoren auch nicht.
Insgesamt können wir sagen, dass sich die Investoren
bei der gesamten Bankenrettung in Europa nirgends mit
mehr als 10 Prozent beteiligt haben. Das Gros hat der
Steuerzahler getragen. Das ist falsch; das müssen wir ändern;
({6})
denn es geht um eine massive Umverteilung weg von
den Steuerzahlern hin zu den Menschen, die in Banken
investiert und diese finanziert haben.
Man muss jetzt einmal die Frage stellen, warum das
in Europa nicht gelungen ist. Liegt das daran, dass wir
das in einer Finanzkrise nicht tun können? Es wird uns ja
immer weisgemacht, die Finanzmärkte würden dann erschüttert. Warum sollte das aber in Europa nicht gehen,
wenn das doch in den USA geht? Es ist doch ein Ammenmärchen, dass das nicht gehen könnte - oder sagen
wir vielleicht eher: Es ist ein Merkel-Märchen.
({7})
Die Vorschläge lagen auf dem Tisch: schon im Oktober 2009 von der Europäischen Kommission und im Juli
2010 vom Europäischen Parlament. Der Vorschlag des
grünen Berichterstatters Sven Giegold, einen europäischen Abwicklungsfonds für Banken einzurichten, der
von den Banken finanziert wird, wurde vom Europäischen Parlament aufgenommen.
Wer hat das verhindert? Der Rat der Europäischen
Union. Wer ist die führende Kraft im Rat der Europäischen Union? Das ist diese Bundesregierung. Aufgrund
ihrer Blockade eines Bankenabwicklungsfonds, mit der
sie den Weg der Abwicklung und der Investorenbeteiligung versperrt hat, trägt die Bundesregierung die direkte
Verantwortung für die Bankenrettungen der letzten zwei
Jahre in Europa, für die Milliarden Steuergelder gezahlt
wurden.
({8})
Hier passiert jetzt etwas sehr Krasses. Unter Mitwirkung der Bundesregierung arbeiten Sie schon konkret
daran, dass der Steuerzahler über den Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, einspringt, der die Banken
direkt kapitalisieren soll. Den anderen, besseren Weg,
dass nämlich die Investoren beteiligt werden, wenn eine
Bank in Schieflage gerät, bringen Sie aber nicht voran,
sondern den blockieren Sie. Das ist doch genau falsch
herum. Genau das ist das gebrochene Versprechen der
Bundeskanzlerin Merkel.
({9})
Manche Krokodilsträne, die Sie gerade vergießen,
muss man hier schon noch einmal erwähnen. Herr
Schäuble, Sie haben gesagt, es sei schwierig, dass jetzt
dieselben Personen über die Geldpolitik und über die
Bankenrettung entscheiden sollen. Es ist doch der persönliche Vorschlag von Angela Merkel gewesen, das auf
Art. 127 ({10}) des EU-Vertrages zu stützen. Daraus folgt
das doch. Übernehmen Sie die Verantwortung für das,
was Sie in Europa tun.
({11})
Glauben Sie denn, wir würden nicht über die Telefonapparate mit Brüssel verbunden sein und nicht mitbekommen, was Sie in Europa tun? Ich glaube, man muss
ernsthaft darangehen.
Sie haben jetzt schnell und in aller Kürze selber noch
einen Antrag zur Finanzmarktregulierung vorgelegt.
Hier wird ein zentraler Unterschied zwischen der Regierung und der Opposition deutlich:
({12})
Für Sie ist diese Finanzkrise ein Betriebsunfall, nach
dem man ein paar Schrauben anziehen muss,
({13})
für uns ist diese Finanzkrise die Folge einer systematischen Fehlentwicklung, die wir korrigieren müssen. Da
reichen ein paar Schrauben nicht aus; denn der Finanzsektor ist insgesamt zum Kostgänger der Realwirtschaft
geworden. Er kostet uns mehr, als er bringt. Das sehen
wir in den Bilanzen. Deswegen müssen wir wesentlich
fundamentaler herangehen.
({14})
Wir haben Sie getrieben. Wir haben Sie in den letzten
Jahren getrieben und werden das weiter tun. Sie wollten
die Finanztransaktionsteuer nie. Wir haben sie in die
Verhandlungen eingebracht. Sie wollten nie über das
Trennbankensystem nachdenken. Sie haben den Antrag
der Grünen noch vor Jahresfrist abgelehnt. Plötzlich
heißt es, man sei offen für die Gedanken. Ja, warum? Weil wir das als SPD und Grüne hier zum Thema machen.
({15})
Im Herbst wollten Sie noch einmal die Versicherungsgesellschaften retten - Sie haben das jetzt noch auf dem
Tisch liegen - zulasten von vielen Kundinnen und Kunden. Wir haben es geschafft, Sie daran zu hindern, und
werden jetzt schauen, dass wir endlich einmal eine richtige Versicherungsregulierung hinkriegen; denn die Versicherungen dürfen bei der Finanzmarktregulierung
nicht ausgespart werden.
({16})
Wenn man sich Ihren Antrag einmal genau anschaut,
dann stellt man ein Muster fest, und wenn man sich anschaut, was in den letzten Jahren gelaufen ist, dann stellt
man ein schönes Muster fest: Sie regulieren - darum
geht es in dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben den Hochfrequenzhandel.
({17})
- Ja, ja. Da soll ein bisschen reguliert werden, aber das
Zentrale fehlt: ein Tempolimit, mit dem endlich diese
Wahnsinnsgeschwindigkeit am Finanzmarkt beendet
wird. Das ist notwendig.
({18})
Sie reden davon, dass die Beratung am Bankschalter
besser werden muss. Das ist ja richtig. Aber an den
Kern, an die provisionsorientierte Fehlberatung, wollen
Sie nicht herangehen. Deswegen bleibt das Grundproblem. Sie machen wieder den Fehler, nicht an die Ursachen heranzugehen.
Genauso ist es beim Trennbankensystem. Sie sagen
jetzt, wir wollen ein wenig prüfen, aber gleichzeitig signalisieren Sie, es soll sich am Universalbankenmodell
nichts ändern, und für die Deutsche Bank soll alles bleiben, wie es ist. Ja, wenn alles bleibt, wie es ist, dann
wird sich an den Märkten auch nichts ändern, und dann
wird die nächste Finanzkrise kommen.
({19})
In Deutschland und in Europa muss eine sehr wichtige Sache geändert werden; wir haben dazu unseren gemeinsamen Antrag vorgelegt. Das Thema Finanzmarktregulierung muss endlich bei Ihnen einmal aus der
Abteilung Marketing in die Abteilung Produktion wandern, und wir werden Sie darauf festlegen.
Danke schön.
({20})
Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Klaus-Peter
Flosbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben hier in den letzten drei Jahren über 50-mal
über die Finanzmarktregulierung gesprochen. Ich bin
froh, dass Herrn Steinbrück hier heute auch einmal dabei
ist.
({0})
Nach dieser Rede, in der er sich einen schlanken Fuß
mit Blick auf die Vergangenheit gemacht hat, möchte ich
doch auf Folgendes hinweisen: Ich empfehle jedem Bürger, jedem SPD-Anhänger, sich einmal den WDR-Film
von Klaus Balzer im Internet anzusehen, der die Geschichte der Westdeutschen Landesbank und die Verquickung mit der SPD darstellt.
({1})
Da geht es nämlich unter dem Titel „Größenwahn und
Selbstbedienung“ um die Entwicklung von einer Provinzbank zu einer Zockerbude. Vor allen Dingen werden, Herr Steinbrück, einmal die Jahre dargestellt, in denen Sie Finanzminister und Ministerpräsident waren.
({2})
Denn in dieser Zeit ist der gesamte Schrott von der Westdeutschen Landesbank gekauft worden, für den wir
heute bürgen müssen, meine Damen und Herren.
({3})
Sie haben hier gesagt, die ganze Krise habe mit der
Staatsschuldenkrise nichts zu tun. Dazu sage ich Ihnen:
Hypo Real Estate war bisher unser größter Fall. Sie hatte
80 Prozent ihrer gesamten Darlehen kurzfristig finanziert. Deswegen musste sie damals durch unsere Bürgschaften aufgefangen werden. Aber der größte konkrete
Schaden, der entstanden ist, ist durch die Abschreibung
der Griechenland-Anleihen erfolgt. Dass Griechenland
in der Euro-Zone ist, fällt in Ihre Verantwortung, in die
von Rot-Grün.
({4})
- Reden Sie nicht daran vorbei.
Ich komme jetzt zu dem Bankenthema. Das größte
Problem, das wir heute in Europa haben, ist, dass Sie
von Rot-Grün den Stabilitätspakt gebrochen haben. So
entstanden die Probleme in der Euro-Zone, auf die wir
heute hinweisen müssen.
({5})
Sie haben einen Antrag zur Bankenunion gestellt. Es
geht darin um neue Wege. Es ist für die Antragsteller
von SPD und Grünen die schlimmste Strafe in den letzten Tagen gewesen, dass bis auf zwei Zeitungen im
Grunde genommen niemand über diesen Antrag berichtet hat.
Warum hat niemand über diesen Antrag berichtet?
Erstens geht es darin entweder um Dinge, die wir längst
umgesetzt haben oder die sich im Umsetzungsprozess
befinden. Zweitens sind in diesem Antrag keine neuen
Ideen enthalten, die uns auf den Gedanken bringen
könnten, etwas besser zu machen. Drittens ist in dem
Antrag von einem Abwicklungsfonds und einem Altschuldentilgungsfonds die Rede, über die wir schon
längst diskutiert haben. Der Bundesfinanzminister hat
genau auf den entscheidenden Punkt hingewiesen: Sie
haben in keiner Weise gesagt, was das für die Haftung
der deutschen Steuerzahler bedeutet. Um die Antwort
auf diese Frage haben Sie sich geschickt gedrückt.
({6})
Es ist eben kein neuer Anlauf zur Bankenregulierung,
stattdessen laufen Sie der gesamten Entwicklung hinterher. Schon der G-20-Beschluss 2009 hat gezeigt, dass
die systemrelevanten Banken reguliert werden müssen.
Der Financial Stability Board, also der internationale
Finanzstabilitätsrat, hat Standards vorgegeben.
Unsere Koalition war in der Tat die Erste, die das
Restrukturierungsgesetz umgesetzt hat. Wir waren schon
zum 1. Januar 2011, vor zwei Jahren, so weit, Banken zu
sanieren oder auch abzuwickeln. Wir können nach den
Regeln dieses Gesetzes ein pleitegegangenes Unternehmen abwickeln. Wir haben ein Abwicklungsregime geschaffen, was sonst noch keiner in Europa gemacht hat.
Hier sind wir Vorreiter. Wir haben die Blaupause für die
anderen Länder in Europa geliefert. Das ist der Erfolg
dieser Koalition.
({7})
Wir waren natürlich, Herr Steinbrück, auch bei dem
Verbot der ungedeckten Leerverkäufe die Ersten. Wir
haben diesen Beschluss damals in der Großen Koalition
gemeinsam gefasst. Aber auch in dieser Frage waren wir
in Europa diejenigen, die die anderen gezwungen haben,
diesen Weg mitzugehen, damit gewisse Spekulationsgeschäfte mit Aktien, mit Kreditversicherungen oder
Staatsanleihen aufhören. Das war unser Erfolg. Wir
waren hier wieder die Ersten in Europa.
Hier wurde eben der Hochfrequenzhandel angesprochen und uns vorgeworfen, wir würden ihn nicht richtig
regulieren. Natürlich sind wir auch hier wieder die Ersten, die das machen, die Ersten, die einen unregulierten
Markt regulieren. Sie aber werfen uns vor, wir würden
nicht richtig regulieren. Wir haben als Erste diese Regelungen eingeführt. Das gibt Stabilität in diesem Lande.
Das gibt Stabilität für unsere Bürger. Dafür steht unsere
Koalition.
({8})
Wir stehen für eine Bankenunion. Wir unterstützen
unseren Finanzminister bei der Errichtung einer Bankenunion darin, ein neues Aufsichtsregime zu schaffen. Wir
wollen Qualität vor Schnelligkeit. Wir wollen auch eine
klare Trennung von Geldpolitik und Aufsicht. Es geht
uns vor allen Dingen darum, dass die großen systemrelevanten Banken richtig kontrolliert werden. Darum
geht es uns. Es geht uns nicht um die kleinen Volksbanken, die Sparkassen oder die kleinen Privatbanken.
Aber in allen Bereichen spielt immer ein Begriff eine
zentrale Rolle: Wo ist die Haftung, die Verantwortung?
Auch bei der Bankenunion können wir die anderen Länder nicht aus der Verantwortung lassen. Wenn Sie einen
europäischen Abwicklungsfonds mit 200 Milliarden
Euro gründen wollen, dann müssen Sie nicht nur so
nebenbei sagen: Das kann man doch einmal finanzieren. - Wir haben einen Abwicklungsfonds in Deutschland eingerichtet. Wir wollen aber in Europa die anderen
Länder nicht aus der Verantwortung lassen. Wir wollen
unsere Einlagensicherung nicht einfach auf Europa übertragen. Wir wollen nicht den Bürger für alles haften lassen. Das ist die Linie dieser Bundesregierung.
({9})
Der Kollege Wissing hat eine Liste vorgelegt, was in
den letzten Jahren alles umgesetzt worden ist. Das sind
15 große Maßnahmen gewesen. Die Finanzmarktregulierung, Herr Steinbrück, war das zentrale Thema in
allen Debatten hier im Deutschen Bundestag. Sie haben
daran nicht teilgenommen.
({10})
Sie sind heute zu uns Finanzpolitikern gekommen, um
mit uns gemeinsam zu diskutieren. Ich halte das für
wichtig. Aber hier erfahren Sie auch, was in den letzten
Jahren alles geschehen ist.
({11})
Diese Regierung mit Angela Merkel an der Spitze
und mit unserem Finanzminister Wolfgang Schäuble hat
mit Abstand das Beste für Europa getan, indem wir
wieder gemeinsame Regeln einhalten, indem wir auch
die deutschen Interessen vertreten. Wir wissen alle ganz
genau: Nur wenn alle die Regeln einhalten, haben wir
wieder ein stabiles Europa.
Herr Kollege.
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Gestern hat die
Weltbank die Wachstumsprognose für dieses Jahr abgegeben und deutlich gemacht: Die Europäische Zentralbank und die europäischen Regierungen sind auf dem
richtigen Weg dahin, dass von Europa am ehesten keine
Finanzmarktkrise mehr ausgeht, weil wir am stärksten
reguliert haben. Das ist der Erfolg.
({0})
Jetzt hat Manfred Zöllmer das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Wissing, lieber Herr Flosbach, wenn es eine
Technische Anleitung „Heiße Luft“ gäbe, dann müssten
Sie beide schon längst stillgelegt sein.
({0})
Herr Flosbach, ich bin es wirklich leid, von Ihnen immer wieder diese Griechenland-Lüge zu hören. Es ist
eine Lüge. Lesen Sie einmal nach, wie es damals war
und wer Griechenland aufgenommen hat! Im Mai 1998
hat der Europäische Rat die Aufnahme von Griechenland beschlossen - der Europäische Rat, Bundeskanzler
Helmut Kohl und Finanzminister Waigel. Nehmen Sie
das bitte zur Kenntnis. Erster Punkt.
({1})
- Beschäftigen Sie sich einfach einmal mit den Fakten!
Ich kann Ihnen die Materialien zur Verfügung stellen.
Das wäre hilfreich.
Nächster Punkt: Sie haben völlig vergessen, die Sachsen LB mit aufzuzählen.
({2})
Was ist mit Bayern und dem Desaster der Bayerischen
Landesbank? Das haben Sie leider auch vergessen.
Noch etwas zu Nordrhein-Westfalen. Die Verbriefungen und Probleme, die in die Bilanzen aufgenommen
worden sind, sind unter Herr Rüttgers aufgenommen
worden.
({3})
Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. So viel zu
den „Wahrheiten“, die Sie hier verkünden.
({4})
Wer verspricht, die Verursacher der Finanzkrise an
den Kosten der Krise zu beteiligen, wie Sie und Frau
Merkel es gemacht haben, dies dann aber nicht einlöst,
dessen Regulierungspolitik ist gescheitert. Sie können
auf noch so viele Gesetzentwürfe verweisen: Sie haben
das zentrale Versprechen von Frau Merkel nicht eingelöst. Diese Koalition ist bei der Regulierung schwach
gestartet und hat dann ganz stark nachgelassen.
({5})
Ein Blick in Ihren Antrag zeigt sehr deutlich, wie sehr
Sie die Vorschläge von Peer Steinbrück und die Vorschläge unseres rot-grünen Antrages getroffen haben.
Sie haben bisher immer behauptet, alles sei von Ihnen
bestens geregelt und unsere Vorschläge zur Bankentrennung seien schädlich. Jetzt wollen Sie diese Vorschläge
prüfen. Man sollte natürlich niemandem vorwerfen, klüger werden zu wollen.
Das Handelsblatt hat geschrieben:
Schäuble freundet sich mit Trennbanken-Idee an.
Union und FDP wollen so Steinbrücks Wahlerfolg
verhindern.
Eines ist immerhin klar: Die Aussage der Regierungsfraktionen, man habe bereits alle richtigen Lehren aus
der Krise gezogen, wird nun von Ihnen selbst widerlegt.
Schauen wir uns doch einmal die wichtigen Punkte
an. Der ganz zentrale Punkt ist die Beteiligung an den
Kosten der Krise bzw. die Frage, wie in Zukunft zu verhindern ist, dass die Steuerzahler daran beteiligt werden.
Das ist Ihnen nicht gelungen. Sie verlagern die Risiken
auf den ESM. In Zukunft wird die Bankenrekapitalisierung durch den ESM erfolgen. Das heißt, letztendlich
haftet der Steuerzahler wieder.
Frau Merkel hat die üblichen Nebelkerzen geworfen.
Erst hieß es: „Mit uns überhaupt nicht! Nein, das
machen wir nicht.“ Dann hat sie der Bankenunion zugestimmt und damit auch explizit der Situation, dass der
ESM zukünftig Banken retten wird. Das heißt, die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sind wieder in der
Verantwortung. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich empfehle Ihnen: Lesen Sie unseren Antrag gründlich durch. Darin stehen viele Vorschläge, wie das zu
verhindern ist.
({6})
Für die FDP hat jetzt Björn Sänger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Gute an der Debatte ist vor allen Dingen,
dass sie zu einer Tageszeit stattfindet, zu der diesem
wichtigen Thema noch ein gewisser Grad an Aufmerksamkeit gewidmet wird. Das war nicht bei allen der zahlreichen Debatten zur Finanzmarktpolitik der Fall. Insofern begrüße ich das außerordentlich; denn es wird auch
dem Thema gerecht.
Die Finanzmarktregulierung in Deutschland ist eine
Erfolgsgeschichte; das kann man festhalten. Der entscheidende Punkt bei der Bewältigung der Finanzkrise
ist, dass im Zuge der Finanzkrise 2007/2008 ein erheblicher Vertrauensverlust in der Finanzindustrie stattgefunden hat und dass insbesondere das Vertrauen, dass
kein einzelnes Institut das gesamte System destabilisieren kann, wiederhergestellt worden ist. Dazu brauchte es
einen Ordnungsrahmen. Ihn zu schaffen, das ist - das
kann man hier feststellen - dieser Regierungskoalition
gelungen.
Ein zentraler Baustein für die Herstellung dieses
Vertrauens ist das Bankenrestrukturierungsgesetz, das in
einem feinstufigen Prozess die Rettung von Banken bis
hin zur Abwicklung vorsieht. Die Finanzierung, die
dafür notwendig ist, wird durch einen Fonds sichergestellt. Das heißt, wir schirmen den Steuerzahler vor den
Risiken ab und bringen die Haftung wieder dahin, wo sie
hingehört, nämlich zum Eigentümer. Handlung und
Haftung werden wieder zusammengeführt - ein zentrales Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, das wir in der
Finanzindustrie neu zur Geltung gebracht haben.
({0})
Gleichzeitig haben wir Anreize, die zu Fehlverhalten
führen, verringert. Wir haben die Vergütungsregeln neu
gestaltet. Wir haben dafür gesorgt, dass Boni zurückgefordert werden können, wenn Banken in Schieflage
kommen. Die Vergütungs- und Boniregeln müssen nachhaltig ausgestaltet sein. Wir haben die Kreditverbriefungen - sie waren das Epizentrum der Krise - geregelt,
indem wir einen Selbstbehalt eingeführt haben. Das
Ganze ist ein bisschen wie bei der Kfz-Versicherung:
Man schaut genau hin, was in die Bücher aufgenommen
wird. Wir haben ungedeckte Leerverkäufe verboten. Das
Gleiche gilt im Übrigen für den Verkauf ungedeckter
Kreditausfallversicherungen. Wir haben auch in diesem
Bereich für Transparenz gesorgt. Wir haben die Ratingagenturen, die während der Krise eine ungute Rolle gespielt haben, einer Regulierung zugeführt. Sie stehen
jetzt unter Aufsicht. Sie müssen sich registrieren lassen.
Auch hier haben wir für Transparenz gesorgt. Transparenz ist übrigens ein Leitgedanke in dieser gesamten
Regulierung; denn nur wenn man weiß, wer was wann
macht und wie hält, kann der Markt darauf entsprechend
reagieren und werden die Selbstregulierungskräfte entsprechend geweckt.
Wir haben den Derivatemarkt reguliert. Indem wir
zentrale Gegenparteien eingeführt haben, haben wir
auch dort für neues Vertrauen gesorgt. Denn auch da
weiß man, wer welches Derivat wie lange hält. Auch das
fördert die Transparenz. Wir haben eine Eigenkapitalunterlegung eingeführt. Wir haben die Finanzaufsicht neu
geordnet, indem wir dafür gesorgt haben, dass die
Akteure besser miteinander kommunizieren und die
Aufsicht unabhängiger von der Wirtschaft wird. Damit
ist insgesamt eine effizientere Aufsicht aufgebaut
worden.
Wir haben noch weitere Maßnahmen in der Pipeline;
wir diskutieren bereits darüber. Ich denke an die Regu26788
lierung alternativer Investmentfonds, also an Hedgefonds, und insbesondere an deren Manager. Den
Hochfrequenzhandel - dazu hatten wir erst gestern eine
interessante Anhörung - werden wir als erste Nation
überhaupt regulieren. Wir haben die nationale Umsetzung von Basel III, also der notwendigen Kapital- und
Liquiditätsvorschriften für Banken, vor uns. Der Versicherungsbereich wird mit Solvency II reguliert werden.
Viele Maßnahmen wurden auf EU-Ebene angestoßen,
unter anderem durch deutsche Initiativen. Beispielsweise kamen Initiativen zu Regulierungen wie das
Bankenrestrukturierungsgesetz oder auch das Verbot von
Leerverkäufen aus Deutschland. Die deutschen Interessen sind hierbei auf EU-Ebene sehr wirkungsvoll vertreten worden. In diesem Zusammenhang möchte ich
einmal der Bundesregierung dafür Dank sagen, dass dies
so geschehen ist. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir einen Finanzmarkt haben, der sich in der
Krise als stabiler als andere Finanzmärkte gezeigt hat
und deswegen einer etwas anderen Regulierung bedarf.
Wir unterstützen die Bundesregierung auch bei den
Maßnahmen hinsichtlich der Bankenunion, wenn sie
sagt: Für uns geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit, wir
wollen die unabhängige Geldpolitik der EZB bewahren,
und wir wollen, dass Verwaltungsakte demokratisch
kontrolliert werden und insbesondere subsidiär erfolgen.
Insofern hat die schwarz-gelbe Regierungskoalition immer auch die Wettbewerbssituation im Finanzmarkt vor
Augen. Sie denkt vom Ende her und fragt: Welche Auswirkungen hat eine Regulierungsmaßnahme? Es nutzt
nämlich nichts, wenn Geschäfte außerhalb Deutschlands
stattfinden, die Risiken aber in Deutschland verbleiben,
weil die deutschen Akteure natürlich weiterhin solche
Geschäfte tätigen, diese nur eben im Ausland ausführen.
Insofern: Wir überlegen genau und handeln; wir reden
nicht nur und machen keinen Unfug.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Dr. Axel Troost hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Ursachenanalyse der Euro-Krise im Antrag von SPD
und Grünen ist nur begrenzt richtig; denn sie lässt einen
wichtigen Teil außen vor. Natürlich hat die Finanz- und
Bankenkrise seit 2008 einen großen Anteil an der Krise
im Euro-Raum. Aber Sie blenden die mindestens genauso wichtige zweite Ursache aus, und das ist kein
Zufall. Die zweite Ursache - das sind die Konstruktionsfehler der Währungsunion selbst. In einer Währungsunion hätte man die Mitgliedsländer darauf verpflichten
müssen, sich in wichtigen Schlüsselbereichen ständig
abzustimmen, zum Beispiel in der Wirtschafts-, in der
Steuer-, in der Lohn-, in der Inflations- und in der Arbeitsmarktpolitik.
({0})
Wenn in einer Währungsunion eine Zielinflationsrate
von 2 Prozent vereinbart ist, dann ist es nicht nur Aufgabe der Zentralbank, sich darum zu kümmern. Vielmehr hätte sich eine deutsche Bundesregierung selbstverständlich darum bemühen müssen, dass die Löhne
oder, genauer gesagt, die Lohnstückkosten, entsprechend
steigen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, Ihre letzte Bundesregierung von 2002 bis 2005 hat
das nicht nur ignoriert. Viel schlimmer: Sie hat in
Deutschland mit der Agenda 2010 ganz bewusst einen
Niedriglohnsektor, eine Prekarisierung von Arbeit, Erwerbslosigkeit und Rente eingeführt und hat damit die
Reallöhne auf breiter Front gesenkt.
({2})
Das - deswegen ist das hier Thema - war nicht nur Verrat an den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Erwerbslosen sowie Rentnerinnen und
Rentner, sondern es war auch eine Sabotage an der Europäischen Währungsunion; denn Sie haben die Lohnentwicklung in Deutschland zugunsten der deutschen Unternehmer und Aktionäre auf Kosten von Rest-Europa
unter 2 Prozent gedrückt.
({3})
Unter Rot-Grün wurde der Euro eingeführt, und ohne
die rot-grüne Agenda 2010 stünde die Euro-Zone heute
weit weniger nahe am Abgrund.
({4})
Natürlich müssen die Griechinnen und Griechen ihre
hausgemachten Probleme anpacken, aber einen wichtigen Beitrag müssen auch wir in Deutschland leisten. Wir
müssen die ausschließliche Exportorientierung eindämmen, uns von der Agenda-Politik verabschieden und
endlich die Binnenwirtschaft stärken, das Lohnniveau in
Deutschland anheben und uns für einen leistungsfähigen
deutschen Sozialstaat einsetzen.
({5})
Ohne diese Maßnahmen gibt es keine Chance, dass die
südeuropäischen Länder ihre Wirtschaft wieder auf Kurs
bringen und sich aus der Schuldenfalle befreien können.
Nun zum Hauptgegenstand Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, zur Finanzregulierung.
Viele Ihrer Einschätzungen und Forderungen können
wir unterstützen. Wir freuen uns auch, dass Sie Anteilseigner und Gläubiger in Zukunft stärker bei der Bekämpfung der Bankenkrise heranziehen wollen.
Wir wissen aber natürlich auch alle: Das gilt für die
Zukunft, also für die nächste Bankenkrise. Die Kosten
der heutigen Krise sind aber längst da. Peer Steinbrück
hat darauf hingewiesen, dass alleine in der Euro-Zone
insgesamt über 1,6 Billionen Euro für die Bankenrettung
aufgewendet worden sind. Man kann sagen - das ist zuDr. Axel Troost
gegebenermaßen etwas einfach -: Die Reichen und Superreichen sind trotz der Krise immer reicher geworden,
weil die Staaten großzügig für ihre Verluste aufgekommen sind.
Wir sehen daher die Zeit gekommen, durch eine einmalige Vermögensabgabe die Profiteure der Bankenrettung auch rückwirkend an den Krisenkosten zu beteiligen.
({6})
Erfreulicherweise gibt es bei den Grünen in dieser
Richtung auch klare Beschlüsse. In der SPD sieht das
ganz anders aus. Insofern wird es in einer rot-grünen Regierung unter Leitung von Peer Steinbrück dazu sicherlich nichts geben. Unter einer Regierung von Rot-RotGrün, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
hätten Sie bestimmt bessere Karten.
({7})
Auch in Sachen Finanzmarktregulierung und Bankenunion bleibt die Liste Ihrer Forderungen hinter vielem
zurück, was nottut. Hier ist mehrfach gesagt worden: Die
SPD will ein Trennbankensystem. - In Ihrem Antrag
steht davon überhaupt nichts.
({8})
Wir wollen bekanntlich auch, dass das spekulative Investmentbanking-Geschäft vom seriösen Bankengeschäft getrennt wird.
({9})
Aber wir wollen auch, dass, wenn es dann einen Bankenteil und einen Spielbankenteil gibt, der Spielbankenteil
restlos geschlossen wird und nicht weiterarbeiten kann.
({10})
Aus unserer Sicht braucht die Welt keine hochkomplexen, gefährlichen Finanzprodukte, die selbst Bankenvorstände nicht mehr verstehen.
({11})
Aus unserer Sicht muss der ganze Finanzsektor so
grundlegend entrümpelt und zurechtgestutzt werden,
dass am Ende keine Großbank mehr übrig bleibt, die ein
Risiko für die Gemeinwirtschaft darstellt.
({12})
Aus unserer Sicht muss die Gesellschaft viel stärker in
die Banken hineinwirken. Banken gehören unter gesellschaftliche Kontrolle
({13})
durch demokratisch legitimierte Verwaltungs- und Aufsichtsräte, wie es heute am besten noch im Bereich der
Sparkassen und Volksbanken der Fall ist.
({14})
Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, glauben wir, dass Ihr gemeinsamer Forderungskatalog sich eher liest wie eine mäßig aufgepeppte
Presseerklärung der EU-Kommission. Wir brauchen
mehr und stärkere Regulierung, andere Einflussnahmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie im Herbst
nicht nur die Regierung übernehmen, sondern wirklich
einen neuen Kurs einschlagen wollen, dann ist wesentlich mehr Mut bei den Alternativen erforderlich.
Danke schön.
({15})
Der Kollege Peter Aumer hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Axel Troost, ich gebe dir vollkommen
recht: Mehr Mut wäre bei diesen Themen angesagt.
({0})
„Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte“ ist
ein gemeinsames rot-grünes Projekt, das Sie uns vorgelegt haben, meine sehr geehrten Damen und Herren der
SPD und der Grünen. Ein neuer Anlauf für was? Seit ich
im Deutschen Bundestag sein darf, habe ich Ihre Anläufe in diesem Bereich vermisst.
Herr Steinbrück wollte uns vorhin klarmachen, dass
er der Verantwortliche für all die Finanzmarktregulierungsmaßnahmen ist, die wir in der christlich-liberalen
Koalition auf den Weg gebracht haben. Aus meiner Sicht
und auch im Kontext der europäischen Entscheidungen
sind es sehr wohl gelungene Finanzmarktregulierungsmaßnahmen, die unser Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble, getragen von der christlich-liberalen Koalition, in Deutschland auf den Weg gebracht hat; zudem
hat er gemeinsam mit der Bundeskanzlerin die Mehrheiten auch auf europäischer Ebene organisiert.
Nun kommen Sie, meine sehr geehrten Damen und
Herren von Rot-Grün, wollen den ersten Aufschlag machen und beweisen, welches große Regierungshandeln
Sie denn an den Tag legen werden in Ihrer Politik, die
nach der Bundestagswahl hoffentlich nicht Realität werden wird, weil der Mut fehlt, wie Axel Troost das vorhin
gesagt hat.
„Übernehmen Sie Verantwortung!“, hat Herr
Dr. Schick vorhin gesagt. Wir haben in diesen dreieinhalb Jahren Verantwortung übernommen mit all den
Maßnahmen, die der Bundesfinanzminister, unser finanzpolitischer Sprecher und auch die Kollegen von der
FDP dargestellt haben. Wir haben ein Motto ausgegeben: Kein Risiko darf mehr ausgehen von einem Finanzprodukt, kein Risiko darf mehr ausgehen von Finanzmarktakteuren, und vom Finanzmarkt an sich darf auch
kein Risiko mehr für die Wirtschaft in unserem Land, für
die Wirtschaft in Europa ausgehen. - Das ist uns bisher
gelungen. Für die Krise ist mittlerweile politische Verantwortung übernommen worden.
Wir haben diese Verantwortung übernommen und
keinen Schleiertanz aufgeführt, so wie das Ihr Kanzlerkandidat uns weismachen wollte. Herr Poß, diesen
Schleiertanz hat vielmehr Ihr Kanzlerkandidat aufgeführt. Wenn er solche Worte im Munde führt, fallen die
auch auf ihn zurück. Er hat den Blick auf die Krise verstellt. Das ist keine verantwortungsvolle Politik der Opposition. Wir haben in den dreieinhalb Jahren gezeigt,
was verantwortungsvolle Politik heißt, was auch Wahrhaftigkeit in der Politik heißt. Ich habe mir Stichworte
aus der Rede Ihres Kanzlerkandidaten aufgeschrieben.
Herr Steinbrück hat von Wahrhaftigkeit gesprochen.
Was er in seiner Rede gesagt hat, gehörte aus meiner
Sicht nicht dazu.
({1})
- Herr Poß, ich komme aus Regensburg, genau.
({2})
Deswegen ist es für mich ein großer Auftrag und eine
große Verantwortung, dass wir die Grundprinzipien der
sozialen Marktwirtschaft beachten. Wir sind der Garant
für die soziale Marktwirtschaft, nicht Herr Steinbrück.
({3})
Er möchte das vielleicht für sich in Anspruch nehmen.
Aber das, meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen wir ihm als christlich-liberale Koalition nicht durchgehen. Wir haben Haftung und Risiko zusammengebracht, nachdem es zuvor - das ist vorhin schon
angesprochen worden - eine Politik der Deregulierung
gegeben hat, eine Politik, die von einer breiten Mehrheit
dieses Hauses und der Gesellschaft getragen war. Uns allen ist klar geworden, dass man einen anderen Weg gehen muss, einen Weg der Verlässlichkeit und der Nachhaltigkeit. Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst
geworden.
Wolfgang Schäuble hat in seiner Rede Deutschland
als Anker für Europa bezeichnet. Mich wundert es, wenn
die Opposition versucht, diese kräftige Wirtschaft
schlechtzureden. Das ist nicht der richtige Weg.
({4})
- Ihr Kanzlerkandidat hat das doch vorher gemacht.
({5})
- Auf die Probleme hingewiesen hat eher Herr
Dr. Troost als Herr Steinbrück. Er hat gesagt, all das,
was wir umgesetzt haben, hat eigentlich er gemacht. Ansonsten gab es keinen Hinweis auf einen neuen Regulierungsrahmen für die Finanzinstitute und die Finanzmärkte.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind der
Verantwortung nachgekommen. Die Bundeskanzlerin
hat für uns auf europäischer Ebene intensiv verhandelt,
sodass ein neuer Regulierungsrahmen eingezogen wird.
Es ist ein Erfolg, dass wir in der christlich-liberalen Koalition hart geblieben sind. Wenn Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, an der Regierung gewesen wären, wären Haftung und Risiko in Europa schon lange
nicht mehr im Einklang, sondern es wären mittlerweile
Euro-Bonds eingeführt worden. Sie hätten genau das
Gegenteil von dem gemacht, wovon Ihr Kanzlerkandidat
gesprochen hat, nämlich dass Haftung und Risiko in Einklang gebracht werden müssen. Das ist keine verantwortungsvolle Politik.
({7})
Für uns ist der Dreiklang der Finanzmarktregulierung
wichtig, nämlich dass wir umfangreich regulieren, dass
wir den Verbraucherschutz verbessern und dass die Aufsicht verbessert wird. Das wollen wir im letzten halben
Jahr vor der Bundestagswahl auf den Weg bringen, und
das können wir den Bürgerinnen und Bürgern erfolgreich vermitteln. Von uns kommt keine heiße Luft, sondern von uns kommt verantwortungsvolle Politik für die
Zukunft unseres Landes. Ich lade Sie ein, diese verantwortungsvolle Politik nicht schlechtzureden, sondern
mit uns gemeinsam dieses Land in eine starke Zukunft
zu führen. Dazu gehört auch, dass der Regulierungsrahmen gemeinsam gestaltet wird. Wir sind der Garant dafür, dass dieser Regulierungsrahmen in die richtige Richtung geht, dass auch in Europa Solidität und Solidarität
in Einklang gebracht werden. Das ist der Weg, den wir in
unserer Koalition gegangen sind und den Sie durch solche Anträge kurz vor irgendwelchen Wahlen nicht
schlechtreden können. Die Menschen in unserem Land
wissen, wer verantwortungsvoll in die Zukunft geht.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Der Kollege Dr. Carsten Sieling hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den letzten anderthalb Stunden haben wir nahezu eine
Großkundgebung für die Regulierung von Finanzmärkten erlebt, an der sich offensichtlich jeder oder jede beteiligen will. Was sind die Ergebnisse? Darüber möchte
ich mit Ihnen vor dem Hintergrund reden, dass Sie in der
Tat in den letzten drei Jahren regiert haben.
Schauen wir auf die europäische Politik und den europäischen Kontext. Seit 2010 ist die Frage der Stabilisierung des Euros, die Rettung von Griechenland und anderen Ländern ständig Thema. Die Kanzlerin und der
Finanzminister hecheln von europäischem Gipfel zu europäischem Gipfel. Der Bundestag wird mit immer
neuen Fakten und Wahrheiten konfrontiert. Gelöst ist
verdammt wenig.
({0})
Wenn es in Europa zu einer Stabilisierung gekommen
ist, dann ist das nicht das Ergebnis irgendwelcher Gipfelbeschlüsse, erst recht nicht von Beschlüssen dieser Bundesregierung oder dieser Koalition, sondern bestenfalls
des Handelns der Europäischen Zentralbank, die das im
Herbst mit ihrem Stabilisierungsprogramm gemacht
hat - unter Billigung dieser Bundesregierung und bei
Kritik aus Ihren Reihen. Das nenne ich verfehlt und
scheinheilig.
({1})
Die Krönung des Ganzen ist, wenn hier auch noch der
verantwortliche Bundesfinanzminister entgegen dem Rat
sämtlicher Ökonomen von Inflation redet. Die EZB und
selbst das Institut der deutschen Wirtschaft sagen: Es
wird keine Inflation geben. - Was der Bundesfinanzminister dazu bemerkt hat, halte ich für fahrlässig und
für eine große Gefährdung der Stabilität in unserem
Volk.
({2})
Zum Schluss darf ich noch sagen: Sie kommen hier
mit einem Antrag zur Finanzmarktregulierung. Sie erzählen uns darin in 15 Punkten, was Sie alles gemacht
haben wollen.
({3})
Leider haben Sie das Problem nicht gelöst. Das erkennen
Sie auch selber, wenn Sie einen Blick auf die Überschrift
Ihres Antrags werfen. Sie wollen eine „schärfere und effektivere Regulierung“. Bravo! Das ist ein Eingeständnis, dass Ihre Maßnahmen nicht gereicht haben, und zugleich eine Unterstützung unserer Vorschläge.
({4})
Ich sage Ihnen auch: Wir haben ein Interesse daran
- Herr Kollege Brinkhaus, Sie können gleich darauf eingehen -, dass diese Beratung fortgeführt wird.
Herr Kollege.
Wir wollen, dass die beiden Anträge - das darf ich
noch sagen, weil es sich auf das Verfahren bezieht, Frau
Präsidentin - an die Ausschüsse überwiesen werden und
sich der Deutsche Bundestag weiterhin ernsthaft mit ihnen auseinandersetzt. Sie jedoch wollen gleich in der Sache abstimmen. Das halte ich für einen großen Fehler.
Das zeigt Ihr Demokratieverständnis und Ihre Angst vor
diesem Thema.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege, Sie waren am Ende Ihrer vorgesehenen
Redezeit. - Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und
Herren! Der Kanzlerkandidat der SPD hat gerade 16 Minuten geredet. Zwei Minuten hat er damit verbracht, die
Blockade des Doppelbesteuerungsabkommens mit der
Schweiz zu rechtfertigen. Etwas mehr als 14 Minuten
hat er sich an einer Vergangenheitsbetrachtung ergötzt,
und circa 30 Sekunden hat er über die Zukunft geredet.
Das spricht Bände.
({0})
Dieser Kanzlerkandidat hat in dem politischen Sabbatical, das er sich genommen hat, den Anschluss an die
Finanzpolitik und an das, was in der Zwischenzeit geschehen ist, verpasst. Das hat man heute in dieser Rede
wieder gemerkt. Wenn man sich dann Ihren Antrag anschaut - das Einzige, wovon er geredet hat, war ja, dass
er einen Restrukturierungsfonds haben möchte -, muss
man sich fragen: Warum wollen Sie denn nicht eigentlich schon früher ansetzen? Warum beginnen Sie mit der
Regulierung erst zu einem Zeitpunkt, zu dem das Kind
bereits in den Brunnen gefallen ist?
Wir haben einen anderen Ansatz. Wer Finanzmärkte
bändigen will, der muss zunächst einmal dafür sorgen,
dass in den Finanzinstitutionen weniger Fehler gemacht
werden. Genau das haben wir gemacht. Wir haben Vergütungsregeln angepasst, wir haben die Ratingagenturen
und die Verbriefungen reguliert und vieles andere mehr.
Wer die Finanzmärkte bändigen will, der muss dafür
sorgen, dass die Fehlertragfähigkeit der Institute erhöht
wird. Er muss dafür sorgen, dass mehr Eigenkapital vorhanden ist, und dafür, dass es mehr Liquidität gibt. Er
muss auch dafür sorgen, dass die Derivatemärkte sicherer sind. Genau das haben wir gemacht, bzw. wir sind
gerade dabei.
({1})
Wer dafür sorgen will, dass die Finanzmärkte gebändigt werden, der muss sich darum kümmern, dass es eine
bessere Aufsicht gibt. Genau das haben wir gemacht.
Wir haben die deutsche Aufsicht reformiert. Wir haben
die europäische Aufsicht reformiert, und wir haben überhaupt erst die Basis für Aufsicht geschaffen, indem wir
durch viele Meldefristen für die notwendige Transparenz
gesorgt haben.
({2})
Erst dann, wenn wir sehen, dass die Fehlervermeidung scheitert, dass die Fehlertragfähigkeit nicht gegeben ist, dass die Aufsicht nicht geklappt hat, kommt die
Restrukturierung. Genau diese Restrukturierung haben
wir auf den Weg gebracht.
({3})
Es ist doch albern, jetzt zu fragen, wer denn damit angefangen hat, wer zuerst diese Idee hatte oder wem das Copyright gehört. Diese Dinge interessieren den Bürger in
diesem Lande überhaupt nicht. Wir haben es durchgesetzt, und dafür bin ich auch sehr dankbar. Wir waren die
ersten in Europa, die es gemacht haben.
({4})
Wer die Banken bändigen will, der muss auch sehen,
dass es nicht nur Investmentbanker und Hedgefondsmanager gibt, sondern auch Verbraucher. Deshalb war uns
der Gedanke sehr wichtig, dass Bankenregulierung zugleich Verbraucherschutz ist. Keine Bundesregierung hat
im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes so viel
getan wie diese Bundesregierung. Auch dafür bin ich
dankbar.
({5})
Man muss eines sehen: Wir können das nicht allein in
Deutschland machen - der Bundesfinanzminister hat es
angesprochen -, wir brauchen einen europäischen Konsens. Wir müssen uns mit den anderen Ländern in Europa und - noch besser - mit dem Rest der Welt einigen.
Das haben wir gemacht. Das ist mühsame Kleinarbeit.
Da gibt es keine schnellen Erfolge. Da muss man versuchen, die Menschen, die anderen Länder, die anderen
Regierungen mitzunehmen. Genau das haben wir gemacht. Die Alternative dazu hat uns Ihr Kanzlerkandidat
gezeigt: die Fortsetzung der Kanonenbootpolitik von
Kaiser Wilhelm mit verbalen Mitteln. Das wird nicht
funktionieren, meine Damen und Herren.
({6})
Wir müssen jetzt weitergehen und ganz klar anerkennen, dass natürlich noch nicht alles erledigt ist, dass vieles noch offen ist. Es gibt Projekte, die hängen. Dazu
zählt die Umsetzung der Eigenkapital- und Liquiditätsregeln gemäß Basel III; denn insbesondere unsere Kollegen im Europäischen Parlament kommen nicht zu Potte.
Dazu zählt Solvency II, ein ganz wichtiges Projekt im
Versicherungsbereich. Dazu zählt auch die Finanztransaktionsteuer, bei der wir noch mehr Druck machen müssen. Genau das schreiben wir in unserem Antrag: Wir
wollen Druck machen, wir wollen an der Stelle weitermachen.
Meine Damen und Herren, es reicht nicht, uns nur mit
den bestehenden Projekten zu beschäftigen, sondern wir
müssen ganz klar feststellen: Wo sind denn unsere offenen Flanken?
({7})
Eine offene Flanke haben wir ganz eindeutig bei der
„too big to fail“-Problematik. Das heißt, es gibt Großbanken, die uns alle hier in diesem Haus noch immer beunruhigen. Wir schreiben in unserem Antrag, dass wir da
herangehen müssen.
({8})
Wir müssen auch an das Schattenbanksystem herangehen, das uns sehr viel Anlass zur Sorge gibt. Ich denke,
insofern ist es richtig und gut, was wir in unseren Antrag
geschrieben haben. Ich kann Sie nur auffordern, diesen
Antrag zu unterstützen.
({9})
Wenn ich alles zusammenfasse, erkenne ich, dass
diese Bundesregierung und diese Regierungskoalition
mehr als 20 Maßnahmen und Initiativen auf den Weg gebracht haben, dass wir einen wesentlichen Teil unserer
Zeit im Finanzausschuss - und nicht nur dort - damit
verbracht haben, die Finanzmärkte zu regulieren.
Ich schaue mir dann an, wie hier heute diskutiert worden ist: Die Schärfe, mit der die Argumente vorgebracht
wurden, stand in keinem Verhältnis zur Begründetheit
der Vorwürfe. Ich schaue mir dann an, was in Ihrem Antrag steht. Darin steht das Versprechen: Wir werden die
Finanzmärkte bändigen. - Wenn man aber den Antrag
von SPD und Grünen durchschaut, dann erkennt man,
dass ganz wenig übrig bleibt.
Ich schaue mir dann an, was im Papier des Kanzlerkandidaten Steinbrück steht, das die Visitenkarte im
Kampf gegen Sigmar Gabriel um die Kanzlerkandidatur
war. Darin kündigt er ein großes Bankenkonzept an.
Mehrere Vorredner haben schon gesagt, was darin steht:
Dinge, die schon längst umgesetzt worden sind, Dinge,
die in der Umsetzung sind, und Dinge, die wir auf internationaler Ebene diskutieren.
Ich schaue mir dann an - ich habe das gestern Abend
einmal gemacht -, was Sie in den letzten dreieinhalb
Jahren an Anträgen vorgelegt haben. Ich kann da weder
eine Handschrift noch einen roten Faden noch eine Linie
oder ein Konzept erkennen. Das ist, ehrlich gesagt, zu
wenig.
Ich erwarte eigentlich von der Opposition, dass sie
kreativ und inspirierend ist und innovative Vorschläge
macht, dass sie einen Gegenentwurf zu dem liefert, was
die Regierung macht. Da muss man ganz ehrlich sagen,
meine Damen und Herren: Man könnte auf die Idee
kommen, dass es sich um Arbeitsverweigerung handelt.
Es waren in finanzpolitischer Hinsicht verlorene Jahre
für die Opposition; auch auf diese Idee könnte man kommen. Aber man könnte auch auf eine andere Idee kommen, nämlich darauf, dass die Politik der Bundesregierung so gut war, dass ihr überhaupt nichts Essenzielles
hinzuzufügen war.
({10})
Wenn sich der Kollege Steinbrück nicht schon - wahrscheinlich zu Hausbesuchen im niedersächsischen Wahlkampf - verabschiedet hätte, wenn er noch hier in der
Debatte wäre, die er angestoßen hat - ({11})
- Der Finanzminister ist hier im Saal.
({12})
Wenn sich der Kollege Steinbrück hier nicht schon vom
Acker gemacht hätte und sich nicht aus den Tiefen der
Fachdiskussion weggestohlen hätte, dann hätte ich ihm
jetzt gesagt: Lieber Herr Kollege Steinbrück, wenn der
Wähler Ihnen die Gunst erwiesen hätte, noch länger Finanzminister sein zu können - die große Mehrheit der
Wähler hat das im Übrigen nicht getan -, dann hätten Sie
wahrscheinlich nicht viel anders gemacht als der Finanzminister Schäuble; das gehört zur Wahrheit dazu.
Meine Damen und Herren, das Thema der Regulierung der Finanzmärkte ist zu ernst und zu wichtig, um es
für Wahlkampfklamauk zu missbrauchen. Beim Thema
der Regulierung der Finanzmärkte geht es um eine der
essenziellen Fragen. Dementsprechend eignet sich das
Thema nicht dafür, es zum Wahlkampfthema hochzupushen. Ich will Ihnen auch sagen, warum es sich dafür
nicht eignet: Bei all den Widersprüchen, die wir haben,
und all den Diskussionen, die wir führen, ist es richtig,
dass uns an dieser Stelle, bei der Regulierung der Finanzmärkte, mehr vereint als trennt. Der Gegner sitzt
nicht hier im Saal; der Gegner sind die Akteure an den
Finanzmärkten, die es immer noch nicht kapiert haben,
die großen Teile der Finanzmärkte, die immer noch nicht
kooperieren, die Teile der Finanzmärkte, die weiterhin
die Geschäfte machen, die die Stabilität unseres Systems, das wir in den letzten 50 Jahren aufgebaut haben,
gefährden.
({13})
Dementsprechend rufe ich dazu auf: Lassen Sie uns die
Sache zusammen angehen! Machen Sie daraus keinen
Wahlkampfpopanz!
Danke schön.
({14})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11878 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zum Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf der Drucksache 17/12060 mit
dem Titel „Schärfere und effektivere Regulierung der Finanzmärkte fortsetzen“.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Abstimmung in der Sache. Die SPD-Fraktion,
die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünschen Überweisung an dieselben Ausschüsse, an die die Vorlage auf Drucksache 17/11878
überwiesen worden ist.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer
stimmt dagegen?
({0})
Wer enthält sich?
({1})
- Wir sind uns im Präsidium nicht darüber einig, wo die
Mehrheiten sind. Insofern werden wir an dieser Stelle
einen Hammelsprung durchführen müssen.
({2})
Deswegen muss ich Sie bitten, den Saal zu verlassen, damit wir das tun können. Ich könnte noch einmal einen
Hinweis geben, wo genau die Türen sind; es gibt mehrere.
({3})
Sind die Türen jetzt zu? - Noch nicht. Es fehlen noch
Schriftführer an den Türen. Wer die Abstimmung gern
beschleunigen möchte und zugleich Schriftführerin oder
Schriftführer ist, könnte sich in den Innenraum begeben. Es fehlen noch Kolleginnen und Kollegen Schriftführer
von der Regierungskoalition. - Wunderbar, Frau
Michalk, danke, dass Sie da sind. Jetzt fehlt nur noch
einer. - Sind wir jetzt vollständig? - Alle Türen sind besetzt. Dann beginnen wir mit dem Zählen. Vielen Dank.
Ich weise alle, die jetzt im Saal sind, schon einmal
darauf hin, dass wir gleich auch noch eine namentliche
Abstimmung durchführen werden.
Sind noch Kolleginnen und Kollegen draußen? - Das
scheint der Fall zu sein. Dann können wir die Abstimmung noch nicht beenden.
Ich frage noch einmal: Gibt es noch Kolleginnen und
Kollegen vor der Tür, die den Wunsch haben, in den
Plenarsaal zu kommen? Kann ich einmal ein Signal
bekommen? - Leider kann man das von hier aus nicht
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
sehen, weil so viele Kolleginnen und Kollegen innen vor
den Türen stehen. - Jetzt kommt das Signal. Die Türen
werden geschlossen, und die Abstimmung mit dem
Hammelsprung ist beendet. Wir warten auf das Ergebnis.
Wir haben ein Ergebnis. Zur Erinnerung: Es ging um
die Frage der Überweisung. Der Überweisungsantrag
wurde abgelehnt. Es gab 280 Nein-Stimmen, 241 JaStimmen und zwei Enthaltungen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
auf Drucksache 17/12060. Wer stimmt für diesen Antrag? - Es irritiert mich, dass niemand dafür stimmen
möchte.
({4})
- Wir stimmen über den Antrag auf Drucksache
17/12060 ab. Es geht um den Antrag mit dem Titel
„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanzmärkte fortsetzen“. Es handelt sich um einen Antrag der
CDU/CSU und der FDP.
({5})
Er steht auf Drucksache 17/12060 und sollte nicht über-
wiesen werden. Das haben wir per Hammelsprung fest-
gestellt.
Deswegen frage ich jetzt noch einmal: Wer ist für die-
sen Antrag? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltun-
gen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag ange-
nommen. Darüber sind wir uns hier auch einig.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 f
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Statistik der Bevölkerungsbewegung und die
Fortschreibung des Bevölkerungsstandes ({6})
- Drucksache 17/9219 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Paul
Schäfer ({8}), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({9})
- Drucksache 17/11591 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Verteidigungsausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Federführung strittig
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. Januar 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich
der Niederlande über die Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung des grenzüberschreitenden
Missbrauchs bei Sozialversicherungsleistungen und -beiträgen durch Erwerbstätigkeit
und bei Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende sowie von nicht angemeldeter
Erwerbstätigkeit und illegaler grenzüberschreitender Leiharbeit ({12})
- Drucksache 17/12015 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Holzhandels-Sicherungs-Gesetzes
- Drucksache 17/12033 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({14})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung jagdrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/12046 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck ({16}), Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationale Stelle zur Verhütung von Folter
stärken
- Drucksache 17/11207 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({17})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Tagesordnungspunkt 34 b. Wir kommen zunächst zu
einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11591 zur
Änderung des Grundgesetzes, Art. 35 und 87 a, an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen
von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim
Innenausschuss, die Fraktion Die Linke beim Verteidigungsausschuss.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsantrag der Fraktion Die Linke, Verteidigungsausschuss.
Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Überweisungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die Fraktion Die Linke. Alle anderen waren dagegen.
Jetzt stimmen wir ab über den Überweisungsvorschlag von CDU/CSU und FDP, Innenausschuss. Wer ist
dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist
die Überweisung so beschlossen. Dagegen war die Fraktion Die Linke, alle anderen waren dafür.
Wir kommen jetzt zu unstrittigen Überweisungen.
Tagesordnungspunkte 34 a sowie c bis f. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zu den Zusatzpunkten 4 a bis 4 e. Hier
geht es um die Beratung von fünf Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Über die Beschlussempfehlung
zum Jahressteuergesetz 2013 werden wir später namentlich abstimmen.
Ich beginne mit Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({18}) zu dem Gesetz zu dem Abkommen vom 21. September 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und
Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012
- Drucksachen 17/10059, 17/11093, 17/11096,
17/11635, 17/11693, 17/11840 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann
Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Berichterstattung gewünscht ist. - Bitte schön, Herr
Oppermann.
Frau Präsidentin! Bei dem Steuerabkommen mit der
Schweiz, das den Vermittlungsausschuss beschäftigt hat,
ging es darum, eine Lösung dafür zu finden, dass in der
Schweiz noch immer rund 150 Milliarden Euro unversteuertes Vermögen lagern. Der Vermittlungsausschuss
sieht in dem ausgehandelten Vertrag ganz erhebliche
Mängel und empfiehlt deshalb, diesem Gesetz nicht zuzustimmen.
({0})
Die Diskussion im Vermittlungsausschuss spiegelt
sich am besten in der verabschiedeten Begleiterklärung
wider, aus der ich auszugsweise zitiere:
Der Vermittlungsausschuss … fordert die Bundesregierung auf, die Verhandlungen mit der Schweizer
Regierung wieder aufzunehmen, um ein gerechtes
Steuerabkommen mit der Schweiz abzuschließen.
({1})
Ein Steuerabkommen mit der Schweiz darf die
Steuerbetrüger der vergangenen Jahrzehnte nicht
belohnen. … Bund und Länder sind sich einig, dass
in Deutschland ehrlich und gerecht Steuern gezahlt
werden.
- Es darf keine Steuerbürger erster und zweiter Klasse
geben. ({2})
Durch das Abkommen dürfen Steuerhinterzieher
nicht bessergestellt werden als ehrliche Steuerzahler. Aus Gründen der Steuergerechtigkeit muss daher eine höhere Belastung derjenigen erfolgen, die
sich in der Vergangenheit besonders hartnäckig ihren steuerlichen Verpflichtungen entzogen haben.
Der Vermittlungsausschuss lehnt es ab, bei Steuerbetrügern auf Strafverfolgung zu verzichten und eine anonyme Amnestie vorzunehmen.
({3})
Der Vermittlungsausschuss empfiehlt daher, das Gesetz
über das Schweizer Steuerabkommen aufzuheben und
den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären.
Vielen Dank.
({4})
Diese Begleiterklärung nehmen wir zu Protokoll.1)
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 17/11840. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Die Gegenstimmen waren die Mehrheit. Die Beschlussempfehlung ist damit abgelehnt.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Änderung
und Vereinfachung der Unternehmensbesteue-
rung und des steuerlichen Reisekostenrechts
- Drucksachen 17/10774, 17/11180, 17/11189,
17/11217, 17/11634, 17/11694, 17/11841 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister
1) Anlage 2
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich erteile dem Kollegen Dr. Michael Meister sogleich das Wort zur Berichterstattung.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Regierungsfraktionen haben ein Gesetz zur Änderung
und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und
des steuerlichen Reisekostenrechts auf den Weg gebracht. Die beiden Fraktionen wollen damit einen Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts leisten. Einfache, gerechte und zeitgemäße Regelungen für die
steuerliche Organschaft sollen den Standort Deutschland
stärken und wettbewerbsfähig machen.
Zur Gerechtigkeit gehört natürlich, dass alle Steuerpflichtigen die Gelegenheit bekommen, ihre Steuern zu
entrichten, unabhängig von der Frage, ob sie ihre Erträge
im Inland oder im Ausland erwirtschaften. Die Chance,
das noch in diesem Gesetz zu regeln, wurde leider vertan.
({0})
Bei der Organschaft erfolgt ein Verweis auf das Aktienrecht. Der Höchstbetrag des Verlustrücktrags wird
verdoppelt. Damit wird gerade in schwierigen Zeiten die
Liquidität der mittelständischen Unternehmen verbessert.
Wir vereinfachen das Reisekostenrecht bei den Fahrtkosten, bei den Verpflegungsmehraufwendungen und in
der Frage, wie oft und wie weit man von der Arbeitsstätte entfernt sein muss. Bei der Besteuerung versuchen
wir, dem Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitnehmer
entgegenzukommen. Wenn, wie gerade geschehen, ein
kompletter Steuerjahrgang wegen Verjährung aus der
Steuerpflicht entlassen werden musste, wirkt das, glaube
ich, nicht im Sinne des Gerechtigkeitsempfindens.
({1})
Wir zeigen mit diesem Gesetz, dass mit geringem finanziellen Aufwand - es handelt sich um 290 Millionen
Euro - ein wesentlicher Beitrag zur Steuervereinfachung
möglich ist. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, diesen Aufwand zu leisten, um bei der Steuervereinfachung voranzukommen.
Bei der Frage von Organträgern und Organgesellschaftenbesitz in der Europäischen Union bzw. im
EWR-Ausland hat der Vermittlungsausschuss eine Änderung vorgenommen, und er hat kleinere Änderungen
am Reisekostenrecht vorgenommen.
Ich glaube, dieses Gesetz ist - wie der Vorgänger, der
leider keine Zustimmung fand - ein Beitrag, um die
Steuergerechtigkeit in Deutschland zu verbessern und
Steuervereinfachungen herbeizuführen. Ich würde mir
wünschen, dass wir für dieses Vermittlungsergebnis eine
Mehrheit bekommen.
Danke schön.
({2})
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden
drei Beschlussempfehlungen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/11841? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zum Abbau
der kalten Progression
- Drucksachen 17/8683, 17/9201, 17/9202,
17/9644, 17/9672, 17/11842 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister
Ich erteile erneut dem Kollegen Dr. Michael Meister
das Wort zur Berichterstattung.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Bei diesem Punkt geht es um einen Gesetzentwurf der Bundesregierung vom Dezember 2011,
mit dem die kalte Progression in Deutschland abgebaut
werden soll. Zudem soll das Existenzminimum für Erwachsene auf die im Grundgesetz geforderte Höhe gebracht werden, und zwar in zwei Schritten: mit einem
ersten Schritt im Jahr 2013 und mit einem zweiten
Schritt im Jahr 2014.
Um die kalte Progression abzubauen, umfasst der Gesetzentwurf drei Teile: zum Ersten die eben erwähnte
Anhebung des Existenzminimums, zum Zweiten die
Entzerrung der dadurch erfolgten Stauchung des Tarifs,
damit der Grenzsteuersatz nicht ansteigt, und zum Dritten eine Abmilderung der kalten Progression. Diesen
dritten Teil - das hatte die Bundesregierung vorgeschlagen - sollte der Bund alleine finanzieren. Die ersten beiden Teile hätten gemäß der Aufteilung der Einkommensteuer durch Bund, Länder und Kommunen finanziert
werden sollen.
Der Vermittlungsausschuss hat den ersten Teil, die
Anhebung des Existenzminimums, angenommen, und
schlägt, wie vorgetragen, die Anhebung des Existenzminimums in den Jahren 2013 und 2014 in zwei Stufen vor.
Die Beseitigung der dadurch eintretenden stärkeren Belastung aufgrund des höheren Grenzsteuersatzes fand im
Vermittlungsausschuss leider keine Mehrheit. Sozialdemokraten und Grüne konnten sich dem nicht anschließen, sodass es nun durch den Beschlussvorschlag des
Vermittlungsausschusses zu einem höheren Grenzsteuersatz kommt.
Die Regelung zur Abmilderung der kalten Progression sollte dazu dienen, dass Lohnerhöhungen, die ledigDr. Michael Meister
lich die Inflation ausgleichen, nicht zu einer stärkeren
Belastung durch die Einkommensteuer führen. Auch dies
fand keine Zustimmung. Sie wird also aus dem Gesetz
herausgenommen, sodass Lohnerhöhungen, die lediglich
einen Inflationsausgleich bedeuten, nach wie vor stärker
steuerlich belastet werden.
Als Gegenvorschlag wurde eine Anhebung des Eingangssteuersatzes in die Diskussion im Vermittlungsausschuss eingebracht, was insbesondere bei Beziehern
kleinerer Einkommen zu einer stärkeren Belastung geführt hätte.
({0})
Dies fand ebenfalls keine Mehrheit und wird deshalb
hier nicht vorgeschlagen. Wir hätten uns eine Anhebung
des Eingangssteuersatzes gerade mit Blick auf kleinere
und mittlere Einkommen auch nur schwer vorstellen
können.
({1})
Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen:
Die Entlastung bis zum Jahr 2014 fällt niedriger aus als
ursprünglich geplant. Bei einem verheirateten Arbeitnehmer mit zwei Kindern und einem Einkommen von
35 000 Euro sinkt sie von geplanten 198 Euro auf
134 Euro; das heißt, die Entlastungswirkung ist geringer.
Damit wir uns verfassungsgemäß verhalten, schlage
ich dennoch vor, den so veränderten Gesetzentwurf gemeinschaftlich zu beschließen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank für die Erklärung.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/11842? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
({0}) zu dem Gesetz zur
steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden
- Drucksachen 17/6074, 17/6251, 17/6358,
17/6360, 17/6584, 17/7544, 17/11843 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({1})
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Der Kollege Müller hat das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zur
energetischen Gebäudesanierung enthält ausschließlich
Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes. Es handelt
sich dabei um die Umsetzung der europäischen Elektrizitäts- und Gasrichtlinie. Nicht in der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses enthalten ist die
besagte steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung. Hierzu war im Vermittlungsausschuss keine
Einigung möglich.
Der ursprüngliche Vorschlag der Bundesregierung
und auch der Beschluss des Bundestages sahen vor, dass
energetische Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden,
die vor 1995 errichtet worden sind, in einer Größenordnung von insgesamt 1,5 Milliarden Euro steuerlich gefördert werden sollten. Nach Einschätzung vieler Experten - das haben auch die Anhörungen im Bundestag
deutlich gemacht - hätte dies zu einem nicht unwesentlichen Einnahme- und Beschäftigungseffekt geführt, der
insbesondere dem deutschen Handwerk und den mittelständischen Unternehmen und deren Arbeitnehmern zugutegekommen wäre und ihnen gutgetan hätte. Diese
Einschätzung haben - jedenfalls nach dem, wie ich die
Beratungen im Vermittlungsausschuss in Erinnerung
habe - alle Mitglieder des Vermittlungsausschusses geteilt, also sowohl die A- als auch die B-Seite. Leider war
trotzdem keine Einigung in diesem Sinne möglich.
Der Vermittlungsausschuss hat sich in insgesamt acht
Sitzungen mit diesem Gesetz befasst. Darüber hinaus hat
es Gespräche unter Federführung des Bundesumweltministers gegeben, wonach der Bund bereit gewesen wäre,
den Ländern entgegenzukommen. Leider aber sahen sich
SPD- und Grünen-geführte Bundesländer nicht in der
Lage, sich an diesem wichtigen Projekt zu beteiligen.
({0})
Nachrichtlich sei noch hinzugefügt, dass die Bundesregierung nach dem Scheitern des Vorschlags zur energetischen Gebäudesanierung deutlich gemacht hat, dass
sie bereit ist, dennoch das entsprechende KfW-Programm aufzustocken. Ich darf darauf hinweisen, dass die
Bundesregierung ihre Zusage zwischenzeitlich eingehalten hat. Der Vermittlungsausschuss hat eine Begleiterklärung dazu beschlossen.
Ich bitte Sie jetzt also um Zustimmung zu den Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes.
({1})
Vielen Dank für den Bericht. - Der Kollege Stefan
Müller hat darüber hinaus gebeten, im Rahmen seiner
Berichterstattung eine Protokollerklärung der Bundesre-
gierung sowie eine Begleiterklärung des Vermittlungs-
ausschusses zu Protokoll zu nehmen.1) Dem folgen wir
gern.
1) Anlage 3
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 17/11843? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Ergänzend möchte ich bemerken, dass zu all diesen
Punkten zahlreiche persönliche Erklärungen vorliegen,
die wir zu Protokoll nehmen.1)
Damit kommen wir zum Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
({0}) zu dem Jahressteuergesetz 2013
- Drucksachen 17/10000, 17/10604, 17/11190,
17/11191, 17/11220, 17/11633, 17/11692,
17/11844 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann
Bitte schön, Herr Oppermann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Es geht hier um die
letzte Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses.
Insgesamt werden mit dem vorliegenden Jahressteuergesetz 30 Gesetze geändert. Vieles davon ist Routine; einiges hat zu Auseinandersetzungen geführt. Es geht unter
anderem um die Besteuerung der Musikschulen und die
Besteuerung des Wehrsolds, um Steuerschlupflöcher bei
Goldkäufen und die Förderung von Elektroautos. Zu allen Punkten haben wir im Vermittlungsausschuss eine
Einigung zwischen Bund und Ländern erzielt. Das Gesetz ist richtig, das Gesetz ist auch notwendig. Nur in einem Punkt haben wir uns im Vermittlungsausschuss
nicht einigen können, nämlich bei der steuerlichen
Gleichstellung von homosexuellen Lebenspartnerschaften mit Ehen. Hier war eine breite Mehrheit dafür, sie
endlich gleichzustellen.
({0})
Leider konnte sich dem die Mehrheit der Vertreter der
Koalition nicht anschließen. Wie ich höre, will die Koalition deswegen das Jahressteuergesetz blockieren. Das
halte ich für falsch.
({1})
Die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der
Ehe ist überfällig. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
({2})
- Ich muss bei der Berichterstattung auch auf Zwischenrufe reagieren. - Sie von der Koalition haben in Ihrem
eigenen Koalitionsvertrag angekündigt, eine steuerliche
Gleichstellung voranzubringen. Heute haben Sie dazu
die Gelegenheit, meine Damen und Herren.
({3})
Uns ist doch ohnehin klar, dass das Bundesverfassungsgericht diese Gleichstellung mit großer Wahrscheinlichkeit schon in Kürze einfordern wird.
Ich halte es im Übrigen nicht für verantwortbar, dass
das Jahressteuergesetz jetzt blockiert wird. Dafür sind zu
viele Materien betroffen, die geregelt werden müssen.
Deshalb appelliere ich an die Koalition: Geben Sie sich
einen Ruck! Wenn Sie heute gegen das Jahressteuergesetz 2013 stimmen, dann blockieren Sie Ihr eigenes Gesetz,
({4})
und zwar nur, weil in dieses Gesetz eine Regelung aufgenommen werden soll, die endlich die Diskriminierung
homosexueller Lebenspartnerschaften in Deutschland
beendet.
Vielen Dank.
({5})
Herr Kollege Oppermann, Sie sind über eine Berichterstattung weit hinausgegangen, indem Sie in der Sache
argumentiert haben.
({0})
Das ist nicht zulässig.
({1})
Herr Präsident, ich bitte um Nachsicht. Aber ich bin
aus der Koalition durch Zwischenrufe herausgefordert
worden. Dem habe ich Rechnung getragen.
({0})
Auch wenn Sie Beifall spenden: Es ist nicht zulässig,
in eine Sachargumentation einzutreten.
({0})1) Anlagen 5 bis 8
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Kollege Oppermann hat darum gebeten, im Rah-
men der Berichterstattung die zwei Begleiterklärungen
des Vermittlungsausschusses zu Protokoll zu nehmen,
was wir selbstverständlich machen.1)
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11844 namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Sind alle Schriftführer an den Ur-
nen? - Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die
Stimmkarten einzuwerfen.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte
eingeworfen? - Dann schließe ich den Wahlgang und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Vereinbarte Debatte
zu steuerpolitischen Beschlüssen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Michael Grosse-Brömer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir reden über die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses in ungewöhnlicher Transparenz. Normalerweise sind die Berichterstattungen, die wir vorhin
gehört haben, nicht üblich. Aber ich kann verstehen, warum sie notwendig wurden. Sonntag ist Landtagswahl in
Niedersachsen, ich bin sehr zuversichtlich für diesen
Tag.
({0})
Wir haben deshalb jetzt auch noch eine persönliche Aussprache zu diesem Thema, weil das von der Opposition
so gewünscht ist.
Ich glaube, es ist auch bei den Berichterstattungen
deutlich geworden, um welches Problem es geht. Ein
klein wenig ist auch deutlich geworden, dass dabei auch
eine politische Aussage vermittelt werden musste. Leider war das - jedenfalls nach meinem Eindruck - im
Vermittlungsausschuss auch schon so. Er wird dem Namen nicht mehr richtig gerecht. Eigentlich geht es um
die Vermittlung von Bundespolitik und Landespolitik. In
letzter Zeit erscheint es allerdings so, als würde der Vermittlungsausschuss zum Verhinderungsausschuss. Es hat
aus meiner Sicht nicht mehr das Gemeinwohl im Mittelpunkt gestanden; wir haben es vorhin beim Steuerrecht
gehört. Wer darauf verzichtet, zweistellige Milliardenbeträge aus der Schweiz erstattet zu bekommen, und das
offensichtlich nur aus parteipolitischen Gründen ablehnt,
macht etwas falsch, liebe Kollegen von der Opposition.
({1})
Erst das Land und dann die Partei, müsste es heißen.
Zurzeit ist es aber ein Stück weit umgekehrt - auch bei
Ihnen, Herr Beck -: erst die Partei und dann das Land.
Ich hoffe, Sie werden wieder vernünftiger.
({2})
- Überhaupt nichts. Aber eine richtige Reihenfolge ist
vielleicht klug. Man sollte übergeordnete Interessen
nicht Parteiinteressen opfern. Das war mein Vorwurf.
({3})
Ich möchte schlussendlich darauf hinweisen, dass bei
den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss bei RotGrün deutlich wurde: Es geht Ihnen offenkundig nicht
um Steuergerechtigkeit; das haben wir vorhin gehört. Es
geht nicht einmal um das Interesse an unteren und mittleren Einkommen. - Es wäre eine schöne Gelegenheit
gewesen, durch die Annahme des Antrags der Regierung
und der Koalitionsfraktionen mittlere und geringfügige
Einkommen von der kalten Progression zu entlasten und
den Menschen mehr Geld zu lassen, wenn sie schon einmal eine Gehaltserhöhung bekommen. Aber nein, auch
da geht es um Ideologie. Es ist mir völlig unverständlich,
wie es gerade Ihnen als sozialer Partei möglich war, zu
sagen: Nein, da machen wir nicht mit; wir entlasten die
kleinen Leute in Deutschland nicht. - Aber da war die
Parteipolitik eben wichtiger. Ich bedauere das sehr.
Was die Schweiz angeht, macht es Sinn - das haben
wir auch heute Vormittag gehört -, internationale Abkommen zu schließen, damit Steuerhinterziehung weltweit verhindert wird.
({4})
Es bestand die Gelegenheit dazu. Es gab eine exzellente
Verhandlung des Bundesfinanzministers. Es gab die
Möglichkeit eines Abkommens, das hinterzogenes Geld
auch rückwirkend nach Deutschland zurückgeführt hätte
und dauerhaft eine Rechtsgrundlage geschaffen hätte,
um Steuerhinterziehung den Boden zu entziehen. Aber
Sie haben nicht mitgemacht.
({5})
Wenn Sie weiterhin darauf setzen, Datendealerei zu
betreiben, irgendwelche CDs aufzukaufen
({6})
und sich von Zufallsfunden abhängig zu machen, dann
ist doch die Frage: Ist das wirklich eine dauerhafte Lö-
1) Anlage 4
2) Ergebnis Seite 26800 D
sung, oder ist es sinnvoller, eine seriöse Rechtsgrundlage
zu schaffen, die Steuerhinterziehung langfristig, also
dauerhaft, verhindert?
({7})
Das wäre unser Vorschlag gewesen.
Meine Damen und Herren, auch im Bereich der energetischen Gebäudesanierung wäre eine steuerliche Entlastung sinnvoll gewesen. Alle Experten, egal von wem
sie benannt sind, auch die von Sozialdemokraten oder
Grünen, bestätigen: Das ist der größte Bereich, in dem
Energiesparprogramme umgesetzt werden können. Energetische Gebäudesanierung ist der beste Weg, um dem
Umweltschutz zu dienen. Sie allerdings verfolgen wieder parteipolitische Interessen, nach dem Motto: Wir
machen nicht mit; wir gönnen euch den Erfolg nicht. Das ist kleingeistig und nicht am Allgemeinwohl orientiert. Wir bedauern das sehr.
({8})
Wir haben versucht, das meiste zu retten. Wir haben
ja auch manches geschafft. Das Jahressteuergesetz ist
traditionell ein sogenanntes Omnibusgesetz; es enthält
zahlreiche steuerfachliche Änderungen. Es wurde aufgelistet, worum es dabei insgesamt geht: Aufbewahrungsfristen, Umstrukturierungen von Konzernen. Das alles
sind wichtige Aspekte, auf die sich die Kollegen fraktionsübergreifend nach langer Debatte verständigt hatten. Aber dann kam wieder die Parteipolitik ins Spiel.
Sie mussten trotz des Parteitagsbeschlusses der Union
hier noch einen Punkt einbringen, nämlich die Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit
Ehen. Dieser Punkt ist strittig. Darüber wird sicherlich
gerichtlich entschieden, was wir gut finden. Auch bei
uns in der Fraktion gibt es genügend Kollegen, die das
anders sehen als die Mehrheit der CDU-Parteitagsdelegierten. Aber das parteipolitisch auszuschlachten, nicht
zu sehen, dass zahlreiche andere Regelungen vereinbart
waren, stattdessen wieder einen populistischen Aufschlag zu machen, das ist schade. Der Vermittlungsausschuss wird durch Sie aus parteipolitischen Gründen
zum Verhinderungsausschuss.
({9})
Hören Sie damit bitte auf!
({10})
Insofern bleibt mir leider nur das Fazit: Künftig müssen Vermittlungsergebnisse wieder das Ziel verfolgen
- das richtet sich an Rot-Grün und die Linken -, eine
sinnvolle, im Interesse des Landes ausgestaltete Politik
zu vereinbaren und durchzusetzen. Es darf nicht darum
gehen, Politik mit Blick auf parteipolitische Interessen
zu machen, eine Politik, die zulasten mittelständischer
Unternehmen und zulasten der kleinen Leute in Deutschland geht. Das ist nicht dauerhaft erträglich.
({11})
Ich setze nach wie vor auf Ihre Einsicht. Irgendwann
wird aus Ihrer Sicht nicht die Wahl, sondern die Sachpolitik wieder das Maßgebende sein. Jedenfalls gebe ich
diese Hoffnung nicht auf.
({12})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe,
verkünde ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz 2013: abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 256, mit
Nein haben gestimmt 306, Enthaltungen 5. Die Beschlussempfehlung ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 567;
davon
ja: 256
nein: 306
enthalten: 5
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({0})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({1})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({2})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({3})
Hubertus Heil ({4})
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({5})
Frank Hofmann ({6})
Dr. Eva Högl
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({7})
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({8})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({9})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Karin Roth ({10})
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({11})
Bernd Scheelen
({12})
Werner Schieder ({13})
Ulla Schmidt ({14})
Carsten Schneider ({15})
Swen Schulz ({16})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
({17})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({18})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({19})
Volker Beck ({20})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({21})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Susanne Kickbusch
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({22})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({23})
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
Wolfgang Nešković
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({24})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Wolfgang Börnsen
({25})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({26})
Dirk Fischer ({27})
Axel E. Fischer ({28})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({29})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({30})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({31})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({32})
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({33})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({34})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({35})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({36})
Anita Schäfer ({37})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({38})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({39})
({40})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({41})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({42})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({43})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({44})
Peter Weiß ({45})
Sabine Weiss ({46})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({47})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({48})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({49})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({50})
Michael Link ({51})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({52})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({53})
Hans-Joachim Otto
({54})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Manfred Todtenhausen
Serkan Tören
Johannes Vogel
({55})
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({56})
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Stefan Kaufmann
DIE LINKE
Heidrun Dittrich
Wolfgang Gehrcke
Ulla Jelpke
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({57})
Jetzt hat das Wort der Kollege Lothar Bindung von
der SPD-Fraktion.
({58})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte bis zuletzt
gehofft, dass Sie sich vielleicht doch noch eines Besseren besinnen, gerade nachdem Sie so oft das Wort „Parteipolitik“ in den Mund genommen haben. Lassen Sie
uns einmal ehrlich sein: Sie haben eine Koalitionsvereinbarung, auf die Sie sich oft berufen. Diese Koalitionsvereinbarung brechen Sie heute, indem Sie - offensichtlich
wegen Uneinigkeiten der CSU mit der FDP und einer
zerstrittenen CDU - auf dem Rücken der eingetragenen
Lebenspartnerschaften ein komplettes Jahressteuergesetz zerreiben. Das ist ein großes Problem. Ich glaube,
der Vorwurf der Parteilichkeit, der parteipolitischen
Orientierung fällt da auf Sie zurück.
({0})
Dabei brauchen wir das Jahressteuergesetz 2013.
Nehmen wir ganz einfache Dinge: Wir müssten natürlich
die Cash-GmbHs abschaffen, eine Steuergestaltung, bei
der man quasi Bargeld in beliebiger Höhe in einen
GmbH-Mantel legt, um anschließend über erbschaftsteuerrechtliche Regelungen Steuern zu sparen. Das ist ein
Riesenproblem. Ein praktischer Aspekt, wichtig für die
Steuerberater: Wir brauchen eine Rechtsgrundlage dafür,
dass es ab Beginn dieses Jahres keine Lohnsteuerkarten
mehr gibt; denn bei dem ELStAM-System gibt es Verzögerungen. Das ist eine ganz praktische und ganz dringende Sache. Denken Sie auch an das Stichwort „Aktion
Goldfinger“, den Handel mit Gold, bei dem ich einfach
eine Personengesellschaft gründe, die mit Rohstoffen
handelt, dort meinen Goldpreis als Verluste eintrage und
über entsprechende DBA plötzlich riesige Steuersparmodelle habe. Das ist ein Riesenproblem. Wir bräuchten
unbedingt dieses Gesetz; aber Sie blockieren es genau
aus den Gründen, von denen Sie eben vorgaben, diese
bei anderen zu finden.
Es ist ein Riesenerfolg - Gott sei Dank -, dass das
Schweizer Abkommen verhindert werden konnte; denn
sonst würde der Betrüger geschützt und der Ehrliche bestraft. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden jetzt ein
Gesetz verabschieden, das in etwa auf Folgendes hinauslaufen würde: Künftig werden in jedem Finanzamt pro
Jahr nur noch zwei Einkommensteuererklärungen von
Arbeitnehmern geprüft. - So ungefähr war die Bedingung für die Steuerbetrüger in der Schweiz. Das ist die
Form von Gerechtigkeit, für die Sie mit der Entschlussfreudigkeit, die Sie heute an den Tag gelegt haben, eine
Basis legen. Das ist ein ganz großes Problem.
Nun zum Stichwort „kalte Progression“. Sie tun immer so, als wollten Sie den Leuten etwas Gutes tun, indem Sie sagen, Sie wollten die kalte Progression abschaffen. Bleiben wir einen kleinen Moment fachlich.
Wollten Sie wirklich die kalte Progression abschaffen,
müssten Sie den Tarif indexieren. Sie müssten die Steuersätze also an die Inflation anpassen. Sie wissen genau,
was das bezogen auf die Inflation und die Löhne für einen gefährlichen Treibsatz in der Wirtschaft bedeuten
würde, und deshalb machen Sie das nicht. Seien Sie ehrlich! Sagen Sie doch, dass die Grundfreibeträge schon
immer so angepasst worden sind, dass es keine kalte
Progression für die kleinen Bürger gab. Es gab Steuervorteile; die kleinen Leute wurden bisher fair entlastet.
Wenn Sie es genau wissen wollen, dann lesen Sie es in
der entsprechenden Antwort von Herrn Schäuble nach,
die er uns mit Blick auf die Steuerprogression der vergangenen Jahre gegeben hat. Das war schon immer, vorauseilend unter Rot-Grün, sehr gut geregelt.
Ich möchte noch auf einen kleinen Widerspruch hinweisen, der vielleicht ein bisschen andeutet, warum Ihr
Tag heute so schlecht verlaufen ist.
({1})
Ihre Koalition hat ja heute Morgen Ihre Regierung - ich
will es kurz zitieren - zu „Qualität vor Schnelligkeit“
aufgefordert. Es ist interessant, wenn diese Koalition
ihre eigene Regierung auffordern muss, Qualität vor
Schnelligkeit zu setzen. Sie haben aber noch etwas getan. Sie haben Ihre eigene Regierung aufgefordert, die
Vorschriften um frühzeitige Vorkehrungen für den Krisenfall zu ergänzen, und gleich hinzugefügt, das sei aber
alles schon passiert. Das heißt, Sie fordern heute, am
17. Januar 2013, Ihre eigene Regierung dazu auf, solche
Vorkehrungen zu treffen, von denen Sie gleichzeitig behaupten, diese seien in den letzten drei Jahren schon erledigt worden. Daran erkennt man die Widersprüchlichkeit Ihrer Politik. Ich glaube, es ist heute gelungen, das
deutlich werden zu lassen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat hat
sich in seiner langjährigen Praxis als Schlichter bewährt.
Er findet auf einer politischen Ebene Lösungen, auf die
sich die Fachpolitiker in den Ländern und im Bund nicht
haben einigen können. So jedenfalls sollte es sein. Was
allerdings diese Opposition aus Sozialdemokraten und
Grünen dargeboten hat, ist weit von dieser Schlichtungsfunktion entfernt. Sie haben den Bundestagswahlkampf
über den Vermittlungsausschuss eingeleitet, frei nach
dem Motto: Wenn wir schon mit unserem Kandidaten
nicht punkten können, dann gönnen wir wenigstens dieser Koalition keinen Erfolg, vor allem aber den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland keine Entlastung.
({0})
Sie wollen die zusätzliche Belastung der arbeitenden
Mitte der Bevölkerung. Sie haben sich dazu in Ihrem
Programm und auf Ihren Parteitagen bekannt. Deshalb
sind Sie nicht bereit, notwendige Kompromisse einzugehen.
Kommen wir zur eben angesprochenen kalten Progression. Verehrter Herr Kollege Binding, wenn Sie hier
sagen, den kleinen Leuten gehe es bei unserem derzeitigen Tarifverlauf gut, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie
haben von der Progression nichts verstanden. Sie haben
jetzt die Erhöhung des Grundfreibetrages nach den Verfassungsgerichtsvorgaben mittragen müssen. Da Sie aber
zu dem zweiten Schritt, nämlich der Verschiebung des
Verlaufs des Tarifs, nicht bereit waren, führt das am
Ende zu einer Verschärfung der Progression für untere
und mittlere Einkommen. Das ist der Effekt sozialdemokratischer Politik.
({1})
Jetzt übersetze ich das einmal, Herr Binding. Sie sagen: Es geht den Leuten gut. - Im Gegensatz zu vielen
anderen hier bin ich Unternehmer und habe auch schon
einmal Arbeitsplätze geschaffen. Ich sage Ihnen: Wenn
heute jemand in Steuerklasse I 2 200 Euro verdient und
sich vom Arbeitgeber 100 Euro Lohnerhöhung erkämpft, erstreitet und erleistet, dann bleiben ihm im
nächsten Monat von diesen 100 Euro 54 Euro netto auf
seinem Konto. Wenn Sie bei der SPD das sozial gerecht
finden, dann machen Sie so weiter! Wir finden das nicht
sozial gerecht. Wir wollen, dass die Menschen mehr haben von ihren hart erkämpften Lohnerhöhungen.
({2})
Kommen wir zum Steuerabkommen mit der Schweiz.
Es ist nachgerade absurd, was da passiert. Peer
Steinbrück und Walter-Borjans werben weiter dafür,
dass von dubiosen Gestalten illegal erlangte Daten und
Steuer-CDs erworben werden, anstatt dass wir klare
rechtsstaatliche Verfahren einleiten.
({3})
Dann werden Sie auch noch dreist und stellen zu Beginn
dieser Woche aus lauter Verzweiflung einen Vorschlag
zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung vor, obwohl
Sie selbst das Vorhaben blockiert haben, für jene, die
illegal und zu Unrecht Mittel in die Schweiz gebracht
haben, neue rechtsstaatliche Instrumente zu schaffen.
Bigotter geht es nicht.
({4})
Selbst wenn es bei Ihnen rechtsstaatliche Bedenken
gäbe: Brechen wir das doch einmal herunter auf ein
Land wie Niedersachsen. 928 Millionen Euro zusätzliche Steuereinnahmen werden einem Land wie Niedersachsen durch Ihre Blockade vorenthalten. Sie sind der
Schutzpatron der Steuerhinterzieher in Deutschland,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({5})
Der Effekt ist ganz einfach: Nicht Barack Obama und
Mitt Romney haben den teuersten Wahlkampf in der Geschichte geführt, sondern die SPD hat sich für 10 Milliarden Euro ein Thema gekauft - zulasten der Bürgerinnen und Bürger.
({6})
Dann kommen wir zum Jahressteuergesetz. Nach
meiner festen Überzeugung, geschätzter Kollege
Oppermann, haben Sie das Institut der Berichterstattung
missbraucht; denn Sie haben nicht alles vorgetragen. Sie
hätten vortragen müssen, dass die Mehrheit von RotGrün im Vermittlungsausschuss gleichzeitig die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Unterlagen für jene,
die ein mittelständisches oder kleines Unternehmen führen, blockiert hat.
({7})
Sie hätten sagen müssen, dass Sie massive Verletzungen
des Gleichbehandlungsgebots bei der Erbschaftsteuer für
mittlere und kleine Unternehmen vorgeschlagen haben,
dass Sie für die Familienunternehmen massive Erbschaftsteuererhöhungen vorgeschlagen und durchgesetzt haben. Sie hätten sagen müssen, dass alle Ihre
Vorschläge zur Grunderwerbsteuer am Ende dazu geführt hätten, dass die öffentliche Hand steuerfrei agiert,
während es für Private immer teurer wird. Das waren
Ihre Vorschläge.
Deshalb ist es so: Sie haben das von uns vorgelegte
Gesetz erst entkernt und dann mit Ihren Steuererhöhungsvorschlägen garniert: insgesamt eine Mehrbelastung von 500 Millionen Euro für die arbeitende
Mitte der Bevölkerung. Das haben Sie vorgelegt.
({8})
Bei allem, was Sie zur Gleichstellung eingetragener
Lebenspartnerschaften im Steuerrecht Richtiges angeführt haben, sage ich: Wir Liberale wollen das,
({9})
wir haben das mehrfach bekundet, wir haben das mehrfach beschlossen, und wir tun sehr viel dafür. Aber, sehr
geehrter Herr Beck, wir erkaufen uns die notwendige
Gleichstellung der Lebenspartnerschaft im Steuerrecht
nicht mit 500 Millionen Euro Steuermehrbelastung für
die arbeitende Mitte der Bevölkerung. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({10})
Deshalb werben wir weiter für eine gute Lösung, aber
nicht zulasten der breiten Mitte der Bevölkerung,
sondern indem wir alle entlasten, die fleißig sind, alle
entlasten, die sich anstrengen, dieses Land nach vorn zu
bringen; denn dafür ist jedenfalls diese Koalition
gewählt.
Ich danke Ihnen.
({11})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was die Koalition heute bietet, ist wahrlich ein Stück aus
dem Tollhaus.
({0})
Es ist ein Skandal, dass Sie sich schlicht aus ideologischen Gründen weigern, die steuerliche Ungleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft und der
Ehe endlich zu beenden. Ich sage Ihnen: Viele von Ihnen
haben heute grundgesetzwidrig gehandelt. Wir sind frei
gewählte Abgeordnete, die nach dem Grundgesetzartikel
38 nur unserem Gewissen verpflichtet sind. Etliche von
Ihnen, die FDP eigentlich insgesamt, haben öffentlich
erklärt, dass diese steuerliche Ungleichbehandlung endlich beendet werden muss. Sie haben heute also wirklich
nicht nach Ihrem Gewissen gehandelt. Das halte ich für
einen Skandal.
({1})
- Ja, das ist einfach skandalös. In die Verhandlungen des
Vermittlungsausschusses brachte die Parlamentarische
Geschäftsführerin der Linksfraktion, Dr. Dagmar
Enkelmann, den Änderungsantrag ein, dass wir das
Jahressteuergesetz jetzt gemeinschaftlich nutzen, um die
steuerliche Ungleichbehandlung endlich zu beenden.
Diese Ungleichbehandlung hält seit der Einführung des
Gesetzes am 1. August 2001 an. Sie alle wissen, dass das
Bundesverfassungsgericht voraussichtlich bis zum
Sommer entscheiden wird, dass wir diese steuerliche
Gleichsetzung vollziehen müssen. Aber Sie verweigern
sich einfach. Sie sind nicht aktiv. Sie nehmen Ihre Rolle
als Gesetzgeber nicht wahr. Wir sollen die Gesetze verabschieden und sollen nicht warten, bis das Bundesverfassungsgericht sagt: Das müsst ihr endlich machen. - Das ist einfach skandalös.
({2})
Das Ganze würde uns sage und schreibe 30 Millionen
Euro jährlich kosten. Ich sage Ihnen: Das ist unmöglich.
Wir dürfen hier natürlich nicht stehen bleiben. Jetzt gilt
es, dass wir die Ungleichbehandlung beenden. Prinzipiell geht es natürlich darum, dass wir das Problem des
Ehegattensplittings endlich auf den Tisch des Hauses
legen.
({3})
Schauen Sie sich einmal die Bild von gestern und heute
an. Ich habe sie Ihnen mitgebracht. „Die sieben Wahrheiten über das Ehegatten-Splitting“. Herr Präsident, mit
Ihrer Erlaubnis zitiere ich daraus:
Die Nazis nutzten das Splitting, um Arbeiten für
Frauen unattraktiv zu machen!
1891 reformierte der preußische Finanzminister
Johannes von Miquel die Einkommenssteuer: Ehepaare wurden gemeinsam veranlagt. 1920 wurde
wieder eine Individualbesteuerung eingeführt.
Die Nazis führten 1934 wieder die gemeinsame
Veranlagung ein, weil sie verhindern wollten, dass
Frauen einer bezahlten Arbeit nachgehen. Die jetzige Regelung gilt seit 1958.
Seit 55 Jahren. Aber Steuerpolitik ist Gesellschaftspolitik. Haben Sie immer noch dieses Bild von Frauen im
Kopf? Ich glaube, ein bisschen Veränderung haben wir
schon spüren können.
({4})
Wir haben inzwischen den Rechtsanspruch auf Kitabetreuung. Dann seien Sie bereit und gehen einen Schritt
weiter. Packen wir das Problem des Ehegattensplittings
an.
({5})
Herr Döring, Ihre 500 Millionen - ich bitte Sie. Das
Goldfingerprivileg lassen Sie bestehen. Wenn man also
ganz viel Geld hat, gründet man eine Personengesellschaft im Ausland und kauft Gold für 1 Million Euro.
Das ergibt einen Verlust, den man in seiner Steuererklärung geltend machen kann. Im nächsten Jahr verkauft
man das Gold. Es gibt ja Doppelbesteuerungsabkommen. Somit schlägt es nicht zu Buche.
({6})
Topverdiener können also pro Jahr etwa 425 000 Euro
einsparen. Nach Berechnungen ist das ein Verlust von
jährlich 500 bis 700 Millionen Euro. Darauf verzichten
Sie. Das ist die Wahrheit.
Zur kalten Progression. Sie haben Angst, die kalte
Progression anzugehen, den Waigel-Buckel endlich zu
beenden.
({7})
Machen Sie einen durchgehend linear progressiven Tarif, dann haben wir das Problem der kalten Progression
erst einmal gelöst.
({8})
Dann können wir in Ruhe überlegen, wie man später mit
Inflationsraten umgeht.
({9})
Ich finde dies einen Skandal. Ich fordere Sie auf:
({10})
Ändern Sie Ihr gesellschaftliches Bild und nutzen Sie die
nächste Gelegenheit, dass wir die steuerliche Ungleichbehandlung beenden und endlich das Problem des Ehegattensplittings angehen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Volker Beck.
({0})
Ja, so ist es im Parlament. Man muss auch den politischen Gegner oder Konkurrenten in der Debatte ertragen, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuss hat die Aufgabe, zwischen den
Mehrheiten des Bundestages und des Bundesrates, der
Vertretung der Länder, zu vermitteln. Vermitteln heißt
aber nicht politisches Diktat, Herr Grosse-Brömer.
({0})
Vermitteln heißt: Kompromisse finden. Die rot-grüne
Mehrheit hat damals bei zustimmungspflichtigen Gesetzen zum Teil schwierige Kompromisse gegen eine
schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit gefunden. Ich
erinnere nur an das Thema Spitzensteuersatz im Einkommensteuerrecht. Die 42 Prozent, die jetzt im Gesetz
stehen, standen nicht im Gesetzentwurf der rot-grünen
Koalition, sondern es war die Bedingung der schwarzgelben Mehrheit des Bundesrates, damit die Einkommensteuerreform durchgesetzt werden konnte.
Zweites Thema: Staatsbürgerschaftsrecht. Die absurde Optionsregelung war die Trophäe des Landesministers Brüderle aus Rheinland-Pfalz, damit überhaupt
eine Mehrheit für eine Staatsbürgerschaftsreform erreicht werden konnte. Wir waren immer dagegen, haben
das immer als Zumutung empfunden, haben die bittere
Pille aber geschluckt, um voranzukommen. Im Vermittlungsausschuss geht es nämlich darum, Kompromisse zu
finden. Das heißt, man gibt auch etwas und nimmt nicht
nur.
({1})
Das allerdings ist nicht Ihre Methode, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir mit unserer Mehrheit im Vermittlungsausschuss und mit der Mehrheitssituation im Bundesrat verstehen dies aber nach wie vor anders. Ich
hoffe, wir können am Sonntag verkünden, dass wir auch
im Bundesrat über eine Mehrheit von Rot-Grün verfügen.
Wir haben beim Grundfreibetrag gemeinsam eine
Reform beschlossen. Wir haben beim Energiewirtschaftsgesetz gemeinsam eine Reform beschlossen. Wir
haben beim Unternehmensteuerrecht und beim Reisekostenrecht Reformen miteinander beschlossen. Bei dem
deutsch-schweizerischen Steuerabkommen haben wir
Ihnen gesagt, dass wir da nicht mitmachen; denn ein solches Abkommen entzieht das Steuersubstrat, das in der
Schweiz liegt, dauerhaft einer fairen und gerechten Besteuerung bei der Vermögensteuer und bei der Erbschaftsteuer.
({2})
Warum - das müssen Sie schon erklären - bekommt
die Bundesrepublik Deutschland nicht die Konditionen,
die die Vereinigten Staaten von Amerika mit der
Schweiz ausgehandelt haben? Da haben Sie einfach
schlecht verhandelt, oder Sie wollten die Steuerhinterziehung legalisieren.
({3})
Und nun, Herr Döring, zu Ihren Worten zum Jahressteuergesetz. Was Sie hier gesagt haben - Sie waren ja
beim Vermittlungsausschuss nicht dabei -, ist die
schlichte Unwahrheit.
({4})
Herr Meister hat im Vermittlungsausschuss einen Vorschlag zur Einigung gemacht.
({5})
- Wir sind jetzt schon beim nächsten Thema, Herr Kollege. Wenn Sie mir folgen wollen? Wir sind jetzt beim
Jahressteuergesetz. - Nach zwei Arbeitsgruppensitzungen gab es einen Vermittlungsvorschlag, den Herr
Meister vorgetragen hat. Außerdem gab es einen Antrag
von der Linksfraktion, den Vorschlag des rot-grünen
Landes Nordrhein-Westfalen zum Splitting bei den
Lebenspartnerschaften einzubringen.
Volker Beck ({6})
Dann habe ich den Antrag gestellt, die beiden Anträge
miteinander zu einem Vermittlungsvorschlag zu verbinden. Dieser Vorschlag, eins zu eins ausgehandelt zwischen Schwarz-Gelb und der Bundesratsmehrheit, plus
dem Punkt aus dem Koalitionsvertrag der schwarzgelben Regierungskoalition im Bund, die Benachteiligung der Lebenspartnerschaft im Einkommensteuerrecht
zu beseitigen, lag uns heute vor. All dem hatten Sie bereits zugestimmt.
({7})
- Natürlich, Sie hatten bereits allem zugestimmt. Wir haben kein Jota draufgelegt, außer diesem einen Punkt.
({8})
Ich muss sagen: Ein Punkt aus dem eigenen Koalitionsvertrag, für den ein Koalitionspartner angeblich sogar ganz heftig kämpft, bedeutet keine Zumutung seitens
der Mehrheit des Vermittlungsausschusses an die Koalition, sondern das ist eine minimale Bewegung, die wir
hier von der CDU verlangen, die in dieser Frage ja selbst
gespalten ist, wie ihr Parteitag gezeigt hat.
Ihnen ist die Benachteiligung der Lebenspartnerschaft
ideologisch offensichtlich so viel wert, dass Sie ein notwendiges Jahressteuergesetz blockieren,
({9})
dass Sie die Einführung der elektronischen Steueranmeldung verhindern, dass Sie das Stopfen von Schlupflöchern verhindern und dass Sie ein Gesetz verhindern,
das Sie selber im Lösungsteil des Gesetzentwurfs wie
folgt anpreisen:
Das Jahressteuergesetz 2013 dient der Umsetzung
dieses fachlich notwendigen Gesetzgebungsbedarfs. Der Regelungsbedarf besteht insbesondere
zur Anpassung des Steuerrechts an Recht und
Rechtsprechung der Europäischen Union.
({10})
Das wollen Sie jetzt alles in die Tonne treten? Das
heißt, Sie wollen keinen Kompromiss zwischen den
Häusern.
({11})
Sie sind als Koalition dann aber auch steuerrechtlich
nicht mehr handlungsfähig. Sie haben Ihre Handlungskompetenz verloren, weil Sie wegen innerer Streitigkeiten bei keinem Thema zu einer gemeinsamen schwarzgelben Verhandlungsposition finden können.
Herr Kollege Beck!
Das ist mein letzter Satz. - Herr Döring, beim Thema
Gleichstellung haben wir Ihnen den Ball auf den Elfmeterpunkt gelegt. Herr Rösler hätte nur noch Anlauf
nehmen und den Ball ins Tor schießen müssen, in dem
schon kein Torwart mehr stand.
({0})
Nachdem Sie nichts unternommen haben, um heute zu
einer Mehrheit zu finden,
({1})
brauchen Sie sich bei den Lesben und Schwulen in
diesem Land sicher nicht mehr blicken zu lassen.
({2})
Ich weiß, Sie haben andere Prioritäten, Herr Döring. Das
haben wir heute verstanden.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen und vor den Bildschirmen! In sitzungsfreien Wochen bin ich viel in Schulen
unterwegs und diskutiere mit Schülerinnen und Schülern
über Punkte, über die wir auch im Parlament diskutieren.
Zu Recht legen die Lehrerinnen und Lehrer Wert darauf,
dass ich auch die Argumente der Opposition parteineutral darstelle. Das fällt mir in der Regel gar nicht schwer,
weil ich durchaus auch an Argumenten der Oppositionsparteien etwas finde und nicht jedes Mal zu dem Eindruck komme, dass das, was Sie diskutieren, völlig
absurd ist. Im Hinblick auf das Ergebnis der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss ist mir das, ehrlich gesagt,
nicht gelungen. Selbst wenn ich versuche, mich in Sie
hineinzudenken, ist das, was Sie da vertreten haben, für
mich absolut nicht schlüssig.
Fangen wir mit der Schweiz an. In Hinblick auf das
Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz waren
Sie wenigstens berechenbar. Da haben Sie lange vorher
angekündigt, dass Sie dem nicht zustimmen. Herr
Oppermann - er ist gar nicht mehr da; er hat für die Diskussion keine Zeit mehr ({0})
hat versucht, den Bürgerinnen und Bürgern, auch Ihnen
auf den Tribünen, klarzumachen, dass die bösen Steuerhinterzieher aufgrund der Ablehnung des Abkommens
durch die SPD jetzt höhere und gerechtere Steuern zah26808
len müssen. Wahr ist, dass die Steuerhinterzieher am
1. Januar 2013 die Sektkorken haben knallen lassen,
({1})
weil nämlich ein weiteres Jahr ihrer Steuerhinterziehung
verjährt ist,
({2})
weil sie für 2012, 2013 und 2014 wieder gar keine Steuern zahlen werden, und das dank der Unterstützung
durch die SPD, die nämlich verhindert hat, dass auch
die Schweizer Steuerhinterzieher einer vernünftigen Besteuerung, ähnlich dem bestehenden deutschen Steuerrecht, unterzogen werden.
({3})
- Herr Kahrs, ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt; aber
das ist die Wahrheit.
({4})
Welcher Steuerzahler hat aufgrund Ihrer Entscheidung
jetzt seine Steuern bezahlt? Keiner.
Zum Grundfreibetrag. Ihr Verhalten im Zusammenhang mit der Erhöhung des Grundfreibetrags ist auch
nicht gerade sozialdemokratisch. Zwar konnten wir Sie
im Dezember davon überzeugen, dass es verfassungsrechtlich zwingend ist, den Grundfreibetrag zu erhöhen,
weil der Steuerfreibetrag das Existenzminimum darstellt;
({5})
aber Sie haben sich nicht einmal entblödet, vorzuschlagen,
({6})
zur Gegenfinanzierung der Erhöhung des Grundfreibetrags den Eingangssteuersatz zu erhöhen.
({7})
Das heißt, der Polizist, der ein höheres steuerfreies Existenzminimum erhielte, müsste die eigene Steuervergünstigung über einen erhöhten Eingangssteuersatz selbst bezahlen.
({8})
Das kann ich aus sozialdemokratischer Sicht nicht nachvollziehen, so sehr ich mir auch Mühe gebe. Gott sei
Dank haben Sie im Vermittlungsausschuss nach der
Pause verstanden, dass das Unfug ist, und haben den Antrag abgelehnt und unserem zugestimmt; aber nachvollziehen konnte ich Ihr Verhalten nicht.
Zur kalten Progression. Herr Binding, Sie haben gesagt, dass das, was wir machen wollen, nur halbherzig
sei, weil wir keine Indizierung wollten. Sie haben das
Gesetz wohl nur bedingt gelesen; denn darin steht sehr
wohl, dass wir die Besteuerung der kalten Progression
alle zwei Jahre überprüfen wollen.
({9})
Folgendes kann ich wiederum nicht nachvollziehen:
Weil die Regelung nicht so gut ist, wie Sie es sich gewünscht hätten, machen Sie auch nicht den ersten
Schritt. Das heißt, der kleine Steuerzahler hat jetzt gar
keinen Vorteil, weil Sie ihm nicht gönnen, dass er einen
Teil der nächsten Lohnerhöhung behält.
({10})
Wegen des höheren Steuersatzes bezahlt er für jeden zusätzlichen Euro mehr, als er bisher hätte zahlen müssen.
Was daran sozial oder sozialdemokratisch ist, kann ich
auch nicht verstehen.
({11})
Vieles kann ich also einfach nicht nachvollziehen, zumal die Einnahmen aus der Schweizer Schwarzgeldsteuer
von bis zu 10 Milliarden Euro dicke gereicht hätten, um
die Begrenzung der kalten Progression gegenzufinanzieren.
({12})
Sie sagen also: Der Schwarzgeldbesitzer in der Schweiz
behält sein Geld, aber der Empfänger eines kleinen Gehalts muss mehr Steuern zahlen. Das ist irgendwie nicht
so richtig sozial. Deshalb findet es auch nicht unsere Zustimmung.
({13})
Zum Jahressteuergesetz. Da fängt irgendwie die selektive Wahrnehmung an. Herr Oppermann hat eben dargestellt, dass uns das Jahressteuergesetz wichtig gewesen sei und wir es deshalb auf Biegen und Brechen
hätten durchbringen müssen. Wenn ich mich richtig erinnere, sind über 18 Änderungsanträge, die die SPD-Länder eingebracht haben, in das Jahressteuergesetz eingeflossen; wir haben dort Kompromisse gefunden.
({14})
- Auch die grünen Länder, auch die eigenen Länder. Jedenfalls ging es um Punkte, die auch der SPD wichtig
waren. Wir haben über Wochen und Monate hinweg
Kompromisse gefunden und waren uns dann in allem einig. Herr Beck, da liegen Sie falsch: Das Vermittlungsergebnis ist so lange offen - ({15})
- Wenn Sie so laut schreien, kann ich mich selber nicht
mehr verstehen. Vielleicht warten Sie einfach, bis Sie
gleich dran sind.
({16})
Herr Kollege Kahrs, bitte! Frau Tillmann hat das
Wort.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident.
Herr Beck, im Verfahren des Vermittlungsausschusses
ist es Sitte, dass alles offen ist, bis alles geschlossen ist,
weil wir natürlich Kompromisse suchen und weil wir natürlich die eine oder andere Kröte geschluckt hätten,
wenn das Gesamtergebnis gut geworden wäre. Das
heißt, von den 18 Punkten der Länder haben mindestens
17,5 Punkte die Länder eingebracht. Wir haben uns darauf eingelassen, weil wir das teilweise vernünftig fanden.
Auch wenn ich persönlich sogar Verständnis für die
Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften habe, ich selbst dem auch zugestimmt hätte,
war Ihnen völlig klar, dass alle diese Verhandlungen vor
die Wand gehen, wenn Sie das zwingend koppeln mit
der Abstimmung über die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. Das ist Ihnen recht. Das kann ich
auch verstehen. Nach außen kann man das gut verkaufen. Damit haben Sie aber natürlich wieder Steuergestaltung möglich gemacht.
({0})
Die SPD als Schutzpatron der Steuergestalter. Sie haben selbst die Cash-GmbH angesprochen. Sie haben
selbst die Goldfingergeschichten angeführt. Mit dieser
Abstimmung zum Jahressteuergesetz machen Sie es
möglich, dass wieder die Steuerpflicht gestaltet wird und
Steuern hinterzogen werden.
({1})
Der kleine Mann zahlt, die Großen kommen davon, weil
Sie dem Vermittlungsergebnis nicht zustimmen.
({2})
Nun zu meinem letzten Punkt, zur steuerlichen Förderung der energetischen Gebäudesanierung. Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, es passiert sehr selten, dass wir einen Brief erhalten, der sowohl vom DGB als auch vom
Arbeitgeberverband unterschrieben worden ist. Gewerkschaften und Arbeitgeber waren sich also einig und haben mehr oder weniger flehentlich die SPD aufgefordert,
die energetische Gebäudesanierung durchgehen zu lassen, weil wir damit Arbeitsplätze sichern, weil wir damit
Energiekosten reduzieren.
({3})
- Ich möchte gern zu Ende reden, Herr Beck.
Dadurch machen wir es möglich, dass jemand sein
privates Einfamilienhaus saniert und damit Kosten spart.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind sich einig. Die SPD
war aber nicht dazu zu bewegen. Damit haben Sie nicht
nur dem Häuslebauer einen erheblichen Schaden zugefügt, sondern Sie haben auch die Handwerker benachteiligt.
({4})
Sie haben verhindert, dass der Mieter demnächst in
erheblichem Umfang Energiekosten sparen kann. Außerdem haben Sie verhindert - das war nämlich ein
Kompromiss -, dass wir 350 Millionen Euro für die Sanierung öffentlicher Gebäude in den Kommunen zur
Verfügung stellen. Dabei sehe ich überhaupt keine Nutznießer, sondern nur Schaden, den Sie verursacht haben.
({5})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Ja. - Ich glaube, dass die Berechenbarkeit der Politik
ein ganz wesentliches Kriterium ist. Ich wünsche und
hoffe, dass Sie ab Montag wieder berechenbar sind, dass
wir Kompromisse schließen können zugunsten der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land und zulasten derjenigen, die in diesem Land ihre Steuern nicht ordnungsgemäß zahlen wollen.
({0})
Wir wollen, dass alle ihre Steuern zahlen und dass die
Kleinen prozentual nicht mehr belastet werden als die
Großen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Johannes Kahrs.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die ganze Debatte war etwas seltsam. Ich
möchte mich auf den Punkt konzentrieren, der das Jahressteuergesetz betrifft.
Herr Döring hat erklärt, dem Jahressteuergesetz
könne man nicht zustimmen, weil es in ganz vielen
Punkten Unsinn enthalte, und das habe man alles nicht
gewollt. Dass das glatt geschwindelt war - um es einmal
freundlich zu formulieren -, hat Frau Tillmann vorhin
bestätigt, indem sie gesagt hat: Man war sich in allen
Punkten einig.
({0})
Wenn man sich in allen Punkten einig war und wenn
es am Ende nur um eine einzige Frage ging, nämlich um
die steuerliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen
- das war der einzige Punkt, bei dem man sich nicht einig war -,
({1})
dann heißt das: CDU, CSU und FDP lassen das Jahressteuergesetz platzen, weil sie nicht wollen, dass Lesben
und Schwule gleichgestellt werden.
({2})
Jetzt kann man natürlich der Meinung sein: Wir
schaffen das Ehegattensplitting ab. Dann braucht man
das auch nicht.
({3})
Das ist aber nicht der Punkt. Solange es das Ehegattensplitting gibt, gibt es auch den Bedarf an Gleichstellung.
({4})
Jetzt hat sich die FDP hier hingestellt, die eigentlich
- der Kollege Kauch muss sich gerade kreiselnd durch
die Gegend bewegen ({5})
immer dafür gekämpft hat, dass Lesben und Schwule
gleichgestellt werden. Dann kommt Herr Döring hierher,
lügt, um seine eigene Position zu verteidigen,
({6})
und hat Frau Tillmann auf der anderen Seite, die ganz
klar herausgearbeitet hat, dass man sich bei allem einig
war, nur bei diesem einen einzigen Punkt nicht.
({7})
- Herr Döring, dann sollten Sie zumindest den Anstand
haben, zu erklären, dass Sie für Schwule und Lesben
nichts unternehmen und auch nichts erreichen wollen.
Herr Kollege.
Was wir hier veranstalten, ist traurig. Das ist traurig.
({0})
Herr Kollege Kahrs, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Tillmann?
Aber selbstverständlich, wenn ich sie schon zitiere.
Bitte schön, Frau Tillmann.
Danke für die Fairness, Herr Kahrs.
({0})
Sie haben nur die eine Hälfte meines Satzes zitiert. Ich
habe begonnen mit dem Satz, dass im Vermittlungsausschuss die Sitte gilt, dass alles offen ist, bis alles geschlossen wird. Das bedeutet ganz klar - es wäre schön,
wenn Sie nicht widersprechen würden bzw. zur Kenntnis
nehmen würden -, dass Kompromisse erst dann gelten,
wenn man abgestimmt hat. Da aber nicht alles abgestimmt werden konnte, weil wir uns nicht in jedem
Punkt einig waren, war unser grundsätzliches Vorhaben,
einen Kompromiss zu finden, den Sie aber durch Ihre
Koppelung an die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Lebensgemeinschaften verhindert haben. Sie waren derjenige, der das Vermittlungsergebnis verhindert hat,
nicht wir.
({1})
Sie hätten problemlos einzeln über die gleichgeschlechtliche Ehe abstimmen lassen können, dann hätten
wir das Jahressteuergesetz verabschiedet, und Sie hätten
trotzdem politisch zeigen können, dass Sie auf der Seite
der Schwulen und Lesben stehen. Das haben Sie aber
nicht getan. Sie haben es an die Gleichstellung gekoppelt, und Sie wussten, dass damit alle andere Kompromisse vom Tisch sind.
({2})
Frau Tillmann, erstens wäre es nett, wenn Sie stehen
bleiben würden. Zweitens liebe ich Ihre Klarstellung,
weil sie von einer erfrischenden Ehrlichkeit ist und Sie
damit Herrn Döring ein zweites Mal an die Wand geklatscht haben,
({0})
so schwierig das auch ist.
Im Ergebnis ist es so: Sie haben gesagt: Wir waren
uns in der Sache einig; aber ein Vermittlungsergebnis
gilt erst dann, wenn man sich in allen Punkten einig ist,
({1})
und bei dem Punkt „Schwule und Lesben“ war man sich
nicht einig. Sehen Sie: In allen anderen Punkten war
man sich also einig.
({2})
- Herr Döring, schämen Sie sich! Frau Tillmann hat Ihnen hier zweimal gesagt, dass Sie gelogen haben. Sie
sollten sich schämen. - Frau Tillmann, vielen Dank.
({3})
Herr Kollege Kahrs, der Kollege Beck würde auch
gerne noch eine Zwischenfrage stellen.
Aber selbstverständlich.
({0})
Herr Kollege Kahrs, ich wollte Sie fragen, ob Sie mir
bestätigen können, dass diese Koalition gerade durch
ihre eigenen Gesetzgebungsakte Blockadepolitik betreibt. Denn wenn sie jetzt unbedingt wollte, das Ganze
ohne die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften zu
beschließen, dann hätte sie heute die Möglichkeit gehabt, selber mit der Mehrheit des Bundestages den Vermittlungsausschuss anzurufen. Die Koalition trägt also
alleine die Verantwortung dafür, dass das Jahressteuergesetz vollständig gegen die Wand fährt.
({0})
Können Sie mir das bestätigen, Herr Kollege?
Herr Kollege Beck, Sie haben natürlich Recht: Wenn
die Koalition mit ihrer Mehrheit heute beschlossen hätte,
den Bundesrat anzurufen, dann hätte sie das Ganze noch
einmal in den Bundesrat einbringen können.
({0})
Das hat sie aber nicht getan. Das zeigt natürlich, Herr
Beck - auch in der Geschichte der CDU -, dass die CDU
keine Gleichstellung von Lesben und Schwulen will. Ich
bin seit 1998 im Deutschen Bundestag. Das habe ich bisher so erlebt.
({1})
Wir von SPD und Grünen sind dabei gewesen.
({2})
Hier sieht man, dass einfach nichts getan wurde.
({3})
Wir haben ein Lebenspartnerschaftsgesetz Teil 1 und
Teil 2.
({4})
Die Trennung war notwendig, weil sich die CDU geweigert hat, mitzumachen, das heißt, es konnten nur die
Pflichten beschlossen werden, aber nicht die Rechte.
Im Bundesrat ist das immer von der CDU verhindert
worden. Seit 1998 erlebe ich, dass CDU und CSU - entweder in der Regierung, in der Koalition oder im Bundesrat - die Rechte von Schwulen und Lesben blockiert,
wo es geht.
Das gehört aber nicht mehr zur Beantwortung der
Frage. Wir befinden uns wieder in der Aussprache.
Ohne Not hat Frau Merkel im niedersächsischen
Landtagswahlkampf in ihren Wahlkampfreden gesagt:
Sie will keine Gleichstellung von Lesben und Schwulen.
Das ist peinlich, das ist beschämend, und das ist unanständig. Das kann nicht die Politik dieser Koalition sein;
denn Sie haben einen Koalitionsvertrag, und im Koalitionsvertrag steht, dass Sie die steuerliche Gleichsetzung
von Lesben und Schwulen wollen.
({0})
Sie setzen es aber nicht um.
({1})
Nun hatten Sie es vorliegen. Man war sich, Herr Döring,
in allen Punkten einig, wie Sie eben von Frau Tillmann
gehört haben.
({2})
- Auch wenn Sie noch so laut brüllen, Herr Döring: Das
funktioniert nicht,
({3})
gegen mich schon einmal gar nicht.
({4})
Deswegen haben Sie hier ein Problem. In der Sache
hätte die FDP etwas für Lesben und Schwule erreichen
können, aber sie hat es nicht getan.
({5})
Der Kollege Beck hat es freundlich formuliert: Der Ball
lag da, das Tor war nicht weit entfernt, es gab keinen
Torwart, und Herr Rösler hat trotzdem nicht verwandelt.
Er ist nicht einmal angelaufen, und das ist unanständig.
Wir haben erlebt, dass CDU und CSU die Gleichstellung von Lesben und Schwulen nicht will, dass sie sie an
jeder Kurve und Kante blockiert. Dass die FDP das mitmacht - und das, obwohl es sie nichts, aber auch gar
nichts gekostet hätte -, ist erstens unverständlich und
zweitens unanständig. Das passt nicht zu dem, was sie
sonst sagen.
({6})
- Herr Döring, als Sprecher für Lesben und Schwule der
SPD-Bundestagsfraktion höre ich seit 1998 die Worthülsen der FDP. Heute haben Sie jede Berechtigung verloren, zu diesem Thema irgendetwas beizutragen.
({7})
Das, was Sie sagen, ist peinlich und falsch.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dr. Volker Wissing.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem in dieser Debatte mehrfach wahrheitswidrig
behauptet worden ist, man habe sich in der Arbeitsgruppe auf diese Punkte verständigt, möchte ich zur
Klarstellung hier Folgendes erklären: Ich finde es ungeheuerlich, dass Sie das hier immer wieder behaupten. Es
gab keine Einigung! Insbesondere der Punkt „Ungleichbehandlung von öffentlicher Hand und Privatwirtschaft
im Bereich der Grunderwerbsteuer“ wurde in den vorbereitenden Gruppensitzungen, an denen ich teilgenommen habe, von mir immer wieder ausdrücklich streitig
gestellt. - Ich halte dies für ungeheuerlich.
({0})
Dass Sie das Jahressteuergesetz nach Ihren Vorstellungen verändern wollten - Sie haben unglaublich
dreiste Forderungen, auch Steuererhöhungsforderungen,
gestellt -, war für uns nicht hinnehmbar. Wir hatten im
Vermittlungsausschuss noch viele andere Gesetzentwürfe zu beraten. Ziel war immer, eine Einigung zu finden. Sie haben ganz offensichtlich einen anderen Weg
vorgezogen, nämlich den, hier billigen Populismus zu
betreiben. Sie haben am Ende überraschenderweise die
Thematik der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Partnerschaften mit der Ehe bei der Einkommensteuer in
dieses Feld aufgenommen, obwohl es dort sachlich gar
nicht hineingehört,
({1})
und Sie haben Steuererhöhungen zur Bedingung für Ihre
Zustimmung gemacht, weil Sie genau wussten, dass die
FDP diese Steuererhöhungen von Anfang an abgelehnt
hat. Ich finde - ich sage das, weil Sie hier so lautstark
und selbstbewusst sprechen -, es wird den Menschen,
die sich in Deutschland nach einer Gleichstellung im Bereich der Einkommensteuer sehnen, nicht gerecht, wenn
man das so verknüpft, obwohl man genau weiß, dass
Steuererhöhungen hier nicht mehrheitsfähig sind. Wenn
Sie glauben, Sie könnten Steuererhöhungen auf so miese
Art und auf dem Rücken der Betroffenen durchsetzen,
dann irren Sie sich. Dann können Sie mit der Zustimmung der FDP nicht rechnen. Ich hätte mir gewünscht,
Sie hätten den Mut aufgebracht, den Menschen hier
deutlich zu sagen, was Sie im Vermittlungsausschuss tatsächlich betrieben haben. So, wie es in dieser Debatte
dargestellt worden ist, war es schlicht und einfach nicht.
({2})
Zur Erwiderung Kollege Kahrs.
Herr Wissing, die Verzweiflung in der FDP muss groß
sein.
({0})
Frau Tillmann hat nun zweimal bestätigt, dass es in
der Sache eine Einigung gegeben hat,
({1})
mit Ausnahme der Gleichstellung von Lesben und Schwulen.
({2})
- Es gab genug von uns, die dabei waren.
({3})
Herr Meister hat die Einigung vorgetragen. Über den einen Punkt, der übrig blieb, kann man sich aufregen - ich
verstehe ja, dass CDU und CSU das nicht wollen -, aber
in allen anderen Punkten gab es eine Einigung. Das hat
Frau Tillmann hier zweimal bestätigt, alle Anwesenden
auch.
({4})
Die Verzweiflung muss wirklich groß sein. Ich finde
das bedauerlich, Herr Wissing. Sie sollten bei der Wahrheit bleiben. Dass die Schwulen und Lesben von der
FDP nichts zu erwarten haben, ist ab heute klar. Das ist
leider so.
Es tut mir wirklich leid für den Kollegen Kauch,
ernsthaft. Der Kollege Kauch rödelt seit Jahren für dieses Thema.
({5})
Dass Sie ihm so in den Rücken fallen, ist unanständig.
({6})
Das gehört sich nicht.
({7})
Wir sind am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Steuerbeschlüsse der SPD sowie Steuererhöhungspläne des SPD-Kanzlerkandidaten und
ihre Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Land verdankt es der Politik
der bürgerlichen Koalition und der Leistungsbereitschaft
seiner Arbeitnehmer und Unternehmer, dass es die vielfältigen Schwierigkeiten der Krisen gut gemeistert hat.
Sicherlich sind nicht alle Schwierigkeiten überwunden. Auch in diesem Jahr geht es um Aufschwung oder
Abschwung, um Wachstum oder Stillstand. Mit uns stehen die Zeichen auf Wachstum und weiteren Wohlstandsgewinn für unsere Menschen. Wir stehen für Aufschwungsdividende, Wachstum und Arbeitsplätze. RotGrün dagegen mutet den Menschen Stillstand und sogar
Abschwung durch neue Steuererhöhungen zu. Das darf
es nicht geben, meine Damen und Herren.
({0})
Die Steuerbeschlüsse der SPD sind so etwas wie ein
Bußgeldkatalog für die arbeitenden Menschen, die Leistungswilligen, die Mittelschicht und den gewerblichen
Mittelstand. Sie von Rot-Grün wollen den gefräßigen
Steuerstaat, den einkommenfressenden Staat, damit Sie
Ihre unsoziale und ungerechte Verteilungspolitik finanzieren können. Das unterscheidet uns. Wir trauen den
Menschen etwas zu und gönnen ihnen die Früchte ihrer
Leistung. Sie von Rot-Grün kennen nur eines: Bevormundung der Bürger und Enteignung der Leistung durch
immer neue Steuern. Das ist der Unterschied zu unserer
Politik, meine Damen und Herren.
({1})
Ihnen fehlt die richtige Balance, die für ein erfolgreiches
und wettbewerbsfähiges Land notwendig ist. Wir wollen
Freiräume für die Menschen durch Entlastungen, soziale
Leistungen für Bedürftige und Konsolidierung der Haushalte. Dieser Dreiklang ist das Erfolgsrezept, mit dem
unser Land bisher sicher durch die gewiss schwierigen
Zeiten geführt wurde und auch weiter geführt werden
wird.
Im Dezember haben wir in der christlich-liberalen
Koalition um mehr Steuergerechtigkeit durch die Reduzierung der kalten Progression gerungen und natürlich
auch dafür geworben, für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung eine Mehrheit zu bekommen. Gerade haben wir in der Debatte gehört, wie Sie das letzten Endes
umgekehrt haben. Sie nehmen eine gesellschaftliche
Gruppe als Werkzeug. Ich muss mich für diese Debatte
schämen, Herr Kahrs. Es ist unsäglich, was Sie mit dieser gesellschaftlichen Gruppe hier gemacht haben.
({2})
Ist es - das sollten Sie sich einmal vor Augen halten an einem Staat gerecht, wenn der Fiskus das abkassiert,
was die Menschen durch ihre Leistung mehr verdienen?
Was ist gerecht daran, wenn Sie den Betrieben - vor allem dem Mittelstand - mit Höchststeuerpolitik die Spielräume für die Schaffung neuer Arbeitsplätze nehmen?
Was ist gerecht an einem Staat, der mit seiner Steuerpolitik den Leuten die Arbeit nimmt? Nichts, gar nichts und
noch einmal nichts!
Sie von Rot-Grün müssen endlich einmal lernen: Die
Einkommen gehören zunächst den arbeitenden Menschen und sind - das ist so - nicht das politische Spielgeld von Rot-Grün.
({3})
Ihre Steuerpläne sind eindeutig. Sie wollen den Menschen 28 bis 40 Milliarden Euro mehr an Steuern abpressen. Das sind Ihre Vorschläge. Die Leute müssen das erkennen.
Sie wollen den Steuertarif auf 49 Prozent erhöhen,
also jeden zweiten verdienten Euro vom Fiskus abkassieren lassen. Weiter wollen Sie Ehepaare mit der Abschaffung des Ehegattensplittings geradezu bestrafen.
Außerdem wollen Sie die kalte Progression verschärfen,
was nicht nur Spitzenverdiener trifft, sondern auch die
Masse der Facharbeiter, Angestellten, Freiberufler oder
mittelständischen Unternehmen. Bereits heute erbringen
diese Gruppen der Gesellschaft bzw. diese Steuerpflichtigen 95 Prozent des Einkommensteueraufkommens.
Ich glaube, das Schlimmste bei Ihren Steuervorschlägen ist die Substanzbesteuerung, die Sie aus ideologischen Gründen mit der Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer vornehmen wollen. Dies trifft 80 Prozent der
mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die Personengesellschaften sind. Das hat Auswirkungen auf das
Volksvermögen insgesamt. Substanzbesteuerung verhindert Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen
und damit letzten Endes die Entwicklung.
Deswegen kann ich nur sagen: Dies ist der verkehrte
Weg für unser Land. Ihr Kanzlerkandidat jongliert jetzt
mit Zahlen und sagt, wir hätten durch Steuerhinterziehung 150 Milliarden Euro Steuerverluste. Dafür gibt es
keine Beweise. Das ist für mich reines Maulheldentum.
Das ist unsäglicher Sozialneidpopulismus.
({4})
Das ist Sprechblasenpolitik.
({5})
Es setzt die Peinlichkeiten geradezu fort, wenn man aus
Populismus einfach eine Zahl in die Welt setzt und nicht
bereit ist, diese zu belegen.
Herr Kollege Michelbach.
Herr Präsident, ich habe hier eine halbe Minute überzogen, aber ich war so in Fahrt. Entschuldigen Sie bitte.
({0})
Ich kann nur sagen: Diese Steuerpolitik und diese
Steuerpläne von Rot-Grün dürfen in Deutschland nicht
umgesetzt werden.
({1})
Jetzt hat das Wort der Kollege Joachim Poß für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sprach
zu uns gerade der Spezialist für Gespensterdebatten
Hans Michelbach.
({0})
Ich glaube, das ist eine ausreichende Beschreibung der
Qualität Ihres Vortrags, Herr Michelbach. Ich persönlich
freue mich für Sie, dass Sie als erfolgreicher Mittelständler die so schwierigen Regierungsjahre von Helmut
Kohl mit dem Spitzensteuersatz von 53 Prozent und mit
dieser schrecklichen Vermögensteuer überstanden haben. Dass Sie in diesen Kohl-Jahren so erfolgreich waren, ist für Sie sehr erfreulich.
({1})
Wenn man die Realität mit dem, was Sie hier erzählt haben, kontrastiert, dann wird den Menschen deutlich, dass
es Ihnen nur um Diffamierung geht und nicht um eine
realistische Beschreibung der Lage.
Wir können festhalten: Wir haben zumindest ein Finanzkonzept für die nächsten Jahre. Wir haben Steuerpläne. Sie haben es in den letzten dreieinhalb Jahren
trotz einer Koalitionsvereinbarung nicht einmal geschafft, sich überhaupt auf eine gemeinsame Wirtschafts- oder Steuerpolitik zu einigen. Sie haben überhaupt nichts bewegt. Sie haben noch nicht einmal eine
Reform der Mehrwertsteuer hinbekommen. Hinbekommen haben Sie nur die berühmte zusätzliche Ausnahme
für die Hoteliers. Das war Ihre Steuerpolitik der letzten
dreieinhalb Jahre.
({2})
Wer eine solche erbärmliche Bilanz vorzuweisen hat, der
sollte hier wirklich nicht die Backen aufblasen, wie Herr
Michelbach es getan hat und andere es sicherlich wiederholen werden.
Wir befinden uns in einer ganz bestimmten wirtschaftlichen und finanziellen Ausgangssituation. Dazu
gehört, dass in den Ländern und Kommunen die Decke
überall und damit insgesamt zu kurz ist. Der Investitionsstau in den Kommunen ist mittlerweile auch für die Bürgerinnen und Bürger - von den Kleinkindern bis zu den
Senioren - deutlich zu spüren.
Dass unsere Bildungsausgaben nicht ausreichend
sind, bekommen wir Jahr für Jahr auch von der OECD
bescheinigt.
Es muss doch allen klar sein: Die Kommunen vor Ort
haben wesentliche Leistungen zu erbringen, die mit über
die Lebensqualität der Menschen entscheiden. Wir brauchen ein gutes Bildungssystem und einen modernen Sozialstaat als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands.
Ihre letzten Regierungsjahre haben uns und Ihnen gezeigt, dass sich das alles durch Einsparungen an anderer
Stelle offenkundig nicht finanzieren lässt; Sie hatten die
Gelegenheit dazu. Daher müssen wir auch andere Maßnahmen ins Auge fassen. Was haben Sie denn in Wirklichkeit gemacht? Sie haben in guten Zeiten weiter auf
Pump gewirtschaftet und trotzdem die Infrastruktur verkommen lassen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({3})
Nach der Regierungsübernahme im September wollen wir nicht so weitermachen. Insofern sind maßvolle
Steuererhöhungen notwendig, und zwar nicht für alle,
sondern nur für Spitzenverdiener und Vermögende. Das
ist auch gerechtfertigt, wenn man sich anschaut, wie sich
das Einkommensgefälle und auch die Unterschiede bei
Vermögen in den letzten Jahrzehnten - es ist keine kurzfristige Entwicklung - entwickelt haben. Das heißt, die
soziale Spaltung in Deutschland hat dramatisch zugenommen. Deswegen müssen diejenigen mit den besonders starken Schultern - dies entspricht auch dem VerJoachim Poß
fassungsgebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit - ein wenig mehr zur Finanzierung
des Gemeinwesens beitragen. Das ist zur Gestaltung der
weiteren positiven Entwicklung in der Bundesrepublik
Deutschland wirtschaftlich vertretbar und sozial notwendig. Es besteht überhaupt kein Anlass, diese Vorhaben so
zu diffamieren, wie es von Ihrer Seite und von einigen
Wirtschaftsverbänden getan wird. Sie sollten sich der
Realität, die im Armuts- und Reichtumsbericht beschrieben ist, stellen. Die Realität passte Ihnen aber nicht. Also
haben Sie Ihren Armuts- und Reichtumsbericht manipuliert und das, was Ihnen nicht gepasst hat, gestrichen.
Anstatt Ihre Steuerpolitik zu ändern, versuchen Sie, die
Realität anders darzustellen. Das ist die Methode von
Schwarz-Gelb. Damit muss Schluss sein.
({4})
Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch
darauf, dass wir uns den vielfältigen Herausforderungen
in unserer Gesellschaft stellen.
({5})
Das tun wir, auch mit unseren Steuerplänen und unseren
Finanzierungsvorschlägen. Wir fordern Sie zu einer konstruktiven Diskussion auf. Mit Realitätsverweigerung ist
niemandem gedient.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Volker
Wissing das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Verzweiflung bei der SPD muss sehr groß sein,
({0})
wenn Herr Poß sich noch nicht einmal traut, hier über
das zu sprechen, was Herr Steinbrück vorgeschlagen hat.
({1})
Er hat nämlich nicht vorgeschlagen, die Steuern nur für
ganz Vermögende zu erhöhen, sondern er hat vorgeschlagen, sie auch für Facharbeiter und die Mitte in
Deutschland zu erhöhen.
({2})
Für den Mittelstand will Herr Steinbrück also die Steuern
erhöhen. Aber das traut sich die SPD im Deutschen Bundestag nicht zu sagen.
({3})
Heimlich wollen Sie das machen, weil Sie wissen, dass
die Öffentlichkeit Sie dafür abstrafen wird, und zwar zu
Recht.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerecht wäre es
doch gewesen, im Bundesrat dem Abbau der kalten Progression zuzustimmen,
({5})
damit hart erarbeitete Lohnerhöhungen bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ankommen. Stattdessen haben Sie zu einem gerechteren Steuertarif für untere und mittlere Einkommen Nein gesagt. Ja, Sie haben
den Tarifverlauf mit Ihrer Macht im Bundesrat sogar
verschlechtert und ihn gestaucht. So haben Sie dafür gesorgt, dass der Anstieg für die untersten Einkommen
steiler wird. Herr Kollege Poß, ich wiederhole es: für die
untersten Einkommen! Das ist die größte Ungerechtigkeit bei der Einkommensteuer, die in den letzten Jahren
von einer Partei auf den Weg gebracht worden ist. Das
ist sozialdemokratische Realpolitik: Abkassieren bei den
untersten Einkommen in Deutschland.
({6})
Gerecht wäre es gewesen, dem Steuerabkommen mit
der Schweiz zuzustimmen, damit dort künftig gleich
hohe Kapitalertragsteuern fällig werden wie in Deutschland.
({7})
Ich frage Sie: Warum sollten Kapitalerträge in der
Schweiz anders als in Deutschland oder gar nicht besteuert
werden? Sie aber haben dazu Nein gesagt - das war billiger Populismus - und in Kauf genommen, dass der ehrliche Steuerzahler in Deutschland die Milliardenlücken,
die Steuerhinterzieher hinterlassen, füllen muss.
({8})
Sie haben zu verantworten, dass Steuersünder unbestraft
und auch noch völlig kostenlos davonkommen, weil die
Straftaten und die Steuerschuld verjähren. Man muss
sich das einmal vorstellen: Jeder Steuerhinterzieher wäre
von diesem Abkommen erfasst worden, und zwar lückenlos. Aber die SPD sagt dazu Nein und mutet den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland zu, die
Lücke, die dadurch entsteht, zu füllen. Das ist Ungerechtigkeit hoch zehn.
({9})
Es wäre auch gerecht gewesen, wenn Sie nur ein einziges Mal in dieser Legislaturperiode an die Mitte in
Deutschland gedacht hätten, statt immer wieder Einkommensteuererhöhungen für diese Gruppe zu fordern. Die
Vorschläge von Herrn Steinbrück - die FU Berlin hat das
berechnet - würden für Facharbeiter und mittlere Unternehmen zu einer Mehrbelastung in Höhe von 11 bis
12 Prozent führen. Diese Forderungen hätten Sie hier
verteidigen sollen, Herr Kollege Poß. Aber Sie wollen
sie verheimlichen. In Wahrheit wollen Sie an die Kasse
der Mitte: der Facharbeiterinnen und Facharbeiter und
des Mittelstands. Um das deutlich zu machen, haben wir
eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt.
({10})
Was Deutschland sicherlich nicht hat, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Steuersystem mit zu niedrigen
Steuersätzen. Die Kasse des Finanzministers ist heute
voller als jemals zuvor. Die Kasse des deutschen Finanzministers ist auch voller als die Kasse der Finanzminister
aller anderen europäischen Länder, und das, obwohl
diese die Steuersätze zum Teil erheblich angehoben haben. Es gilt nämlich eine Kette, die Sie den Menschen
immer wieder verschweigen: Maßvolle Steuersätze lösen Wachstum aus, Wachstum führt zu hohen Steuereinnahmen, und Wachstum reduziert zugleich die Staatsausgaben, weil die Zahl der Beschäftigten zu- und die Zahl
der Transferleistungsempfänger abnimmt. So machen
wir erfolgreiche Politik. Erfolgreiche Politik macht man
aber nicht, indem man den Menschen ohne ersichtlichen
Grund in die Tasche greift, wie Sie es vorhaben.
({11})
Der Tagesspiegel schrieb Ende Dezember 2012 über
die Steuerpläne von Herrn Steinbrück folgenden Satz:
Wenn er wirklich meint, was er sagt, will er eine andere Republik.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, trifft den Nagel
auf den Kopf. Aber was für eine Republik wollen Sie
von der SPD? So eine wie in Frankreich? Eine Republik,
die von Ratingagenturen herabgestuft wird? Eine Republik mit steil ansteigender Jugendarbeitslosenquote und
immer leereren Staatskassen? Eine Republik, um die Investoren einen Bogen machen und die Wohlhabende verlassen, anstatt in ihrem Heimatland zu investieren? Das
wollen Sie offenbar. Dass die Herren Gabriel, Steinmeier
und Steinbrück nach Frankreich gefahren sind und Herrn
Hollande für seine Steuererhöhungspläne die Glückwünsche der deutschen Sozialdemokratie überbracht haben,
hat das eindrucksvoll demonstriert.
Wir sagen: Das ist geballte Ungerechtigkeit, und davor wollen wir Deutschland bewahren.
({12})
Eine solche Politik - das haben die Sozialdemokraten
immer noch nicht verstanden - ist Unsinn. Sie erzählen
den Menschen Unsinn und schüren Neiddebatten, die
unsere Gesellschaft spalten, anstatt dass wir die Kräfte
bündeln.
({13})
Die Rheinische Post kommentiert die Lage in
Deutschland wie folgt - ich zitiere -:
Dennoch zeigt ein positiver Finanzierungssaldo bei
schwierigem außenwirtschaftlichen Umfeld vor allem eines: Das Land braucht offenkundig keine
Steuererhöhungen. SPD und Grüne liegen falsch.
Schöner und klarer kann man es nicht ausdrücken, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({14})
Während Sie durch dieses Land ziehen und den Menschen einreden, der Staat müsse eine Vermögensabgabe,
eine Vermögensteuer, höhere Einkommen- und Kapitalertragsteuern einführen, während Sie auf Ihren Parteitagen höhere Erbschaftsteuern beschließen und im
Bundesrat über die kalte Progression heimliche Steuererhöhungen durchsetzen, in dieser Zeit schaffen CDU,
CSU und FDP es trotz laufender Krise und in einem
wahrhaft schwierigen außenwirtschaftlichen Umfeld,
ohne Steuererhöhungen auszukommen und auch noch
einen Etatüberschuss vorzulegen.
({15})
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer schlechten Politik und unserer Politik.
({16})
Was wir leisten, ist Gerechtigkeit gegenüber den hart
arbeitenden Menschen in unserem Land. Das ist der Weg
zum Erfolg aller in einer sozialen Marktwirtschaft:
höhere Investitionen in Bildung und Forschung, mehr
Wachstum, mehr Beschäftigung und weniger Schulden.
Als wir im Rahmen der Föderalismuskommission II
die Schuldenbremse beschlossen und uns darauf verständigt haben, dass der Bund im Jahr 2016 bei der Neuverschuldung die Grenze von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts einhalten muss, haben viele gesagt: Das schafft
ihr nie, das ist unmöglich. - Ich kann mich noch an die
Presseartikel erinnern. Es hieß überall: Da gibt es eine
Ausnahme, und am Ende werden sie versuchen, über die
Ausnahme doch höhere Schulden zu machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Koalition hat
ohne Steuererhöhungen die Grenze von 0,35 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts, wie sie im Grundgesetz steht, bereits 2012 eingehalten. Trotz laufender Finanzkrise und
höheren Investitionen in Bildung und Forschung haben
wir die Schuldenbremse in diesem Punkt vier Jahre früher eingehalten als ursprünglich vorgesehen. Hören Sie
auf, dem Land einzureden, dass wir Steuererhöhungen
brauchten! Das ist absurd, und Sie wissen es besser: Man
darf den Menschen nicht in die Tasche greifen; denn das
würde das Wachstum abwürgen und eine erfolgreiche
Politik beenden.
({17})
Die Steuererhöhungen, die Sie anpeilen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind der falsche Weg; sie sind
ebenso überflüssig wie ungerecht. Durch Ihre Weigerung, im Bundesrat mitzuarbeiten, sind Sie schuld daran,
dass sich die kalte Progression zulasten der Arbeitnehmer verschärft. Aber dass Ihre Politik an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeigeht, wundert einen
schon nicht mehr; denn als Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Oppermann gefragt wurde, wo denn die
zweite Wohnzimmerrede von Herrn Steinbrück stattfinde, hat er spontan festgestellt, dass dieser Bürger natürlich kein Sozialdemokrat, sondern ein Mann aus dem
Leben sein werde. - Herzlichen Glückwunsch, Sie haben
den Unterschied verstanden.
({18})
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Werter Genosse und Kollege - nein, Genosse ist
falsch: Werter Kollege Wissing,
({0})
wir haben völlig unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit; das haben Sie eben noch einmal ausgesprochen deutlich gemacht. Sie sagen: Wenn es Maßnahmen
gibt, die dazu beitragen, das Steueraufkommen zu erhöhen, wenn es Maßnahmen gibt, die dazu beitragen, die
Beschäftigung zu erhöhen, dann sei das der einzige
Maßstab.
Das ist falsch. Wir müssen uns nur anschauen, was
Sie mit Ihrer Politik verursacht haben. In dem Entwurf
Ihres eigenen Armuts- und Reichtumsberichts stand zunächst - Sie haben das später herauskorrigiert -, dass die
Schere zwischen Arm und Reich in diesem Lande dramatisch auseinandergeht, dass es auf der einen Seite eine
Konzentration von Vermögen in den Händen weniger
gibt und auf der anderen Seite eine große Zahl von armen Menschen, die ihr Leben nicht so gestalten können,
wie sie es gerne möchten. Insofern kommt es schon darauf an, dass wir nicht nur auf die wirtschaftliche Entwicklung schauen, sondern eben auch darauf, wie es um
die Steuergerechtigkeit bestellt ist.
Die SPD hat ihr Konzept vorgelegt - der Kollege Poß
hat davon gesprochen -, und die Regierung ist tief getroffen von diesem Konzept. Ich kann das nicht in Gänze
teilen.
Wir wissen, am Sonntag wird in Niedersachsen gewählt. Darum ist vieles von dem, was hier gesprochen
wird, auch unter diesem Aspekt zu sehen. Im Herbst
steht dann die Frage an, ob Rot-Grün künftig die politischen Maßstäbe setzen kann oder ob es weiter einen desaströsen schwarz-gelben Kurs geben soll. Deshalb wird
es nötig sein, dass wir nicht nur einen kurzen Blick zurückwerfen, sondern uns einmal die gesamte Entwicklung angucken, die wir hier in den letzten Jahren erlebt
haben.
Gucken wir uns aber auch Ihre Steuerpolitik an, liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD. Vor vielen Jahren
- vielen Menschen ist das aber noch ganz präsent - hat
die Agenda 2010 dazu beigetragen, dass Grundannahmen einer demokratischen, solidarischen Gesellschaft in
Deutschland aufgehoben worden sind.
Sie wollten mit Ihrer Steuerpolitik beispielsweise
dazu beitragen, dass die Bundesrepublik Deutschland
hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung im Vergleich zu anderen Ländern das am besten für den gnadenlosen Wettbewerb aufgestellte Land ist. Sie haben
den Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Sie haben den Körperschaftsteuersatz von 40 Prozent zunächst auf 25 Prozent und später auf 15 Prozent
gesenkt. Sie haben eine Niedriglohnpolitik betrieben, Sie
haben Minijobs und Leiharbeit befördert, und Sie haben
zu insgesamt - ich addiere die Zahlen von 1999 bis zum
Jahr 2013 - 490 Milliarden Euro an Steuermindereinnahmen beigetragen. Innerhalb eines Zeitraums von
14 Jahren haben Sie Steuermindereinnahmen von fast
500 Milliarden Euro zu verantworten, die für staatliche
Ausgaben zur Verfügung stehen könnten.
Das soll mit dem Kanzlerkandidaten Steinbrück wieder anders werden. Er kennt sich ja aus, war er doch
auch maßgeblich an dieser Politik beteiligt.
Sie sagen jetzt, die Schieflage in der Gesellschaft
solle beseitigt und die große Kluft zwischen Arm und
Reich wieder geschlossen werden. Na ja, ein bisschen jedenfalls; denn die steuerpolitischen Vorschläge der SPD
werden nicht dazu beitragen, dass die grundlegenden
Fehler der vergangenen Jahre korrigiert werden.
Wir als Linke haben uns die realen Auswirkungen
dieser Steuersenkungspolitik und in diesem Zusammenhang auch die Einnahmeverluste für Niedersachsen
angeschaut. In einem Gutachten wird festgestellt, dass
diesem Land jedes Jahr 2 Milliarden Euro an Steuereinnahmen fehlen, mit denen eine vernünftige, soziale Politik gemacht werden könnte. Den Kommunen fehlt
zusätzlich 1 Milliarde Euro, mit der die hier vielfach besprochenen Maßnahmen für die Bildung der Kinder und
für bessere Chancen der Kleinsten und Schwächsten unserer Gesellschaft bezahlt werden könnten.
Wir legen dagegen Vorschläge vor, mit denen den
Ländern wirksam geholfen werden könnte. Unsere Vorschläge würden dazu beitragen, dass dem Land Niedersachsen pro Jahr 3,6 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stehen. Wir fordern auf der Bundesebene eine
Finanzpolizei, die in der Lage ist, Steuerhinterziehung,
Subventionsbetrug und auch Geldwäsche wirklich wirksam zu verhindern.
Ja, wir wollen die Erhöhung des Spitzensteuersatzes,
weil die Starken der Gesellschaft für die Schwachen der
Gesellschaft eintreten müssen. Wir fordern eine Vermögensteuer, die den Namen verdient und auch rechtskonform ist. Wir wollen dafür sorgen, dass die Schwächeren
in dieser Gesellschaft wirklich in der Lage sind, ein ver26818
nünftiges Leben zu führen. Dazu gehören insbesondere
die Kinder, die eine gute Bildung, gute Lehrkräfte und
auch gute Schulen brauchen.
Das geht nur, wenn wir eine Finanzpolitik machen,
die auch die Kommunen stärkt und dazu führt, dass diese
Bildungseinrichtungen finanziert werden können.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Kerstin Andreae für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Aktuellen Stunden, die die Koalition beantragt, sind
manchmal auch dazu da, andere Aktuelle Stunden zu
verdrängen. Ehrlich gesagt: Bei der Showdebatte, die
wir hier gerade führen, habe ich den Eindruck, dass Sie
irgendetwas gesucht haben, über das wir heute reden
können, damit an diesem Donnerstag auch ja alles Ihren
Vorstellungen entspricht.
({0})
Deswegen reden wir jetzt eben zum vielfachen Male
über Steuerpolitik und sind Teil der von Ihrer Seite initiierten Show.
Sie sagen, die Steuereinnahmen reichen aus. Deshalb
würde mich einmal interessieren: Wo bleibt eigentlich
die steuerliche Forschungsförderung, von der Sie sagen,
dass Sie sie nicht bezahlen können? Dann würde mich
einmal interessieren, warum Sie den Rechtsanspruch für
Kinderbetreuung nicht umsetzen können. - Weil Sie es
nicht bezahlen können.
({1})
Dann würde mich einmal interessieren, warum die Kommunen 48 Milliarden Euro Kassenkredite aufgenommen
haben, um das laufende Geschäft zu finanzieren.
({2})
Dann würde mich einmal interessieren, wie Sie den Investitionsstau in den Griff bekommen wollen.
({3})
Schließlich würde mich interessieren, warum Sie zwischen 2009 und 2013 100 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen haben, wenn Sie sagen, die Steuereinnahmen reichten aus. Nein, anscheinend reichten sie
nicht.
({4})
- Oh, aber wir stellen uns dem.
({5})
Deswegen - und da können wir wirklich in eine ernsthafte Debatte kommen - glaube auch ich, dass jede Steuererhöhung hinterfragt und auch gut begründet werden
muss. Steuererhöhungen sind nicht dazu da, damit wir
alles machen können. Wir dürfen nicht sagen, wir drehen
einfach einmal die Schraube, damit wir mehr Mittel haben.
({6})
Deswegen steht vor theoretischen Steuererhöhungen:
Erstens. Unsinnige Ausgaben wie Hotelsteuer, Betreuungsgeld müssen weg; das sind Sachen, die uns jedes
Jahr Milliarden Euro kosten.
({7})
Zweitens. Subventionen müssen abgebaut werden. Gehen Sie doch endlich einmal an die ökologisch schädlichen Subventionen. Dann täten Sie ja noch etwas für die
Umwelt. Erst dann geht es um die Frage: Welche Einnahmen kann und soll man verbessern? - Da sind zwei
Sachen zu berücksichtigen.
Der eine Punkt ist gerechte Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit. Die Vorrednerin - nein, es waren ja
nur Männer; nach mir sind es auch nur Männer -, also
die Vorredner haben klar gesagt: Wir haben ein ungerechtes Steuersystem. Die hohen Einkommen werden,
relativ gesehen, weniger belastet als die niedrigen Einkommen.
({8})
Deswegen muss man bei den Themen Einkommensteuer
und Spitzensteuer noch einmal genau schauen.
({9})
Liebe Union - bei der FDP brauche ich es nicht zu sagen -, ich würde den Mund nicht so voll nehmen. Ich
sage Ihnen: Es ist ganz egal, wer nach 2013 regiert.
({10})
Ich bin mir ganz sicher, es wird nach 2013 eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes geben, auch unter Ihnen
- also Vorsicht bei dem, was Sie hier versprechen, Vorsicht! -, weil die Mittel nicht ausreichen
({11})
und weil Sie Infrastruktur nicht mehr finanzieren können.
({12})
Der zweite Punkt. Man muss an den Mittelstand denken.
({13})
Es ist absolut richtig: Personengesellschaften zahlen
Einkommensteuer, und deswegen spielt jede Frage der
Einkommensteuer auch immer bei den Personengesellschaften eine Rolle.
({14})
Da geht es um die Frage: Was ist mit einbehaltenen Gewinnen? Kriege ich attraktivere Gestaltungsmöglichkeiten bei Thesaurierung hin? Habe ich das im Blick? Ist
mir das klar? Und wie ist es mit der Substanzbesteuerung? Das grüne Konzept der Vermögensabgabe
({15})
- dann lesen Sie es halt einmal durch! - ist ein Konzept,
das ganz klar Substanzbesteuerung ausschließt.
({16})
Diese Vermögensabgabe fällt nämlich nur an, wenn auch
Ertrag fließt.
({17})
- Ja, das ist ein großer Unterschied. Das müssten Sie
sich vielleicht einmal anschauen.
Sie werden um die Frage des Schuldenabbaus - darüber habe ich heute Morgen länger geredet - nicht herumkommen. Sie schlagen kein Konzept vor, wie wir die
Schulden abbauen; wir schlagen ein Konzept vor. Wenn
Sie etwas anderes auf den Tisch legen, können wir ja darüber reden. Das Problem ist nur, dass Sie nichts auf den
Tisch legen, wir aber mit der Vermögensabgabe ein Konzept haben.
Jetzt noch die Erbschaftsteuer. Natürlich werden wir
an die Erbschaftsteuer heran müssen, allein schon deswegen, weil der Bundesfinanzhof sagt: Sie ist verfassungswidrig.
({18})
Wir werden uns über die Frage, wie die Erbschaftsteuer
in Zukunft aussieht, Gedanken machen, und ein ganz
großer Punkt dabei ist die Gerechtigkeitsfrage. Wenn
nun einmal 1 Prozent aller Erben 25 Prozent des gesamten Vermögens erbt, dann ist das zumindest einmal eine
Schieflage, über die man nachdenken kann. Meistens
sind es dann auch noch Kinder, deren Eltern die Möglichkeit hatten, ihnen gute Chancen zu ermöglichen, bei
denen Startchancen gegeben waren, bei denen Bildungsmöglichkeiten gegeben waren. Gleichzeitig sagen alle:
Wir wollen Startchancen für alle,
({19})
wir wollen höhere Gerechtigkeit, wir wollen Durchlässigkeit im System, wir wollen, dass Bildung unabhängig
vom Geldbeutel der Eltern wird.
Vor diesem Hintergrund werden Sie die Frage thematisieren müssen: Ist es sinnvoll, die Erbschaftsteuer zu
erhöhen und mit diesen Mitteln zum Beispiel Bildungsausgaben zu finanzieren? Wir sagen: Ja, das ist sinnvoll.
Wir brauchen mehr Mittel für die Bildung. Das Kapital,
das wir in Deutschland haben, ist Wissen und Bildung.
Das ist unterfinanziert. Hier bedarf es mehr Mittel, und
deswegen die Erbschaftsteuer.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in Deutschland im abgeschlossenen Jahr seit langer Zeit wieder einen vollständig ausgeglichenen Staatshaushalt.
({0})
Mitten in der europäischen Schuldenkrise ist es unter der
Führung von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble gelungen, dass die Kassen von Bund, Kommunen, Ländern
und Sozialversicherungen zusammengerechnet ohne Defizit auskommen. Wir haben im abgelaufenen Jahr Rekordsteuereinnahmen von über 600 Milliarden Euro. In
dieser Situation fällt Rot-Grün - den Linken sowieso nichts anderes ein, als nach weiteren Steuererhöhungen
zu rufen.
({1})
Schauen wir uns die einzelnen Punkte einmal an. Sie
sprechen von einer Erhöhung der Einkommensteuer um
7 Prozentpunkte. Sie sagen, es gehe nur um den Spitzensteuersatz, Sie wollten damit nur die Reichen treffen.
Aber Sie führen damit die Menschen hinter die Fichte.
Wir haben in Deutschland nämlich einen linear-progressiven Tarif. Wir haben einen Eingangssteuersatz und einen Spitzensteuersatz. Dazwischen steigt die Kurve zu
Recht mit steigenden Einkommen an. Wenn aber nun der
Spitzensteuersatz erhöht wird, dann steigt die ganze
Kurve viel steiler an.
({2})
Es bildet sich ein Delta, das dazu führt, dass Sie gerade
auch die mittleren Einkommen, die Facharbeiter, belasten und nicht nur die Reichen, wie Sie vorgeben.
({3})
Nicht genug also, dass Sie mit der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat den hart arbeitenden Menschen in diesem Land eine Entlastung bei der kaltem Progression
versagen, nicht genug, dass Sie die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in diesem Land, gerade mit mittleren
und niedrigen Einkommen, voll in die heimliche Steuererhöhung der kalten Progression laufen lassen: Nein, das
ist nicht genug. Sie bringen es mit Ihren Steuerplänen
- Erhöhung der Einkommensteuer, Wegfall des Ehegattensplittings - sogar fertig, aus dem Mittelstand, den
Facharbeitern, zusätzlich 28 Milliarden Euro herauszupressen.
({4})
Rot-Grün hat in seiner Regierungszeit zu Recht die
Einkommensteuer reformiert. Sie haben den Spitzensteuersatz dem internationalen Niveau angepasst.
({5})
Sie haben das damals richtig begründet; ich zitiere Ihre
Begründung. Sie haben das damals zur Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gemacht. Sie haben das zur Förderung von Wachstum und
Beschäftigung gemacht. Sie haben das für mehr Steuergerechtigkeit, mehr Transparenz und Planungssicherheit
gemacht.
({6})
Sie haben das als Steuerentlastung für Arbeitnehmer, Familien und Unternehmen gemacht. Das war Ihre Begründung für Ihre Einkommensteuerreform.
({7})
All das gilt jetzt nicht mehr. Jetzt geht es Ihnen nur noch
darum, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Das
machen wir nicht mit.
({8})
Sie behaupten, Sie wollten die Reichen schröpfen, aber
Sie treffen mit Ihren Maßnahmen vor allem den Mittelstand und vor allem die Arbeitnehmer.
Das Perfide an der ganzen Geschichte ist: Gleichzeitig blockieren Sie im Bundesrat Maßnahmen, die zu
mehr Steuergerechtigkeit führen. Sie stellen ein Konzept
gegen Steuerhinterziehung vor und sorgen gleichzeitig
dafür, dass eine wirksame Verfolgung von Steuerflüchtlingen nicht möglich ist.
({9})
Wenn Sie Ihre Vorschläge ernst meinen würden, dann
hätten wir in diesem Land seit zwei Wochen eine Regelung mit der Schweiz, nach der keiner mehr aus
Deutschland sein Geld illegal in die Schweiz bringen
könnte.
({10})
Aber Sie blockieren das genauso wie das Jahressteuergesetz.
Wir wollten mit dem Jahressteuergesetz das sogenannte Goldfinger-Steuersparmodell austrocknen, ein
Steuersparmodell, mit dem vor allem Spitzenverdiener
ihre Steuerlast senken können. Was macht Rot-Grün im
Bundesrat? Dreimal dürfen Sie raten: Blockieren, blockieren, blockieren!
({11})
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Verhinderungspolitik frage ich Sie: Wer soll Ihnen da den von
Ihnen angekündigten Kampf gegen Steuerhinterzieher
abnehmen? Sie von der Opposition, insbesondere von
der SPD, sind mit diesen Ankündigungen genauso unglaubwürdig wie Ihr Kanzlerkandidat, der bis heute
nicht verstanden hat, dass es in der Politik nicht ums
Verdienen geht, sondern ums Dienen.
({12})
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Der Kollege Dr. Carsten Sieling hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich in dieser Aktuellen Stunde erst einmal
bei der Koalition bedanken,
({0})
nämlich dafür, dass Sie uns die Gelegenheit geben - das
Thema sagt es schon deutlich -, Ihnen die Steuerbeschlüsse der SPD im Deutschen Bundestag zu erläutern
und nahezubringen.
({1})
Das ist umso notwendiger nach dem, was wir bisher gehört haben, nach dem Durcheinander, das Sie produzieren, und nach all dem Sand, den Sie uns in die Augen
streuen.
({2})
Ich will erstens sagen, dass man vor den Notwendigkeiten, die wir in Deutschland haben, nicht die Augen
verschließen darf. Natürlich nimmt jeder zur Kenntnis,
dass es Anstrengungen gibt, den Schuldenabbau voranzubringen. Aber bei der hohen Neuverschuldung und
den Verschuldungsgraden, die wir haben, muss man
deutlich sagen: Die öffentlichen Haushalte müssen gestärkt werden, damit das Ziel des Schuldenabbaus erreicht wird. Das ist der Wille der SPD.
({3})
Zweiter Punkt: Die Situation im Bildungssektor und
in der Kinderbetreuung ist frappierend. Wir wissen, dass
wir da mehr machen müssen. Dafür möchten wir Geld in
den Kassen haben, um diese gute Politik auch umsetzen
zu können.
({4})
Das Dritte ist die Tatsache, dass wir ein Problem mit
der Infrastruktur in Deutschland haben. Gerade in dieser
Woche ist ein Bericht der OECD erschienen - das ist in
der deutschen Presse nachzulesen -, wonach Deutschland bei den Straßeninvestitionen 134 Euro pro Jahr und
Einwohner ausgibt - vorletzte Stelle. Schlimmer noch
im Bereich des Schienenverkehrs: letzte Stelle mit
53 Euro pro Einwohner und Jahr.
Meine Damen und Herren, es gibt einen Bedarf, etwas dafür zu tun, dass unser Land zukunftsfähig ist. Deshalb schlagen wir unsere steuerpolitischen Maßnahmen
vor.
({5})
Jetzt komme ich zu den Maßnahmen. Ich fange mit
der Spitzensteuer an, weil hier Unsinn erzählt worden
ist. Ich nutze das Handelsblatt, um deutlich zu machen,
was wir wollen. Das Handelsblatt stellt sehr deutlich
dar, was die SPD-Vorschläge bedeuten. Sie bedeuten
nämlich, dass der Anstieg des Spitzensteuersatzes erst
bei einem Jahreseinkommen von 64 000 Euro einsetzt.
Darunter wird - ich glaube, das hat Herr Kollege Gutting
angesprochen - die Kurve gar nicht verändert.
Bevor ich es Ihnen in Zahlen erläutere, will ich eine
Zahl vorwegschicken. Das Durchschnittseinkommen der
Deutschen liegt bei 2 700 Euro im Monat.
({6})
Ich hoffe, die Kollegen von CDU/CSU und FDP können
sich überhaupt vorstellen, wie man davon lebt. 50 Prozent haben nicht mehr als 2 700 Euro.
Die Umsetzung der SPD-Vorschläge würde bedeuten,
dass eine Mehrbelastung von Alleinstehenden bei einem
Einkommen ab 7 000 Euro im Monat beginnt. Für diese
wird es laut Handelsblatt-Berechnung, die auch unseren
Zahlen entspricht, eine Belastung von 12,48 Euro geben.
Das steigt dann. Wer 50 000 Euro im Monat hat, der
wird allerdings mit 2 300 Euro mehr belastet. Das ist
auch richtig und gerecht. Diese Personen können das
aufbringen.
({7})
Bei Verheirateten und Familien - damit auch das klar
ist - gibt es bei einem Einkommen von 7 000 Euro natürlich keine Mehrbelastung. Erst ab 13 000 Euro Einkommen einer Familie im Monat kommt es zu einer
Mehrbelastung.
({8})
Erst bei diesem Einkommen setzt Mehrbelastung ein.
Wenn bei einem Monatseinkommen von 15 000 Euro
50 Euro anfallen, dann wird das den Mittelstand nicht
kaputtmachen; wir können aber mehr Mittel für gute Bildung und die Anstrengungen einsetzen, die wir angehen
müssen.
({9})
Genauso ist es mit der Vermögensteuer. Auch das
muss man klar sagen. Die Verteilung in Deutschland
zeigt, wie es in der Spitze aussieht. Wir wissen, dass der
größte Teil des Gesamtvermögens von nur 1 Prozent der
Bürgerinnen und Bürger besessen wird. Das sind
800 000 Menschen, die ein Gesamtvermögen von 3 Billionen Euro haben. Da greifen wir in der Tat zu. Auch
das ist richtig. Das werden wir für Bildung in den Ländern einsetzen. Deshalb sind wir auch damit auf dem
richtigen Weg.
({10})
Jetzt kommt ein letztes Argument. Es heißt immer
wieder: Damit werdet ihr aber dazu beitragen, dass die
Wirtschaftsentwicklung nicht vorangeht.
({11})
Auch das ist ein großer Unsinn, Herr Kollege.
({12})
Zunehmende Ungleichheit schwächt Wirtschaftswachstum. Das ist kein sozialdemokratischer Programmsatz,
sondern das können Sie unter anderem in den Untersuchungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der OECD, nachlesen, die
ausdrücklich auch Deutschland ins Stammbuch schreibt:
„Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschaftskraft eines Landes“.
({13})
Unsere Politik wird die Infrastruktur stärken, wird die
unteren Einkommen stärken, wird die Konsumnachfrage
in Deutschland stärken, wird dafür sorgen, dass es den
Menschen bessergeht, und wird unsere Wachstumskräfte
voranbringen.
({14})
Lassen Sie mich noch ein letztes Wort sagen. Die Vorschläge, die ich hier mache, haben durchaus tagespolitische Relevanz. Der Oberbürgermeister Hannovers und
Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten Niedersachsens hat sehr deutlich angekündigt, dass wir nicht
bis September warten wollen. Er sagte im Wahlkampf
sehr deutlich: Wir werden mit unseren Vorschlägen zur
Erhöhung des Spitzensteuersatzes, zur Steuerbetrugsbekämpfung, zur Steuerkriminalitätsbekämpfung - es geht
nicht um Sozialneid, Kollege Michelbach - sofort in den
Bundesrat gehen. Wenn es am Sonntag in Niedersachsen
eine Mehrheit für Rot-Grün gibt, dann wird es in
Deutschland eine neue Politik geben. Dafür sollten wir
uns in der Tat einsetzen.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Sieling, das ist
ja eine wunderbare Ankündigung Ihres Kandidaten im
Rahmen des niedersächsischen Wahlkampfs. Daran sieht
man auch, dass Sie hier im Bundestag tatsächlich im
Wahlkampfmodus sind. Das haben Sie, die Opposition,
auch im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss gezeigt.
({0})
Die Steuerbetrugsbekämpfung ist aber auch nach der
Föderalismusreform immer noch Aufgabe der Bundesländer im Rahmen des Verwaltungsvollzuges. Deswegen
muss man nicht über den Bundesrat Initiativen starten,
sondern Steuerbetrugsbekämpfung muss in den Bundesländern durch die Steuerverwaltungen vorgenommen
werden.
({1})
Ich sehe momentan eigentlich keine Anzeichen dafür,
dass die Steuerverwaltungen den Steuerbetrug nicht ausreichend bekämpfen. Ich sehe eher Anhaltspunkte dafür,
dass der Steuerbetrug auf politischer Ebene leider Gottes
teilweise unterstützt wird. Zum Beispiel ist ein Abkommen wie das deutsch-schweizerische Abkommen aus
rein parteipolitischen Gründen abgelehnt worden, obwohl es wirklich das effektivste Instrument zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung gewesen wäre und gleichzeitig ein effektives Instrument für eine Verbesserung
der Steuerbasis und der Steuereinnahmen, insbesondere
der Bundesländer, dargestellt hätte. Deswegen erscheint
es mir völlig abwegig, dass gerade dieses Abkommen
von Ihnen, von der SPD, abgelehnt wurde.
({2})
Es ist immer sehr schön, wenn gesagt wird, wir benötigten höhere Steuereinnahmen. Dabei leben wir doch im
Jahr der höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland! Das gilt übrigens auch
für die Bundesländer. Trotzdem stellen Sie sich hier hin
und sagen, wir bräuchten höhere Steuereinnahmen, um
damit weitere Staatsausgaben zu finanzieren. Das Erstaunliche ist, dass insbesondere in den Bundesländern,
wo Sie von der SPD, wo Sie von den Grünen Verantwortung tragen, genau diese Aufgaben nicht zusätzlich finanziert werden. Vielmehr kürzen Sie im Verkehrsetat, im
Infrastrukturetat, im Bildungsetat. Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg hat als erste Amtshandlung
in ihrer Regierungsverantwortung 11 000 Lehrerstellen gestrichen. Das ist keine zukunftsfähige Bildungspolitik;
das ist bildungspolitischer Wahnsinn.
({3})
Ich kann ja nachvollziehen, dass Sie aufgrund Ihrer
ideologischen Denkrichtung fordern, dass der Staat immer mehr Aufgaben übernehmen soll, dass Sie sich hinstellen und zunächst sagen, was alles an weiteren Ausgaben erfolgen müsse, um dann zu begründen, warum die
Steuern erhöht werden müssten. Was Sie aber natürlich
völlig vergessen, sind die Kollateralschäden, die Sie anrichten werden, wenn Sie tatsächlich eine solche Steuerpolitik fahren.
Frau Kollegin Andreae, Sie haben gerade gesagt, die
Vermögensabgabe stelle keine Substanzbesteuerung dar,
weil sie nur greifen würde, wenn ein Ertrag erzielt
würde. Das ist eine sehr reizvolle, charmante Argumentation; aber sie ist falsch. Ähnlich falsch wäre es, zu sagen: Ich vergifte dich nur, wenn du mir dafür Geld gibst,
und wenn du mir dafür Geld gibst, dann ist es keine Vergiftung. - Das ist völlig abwegig.
({4})
Natürlich ist eine Vermögensabgabe eine Substanzbesteuerung. Dazu sollten Sie auch stehen. Ihre Idee der
Vermögensabgabe hat ja den meiner Meinung sogar verfassungswidrigen Aspekt, dass Sie das sogar rückwirkend machen wollen. Ich glaube, das werden Sie vor
dem deutschen Bundesverfassungsgericht gar nicht begründen können.
Aber abgesehen davon vergessen Sie, dass jede Form
der Substanzbesteuerung, zumindest bei betrieblichem
Vermögen, zwangsläufig Arbeitsplatzabbau nach sich
ziehen wird. Wenn Sie sagen, dass Sie eine VermögensDr. Daniel Volk
substanzbesteuerung auch auf betriebliches Vermögen
wollen ({5})
und es geht ja auch gar nicht anders, als dass eben auch
die betrieblichen Vermögen besteuert werden -, dann
müssen Sie auch die Verantwortung dafür tragen, dass
die Arbeitslosigkeit in Deutschland im Zweifel wieder
steigt.
Die christlich-liberale Koalition hat in ihrer Regierungsverantwortung seit 2009 genau den umgekehrten
Weg und auch den richtigen Weg eingeschlagen. Wir haben nämlich die Steuerbelastung zu Beginn der Legislaturperiode moderat gesenkt und haben damit erreicht,
dass Wirtschaftswachstum funktioniert bzw. die Wirtschaft stärker wächst, dass die Arbeitslosenquote deutlich sinkt, und zum Ende der Legislaturperiode haben
wir einen ausgeglichenen Gesamtstaatshaushalt. Das ist
die Bilanz einer vernünftigen Finanz-, Wirtschafts- und
Haushaltspolitik.
Das jedoch, was Sie vorschlagen, ist wirtschaftspolitischer, finanzpolitischer und haushaltspolitischer Wahnsinn.
({6})
Ich glaube, dass dann, wenn wir in der Wahlauseinandersetzung stehen werden, die Mehrheit der Bevölkerung
erkennen wird, was Sie tatsächlich vorhaben. Sie werden
deswegen im Wahlkampf nicht überzeugend auftreten
können.
({7})
Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Volk hat sich gerade darüber beschwert, dass der Kollege Sieling das gemacht hat, was Sie beantragt haben. Nun wollen wir
doch mal schauen, was auf der Tagesordnung steht. Da
geht es um eine Aktuelle Stunde zu den Steuerbeschlüssen der SPD. Er hat also seine Aufgabe exzellent gelöst.
({0})
Allerdings reflektiert Herr Volk ja mit seiner Aussage
auf etwas anderes, nämlich auf die falsch gewählte
Überschrift. Es geht ja heute eigentlich gar nicht um die
Überlegungen, die die SPD anstellt, sondern es geht darum, ob die Regierung, die seit drei Jahren im Amt ist,
ob die Koalition, die seit drei Jahren Politik in Deutschland macht, wirklich die richtige Politik gemacht hat.
({1})
Ich glaube, dass Sie, als Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben, vergessen haben, was Sie in den letzten drei
Jahren bewirkt haben.
Schauen wir mal: Herr Wissing hat gesagt, es gebe
eine geballte Ungerechtigkeit. Ich nenne ein paar Beispiele. 10 Prozent der Menschen verfügen über 50 Prozent der Vermögen, 50 Prozent der Menschen verfügen
über nur 4 Prozent der Vermögen. Es gibt Menschen, die
im Durchschnitt vielleicht 30 000 Euro im Jahr verdienen, was aus unserer Sicht natürlich wenig ist. Es gibt
Leute, die im Jahr 48 000 Euro verdienen; das finden wir
auch zu wenig. Bundestagsabgeordnete verdienen ungefähr das Doppelte; das ist sicherlich mehr als angemessen.
({2})
Aber es gibt auch Leute, die 48 000 Euro am Tag verdienen. Wenn man bei denen die Steuer ein bisschen anzieht, könnte es sein, dass wir damit Gerechtigkeit erreichen und diese eben nicht verletzen.
({3})
Deshalb hat Herr Wissing in gewisser Weise durchaus
recht. Es gibt, nachdem Sie drei Jahre an der Regierung
sind, eine geballte Ungerechtigkeit.
({4})
Das setzt sich aber noch fort. Schauen wir einmal,
was Sie in Richtung Abschaffung prekärer Beschäftigung erreicht haben. Das Ergebnis lautet in der Zusammenfassung: nichts. Sowohl im Teilzeitbereich als auch
im Leiharbeitsbereich, im Aufstockerbereich und ebenso
bei der Beschäftigungsförderung sieht man ein Versagen
der von Ihnen eingeführten Instrumente par excellence.
Auch beim Mindestlohn wurde nichts erreicht.
Hans Michelbach hat interessanterweise von der Hochsteuerpolitik von Rot-Grün gesprochen. Schauen wir einmal genauer hin. Wir haben damals - das stimmt - den
Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt; die Begründung dafür wurde vorhin schon gegeben. Wir haben
aber auch den Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent unter
Kohl auf 15 Prozent, heute sogar 14 Prozent gesenkt.
Dies wird gelegentlich vergessen zu sagen.
Herrn Behrens, der die Körperschaftsteuer ansprach,
möchte ich sagen: Es stimmt, die Körperschaftsteuer
wurde auf 15 Prozent gesenkt, allerdings definitiv. Das
ist ein völlig anderes Modell als früher. Früher war die
Körperschaftsteuer anrechnungsfähig, heute nicht. Es ist
also ein bisschen zu einfach, lapidar zu sagen: Ihr habt
den Unternehmen die Steuern gesenkt.
Schauen wir uns aber noch einmal die Arbeitsergebnisse dieser Koalition an. Sie haben den Kommunen
durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zunächst
1,6 Milliarden Euro weggenommen.
({5})
Bernd Scheelen, unser Kommunalpolitiker und Spezialist für diese Fragen, hat mich noch einmal darauf hingewiesen, dass selbst mit der Regelung zur Grundsiche26824
Lothar Binding ({6})
rung, die Sie heute feiern, diese Kürzung gegenüber den
Kommunen noch nicht einmal kompensiert wird. Das
heißt, im Ergebnis haben Sie die Kommunen geschröpft.
({7})
Um das Versagen der entsprechenden Arbeitsgruppe
zur Neuordnung der Mehrwertsteuer zu kaschieren, haben Sie die Hotelsteuer gesenkt. Das Thema darf hier
nicht fehlen; denn das ist wirklich ein echtes Arbeitsergebnis dieser Koalition. Leider sind die von Ihnen erhofften Investitionen nicht gekommen. Bei Kosten von
1 Milliarde Euro wurden nur 200 Millionen Euro investiert.
({8})
Hätten Sie die Milliarde den Kommunen gegeben, hätten
Sie Investitionen von 7 Milliarden Euro erreicht. - Ich
rede ein bisschen laut; das ist immer so, wenn ich mich
engagiere. Bei der Regierung muss man das manchmal
machen.
({9})
Im Ergebnis überlegen jetzt viele Kommunen, eine Bettensteuer einzuführen. Da sieht man einmal, welche Verteilungseffekte Ihre Politik da bewirkt hat.
Während wir unter Rot-Grün und auch noch unter der
Großen Koalition die Gewerbesteuer gestärkt haben, haben Sie in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie
abgeschafft werden soll. Gott sei Dank ist die dazugehörige Kommission gescheitert. Mit Blick auf die Drohungen aus dem Bundesrat, dass nämlich die Bemühungen,
die Gewerbesteuer abzuschaffen, scheitern würden, sind
Sie mit Ihrem Vorhaben gar nicht erst ans Tageslicht gegangen. Das ist ein kleiner Erfolg. Wir haben halt Ihre
Koalitionsvereinbarung nicht immer so ernst genommen, wie sie es vielleicht verdient hätte; aber Sie nehmen sie ja selber nicht einmal ernst. Insofern ist das
keine Referenzgröße.
Die Diskussion um das Bildungs- und Teilhabepaket
hat auch eine interessante Folge gehabt, nämlich dass
dank des Einsatzes der A-Länder im Vermittlungsausschuss die Kommunen dadurch entlastet wurden, dass
Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund
übernommen wurden. Das ist etwas, was Sie sich so ein
bisschen auf die Fahnen schreiben.
({10})
Blicken Sie einmal zurück und schauen Sie nach, welcher Debattenprozess im Bundesrat dazu geführt hat. Sie
können daran sehen, dass die Maßnahmen, die die SPD
in ihren Steuerbeschlüssen festgelegt hat, sehr gute Maßnahmen sind, um die vielen Mängel, die als Ergebnis Ihrer Politik feststellbar sind, in einer ordentlichen Weise
zu kompensieren und die Gesellschaft nach vorn zu bringen.
({11})
Das ist wirklich ein Zukunftsmodell. Das, was Sie konkret erreicht haben, ist eigentlich blamabel.
({12})
Christian von Stetten hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Allein schon die Debatte heute Morgen zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass diese Aktuelle Stunde jetzt nicht nur sinnvoll, sondern auch dringend notwendig ist. Es ist ja
abenteuerlich, was die Opposition schon heute Morgen
und auch jetzt in dieser Debatte zum Besten gegeben hat.
In einem ist sich die Opposition aber einig - das haben wir heute gemerkt -: Obwohl der Staat zurzeit die
höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat - das ist angesprochen worden -,
({0})
wollen Sie die Bürger zusätzlich mit einer irrwitzigen
Zahl von Steuern zur Kasse bitten. In der Debatte ist
auch deutlich geworden, wo Sie abkassieren wollen.
Herr Sieling, Sie haben uns mitgeteilt, dass die Erhöhung des Spitzensteuersatzes nicht nur, wie bisher in der
Öffentlichkeit vertreten, die Bürger mit einem Einkommen ab 100 000 Euro trifft. Sie haben an diesem Pult gerade vorgerechnet, dass es bereits die Bürger ab einem
Einkommen ab 64 000 Euro trifft.
({1})
Es sind doch die Mittelständler, die Freiberufler und die
Facharbeiter, die aufgrund ihrer guten Qualifikation voll
getroffen werden.
({2})
- Nein, das täuscht. Wenn Sie das bezweifeln, dann gehen Sie einmal nach Baden-Württemberg und schauen
sich an, was dort die Facharbeiter in der Automobilindustrie verdienen!
({3})
Ich würde übrigens auch Ihrem SPD-Kollegen
Wolfgang Thierse empfehlen, dass er sich, bevor er sich
unqualifiziert und unsachlich zur Volksgruppe der
Schwaben äußert, dort einmal umschaut.
({4})
Wenn er das täte, würde er sehen, wie durch Fleiß, Disziplin und Sparsamkeit Vermögen geschaffen wird. Vermögenswerte, die durch Konsumverzicht geschaffen
wurden,
({5})
wollen Sie von der Sozialdemokratie jetzt noch durch
eine Erbschaftsteuer belasten.
Sie sehen die Wiedererhebung der Vermögensteuer
und fast eine Verdopplung des Erbschaftsteueraufkommens vor. Sie wollen also nicht nur, was aus Ihrer Sicht
theoretisch verständlich wäre, eine Erhöhung der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer, sondern Sie
wollen auch die Substanzsteuern erhöhen, die selbst
dann fällig werden, wenn überhaupt kein Ertrag anfällt.
Das heißt, Sie wollen die Vermögensteuer auch dann ansetzen, wenn ein Vermieter eine Wohnung überhaupt
nicht nutzen kann, weil sie renoviert wird oder leer steht,
und keine Mieteinnahmen hat. Die Vermögensteuer, die
Sie planen, ist nicht nur weltfremd, sondern - das verstehe ich bei den Sozialdemokraten überhaupt nicht auch unsozial. Denn wer zahlt die Vermögensteuer,
wenn diese Wohnung vermietet ist? In der Regel sind
das die Mieter, weil der Vermieter wie bei der Grundsteuer versuchen wird, diese Mietnebenkosten auf den
Mieter umzulegen. Bei einer 1-prozentigen Vermögensteuer auf den Verkehrswert bedeutet das eine glatte
Erhöhung von 20 Prozent auf die jetzigen Mietkosten.
({6})
Wenn Sie die Erbschaftsteuer verdoppeln, so wird ein
vorsichtiger Vermieter das Geld, das fällig wird, wenn er
stirbt, für seine Nachkommen ansparen. Auch dies wird
er auf die Miete umlegen. Das bedeutet eine weitere
Mieterhöhung von 20 Prozent.
Wenn man das alles weiß, wird auch klar, warum Sie
plötzlich eine Debatte zur Begrenzung der Mietkosten
und der Mieterhöhungen fordern:
({7})
Sie wissen genau, dass, wenn Ihre Pläne umgesetzt
werden, die Mieter die Leidtragenden Ihrer Gesetzesvorhaben sind.
({8})
Die Mieter und die Familienbetriebe sind die Opfer
einer Steinbrück-Regierung. Die Familienbetriebe können und wollen den Standort Deutschland nicht verlassen, weil sie das Land unterstützen wollen und treu zu
ihren Mitarbeitern stehen. Fragen Sie die Belegschaften
in den Familienunternehmen einmal, wo sie lieber arbeiten: in einem Familienunternehmen, wo der Chef oder
Seniorchef täglich in die Firma kommt und sich um die
Belange des Unternehmens kümmert, oder in einem
vermögen- und erbschaftsteuerfreien anonymen Großbetrieb, von dem niemand weiß, wo der Inhaber wohnt,
ob im Ausland oder Inland; auf jeden Fall kennt ihn die
Belegschaft nicht persönlich.
Das ist die SPD-Logik, die heute in der Aktuellen
Stunde deutlich geworden ist: Derjenige, der sich zu
Deutschland bekennt und hier wohnt, zahlt in Zukunft
Ihre Substanzsteuern. Derjenige, der Deutschland verlässt, wird von der Steuer befreit. Das ist ein Wegzugprogramm. Die Bürger aus Niedersachsen müssen wissen, was auf sie zukommt, wenn die Opposition im
Bundesrat in Zukunft eine noch deutlichere Mehrheit
hat. Mancherorts ist das schon jetzt Realität. Sie brauchen nur über die Grenze nach Frankreich zu schauen.
Dort wird der Feldversuch, den Sie in Deutschland starten wollen, schon lange praktiziert.
({9})
Ihr sozialistischer Genosse, der französische Präsident,
sorgt durch seine Gesetzgebung dafür, dass in Frankreich keine Investitionen mehr getätigt werden. Sie können mit Ihren Kollegen aus Frankreich in der nächsten
Woche hier in diesem Parlament darüber reden, welche
katastrophalen Folgen diese sozialistische Gesetzgebung
und allein die Ankündigung in Frankreich haben. Wir
wollen das in Deutschland verhindern.
Herzlichen Dank.
({10})
Jetzt hat Franz Obermeier das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde, wir haben heute in der Aktuellen Stunde eine sehr
spannende Debatte. Ich möchte eingangs auf die Frage
eingehen, wie sich die christlich-liberale Koalition die
Staatsfinanzierung der Zukunft vorstellt. In Deutschland
wurden im Jahr 2010 insgesamt 530 Milliarden Euro
Steuern bezahlt. Im Jahr 2012 waren es schon über
600 Milliarden Euro. In der mittelfristigen Finanzplanung ist in Deutschland eine Steuersumme von deutlich über 700 Milliarden Euro enthalten. Alles, was wir
darüber hinaus an Gedankenspielen anstellen, ist in
hohem Maße unseriös.
Schaue ich mir das SPD-Programm an, finde ich - das
ist ein echter Querschuss ({0})
den Vorschlag einer Erhöhung der Kapitalertragsteuer
von 25 Prozent auf 32 Prozent. Wissen Sie, wen Sie
damit treffen? Sie treffen damit die breite Masse der
Leute, die sich anstrengen, etwas zu sparen. Sie treffen
beispielsweise diejenigen, die Bausparverträge haben,
({1})
diejenigen, die sich etwas für das Alter angespart haben.
Und wenn Sie für diejenigen mit einem Jahreseinkommen ab 64 000 Euro den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent erhöhen wollen, dann ist das ein Anschlag auf den
Mittelstand in Deutschland.
Als Wirtschaftspolitiker will ich jetzt einmal auf den
Mittelstand eingehen. Ich komme aus einer Region, in
der es sehr viele kleine und mittelständische, zugleich
sehr erfolgreiche Unternehmen gibt. Zumeist handelt es
sich um Personengesellschaften. Was glauben Sie, wie
die auf solche Vorschläge reagieren? Wir wissen doch
alle miteinander aus unseren eigenen Erfahrungen: Eine
erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist in erster Linie Vertrauenssache. Mit dem, was Sie in Ihren Beschlüssen
vorlegen, zerstören Sie das Vertrauen unserer Mittelständler.
Unsere Mittelständler werden bereits erheblich belastet. Sie haben allein dadurch enorme Lasten zu tragen,
dass sie sämtliche Umweltgesetzgebungen umsetzen
müssen und die gestiegenen Energiepreise kompensieren
müssen. Denn die Mittelständler haben in aller Regel
nicht den Vorteil der reduzierten Sätze bei den Stromkosten. Sie müssen die vollen Kosten tragen. Und dann
drohen Sie ihnen auch noch mit der Vermögensteuer.
Die Region, aus der ich komme, ist eine Hochpreisregion. Wenn Sie dort Betriebsschätzungen durchführen
ließen, würden Sie staunen, welche Beträge dabei herauskommen. Das liegt eben daran, dass die Preise so
hoch sind. Wenn Sie hier mit der Vermögensteuer kommen wollen, dann gratuliere ich Ihnen.
Das Gleiche gilt für die Erbschaftsteuer. Unsere Mittelständler stehen in aller Regel sowieso schon vor der
Frage, ob sich jemand aus der Familie findet, der den
Betrieb übernimmt. Wenn Sie jetzt mit einer Verdoppelung der Erbschaftsteuer daherkommen, dann gratuliere
ich Ihnen ebenfalls.
Lassen Sie mich etwas zu dem Vorschlag zur Mehrwertsteuer sagen. Wenn die Mehrwertsteuer sektoral verändert werden soll, dann ist die Allgemeinheit betroffen.
Bei den Verbrauchsgütern haben wir ohnehin schon die
Problematik, dass die Mehrkosten über die Strompreisentwicklung aufzufangen sind. Das ist ein echtes Problem.
Zum Thema „Agrardiesel“ müssen Sie sich auch
etwas einfallen lassen.
({2})
- Das sind Ihre Vorschläge, soweit ich sie kenne.
Das Gleiche gilt für die Kerosinbesteuerung. Hier gibt
es schon ein Riesenproblem mit der Luftverkehrswirtschaft, weil wir durch die Luftverkehrsabgabe enorm
abschöpfen. Gleichzeitig wollen wir aber, dass die Luftverkehrswirtschaft mit neuestem Fluggerät ausgestattet
wird, zumindest die Triebwerke lärmärmer und emissionsärmer gestaltet werden. Die Airlines sagen jedoch:
Wovon sollen wir das denn bezahlen, wenn wir schon
jetzt Hunderte von Millionen Euro an Luftverkehrsabgabe entrichten müssen? - Und Sie kommen jetzt
noch einmal mit der Kerosinsteuer daher.
Das, was Sie hier betreiben, wird den gleichen Effekt
haben, wie es ihn schon in den sieben Jahren Rot-Grün
gab: Sie werden den Mittelstand entmutigen.
({3})
Der Bürger in Deutschland wird so schlau sein, im
Herbst dieses Jahres dem Spuk ein Ende zu machen.
Danke schön.
({4})
Jetzt hat der Kollege Norbert Schindler das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ich sage jetzt schönen guten Nachmittag, weil ich
mich beim letzten Mal vertan habe. Liebe Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf den Tribünen! Meine Damen und
Herren hier im Plenum! Es war nötig, vor der Wahl in
Niedersachsen am kommenden Sonntag darauf hinzuweisen - das war ja auch der aktuelle Anlass -, was
die Braunschweiger Erklärung der SPD, angeführt vom
Kanzlerkandidaten Herrn Steinbrück, in der Konsequenz
bedeutet.
Zu einigen Thesen, die heute aufgestellt wurden,
möchte ich kurz Stellung nehmen.
Vorhin wurde der Armutsbericht erwähnt, der vor einigen Wochen auf unserer Tagesordnung stand.
({0})
Ich möchte darum bitten, den Armutsbericht in Zukunft
auf die europäische Ebene zu stellen. Dann würde man
sehen, dass es uns in Deutschland im europäischen und
internationalen Vergleich gut geht.
({1})
Es geht uns gut.
({2})
Wenn man derzeit die Umfragen liest - die Zustimmung tut uns von der Koalition gut -, dann erkennt man:
Ihr habt da ein besonderes Problem. Warum hat die SPD,
warum haben Rot und Grün insgesamt da ein Problem?
Weil der Kanzlerkandidat nicht mehr authentisch ist.
Wenn man den Spitzenkandidaten der SPD derzeit hört
und ihn in den letzten Wochen erlebt hat, dann stellt man
fest: Nachdem er als Finanzminister eigentlich die richtigen Thesen vertreten hat, muss er jetzt nach seiner
Bochumer Erklärung die Kurve kriegen; er driftet deutNorbert Schindler
lich nach links. Man glaubt, man könne durch Neiddebatten an Zustimmung gewinnen; aber das findet Gott
sei Dank nicht statt. Die Bürgerinnen und Bürger, die
Wählerinnen und Wähler sind klüger, als manche Parteistrategen glauben.
({3})
Lieber Lothar Binding, du hast vorhin angeführt, dass
jemand 48 000 Euro am Tag verdient.
({4})
Es gibt Leute in dieser Republik, die verdienen mit zwei
Vorträgen an einem Tag 50 000 Euro.
({5})
Von Neiddebatten zu reden, ist ja derzeit eure vornehme
Aufgabe.
({6})
Meine Damen und Herren, schauen wir es uns an: Ihr
wollt das Ehegattensplitting abschaffen und die Kapitalertragsteuer erhöhen. Steinbrück sagte vor gut fünf Jahren: Mir ist es lieber, dass 25 Prozent Kapitalertragsteuer
hier, am Wirtschaftsstandort Deutschland, gezahlt werden; dann bleibt das Geld hier, und das tut der Wirtschaft
gut. - Jetzt kommt der gleiche Mann und sagt: Wir brauchen eine Steuer auf Kapitalerträge von durchschnittlich
32 Prozent. - Er will also einleiten, dass sich der Wirtschaftsstandort in unserem Staatsgebiet verflüchtigt, und
das wird von Ihnen, meine Damen und Herren, auch
noch bejubelt.
({7})
Ich denke an das Steuerabkommen mit der Schweiz.
Wir haben da 10 Milliarden Euro weggeschmissen.
({8})
Wir hatten da in Bezug auf Steuerehrlichkeit auch im
Vergleich zu England und den USA einen guten Kompromiss mit den Schweizern erreicht - die Schweiz ist
immerhin ein souveräner Staat -, der vor zehn Jahren
unter Hans Eichel unvorstellbar gewesen wäre. Welche
Amnestien hatte er den Schweizern angeboten? Wenn
man vergleicht, was Wolfgang Schäuble bei den Verhandlungen im Ergebnis erreicht hat und was Hans
Eichel damals der Schweiz angeboten hat, dann erkennt
man: Es ist eine politische Bankrotterklärung, wie ihr
euch derzeit verhaltet.
({9})
Ihr wollt, dass die Erbschaftsteuer angehoben wird.
Frau Andreae, Sie haben in diesem Zusammenhang die
mangelnde Gerechtigkeit beklagt. Ich sage Ihnen: Wenn
es einmal ganz gerecht zugeht, haben Sie und ich schon
lange keine Zahnschmerzen mehr. Der Bundesrat hat
seinerzeit einer Senkung der Erbschaftsteuer zugestimmt, weil man zu der Überzeugung gekommen ist,
dass man nur den Ertrag eines mittelständischen Leistungsträgers, der eine Firma übernommen hat, besteuern
solle, aber nicht so sehr in die Substanz gehen solle.
Denn es bestand nun einmal die Sorge: Wer übernimmt
bei der hohen Steuerbelastung, die sich aus einer Berücksichtigung des Verkehrswerts bei der Besteuerung
ergäbe, die mittelständischen Unternehmen?
Beim Thema Vermögensteuer möchte ich zur geschichtlichen Aufklärung beitragen. Herr Kollege Poß
- er ist leider nicht mehr da, aber es wird ihm sicher mitgeteilt - hat vorhin gesagt, bei Helmut Kohl habe es eine
Steuerbelastung in Höhe von 53 Prozent gegeben.
Insgesamt war es so: Wir brauchten die Mittel für die
Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung. Wir haben die Steuererhöhung damals mit Stolz beschlossen,
und wir haben sie mit Stolz vertreten. Später konnte man
Steuerentlastungen vornehmen. Gerhard Schröder war
damals klug genug - er wurde auch von der Union im
Bundesrat getrieben -, dafür zu sorgen, dass der Steuerstandort Deutschland international wieder attraktiv wird.
Diesen erfolgreichen Weg wollen Sie jetzt mit Ihren Vorschlägen verlassen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Thema
Vermögensteuer. Sie wollen da für einen bürokratischen
Wust sorgen. Wir, die Union, haben die Vermögensteuer
1997 abgeschafft, verbunden mit dem Hinweis, dass
allein 50 Prozent des Ertrags aus dieser Substanzsteuer
in die Verwaltung flossen. Und wenn man die Vermögensteuer jetzt wieder neu aufzöge, dann ergäben sich
wieder ähnliche Problemlagen wie damals bei der Familie Engelhorn; Rot-Grün hatte damals damit zu kämpfen.
Diese Familie hatte eine Holding auf den Bermudas oder
in der Karibik, die den Erlös von 10 Milliarden aus dem
Verkauf einer Firma in Mannheim verwaltete; ich will
jetzt nicht den Namen nennen. In der Konsequenz war
bei den Superreichen, die nicht bereit waren, die Spitzensteuern in Deutschland zu zahlen, eine Vermögensverlagerung, eine Kapitalflucht angesagt, wie man sie
derzeit in Frankreich erlebt. Das wollen Sie wieder.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Liebe Freunde von der Opposition, schön, dass Sie
diese Erklärung abgegeben haben. Die erste Abrechnung
findet am kommenden Sonntag statt.
Herr Kollege!
({0})
Sie sind nicht fähig, diesen Staat wirtschafts- und ertragsorientiert zu führen. Deswegen wird Ihnen auch
nicht die Verantwortung übertragen.
Danke schön.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Schummer, Albert Rupprecht ({1}),
Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Dr. Martin
Neumann ({2}), Sylvia Canel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das deutsche Berufsbildungssystem - Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel
- zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Perspektiven für 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss schaffen - Ausbildung für alle garantieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Mit DualPlus mehr Jugendlichen und Betrieben die Teilnahme an der dualen Ausbildung ermöglichen
- Drucksachen 17/10986, 17/10116, 17/10856,
17/9586, 17/12089 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Heiner Kamp
Kai Gehring
Hierüber soll eine Stunde debattiert werden. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Als erster Rednerin gebe ich der Bundesministerin
Dr. Annette Schavan das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Sicherung der Zukunftschancen der jungen Generation gehört zu den vornehmsten Aufgaben einer Gesellschaft und der Politik.
Wir erfahren es immer deutlicher: Einen wesentlichen
Beitrag zu diesen Zukunftschancen der jungen Generation leisten die berufliche Bildung, die duale Ausbildung,
die Kooperation der Lernorte, die Unternehmen und die
Schule. Deshalb gehört an den Beginn jeder Rede zur
beruflichen Bildung der Dank an die vielen, die in unseren Unternehmen ausbilden, sowie der Appell, dass wir
diese Erfolgsgeschichte der Ausbildung in Deutschland
fortschreiben.
({0})
Im Oktober haben wir hier schon einmal darüber diskutiert. Dabei ist auch die ganze Palette der Einzelfragen
debattiert worden. Wir haben gute Zahlen: Die Zahl der
abgeschlossenen Ausbildungsverträge liegt bei 551 271.
Die Zahl junger Leute im Übergangssystem ist seit dem
Jahr 2005 um 30 Prozent zurückgegangen. Bei der Benachteiligtenförderung sind wir erfolgreich; die Bildungsketten finden eine große Akzeptanz. Das zeigt,
dass wir uns um Jugendliche, die sich schwertun, zu einem frühen Zeitpunkt kümmern, sie begleiten und Sorge
dafür tragen, dass sie in eine Ausbildung kommen. Außerdem haben wir eine Reduzierung der Zahl derjenigen
zu verzeichnen, die keinen Schulabschluss haben.
Wir wissen - Herr Brase hat es damals schon gesagt -, dass gute Zahlen viele Gründe haben. Dazu gehört die Demografie. Dazu gehört aber auch kluge Politik, meine Damen und Herren. Was ist also bisher
erreicht worden? Was liegt noch vor uns? Was wollen
wir bewältigen?
Erreicht worden ist in allen Bereichen und in allen
Regionen Deutschlands eine deutliche Verbesserung der
Situation von jungen Leuten und deren Chancen.
Die Einstellung hat sich sowohl international als auch
in Europa geändert. Die Zeiten sind vorbei, in denen der
Eindruck erweckt werden konnte, dass der Prozentsatz
derer, die einen Hochschulabschluss erreicht haben, über
die Leistungsfähigkeit eines Bildungssystems entscheidet. Wir wissen heute: Die Leistungsfähigkeit eines
Bildungssystems ist ganz wesentlich abhängig von der
Korrespondenz zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem. Deshalb ist die Internationalisierung der beruflichen Bildung voll im Gang. Das ist ebenfalls ein großer
Erfolg, auch mit Blick auf die Veränderung der Mentalität.
({1})
Was wird wichtig? Woran arbeiten wir? Ziel ist die
Europäisierung. Im Dezember hat hier eine Konferenz
unter Beteiligung von sechs europäischen Ländern stattgefunden. Wir brauchen das EU-Starter-Programm. Wir
brauchen eine Strategie aller Länder, um den 7,5 Millionen Jugendlichen im Alter von bis zu 25 Jahren in Europa eine Chance auf einen Einstieg in Qualifizierung
und in Ausbildung zu geben. Viele Ausbildungsplätze
sind in Deutschland zur Verfügung gestellt worden. Das
ist aber nur ein kleiner Teil. Der größere Teil ist in den
entsprechenden Ländern zur Verfügung gestellt worden.
Es gilt für südeuropäische Länder ebenso wie für
Länder im Norden Europas wie Dänemark, Voraussetzungen zu schaffen, um diesen Teil eines leistungsfähigen, modernen Bildungssystems aufzubauen. Die Europäisierung der beruflichen Bildung wird uns in den
nächsten Monaten - und ich behaupte, auch in den
nächsten Jahren - noch stark beschäftigen.
Zweiter Punkt. Ich habe von dem 30-prozentigen
Rückgang der Zahl junger Leute im Übergangssystem
gesprochen. Unser Ziel muss sein, in den nächsten zwei,
drei Jahren das Übergangssystem auf null zu bringen,
das heißt, eine wirkliche Korrespondenz zu gewährleisten: Schulabschluss und dann Einstieg in die duale Ausbildung.
({2})
Drittens. Wir wollen erreichen, dass die guten Erfahrungen mit den Bildungsketten dazu führen, dass überall,
flächendeckend, entsprechende Angebote gemacht werden. Die Initiative hat jetzt 450 000 Jugendliche erreicht.
18 000 Jugendliche werden durch Berufseinstiegsbegleiter eng betreut. Schon der Titel „Berufseinstiegsbegleiter“ macht deutlich: In der Benachteiligtenförderung,
also im Umgang mit denen, die sich schwertun, dürfen
wir nicht mit großen Gruppen arbeiten, sondern wir
müssen immer stärker individuell begleiten. Das ist anspruchsvoll - es gibt übrigens viele, die das nahezu ehrenamtlich tun -, aber es zeigt sich: Das ist der wirksamste Weg, junge Menschen zu ermutigen und ihnen
eine Art Navigationsmöglichkeit an die Hand zu geben.
Das soll überall in Deutschland möglich werden.
({3})
Viertens. Wir arbeiten weiter an der Durchlässigkeit
zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. 16 Länder haben formal die bisher beim Übergang von der beruflichen Bildung zu einem Hochschulstudium bestehende Hürde abgebaut.
Es sind viele konkrete Voraussetzungen, etwa bei der
Studieneingangsphase, notwendig, damit derjenige, der
aus dem Berufsleben kommt, im Studium tatsächlich erfolgreich sein kann. Ich bin zutiefst davon überzeugt:
Wenn es um Weiterbildung geht, dann werden die Institutionen der beruflichen und der allgemeinen Bildung
immer stärker zusammenarbeiten.
Herzlichen Dank an alle, auch im Ausschuss, die ihren Schwerpunkt auf die berufliche Bildung legen.
Deutschland spielt nicht nur nach innen, sondern immer
stärker auch nach außen - zunächst in Europa, aber auch
in Ländern wie Indien, China und anderen - eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Möglichkeiten der Teilnahme an moderner, weiterentwickelter beruflicher Bildung zu eröffnen. Damit leisten wir einen gewichtigen
Beitrag für die Sicherung der Zukunftschancen der jungen Generation.
Vielen Dank.
({4})
Willi Brase hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben im Moment, dass die Bereitschaft der Unternehmen, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, offensichtlich aufgrund der sich abschwächenden Konjunktur etwas
nachlässt. Das BIB hat das untersucht - die Zahlen
haben Sie selber gelesen -: Wir haben circa 14 500 weniger angebotene Ausbildungsplätze, und wir haben
14 200 weniger Bewerberinnen und Bewerber.
Frau Ministerin - Sie haben es eben angesprochen -,
wir haben hier schon mehrfach darüber diskutiert, was
wir mit den immer noch fast 300 000 jungen Menschen
im sogenannten Übergangsbereich machen. Ich will gar
nicht von „Übergangssystem“ sprechen, weil es eigentlich kein System sein soll, sondern ein Übergangsbereich.
Sowohl im nationalen Bildungsbericht als auch im
Berufsbildungsbericht wurde deutlich aufgeführt, dass
80 Prozent der dort verweilenden Jugendlichen entweder
einen Hauptschul- oder einen mittleren Abschluss haben; teilweise haben sie die Zugangsberechtigung für
Fachhochschulen oder sogar für Hochschulen. Das muss
man sich einmal vorstellen. Auf der anderen Seite wird
derzeit darüber debattiert, dass immer mehr Jugendliche
nicht ausbildungsreif sind. Ich finde, wenn so viele junge
Menschen mit einer so guten schulischen Qualifikation
in diesem Bereich verharren, dann läuft etwas schief.
Dann sind die Maßnahmen, die wir bisher ergriffen haben, offensichtlich nicht ausreichend.
({0})
Sie haben das Problem der Unternehmen, die Ausbildungsplätze nicht besetzen können, im Berufsbildungsbericht beschrieben. Sie empfehlen den Unternehmen,
die Ausbildungsplätze, die nicht besetzt sind, der Agentur für Arbeit zu melden. Das kennen wir. Sie wollen erst
einmal abwarten und beobachten. Ich glaube, es hilft uns
an der Stelle nicht weiter, wenn wir nur abwarten und
beobachten. Wir müssen uns schon überlegen, warum
von den 56 oder 57 Prozent der Betriebe, die ausbildungsfähig sind - der Rest ist nicht ausbildungsfähig -,
nur 22 oder 23 Prozent ausbilden. Wenn der Pakt für
Ausbildung und Qualifikation einen Sinn haben soll,
dann müssen im Rahmen dieses Paktes endlich Maßnahmen beschlossen werden, damit mehr Unternehmen betriebliche Ausbildungsplätze anbieten.
({1})
Wir führen eine Fachkräftedebatte. Wir brauchen wesentlich mehr junge Leute, die eine duale, betriebliche
Ausbildung absolvieren. Gleichzeitig wird über den eu26830
ropäischen Zusammenhalt diskutiert. Es gibt ein neues
Programm dazu. Leider habe ich die Unterlagen am
Platz liegen lassen.
({2})
- Das ist aber toll. - Entschuldigung, Frau Präsidentin.
Bewegung tut uns allen immer gut.
({0})
Ich weiß. Ich rede dafür etwas schneller.
Das Arbeitsministerium hat uns Informationen zu einem wunderbaren Programm auf den Tisch gelegt, mit
dem junge Leute aus Spanien, aus Portugal und aus
Griechenland für eine Ausbildung in Deutschland gewonnen werden sollen. Es geht um 130 Millionen Euro.
Wenn man sich das durchliest, denkt man: Donnerwetter! Da ist man mit großer Gründlichkeit vorgegangen:
Finanzierung eines Deutschsprachkurses im Herkunftsland, Anreisekostenpauschale fürs Bewerbungsgespräch,
Anreisekostenpauschale für die Aufnahme des ausbildungsvorbereitenden Praktikums, Rückreisekostenpauschale nach Beendigung des ausbildungsvorbereitenden
Praktikums, Anreisekostenpauschale für die Aufnahme
der betrieblichen Berufsausbildung, Reiserücktrittskostenpauschale bei vorzeitiger Beendigung usw. usf. - Das
hört sich wunderbar an. Wenn man alles zusammenrechnet, kommt man auf eine Summe zwischen 27 000 und
32 000 Euro für drei Jahre.
Das hört sich erst einmal gut an. Ich habe mit verschiedenen Leuten aus dem Bereich der Industrie- und
Handelskammern gesprochen. Sie schlagen die Hände
über dem Kopf zusammen und sagen: Warum sollen wir
jetzt wieder Ausbildungsplätze alimentieren, wenn wir
es noch nicht einmal schaffen, den jungen Leuten, die
mit einem guten Schulabschluss im Übergangsbereich
hängen, eine Perspektive zu geben? Es schlägt doch dem
Fass den Boden aus, wenn ein Unternehmen einfach sagen kann: Ich nehme mir schnell einen jungen Spanier.
Der wird wunderbar vorbereitet, und ich gebe ihm eine
geringe Ausbildungsvergütung; denn bis zu 818 Euro
bezahlt der Staat. - Dazu kann ich nur sagen: Wenn wir
den Betrag, der zur Förderung eines solchen Ausbildungsplatzes vorgesehen ist, mal zwei nehmen, können
wir dafür einen Schulsozialarbeiter einstellen. Das wäre
angesichts der Probleme, die wir in manchen Schulen
haben, wesentlich sinnvoller.
({0})
Ich fordere Sie dringend auf, zu überlegen, ob eine derartige Alimentierung von Ausbildungsplätzen vor dem
Hintergrund der aktuellen Zahlen in unserem Land tatsächlich der richtige Weg ist.
Wir wollen alle jungen Leute in unserem Land mitnehmen. Deshalb schreiben wir als SPD in unserem Antrag, dass wir so etwas wie eine Ausbildungsgarantie für
einen richtigen und guten Weg halten. Wenn es richtig
ist, dass wir zukünftig Fachkräfte brauchen werden,
wenn es richtig ist, dass wir zahlreiche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen, die eine duale Ausbildung absolviert haben, dann müssen entsprechende Anstrengungen unternommen werden. Wir wollen den
jungen Leuten signalisieren: Wir sorgen mit dafür, dass
ihr eine bessere Chance erhaltet. Mittlerweile bemühen
sich 16 Ministerien aus neun Bundesländern darum, die
jungen Leute im Übergangsbereich wesentlich besser,
schneller und zielgerichteter auf die Ausbildung vorzubereiten, damit sie eine bessere Chance erhalten.
Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, der
mittlerweile eine große Rolle spielt, den man beobachten
muss. Wir haben hier vor einigen Jahren über die doppelten Abiturjahrgänge diskutiert. Wenn man das Ganze
betrachtet, auch die Erfolgsgeschichte des dualen Ausbildungssystems, stellt man fest, dass das duale System
an zwei Stellen ein Stück weit in die Zange genommen
wird, wie ich glaube. Warum profitiert das duale System
eigentlich nicht von den doppelten Abiturjahrgängen?
Müssen wir dieser Frage nicht einmal nachgehen? Warum haben wir das nicht erreicht, obwohl der Präsident
des Deutschen Handwerkskammertages seit drei Jahren
sogar mit großen Anzeigen um gute junge Leute
- sprich: Abiturienten - wirbt? Warum ist das nicht gelungen?
Darauf haben Sie bisher keine Antwort. Es gibt auch
in Bezug auf den Ausbildungspakt keine Antwort von
Ihnen bzw. von der Bundesregierung. Ich glaube, wenn
wir das so weiterlaufen lassen, laufen wir möglicherweise Gefahr, dass das duale Ausbildungssystem zerrieben wird.
Zweitens geht es um den Übergangsbereich. Ich kann
und werde niemanden daraus entlassen, Folgendes zur
Kenntnis zu nehmen: Es gibt 300 000 junge Leute im
Übergangsbereich - im Prinzip sind das 300 000 zu
viel -, die dort ohne Perspektive begleitet, bevormundet,
betüttelt, manchmal auch ein bisschen qualifiziert werden und danach immer noch nicht wissen, wo sie landen.
Wenn wir beide Bereiche - einmal betrifft das den
Eingangsbereich, wo es hin zur dualen Ausbildung geht,
und zum anderen den Ausgangsbereich, wo es hin zur
Hochschule geht - nicht in den Griff bekommen, wird
unser duales System nicht mehr so gut weiter nach vorne
kommen, wie wir das allgemein - ich glaube, das ist
überall Konsens - in der Diskussion hier wünschen und
als gut ansehen. Über die von der Ministerin angesprochenen Punkte kann man sehr trefflich und gut diskutieren. Darüber hinaus will ich noch einmal deutlich sagen:
Wenn wir die Chancen der dualen Ausbildung weiter
verbessern wollen, dann müssen wir endlich dafür sorgen, dass die jungen Leute schneller und besser in dieses
System hineinkommen.
Ich meine, die Bundesregierung sollte - darauf wurde
mehrfach hingewiesen - mit ihren Ressorts dafür sorgen,
die Vielfalt der Maßnahmen in dieser Legislaturperiode
zu reduzieren. Etwas anderes wäre nicht förderlich. Sie
selber sagen, dass die Vielfalt im Übergangsbereich
falsch ist. Dazu gibt es einen Kommentar, der lautet: Wir
wollen schauen, dass die Bundesressorts - angefangen
vom BMBF bis hin zum BMAS - das zukünftig beachten. - Das ist zu wenig. An dieser Stelle hat die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht genügend gemacht,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Ich komme zum letzten Punkt, über den auch immer
wieder diskutiert wird. Dabei geht es - ich habe das
schon einmal angesprochen - um die fehlende Ausbildungsreife. Wir sollten uns, glaube ich, davor hüten,
pauschal zu sagen: Wir erleben jetzt Jahrgänge mit jungen Leuten, die nicht genügend ausbildungsreif sind.
Immer mehr Bundesländer nehmen dieses Problem in
Form von Berufsorientierung und Potenzialberatung in
der achten Klasse - teilweise auch in der siebten
Klasse - in Angriff.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man 80 Prozent
der jungen Leute im Übergangsbereich sagt: Du bist
nicht ausbildungsfähig. Vielleicht macht es, wenn wir
bei den Betrieben eine Verbesserung erreichen wollen,
Sinn, diese einmal zu fragen: Wie groß ist eigentlich
eure Ausbildungsfähigkeit? Seid ihr immer in der Lage,
die ausreichende Qualität zur Verfügung zu stellen?
Werden die Ausbildungspläne tatsächlich eingehalten?
Wie kommt es, dass der gesamte HOGA-Bereich, das
Fleischereihandwerk, das Nahrungs- und Genussmittelhandwerk echte Probleme haben, Auszubildende zu
bekommen? Hat das nicht auch etwas mit Betriebsstrukturen zu tun? Hat es nicht auch etwas mit konkreten
Ausbildungsbedingungen - mit Überstunden etc. - zu
tun?
Wenn man das Bildungssystem und die duale Ausbildung nach vorne bringen will, dann muss man auch das
Kreuz durchdrücken, mit den Unternehmen reden und
dort, wo es notwendig ist, Verbesserungen bzw. mehr
Qualität auf den Weg bringen. Denn nur mit Qualität
wird dieses gute duale System auch in Zukunft eine
Chance haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Heiner Kamp hat das Wort für die FPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lieber Herr Brase, möchten
Sie mir einmal kurz zuhören? Ich lade Sie herzlich in
meinen Wahlkreis Gütersloh ein. Ich komme aus Versmold. Dort ist man unter anderem in der Ernährungswirtschaft sehr stark. Es gibt da hervorragende Ausbildungsbetriebe, die super strukturiert sind. Diese haben
einfach Schwierigkeiten, Auszubildende zu bekommen.
Die Auszubildenden, die dort ihre Ausbildung absolvieren, machen das mit sehr großem Erfolg. Die Ausbildungsbetriebe geben sich allergrößte Mühe, diesen
Jugendlichen den besten Übergang in ihren Beruf zu ermöglichen. Ich finde, das sollte man auch einmal anerkennen, und nicht alles sollte schlechtgeredet werden.
({0})
Der Berufsbildungsbericht unterstreicht erneut, dass
das duale Ausbildungssystem ein Erfolgsmodell ist.
Darüber haben wir uns in den vergangenen Monaten
ausgiebig ausgetauscht. Wir sind uns da fraktionsübergreifend einig. Deutschland geht es gut. Die hervorragend ausgebildeten Fachkräfte, die unser Ausbildungssystem hervorbringt, sind eine zentrale Stütze für den
wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes. In der bisherigen Debatte hat mich gestört - das missfällt mir auch
sonst im Alltag oft -, dass es mangelnde Anerkennung
für Menschen mit beruflicher Ausbildung und für unser
deutsches Berufsbildungssystem als solches gibt.
Der durchschlagende Erfolg des dualen Ausbildungssystems wird erst langsam sichtbar. Es gab und gibt immer noch diejenigen, die behaupten, eine akademische
Ausbildung sei die „Krone der Schöpfung“, das
Nonplusultra. Doch es ist einfacher geworden, die Vorzüge des Berufsbildungssystems darzustellen und sich
für diesen Pfad der Qualifizierung einzusetzen. Das war
leider beileibe nicht immer so.
Mittlerweile haben auch die großen Freunde der reglementierten, monolithisch verschulten Bildungssysteme mitbekommen, welchen Vorteil es in sich birgt,
ein differenziertes System der Qualifizierung, die duale
Berufsausbildung und die Hochschule, zu besitzen. Wir
sind Vorbild für Europa. Das zeigt das ungebrochene
Interesse der Besuchergruppen aus aller Welt, die zu uns
kommen.
Deshalb gilt es, das große Engagement aller in der beruflichen Bildung Aktiven ausdrücklich zu würdigen.
Viel zu selten erkennen wir die guten Leistungen in unserem Land an.
Wenn gute Reden sie begleiten,
Dann fließt die Arbeit munter fort.
So sagte es schon Schiller. Deshalb lassen Sie mich allen, die zum Erfolg der beruflichen Bildung in Deutschland beitragen, ein herzliches Dankeschön und „Weiter
so!“ zurufen.
({1})
Die FDP steht an ihrer Seite und wird sich vehement dagegen wehren, dass Sand in das gut geölte Räderwerk
gestreut wird.
Sie merken, damit bin ich bei den rot-grünen Vorstellungen. Die Grünen werden ja gemeinhin als Propheten
des Weltuntergangs gehandelt.
({2})
Wovor hat man nicht alles gewarnt? Faxgerät, Internet,
Biotechnik und künstliche Verfahren, zum Beispiel bei
der Herstellung von Insulin. Das Risiko wird von den
Grünen immer höher bewertet als die Chance. Nur bei
Experimenten mit unserem Bildungssystem und den
Chancen unserer Kinder und Jugendlichen trauen sich
die Grünen plötzlich ganz viel zu. Da werden gut funktionierende Bildungszweige zerstört.
Ein wunderbares Beispiel vom grünen Schrottplatz
der Zukunft: Unser herausragendes und international zelebriertes Modell der Berufsausbildung soll durch das
grüne DualPlus-Konstrukt zerstört werden. Niemand
- ich muss es in jeder Rede wiederholen, damit Sie es
vielleicht irgendwann verstehen -, wirklich niemand
will diesen grünen Quark. Dennoch wird er uns immer
wieder von Ihnen aufgetischt. Selbst beim aktuellen
Kanzlerkandidaten der SPD bin ich mir unsicher, ob er
diese grüne Plörre löffeln würde, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen.
({3})
Das Prädikat „schädlich“ trägt auch die SPD-Forderung nach einem Recht auf Ausbildung. Wir brauchen
keine Ausbildungsplatzgarantie. Der erfolgreiche Ausbildungspakt ist ein Beispiel dafür, dass die Unternehmen ihrer Verantwortung gerecht werden. Dass es auch
im ureigenen Interesse der Wirtschaft liegt, den Fachkräftenachwuchs zu sichern, klingt zumindest im Ansatz
aus Ihrem Antrag heraus. Doch ziehen Sie insgesamt
wiederum die falschen Schlüsse. Gut für das berufliche
Bildungssystem und gut für unser Land ist, dass Union
und FDP in Deutschland die Regierungsverantwortung
haben.
({4})
Das heißt, wir brauchen weder Zwangsabgaben noch
Strafen für Ausbildungsbetriebe. Wir benötigen auch
kein schulisches Ergänzungsmodell zu unserer erfolgreichen dualen Ausbildung. Basis für den Erfolg der beruflichen Bildung in Deutschland ist, dass Jugendliche
solche Ausbildungsberufe ergreifen, die von den Unternehmen angeboten werden und in denen sie Beschäftigte
benötigen. Das sichert den Fachkräftenachwuchs und
sorgt für die ausgezeichneten Übergangsquoten in Beschäftigung. Deshalb blickt man aus Europa bewundernd auf unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit.
({5})
In unserem Antrag benennen wir die Herausforderungen und machen sachgerechte Vorschläge für eine
zukunftsgerichtete Weiterentwicklung der beruflichen
Bildung in Deutschland. Insbesondere sind dies der Ausbau der Berufsorientierung, die Steigerung der Auslandserfahrung während der Ausbildung - sie ist wichtig in
einer globalisierten Welt -, die weitere Stärkung der
Einstiegsqualifizierung als Brücke in Ausbildung für
Leistungsschwächere, die Steigerung der Begeisterung
für MINT-Fächer und die Ausbreitung der internationalen Akzeptanz der deutschen Berufsbildung.
Dafür werden wir gemeinsam arbeiten. Dafür werden
wir im Herbst bestätigt, und dafür wird am Sonntag die
erfolgreiche niedersächsische Landesregierung bestätigt.
Vielen Dank.
({6})
Agnes Alpers hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Herrn
Kamp haben wir es gerade wieder erlebt: Kaum taucht
das Wort Berufsbildungspolitik auf, klopfen Sie sich auf
die Schultern und erzählen uns, wie gut die duale Ausbildung ist.
({0})
Da sind wir uns doch alle einig, Herr Kamp, da gibt es
doch gar keinen Widerspruch. Als Linke wollen wir das
duale System stärken und vor allem Ausbildung für alle
garantieren.
({1})
Denn immer noch erhalten nur zwei Drittel der ausbildungsinteressierten Schulabgängerinnen und Schulabgänger einen Ausbildungsplatz. Immer noch befinden
sich 300 000 junge Menschen im sogenannten Übergangssystem. Allein in Niedersachsen waren im letzten
Jahr 48 000 junge Menschen dort untergebracht; das entspricht 37,5 Prozent der Schulabgänger. Niedersachsen
belegte damit direkt hinter Baden-Württemberg Spitzenplatz zwei. Das ist doch ein Armutszeugnis, meine
Damen und Herren.
({2})
Immer noch haben wir 2,2 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluss zu verzeichnen.
({3})
Nur die Hälfte von ihnen ist erwerbstätig. Ohne Ausbildung werden sie ihre Lebenssituation nicht verändern
können. Auch das ist ein Armutszeugnis.
Wir fordern in unserem Antrag ein umfangreiches
Sofortprogramm, um Ausbildung für alle zu garantieren.
Vor drei Monaten hat die Koalition einen Antrag vorgelegt, den sie als - ich zitiere - „Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel“ bezeichnet
hat. Dieser Antrag ist ein Sammelsurium von Absichtserklärungen. So wollen Sie beispielsweise die Anzahl
der Azubis mit Auslandserfahrung erhöhen;
({4})
aber wie, das wird nicht gesagt. Die informell erworbenen Kompetenzen sollen gemessen und anerkannt
werden. Das ist gut; aber wie, das wird nicht gesagt. Die
Bildungsprämien wollen Sie weiterentwickeln. Auch das
ist gut;
({5})
aber wie, dazu sagen Sie nichts. In diesem Antrag benennen Sie keine Programme und keine Konzepte, wie die
Ausbildungskrise bewältigt und überwunden werden
kann. Einen solchen Antrag als „Versicherung gegen
Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel“ zu bezeichnen, das sind nur fromme Wünsche.
({6})
Die Ausbildungsmisere will die Koalition nun folgendermaßen lösen:
Erstens. CDU/CSU und FDP setzen auf den demografischen Wandel. Für sie hat sich bereits in den letzten
Jahren ein Paradigmenwechsel auf dem Ausbildungsstellenmarkt vollzogen. Es gebe mehr Stellen als Ausbildungsinteressierte, sagen Sie. Ich sage Ihnen: Das
stimmt nicht; denn es gibt noch 2,2 Millionen Menschen
bis 34 Jahre ohne Berufsabschluss. Oder wollen Sie uns
hier und heute weismachen, dass all diese Menschen
kein Ausbildungsinteresse haben?
({7})
Frau Schavan sagte gerade, dass sie das Übergangssystem in den nächsten Jahren auf null herunterfahren
will. Das Bundesinstitut für Berufsbildung stellte allerdings fest, dass sich dort trotz des demografischen
Wandels langfristig noch über 200 000 junge Menschen
befinden werden.
({8})
Fakt ist, dass die soziale Herkunft nach wie vor die Zukunft dieser jungen Menschen bestimmt. Hauptsächlich
handelt es sich um junge Menschen mit niedrigem
Schulabschluss, Menschen mit Behinderung, Frauen und
Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Ausgrenzung müssen wir endlich stoppen.
({9})
Zweitens wollen CDU/CSU und FDP gemeinsam mit
der Wirtschaft Formen finden, mit denen man die - ich
zitiere - „soziokulturellen Milieus“ ansprechen kann.
Das ist verlogen; denn gleichzeitig bezeichnen Sie in Ihrem Antrag alle Menschen mit Migrationshintergrund
als Ausländer, bei denen die mangelnde Ausbildungsreife klar auf der Hand liege, da die Hälfte von ihnen im
Übergangssystem beginne. Mit anderen Worten: Die ethnische Herkunft, der Migrationshintergrund, ist schuld.
Meine Damen und Herren, all diese jungen Menschen
sind in Deutschland geboren. Ihre Familien leben oft
schon seit Generationen hier. Viele haben einen deutschen Pass. Sie wollen hier leben und sich beteiligen.
Aber Sie bezeichnen all diese Menschen trotz jahrzehntelanger Integrationspolitik immer noch als Ausländer.
Das ist unfassbar!
({10})
Zwei Drittel dieser Menschen bekommen keinen Ausbildungsplatz, weil sie Ali oder Aische heißen,
({11})
selbst dann nicht, wenn sie einen guten Realschulabschluss oder sogar Abitur haben. Meine Damen und
Herren von der Koalition, wer Diskriminierung und
Vorurteile in einem eigenen Antrag schürt, verschärft die
soziale Ausgrenzung. Wir Linken lehnen eine solche
Politik ab.
({12})
Drittens. Auch das Argument, eine wesentliche Ursache der Misere sei die mangelnde Ausbildungsreife
der jungen Menschen, nehmen wir Ihnen nicht ab. Wir
haben gehört, dass sich 80 Prozent dieser jungen Menschen deshalb in dem sogenannten Übergangssystem befinden, weil keine passenden Ausbildungsplätze vorhanden sind. Das kann doch nicht sein. Was die anderen
20 Prozent angeht, sagen wir ganz klar: Jeder muss individuell so unterstützt werden, dass er nach der Maßnahme verlässlich in Ausbildung geht. Es kann doch
nicht sein, dass Hauptschüler im Durchschnitt zweieinhalb Jahre im Übergangssystem verbringen und danach
vielleicht doch keinen Ausbildungsplatz erhalten und als
ungelernte Kräfte in prekärer Arbeit landen. Damit müssen wir Schluss machen.
({13})
Viertens. Frau Schavan, in Ihrer letzten Rede zum Berufsbildungsbericht im Oktober 2012 haben Sie Ausbildungsgarantie und Umlagefinanzierung als - ich zitiere „alte Klamotte“ bezeichnet. Sie setzen auf das freiwillige und hochverantwortliche Engagement der Unternehmen. Heute haben 2,2 Millionen Menschen bis 34 Jahre
keinen Berufsabschluss. Dennoch haben die Betriebe im
letzten Jahr 10 000 Ausbildungsplätze weniger angeboten als 2011. In diesem Zusammenhang verweisen Sie
auf gute Zahlen bei den abgeschlossenen Ausbildungsverträgen. Laut BIBB hat die Zahl der abgeschlossenen
Ausbildungsverträge seit der Wende jedoch einen neuen
Tiefstand erreicht. Frau Schavan, Ihre freiwillige Selbstverpflichtung hat noch nie funktioniert.
Mit unserem Antrag wollen wir nicht nur das Recht
auf eine qualifizierte Ausbildung für alle garantieren,
wir sagen auch: Wir wollen kleine Betriebe fördern,
wenn sie zum ersten Mal ausbilden, wenn sie zusätzliche
Ausbildungsplätze anbieten, wenn sie im Verbund ausbilden. Wir wollen alle Betriebe unterstützen, die genau
die in Ausbildung bringen, die häufig ausgegrenzt sind:
Menschen mit niedrigen Schulabschlüssen, Menschen
mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung,
Frauen.
Ich komme zum Schluss. Fest steht doch: Ausbildung
für alle ist nur mit einem Recht auf Ausbildung und mit
einer Ausbildungsumlage umzusetzen.
Vielen Dank.
({14})
Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die katastrophale Jugendarbeitslosigkeit ist eines der drängendsten Probleme
in Europa. Dass in Spanien und Griechenland jeder
zweite Jugendliche arbeitslos ist, ist zutiefst beunruhigend. Eine Jugend ohne Perspektive birgt sozialen
Sprengstoff. Diese alarmierende soziale Krise ist eine
Folge der Finanzkrise.
Als solidarische Europäer muss es uns umtreiben,
dass eine ganze Generation junger Europäer abgehängt
zu werden droht.
({0})
Die Bundesregierung hat die Hiobsbotschaften viel zu
viele Monate auf die leichte Schulter genommen, die
Probleme treiben lassen. Für ein soziales Europa steht
Schwarz-Gelb sicherlich nicht.
({1})
Dass jetzt endlich, angetrieben aus Brüssel, reagiert
wird und versucht wird, die berufliche Bildung europaweit zu stärken, ist richtig und war lange überfällig.
Das breite Interesse anderer Länder an unserer dualen
Ausbildung zeigt, dass sie geschätzt wird. Unser Berufsbildungssystem ist aber kein Allheilmittel, zu einer
kurzfristigen Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in
Krisenländern taugt es nicht. Ohne mutige Investitionsprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft, ohne Beschäftigungsimpulse für Jugendliche und ohne einen
fairen Einstieg in den Arbeitsmarkt nutzt den Krisenländern der bloße Import unserer dualen Ausbildung wenig;
dann bliebe die ausgerufene Europäische Jugendgarantie
ein hohles Wort. Das zu sagen, gehört zur Redlichkeit in
dieser Debatte dazu, Frau Ministerin.
({2})
Das Hochloben des Exportschlagers duale Ausbildung darf nicht von den vielen Herausforderungen ablenken, die die Bundesregierung hierzulande endlich anpacken muss. Auch hier ist nicht alles Gold, was die
Regierung als solches verkaufen will. Ja, Bund und Länder haben in den letzten Jahren die Zahl der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher verringert.
({3})
Aber welche Chancen haben denn die 50 000 in jedem
Jahr, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen?
Hamburg und Nordrhein-Westfalen zeigen strukturelle
und nachhaltige Initiativen.
({4})
Was hat Frau Schavan seit 2005 getan? Fast nichts.
Bildungsketten, Frau Schavan, sind gut; aber sie sind
viel zu kurz. Tausend hauptamtliche Berufsbegleiter bei
16 000 Schulen und 4,5 Millionen Schülerinnen und
Schüler, die sie brauchen könnten - das ist ein Tropfen
auf den heißen Stein.
({5})
Mit welchen Maßnahmen senkt die Bundesregierung
die Zahl derjenigen, die ihre Ausbildung abbrechen? Die
Abbruchquote ist zuletzt sogar auf 23 Prozent gestiegen.
In einzelnen Berufen liegt sie bei über 40 Prozent. Das
wirft Fragen nach der Ausbildungsqualität auf. Denen
müssen Sie sich endlich stellen.
({6})
Was wird aus den noch immer knapp 300 000 Jugendlichen, die nach der Schule in Maßnahmen des Übergangssektors feststecken? Diese Maßnahmen haben sich
doch vor allem als Warteschleifen ohne Mehrwert für
diese Jugendlichen erwiesen.
({7})
Ich sehe weit und breit kein Konzept dafür, wie die Regierung diese Jugendlichen zügig zum Berufsabschluss
führen will. Nur auf demografische Effekte zu hoffen,
reicht nicht. Sie müssen handeln!
Auch infolge dieses Maßnahmendschungels stehen
hier inzwischen mehr als 2 Millionen bis 34-Jährige
ohne Berufsabschluss da. Das ist skandalös. Das sind ungelöste Probleme hierzulande. Die Bildungs- und die Arbeitsministerin müssen hier endlich eine Initiative vorlegen, statt die Mittel für die Arbeitsförderung zu kürzen.
({8})
Herr Gehring, der Kollege Feist würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie die zulassen?
Ja, bitte.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Gehring. - Immer wieder
ist in den Reden von der Schwierigkeit des Übergangssystems gesprochen worden. Natürlich ist uns allen klar,
dass eine gute duale Ausbildung besser ist. Einige Redner haben heute die Maßnahmen im Übergangssystem
aber als Ausgrenzung und Sackgasse bezeichnet und in
diesem Zusammenhang von Perspektivlosigkeit gesprochen. Ich finde, damit wird die Leistung derjenigen, die
sich im Übergangssystem gerade um die Schwächsten in
der Gesellschaft kümmern, einfach in den Schmutz gezogen. Ich möchte von Ihnen wissen: Ist das Übergangssystem für Sie ohne jede Perspektive? Ja oder nein?
({0})
Ich habe es so verstanden, dass inzwischen selbst
Union und FDP sagen, wir müssten diese Warteschleifen
verringern und den Übergangssektor reduzieren. Ich
habe inzwischen auch wahrgenommen - wir Grüne haben sehr viele Jahre entsprechend argumentiert -, dass
dieses Übergangssystem nicht als System, sondern als
Sektor bezeichnet wird, in dem es auch viel Wildwuchs
gibt. Selbstverständlich findet dort auch viel zur Integration von Jugendlichen statt, aber die allermeisten Maßnahmen sind eben nicht geeignet, um echte Perspektiven
zu schaffen, sondern Warteschleifen, die den Einstieg in
die Ausbildung verzögern.
Die Ministerin hat hier gesagt, diesen Übergangssektor auf null reduzieren zu wollen. Das setzt politisches
Handeln voraus. Deshalb kann das nicht einfach so weiterlaufen. Wenn Sie an diesem Übergangssektor nichts
ändern - das zeigen verschiedene Studien, zum Beispiel
auch vom BIBB -, dann werden auch in den nächsten
Jahren noch über 200 000 junge Menschen in diesem
Übergangssektor verbleiben. Das kann ja wohl nicht das
Ziel sein, sondern wir wollen so schnell wie möglich so
viele Jugendliche wie möglich in reguläre Ausbildung
bringen.
Es muss das Ziel sein, den Übergangssektor tatsächlich auf null zu senken. Dafür haben wir mit DualPlus
auch ein gutes Konzept. Darauf komme ich gleich noch
einmal zurück.
({0})
Ungelernte und Geringqualifizierte haben ein höheres
Erwerbslosigkeitsrisiko als Menschen mit Berufsabschluss. Deshalb ist auch klar: Unser Bildungssystem
spaltet in Gewinner und Verlierer. Das darf diese Regierung nicht länger hinnehmen. Deshalb muss eine Jugendgarantie in Deutschland lauten: keinen Jugendlichen
ohne anständigen Abschluss lassen, keinen Jugendlichen
in Perspektivlosigkeit und Abhängigkeit von Sozialtransfers schicken.
({1})
Ich danke für meine gesamte Fraktion an dieser Stelle
allen Betrieben in Deutschland, die ausbilden; das ist
doch selbstverständlich.
({2})
Ich danke vor allem den Betrieben, die bildungsfernen
und benachteiligten Jugendlichen eine Chance geben.
({3})
Es müssen aber noch deutlich mehr werden. Daher
appelliere ich an die Wirtschaft: Geben Sie Jugendlichen
mit schlechten Startvoraussetzungen eine Chance. Es
hilft niemandem, über Ausbildungsreife zu lamentieren.
Sehen und wecken Sie die Potenziale in jedem Jugendlichen!
({4})
Nur so bewältigen wir auch eine derzeit völlig absurde Situation: Es mangelt an Fachkräften, es mangelt
vor allem in kleinen und mittleren Betrieben an Nachwuchs. Aber selbst 2012 suchten noch 76 000 junge
Menschen einen Ausbildungsplatz. Besonders betroffen
ist mit dem Handwerk auch ein Herzstück unseres dualen Ausbildungssystems. Ich sage Ihnen, Frau Schavan:
Wenn Sie Fachkräftemangel bekämpfen wollen, dann
dürfen Sie sich nicht auf demografischen und konjunkturellen Effekten ausruhen. Sie müssen die ausbildungspolitischen Herausforderungen anpacken.
({5})
Die Frage ist doch: Wie können wir die Lücke zwischen den Anforderungen der Betriebe und den vielfältigen Voraussetzungen junger Menschen schließen und
echte Brücken in Ausbildung bauen? Unser grünes Ausbildungskonzept DualPlus beantwortet diese Frage. Es
zeigt, wie durch individuell angepasste Bausteine alle
Jugendlichen die einzelnen Schritte bis zu einem Berufsabschluss schaffen können - ohne Warteschleifen und
ohne Maßnahmendschungel. Es zeigt, wie gerade im
Markt benachteiligte Jugendliche ergänzend zum dualen
Lernen in Berufsschule und Betrieb in überbetrieblichen
Ausbildungsstätten individuell gefördert und über die
gesamte Ausbildung begleitet werden. Das hilft auch
kleinen und spezialisierten Betrieben und solchen ohne
Ausbildungstradition. Sie können auch ausbilden, indem
sie einzelne betriebliche Module anbieten. Für Jugendliche und für Betriebe ist DualPlus ein ausbildungspolitischer Mehrwert, den wir nutzen sollten.
({6})
Die Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung in
Europa ist das eine, das andere ist, eine schlüssige Antwort auf die Probleme hierzulande zu finden. Leider
muss ich sagen, auch in der beruflichen Bildung hat
diese Bundesregierung wenig bis nichts vorangebracht,
sie hat nur von der guten Konjunktur profitiert. Es wird
höchste Zeit für einen bildungspolitischen Wechsel.
({7})
Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Die Harmonisierung des Übergangssystems von der
Schule zum Beruf ist genau das, was Annette Schavan
und wir gemeinsam in der christlich-liberalen Koalition
mit den Bildungsketten angeschoben haben. Wir haben
gesagt, dass wir möglichst in allen Schulen - Haupt- und
Realschulen, in den Gesamtschulen - drei Jahre vor der
Entlassung so etwas wie eine Potenzialanalyse durchführen wollen. Wir wollen ermitteln, wo die Stärken und die
Schwächen der Schüler sind. Dabei wollen wir auch mit
externer Kompetenz arbeiten, mit Menschen, die in die
Schule kommen und diese Analyse mit den Lehrern gemeinsam durchführen. Wir wollen, dass bereits zwei
Jahre vor der Entlassung in den Schulen über überbetriebliche Werkstätten bestimmte Berufsfelder durchlaufen werden können. Das geht zwar nicht in allen 342 Berufsbildern, aber es sollte zumindest möglich sein, beim
Kolpingwerk oder beim Handwerk schauen zu können,
welche Berufsfelder in den Bereichen Holz, Metall,
Hauswirtschaft, Gesundheit, Verwaltung für den Einzelnen spannend sind. Am Ende sollen dann die Schüler mit
den Lehrern, mit den Eltern und mit den Einstiegsbegleitern überlegen, welche betrieblichen Praktika zum richtigen Beruf führen können. Das ist genau die Glättung, die
Harmonisierung, die wir mit den Bildungsketten umsetzen.
({0})
Dafür finanzieren wir, Kollege Gehring, eben nicht nur
1 000 Einstiegsbegleiter, wie Sie es sagten, sondern
3 000.
({1})
Herr Schummer, Entschuldigung! Frau Alpers würde
Ihnen gern eine Frage stellen.
Frau Alpers, Sie haben eben lange geredet und falsche
Zahlen genannt. Ich werde jetzt meine Rede zu Ende
führen.
({0})
Lesen Sie erst einmal die richtigen Zahlen, damit wir darüber dann auch miteinander diskutieren können.
Das Berufsbildungsinstitut hat errechnet, dass die
Ausbildungsvergütungen um 4,6 Prozent in diesem Jahr
auf 730 Euro angestiegen sind. Das zeigt auch für die
Unternehmen: Hier ist der Wert der beruflichen Ausbildung gestiegen.
Es sind insgesamt 30 Milliarden Euro, die neben den
öffentlichen Mitteln des Bundes, der Länder und der
Kommunen von der Wirtschaft für Ausbildungsvergütungen, für Ausbildungswerkstätten und für Ausbilder
mobilisiert werden. Für diese besonderen Finanzierungsleistungen in Deutschland sollten wir der Wirtschaft
- neben dem Personal - danken.
({1})
Wir haben 342 Berufe, wir müssen aber feststellen,
dass sich 88 Prozent der Schüler um etwa 149 Berufe bewerben. Also ist auch die Überlegung: Warum haben wir
allein 54 verschiedene kaufmännische Berufsbilder?
Lassen Sie uns doch einmal mit den Sozialpartnern und
den Kammern überlegen, wie wir eine Zusammenführung von Berufsfeldern erreichen können. Nach dem
Konzept „Dual mit Wahl“ sollten wir eine gemeinsame
Grundausbildung - beispielsweise im kaufmännischen
Bereich - einführen, die anderthalb oder zwei Jahre dauert. Darauf bauen dann die Spezialisierungen wie Reiseverkehrskaufmann, Industriekaufmann, Groß- und Außenhandelskaufmann bis hin zum Fitnesskaufmann auf.
Wir wollen die Gleichwertigkeit zwischen akademischer
und beruflicher Bildung in einem europäischen Bildungsraum.
({2})
Die Europäische Kommission hat in ihrem Bericht
zur Situation in Deutschland formuliert: Garant für die
Heranziehung qualifizierter Arbeitskräfte und eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit ist das duale Ausbildungssystem. - Gleichzeitig führen wir eine Debatte mit der
Europäischen Kommission darüber, dass beispielsweise
für den Pflegeberuf das Abitur erforderlich sein soll. Das
ist ein Stück weit doppelzüngig, auch vonseiten der Sozialdemokratie.
Während hier Willi Brase, alter, lieber Kollege, das
Hohe Lied der dualen Ausbildung singt, will die Berichterstatterin der Sozialdemokraten im Europaparlament all
diejenigen, die nicht das Abitur haben, aus der Pflegeberufsausbildung ausgrenzen, die Tür für all diejenigen zuschlagen, die vor der Pflegeausbildung kein Abitur gemacht haben. Von den 40 000 Auszubildenden derzeit in
Deutschland im Gesundheitsbereich - ob sie nun eine
Hebammen-, ob sie eine Pflegeausbildung absolvieren haben 15 000 das Abitur. Alle anderen würden durch die
Sozialdemokraten, und zwar durch ihre Berichterstatterin im Europaparlament zu dieser Thematik, Evelyne
Gebhardt, ausgegrenzt.
Am 24. Januar wird hierüber im Europaparlament
entschieden. Ob sie es mit der Stärkung der dualen Ausbildung im europäischen Bildungsraum ernst meinen,
das werden wir bei den Sozialdemokraten im Europaparlament am 24. Januar feststellen, je nachdem, wie sie
dann abstimmen werden.
({3})
Herr Schummer, möchten Sie Herrn Rossmann die
Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?
Herr Rossmann hat in der Regel richtige Zahlen. Deshalb lasse ich die Frage gerne zu.
({0})
Herr Schummer, es soll nicht um Zahlen gehen, sondern um den Konsens, den Sie am Anfang angesprochen
haben. Ist es richtig, dass es in der deutschen Sozialdemokratie im Bundestag und in den Ländern sehr viele
andere Stimmen gibt als die einzelne Stimme von Frau
Gebhardt aus dem Europaparlament? Schließen Sie aus,
dass es genauso einzelne Stimmen auch im konservativliberalen Lager im Europaparlament gibt, ohne dass wir
Sie dafür in Haft nehmen?
Geschätzter Kollege Rossmann, das Problem ist, dass
die Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt im Europaparlament die Berichterstattung zu diesem Thema hat und
dass entsprechend ihrem Votum die gesamte Sozialdemokratie im Europaparlament abstimmen wird. Das ist
dann keine einzelne Stimme mehr. Das ist dann die
Mehrheitsmeinung der Sozialdemokraten im Europaparlament. Aber Sie können bis zum 24. Januar missionieren. Unsere guten Wünsche werden Sie begleiten.
({0})
Wir haben im April letzten Jahres ein Gesetz verabschiedet, auf dessen Grundlage die im Ausland erworbenen Berufskenntnisse anerkannt werden sollen. Ich habe
mir eine Aufstellung dazu geben lassen, in welchen Bundesländern dieses Bundesgesetz, das ein Stück weit die
Integration von Menschen fördert, die aus anderen Staaten und Kontinenten kommen und unter uns leben, durch
entsprechende Landesregelungen umgesetzt worden ist.
Es gibt ein Bundesland, in dem seit April letzten Jahres
überhaupt nichts passiert ist. Dieses Bundesland wird
grün-rot regiert. Baden-Württemberg unter grüner Regentschaft ist das einzige Land, das dazu noch überhaupt
keine Regelung vorgelegt hat. Auch das ist nicht der
richtige Weg: hier nett schwätze, aber in Baden-Württemberg nix tun, sondern laufen lassen.
({1})
Letztendlich ist die Wahrheit immer konkret. Ich bin
dankbar, dass wir mit der finanziellen Förderung des Jugendwohnens mehr Mobilität für die duale Ausbildung
europaweit entwickeln können.
Die Grünen wollen vom dualen zum trialen System
mit mehr verschulten Einheiten. Die Sozialdemokraten
im Europaparlament schlagen innerhalb der beruflichen
Bildung die Tür für diejenigen zu, die kein Abitur haben.
Und die Linken wollen mit einer Zwangsabgabe die zentrale Berufsbildungssteuerung. Nur die christlich-liberale Koalition steht treu und fest zur dualen Ausbildung.
({2})
Deshalb bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren Antrag!
({3})
Michael Gerdes hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Schummer, wir wollen jetzt wieder zur Bundespolitik zurückkommen. Es stimmt: Viele Länder haben Interesse an unserer dualen Ausbildung und wollen von uns
lernen. Und ja: In Deutschland sind weniger Jugendliche
arbeitslos als in Europa.
Unsere Azubis sind auf den Arbeitsmarkt gut vorbereitet. Trotzdem wünsche ich mir, dass die schwarzgelbe Regierung das Eigenlob, das wir auch heute wieder hören konnten, nicht allzu hoch hängt und sich endlich auch um diejenigen kümmert, die durch das Raster
fallen.
Richtig wäre es, wenn wir heute diejenigen in den
Mittelpunkt stellen, die keinen Schulabschluss und keine
Berufsausbildung haben. Kollege Brase und auch Kollegin Alpers haben bereits die Zahl genannt. Ich wiederhole sie, Herr Schummer, weil sie unglaublich hoch,
aber auch korrekt ist: In Deutschland sind 2,2 Millionen
junge Menschen zwischen 20 und 29 ohne Berufsabschluss. Ich meine, das ist ein Skandal.
Wir müssen uns fragen, wie wir dieser Gruppe helfen
können. Wie verringern wir die Orientierungslosigkeit
im Maßnahmendschungel?
({0})
Welche Chancen und Perspektiven bieten wir jungen Erwachsenen, die bisher keine Qualifikation erwerben
konnten? Hierzu äußern Sie sich selten, meine Damen
und Herren in den Regierungsfraktionen. Stattdessen
werden unsere Ideen lapidar abgefertigt. Auch ich erinnere mich an die Debatte im Oktober 2012, als Sie, Frau
Ministerin Schavan, die Forderung der SPD nach einer
Ausbildungsgarantie als alte Klamotte bezeichnet haben.
({1})
Die junge Generation verdient mehr Respekt, zumindest mehr Unterstützung.
({2})
Wer Jahr um Jahr keine Chance sieht, für den Arbeitsmarkt ausgebildet zu werden, der verliert jegliche Lernund Arbeitsmotivation. Wer ohne Perspektive ist, resigniert. Das darf unsere Gesellschaft nicht zulassen.
({3})
- Ich rede von Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Stärke unserer
Berufsausbildung ist die Praxisnähe, das Lernen im Betrieb. Gerade deshalb muss es uns Sorge bereiten, dass
die Zahl der Ausbildungsplätze so gering ist wie nie. Das
passt mit dem Ruf nach Fachkräften nicht zusammen.
Wer Fachkräfte braucht, muss dazu beitragen, dass junge
Menschen das benötigte Wissen und die gesuchte Fähigkeit auch erwerben können.
({4})
Tendenziell haben kleine und mittlere Unternehmen
wenig Kapazitäten, um umfassend auszubilden. In den
Großbetrieben ist das einfacher. Aber wenn Großbetriebe schließen oder abwandern, entsteht logischerweise
eine große Lücke, und zwar nicht nur auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern auch auf dem Ausbildungsmarkt. Manche Regionen in Deutschland bekommen das
sehr stark zu spüren. Speziell in meiner Heimat, dem
Ruhrgebiet, sind die Wunden groß. Ich erinnere an
Nokia und Opel in Bochum. Die Situation wird sich
durch den Rückbau des Steinkohlenbergbaus noch verschärfen.
Die letzte Zeche schließt zwar erst 2018, aber ab 2014
wird es schon keine neuen Azubis geben. Allein in meiner Heimatstadt Bottrop fallen auf der Schachtanlage
Prosper-Haniel 2018 auf einen Schlag 300 Ausbildungsplätze weg. Das ist katastrophal. Sie sind unwiederbringlich weg. Deswegen frage ich: Wo werden in den Regionen im Ruhrgebiet unsere Jugendlichen zukünftig
ausgebildet?
({5})
- Ja, ja. Mit dem Ruhrgebiet haben wir wohl nichts zu
tun. Das ist nicht Deutschland. Europa machen wir, aber
das Ruhrgebiet ist nicht so wichtig.
({6})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kamp zulassen?
Ja, gerne.
({0})
- Darauf komme ich gleich noch, Frau Schieder.
Bitte.
Lieber Kollege Gerdes, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass gerade solche Fälle, die Sie uns geschildert haben, wie bei Nokia und im Bergbau, die alle
schlimm sind, uns dazu zwingen, darüber nachzudenken
- wir tun das in dem Antrag - und darüber zu reden, dass
wir an Jugendliche die Forderung nach Mobilität stellen
müssen. Jugendliche müssen mehr Mobilität beweisen
und sich mehr vom Elternhaus und ihren Freunden abnabeln, damit es auf dem Markt zu einem Ausgleich kommen kann.
Ich habe heute bei uns in der AG Handwerk von drei
Mittelständlern gehört, die Schwierigkeiten haben, Auszubildende zu bekommen, die keine Aufträge annehmen
können, weil sie keine Fachkräfte haben und keine Auszubildenden zu Fachkräften ausbilden können. Wenn
man Betriebe und Jugendliche zusammenbringen kann
- das versuchen wir mit unserem Antrag hinzubekommen, indem wir darauf hinweisen -, dann kann es gelingen, in den Regionen, in denen Fachkräftemangel, Ausbildungsplatzmangel und auch Auszubildendenmangel
herrscht, einen Ausgleich zu schaffen.
Aber wir müssen davon abkommen, immer nur davon
zu reden, dass die Jugendlichen in bestimmten Regionen
keinen Ausbildungsplatz kriegen. Es gibt genügend Regionen, wo Auszubildende gesucht werden. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis, und verbreiten Sie das in Ihren Reden. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Danke.
Ich nehme das sehr wohl zur Kenntnis. Aber ich
nenne Ihnen noch einmal - ich habe gerade die 300 Ausbildungsplätze, die allein in meiner Heimatstadt wegfallen werden, erwähnt - die Stichwörter: Opel, Nokia.
Opel wird definitiv schließen. Der Bergbau wird definitiv schließen. Sagen Sie mir bitte, wo die Angebote für
die Jugendlichen waren, als Nokia geschlossen hat. Ich
rede jetzt ganz bewusst nicht von Arbeitsplätzen, sondern nur von Ausbildungsplätzen. Glauben Sie mir, dass
bereits heute viele Jugendliche, gerade im Ruhrgebiet,
bereit sind, Mobilität zu zeigen und in andere Regionen
zu gehen.
Gerade habe ich hier gehört, dass andere Regionen,
etwa Thüringen, im Grunde genommen das Problem
hinter sich haben, das wir im Ruhrgebiet noch vor uns
haben. Dazu sage ich: Das kann doch nicht das Argument sein. Das ist doch genau das, was ich hier einfordere: dass wir unseren Jugendlichen Perspektiven geben.
Ich habe gerade gefragt: Wo werden unsere Jugendlichen zukünftig ausgebildet? Wenn Sie mir die Antwort
geben können, dass sie in Deutschland in genügender
Anzahl und mit genügender Qualifikation ausgebildet
werden, dann beruhigt mich das ein wenig. Aber Sie
müssen auch gestatten, dass ich daran nicht so recht
glauben kann.
({0})
Ich will noch einmal zum Thema Ausbildungsreife
kommen, weil das auch für mich ein Begriff ist, der relativ umstritten ist; seine Definition ist aus meiner Sicht
sehr diffus. Ich frage: Wissen die Bewerber von heute
wirklich weniger, und sind sie weniger leistungsbereit
als vor 20 oder 30 Jahren? Passen die Qualifikationen
unserer Schüler nicht mehr mit den Anforderungen des
heutigen Berufsalltags zusammen? Das sind einerseits
Fragen für die Bildungsforschung. Andererseits müssen
wir uns aber auch als Politik fragen, ob wir die Jugendlichen ausreichend auf das Leben nach der Schule vorbereiten. Eine Teilantwort haben wir bereits gefunden: Wir
müssen die Berufsorientierung in den Schulen stärken,
und zwar frühzeitig.
({1})
- Wir sind dabei, ja.
({2})
Ich begleite beispielsweise ein Ausbildungspatenprojekt in meinem Wahlkreis. Die Begegnungen mit den
Schülern zeigen mir, wie sehr junge Menschen auf Ratschläge rund um das Thema Berufsfindung angewiesen
sind. Bei manchen fehlt schlichtweg die Information.
Auch da lautet die Frage leider Gottes: Welche Jobs gibt
es denn überhaupt? - Andere können sich selbst nicht
einschätzen. Da hören die Paten dann: Ich weiß nicht,
was ich kann. Ich weiß nicht, wo meine Stärken und
Schwächen liegen.
Meine Damen und Herren, Schulen, Unternehmen
und Eltern sind stark gefordert, wenn es um die frühe
Vernetzung von Lernalltag und Berufsvorbereitung geht.
Wir brauchen eine qualifizierte Einstiegsvorbereitung
auf den Beruf. Wir brauchen eine individuelle Berufswegeplanung. Das Land Nordrhein-Westfalen geht diesbezüglich neue Wege, wie wir bereits von Kollege Brase
gehört haben. Der Übergang von Schule und Beruf ist
nunmehr Teil der Lehrpläne. Im Mittelpunkt stehen die
Schülerinnen und Schüler und ihre Lebensläufe. Die
Leitlinie heißt: Die Berufs- und Studienorientierung ist
Aufgabe aller allgemeinbildenden Schulen, und in dem
Prozess der Berufs- und Studienorientierung durchlaufen
alle Schülerinnen und Schüler verbindliche Phasen, um
ihre Potenziale zu erkennen.
({3})
Herr Kollege.
Hoffen wir, dass Nordrhein-Westfalen und auch Hamburg im Sinne unserer jungen Generation mit ihren Ansätzen erfolgreich sein werden.
Herr Kollege.
Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung. - Ich
bin am Ende mit meinen Ausführungen, Frau Präsidentin.
Herzlichen Dank.
({0})
Die Kollegin Alpers hatte sich gemeldet, um mit einer
Kurzintervention auf die Rede von Herrn Schummer zu
reagieren. Ihr möchte ich jetzt die Gelegenheit dazu geben.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Schummer,
hätten Sie den Berufsbildungsbericht intensiv gelesen,
würden Sie die regelmäßigen Veröffentlichungen des
Bundesinstitutes für Berufsbildung lesen, wüssten Sie
genau, woher meine Zahlen kommen. Das als Aufklärung über die Behauptung, ich benutzte falsche Zahlen.
Interessant fand ich: In Ihrem Antrag legen Sie einen
Schwerpunkt darauf, dass auch leistungsstarke Jugendliche - vielleicht gehen sie auf ein Gymnasium - tatsächlich mehr in die duale Ausbildung integriert werden;
dazu gibt es einen Spiegelstrich in Ihrem Antrag.
Ein anderer Spiegelstrich besagt, Berufsorientierung
für möglichst viele Schülerinnen und Schüler sei nötig,
gerade im Theorie-Praxis-Verhältnis. Die Wirtschaft
sagt: Wir wollen keine Gymnasiasten, wir wollen keine
Absolventen; wir wollen Persönlichkeiten.
Aber - das beantworten Sie mir bitte - warum hat die
Koalition alle Gymnasien aus der Berufsorientierung herausgenommen, wo doch klar ist, dass alle Schüler dieses Theorie-Praxis-Verhältnis kennenlernen sollen? Erklären Sie mir das bitte noch einmal.
Vielen Dank.
Herr Schummer zur Antwort.
Erstens. Alle Zahlen, die Sie aus dem Berufsbildungsbericht zitiert haben, sind richtig; alle anderen waren
verkehrt.
Nun zum Thema Übergangssystem. Wir haben bei
den begrenzten finanziellen Mitteln natürlich eine Entwicklung in Stufen. Die Bildungsketten, die seit drei
Jahren zur Glättung des Übergangssystems entwickelt
werden - vorgesehen ist mehr Vorlaufzeit; ich habe das
zu Beginn geschildert -, sollen bei den Hauptschulen,
bei den Realschulen und bei den Gesamtschulen starten.
Natürlich brauchen wir, da auch hier die Abbrecherquote
groß ist, beispielsweise beim Übergang von der Schule
in die Universitäten, eine Studienvorbereitung; dort liegt
die Abbrecherquote in einigen Bereichen bei 40 Prozent,
in der beruflichen Ausbildung bei etwa 23 oder 24 Prozent. Das wird man nacheinander entwickeln.
Ich überlege mit Blick auf meinen Heimatkreis derzeit: Welche Maßnahmen werden im Kreis Viersen an
welchen Schulen durchgeführt? Das sind zum Beispiel
Potenzialanalysen, die in den Werkstätten durchgeführt
werden; das sind Berufseinstiegsbegleiter für diejenigen,
die einen besonderen Förderbedarf haben, und letztlich
sind das die betrieblichen Praktika. Auf der Bundesebene besteht die Aufgabe, dieses in die Regionen zu
transportieren und zu schauen, dass dort kein Kind verloren geht. Da beziehen wir wahrscheinlich auch mit
Ihnen eine gemeinsame Position. Aber das ist die konkrete Politik, die wir mit Annette Schavan seit einigen
Jahren praktizieren und die wir weiter ausfeilen werden.
({0})
Jetzt hat Sylvia Canel das Wort für die FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
natürlich eine schwere Stunde für unsere Opposition. Ich
leide in Solidarität ein bisschen mit Ihnen; denn der
Berufsbildungsbericht ist ein echtes Highlight, und all
Ihre Bemühungen, mit parteipolitischer und rhetorischer
Profilierung zu punkten, sind leider wirklich nicht richtig am Platz.
({0})
Sie müssen doch jetzt zur Kenntnis nehmen: Es geht
hier um junge Menschen. Diese jungen Menschen haben
in viel größerem Umfang als vorher einen Ausbildungsplatz bekommen. Der Berufsbildungsbericht 2012 belegt
auf hervorragende Art und Weise, wie sich die Ausbildungsbedingungen in Deutschland dank unserer richtigen Bildungspolitik, der Bildungspolitik dieser Regierung, stetig verbessert haben.
({1})
Nach den Diskussionen, die wir hier gehört haben,
müssen wir wieder auf das Wesentliche zurückkommen,
nämlich auf den Kern des Berichts. Vor allem die duale
Ausbildung wird in der Gesellschaft hoch angesehen.
({2})
Da dies letztlich der entscheidende Faktor ist für die geringe Jugendarbeitslosigkeit, dürfen wir auch stolz auf
diesen Bericht sein; denn die Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland liegt gerade einmal bei 8,1 Prozent - im
Vergleich zum europäischen Durchschnitt, der nämlich
bei 23,4 Prozent liegt. Das sind Zahlen, die sich sehen
lassen können, meine Damen und Herren.
({3})
Folglich wird das Konzept der dualen Ausbildung in
manche europäische Nachbarländer und auch in Länder
auf der ganzen Welt exportiert, und dies völlig zu Recht.
Wir sehen, dass beispielsweise in Spanien eine sehr hohe
Jugendarbeitslosigkeit besteht. Jeder zweite Jugendliche
dort hat keinen Ausbildungsplatz. Deshalb ist es gut und
richtig, wenn unsere Kammern Initiativen ergreifen, den
betroffenen Jugendlichen zu helfen. Ich habe das - ich
weiß gar nicht, wer das hier genannt hat - mit Erstaunen
zur Kenntnis genommen. Aber wenn jeder zweite Jugendliche keine Ausbildung hat, ist es gut und richtig,
wenn von Deutschland geholfen wird.
({4})
Insgesamt geht aus dem Berufsbildungsbericht hervor, dass die Zahl der betrieblichen Ausbildungsverträge
weiter zugenommen hat, nämlich um 1,8 Prozent. Es
sind etwas mehr als 570 000 neue Ausbildungsverträge
abgeschlossen worden. Das ist eine gute Zahl.
({5})
Es gibt mehr unbesetzte Ausbildungsplätze als unversorgte Bewerber. Vielleicht mögen Sie die Zahlen nicht,
aber sie sind richtig, und sie müssen genannt werden: Es
gibt knapp 30 000 unbesetzte Ausbildungsstellen, denen
nur 11 550 unversorgte Bewerberinnen und Bewerber
gegenüberstehen.
Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einer
guten wirtschaftlichen Entwicklung und damit auch mit
einem guten Angebot an Ausbildungsplätzen für junge
Leute zu tun.
({6})
Die Zahl der Altbewerber hat sich zunehmend verringert: 5,7 Prozent sind es weniger. Auch diese Zahl ist ein
Parameter für eine erfolgreiche Politik.
Es gibt weniger Jugendliche im Übergangsbereich.
Wir haben diesen Übergangsbereich hier völlig zu Recht
relativ intensiv diskutiert. Natürlich ist das ein Problem,
an dem gearbeitet werden muss. Aber, meine Damen
und Herren, dabei dürfen Sie doch nicht vergessen, zu
erwähnen, dass sich dieser Bereich um 8 Prozent verringert hat.
({7})
Also, die Richtung der Regierung stimmt.
({8})
Frau Kollegin, Frau Alpers würde Ihnen eine Frage
stellen wollen. Möchten Sie die zulassen?
Nein. Danke.
Dennoch steht das duale Ausbildungssystem in
Deutschland vor neuen Herausforderungen, und diese
Herausforderungen müssen wir annehmen. Das tun wir
in der Regierung. Sie haben es hier gehört. Auch unsere
Bildungsketten sind dabei, zu greifen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie schon kein Haar
in der Suppe finden, dann sagen Sie doch einfach einmal: Klasse, dass wir in Deutschland so gut vorankommen! Gut, dass Frau Annette Schavan, unsere Ministerin, und die Regierung aus FDP und CDU/CSU so vieles
geleistet haben! Hier geht es um Jugendliche. Wir finden
das richtig.
Danke sehr.
({0})
Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Natürlich ringen wir um jeden Jugendlichen, und natürlich darf kein Jugendlicher auf dem
Weg verloren gehen. Aber das ist nur eine Seite. Die andere Seite der Geschichte ist, dass das duale Bildungssystem nicht primär ein soziales Auffangbecken ist,
({0})
sondern dass es das qualitativ beste Ausbildungssystem
für Fachkräfte auf dieser Welt ist. Deswegen ist es zu
wenig, ausschließlich den Jugendlichen mit Problemen
zu helfen; wir müssen auch überlegen, wie wir das gesamte System dauerhaft für die breite Masse der Jugendlichen attraktiv erhalten.
Nur dann werden die Betriebe ein Interesse haben,
dauerhaft auszubilden, wenn sie leistungsfähige und
leistungsbereite Jugendliche für das System gewinnen
können. Die Zahl wurde genannt: Die Unternehmen leisten derzeit bei der Ausbildung von 1,5 Millionen Auszubildenden mit beinahe 30 Milliarden Euro einen Riesenkraftakt. Das ist mehr Geld, als Länder und Bund
gemeinsam für die Lehre an den Hochschulen investieren.
({1})
- Ja, das ist ihre ureigenste Aufgabe, aber es ist trotzdem
eine herausragende Leistung, die immer wieder gelobt
und genannt werden muss, sehr geehrte Damen und
Herren.
({2})
Wir wollen, dass die Betriebe dauerhaft ausreichend
leistungsstarke Jugendliche für das duale System gewinnen können; das ist auch notwendig. In Zeiten aber, in
denen aufgrund der demografischen Entwicklung immer
weniger Jugendliche da sind und in denen immer mehr
Jugendliche an die Hochschulen drängen, besteht die
Gefahr, dass das duale System ausgehöhlt wird. Herr
Kollege Brase, Sie haben die richtigen Fragen gestellt.
Nur, das Problem ist, dass Sie mit den Antworten in Ihrem Antrag, wie ich finde, letztendlich zu kurz springen.
Im Jahr 2000 hatten wir noch doppelt so viele Ausbildungsverträge wie Studienanfänger. Im Jahr 2012 war
die Zahl der Jugendlichen, die eine Ausbildung begonnen haben, und derjenigen Jugendlichen, die an die
Hochschulen gegangen sind, beinahe gleich hoch. Ja,
wir brauchen Ärzte, wir brauchen Ingenieure, wir brauchen Lehrer, aber gleichzeitig müssen wir aufpassen,
dass wir das Fundament unseres Wirtschaftssystems
- das ist auch das duale System - nicht kaputtmachen.
({3})
Wir brauchen auch künftig ausgebildete Fachkräfte.
Es geht uns um das Element der beruflichen Handlungskompetenz, die in der dualen Ausbildung erworben wird.
Deswegen müssen wir nicht nur die duale Ausbildung,
sondern auch das duale Bildungssystem als solches in
Gänze weiterentwickeln. Wir brauchen nicht, Kollege
Brase, ein Entweder-oder, eine berufliche oder eine akademische Ausbildung.
({4})
- Das habe ich auch nicht unterstellt; ich beziehe mich
nur auf Ihre Fragestellung. - Ich glaube, dass die Weiterentwicklung darin liegt, dass wir sowohl beruflich als
auch akademisch ausbilden müssen. Das heißt, wir brauchen ein Sowohl-als-auch.
Wenn das der Schlüsselsatz ist, wenn das das Leitbild
für die Zukunft sein muss und sein wird, dann heißt das:
Wir müssen duale Bildung und Hochschulen zusammenbringen, zum Beispiel mit dualen Studiengängen.
({5})
Wir, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, haben seit
dem Dresdner Bildungsgipfel 2008 sehr wohl einiges erreicht. Zum Ersten haben die Länder ihre Hochschulgesetze geöffnet. Fast jeder beruflich Qualifizierte hat nun
die Möglichkeit, fachbezogen zu studieren. Das ist
Durchlässigkeit. Zum Zweiten brauchen wir aber auch
einen weiteren Ausbau der dualen Studiengänge. Zurzeit
gibt es über 60 000 Studierende in dualen Studiengängen. Ich bin der Meinung, dass das erst der Anfang sein
kann. In diesem Bereich gibt es in der Tat erhebliches
Potenzial. Es ist kein Randbereich - so wird das Thema
duales Studium oft eingeordnet -, sondern es ist eine
Albert Rupprecht ({6})
substanzielle, wichtige Weiterentwicklung, die den Anforderungen des demografischen Wandels entspricht.
Zu den Anträgen der Opposition. Es waren durchaus
vernünftige Vorschläge dabei. Bei den Linken erlaube
ich mir, zu sagen: wenige. Bei den Grünen und der SPD
gab es, wie gesagt, durchaus vernünftige Vorschläge. Ich
glaube aber trotzdem, dass es allen diesen Vorschlägen
an einem mangelt: Sie sind zu rückwärtsgewandt. Sie
geben auf die Frage, wie wir das duale System auf Dauer
attraktiv erhalten können, keine Antwort.
({7})
Die Zeiten haben sich vollkommen geändert. Wenn
wir während der Regierungszeit von Rot-Grün einen
dramatischen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit verzeichneten und eine schlimme Lehrstellenkrise erlebten,
so stellen wir heute, Jahre später, fest, dass wir seit fünf
Jahren mehr freie Lehrstellen als unversorgte Bewerber
haben.
({8})
- Kollegin Schieder, das ist richtig. Die demografische
Entwicklung gibt es auch in Spanien. Trotzdem haben in
Spanien 50 Prozent der Jugendlichen keinen Arbeitsplatz. Die Entwicklung bei uns hat sich natürlich auch
durch die demografische Entwicklung ergeben. Aber
wenn man den Vergleich zu anderen Ländern zieht, sieht
man, dass das überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist,
dass es vielmehr hausgemacht ist. Es liegt an der Kraft
Deutschlands in einer Zeit internationaler Krisen und
auch an der Kraft des dualen Ausbildungssystem, dass
wir so erfolgreich sind.
Lassen Sie mich abschießend auf einen erstaunlichen
Vorgang hinweisen, der bisher nicht erwähnt worden ist.
Die SPD hat jahrelang populistisch eine allgemeine
Ausbildungsplatzabgabe gefordert. Wir haben dieses
Ausbildungsplatzvernichtungskonzept all die Jahre
- Gott sei Dank - verhindern können. Im heute vorliegenden Antrag hat die SPD die Forderung nach dieser
Ausbildungsplatzabgabe klammheimlich beerdigt.
({9})
Ich finde es gut, Herr Kollege Brase, dass die SPD
eingesehen hat, dass sie jahrelang auf dem Holzweg war.
Es wurde Zeit.
Herzlichen Dank.
({10})
Jetzt hat Ewa Klamt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das deutsche Berufsbildungssystem ist ein Erfolgsmodell, um das wir weltweit beneidet werden. Kai
Gehring, wir teilen es gerne mit unseren europäischen
Nachbarn. Frau Ministerin hat es gesagt: Es fand vor
kurzem die Berufsbildungskonferenz mit Vertretern von
sechs Mitgliedstaaten statt. Umsetzen müssen diese
Länder es schon selber.
Gerade unser deutsches Ausbildungssystem hat dazu
beigetragen, dass bei uns die Jugendarbeitslosigkeit bei
8,2 Prozent liegt, während sie im europäischen Durchschnitt 22,4 Prozent beträgt. Wir wollen dieses erfolgreiche Modell der dualen Ausbildung weiter stärken und es
an die künftigen Herausforderungen anpassen.
Dass der Bund seit 2005 gerade mit Blick auf benachteiligte Jugendliche, mit Blick auf die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung etwas auf den Weg gebracht hat, zeigen die Fakten. Deutlich zurückgegangen,
nämlich um 5,7 Prozent, ist die Zahl derer, die noch
2010 unversorgt geblieben sind. Das waren 10 000 junge
Menschen. Ebenso können wir konstatieren, dass es im
Jahr 2011 10 000 neue Ausbildungsplätze gegeben hat.
Frau Alpers, dies ist im Bundesbildungsbericht nachzulesen.
Trotzdem beträgt die Zahl der Unversorgten jetzt
noch 174 000, um die wir uns besonders kümmern müssen. Vor vier Jahren waren dies allerdings noch 100 000
mehr. Das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.
({0})
Herr Brase und Herr Gehring, auch die Zahl der Eintritte in das Übergangssystem sinkt kontinuierlich: um
8 Prozent im Jahr 2011. Und ganz entscheidend ist: Seit
2005 sank die Zahl um knapp 30 Prozent. Das ist keine
Konsequenz der demografischen Entwicklung, sondern
es ist das Resultat zahlreicher Maßnahmen unter Teilnahme vieler Akteure.
({1})
Gefordert sind hier nämlich Bund und Länder gleichermaßen.
Mein Bundesland Niedersachsen zeigt, wie man es
richtig macht, und zwar durch die Weichenstellung, die
die CDU-FDP-Regierung 2003 getroffen hat. Das geschieht nicht nur durch Lösungen, die erst dann ansetzen, wenn es um den Übergang in die Berufsausbildung
geht. Lösungen müssen viel früher ansetzen, nämlich
schon im vorschulischen und im schulischen Bereich.
Deshalb haben wir in Niedersachsen für eine frühzeitige Feststellung der Sprachfertigkeit und eine gezielte
Sprachförderung vor Schuleintritt gesorgt.
({2})
Dafür sind auch finanzielle Prioritäten gesetzt worden.
In Niedersachsen geht heute jeder dritte Euro des Landeshaushaltes in die Bildung.
({3})
Und so, liebe Kolleginnen und Kollegen, schafft man es
in Niedersachsen, jungen Menschen eine Versicherung
gegen Jugendarbeitslosigkeit zu bieten.
({4})
2003, am Ende der Amtszeit der SPD-geführten Regierung in Niedersachsen, sah das noch ganz anders aus.
Der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss lag bei
10,4 Prozent - eine desaströse Hinterlassenschaft.
Heute, zehn Jahre später, haben wir diese Zahl dank vieler erfolgreicher Maßnahmen praktisch halbiert, wir liegen jetzt bei 5,4 Prozent.
({5})
Seit 2003 sanken in Niedersachsen die Schülerzahlen
um 100 000. Wir haben in diesem Zeitraum jedoch die
Anzahl der Lehrkräfte erhöht. Wir haben eine engere
Zusammenarbeit von Haupt- und Realschulen mit den
berufsbildenden Schulen geschaffen, die mittlerweile
bundesweit als führend gilt. Damit verbessern sich nachweislich die Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Heute
gibt es ein flächendeckendes Kompetenzfeststellungsverfahren ab Klasse acht, das für eine frühzeitige Orientierung der Jugendlichen sorgt.
Das alles zeigt: Wenn man die guten Programme des
Bundes mit guten Maßnahmen und innovativen Aktivitäten vor Ort zusammenführt, dann kann man für unsere
jungen Menschen sehr viel schaffen. Darum würde ich
mich erstens sehr freuen, wenn Sie unserem Antrag
heute zustimmen könnten, und zweitens, wenn wir die
Regierung in Niedersachsen fortsetzen könnten.
({6})
Das war unsere Kollegin Ewa Klamt für die Fraktion
der CDU/CSU.
Wir sind am Ende unserer Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache
17/12089. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/10986 mit dem Titel „Das deutsche Berufsbildungssystem - Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10116 mit dem Titel „Jugendliche haben ein
Recht auf Ausbildung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten.
Enthaltungen? - Das sind die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/10856 mit
dem Titel „Perspektiven für 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss schaffen - Ausbildung für
alle garantieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die sozialdemokratische Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Gegenprobe! - Das ist die Fraktion Die
Linke. Enthalten hat sich infolgedessen niemand. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9586 mit dem Titel „Mit DualPlus mehr Jugendlichen und Betrieben die Teilnahme an der dualen
Ausbildung ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen,
Sozialdemokraten und Linksfraktion. Gegenprobe! - Das
ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe somit den
Tagesordnungspunkt 12 unserer heutigen Beratungen
auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Für alle Kinder und Jugendlichen eine hochwertige und unentgeltliche Verpflegung in
Schulen und Kindertagesstätten gewährleisten
- Drucksache 17/11880 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dem widerspricht niemand. Dann haben wir dies gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer
Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Karin Binder. Bitte schön, Frau Kollegin Karin
Binder.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kein Kind soll mit knurrendem Magen die Schulbank
drücken; da werden Sie mir sicherlich alle zustimmen.
Aber im bundesdeutschen Schulalltag sieht es leider an26844
ders aus. Dazu eine kurze Situationsbeschreibung: Ein
Viertel aller Schülerinnen und Schüler geht morgens
ohne Frühstück aus dem Haus.
({0})
Wer sich das Mittagessen nicht leisten kann, bekommt
oft erst wieder am Abend zu Hause eine anständige
Mahlzeit.
Die Eltern sind oft an ihrer Leistungsgrenze. Die Anforderungen der heutigen Arbeitswelt im Hinblick auf
Flexibilität und Mobilität, weite Wege zum Arbeitsplatz
und ständige Verfügbarkeit lassen es nicht zu, dass Mutti
oder Vati kocht und um eins das Mittagessen auf dem
Tisch steht. Außerdem verbringen Kinder immer mehr
Zeit des Tages in Schule oder Kindergarten. Auch häufiger Nachmittagsunterricht führt zu längeren Schultagen.
Immer mehr Kinder besuchen eine Ganztagseinrichtung.
Wir alle wissen, welche Folgen eine Fehlernährung
mit Fastfood bei Kindern haben kann. Deshalb gehören
ein gutes Mittagessen und eine vernünftige Pausenverpflegung, für alle Kinder und kostenfrei, zum guten Lernen im Schulalltag dazu.
({1})
Warum ist das so wichtig? Alle Kinder und Jugendlichen
brauchen eine Chance, unabhängig von ihrer Herkunft
und vom Geldbeutel der Eltern. Um gesund aufwachsen
und Bildung wahrnehmen zu können, braucht man eine
vernünftige Verpflegung über den Tag hinweg. Wir hier
im Bundestag können dazu beitragen, Bildungsunterschiede abzubauen und allen Kindern eine gesunde Entwicklung und einen guten Schulabschluss zu ermöglichen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder und
Jugendliche in der Lage sind, eine Ausbildung aufzunehmen und einen vernünftigen Beruf auszuüben, damit sie
später ihre Existenzgrundlage eigenständig erwirtschaften können. Darum ist Schulverpflegung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Bund hat die Verantwortung
und die Pflicht, sich um die Finanzierung zu kümmern.
({2})
In Firmen und Behörden, auch hier im Bundestag,
wird die Kantine wie selbstverständlich eingeplant. In
vielen Schulen gibt es aber nicht einmal einen Pausenraum.
({3})
Kinder werden häufig in Kellerräumen, bestenfalls in
der Aula mit einem aufgewärmten oder lange warmgehaltenen Essen abgespeist. Viele Schulen bieten gar kein
warmes Mittagessen an - trotz der deutlichen Zunahme
der Zahl der Ganztagsschulen. Es fehlt an qualifiziertem
Personal und Räumlichkeiten. Kommunen bzw. Schulträgern stehen manchmal nur 1,60 Euro pro Essen zur
Verfügung. Das ist die traurige Realität. Damit müssen
wir Schluss machen.
({4})
Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung ist dabei leider keine Hilfe. Kinder und Eltern müssen als Bittsteller bürokratische Hürden überwinden, um
einen Zuschuss für eine Schulmahlzeit zu bekommen.
({5})
Das ist unwürdig und obendrein unsinnig. Allein der
Verwaltungsaufwand schluckt Mittel, die viel sinnvoller
direkt in die Schulspeisung investiert werden könnten.
({6})
In Sachen Schul- und Kitaverpflegung ist Deutschland leider ein Entwicklungsland. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Ernährung und Lernerfolg unbestritten. Im Laufe eines Schul- oder Kitatages sollten Kinder
und Jugendliche mit dem Essen rund 40 Prozent ihrer
Tagesenergie aufnehmen. Ist das nicht gewährleistet,
sind Konzentrations- und Lernschwächen vorprogrammiert.
Aus diesem Grund müssen schon bei der Planung einer Schule oder Kita die Kantine und im Lernalltag die
Verpflegung in den Mittelpunkt gerückt werden. Dass so
etwas geht, haben uns Schülerinnen und Schüler der Offenen Schule Kassel-Waldau im Rahmen einer Veranstaltung der Fraktion Die Linke im Oktober 2012 eindrucksvoll dargestellt.
({7})
Dort ist die Schulverpflegung fester Bestandteil des Unterrichtstages. Die Kinder und Jugendlichen planen gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern sowie mit
den Eltern ein vielfältiges Angebot und abwechslungsreiche Menüs - bio und möglichst aus regional erzeugten
Produkten. Das wird von allen gerne angenommen.
Damit kommen wir zum Kern der Sache, nämlich zu
den Kosten und zur Finanzierung. Unabhängig von der
Frage, wer am Ende das Schul- und Kitaessen bezahlt:
Für eine hochwertige und leckere Verpflegung sollten
mindestens 4 Euro pro Tag und Kind angesetzt werden.
Da die Länder aber mit der Schuldenbremse und viele
Kommunen mit einer Haushaltssperre belastet sind, fordert die Linke, dass die Bundesregierung bundesweit
und flächendeckend eine hochwertige und unentgeltliche
Schul- und Kitaverpflegung auf den Weg bringt und die
Finanzierung dafür übernimmt.
({8})
Der Bund trägt die gesamtgesellschaftliche Verantwortung und ist zur Angleichung der Lebensverhältnisse in
Deutschland verpflichtet. Dafür hat er auch die Finanzierung sicherzustellen.
Nun zu weiteren Punkten in unserem Antrag. Die
Umsetzung muss gemeinsam mit den Ländern, den
Kommunen bzw. den Schulträgern, den Lehrerinnen und
Lehrern, den Schülerinnen und Schülern und den Eltern
erfolgen.
Ein weiterer wichtiger Punkt unseres Antrags: Das
Fachwissen und das Engagement der Vernetzungsstellen
Schulverpflegung werden dafür dringend benötigt. Deshalb sind sie im Rahmen des Aktionsplans „IN FORM“
dauerhaft abzusichern.
Ein weiterer Punkt unseres Antrags: Qualitätsstandards, wie sie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft
für Ernährung herausgibt, müssen verbindlich in Schulund Kitagesetze aufgenommen werden, damit die Kinder nicht nur abgespeist werden. „Hauptsache satt“ führt
nicht zum Erfolg.
Ernährung ist kein Thema für den Frontalunterricht.
Schülerinnen und Schüler sollen selbst kochen, einkaufen und vielleicht auch in einem Schulgarten Obst und
Gemüse selbst anbauen und ernten.
({9})
Schul- und Kitaverpflegung soll möglichst mit Erzeugnissen aus der Region frisch vor Ort zubereitet werden.
Das Essen soll abwechslungsreich, ohne Geschmacksverstärker, Aromen und andere Zusatzstoffe sein.
Finanziell klamme Kommunen brauchen Investitionshilfen des Bundes, um geeignete Kantinen und Essräume
einzurichten.
In einem ersten Schritt soll es auch um die Mehrwertsteuer gehen.
({10})
Zumindest eine Reduzierung oder nach Möglichkeit der
Erlass der gesamten Mehrwertsteuer wäre sinnvoll und
hilfreich.
({11})
Um es noch einmal deutlich zu machen: Das gemeinsame Frühstück und das gemeinsame Mittagessen schaffen Erfahrungswerte und unterstützen eine gute Ernährungsweise und den Lernerfolg bei allen Kindern.
In Ländern mit hohen Bildungserfolgen, wie zum
Beispiel in Finnland und Schweden, ist das unentgeltliche Schulessen eine Selbstverständlichkeit. Ich frage Sie
also: Was ist Ihnen die gesunde Ernährung und Entwicklung und der Lernerfolg der Kinder in Deutschland wert?
Nehmen Sie gemeinsam mit der Linken die Verantwortung für die Kinder in Deutschland wahr.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin Karin Binder. - Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unsere Kollegin Frau Mechthild Heil. Bitte
schön, Frau Kollegin Mechthild Heil.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich, dass wir über das wichtige
Thema „Gesunde Ernährung und Schulverpflegung“
sprechen; denn wir haben im wahrsten Sinne des Wortes
ein schwerwiegendes Problem in Deutschland. 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, und
6 Prozent unserer Kinder leiden bereits an Adipositas.
Das ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern
auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es geht dabei nicht um ein Modeideal, das Schlankheit diktiert.
Vielmehr geht es darum, dass aus den vielen übergewichtigen Kindern auch übergewichtige Erwachsene
werden, die an den Folgen wie Diabetes, Bluthochdruck
oder an Problemen mit dem Bewegungsapparat leiden
werden. So weit wollen wir es nicht kommen lassen.
Deshalb gilt es, präventiv tätig zu werden.
Der Schlüssel für eine gesunde Lebensweise liegt in
ausreichender Bewegung und in guter Ernährung. Die
Grundlagen dafür werden schon in ganz jungen Jahren
gelegt. An erster Stelle ist deswegen die Familie zu nennen. Die Eltern und die Geschwister leben die Bewegungs- und Ernährungsgewohnheiten vor, an denen sich
die Kinder orientieren. Diese festigen sich dann im weiteren Leben. Das Frühstück, liebe Frau Binder, gehört
natürlich zunächst in den Rahmen der Familie.
({0})
Neben den Familien werden aber auch die Kitas und
die Schulen immer wichtiger bei der täglichen Verpflegung unserer Kinder. Die Zahl der Ganztagsschulen
- um ein Beispiel zu nennen - hat sich seit 2003 verdreifacht, das heißt, Ernährung findet nicht mehr nur zu
Hause statt, sondern einige Kinder werden hauptsächlich
in öffentlichen Einrichtungen ernährt. Damit wächst
natürlich die Verantwortung der Schulen und der Kindergärten für das Ernährungsverhalten der Kinder.
Die Fakten sind also klar. Aber was machen die Kollegen von der Linken daraus? Sie stellen einen absurden
Antrag.
({1})
Ihr Antrag ist absurd, weil Ihre Forderungen erstens zum
großen Teil schon umgesetzt wurden,
({2})
und zweitens ist er an die komplett falsche Adresse gerichtet; denn der Bund ist nicht zuständig.
({3})
Das Grundgesetz steht einer vollen, direkten Finanzierung der Schulverpflegung durch den Bund entgegen.
Das schreiben Sie auch selbst im Antrag.
({4})
Bildung ist nun einmal klassische Länderaufgabe.
Was können wir auf Bundesebene tun, ohne den Ländern ins Handwerk zu pfuschen? Informieren, informieren und noch einmal informieren. In diesem Fall gilt
ausnahmsweise: Viel hilft viel. Vielleicht hilft auch an
dieser Stelle der Hinweis an die Linken, endlich zu
erkennen, dass wir in Deutschland schon sehr gut aufgestellt sind und dass ihr Antrag nicht nur absurd, sondern auch völlig überflüssig ist.
({5})
Erstens. Seit 2008 gibt es den nationalen Aktionsplan
„IN FORM“, Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung. Im Rahmen von IN FORM
unterstützt unser Ministerium, das BMELV, in allen
Bundesländern Vernetzungsstellen zur Schulverpflegung. Diese Vernetzungsstellen wiederum unterstützen
die Schulen und die Kitas. Sie bieten umfassende Informationen über eine bedarfsgerechte und gesunde Verpflegung an, organisieren Fortbildungsveranstaltungen
und vermitteln Fachkräfte für die Beratung vor Ort.
Die Grundlage hierfür bietet der „DGE-Qualitätsstandard für die Schulverpflegung“, der von der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung entwickelt wurde. Für die
Verantwortlichen vor Ort ist das eine sehr große Hilfe;
denn jetzt gibt es erstmals wissenschaftlich gesicherte,
praxisbezogene bundesweite Standards.
({6})
Allerdings entscheiden die Bundesländer und je nach
Landesregierung sogar die Schulträger oder die Schulen
selbst, in welcher Weise die Standards in den Schulen
umgesetzt werden. Die Bundesländer entscheiden das,
meine Damen und Herren.
({7})
Über IN FORM werden zum Beispiel gefördert: der
„aid-Ernährungsführerschein“ für Grundschüler, das Unterrichtskonzept „SchmExperten“ für weiterführende
Schulen sowie die von der Verbraucherzentrale durchgeführte „Ess-Kult-Tour“. Übrigens mehr als eine halbe
Million Kinder haben den Ernährungsführerschein schon
erworben. Das Projekt erreicht die Kinder also tatsächlich. Das ist kein Papiertiger. Die Kinder geben ihr
Wissen und ihre Begeisterung an ihre Familien weiter.
So muss man das machen. Das ist der richtige Weg,
meine Damen und Herren von der Linken.
({8})
Zweitens. Seit Herbst 2009 stellt die Europäische
Union Mittel für Schulfruchtprogramme zur Verfügung.
In mehreren Bundesländern gibt es mittlerweile
Schulobstprogramme, die sehr positiv aufgenommen
werden. In Deutschland stehen dafür pro Jahr 12,5 Millionen Euro zur Verfügung.
Drittens. Mit dem Schulmilchprogramm stellt die
Europäische Union weitere 6,3 Millionen Euro an
Zuschüssen für Deutschland bereit. Milch und Milchprodukte werden damit in den Schulen angeboten.
Bei der Mittagsverpflegung wird der Fokus ferner auf
Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen
Familien gelegt. Im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erhalten sie das Mittagessen in Kitas, Schulen und
Horten. Das Angebot wird sehr gut angenommen.
({9})
Das ist die am häufigsten genutzte Komponente des Bildungspakets. Frau Binder, wir haben das gemacht. Sie
meckern immer nur herum, während wir handeln.
({10})
Was können wir darüber hinaus noch tun? Ich plädiere für die Integration des Themas „Gesunde Ernährung und Bewegung“ in das bestehende Fächerangebot aller Bildungseinrichtungen.
({11})
- Das ist Ländersache. Deswegen appelliere ich. Sonst
würden wir das ja selber tun. Danke! - Wir brauchen einen fächerübergreifenden Ansatz. Es reicht eben nicht,
den Kindern wortlos einen Apfel oder ein Glas Milch in
die Hand zu drücken, garniert mit der Aussage: Bewegt
euch ruhig mal! Wir müssen ein Bewusstsein für gesunde Verhaltensweisen schaffen - konstruktiv und vor
allen Dingen positiv -, über Spaß und ein gutes Selbstgefühl.
Wir können alle als gute Vorbilder für unsere Kinder
und Jugendlichen vorangehen; denn Heranwachsende
lernen die Muster und ahmen Verhalten nach. Das gilt
für Bewegungsabläufe genauso wie für den sprachlichen
Ausdruck, aber eben auch für die Ernährungsgewohnheiten. Allerdings gilt frei nach dem Motto „Die Alten
joggen, die Jungen hocken!“ auch - das gebe ich zu -,
dass sich die Alterseinsicht nicht zwangsläufig auf die
Kinder überträgt. Deshalb hat unsere Regierung diese
tollen Projekte gestartet.
({12})
- Die Alten joggen, und die Jungen hocken.
({13})
- Das ist mein Motto, ja.
Wir wollen die Kinder direkt erreichen und zu einer
gesunden und bewegten Lebensweise motivieren. Jetzt
sind die Länder in der Pflicht: Bleiben Sie also nicht
hocken. Nutzen Sie diese Angebote noch besser, als Sie
das bisher getan haben. Das ist eine Investition in die
Zukunft.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank, Kollegin Mechthild Heil. - Als Nächste
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere
Kollegin Frau Petra Crone. Bitte schön, Frau Kollegin
Petra Crone.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Die Geschichte der
Schulverpflegung in Deutschland kann man nur im
Zusammenhang mit der Geschichte der Ganztagsschule
erzählen. Viele unserer europäischen Nachbarn haben
seit jeher eine Ganztagsschultradition. In Deutschland
gab erst der PISA-Schock den Anstoß. Die rot-grüne
Bundesregierung legte vor zehn Jahren das Programm
„Zukunft Bildung und Betreuung“ vor. Investiert wurden
4 Milliarden Euro in den Aus- und Umbau von über
7 000 Schulen.
({0})
Damals wurde von der Kultusministerkonferenz auch
festgelegt, dass den Schülern der Ganztagsschule ein
Mittagessen bereitgestellt wird. Auf das erfolgreiche
Programm folgte Anfang 2009 - wieder kam die Initiative von der SPD - das Konjunkturpaket II. Erneut kam
es zu Investitionen im Bildungsbereich in Milliardenhöhe. Heute bietet die Hälfte aller Schulen einen Ganztagsbetrieb an, der von jedem dritten Schüler bzw. jeder
dritten Schülerin genutzt wird.
Der Ausbau geht weiter. Er muss weitergehen. Die
SPD-Bundestagsfraktion hat hierfür das Projekt „Gute
Ganztagsschule“ entwickelt. Bei Ganztagsschulen geht
es um bauliche Notwendigkeiten, aber auch um Methodik und Didaktik in Verbindung mit außerschulischem
Engagement. Das sind zweifellos bedeutende Themen.
Haben wir aber auch über das per Definition vorgeschriebene Mittagessen und über die Bedeutung der Fakten nachgedacht, dass unsere Kinder nämlich 40 Prozent
ihrer Energie durch Schulverpflegung decken müssen?
Haben wir zu sehr auf den Kopf geschaut und dabei den
Magen vergessen? Gehört die Ernährung nicht unerlässlich zur ganzheitlichen Bildung? Hinzu kommt die überstürzte Einführung des Abis nach zwölf Jahren. G 8 ergibt Stress bei den Kindern plus Groll bei den Eltern.
({1})
Obwohl die Schüler nachmittags mit einer Fülle an Stoff
kämpfen, sind Cafeterien oder gar Mensen Mangelware
oder mangelhaft.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei der Vorbereitung dieser Rede sind mir zwei Schlagzeilen aus dem
Jahr 2012 in den Sinn gekommen. Eine lautete: „Erdbeeren aus China verursachen eine Epidemie unter Tausenden Schülern“, eine andere: „Der Ernährungsbericht
2012 vermeldet einen Rückgang des Übergewichts bei
Kindern in nahezu allen Bundesländern.“ Was ziehen
wir daraus für Lehren? Erstens. In vielen Schulkantinen
ist nichts gut. Zweitens. Eine intensive Aufklärungsarbeit zeigt Wirkung. Darum müssen wir mit gemeinsamer
Kraftanstrengung die Verpflegung für unsere Kinder an
den Schulen etablieren und verbessern. Das wird nicht
leicht sein, es ist aber auch kein Ding der Unmöglichkeit.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, in Schweden und
Finnland ist das Essen für alle Kinder kostenlos, Standards inklusive. Ob Schulverpflegung gesellschaftlich
akzeptiert wird, ist an Rahmenbedingungen geknüpft.
Hier sind die Gleichstellungs- und Familienpolitik gefragt. In Schweden existiert das Leitbild der in Vollzeit
erwerbstätigen Frau. Da ist es überhaupt keine Frage,
dass die staatliche Verantwortung die Kinderbetreuung
und die Mittagsverpflegung umfasst. Das ist bei uns traditionell immer noch anders, ändert sich aber peu à peu.
Immer weniger Eltern können oder wollen es sich
leisten, die Mittagsversorgung der Kinder im Alleingang
zu Hause zu organisieren. Berufstätige Mütter und Väter
werden durch eine vernünftige Schulverpflegung organisatorisch deutlich entlastet. Das ist doch eine schöne
Sache für die Eltern und ein weiterer Schritt hin zu einer
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Unser
aller Antrieb, unser aller Ansporn sollte sein, zu sagen:
Eure Kinder sind in unserer Verantwortung in guten
Händen.
Ein gesundes Mittagessen ist für Kinder und Jugendliche genauso wichtig wie guter Deutsch- und Matheunterricht. Glücklicherweise - das ist eben auch schon
gesagt worden - können wir auf die vorbildliche Arbeit
der „Vernetzungsstellen Schulverpflegung“ zurückgreifen. Die müssen aber dringend finanziell und personell
gestärkt werden.
Ich erlebe viele gute Konzepte in Städten und Gemeinden, wo die Schulverpflegung vorbildlich funktioniert.
({2})
„Einmal satt für 2,10 Euro“ oder „Matsche und Pampe“ auf solche Überschriften sollten wir zukünftig wirklich
verzichten.
({3})
Wie erreichen wir das? Dazu nenne ich drei Forderungen:
Erstens. Nur die Caterer erhalten einen Zuschlag, die
nach den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft
für Ernährung zertifiziert sind und deren Einhaltung
kontrolliert wird. Das Land Berlin hat gerade den Wechsel vom Preis- zum Qualitätswettbewerb beim Schulessen initiiert. Das lädt zur Nachahmung ein.
({4})
Zweitens. Wir brauchen die Partizipation der Elternund - was viel wichtiger ist - die der Schülerschaft.
Drittens. Wir müssen eine intelligente Ernährungsund Verbraucherbildung etablieren.
Gutes kann nicht billig sein. Ich weiß natürlich auch
um die schwierige Gemengelage im föderalen System.
Selbst wenn wir es wollten, steht das Grundgesetz einer
vollen direkten Finanzierung durch den Bund entgegen.
Zwei Anmerkungen möchte ich dazu machen. Erstens: Weg mit dem Kooperationsverbot!
({5})
Für eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern im schulischen Bereich! - Ich erinnere an dieser
Stelle an unseren Nationalen Pakt für Bildung und Entschuldung: 20 Milliarden Euro im Jahr allein für Bildung
plus eine deutliche Entlastung der Kommunen, die zumeist ja auch Schulträger sind. Das Ganze soll durch
Einsparungen und den Abbau von überflüssigen Subventionen finanziert werden. Das, Herr Staatssekretär, ist
konkrete Politik. Der Ministerin fiel Ende letzten Jahres
bei dem Skandal leider nur ein, dass in Ländern und
Kommunen darüber diskutiert werden solle. Ihr fiel nur
ein: Wir sprechen einmal darüber. - Nein, es gehört genau hier hin. Das sage ich an die Adresse der Ministerin.
({6})
Zweitens. Die SPD-Bundestagsfraktion ist bereit, den
Einstieg des Bundes in die Schulverpflegung zu prüfen,
nicht nur bei den notwendigen Investitionen, sondern
auch durch einen tatsächlichen Beitrag pro Kind. Auch
der Bund ist Nutznießer von gutem Ernährungsverhalten. Abseits der einzelnen Person profitieren Krankenkassen, öffentliche Haushalte und Sozialversicherer.
Fazit: Eine qualitativ hochwertige Schulverpflegung
für alle Schüler ist Investition und Ersparnis zugleich,
und sie ist realisierbar.
Ich danke Ihnen.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Petra Crone. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Hans-Michael Goldmann. Bitte
schön, Kollege Hans-Michael Goldmann.
({0})
Danke schön. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Binder, ich habe eben überlegt, wie
lange Sie schon im Ausschuss sind. Ich bin für mich zu
dem Ergebnis gekommen, dass Sie noch nicht lange im
Ausschuss sein können oder dass Sie vielleicht manchmal nicht zugehört haben.
({0})
Denn mit diesem Thema hat sich der Ausschuss schon
sehr lange und sehr konstruktiv beschäftigt.
({1})
Wir haben Anhörungen und Fachgespräche dazu durchgeführt, und wir haben jede Menge Berichterstattergespräche darüber geführt. Wir haben eine Menge in Bezug auf dieses Thema gemacht. Wir waren uns, glaube
ich, bei einem immer im Klaren: Das kann nicht von
oben verordnet werden, sondern das muss vor Ort realisiert werden.
({2})
Sie verraten sich ein bisschen mit der Überschrift Ihres Antrags. Dort sprechen Sie von Verpflegung. Mir
geht es in diesem Bereich nicht nur um die Verpflegung
in der Schule, sondern um die Integration eines Ernährungsbewusstseins. Mir geht es darum, dass die Schüler
Kochen können und beim Kochen darauf achten, welche
Inhaltsstoffe die Produkte haben und woher diese
kommen. Das sollte in die schulische Arbeit integriert
werden. Das ist viel mehr, als unentgeltlich zu verpflegen. Ich glaube, liebe Frau Binder, dieses Ziel sollten wir
nicht aufgeben.
({3})
Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir
durch die Umstrukturierung in der Gesellschaft und die
nachfolgende Umstrukturierung im Bildungssystem
große Chancen haben, diese Ziele beim Mittagessen und
auch beim Frühstück in den Bildungseinrichtungen zu
realisieren. Dies habe ich in meiner Berufsschulzeit
schon mit Schülerinnen und Schülern nebenbei realisiert, und ich versuche, dies auch in meiner evangelischen Kirchengemeinde vor Ort zu realisieren. Hier haben wir eine große Chance. Es geht, wie ich schon
beschrieben habe, nicht um Verpflegung, sondern im
Grunde genommen darum, die Mahlzeiten miteinander
zu erleben, um den Austausch zwischen den Lehrern,
den Schülern und den Eltern.
Sie waren sicherlich auch auf der letzten didacta und
haben sich darüber informiert, dass es in diesem Bereich
mittlerweile ein breites Angebot mit sehr guten Lösungen gibt. Sie alle haben regionale Wurzeln. Ich bin froh,
dass Sie angesprochen haben, dass es Schüler gibt, die in
dieser Hinsicht etwas machen. Ich war in Schulen in
Berlin. In meinem Büro saß ein Schüler, der erzählt hat,
was er an einem Gymnasium in Berlin auf den Weg
bringt. Aber er würde sich schwer dagegen verwahren,
dass ich ihm sage, was er dort zu tun hat.
({4})
Er möchte dies mit den Eltern und mit den Unternehmen
vor Ort regeln. Sie wollen, dass es wie im alten planwirtschaftlichen System von oben finanziert wird.
({5})
- Sie können ruhig noch ein bisschen lauter schreien. Ich
bin das durchaus durch meine schulische Arbeit
gewohnt. - Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das ist schlicht
der falsche Weg.
Liebe Frau Binder, wir dürfen und sollten die Schulen, von der Grundschule an - Sie sprechen sogar vom
Kindergarten -, nicht aus der kommunalen Verantwortung entlassen. Dort, wo es Probleme gibt, können wir
sicherlich darüber nachdenken, wie wir speziell helfen
können. Natürlich setzen wir bei den Eltern an. Ich bin
sehr wohl bereit - das gilt für viele von uns -, auch
Patenschaften in diesem Bereich zu übernehmen. Allerdings bin ich entschieden dafür, deutlich zu machen, was
ein kommunaler Auftrag und was ein Landesauftrag ist.
Problematisch ist, dass Sie sich um die Frage nach
den Kosten gedrückt haben. Sie wissen hoffentlich, dass
es 11 Millionen Schüler in Deutschland gibt, die Kindergartenkinder einmal außen vor gelassen. Wenn das Essen
4 Euro pro Kind kostet, verursacht Ihr Modell Kosten in
Höhe von 8,8 Milliarden Euro, und das nur im schulischen Bereich. Angesichts dessen bin ich schon dafür,
auch einmal darüber nachzudenken, ob das verantwortlich ist; denn auf Schuldenbergen können Kinder ganz
sicher nicht lernen und nicht spielen. Deswegen bleibe
ich bei meiner Position.
({6})
Herr Kollege, geben Sie dem Präsidenten die Chance,
Sie zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Karin Binder zulassen?
Ich lasse diese Zwischenfrage nicht zu,
({0})
weil Frau Binder genau weiß, dass wir eigentlich schon
seit geraumer Zeit an der Eröffnung der Internationalen
Grünen Woche teilnehmen sollten.
({1})
Bei manchen Themen haben Sie übrigens gar keine
Ahnung. Sie wissen doch - oder wissen Sie das nicht? -,
dass es einen reduzierten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent gibt.
({2})
Natürlich muss man zur Realisierung dieses Mehrwertsteuersatzes - hören Sie doch zu; dann erfahren Sie die
Lösung - eine Stiftung oder einen Verein gründen. Aber
Sie wollen doch wohl nicht von oben die Gründung von
Vereinen und Stiftungen verordnen. Deswegen muss ich
ganz klar sagen: Ihr Modell ist nicht geeignet. Die vielfältigen Aktivitäten, die es mittlerweile auf allen Ebenen
gibt, nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Das ist ignorant.
({3})
Die Schulverpflegung ist eine wertvolle und wichtige
Sache. Sich mit dem Thema Ernährung zu beschäftigen,
ist ebenfalls eine wertvolle Sache. Es ist sicherlich möglich, ein solches Vorhaben vonseiten der Bundesebene
anzustoßen und zu begleiten. Aber wenn die Realisierung Erfolg haben soll, muss dabei das Regionalprinzip
zum Tragen kommen.
({4})
Man muss dieses Problem regional lösen
({5})
und darf nicht die bundespolitische Weiche auf Subvention stellen.
({6})
Vielen Dank, Kollege Hans-Michael Goldmann.
({0})
- Bitte Vorsicht!
({1})
Ich würde sagen, wir machen in einem kollegialen Miteinander weiter.
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist die Frau
Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
({2})
Frau Kollegin Maisch, Sie haben das Wort.
({3})
Vizepräsident Eduard Oswald
- Wir sind hier in der Debatte. - Frau Kollegin, lassen
Sie sich nicht irritieren. Sie haben das Wort.
({4})
Herzlichen Dank. Ich bemühe mich, es mir zu nehmen. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zur Ganztagsschule und zur umfassenden Betreuung
von Kleinkindern in Kitas und Krippen gehört ein qualitativ hochwertiges, bezahlbares Essensangebot. Es ist
Voraussetzung für Lernerfolg. Es stärkt den sozialen
Zusammenhalt und die Esskultur. Es ist gelebte Prävention von Fehlernährung und Übergewicht. Es gibt insbesondere Kindern, die aus schwierigen Verhältnissen
kommen, die Chance, gesund aufzuwachsen.
({0})
In diesem Punkt herrscht weitgehend Konsens, bei uns
im Ausschuss und, wie ich zu wissen glaube, auch im
Parlament insgesamt.
Wir haben im Ausschuss eine Anhörung durchgeführt
und uns in verschiedenen Berichterstattergesprächen
ausgetauscht. Die Reden waren gut. Leider ist es bei
Schwarz-Gelb bisher beim Reden geblieben.
({1})
Frau Crone hat ausgeführt, dass sich bei anderen Farbkombinationen etwas mehr Aktivität entfaltet hat; ich
nenne nur das Ganztagsschulprogramm, das unter RotGrün auf den Weg gebracht worden ist. Man könnte hier
also mehr machen. Ilse Aigner und die schwarz-gelbe
Koalition haben das Thema „Gesundes Essen für alle
Kinder“ aber nie zu ihrem Herzensanliegen, nie zu ihrem
Projekt gemacht.
({2})
Wir erinnern uns zwar an das von Ursula von der
Leyen rührselig heraufbeschworene warme Mittagessen,
auf das die Kinder warten.
({3})
Aber Ihr bürokratisches Bildungs- und Teilhabepaket hat
dazu geführt, dass ein Großteil der Kinder immer noch
darauf wartet, weil die Eltern keine Anträge gestellt
haben, weil an den Schulen vor Ort oft kein Angebot
besteht oder weil die Familien, Schulen und Behörden
vor Ort mit dem Bürokratiemonster, das Sie mit dem
Bildungs- und Teilhabepaket geschaffen haben, überfordert sind.
({4})
Für einen Teil der Einrichtungen, nämlich für die
Kinderhorte, läuft die Förderung Ende dieses Jahres aus.
Da fragt man sich schon, ob die Union glaubt, dass die
Kinder nach 2013 nicht mehr hungrig sind.
Eine ähnliche Entwicklung gibt es bei den Schulvernetzungsstellen. Sie wollen die Schulvernetzungsstellen
finanziell austrocknen. Schon im Haushalt 2013 wurden
die entsprechenden Mittel um 170 000 Euro gekürzt, und
in den nächsten fünf Jahren sollen die Schulvernetzungsstellen in den einzelnen Bundesländern nach und nach
auslaufen. Ich finde das absurd.
({5})
Einhergehend mit der zunehmenden Berufstätigkeit von
Müttern werden wir immer mehr Ganztagsschulen haben, immer mehr Krippen und immer mehr Kitas, die
nicht nur Halbtags-, sondern auch Ganztagsbetreuung
anbieten. Diese Einrichtungen werden händeringend
nach Beratung über gute Schulverpflegung oder gute
Kitaverpflegung suchen. Deshalb darf man die Schulvernetzungsstellen nicht austrocknen, sondern muss sie
zu Kompetenzzentren für Gemeinschaftsverpflegung
ausbauen.
({6})
Wir haben vorhin einen kleinen Streit über die Internationale Grüne Woche ausgefochten. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen: Ich finde, Schulernährung
sollte auch als agrarpolitisches Thema gesehen werden.
({7})
Es ist mir unbegreiflich, warum über 11 Millionen Schülerinnen und Schüler, Kindergartenkinder und Krippenkinder, die an 200 Tagen im Jahr gesund und schmackhaft bekocht werden wollen, von der schwarz-gelben
Bundesregierung nicht als relevanter Absatzmarkt für
hochwertige, regionale, ökologische Erzeugnisse erkannt werden und keine entsprechenden politischen
Konsequenzen für die verschiedenen europäischen und
nationalen Förderinstrumente, zum Beispiel bei der
GAP, gezogen werden.
({8})
- Herr Goldmann, es ist gut, wenn in Ihrem Heimatort
offensichtlich alles in Ordnung ist. In einem Großteil der
Schulküchen in diesem Land werden jedoch nicht einmal die DGE-Standards eingehalten.
({9})
Es mag gute regionale Kooperationen geben, und wir
finden das toll. Frau Heil hat dies am Beispiel des Nationalen Aktionsplans „IN FORM“ vorgetragen. Aber die
politische Aufgabe, vor der wir stehen, ist doch, aus diesen Projekten Programme für die Fläche zu machen.
({10})
Wir haben genug Beispiele, die sich für das Schaukochen auf der Internationalen Grünen Woche eignen.
Was wir brauchen, sind gutes Essen, Vielfalt, ein hoher
Bioanteil, regionale Produkte für alle Kinder.
Wir Grüne wollen Qualität für alle. Das heißt aber
nicht, dass alles umsonst sein muss. „Alles umsonst für
alle“ halten wir Grüne nicht für sinnvoll. Herr
Goldmann, Sie haben gesagt, die Linken drückten sich
um die Kosten. Das ist nicht richtig. Wenn man den Antrag der Linken bis zum Ende liest - was sich empfiehlt,
wenn man darüber redet -, findet man die Kosten genau
beziffert mit 8,3 Milliarden Euro allein für die Schulkinder.
({11})
Ich glaube, dass man dieses Geld besser anlegen kann.
Was wird faktisch passieren? Leute wie ich werden den
Überweisungsauftrag für die Krippe ändern, sodass
60 Euro weniger überwiesen werden. Man sollte aber
die, die wirklich bedürftig sind, die kein Geld haben, um
sich das Schulessen zu leisten, unterstützen. Warum jemand wie ich 60 Euro weniger im Monat für Essensgeld
überweisen soll, ist mir unter sozialpolitischen Gesichtspunkten nicht verständlich.
({12})
- Natürlich werde ich mehr Steuern zahlen - das ist ganz
klar -, wenn es eine andere Mehrheit in diesem Land
gibt. Aber ich sage Ihnen jetzt einmal, wofür ich diese
Milliarden lieber ausgegeben sehen will: Wir brauchen,
wenn wir das Kooperationsverbot abgeschafft haben,
Geld für ein neues Ganztagsschulprogramm. Wir brauchen dringend Geld für Qualitätsverbesserungen in den
Kindertagesstätten, in den Kinderkrippen. Wir brauchen
Geld - das ist in Ihrem Antrag nicht in Milliarden oder
Millionen beziffert - für eine bessere Infrastruktur für
die Schulverpflegung. Das sind alles unglaublich teure
Maßnahmen; aber wir sagen eben: In einem neuen Ganztagsschulprogramm, in Infrastrukturverbesserungen, in
Qualitätsverbesserungen auch bei den pädagogischen
Konzepten und in einer Erhöhung der Regelsätze für
arme Kinder sind die Milliarden besser angelegt als in
„alles für alle umsonst“.
({13})
Wir teilen das Anliegen der Linken, gutes Essen für
alle zu bezahlbaren Preisen bereitzustellen,
({14})
und finden es gut, dass Sie diesen Antrag auf die Tagesordnung gesetzt haben. Diese Debatte zu führen, ist richtig; über den Zeitpunkt mag man meinetwegen streiten.
Den Weg, den Sie vorschlagen, finden wir allerdings so
nicht zustimmungsfähig.
({15})
Vielen Dank, Frau Kollegin Nicole Maisch. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Marlene Mortler. Bitte schön, Frau Kollegin
Marlene Mortler.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde es zwar naheliegend, dass wir parallel zur Eröffnung der Grünen Woche über Ernährung reden; aber ich finde es ziemlich daneben, dass wir hier
über ein Thema reden, für das wir überhaupt nicht zuständig sind, und schlechte Gastgeber für alle unsere
ausländischen Gäste und Delegationen sind, die schon
den ganzen Tag auf uns warten.
({0})
Der Finanzierungsbedarf für Ihre Forderung nach
hochwertiger und unentgeltlicher Verpflegung für alle
Schüler, Kinder und Jugendlichen beziffert sich laut Ihrem Antrag auf 8,3 Milliarden Euro. Ja, wenn es das
schon wäre! Sie fordern auch ein sofortiges Investitionsprogramm für die Kommunen, um Mensen und Schulküchen neu zu bauen bzw. zu renovieren.
({1})
Frau Kollegin.
Herr Präsident, ich möchte gerne zu Ende reden.
Wenn am Schluss noch Zeit bleibt, lasse ich die Zwischenfrage gerne zu.
Schauen wir einmal.
({0})
Außerdem fordern Sie, dass der Mehrwertsteuersatz
für die Caterer von 19 Prozent auf 7 Prozent gesenkt wird
und nicht wirtschaftlich agierende Zulieferer bzw. Cate26852
rer von der Umsatzsteuer befreit werden. - Das ist Politik nach Ihrem Geschmack. Sie tischen munter wünschenswerte Wohltaten auf, und der Bund koordiniert
und zahlt. Wohltaten für alle via Gesetz!
({0})
Mich schüttelt schon, mit welcher Leichtigkeit Sie hier
zweistellige Milliardenbeträge mit teils abenteuerlichen
Begründungen einfordern.
({1})
Ihrem Rezept fehlt ein entscheidender Passus. Es enthält
keinen Satz zur Gegenfinanzierung.
Sie verteidigen die Bundesländer, weil diese mit der
Schuldenbremse überfordert wären. Aber hallo! Auch
der Bund muss die Schuldenbremse einhalten.
({2})
Es kann nicht sein, dass der Bund immer mehr Dinge bezahlen muss, obwohl er nicht zuständig ist.
({3})
Das hieße, dass wir immer öfter von unseren grundgesetzlichen Regelungen abweichen.
({4})
Das Bildungs- und Teilhabepaket, liebe Gitta Connemann,
war eine Ausnahme, und sie muss es auch bleiben.
Meine Kolleginnen und Kollegen, auch wenn der Satz
in diesem Haus schon oft gesagt wurde: Politik beginnt
beim Betrachten der Realitäten.
({5})
Als Meisterin der ländlichen Hauswirtschaft weiß ich
um die Bedeutung und den Wert einer ausgewogenen Ernährung. Hier muss mir also keiner etwas vormachen.
Bleiben wir aber doch bitte auf dem Boden! Ganz abgesehen von den Zuständigkeiten: Was ist wünschenswert?
Was ist machbar? Wie können wir sichern, dass sich unsere Kinder gesund und ausgewogen ernähren? Ein gesundes Angebot bedeutet übrigens nicht automatisch
auch eine gesunde Ernährungsweise.
Damit komme ich zu den Eltern. Diese kommen in Ihrem Antrag nur zwei Mal vor, und das in einer kleinen
Nebenrolle. Ich sage Ihnen: Elternverantwortung ist Eigenverantwortung;
({6})
denn wenn sich die Eltern nicht genügend kümmern,
dann bleiben die Kinder auf Dauer auf der Strecke; sie
bleiben schlecht ernährt.
({7})
Der Staat und die Politik können das auf Dauer nicht alleine richten. Das heißt, wir dürfen die Eltern nicht aus
ihrer Verantwortung entlassen. 1 Euro ist für mich ein
symbolischer Betrag; er muss aus meiner Sicht immer
leistbar sein. Welches Selbstverständnis und welches
Gesellschaftsbild haben Sie eigentlich, dass Sie alles auf
den Staat abschieben wollen?
({8})
Auch zu Hause kann man seine Kinder nicht zum Nulltarif ernähren!
({9})
Essen ist für mich auch Nahrungsaufnahme,
({10})
und zwar im Sinne von Erleben. Da gebe ich Ihnen sogar
recht; denn Sie haben in Ihrem Antrag sehr ausführlich
formuliert, dass das Essverhalten als Kind das Essverhalten als Erwachsener entscheidend prägt.
({11})
Meine Damen und Herren, das Essen in der Familie,
das Essen mit der Schulfamilie muss aus meiner Sicht
wieder mehr zu einem sozialen Ereignis werden. Es ist
so wichtig, dass sich die Kinder auf das gemeinsame, abwechslungsreiche Essen freuen, wie es in meiner großen
Familie ganz selbstverständlich ist,
({12})
dass Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen und
Lehrer auch Vorbilder sind, mitessen und zeigen, dass es
schmeckt und dass sich Kinder in einer angenehmen
Atmosphäre wohlfühlen.
Der Nationale Aktionsplan „IN FORM“ des Bundeslandwirtschaftsministeriums ist mehrfach angesprochen
worden; es ist nur eines von vielen Projekten und Programmen. Aber mit Blick auf Bayern und aus Bayern
möchte ich Ihnen mitgeben: Es liegt in absoluter Zuständigkeit der Bundesländer, das Beste aus diesem Programm zu machen. Das gilt auch für die Aktivitäten und
für die Aktivierung der sogenannten Vernetzungsstelle
Schulverpflegung. Selbstverständlich erwarten wir
DGE-Standards, also die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Darüber hinaus versuchen wir,
über Coaching die Akteure an den Tisch zu holen und
mit ihnen die Schulverpflegung zu optimieren. Das ist
der richtige Ansatz.
({13})
Herzlichen Dank an das BMELV, stellvertretend an
Staatssekretär Bleser, für dieses Programm.
Leider hat der Lernort Familie an Bedeutung verloren. Mangelnde Alltagskompetenz hat für uns alle weitreichende Folgen. Deshalb fördere und unterstütze ich
eine Unterschriftenaktion der bayerischen Landfrauen
für die Einführung eines Unterrichtsfaches für Alltagsund Lebensökonomie.
({14})
Das würde uns übrigens nichts kosten und im Ergebnis
unserer Volkswirtschaft viel Geld, also Ausgaben, ersparen.
({15})
- Danke. - Mit diesem Geld können wir dann tatsächlich
und gezielt bedürftige Kinder unterstützen.
Aus den vielen genannten guten Gründen lehnen wir
Ihren Antrag aus Überzeugung ab.
Danke schön.
({16})
Frau Kollegin Binder, Sie haben gemerkt, dass für
Ihre Zwischenfrage keine Zeit geblieben ist. - Vielen
Dank, Frau Kollegin Marlene Mortler.
Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin Frau Marianne Schieder. Bitte
schön, Frau Kollegin Marianne Schieder.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
… Speisen haben vermutlich einen sehr großen
Einfluss auf den Zustand der Menschen, … wer
weiß, ob wir nicht einer gut gekochten Suppe die
Luftpumpe und einer schlechten den Krieg oft zu
verdanken haben.
So der Physiker Georg Christoph Lichtenberg im
18. Jahrhundert über das Essen. „Essen und Trinken hält
Leib und Seele zusammen“, so lautet ein altes Sprichwort. Diese Feststellungen ließen sich fortsetzen; aber
wir wissen aus eigener Erfahrung, wie wichtig gute Ernährung und gemeinsames Essen für Geist und Seele
sind. Dabei - auch das wissen wir aus eigener Erfahrung geht es eben nicht nur um das Stillen des Hungers. Gerade für Kinder ist ein gesundes und ausgewogenes
Essen sowohl für die körperliche wie auch für die geistige Entwicklung von ganz besonderer Bedeutung. Noch
dazu - darauf wurde schon mehrmals hingewiesen werden Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten geprägt, die ihre Spuren oft ein Leben lang hinterlassen.
Blickt man auf die Essensversorgung in unseren
Schulen und Kindertagesstätten - es stimmt, was dazu
schon gesagt worden ist -, ergibt sich wirklich ein besorgniserregendes Bild. Die Hochschule Niederrhein hat
im vergangenen Jahr im Rahmen einer deutschlandweiten repräsentativen Umfrage feststellen müssen, dass die
Qualität des Essens an 200 untersuchten Schulen überwiegend mangelhaft und ungesund war. Über 90 Prozent
der Schulen erfüllen die Ansprüche der Deutschen Gesellschaft für Ernährung an gesundes Essen nicht. In der
Tat, da kann man nur sagen: Wir brauchen dringend eine
Verbesserung dieser Situation.
({0})
Wir haben Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus
den Reihen der Union und der FDP, schon seit längerem
viele Vorschläge unterbreitet. Greifen Sie unsere Vorschläge auf, und tun Sie endlich etwas!
({1})
Es reicht nicht aus, wenn die Bundeskanzlerin die Bildungsrepublik ausruft. Wir brauchen dazu schon die entsprechenden Rahmenbedingungen. Doch da erleben wir
bei Ihnen wenige Aktivitäten. Sie handeln beharrlich
nach der Methode: nichts tun, aussitzen, blockieren.
Ein gutes Beispiel für die Blockadehaltung der
schwarz-gelben Koalition sehen wir in der dringend erforderlichen Aufhebung des Kooperationsverbotes im
Bereich Bildung.
({2})
Wer nämlich wirklich etwas für bessere und mehr Bildung tun will, muss das Grundgesetz ändern und es ermöglichen, dass Bund und Länder miteinander die wichtigen Aufgaben und Herausforderungen in Angriff
nehmen und bewältigen. Dazu gehören das Schulessen
und die Verpflegungssituation in Schulen und Kitas insgesamt. Der Vorschlag aber, den Sie uns seitens der Bundesregierung vorgelegt haben, ist das Papier nicht wert,
auf dem er steht. Sie nehmen doch nur die Hochschulen
in den Blick und da auch nur einen ganz kleinen Bereich.
Von Schulen und Kitas ist überhaupt nicht die Rede.
Noch unproduktiver ist der Vorschlag des bayerischen
Kultusministers, das Ganze über einen Staatsvertrag regeln zu wollen. Diese Staatsvertragsidee ist maximal ein
öffentlichkeitswirksames und geschicktes Ablenkungsmanöver. Es wird natürlich der Eindruck erweckt, als sei
man an einer besseren Zusammenarbeit der Bundesländer in Sachen Bildung interessiert, weil man natürlich
weiß, dass die Bevölkerung dies dringend erwartet. Aber
in Wahrheit denkt man doch gar nicht daran, mehr Absprachen zu treffen. In Wahrheit will der bayerische Kultusminister weiter sein eigenes Süppchen kochen.
({3})
Marianne Schieder ({4})
Dabei wäre es auch für den vergleichsweise gut situierten Freistaat Bayern von großem Vorteil, wenn man über
die finanzielle Unterstützung des Bundes zum Beispiel
den weiteren Ausbau der Ganztagsschulen und die
Schulsozialarbeit vorantreiben könnte. Natürlich könnte
dann auch mehr getan werden für Verbesserungen bei
der Schulverpflegung. Warum sich die Staatsregierung
in Bayern so beharrlich weigert, das Geld des Bundes zu
nehmen, das weiß der Himmel. Ein vernünftiger Mensch
kann dafür keine Argumente finden.
Die Finanzsituation der Kommunen ist mehr als angespannt. Das führt dazu, dass auch sehr Wünschenswertes
im Bereich Bildung nicht realisiert werden kann, weil
den Sachaufwandsträgern finanziell die Hände gebunden
sind. Was tut hier die Bundesregierung?
({5})
Sie machen doch mit Ihrer Politik den Kommunen das
Leben noch schwerer, anstatt endlich dafür zu sorgen,
dass deren finanzielle Ausstattung verbessert wird. Ich
nenne hier nur das Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
die Einschnitte im Bereich der Städtebauförderung und
bei dem Programm „Soziale Stadt“; die Liste ließe sich
fortsetzen.
({6})
Ich fordere Sie auf: Folgen Sie der SPD-Fraktion! Wir
haben schon vor über einem Jahr den Vorschlag gemacht, einen Art. 104 c ins Grundgesetz einzufügen.
Dann könnte der Bund den Ländern dauerhaft finanziell
unter die Arme greifen, auch im Bildungsbereich. Die
Bildungshoheit der Länder bliebe gewahrt. Mit diesem
grundlegenden Schritt könnte natürlich auch die Verpflegung in Schulen und Kitas verbessert werden. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den Ganztagsschulen,
wo der Verpflegung natürlich grundlegende Bedeutung
zukommt.
Es ist schon angesprochen worden, dass es da und
dort noch Bedarf geben wird, was den Bau von Mensen
betrifft. Aber noch viel mehr müsste uns die Frage umtreiben, wie wir denn dafür sorgen können, dass in diesen Mensen gesundes und ausgewogenes Essen gewährleistet wird. Es gilt die Chance zu ergreifen, Kindern und
Jugendlichen mit der Verpflegung in den Schulen grundlegendes Wissen über ausgewogene und gesunde Ernährung zu vermitteln.
Mit unserem Zukunftsprogramm „Deutschland 2020“
haben wir da als SPD-Bundestagsfraktion schon die ersten Pflöcke eingeschlagen.
({7})
Wir wollen, dass bis 2020 jedem Kind die Möglichkeit
eröffnet wird, eine gute Ganztagsschule zu besuchen.
Dazu gehört natürlich auch gesundes und ausgewogenes
Essen, das eben nicht nur von Großküchen angeliefert
und womöglich auch noch verteilt wird. Die Sorge um
die Verpflegung muss aber auch in die Gesamtorganisation des Schulbetriebs einbezogen werden. Da gibt es in
der Tat noch mehr zu tun.
Ich bitte Sie noch einmal: Lassen Sie mit sich reden!
Sorgen Sie mit uns dafür, dass das Kooperationsverbot
aufgehoben wird,
({8})
damit Bund, Länder und Kommunen zusammen überlegen können, wie wir im Bereich der Essensversorgung in
unseren Schulen und Kitas vorankommen. Es ist nämlich höchste Zeit, richtig auf den Tisch zu hauen, damit
die Tafeln in unseren Schulen besser gedeckt werden.
Wie schon der Schriftsteller Peter Maiwald sagte: Das
Mit-der-Faust-auf-den-Tisch-Schlagen nimmt ab, wenn
er gedeckt ist.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollegin Marianne Schieder. - Nächster
Redner ist unser Kollege Rainer Erdel für die Fraktion
der FDP. Bitte schön, Kollege Rainer Erdel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Schieder, auch ich lebe in Bayern, aber anscheinend lebe
ich in einem anderen Bayern als Sie.
({0})
- Ach, Sie machen ganz bewusst die Unterscheidung
zwischen Bayern und Franken.
({1})
Ich will aber nicht auf das eingehen, was Sie eben geäußert haben.
Der Antrag der Linken beschäftigt sich mit einem
sehr wichtigen Thema. Dieses Thema beschäftigt vor
allen Dingen Landes- und Kommunalpolitiker, aber auch
Schüler und Elternverbände, und es war auch Bestandteil einer öffentlichen Anhörung im Ernährungsausschuss.
({2})
Leider liegen die Linken bereits mit dem Titel
krachend daneben, wenn sie meinen, dass Unentgeltlichkeit der Schulverpflegung Lernerfolg und Konzentration
der Schüler fördert. Ich bin zweiter Bürgermeister einer
Gemeinde, die sehr erfolgreich Mittagsverpflegung anbietet. Ich lade Sie gerne in meine Gemeinde ein und
werde auch dafür sorgen, dass Sie unentgeltlich MittagsRainer Erdel
verpflegung bekommen, wenn es dann auch bei Ihnen
den Lernerfolg fördert.
({3})
Es wird die Behauptung aufgestellt, Kinder von
Hartz-IV-Empfängern könnten sich in diesem Land nicht
richtig ernähren. Das kann ich nicht nachvollziehen.
({4})
Sie meinen, dass das Essen unentgeltlich sein soll.
({5})
Seit einigen Wochen wissen wir, dass Sparkassendirektoren durchaus zu den Besserverdienern gehören. Aber
Sie sind der Meinung, dass auch die Kinder von Besserverdienenden ihr Essen kostenlos erhalten sollten. Dies
kann ich nicht nachvollziehen.
({6})
Sie behaupten in Ihrem Antrag allen Ernstes, Kommunen und Länder sähen sich für das Thema Schulverpflegung nicht in der Verantwortung. Ich kann Ihnen
versichern: Wir sehen uns als Kommunalpolitiker sehr
wohl in der Verantwortung. Das geht sogar so weit, dass
Eltern anfragen, ob es nicht möglich ist, dass sie von dieser Schulverpflegung Portionen käuflich erwerben und
mit nach Hause nehmen können, was allerdings rechtlich
nicht zulässig ist.
Herr Kollege Erdel, die Frau Kollegin Binder probiert
es jetzt auch bei Ihnen.
Auch bei mir ist es so, dass ich das auf den Schluss
der Rede verschieben möchte.
Auch mit der Begründung, dass Sie zur Grünen Woche müssen?
Ja.
Also, Frau Kollegin Binder, Sie haben es gehört.
Wir haben sehr viele Elternbeiräte, und wir haben
Schülerbeiräte, die durchaus bereit und in der Lage sind,
den Speisezettel zusammenzustellen.
Sie fordern in Ihrem Antrag übrigens die Beteiligung
einer Kommission, eines Ministeriums, einer Behörde,
was auch immer, der Kultusministerkonferenz, der Länder und Kommunen, Forschungseinrichtungen, Gewerkschaften, Schüler- und Elternvertretungen, Schulen, des
Bildungspersonals, der Regionalbewegung und der Verbraucherverbände. Sie vergessen ganz offensichtlich
Kirchen und Religionsgemeinschaften. Ich weiß, das
passt nicht in Ihr Weltbild. Aber später kommen Sie
doch darauf. Ich kann Ihnen versichern, dass auch die
Bedürfnisse und Belange von Religionsgemeinschaften
in den Speiseplänen berücksichtigt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Mittagsverpflegung in den Schulen ist nicht entstanden, weil die
Verpflegung notwendig ist - damit hat Frau Kollegin
Crone durchaus recht -, sondern weil sich unser Bildungssystem und die Ansprüche an die Ausbildung bei
uns verändert haben. Deswegen nehmen die Verantwortlichen, denke ich, ihre Aufgabe sehr ernst.
Der Bund unterstützt dies. Mit 1,1 Millionen Euro
werden die Vernetzungsstellen Schulverpflegung unterstützt. Das ist auch gut so.
Sie haben in Ihrem vierseitigen Antrag letztendlich in
einem Abschnitt einen wichtigen und richtigen Punkt
aufgegriffen. In Punkt II 2 a und b gehen Sie nämlich auf
die Wichtigkeit einer guten Ernährung und auf die Wichtigkeit von Lernküchen ein, die in den Lernalltag einbezogen werden müssen. Das ist sehr richtig. Deswegen
rate ich Ihnen auch, Kontakt mit Frau Scherb vom Deutschen Landfrauenverband aufzunehmen. Sie kann Ihnen
hier sicherlich gute Empfehlungen geben.
({0})
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Qualitätsvorgaben nicht zur Bevormundung der Kinder führen sollen,
dass eine selbstbestimmte Ernährungsweise möglich
sein soll. Aber Sie weisen auch darauf hin, die Ernährung müsse ohne Aromen und ohne Geschmacksverstärker sein. Die Speisen seien bisher häufig zu fett und zu
süß. Als Getränke würden oftmals nur süße Limonaden
angeboten. Zu bevorzugen seien regionale, saisonale
Produkte, und das Ganze müsse ökologisch produziert
werden. Das solle die Basis der Schulernährung sein. Es gibt also „keinerlei“ Vorgaben Ihrerseits.
({1})
Ich denke, man sollte den vielen ehrenamtlich Engagierten an unseren Schulen dankbar sein. Man sollte das
Thema Ernährungskunde wesentlich intensiver behandeln. Ich meine, wir sollten in Deutschland Vielfalt zulassen und es den Kommunen, den Elternbeiräten, den
Schulen vor Ort überlassen, wie sie die Schulverpflegung am besten organisieren. Deshalb, glaube ich, wird
Ihr Antrag abgelehnt werden.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt hat das Wort zu einer Kurzintervention unsere Kollegin Karin Binder.
Herr Kollege Erdel, Sie stimmen mir sicherlich zu,
dass Ihr Bundesland Schulen hat, in denen die Verhältnisse relativ geordnet sind. Möglicherweise sind sogar
Freundesvereine von Eltern vorhanden, die ein Stück
weit dazu beitragen, dass tatsächlich eine qualitativ
hochwertige Verpflegung möglich ist.
Aber stimmen Sie mir auch zu, dass in Deutschland
leider nicht jede Schule in einer günstigen Situation ist,
dass es Brennpunktstadtteile gibt, Schulen, in denen Elternarbeit quasi gar nicht vorkommt, weil die Eltern sich
gar nicht dessen bewusst sind, wie wichtig diese Arbeit
ist, und in denen eine vernünftige, qualitativ hochwertige
Verpflegung schlichtweg an Kosten scheitert? Das heißt,
der Lernerfolg ist für viele Kinder eine Frage der Kosten, die ihre Eltern decken müssten. Mir geht es darum,
für alle Kinder die gleiche Grundlage zu schaffen, damit
Kinder reicher Eltern die gleiche qualitativ hochwertige
Ernährung bekommen wie Kinder armer Eltern.
Ich frage mich schon, welche Rolle das Thema Kosten bei Ihnen spielt; schließlich sind Sie bereit, in Kauf
zu nehmen, dass im Gesundheitssystem pro Jahr aufgrund ernährungsbedingter Krankheiten Kosten von
70 Milliarden Euro anfallen. Dem stelle ich die 8,3 Milliarden Euro für Schulessen entgegen. Was ist denn da
für die Gesellschaft die günstigere Variante?
Ich denke, die ernährungsbedingten Kosten im
Gesundheitssystem langfristig zu reduzieren, wäre ein
weiterer Vorteil einer flächendeckenden, kostenfreien
Schulverpflegung.
({0})
Vielen Dank. - Herr Kollege Rainer Erdel zur Gegenrede.
Frau Binder, ich gebe Ihnen sehr recht: Es gibt sicherlich Schulen, wo dieses System nicht funktioniert. Aber
Sie selbst schreiben in Ihrem Antrag, dass es möglich ist,
für 4 Euro gesunde und entsprechend zubereitete
Lebensmittel den Schülern zur Verfügung zu stellen.
Deswegen bin ich der Meinung, es ist am besten, vor Ort
und nicht hier im Deutschen Bundestag zu entscheiden,
welche Nahrungsmittel - da gebe ich Ihnen ebenfalls
recht: „regional“ ist durchaus ein Ziel - den Schülern
angeboten werden. Es kommt zum Beispiel in urbanen
Gebieten mit einem hohen Migrationsanteil sehr häufig
vor, dass das Essen anders zusammengestellt sein muss
als in anderen Bereichen. Deswegen ist es wichtig, dass
die Lösung vor Ort gefunden wird, aber nicht hier im
Deutschen Bundestag.
({0})
Vielen Dank. - Wir setzen unsere Aussprache fort.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Carola Stauche. Bitte schön, Frau
Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute beraten wir ein Thema - ich
bin die letzte Rednerin in dieser Debatte -, das jeden
Einzelnen von uns berührt, egal ob man selbst ein Kind
hat, das in eine Kindertagesstätte oder in eine Schule
geht. Gesunde Ernährung für Kinder gehört in das Bewusstsein jeder Bürgerin und jedes Bürgers, aber besonders der Eltern.
({0})
Darüber sind wir uns über Fraktionsgrenzen hinweg einig.
Nicht erst im September, als durch den Norovirus im
Schulessen Kinder gesundheitlich geschädigt wurden
- ich komme aus einer Region, die besonders betroffen
war -, ist dieses Thema von großer Bedeutung. Fettsüchtige und zuckerkranke Kinder sind zu einem Problem geworden, dem es entgegenzuwirken gilt. Eine gesunde
und ausgewogene Verpflegung in der Schule oder Kindertagesstätte, aber auch zu Hause muss ein Teil der Lösung dieses eben geschilderten Problems sein. Verantwortung hierbei tragen Länder, Kommunen, Eltern. Aber
auch die Agrarwirtschaft kann hierbei helfen; ich werde
das an einem Beispiel aufzeigen. Darüber, meine sehr
geehrten Damen und Herren, ist sich nicht nur die
Unionsfraktion bewusst, sondern dessen sind wir uns
alle bewusst.
Aber auch die Bundesregierung, namentlich Frau
Aigner als Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, hat ein ausgeprägtes Bewusstsein für
die Tragweite der Problematik, auch wenn die Linke
heute durchaus etwas anderes behauptete. Dass die
Ministerin an einer Lösung dieses Problems interessiert
ist, kann man nicht von der Hand weisen. Wer daran
zweifelt - Sie haben ja heute gezweifelt -, kann sich eines Besseren belehren lassen. Schauen Sie auf die
Homepage des Ministeriums, schauen Sie auf die Homepage von „IN FORM“. Das alles ist hier heute schon genannt worden.
Allein auf diesen beiden Seiten wird deutlich, dass
viele der im Antrag der Linken aufgestellten Forderungen bereits umgesetzt sind. Ich nenne Ihnen stichwortartig einige Beispiele. Auf der Seite des Bundesministeriums finden wir unter der Überschrift „Kita und Schule“
bereits eine Menge Wissenswertes und Interessantes
zum Antrag und zum diskutieren Thema. Angefangen
bei der Bedeutung von Schulgärten und eines gesunden
Frühstücks erfahren wir im nächsten Absatz, dass die
Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung als Orientierung verstanden werden sollen, also
genau wie im Antrag gefordert.
({1})
- Ja, aber das liegt nicht an der Bundesregierung.
Bei weiterem Durchsehen der Homepage findet man
Ernährungswettbewerbe, Kinderkochbuch, ErnährungsCarola Stauche
leitfäden und vieles mehr. Hingewiesen wird auch auf
die „IN FORM“-Projekte, die sich an Kinder und Jugendliche richten. Wendet man sich dieser Homepage
zu, findet man noch detailliertere Informationen. Aber
sie müssen angewendet werden. Man kann dies nicht mit
dem Hinweis auf Gefängnisstrafen oder was weiß ich
verordnen.
Wem das nicht genügt, dem kann ich nur empfehlen,
wenn wir hier fast zum Ende gekommen sind und wir
alle zur Grünen Woche gehen: Gehen Sie in die Länderhalle der Grünen Woche und gehen Sie dabei bitte an
den Thüringen-Stand. Dort sehen Sie in Umsetzung
einer zukunftsbeständigen und integrierten Landentwicklung das Thema „Schulessen - Regional - Gesund Gut“. Es kann gutgehen; aber die Verantwortungsträger
vor Ort müssen sich einig sein und müssen miteinander
arbeiten.
({2})
Hier wird auch den Eltern und Schülern eine interessante
Ausstattung an die Hand gegeben. Wenn Sie nicht wissen, wie es funktioniert, dann kaufen Sie sich dort das
Buch; denn darin können Sie lesen, wie der Prozess des
Schulessens abläuft, wie die Zuständigkeiten geregelt
sind und an welchen Stellen insbesondere die Eltern mit
welchen Mitteln eingreifen können. Das sollte man sich
durchaus mal angucken. Wir haben dieses Projekt, und
dort wird das Schulessen regional von den Landwirtschaftsbetrieben gewuppt, regional, frisch, gesund, und
das Essen in der Schule kostet 2,50 Euro. 4 Euro sind
nicht einmal notwendig. Es gibt auch Tage, an denen es
Obst und Gemüse gibt. Dort ist alles vorgesehen, aber es
muss zusammengearbeitet werden.
Aber wissen Sie, an den Schulen, die das Norovirus
hatten, haben es die Eltern abgelehnt, das Essen für
2,50 Euro zu beziehen; sie wollten es für 2,30 Euro haben. Darauf kann man keinen Einfluss nehmen, denn
dies unterliegt der Selbstbestimmung. So etwas kann
man den Eltern doch nicht verordnen.
Frau Aigner und die Bundesregierung sind also auf
einem sehr guten Weg, was die gesunde Ernährung der
Kinder angeht.
Nun diskutieren wir hier über den Antrag der Linken,
der nach außen hin sehr schön aussieht und dem man eigentlich zustimmen könnte.
({3})
Eigentlich. Aber bei einer genaueren Betrachtung des
Antrags sieht man deutlich, dass dieser Antrag nichts
weiter als populistisches Aufblähen ist.
({4})
Wie eben kurz geschildert, sind sich sowohl die
christlich-liberale Koalition als auch die Bundesregierung der Wichtigkeit gesunder Ernährung von Kindern
bewusst.
({5})
Die Forderung nach unentgeltlicher Verpflegung mag
schön klingen. Aber ist sie zielführend? Würden sich
denn tatsächlich mehr Kinder und Jugendliche - abgesehen vom Mittagessen - besser ernähren? Oder ist es vielmehr so, dass aufgrund des fehlenden Preisbewusstseins
- das ist nämlich ein ganz wichtiger Aspekt - noch mehr
Lebensmittel weggeworfen würden, als das eh schon getan wird, frei nach dem Sprichwort: „Was nichts kostet,
taugt nichts“? Wir haben es oft genug erlebt. Die Lebensmittel sind zu gut für die Tonne.
Interessant finde ich, was in Ihrem Antrag zum Bildungs- und Teilhabepaket steht. Unabhängig davon, dass
man auch hier erkennt, dass sich die Bundesregierung
der Wichtigkeit der Verpflegung von Kindern und Jugendlichen bewusst ist, möchte ich etwas zu den Erfahrungen sagen, die ich mit dem Bildungs- und Teilhabepaket gemacht habe.
Ich weiß aus meinem Wahlkreis, dass das für die
Schulspeisung zur Verfügung gestellte Geld völlig unbürokratisch und problemlos an die Schulen ausgegeben
wird.
({6})
Hier haben die Eltern und die Kinder nicht viel mit der
Abwicklung zu tun. Das Geld wird von der Schulbehörde in Absprache mit der Arge direkt an die Schulen
überwiesen. Es ist Sache der Verwaltung vor Ort, festzulegen, wie sie arbeitet. Es ist wichtig, dass die Verwaltung - Kommune und Arge - gut zusammenarbeitet;
dann funktioniert es auch.
({7})
Ich verstehe ja, dass die Damen und Herren von der
Linken die sinnvollen sozialstaatlichen Veränderungen,
welche die schwarz-gelbe Koalition durchgeführt hat,
verteufeln.
({8})
Aber sehen Sie doch bitte ein: Vernünftige Sozialpolitik
heißt nicht, das Geld fremder Leute mit vollen Händen
auszugeben. Aber genau das beinhaltet Ihr Antrag. Es ist
nicht notwendig, dass wir den Eltern, die sich das selbst
leisten können, das Geld für die Schulspeisung bezahlen.
({9})
Das ist Ausdruck einer Politik, welche die Bürger bevormundet unter dem Deckmantel, dass alles und jeder der
Hilfe bedarf und diese auch empfangen will. Dem ist
nicht so. Die Menschen in unserem Land wissen ganz
genau, was gut und was schlecht für sie ist.
({10})
Denjenigen, die sich nicht selbst helfen können, hilft der
Staat. So handelt die Union seit Gründung der Bundesrepublik. Das sieht man am Beispiel der Schulspeisung
ganz deutlich.
({11})
Wenn Sie bitte auf die Zeit achten!
Ja. - Hierbei geht es um das Prinzip des mündigen
Bürgers und des Verbrauchers, der selbst am besten
weiß, was für ihn und seine Familie gut und wichtig ist.
Frau Kollegin Stauche, Sie sind am Ende der Redezeit. Aber Sie haben jetzt die Möglichkeit, noch eine
Zwischenfrage zuzulassen.
Nein, jetzt nicht mehr. Wir wollen zur Grünen Woche.
({0})
Jawohl. Aber ich habe die Bitte, dass noch ein paar
hierbleiben. - Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe nun die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11880 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie alle sind damit
einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur zusätzlichen Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen
und in Kindertagespflege
- Drucksache 17/12057 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Sie alle
sind damit einverstanden. So haben wir dies gemeinsam
beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Das Wort hat unsere
Bundesministerin, Frau Dr. Kristina Schröder. Bitte
schön, Frau Bundesministerin Dr. Schröder.
({1})
Lieber Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen! Am 14. Dezember haben die Länder im Bundesrat das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz abgelehnt
und damit auch 580 Millionen Euro, die der Bund im
Juni 2012 zusätzlich für den Bau von 30 000 neuen Kitaplätzen bereitgestellt hat.
Wir beraten heute kurzfristig den Entwurf eines Kinderzusatzförderungsgesetzes, weil wir wollen, dass die
neuen Bundesmittel schnellstmöglich in den Bau von
Kitaplätzen fließen, und weil wir wollen, dass die Kommunen und die Träger vor Ort endlich Rechts- und Planungssicherheit haben.
Der vorliegende Gesetzentwurf schafft die Grundlagen dafür, dass die im Bundeshaushalt bereitgestellten
Mittel abgerufen und eingesetzt werden können.
An dieser Stelle ist es angebracht, einen besonderen
Dank an die Mitarbeiter des Ministeriums auszusprechen. Sie haben kurz vor Weihnachten alle Hebel in
Bewegung gesetzt und innerhalb eines einzigen Tages
diesen Gesetzentwurf erarbeitet und mit mir am Wochenende abgestimmt, damit wir trotz des straffen Zeitplanes dieses Gesetz so schnell wie möglich auf den
Weg bringen können. Vielen Dank dafür.
({0})
Dabei gilt nach wie vor, dass wir den Wünschen der
Länder weit entgegenkommen. Wir haben zugestimmt,
dass die Mittel rückwirkend zum 1. Juli 2012 eingesetzt
werden können. Wir haben zugestimmt, dass die Zahl
der unter Dreijährigen zum 31. Dezember 2010 für die
Verteilung der Mittel ausschlaggebend ist und nicht der
Finanzbedarf.
({1})
Aber Priorität haben für uns nicht die Wünsche der Länder, sondern die Wünsche der Eltern.
({2})
Deshalb ist es wichtig, dass Gelder, die bis zu bestimmten Terminen nicht für konkrete Bauprojekte gebunden
sind, anderen Ländern zur Verfügung stehen. Das ist
ganz klar im Sinne der Eltern. Die Gelder müssen dem
Bedarf folgen und nicht dem Proporz. Darauf hatten wir
uns mit den Ländern geeinigt. Die Länder haben außerdem zugesagt, dass sie ihren Eigenanteil nachweisen, bevor neue Mittel bewilligt werden. Das soll sicherstellen,
dass aus den 580 Millionen Euro tatsächlich 30 000 zusätzliche Plätze entstehen.
Ein dritter Punkt ist im Sinne der Eltern, nämlich
mehr Transparenz. Wir brauchen endlich konkrete Informationen über Ausbaustand, Planung und Bedarf vor
Ort. Nur das liefert einen Überblick, den wir für eine effiziente Ausbauplanung auf allen Ebenen brauchen.
({3})
Der Bund hat die Unterstützung für eine Aufgabe zugesagt, für die verfassungsrechtlich allein die Länder zuständig sind. Der Bund hat sich im Jahr 2007 bereit erklärt, den Kitaausbau mit 4 Milliarden Euro zu
unterstützen. Grundlage dafür waren Planungszahlen für
den bundesweiten Bedarf. 2007 ging man von 35 Prozent aus, und heute gehen wir von 39 Prozent aus.
Wir alle wissen, dass diese Zahlen deutschlandweite
Durchschnittszahlen sind und dass es die Aufgabe der
Kommunen ist, den konkreten Bedarf vor Ort zu ermitteln. Trotzdem wird mir immer wieder empört entgegengehalten, dass der Bedarf in vielen Großstädten, wie zum
Beispiel Hamburg, weitaus höher ist. Ja, natürlich ist er
das. Es ist das Wesen von Durchschnittszahlen, dass dahinter höhere und niedrigere Werte stehen.
({4})
Das ist im Grunde wie bei der SPD. Wenn sie bei der
letzten Forsa-Umfrage auf 23 Prozent gekommen ist,
dann findet sie ein Dorf, wo sie noch auf 30 Prozent
kommt, aber sie findet auch noch Gemeinden, wo sie nur
auf 20 Prozent kommt.
({5})
So ist das auch mit dem Bedarf an Kitaplätzen. Deshalb müssen sich die Kommunen vor Ort um die Erfüllung des Rechtsanspruchs kümmern. Das bedeutet, dass
jede Stadt, jede Gemeinde selbst ermitteln muss, wie
hoch der Bedarf an U-3-Plätzen ist, und dass sie dann
diese Plätze zur Verfügung stellen muss.
Genau deshalb ist es auch so wichtig, dass wir endlich
Transparenz haben, wo noch wie viele Plätze konkret benötigt werden. Es gibt gute Kommunen, die die Prioritäten rechtzeitig gesetzt haben. Es gibt aber leider auch
Kommunen, die erst jetzt erkennen, dass sie sich an den
Wünschen der Eltern orientieren müssen und nicht an
bundesweiten Durchschnittszahlen.
Bei den Ländern wiederum liegt die Steuerungsverantwortung. Sie müssen sowohl ihren finanziellen Beitrag leisten als auch dafür sorgen, dass Bundesmittel und
Landesmittel in den Kommunen dort ankommen, wo sie
gebraucht werden. Dabei ist klar: Ohne das Geld des
Bundes, ohne die Weiterleitung der Mittel durch die
Länder und ohne eigene Mittel der Länder können die
Kommunen ihre Aufgabe nicht erfüllen. Nur wenn alle
Beteiligten ihrer Verantwortung gerecht werden, dann ist
der Rechtsanspruch auch zu schaffen.
Wir als Bund haben unseren Teil der Abmachung erfüllt. Wir haben unsere Finanzverpflichtung erbracht und
mit den 580 Millionen Euro sogar noch eine ordentliche
Schippe draufgelegt. Wir haben unseren Teil der Vereinbarung zu jedem Zeitpunkt auf Punkt und Komma, auf
Euro und Cent erfüllt.
({6})
Dennoch sehen wir, dass mancherorts die Ausbaudynamik nicht hoch genug ist. Deshalb mischen wir uns
ein, auch über unseren Teil der Abmachung hinaus.
Diese Bundesregierung, diese christlich-liberale Koalition tut alles in ihrer Macht stehende, um den Rechtsanspruch zum 1. August 2013 zu erfüllen.
({7})
Wo es Ausbauhemmnisse gibt, helfen wir, diese zu beseitigen. Dazu dient auch der 10-Punkte-Plan, den ich im
Mai 2012 vorgelegt habe. Die Maßnahmen daraus sind
angelaufen oder laufen gerade an.
Am 1. Februar startet das neue KfW-Förderprogramm: Kommunen und Träger können verbilligte Kredite für den Kitaausbau aufnehmen. Damit übernehmen
wir de facto eine Aufgabe der Länder. Mit dem neuen
Aktionsprogramm Kindertagespflege ist bereits wenige
Wochen nach dem Start der Grundstein für 1 000 neue
Betreuungsplätze gelegt worden. Das neue Programm
zur Förderung betrieblicher Kinderbetreuung ist gestartet und nimmt die Unternehmen besonders in die
Pflicht.
Als Bund haben wir damit für die Erfüllung des
Rechtsanspruchs alle Voraussetzungen geschaffen. Mein
Anliegen ist, dass das am 1. August 2013 auch alle Länder und alle Kommunen von sich sagen können.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. - Nun spricht
für den Bundesrat Senator Detlef Scheele. Senator
Detlef Scheele ist Senator der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration der Hansestadt Hamburg.
Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Krippenausbau ist eine große Herausforderung
für die Länder und Kommunen. Die Länder und Kommunen nehmen diese Herausforderung auch an. Ich will
gerne richtigstellen, dass die Länder das Fiskalpaktgesetz nicht wegen des Krippenausbaus abgelehnt haben,
sondern aus anderen Gründen. Das ist, glaube ich, auch
allgemein bekannt.
Wie das Beispiel Hamburg zeigt, ist das ambitionierte
Ziel, den Rechtsanspruch bis zum August dieses Jahres
umzusetzen, gut zu erreichen. Das ist mit erheblichen
Anstrengungen verbunden; aber es funktioniert, wenn
alle Beteiligten konstruktiv zusammenarbeiten.
In Hamburg haben wir in den letzten zwei Jahren, seit
dem Beginn unserer Regierungszeit, mehr als 4 000 zusätzliche Krippenplätze geschaffen. Kinder in Betreuung
zu bringen, das kostet Geld, Zeit und Geduld. Von 2011
bis 2013 werden die Ausgaben für die Kinderbetreuung
in der Stadt Hamburg von etwa 400 Millionen Euro auf
mehr als eine halbe Milliarde Euro steigen. Wir werden
eine Betreuungsquote im U-3-Bereich von rund 43 Prozent erreichen können. Das entspricht dem, was man in
einer Großstadt wie Hamburg braucht.
Alle Städte erheben den Bedarf, den sie haben und sie
wissen auch, was sie brauchen. Das jetzt vom Bund endlich in Aussicht gestellte Geld ist daher eine wichtige
und willkommene Hilfe. Aber das Hauptengagement
Detlef Scheele, Senator ({0})
- da gebe ich der Ministerin recht - liegt bei den Ländern und bei den Kommunen.
({1})
Sie sind für die Kindertagesbetreuung zuständig und erfüllen diese Aufgabe auch.
({2})
Die Länder haben frühzeitig, zum Beispiel auf der Jugend- und Familienministerkonferenz im Jahr 2011, darauf hingewiesen, dass die beim Krippengipfel 2007 unterlegten Annahmen von der Wirklichkeit überholt
worden sind. Die damals getroffene Verabredung, dass
Bund, Länder und Kommunen jeweils ein Drittel der Investitions- und Betriebskosten tragen, wird nicht eingehalten.
Hamburg erhält ab dem Jahr 2014 - wenn die neue
Zusatzförderung kommt - vom Bund rund 20 Millionen
Euro für den Betrieb der Kitas. Das sind jedoch nur
15 Prozent der laufenden Ausgaben. Der Bund müsste
allein für Hamburg noch einmal 25 Millionen Euro im
Jahr oben drauflegen, um der vereinbarten Drittelregelung nachzukommen,
({3})
und das Jahr für Jahr.
Trotz verschiedener Initiativen der Länder hat die
Bundesregierung die Probleme beim Krippenausbau
lange Zeit ignoriert. Nur durch die Initiative der Länder
hat der Bund weitere 580 Millionen Euro Investitionsmittel bereitgestellt.
({4})
Nur durch die Initiative der Länder ist es gelungen, Geld
für zusätzliche 30 000 Plätze zu erhalten. Ohne die Ministerpräsidenten Kurt Beck und Olaf Scholz hätte dies
bei den Verhandlungen zum Fiskalpakt gar nicht zur Debatte gestanden; denn die Bundesregierung hatte dieses
Thema nicht auf die Tagesordnung gesetzt.
({5})
Die Notwendigkeit einer stärkeren Beteiligung des
Bundes zur Erreichung des 2007 auf dem Kitagipfel von
allen gewollten und beschlossenen Rechtsanspruches
war bereits seit vielen Jahren bekannt. Stattdessen haben
Sie von der Bundesregierung das Betreuungsgeld eingeführt. Sie halten damit Frauen vom Arbeitsmarkt fern,
verschärfen die Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt,
schließen Kinder von früher Bildung in Kitas aus und
stecken viel Geld in ein Projekt, das auf veralteten Vorstellungen vom Familienleben basiert.
({6})
Dieses Geld wäre besser in den Ausbau und die qualitative Weiterentwicklung der Kindertagesbetreuung investiert worden;
({7})
allein in Hamburg hätte man damit 3 000 zusätzliche
Plätze schaffen können, die einen Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit geleistet hätten.
({8})
Die Länder waren vor dem Hintergrund der Probleme
beim Ausbau der Kindertagesbetreuung immer zu pragmatischem Handeln bereit. Aber die Idee vom August
2012, die zugesicherten Mittel nur an die westdeutschen
Bundesländer zu verteilen, die bei der Erreichung der
Ausbauziele noch hinterherhinkten, war besonders bemerkenswert. Die neuen Bundesländer, aber auch alte
Bundesländer wie Bayern und Hamburg, die bereits
massiv eigene Mittel investiert hatten, sollten leer ausgehen. Mit den Ministerpräsidenten war verbindlich verabredet, dass der Verteilungsschlüssel der alte bleibt. Der
Versuch, die Länder gegeneinander auszuspielen, war
sehr durchsichtig und nicht erfolgreich.
In den Verhandlungen zum Fiskalpakt wurde den
Ländern eine unbürokratische und schnelle Regelung zugesagt. Wenn das so gewesen wäre, dann hätte schon
längst mit der Auszahlung begonnen werden können.
Aber was sich den Ländern dann bot, war alles andere
als unbürokratisch und schnell: Plötzlich wurden monatliche detaillierte Berichte zum Ausbaustand verlangt,
obwohl es bereits konkrete Nachweise für jeden Euro
des Bundesgeldes gab und bis heute gibt; die Länder haben das nie abgelehnt. Pragmatismus und klare Regeln
hätten stattdessen weitergeholfen. Dazu waren und sind
wir bereit, alle 16 Länder gemeinsam.
Erst im November, nach energischem Drängen aller
Länder, hat die Bundesregierung endlich damit aufgehört, die notwendigen Verbesserungen für Familien und
ihre Kinder zu blockieren. Wir werden uns den Schwarzen Peter nicht zuschieben lassen. Denn die Realität
sieht gänzlich anders aus: Für Hamburg gilt, dass wir
den Rechtsanspruch für alle zweijährigen Kinder bereits
im letzten August erfolgreich umgesetzt haben. Nordrhein-Westfalen hat - erst nach dem Regierungswechsel
im Sommer 2010 - zusätzliche Landesmittel in Höhe
von fast einer halben Milliarde Euro in den Ausbau der
Kinderbetreuung im U-3-Bereich investiert.
({9})
Fast überall wird der Ausbau vorangetrieben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns mit dem
Klein-Klein aufhören;
({10})
Detlef Scheele, Senator ({11})
das können wir uns nicht länger leisten. Es sind noch sieben Monate; dann muss der Rechtsanspruch gewährleistet sein.
({12})
- Kommen Sie nach Hamburg und gucken Sie, wie das
geht. Das wäre ganz hilfreich.
({13})
Wir haben nicht mehr viel Zeit: Es sind noch sieben Monate; dann soll der Rechtsanspruch gelten. Die Eltern
sollen arbeiten können, wenn sie wollen. Es soll frühe
Bildung für alle Kinder geben. Das wäre ein Beitrag zu
mehr Chancengerechtigkeit. Die Politik sollte sich jetzt
zusammenraufen.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Herr Senator. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön, Herr Kollege Pascal
Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bund, Länder und Kommunen haben sich darauf verständigt, 12 Milliarden Euro in das wichtige gesamtgesellschaftliche Ziel einer verbesserten Kinderbetreuung
zu investieren.
({0})
Davon trägt der Bund 4 Milliarden Euro. Mit dem heutigen Gesetzentwurf legt er weitere 580,5 Millionen Euro
nach. Das bedeutet: Keine Bundesregierung zuvor hat je
so viel in den Ausbau der Infrastruktur in der Kinderbetreuung investiert.
({1})
Wir, die christlich-liberale Koalition, stehen zu unserem Teil der Verantwortung und zum Rechtsanspruch
auf Betreuung für unter dreijährige Kinder, der zum
1. August in Kraft treten wird. Wir stehen dazu, weil wir
wissen, dass eine gute Familienpolitik Paare ermutigt,
Kinder zu bekommen. Für eine gute Familienpolitik bedarf es dreierlei:
Erstens. Es bedarf der richtigen Rahmenbedingungen,
sowohl bestimmter rechtlicher Rahmenbedingungen,
zum Beispiel eines Rechtsanspruchs, als auch guter Bedingungen im Bereich der Infrastruktur, zum Beispiel für
Kindertagesstätten, Horte, Tagesmütter und Tagesväter.
Zweitens. Es bedarf einer finanziellen Unterstützung.
Internationale Vergleiche besagen, dass Deutschland hier
weltweit in der Spitzengruppe liegt.
Drittens. Es bedarf dessen, was die Bundesministerin
Kristina Schröder „Zeit für Familie“ nennt: die Möglichkeit, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, ein
verlässliches Umfeld in der Betreuung und gute Aussichten am Arbeitsmarkt; denn wir wissen, dass Unsicherheit hinsichtlich des Arbeitsplatzes bei vielen dazu
führt, bei der Verwirklichung des Kinderwunsches abzuwarten. Manche warten dann viel zu lange.
Ich denke, niemand kann bestreiten, dass die gute
Konjunkturlage der letzten drei Jahre unter dieser Regierungskoalition zu mehr Verlässlichkeit auf dem Arbeitsmarkt geführt hat.
({2})
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren so
viele Menschen erwerbstätig.
In der heutigen Debatte geht es um zusätzliche Mittel
in Höhe von 580,5 Millionen Euro, die der Bund bereitstellt, und darum, warum wir dieses schon beschlossene
Finanzpaket heute noch einmal in den Bundestag einbringen müssen. Wir müssen das tun, weil die Bundesländer ihren Teil der Verantwortung beim Ausbau der
Kinderbetreuung nur sehr schleppend wahrgenommen
haben. Es hat sich gezeigt, dass einige Bundesländer die
4 Milliarden Euro nur sehr zögerlich abgerufen haben
und die Umsetzung des Kitabauprogramms mit den zeitlichen Vorgaben nicht Schritt gehalten hat.
An dieser Stelle darf man auch einmal darauf hinweisen - der Kollege Christian Lange aus Baden-Württemberg war eben noch anwesend -, dass das grün-rot regierte Baden-Württemberg mit nur 61,7 Prozent das
Schlusslicht beim Mittelabruf bildet.
({3})
Das ist schade und ein eindeutiger Aufruf an das grünrote Baden-Württemberg.
({4})
Die Länder haben den Fiskalpakt abgelehnt, in dem
auch die zusätzlichen 580,5 Millionen Euro für den Kitaausbau enthalten waren. Wir müssen den Ländern heute
das Geld quasi hinterhertragen.
({5})
Dabei haben Bund, Länder und Kommunen den Ausbau
der Kinderbetreuung einstimmig beschlossen. Deshalb
ist es ärgerlich, wenn die Länder einerseits ihrer Verantwortung nicht in ausreichendem Maße nachkommen,
sich aber gleichzeitig beklagen, wenn sich der Bund in
ihre Kompetenzen einmischt.
Wenn zum Beispiel schärfere Berichtspflichten vorgeschlagen werden, gibt es Kritik. Die Eltern der Kinder
erwarten von den Landesregierungen aber keine taktischen Spielchen,
({6})
sondern die Umsetzung dessen, was sie selbst mit beschlossen haben. Um echte Wahlfreiheit zu erreichen,
brauchen wir auch in den nächsten Jahren erhebliche
Anstrengungen. Jeder - auch Bund, Länder und Kommunen - sollte dabei den eigenen Verpflichtungen nachkommen.
Ich vermisse zum Beispiel Initiativen der Landesregierungen zur Entrümpelung der Landesbauordnungen,
um nicht den Ausbau durch überzogene Standards bei
der Höhe von Kleiderhaken und Toilettenbecken zu verzögern. Ich vermisse Initiativen der Landesregierungen,
um die EU-Hygieneverordnungen in der Tagespflege
großzügig auszulegen. Hierbei haben die Länder einen
erheblichen Spielraum, den sie im Sinne der Kinderbetreuung nutzen sollten.
({7})
Wir haben mit unserem Antrag zur Stärkung der Tagespflege unseren Teil dazu beigetragen. Wenn es um
die Kinderbetreuung geht, liegt aber vieles in der Zuständigkeit der Länder. Insofern kann ich nur an die Länder und die Kommunen appellieren, ihrer Verantwortung
gerecht zu werden und beim Ausbau der Kindertagesbetreuung einen Zahn zuzulegen. Packen Sie mit an und
verhindern Sie nicht! Die Eltern und die Kinder warten
darauf.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. - Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Golze.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon verwunderlich. Wenn
man den Gesetzentwurf durchliest und wenn man die
Rede unserer Ministerin dazu hört, dann gewinnt man
den Eindruck, die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen hätten das Gefühl, den beschlossenen
Rechtsanspruch locker umsetzen zu können, und es
ginge nur noch um diese kleine Differenz zwischen den
Plätzen für 37 Prozent bzw. 39 Prozent der Kinder. Diese
30 000 Plätze könne man den Ländern gerne auch noch
hinterhertragen, wie es Herr Kober vorhin sagte.
Sie nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass diese
37 Prozent bzw. 39 Prozent von Anfang an bewusst zu
niedrig angesetzt waren und dass es einen deutlich höheren Bedarf geben wird, den das Statistische Bundesamt
vor wenigen Wochen deutlich beziffert hat.
({0})
220 000 Plätze fehlen derzeit bundesweit. Frau Ministerin, da helfen keine Zahlenspiele. Da helfen auch keine
statistischen Berechnungen. Es helfen auch keine Erklärungen, wie Umfragen oder statistische Mittelwerte zustande kommen. Das zu wissen, können Sie einem
durchschnittlichen Bundestagsabgeordneten durchaus
zutrauen.
Das Problem ist, dass der Bedarf deutlich größer ist
als die Zahl, die Sie beschlossen haben. Dieses Problem
haben die Kommunen. Die Realitätsverweigerung, die
Sie dabei an den Tag legen, hilft den Kommunen nicht
weiter.
Das Problem ist auch, dass Sie nicht nur fehlende
Krippenplätze in einer nennenswerten Größenordnung
ignorieren, sondern dass Sie auch ignorieren, dass derzeit aus einer Verzweiflung heraus eine Debatte über das
Absenken von Qualitätsstandards geführt wird, nur um
vielleicht doch noch den Rechtsanspruch einlösen zu
können. Genau das dürfen wir aber nicht zulassen. Das
dürfen wir auch nicht auf Bundesebene zulassen.
({1})
Wir brauchen bundesweit qualitative Standards. Auf die
muss man sich endlich verständigen. Deswegen fordere
ich an dieser Stelle zum wiederholten Male: Bund, Länder und Kommunen müssen an einen Tisch. Es muss einen neuen Krippengipfel geben,
({2})
und bei diesem Krippengipfel muss man sich mindestens
über folgende drei Punkte Klarheit verschaffen.
Erstens. Wir brauchen realistische Zahlen, wie groß
der Bedarf tatsächlich sein wird. Ich erinnere daran: Wir
reden über einen Rechtsanspruch für Kinder ab dem ersten Lebensjahr, der in diesem Sommer greifen soll. Das
heißt, die zukünftigen Kitakinder, um die es geht, sind
schon geboren. Die Eltern können heute tatsächlich beurteilen, ob sie einen Kitaplatz brauchen oder nicht. Vor
einigen Jahren war das vielleicht noch nicht der Fall.
Das muss endlich eruiert, erforscht und erfragt werden.
Das bringt dann die Zahlen des Familienministeriums
vielleicht etwas näher an die Wirklichkeit.
Zweitens muss auf diesem Krippengipfel über verbindliche Qualitätsstandards und deren Umsetzung gesprochen werden. Wie groß dürfen Gruppen in der Kita
maximal sein? Wie viele Erzieherinnen und Erzieher
werden noch gebraucht? Welche Qualifikationen brauchen diese Fachkräfte? Wie können wir gewährleisten,
dass es genügend Erzieherinnen und Erzieher gibt? Das
in einem halben Jahr zu schaffen, ist kaum noch möglich. Wir haben die Bundesregierung mehrfach dazu aufgefordert, einen Maßnahmenplan vorzulegen; geschehen
ist nichts.
Drittens muss bei diesem Krippengipfel festgestellt
werden - und man muss sich darauf verständigen, wie
man damit umgeht -, dass es trotz aller noch vorzunehmenden Anstrengungen Kommunen geben wird, die im
Sommer nicht genügend Betreuungsplätze zur Verfügung stellen können. Das werden nicht nur die Großstädte sein, es wird auch Regionen im ländlichen Raum
geben, die diese Plätze nicht vorhalten können. Der
Städte- und Gemeindebund warnt nicht zu Unrecht
schon jetzt vor einer Klagewelle, die auf die Kommunen
zurollt.
Frau Ministerin, sich dann hinzustellen und zu behaupten, Sie hätten Ihren Teil getan und jetzt müssten
die Kommunen die Schadenersatzklagen bewältigen, das
kann nicht sein. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für die Umsetzung dieses Rechtsanspruches. Der
Bundestag darf die Kommunen, die Städte und Gemeinden nicht mit diesen Schadenersatzklagen alleine lassen,
nur weil sie das letzte Glied in der Kette und Opfer dieses Missmanagements sind.
({3})
Man kann also zusammenfassen: Mit diesem Gesetzentwurf haben die Regierenden wohl die letzte Chance
vertan, in Richtung einer guten Tagesbetreuung für alle
Kinder umzusteuern. Krisenmanagement sieht anders
aus. Sie geben keine Antworten auf die wirklich drängenden Fragen, sondern sie spielen Blindekuh, was den
Bedarf betrifft, und Schwarzer Peter, was die Folgen dieses Spiels betrifft. Das muss ein Ende haben. Sie wollen
in der nächsten Sitzungswoche den Gesetzentwurf verabschieden. In der vorliegenden Form können wir ihm
keinesfalls zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. - Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere
Kollegin Frau Katja Dörner. Bitte schön, Frau Kollegin
Dörner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Die Ministerin hat heute Abend offensichtlich ein bisschen Kreide gefressen.
({0})
Aber dann kam doch wieder die alte Leier, das alte
Schwarzer-Peter-Spiel, was auch bei Herrn Kober sehr
schön zu beobachten war. Es wird mit dem Finger auf
die anderen gezeigt: Die anderen sind schuld, die Länder
sind schuld, die Kommunen sind schuld.
({1})
Ich kann Ihnen sagen: Die Eltern, die verzweifelt auf der
Suche nach einem Kitaplatz sind, haben diese Debatte
einfach satt.
({2})
Wir sind hier im Deutschen Bundestag, und deshalb
spreche ich über die Verantwortung der Bundesregierung. Fakt ist: Die Bundesregierung und diese Familienministerin sind ihrer Verantwortung beim Kitaausbau
nicht gerecht geworden.
({3})
Was hat im Bundestag stattgefunden? Schwarz-gelbe
Vogel-Strauß-Politik, und das seit Jahren. Wir wissen
doch schon lange, dass der Bedarf im U-3-Bereich oberhalb der ursprünglich avisierten 35 Prozent liegt. Wir
müssen auch davon ausgehen, dass der Bedarf weiter
steigt. Was tut die Ministerin? Was hat sie getan? Sie
steckt den Kopf in den Sand. Drei Jahre lang hat die Familienministerin es nicht vermocht, dem Finanzminister
einen einzigen zusätzlichen Cent für den Kitaausbau aus
den Rippen zu leiern.
({4})
Wenn es jetzt überhaupt eine Chance gibt, den
Rechtsanspruch im August zu gewährleisten, dann haben wir diese Chance doch den rot-grünen Bundesländern im Bundesrat zu verdanken,
({5})
die die zusätzlichen 580 Millionen Euro im Rahmen der
Fiskalpaktverhandlungen erstritten haben.
({6})
Die Bundesregierung und diese Familienministerin haben mit diesen 580 Millionen Euro überhaupt nichts zu
tun.
({7})
Und was macht die Ministerin? Sie schmückt sich mit
fremden Federn. Sie setzt das Schwarzer-Peter-Spiel
fort. Sie meint, den Ländern kleinteilige und unerfüllbare Vorschriften machen und sie mit Detailregelungen
schikanieren zu können.
580 Millionen Euro zusätzlich für den Kitaausbau, erstritten von den Bundesländern, nachdem die Ministerin
drei Jahre lang nichts gebacken bekommen hat, und was
behauptet Frau Schröder? Zitat: Dass „manche Länder
den Kita-Ausbau aus Parteitaktik vor die Wand fahren
lassen“.
Im Herbst beschwerte die Ministerin sich in der breiten
Öffentlichkeit, die Länder würden die Bundesgelder nicht
abrufen. Nun lese ich in dem Gesetzentwurf, der uns hier
vorgelegt wurde, dass 99 Prozent der Bundesmittel bereits durch Bewilligungen gebunden sind. Herr Kober, an
Ihre Adresse sage ich: Heute haben wir die neuen Zahlen
bekommen. Baden-Württemberg hat 99,9 Prozent der
Gelder beantragt, und sie sind auch bewilligt worden. Das
sind die relevanten Zahlen. Sie sollten hier nicht solche
Taschenspielertricks machen. Diese Tatsachenverdrehung ist einfach nur dreist.
({8})
Wir könnten heute schon viel weiter sein. Die zusätzlichen Mittel könnten schon dort angekommen sein, wo
sie dringend gebraucht werden, in den Kommunen, in
den Kitas, wenn die Ministerin darauf verzichtet hätte,
sich zulasten der Länder und auf Kosten der Eltern zu
profilieren. Jetzt müssen wir alle gemeinsam zusehen,
dass wir überhaupt noch die Kurve bekommen.
({9})
Ich finde es richtig, dass der Bund Forderungen nach
einer Beteiligung des Bundes an der Befriedigung eventueller Schadenersatzansprüche der Eltern aufgrund fehlender Kitaplätze zurückweist. Das wäre definitiv ein
falsches Signal. Aber es reicht nicht, sich auf diese Forderung der Kommunen einfach nur nicht einzulassen,
nach dem Motto: Das geht uns alles überhaupt nichts an.
Es muss darum gehen, zu vermeiden, dass diese Schadenersatzansprüche überhaupt erst entstehen.
({10})
Diesbezüglich ist der Bund ganz klar in der Pflicht. Wir
brauchen ein Sofortprogramm, insbesondere für die
Kommunen, die in den letzten Jahren in den Kitaausbau
investiert haben, aber einen Bedarf haben, der deutlich
über 35 Prozent liegt. Wir Grüne haben das in den Haushaltsberatungen beantragt. Wir haben einen Antrag vorgelegt. Wir haben dokumentiert, wie man das solide finanzieren kann.
({11})
Dieser Antrag wurde von Schwarz-Gelb einfach abgelehnt.
Wenn der Bund jetzt nicht schnell mehr tut, dann wird
das mit dem Rechtsanspruch im August nicht funktionieren. Aber nicht nur das; es ist auch klar, dass der Ausbau
der Kitaplätze dann zulasten der Qualität in den Einrichtungen gehen wird. Ich finde das absolut unverantwortlich. Deshalb erneut mein Appell an die Bundesregierung,
an die Familienministerin, endlich die Verantwortung für
einen bedarfsgerechten Platzausbau und die Qualität der
Angebote zu übernehmen.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin Katja Dörner. - Nächste
Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Dorothee Bär. Bitte schön, Frau Kollegin Bär.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es
gibt ein Spiel, das bei Kindergartenkindern sehr beliebt
ist. Sie machen wahnsinnig gern einen „Umgekehrttag“.
Dann heißt es: Ich meine immer genau das Gegenteil
von dem, was ich sage. Wäre die Rede von Frau Dörner
Teil eines solchen Spiels gewesen, wäre sie absolut richtig gewesen; denn für jeden Satz, den Sie hier von sich
gegeben haben, gilt: Das Gegenteil davon wäre richtig
gewesen.
({0})
Nur mit einem Satz haben Sie recht, Frau Kollegin,
nämlich mit dem Satz: Wir haben es satt. - Auch wir haben es satt. Wir haben es satt, dass Sie hier dauernd alles
schlechtreden, was diese Bundesregierung in den letzten
Jahren an hervorragender Arbeit für die Familien in diesem Land geleistet hat.
({1})
Wir haben es auch satt, dass wir uns hier immer wieder
mit Themen beschäftigen müssen, die schon längst auf
einem guten Weg wären, wenn Rot-Grün bzw. Grün-Rot
in diesen Bereichen keine Dauerblockade betreiben
würde.
Sehr geehrter Herr Senator, für die Rede hätten Sie
nicht aus Hamburg herkommen müssen.
({2})
Wenn Sie einfach Ihre Arbeit im Bundesrat gemacht hätten, wäre die Debatte heute Abend überhaupt nicht notwendig.
({3})
Am 20. November 2012 haben wir hier im Deutschen
Bundestag mit der Verabschiedung des Gesetzespakets
zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages
580 Millionen Euro - sprich: 30 000 zusätzliche Betreuungsplätze - auf den Weg gebracht. Am 14. Dezember
2012 wurde das großzügige Angebot des Bundes aber
ohne Not und völlig überraschend im Bundesrat abgelehnt. Es stellt sich schon die Frage, was dahintersteckt;
denn das Vorgehen der Länder ist - vor allem vor dem
Hintergrund, dass beispielsweise Bayern dem Paket zugestimmt hat - wirklich unbegreiflich. Daran sieht man,
meine Kolleginnen und Kollegen, dass es in keiner
Weise um inhaltliche Punkte geht. Hier spielen nur parteitaktische Gründe eine Rolle.
({4})
Das wird auf dem Rücken von Familien bzw. Kindern
ausgetragen. Ich finde das sehr schofel.
({5})
Seit Jahren drängen die Länder uns, den Bund, dass
wir uns noch stärker beteiligen. Wir als Bund tun das
schon, obwohl wir in keiner Weise zuständig sind. Trotzdem sagen wir: Wir nehmen Geld in die Hand. Die
Haushaltspolitiker werden bestätigen, dass es nicht einfach ist, Geld für Aufgaben in die Hand zu nehmen, für
die eigentlich die Länder und Kommunen zuständig
sind. Zusätzlich hat unsere Ministerin in den Verhandlungen noch einmal Geld herausgeholt. Die Kollegin
von den Grünen - Frau Dörner, die jetzt nicht zuhört behauptet, sie habe es gemacht. Nein. Wer war es? Frau
Ministerin war es. Auch das gehört zur Wahrheit.
({6})
- Sie wissen doch überhaupt nicht, in wie vielen Gesprächen die Frau Ministerin darauf gedrängt hat, dass noch
zusätzliches Geld kommt.
({7})
Ich muss sagen, sie hat nicht nur das Ganze versprochen,
sondern auch gehalten. Deswegen sage ich ein ganz
herzliches Dankeschön an das Haus, besonders aber an
die Ministerin und an den Staatssekretär. Herzlichen
Dank an Sie beide!
({8})
Wir wollen unserer Verantwortung gerecht werden.
Deswegen müssen wir unser Vorhaben heute noch einmal
diskutieren. Wir wollen das in der nächsten Sitzungswoche abschließen. Auch von den Ländern erwarten wir Kooperationsbereitschaft. Sie kommen aus einem Land, das
jetzt wieder Empfänger im Rahmen des Länderfinanzausgleichs wird. Von daher wäre ich sowieso ganz vorsichtig
mit solchen Forderungen und würde nicht von Hamburg
nach Berlin reisen. Ich würde erst einmal versuchen, zu
Hause meine Hausaufgaben zu machen.
Ich möchte - dazu nutze ich gerne meine Redezeit noch einen weiteren Punkt ansprechen, weil mir das
wichtig ist. Wesentlich wichtiger, als solche unnötigen
Debatten aufgrund von Blockadehaltungen zu führen, ist
es, finde ich, dass wir uns über solche Punkte unterhalten, die die Ministerin gestern im Rahmen der Vorstellung des Familienreports vorgestellt hat. Dabei geht es
darum, dass wir jungen Frauen und Männern im Land
Mut machen, sich für Kinder zu entscheiden. Ich freue
mich sehr, dass im gestern von der Ministerin vorgestellten Familienreport eine Trendwende zu erkennen ist,
dass unter anderem auch Akademikerinnen in diesem
Land wieder mehr Kinder bekommen.
Solch positive Debatten müssen wir hier führen. Es
sollten keine Debatten wie die sein, die der Senator hier
geführt hat. Er selber hat leider dazu beigetragen, dass
wir uns im Klein-Klein verlieren. Wir müssen diejenigen
sein, die sagen: Es lohnt sich, eine Familie zu gründen.
An der Befragung sieht man auch - das war gestern das
Spannende -, dass der Bund seine Hausaufgaben gemacht hat. Denn von den Eltern wird nicht gesagt: Wenn
wir uns nicht bewusst für ein Kind entscheiden, liegt das
an fehlenden Plätzen. - Das wird weiter hinten erwähnt.
Es liegt auch nicht daran, dass zu wenig Geld da ist, sondern in erster Linie daran, dass beispielsweise der richtige Partner fehlt. Dazu können wir kein Gesetz verabschieden. Wir können aber mit unserer Politik bzw. mit
unseren Reden hier für ein positives Klima sorgen. Dieses positive Klima vermisse ich in Ihren Reden und bei
Ihrer Arbeit. Das finde ich sehr schade. Deswegen ist es
gut, dass CDU/CSU und FDP im September diese erfolgreiche Politik weiterführen können.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dorothee Bär. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin Frau Caren Marks. Bitte schön, Frau Kollegin Marks.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD-Bundestagsfraktion hat in den vergangenen
Jahren immer wieder darauf gedrängt, dass sich Familienministerin Schröder beim Krippenausbau engagiert
und vor allem endlich einmal konkret handelt. Auch
wenn Frau Schröder sich hier heute mit fremden Federn
schmückt: Es ist gut, dass die Bundesregierung nun endlich unseren Forderungen nachgibt und mehr Mittel für
den Krippenausbau bereitstellen will. Ich sage an dieser
Stelle aber auch ganz deutlich: Es wäre sinnvoll gewesen, wenn Sie, Frau Schröder, sich schon viel früher auf
den Weg gemacht, auf uns gehört und eine solche Initiative auf den Weg gebracht hätten.
({0})
Frau Ministerin, es ist bereits fünf vor zwölf. Sie müssen jetzt dafür sorgen, dass diese Mittel zügig dort ankommen, wo sie dringend gebraucht werden, nämlich
vor Ort. In diesem Zusammenhang will ich aber auch
noch einmal erwähnen, wie absurd es ist, dass SchwarzGelb hier vor einigen Wochen das Betreuungsgeld
durchgeboxt hat, womit ein Anreiz geschaffen wird, genau diese Infrastruktur, die mit Bundesmitteln gefördert
wird, nicht zu nutzen.
({1})
Das ist nicht nur bildungs- und integrationspolitisch eine
Katastrophe, sondern das ist auch eine völlig widersinnige und widersprüchliche Gesetzgebung.
({2})
- Nichts. - Zudem wird mit der milliardenteuren Einführung dieses unsinnigen Betreuungsgeldes langfristig viel
Geld dem so dringend notwendigen Ausbau der frühkindlichen Bildung entzogen. Das ist umso schlimmer,
je näher das Inkrafttreten des Rechtsanspruches rückt.
({3})
Frau Merkel und diese schwarz-gelbe Koalition setzen völlig falsche Anreize in der Familienpolitik. Immer
wieder hat die eigentlich zuständige Bundesfamilienministerin beim Krippenausbau den Ländern und den Kommunen die alleinige Verantwortung zugeschoben. Sie,
Frau Schröder, haben mit der gesamten Bundesregierung
wertvolle Zeit mit Nichtstun verstreichen lassen. Aber
auch Sie haben eine Verantwortung, vor der Sie nicht
weglaufen können.
({4})
Wir, die SPD, hingegen haben in der Zeit unserer Regierungsverantwortung andere familienpolitische Akzente gesetzt und den Krippenausbau mit Finanzhilfen in
Milliardenhöhe forciert. Aber Geld ist nur eine Seite der
Medaille. Das gilt auch für den Krippenausbau. Es gibt
noch viele andere Maßnahmen, die diese Regierung eigentlich endlich anpacken müsste. An verschiedenen Orten Deutschlands werden die Klagen über fehlende pädagogische Fachkräfte immer lauter. Die Zeit drängt. Sie
müssten in enger Zusammenarbeit mit den Ländern, den
Kommunen und den Trägern eine bundesweite Fachkräfteoffensive starten, um den steigenden Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern zu decken. Der wachsende
Fachkräftebedarf wird aber nur zu decken sein, wenn die
Arbeitsbedingungen im Erzieherberuf verbessert werden.
({5})
Bei der aktuellen Diskussion - das lief gestern und
vorgestern über den Ticker -, in der einige Akteure größere Kitagruppen und auch zusätzlich ungelerntes Personal in Kitas fordern, hat man den Eindruck, dass frühkindliche Bildung nicht wirklich hoch gewertet wird.
({6})
Es geht hier um nichts weniger als um die frühe Förderung von Kindern. Hier wird ein wirklich wichtiger
Grundstein für das weitere Leben gelegt. Wir, die SPD,
fordern seit Jahren, dass sich diese Bundesregierung mit
Ländern und Kommunen bei einem Krippengipfel an einen Tisch setzt und konkrete Schritte zur Forcierung des
Krippenausbaus sowie für eine Fachkräfteoffensive verabredet. Solche Initiativen sind zusätzlich auch auf Länderebene notwendig.
Wir haben eben gehört: SPD-geführte Länder machen
vor, wie es geht. Hamburg ist es gelungen, den Rechtsanspruch für Kinder unter drei Jahren um ein Jahr vorzuziehen. Er wirkt dort schon seit dem 1. August 2012.
({7})
Nordrhein-Westfalen hat nach der Regierungsübernahme durch Hannelore Kraft schnell einen Krippengipfel einberufen, nachdem die CDU-geführte Vorgängerregierung unter Beteiligung der FDP den Krippenausbau
verschlafen hat.
({8})
Das rot-grün geführte Bundesland NRW unterstützt auch
ganz gezielt notleidende Kommunen, damit auch sie den
Ausbau schaffen. In Niedersachsen hingegen sieht es im
wahrsten Sinne des Wortes schwarz aus. Selbst CDUBürgermeister beklagen die mangelnde finanzielle Beteiligung des noch schwarz-gelb regierten Landes beim
Krippenausbau.
({9})
Wenn ich den Krippenausbau mit dem Bau eines Hauses vergleiche, bleibt nur zu sagen: Das Fundament für
den Kitaausbau hat Rot-Grün vor Jahren gelegt.
({10})
Der heute vorgelegte Gesetzentwurf und die in Aussicht
gestellten Mittel sind ein Erfolg der rot-grünen Bundesländer. Damit wird ein weiteres Stockwerk zur Fertigstellung dieses Hauses gebaut. Es fehlen noch Fenster
und Türen und ein Dach über dem Kopf, damit es trocken bleibt, wenn es regnet. Lassen Sie uns gemeinsam
auf allen Ebenen dafür sorgen, dass sich alle Familien in
diesem Haus wohlfühlen und vor allem, dass Kinder in
unserem Land optimal gefördert werden.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Nicole Bracht-Bendt von
der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Laut einer Agenturmeldung hat der Deutsche Städte- und Gemeindebund gestern gedroht, bei möglichen Schadenersatzklagen wollten Städte und Gemeinden den Bund in
die Pflicht nehmen. Als Grund heißt es, der Bund sei ja
schließlich Urheber des Rechtsanspruchs und trage eine
politische Mitverantwortung. Das ist Sarkasmus. Keine
Bundesregierung hat so viel in den Ausbau der Kinderbetreuung investiert. Wie Sie wissen, liegt dem kein einsamer Beschluss des Bundes zugrunde, sondern ein einstimmiger Beschluss von Bund, Ländern und Kommunen
beim Krippengipfel im Jahre 2007, auf dem die Strategie
festgeklopft wurde. Dann hat der Bund, wie beschlossen,
erst 4 Milliarden Euro lockergemacht, und heute legen
wir weitere 580 Millionen Euro drauf.
({0})
Fakt ist: Der Bund hat seine Hausaufgaben gemacht,
und den Ländern müssen wir das Geld sozusagen aufdrängen. An die Adresse des Städte- und Gemeindebundes kann ich da nur sagen: Nun dem Bund den Schwarzen Peter zuzuschieben, während Städte und Gemeinden
mit dem Ausbau der Kinderbetreuung nicht rechtzeitig
losgelegt haben, ist unfair und auch unseriös.
({1})
Mit der Erfüllung des Rechtsanspruches wird die
Aufgabe nicht beendet sein. Wir Liberale halten es für
dringend notwendig, immer auch die Qualität der Betreuung im Blick zu haben und hier kontinuierlich Verbesserungen zu erreichen.
Die Frage, in welchem Maße ein Kind - gerade aus
bildungsfernen Schichten - von der Kinderbetreuung
profitiert, hängt unmittelbar mit der Qualität der Betreuung zusammen. Wir wollen, dass die Gruppengrößen,
wie heute hier gesagt wurde, nicht erhöht werden, sondern dass die Betreuungsrelation verbessert wird. Wir
haben mit dem Programm zu Schwerpunktkitas über
4000 Kitas in sozialen Brennpunkten finanziell unterstützt. Der Bund macht auch hier seine Hausaufgaben.
({2})
Wir werden auch nach 2015 einen quantitativen Ausbau brauchen. Denn Eltern wünschen sich die Betreuung
ihrer Kinder zu Zeiten, die ihren Arbeitszeiten entsprechen. Das heißt, auch nach 18 Uhr, vor 8 Uhr und, für einige, auch nach 20 Uhr und am Wochenende. Die große
Nachfrage nach der 24-Stunden-Kita in Schwerin zeigt,
dass Alleinerziehende oder Schichtarbeiter, Ärzte, Busfahrer oder Polizisten auf Betreuung außerhalb der Kernzeiten angewiesen sind. Dass sie sie brauchen, wissen
wir, und das nehmen wir ernst.
Wir werden gespannt beobachten, wie sich die Opposition verhält. Im Haushaltsverfahren haben Sie milliardenschwere zusätzliche Programme für den Ausbau gefordert. Wir werden auch darauf achten, ob Sie den
Bundesrat als Blockadeinstrument gegen Eltern- und
Kinderinteressen benutzen oder ob Sie sich konstruktiv
verhalten.
Ich wünsche mir, dass wir uns am 1. August dieses
Jahres alle gemeinsam - Bund, Länder, Kommunen darüber mit den Eltern und Kindern freuen können, dass
wir der Wahlfreiheit der Lebensgestaltung der Familien
in Deutschland wieder ein Stück näher gekommen sind.
Daran werden wir arbeiten.
Vielen Dank.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Debatten zur Familienpolitik sind immer schön; da weiß man, wo man hingehört,
({0})
und da weiß man auch, was man geleistet hat. Denn in
diesen Debatten sprechen wir nicht nur über die Kindertagesbetreuung, sondern auch über die Familienpolitik
insgesamt. Da werden die Unterschiede deutlich, Frau
Marks, und zwar zwischen einer einseitigen, ideologiegeprägten Grundposition und einer familienorientierten
Grundhaltung. Ich glaube, dieser Unterschied ist auch
heute wieder deutlich geworden. Wir haben die familienorientierte Grundhaltung und trauen den Familien etwas
zu.
({1})
Aus Grundhaltungen werden gelegentlich Haltungen.
Eine solche Haltung bezieht sich auf die Fragen: Was hat
der Staat zu leisten? Was können wir Familien zutrauen?
Wo geben wir Familien Chancen der Entwicklung?
Wenn man über Lösungsansätze spricht, nimmt man dies
mit auf. Lösungen muss man dann familienbezogen entwickeln und sich genau überlegen: Welche Bedarfe gibt
es? Vor diesem Hintergrund, Herr Senator - das sei unter
uns Hamburgern kurz gestattet -, möchte ich die Geschichte, die Sie erzählt haben, mit dem Anfang und dem
Ende verknüpfen.
({2})
Ja, es stimmt, Hamburg hat im Bereich der Kindertagesbetreuung hervorragende Daten vorzuweisen. Weil
der CDU-Senat den Etat in zehn Jahren von 298 Millionen Euro auf über 450 Millionen erhöht hat,
({3})
deswegen erzielt Hamburg so hervorragende Ergebnisse
im Bereich der Kindertagesbetreuung.
({4})
Das war der Anfang der Geschichte. Es wurde ein
Rechtsanspruch ins Gesetz geschrieben. Bei Berufstätigkeit gibt es für den Krippenbereich sogar einen Gutschein, auf dessen Umsetzung ein Rechtsanspruch besteht. - Ich sehe Sie nicken, Sie stimmen zu. Das ist gut
für die Kinder in der Stadt.
Jetzt komme ich zum Ende der Geschichte: Sie haben
richtigerweise gesagt: Der Etat wird jetzt noch einmal
erhöht. - Sie müssen dann aber auch erzählen, dass Sie
bei der Rahmenzuweisung für die offene Kinder- und Jugendarbeit 10 Prozent einsparen. Das ist nicht gut für die
Kinder in der Stadt.
({5})
Das heißt nämlich, Sie sparen bei den Schwächeren, in
den Stadtteilen, in denen die Kinder Unterstützung
bräuchten.
Das ist der Unterschied in der Herangehensweise:
Will ich die Gießkanne, das Gleichheitsprinzip, oder will
Marcus Weinberg ({6})
ich im Bereich der Kindertagesbetreuung differenzieren?
- Es gab da ja nun den Krippengipfel und das KiföG.
Hier muss gegenüber aller Feinkritik - ob das jetzt
35 Prozent oder 39 Prozent sind - und allen Forderungen, hier und dort noch nachzujustieren, möglicherweise
zu Recht, festgehalten werden: Man muss auch mal
Dinge machen. Es gibt Menschen, die Fische fangen,
und solche, die nur das Wasser trüben.
({7})
- Entschuldigung, es ist diese Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel, die den Rechtsanspruch umsetzt und
4 Milliarden Euro plus x bereitgestellt hat. Bei aller feinfühligen Diskussion über die Auswirkungen muss man
einfach einmal zur Kenntnis nehmen: Wir haben es gemacht.
Wie heißt es immer so schön? Wenn jeder auf seinem
Platz das Beste tut, wird es in der Welt bald besser aussehen.
({8})
Die Frage ist also: Wer macht eigentlich was in den Ländern? Schauen wir uns das einmal an: Es gibt viel Geschimpfe über Bayern, Stichwort Betreuungsgeld. Wenn
Sie sich aber die Differenz anschauen zwischen dem tatsächlichen Bedarf an Kinderbetreuung und dem momentanen Ausbaustand, dann sehen Sie, dass Bayern auf
Platz 1 ist; denn die Differenz beträgt in Bayern nur
10 Prozent. Bayern ist also ein positives Beispiel.
({9})
- Hamburg ist beim Länderfinanzausgleich mittlerweile
leider auch zu einem Nehmerland geworden. Das war
früher einmal anders. Aber so ist es halt gekommen. Ich
bitte um Verzeihung.
Neben dem positiven Beispiel Bayern gibt es aber
auch Länder, bei denen man sich fragen muss: Was ist
denn da los? So muss man feststellen, dass im Osten in
Mecklenburg-Vorpommern die höchste Diskrepanz zwischen Ausbaubedarf und tatsächlichem Ausbau besteht.
({10})
Das Entscheidende ist nicht, dass es sich um Mecklenburg-Vorpommern handelt. Das würde ich auch gar nicht
erwähnen, wenn die zuständige Ministerin nicht landauf,
landab auf den Straßen verkünden würde, was sie will,
während sie in dem Land, in dem sie die Verantwortung
trägt, den Ausbau nicht umsetzt. Man muss sagen: Da
läuft etwas schief,
({11})
und fragen: Was hat Frau Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern eigentlich die ganze Zeit gemacht? Wie hat sie
ihre eigene Verantwortung wahrgenommen?
({12})
Es gäbe noch einiges zu erzählen über das, was der
Bund alles beisteuert. Wir reden dabei nicht nur über die
4 Milliarden Euro und über die 580 Millionen Euro. Zu
all dem ist etwas gesagt worden. Frau Bär hat uns darüber aufgeklärt, worin die Nachsteuerung bestand und
wie die Länder sich verhalten haben. Wir müssten auch
über die 400 Millionen Euro reden, die bis 2014 für den
Bundeskongress „Frühe Chancen“ bereitgestellt werden.
Genauso müssten wir über die Weiterbildungsinitiative,
das Aktionsprogramm Kindertagespflege und die Initiative „Mehr Männer in die Kitas“ reden. Das alles sind
Dinge, die der Bund, weil wir ein föderatives System haben, eigentlich nicht machen müsste. Es sind aber Dinge,
die wir gemacht haben, auch wenn die Konstruktion teilweise nicht ganz einfach war, weil sie uns wichtig sind.
Auch diese Geschichte muss erzählt werden.
Ich glaube, dass es im August im Ergebnis eine sicherlich schwierige, ambitionierte Phase geben wird, in
der man schauen muss, wo was noch nicht umgesetzt ist.
Aus dieser Debatte und aus vielen anderen Debatten sind
aber drei Dinge deutlich geworden: Erstens. Wir trauen
den Familien etwas zu. Zweitens. Wir sind die, die fischen. Drittens. Wir haben dabei eine Haltung. Wie hat
Thomas Paine einmal gesagt? Haltung lässt sich leichter
bewahren als wiedergewinnen. - Ich glaube, das zeichnet auch diese Debatte aus.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12057 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 d auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Hans-Christian Ströbele, Ingrid Hönlinger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
EU - Lateinamerika: Partnerschaft für eine
sozial-ökologische Transformation
- Drucksachen 17/11838, 17/12093 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Harald Leibrecht
Thilo Hoppe
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Friedensdialog in Kolumbien aktiv unterstüt-
zen
- Drucksachen 17/11839, 17/12094 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Harald Leibrecht
Thilo Hoppe
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Sozialen Fortschritt und regionale Integration
in Lateinamerika unterstützen
- Drucksachen 17/3214, 17/12087 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Hans-Christian Ströbele
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
CELAC-EU-Gipfel in Santiago de Chile Neue Zusammenarbeit mit neuen Partnern
- Drucksache 17/12061 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hans-Werner Ehrenberg für
die FDP-Fraktion.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kolumbien leidet seit fast 50 Jahren unter einem blutigen Bürgerkrieg zwischen der Regierung, paramilitärischen Organisationen und mehreren kommunistischen
Guerillagruppen. Dies ist ein schrecklicher Konflikt, der
bis heute deutlich mehr als eine halbe Million Menschenleben gefordert hat.
Die FARC, die „bewaffneten revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“, wie sie sich selber nennen, spezialisierten sich neben dem Töten auch auf das Drogengeschäft. Spätestens ab diesem Moment ist es kaum noch
möglich, eine saubere Trennung zwischen der organisierten Drogenkriminalität, kriminellen Entführungen
und dem sogenannten Freiheitskampf der FARC zu ziehen. Für diese Mischung aus Terrorismus, Drogenhandel
und Entführungen haben die Kolumbianer schon seit
langem den Begriff „Narco Terrorismo“ erfunden, den
Drogenterrorismus. Als ob dies alles nicht schon genug
wäre, den kommunistischen Guerillagruppen jegliche
Unterstützung zu verweigern!
Es ist kein großes Geheimnis, dass der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez offenkundig mit dieser Guerillagruppe sympathisiert. Der kolumbianische
Ex-Präsident Uribe hat unermüdlich darauf hingewiesen,
dass Chávez den FARC Venezuela als Rückzugsgebiet
zur Verfügung gestellt hat. Tatsächlich sieht man Mitglieder der FARC bei den venezolanischen Regierungsmitgliedern ein- und ausgehen.
Venezuela, ein Land, das mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad befreundet ist, der, wie wir alle
wissen, das Existenzrecht Israels nicht anerkennt, unterhält enge Kontakte zu den FARC. Diese Terrororganisation wollen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
den Linken, von der Terrorliste der EU streichen? - Wer
mit den FARC sympathisiert, der sympathisiert auch mit
dem Iran.
({0})
Forderungen von Freunden des iranischen Regimes wollen wir nicht unterstützen - und die Bundesregierung sicherlich auch nicht.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Zeitpunkt
Ihres Kolumbien-Antrages verlieren: Nach internationalen und diplomatischen Gepflogenheiten ist es völlig unüblich, während laufender Verhandlungen Forderungen
von außen zu stellen.
({1})
Das ist so, als ob man während eines laufenden Fußballspiels die Spielregeln ändern würde. Wer sind wir denn,
dass wir uns eine solche Verhaltensweise anmaßen? Das
ist nicht konstruktiv.
Man sollte sich noch einmal die Fakten der aktuellen
Situation in Kolumbien deutlich vor Augen führen: Da
erklärt eine demokratisch gewählte Regierung, dass sie
bereit sei, mit einer Terrorgruppe zu verhandeln und sogar ein Referendum über den Ausgang dieser Verhandlung abzuhalten. Als ob das nicht schon Zugeständnis
genug wäre! Die von Ihnen geforderte Anerkennung dieser Terrorgruppe nenne ich Einmischung in innere Angelegenheiten.
({2})
Ich denke, wir sind gut beraten, wenn wir erst einmal
abwarten, bis die Friedensverhandlungen zum Abschluss
gebracht worden sind, und uns dann positionieren. Alles
andere wäre dem Friedensprozess sicherlich nicht dienlich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten
Sie mir noch, auf einige Aspekte in den anderen Anträgen kurz einzugehen:
Da werden angebliche Verdienste Kubas gewürdigt,
ohne auch nur im Geringsten darauf einzugehen, dass
Kuba nach wie vor eine menschenverachtende Diktatur
ist, die die eigenen Bürger einsperrt, bespitzelt und in ihren Gefängnissen verhungern lässt.
({3})
Auch Ihre Kritik am Lateinamerika-Konzept, das von
Außenminister Westerwelle erstellt wurde, ist einseitig
und läuft ins Leere. Das Konzept umreißt einen ausgewogenen Ansatz für eine breite Zusammenarbeit zu beiderseitigem Vorteil. Darüber hinaus wird es von einem
neuen und effektiven entwicklungspolitischen Konzept
flankiert, das nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum in
den Vordergrund stellt.
Minister Niebel hat nicht nur frühzeitig erkannt, dass
Entwicklungszusammenarbeit ohne die Wirtschaft nicht
nachhaltig sein kann. Er hat vor allem auch die Tatkraft
besessen, diese Tatsache endlich in die Praxis umzusetzen und das unsägliche Gießkannenprinzip seiner Vorgängerin abzuschaffen.
({4})
Auch der Abbau von wirtschaftlichen Hindernissen
und die Förderung von Freihandelsabkommen wirken
sich positiv auf die Menschen in Lateinamerika aus.
Freihandelsabkommen unterstützen die wirtschaftliche
Entwicklung der einzelnen Länder. Das schafft
Arbeitsplätze und trägt zum Wirtschaftswachstum bei.
Dadurch werden soziale Spannungen nachhaltig gelindert.
Des Weiteren fördert die Bundesregierung schon seit
langem Klima- und Umweltschutz in der Region intensiv, vor allem mit Mitteln der Entwicklungs- und Umweltpolitik und in der Zusammenarbeit mit Wissenschaft
und Forschung.
Ebenso sind Themen wie Menschenrechte und
Medienunabhängigkeit in jedem Dialog mit unseren lateinamerikanischen Freunden präsent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Länder Lateinamerikas und die Menschen dort haben weit mehr Aufmerksamkeit verdient, als wir ihnen derzeit zukommen
lassen. Das Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung und die vielen in diesem Rahmen durchgeführten
Maßnahmen sind ein guter und erfolgreicher Anfang.
({5})
Ich bitte aber ausdrücklich alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause, sich dafür einzusetzen,
dass der Fokus auf unsere Partner in Lateinamerika noch
weiter verstärkt wird. Wir alle sollten ein ureigenes Interesse daran haben, dass die Menschen in Lateinamerika
in Wohlstand und Freiheit leben können.
Vielen Dank.
({6})
Herr Kollege Ehrenberg, ich darf Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag herzlich gratulieren.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Sascha Raabe von
der SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Da es parlamentarischer Brauch ist, dass man einen Redner, der seine erste Rede gehalten hat, inhaltlich
nicht zu scharf kritisiert, werde ich das auch lassen und
deswegen auch nichts zu den Passagen zu Niebel und der
Vorgängerin sagen. Es ist ja so: Er kennt Herrn Niebel
noch nicht so lange. Wenn er ihn länger kennt, wird er
bestimmt auch zu einem anderen Urteil kommen.
({0})
Ich möchte viel lieber über Lateinamerika reden;
denn wir stehen heute wenige Tage vor dem 7. Gipfeltreffen der Europäischen Union mit Lateinamerika.
Einige Kolleginnen und Kollegen von mir, die hier
sitzen, haben ja schon viele Gipfeltreffen als Parlamentarier erlebt. Zum Teil haben wir die Gipfeltreffen mit
Anträgen begleitet, waren dort auch selbst vor Ort. Es
gibt doch schon einen ganz wesentlichen Unterschied
hinsichtlich der Wahrnehmung, aber auch der Presseberichterstattung zwischen dem bevorstehenden Gipfel und
den Gipfeln, die vor fünf, sechs oder acht oder zehn Jahren stattfanden. Ich zitiere einmal aus der Süddeutschen
Zeitung:
Ein Kontinent greift nach den Sternen
Vor dem großen Gipfeltreffen mit der EU strotzt
Lateinamerika vor Selbstbewusstsein.
In einer Meldung von dpa heißt es: „Verkehrte Welt:
Spanien bittet Lateinamerika um Hilfe.“ Da heißt es,
dass der spanische Regierungschef Lateinamerika bittet,
in Spanien zu investieren. Er sagt, sie werden „mit offenen Armen empfangen“ werden, und weiter: „Ich ermutige Euch, Eure Präsenz in Spanien und Europa zu erweitern.“
Auch die FAZ schreibt: Ein Blick nach Lateinamerika
lohnt sich, und: Es ist schon sehr beeindruckend, was
sich in den letzten Jahren auf diesem Kontinent getan
hat, was die Wirtschaftskraft angeht, was den Rückgang
der Arbeitslosigkeit angeht.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren - da
spreche ich vor allem die Entwicklungspolitiker heute
an, die hier in großer Zahl vertreten sind und auch die
meisten der Anträge, über die wir heute diskutieren,
federführend vorbereitet haben -, wir sind auch bei den
sogenannten MDGs, den Millennium Development
Goals, also den Millennium-Entwicklungszielen, bei
allen acht, in Lateinamerika hervorragend vorangekommen.
Ich möchte einmal das wichtigste Ziel, die Armutsreduzierung, nennen. Da haben wir uns ja verpflichtet,
dazu beizutragen, dass sich bis zum Jahr 2015, gemessen
am Stand von 1990, die Anzahl der Hungernden und
Armen auf der Welt halbiert. In Lateinamerika lebten
1990 noch 48,4 Prozent - also fast die Hälfte - der Menschen in Armut, und fast ein Viertel lebten in absoluter
Armut. Bereits im Jahr 2011 leben nur noch 29 Prozent
der Menschen in Armut und nur noch 11,5 Prozent in absoluter Armut. Das heißt, bereits im Jahr 2011 ist eine
Halbierung der Zahl erreicht worden, sodass Lateinamerika insgesamt dieses MDG schon vier Jahre vor dem
Zieljahr 2015 erfüllt hat. Dazu können wir nur sagen:
Herzlichen Glückwunsch, Lateinamerika!
({1})
Auch in anderen Kategorien gibt es große Erfolge,
etwa beim Rückgang von Krankheiten, Kinder- und
Müttersterblichkeit. Ich möchte einmal die Zahl derjenigen nennen, die die Sekundarschule besuchen - in anderen Ländern wäre man schon froh, wenn alle Kinder die
Grundschule besuchen würden -: Dieser Anteil lag 1990
noch bei unter 50 Prozent und ist jetzt auf 75 Prozent gestiegen. Also fast drei Viertel aller Kinder in Lateinamerika besuchen heute eine Sekundarschule.
Im Bereich Gleichberechtigung - auch eines der
MDGs - ist der Anteil der Frauen an Universitäten von
24 Prozent im Jahr 2000 jetzt auf knapp 50 Prozent gestiegen. 1990 lag dieser Anteil bei nur 16 Prozent. Von
16 Prozent auf 50 Prozent ist der Anteil von Frauen an
Universitäten gestiegen.
Ich glaube, da kann man wirklich sagen: „Ein Kontinent greift nach den Sternen.“
Jetzt kann man sich natürlich zu Recht fragen: Wessen Erfolg ist das? Natürlich ist das in erster Linie der
Erfolg der Menschen in Lateinamerika,
({2})
der Zivilgesellschaft und auch all der Nichtregierungsorganisationen. Sie haben sich auf einem eigentlich schon
immer reichen Kontinent erfolgreich dafür eingesetzt,
dass in vielen Ländern Regierungen an die Macht gekommen sind, die das Thema Armut und Sozialpolitik
oben auf die Agenda gesetzt haben. Dass die Wahlentscheidungen entsprechend ausgefallen sind, war früher
eben nicht der Fall gewesen.
An dieser Stelle möchte ich als Entwicklungspolitiker, der seit 2002 im Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit ist, sagen, weil wir auf anderen Kontinenten
zu oft nur auf die Negativbeispiele schauen: Das hat natürlich auch ein kleines Stück mit erfolgreicher Entwicklungszusammenarbeit zu tun. Seitens der deutschen Entwicklungszusammenarbeit haben wir über viele Jahre
unsere Schwerpunkte in Lateinamerika ganz stark auf
Rechtsstaatlichkeit, Justiz, Partizipation und Bürgerprozesse gesetzt. Sie finden heute kaum ein erfolgreiches
lateinamerikanisches Land, in dem nicht in der Regierung an verantwortlichen Stellen Politiker sitzen, die
entweder von den politischen Stiftungen teilweise in
Deutschland mit ausgebildet wurden oder für unsere
Durchführungsorganisationen gearbeitet haben.
Ich nenne als bekanntestes Beispiel Lula da Silva, der
mit der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen lange Jahre,
bevor er Präsident wurde, zusammengearbeitet hat, dem
wir dort helfen konnten. Es gibt noch eine ganze Reihe
anderer Beispiele. Ich glaube, das zeigt: Wenn die Entwicklungszusammenarbeit bei den Menschen ansetzt,
die Menschen ermutigt und dadurch die Kräfte im Inneren dieser Länder für Demokratie und Partizipation gestärkt werden, dann kann diese Zusammenarbeit erfolgreich sein. Das ist ein ermutigendes Signal für uns.
Lassen Sie uns so weitermachen.
({3})
In diesem Sinne: Der Antrag der Grünen legt sicherlich zu Recht den Finger auf ganz viele Wunden, die
noch zu heilen sind. Ich sage nicht: Es ist alles gut in
Lateinamerika. - Der Antrag der Grünen hat auch das
große Verdienst, dass er all die Stellen, an denen es noch
klemmt, benennt. Natürlich haben wir in manchen Ländern auf der einen Seite großes Wirtschaftswachstum
und auf der anderen Seite Regionen im ländlichen
Raum, wo sich nicht viel getan hat.
Gleichwohl muss man aber zur Kenntnis nehmen,
dass auch die Weltbank in einer Studie vom November
2012 zu dem Schluss kommt, dass sich die Ungleichheit
bei den Einkommen in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten vermindert hat, während sie in den USA
und in Europa weiter zugenommen hat. Auch das muss
man einmal erwähnen.
Wir werden dem Antrag der Grünen allerdings nicht
zustimmen, sondern uns enthalten, weil uns in diesem
Antrag die positive Seite etwas fehlt. Wir können heute
nicht einen Antrag so machen, wie wir ihn vor zehn Jahren geschrieben haben, nach dem Motto: Seid endlich
einmal sozial und gut! - Da hat sich gerade in Brasilien,
einem Land mit einer hohen Steuerquote, sehr viel getan.
Aber an einer Stelle - das möchte ich für die SPD betonen - stimmen wir ausdrücklich zu: Auch wir wünschen uns eine Änderung der Haltung der Europäischen
Union auf dem Gipfeltreffen. Natürlich müssen Freihandelsabkommen mit menschenrechtlichen, sozialen und
ökologischen Mindeststandards versehen werden. Die
Kernarbeitsnormen der ILO müssen überall garantiert
werden können.
Ich möchte dazu ein Beispiel erzählen. Der Kollege,
der vor mir gesprochen hat, hat sich ja der Auffassung
des Bundesentwicklungsministers angeschlossen, der
immer sagt, wie toll Wirtschaftswachstum alleine ist und
wie sehr es allen hilft. Ich war vor zwei Jahren mit Herrn
Westerwelle in Kolumbien. Dort haben wir mit Vertretern deutscher Firmen gesprochen, die gesagt haben:
Alles läuft gut in Kolumbien, aber wir haben eine Bitte
an Sie, Herrn Außenminister, wenn Sie jetzt mit dem
Präsidenten reden. Die Kolumbianer wollen uns die
Steuern um 0,2 oder 0,3 Prozent erhöhen, um damit
Sozialprogramme zu finanzieren. Uns wurde aber von
den Vorgängerregierungen zugesichert: Wenn wir in
Kolumbien investieren, dann kriegen wir 30 Jahre keine
Steuererhöhung.
Das, meine ich, kann es auch nicht sein. Wenn wir zu
Recht einfordern, dass die Sozialpolitik in lateinamerikanischen Ländern gefördert und die Steuerquote erhöht
werden soll, dann müssen wir auch dazu beitragen, dass
unsere deutschen Firmen und die Europäische Union
sich entsprechend verhalten. Das wäre meine Bitte an
die Adresse der Europäischen Union.
Ansonsten würde ich mich freuen, wenn die Folge der
Feststellung „Ein Kontinent greift nach den Sternen“,
die ich eingangs zitierte, wäre, dass die Menschen auf
diesem Kontinent die Sterne auch erreichen und dass wir
in jedem lateinamerikanischen Land irgendwann einen
hellen Stern am Himmel haben werden.
({4})
Wenn wir dann in den Himmel schauen, lauter funkelnde
Sterne über Ländern sehen, wo die Menschen ohne Hunger und Armut glücklich leben können, dann wären wir,
glaube ich, ein ganzes Stück weiter. Das wünsche ich
mir.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Anette Hübinger.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir debattieren heute mehrere Anträge von
Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Sie thematisieren die politische und wirtschaftliche Situation in
Lateinamerika wie auch die Rolle Deutschlands und der
Europäischen Union in ihren partnerschaftlichen Beziehungen zu Lateinamerika. Anlass ist der Gipfel, der am
26. und 27. Januar in Chile zum siebten Mal stattfinden
wird, diesmal quasi unter einem neuen Logo. Die lateinamerikanischen Staaten haben sich nämlich zu dem
Bündnis CELAC zusammengeschlossen.
Die Anträge tragen alle Überschriften, die auf den
ersten Blick nicht schlecht klingen.
({0})
Denn wer kann schon dagegen sein, wenn es darum geht,
Gesellschaften sozial und ökologisch zu gestalten, oder
wenn es um Frieden, Dialog und Zusammenarbeit mit
unseren Partnern in Lateinamerika geht?
Die Bundesregierung, so heißt es auf der ersten Seite
des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, soll den anstehenden Gipfel zum Anlass nehmen, die Beziehungen zu
Lateinamerika grundsätzlich zu verändern. In den Augen
der Grünen heißt das: weniger Wirtschaft, mehr Soziales, mehr Ökologie, mehr Menschenrechte. Ähnlich
klingt es auch bei den Linken.
({1})
Es ist jedoch die Frage: Was verbirgt sich hinter dieser
wohlklingenden Rhetorik,
({2})
und sind die aufgestellten Forderungen auch praxistauglich, das heißt, gibt es in allen Staaten Lateinamerikas
und der Karibik auch den Willen, danach zu handeln?
({3})
Dass Menschenrechte in Wirtschaft und Politik großgeschrieben werden müssen und dass in diesem Punkt in
einzelnen Ländern Lateinamerikas viele Defizite herrschen, steht außer Frage. Aber Wirtschaft und wirtschaftliches Interesse stehen nicht per se im Gegensatz
zu Menschenrechten
({4})
und sind auch kein Hindernis für den Aufbau sozialer
Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Das sehen wir
am Beispiel Deutschlands. Die soziale Marktwirtschaft
ist der Garant unseres Wohlstandes, den keiner von uns
mehr missen möchte. Dafür sollten wir in Lateinamerika
werben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Lateinamerika
kann man derzeit drei Trends feststellen.
Erstens. Lateinamerika agiert international zunehmend als selbstbewusster Akteur. Dieser Region werden
Wachstumszahlen vorausgesagt, von denen die Europäische Union nur träumen kann. Politisch sehen sich
gerade auch die großen Länder auf Augenhöhe mit den
anderen Großen dieser Welt.
Zweitens. Die Heterogenität der Region ist nach wie
vor groß. Die Länder unterscheiden sich nicht nur in
Größe und Wirtschaftsleistung, sondern vor allem auch
in ihrer politisch-ideologischen Ausrichtung. Chile,
Kolumbien, Peru und Mexiko betreiben erfolgreich eine
Politik der offenen Märkte und der Integration in den
Weltmarkt. Venezuela, Bolivien, Ecuador und Argentinien bevorzugen hingegen staatszentrierte Wirtschaftskonzepte. Bei dieser Spannbreite ist eine multilaterale
Verständigung schwierig.
Drittens. Die regionale Integration ist ins Stocken geraten. Zwar bestehen eine Reihe von Bündnissen, es ist
aber die Frage, wie belastbar diese wirklich sind. In diesem Jahr wurde wieder ein neues Bündnis geschlossen:
Chile, Kolumbien, Peru und Mexiko haben sich zu einer
Pazifik-Allianz zusammengeschlossen, wohl als Gegengewicht zu den linkspopulistisch ausgerichteten Bündnissen und Ländern. Das britische Magazin The Economist sieht für das Bündnis Mercosur schon das Ende
nahen. Der Grund: zu viel Protektionismus.
Wie passt das nun mit den vorliegenden Anträgen zusammen? Es überrascht wahrscheinlich niemanden,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich sage: meiner
Ansicht nach gar nicht oder nicht wirklich. Ich darf daran erinnern, dass wir es in der Region mit souveränen
Nationalstaaten zu tun haben, mit denen wir in einem
partnerschaftlichen Dialog stehen. Da passt es nicht
dazu, ihnen vorzuschreiben, wie sie ihre Energiepolitik,
Rohstoff- oder Umweltpolitik auszurichten haben. Vielmehr geht es darum, gemeinsam Lösungen für die anstehenden Probleme zu finden und unsere Partner in der
Umsetzung zu unterstützen.
({6})
Dazu gehören konkrete Projekte der Entwicklungszusammenarbeit genauso wie der Austausch in Wissenschaft und Forschung.
Darüber hinaus sind die Forderungen in den Anträgen
in Teilen widersprüchlich. Unter Punkt 6 Ihres Antrages
fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, das Assoziierungsabkommen der EU
mit Zentralamerika sowie das Freihandelsabkommen mit
Peru und Kolumbien nicht zu unterzeichnen.
({7})
Auch entspricht es Ihrer Vorstellung von internationalen
Verhandlungen, dass die Bundesregierung andere EUStaaten dazu bewegen soll, es ihr gleichzutun.
({8})
Nachdem die Entscheidungen hierzu auf europäischer
Ebene gefallen sind, würde ein solches Verhalten das
Ansehen Deutschlands als verlässlicher Partner erheblich beschädigen. Das entspricht nicht der Politik der
christlich-liberalen Koalition und liegt auch nicht in unserem Interesse.
Weiterhin bezichtigen Sie die EU, ein unsozialer Akteur in Lateinamerika zu sein - mal direkt, mal indirekt.
Das kann man so nicht stehen lassen; denn die EU ist der
größte Geber in der Entwicklungszusammenarbeit auf
diesem Kontinent. Außerdem sind es gerade der wirtschaftliche Austausch und die Direktinvestitionen, die
Arbeitsplätze und damit Wachstum und Wohlstand bringen.
({9})
Diese Logik ist für jedermann ersichtlich, schlägt sich in
Ihrem Antrag aber nicht nieder.
Ihre Forderung, den Menschenrechten in Handelsund Assoziierungsabkommen mit den lateinamerikanischen Staaten ein stärkeres Gewicht zu geben, unterstreiche ich ebenso wie die Forderung, die beiden Säulen des
Assoziierungsabkommens, nämlich Entwicklungszusammenarbeit und Dialog, gegenüber dem Handelsteil
zu stärken. Leider ist die Europäische Union bei den
Verhandlungen damit nicht durchgedrungen. Allerdings
ist ihre Schlussfolgerung unlogisch, nämlich das Assoziierungsabkommen mit Zentralamerika nicht zu ratifizieren; denn dann bliebe der Handelsteil bestehen, aber die
Entwicklungszusammenarbeit und der Dialog wären
nicht im erforderlichen Maße möglich. Damit würden
wir dieses Abkommen schwächen. Auch das liegt nicht
in unserem Interesse.
({10})
Bleibt die Frage, wie es weitergehen soll. Denn die
strategische Partnerschaft ist trotz aller Erfolge etwas ins
Stocken geraten. Die EU ist sehr mit dem eigenen
Krisenmanagement beschäftigt. Das bindet Kapazitäten.
Die Krise im Innern erschwert den strategischen Blick
nach außen. Der Europäische Auswärtige Dienst hat, so
scheint es, noch nicht richtig Tritt gefasst. Dabei ist
Europa auf gute Partnerschaften und funktionierende
Absatzmärkte mehr denn je angewiesen.
Die Länder Lateinamerikas hingegen haben an
Selbstbewusstsein gewonnen; Herr Raabe hat es schon
gesagt. Sie schauen sich ganz genau an, wo und mit wem
sie ihre Interessen verfolgen können - und wenn nicht in
oder mit Europa, dann mit Asien oder in Afrika.
Nach Ansicht der christlich-liberalen Koalition benötigen die Beziehungen zwischen der Europäischen
Union und Lateinamerika keine überfrachteten Wunschlisten. Notwendig ist vielmehr die schrittweise und kluge
Intensivierung der Partnerschaft, und dies in Bereichen,
die für eine nachhaltige Entwicklung sorgen, wie es auch
im Thema des Gipfels „Bündnis für eine nachhaltige
Entwicklung: Förderung von Investitionen in Umweltund Lebensqualität“ zum Ausdruck kommt. Dazu bietet
der Gipfel in Santiago de Chile eine geeignete Plattform.
Was meine ich damit konkret?
Zunächst möchte ich wieder etwas grundsätzlich
werden: Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die
biregionale Integration zwischen EU und Lateinamerika
sowie Karibik auf Schwierigkeiten stößt. Die Gründe
sind auch in der Fragmentierung der interregionalen
Beziehungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent
zu sehen. Ziel muss sein, diese Fragmentierung zu überwinden.
Gleichzeitig sind vertiefende Abkommen zwischen
EU und den einzelnen Staaten, wie zum Beispiel Kolum26874
bien und Peru, machbar und von beiderseitigem Interesse. Ich plädiere deshalb dafür, den auf dem Gipfel von
Madrid vor zwei Jahren eingeschlagenen Weg der
flexiblen Ausgestaltung von Partnerschaften weiterzuverfolgen und die geschlossenen Abkommen auch für
Beitrittswillige offenzuhalten.
Auch wäre es äußerst wünschenswert, wenn die Verhandlungen des anstehenden Gipfels in konkreten Handlungsempfehlungen enden würden, die von der Lateinamerika-Stiftung konzeptionell umgesetzt und
weiterentwickelt werden könnten.
Die christlich-liberale Koalition ist der Auffassung,
dass gesunde und enge Wirtschaftsbeziehungen ein starkes Fundament der strategischen Partnerschaft bilden
müssen. Deshalb ist es wichtig, den Handel und seine
Liberalisierung zu intensivieren und den Umfang der
ausländischen Direktinvestitionen gerade auch im
Bereich von klein- und mittelständischen Unternehmen
zu steigern. Dass Unternehmensfreiheit und Unternehmensverantwortung dabei die zwei Seiten einer Medaille
sind, muss genauso selbstverständlich werden wie die
Erkenntnis, dass Korruption und Protektionismus nachhaltigem Wachstum und Wohlstand entgegenstehen.
({11})
Eine vertiefte Zusammenarbeit in Bildung und Wissenschaft, im Technologieaustausch, insbesondere für
die Bereiche Energie und Energieeffizienz, im Sicherheitsbereich und im Bereich Rohstoffmanagement und
Umweltmanagement ist für eine nachhaltige Partnerschaft von großer Bedeutung. Dazu sind funktionierende
Netzwerke erforderlich. Wir als Parlamentarier können
unseren Teil zur Lebendigkeit der strategischen Partnerschaft beitragen.
Natürlich sollen und werden die Menschenrechte innerhalb des politischen Dialogs ihren Platz finden. Es
wäre jedoch fatal, wenn wir als Deutsche oder als Europäer den lateinamerikanischen Staaten gegenüber mit
erhobenem Zeigefinger wie ein Oberlehrer auftreten
würden. Leider vermitteln die Anträge der Grünen und
der Linken diesen Eindruck. In unserer Verantwortung
liegt es, die strategische Partnerschaft mit Leben zu erfüllen, und zwar in allen Bereichen, die sie hergibt, mit
Bedacht und Augenmaß, aber besonders in Respekt vor
unseren Partnern. Der diesjährige Gipfel gibt uns dazu
die Möglichkeit.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Antrag
der Linken eingehen, der den Friedensprozess in Kolumbien betrifft. Ich teile die Hoffnung, dass der seit vielen
Jahren andauernde Konflikt endlich zu einem Ende kommen kann. Der eingeschlagene Verhandlungskurs der
Regierung wird von zwei Dritteln der kolumbianischen
Bevölkerung befürwortet. Es ist ein positives Signal,
dass die ländliche Entwicklung als erster Punkt auf der
Verhandlungsliste steht, da dies eine zentrale Frage für
eine friedliche Beilegung des Konflikts und der Stabilität
des Friedens ist.
Ihrer Forderung, dass eine möglichst große Zahl zivilgesellschaftlicher Akteure in die Friedensverhandlungen
einbezogen werden müsste, kann ich nicht folgen. In der
Vergangenheit war solch ein inklusiver Ansatz bei Friedensverhandlungen auch in Kolumbien nicht von Erfolg
gekrönt.
Mir scheint es in diesem Zusammenhang weniger auf
die Höhe der Teilnehmerzahl anzukommen als auf das
Vertrauen, das gegenseitig aufgebaut wird. Ziel ist es,
die gefundenen Lösungen in einem breiten Konsens mit
der Zivilbevölkerung umzusetzen.
Ihre Anträge lehnen wir ab.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Heike Hänsel das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! In der kommenden Woche treffen sich in
Santiago de Chile zahlreiche Staats- und Regierungschefs aus Europa und Lateinamerika, in diesem Jahr
erstmals mit dem Staatenbündnis CELAC. Dieser Gipfel
findet ja alle zwei Jahre statt.
Lateinamerika ist in der Tat selbstbewusster geworden. Das ist unter anderem auch vielen Mitte-LinksRegierungen zu verdanken, die sich massiv gegen das
aufgedrückte neoliberale Wirtschaftsmodell aus der
Europäischen Union wehren. Die Linke hat diese Regierungen bei dieser Politik in vielerlei Hinsicht unterstützt,
und das wird sie auch weiterhin tun.
({0})
Beigetragen haben dazu natürlich auch die sozialen
Bewegungen. Sie organisieren kommende Woche einen
Gegengipfel unter dem Titel „Enlazando Alternativas“,
um eine alternative Politik zu entwickeln - und das in einem Land wie Chile, in dem im letzten Jahr Millionen
von Studierenden, Schülern und Gewerkschaftern auf
die Straße gingen, um gegen den Neoliberalismus und
gegen den Ausverkauf von Bildung, Wasser und alldem
zu protestieren. Das war, glaube ich, eine eindrückliche
Bewegung, und auch sie braucht unsere Unterstützung.
({1})
Frau Hübinger, diese Bewegungen mobilisieren auf
diesem Gegengipfel vor allem gegen die Freihandelsabkommen, die die EU mit Kolumbien, mit Peru, mit
Zentralamerika abschließt. Weshalb? Es gibt viele
Gründe. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele nennen.
Erstens. Die EU kann laut Vertrag unter anderem
jährlich über 60 Millionen Liter Milch nach Kolumbien
exportieren - hochsubventioniert, spottbillig. Die kolumbianischen Kleinbauern können mit ihren zwei bis
drei Kühen, die jeweils nur 5 Liter pro Tag produzieren,
bei weitem nicht mit der Billigmilch aus der EU konkurrieren.
({2})
Mehr als 500 000 Kleinbauern, die bisher von ihrer Arbeit leben konnten, werden ihre Existenz verlieren.
Jetzt frage ich Sie von der Bundesregierung: Wie wollen Sie eigentlich der Bevölkerung hier erklären, dass
Sie Steuergelder für Entwicklungsprojekte in aller Welt
ausgeben, auch in Kolumbien, wenn Sie gleichzeitig
eine Politik betreiben, die wieder zu neuer Armut beiträgt? Das ist eine kontraproduktive Politik. Schon deshalb können Sie diesen Abkommen nicht zustimmen.
({3})
Zweitens. Alle reden von der Regulierung der Finanzmärkte. Erst heute im Bundestag haben wir über den Antrag von CDU/CSU und FDP zur schärferen Regulierung
der Finanzmärkte diskutiert. Was haben Sie aber in die
Freihandelsabkommen hineingeschrieben? Eine weitgehende Liberalisierung der Finanzdienstleistungen! Es
gibt Studien aus der EU; auch der Wissenschaftliche
Dienst hat es sich angeschaut. Die Verträge sind völkerrechtlich bindend. Die EU wird eine geringere Handhabe
haben, Finanzdienstleistungen zu kontrollieren und
strenger zu regulieren. Für Kolumbien und Peru ist das
besonders brisant, weil das auch die Geldwäsche bei
Drogengeschäften erleichtern wird.
Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Schauen Sie sich
diese Handelsabkommen an, und bedenken Sie, was Sie
damit wirklich verantworten. Ich kann Sie nur auffordern - das wird hier im Bundestag diskutiert werden -:
Stimmen Sie gegen die Ratifizierung dieser Freihandelsabkommen! Sonst brauchen Sie nicht von Armutsbekämpfung und Regulierung der Finanzmärkte zu sprechen.
({4})
Zum Schluss komme ich zu Kolumbien, weil es wirklich eine historische Zeit in Kolumbien ist und endlich
neue Friedensverhandlungen aufgenommen werden.
({5})
Ich kann nicht nachvollziehen, dass Sie von der FDP erzählen, die Unterstützung von Friedensprozessen sei
kontraproduktiv. Ich sage Ihnen: Die Unterstützung von
Friedensprozessen ist allemal besser, als Militärinterventionen zu starten und Soldaten in alle Welt zu schicken.
({6})
Das können Sie von der Regierung sich wirklich hinter
die Ohren schreiben.
Noch ein zweiter Punkt. Sie sprachen von Narcoguerilla, Unterstützung der Drogenhändler. Es gibt auch den
Begriff der Narcopolitik. Da geht es um Politiker in
Kolumbien, die massiv in Drogengeschäfte und paramilitärische Strukturen verstrickt sind. Dazu gehört der
ehemalige Präsident Uribe, der deswegen gerade vor
Gericht steht.
({7})
Wer hat Uribe die Hand geschüttelt? Das waren doch die
Regierungen auf Ihrer Seite! Sie haben Uribe unterstützt,
beste Beziehungen gepflegt. Jetzt ist er in Kolumbien als
ein Drogenpolitiker angeklagt. Da machen Sie Ihre Politik total unglaubwürdig.
({8})
Normale Beziehungen zu Kuba sind im 21. Jahrhundert mehr als überfällig. Dazu kann ich nur aufrufen.
Wenn Sie Kuba kritisieren und gleichzeitig Waffen an
Diktaturen in aller Welt liefern, dann haben Sie eine
Doppelmoral. Kümmern Sie sich lieber einmal um die
Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien, Herr Ehrenburg!
({9})
Sie sind in meinen Augen ein alter Krieger, ein alter Kalter Krieger.
({10})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich würde sagen: Viele in der FDP, die eine liberale
Tradition gepflegt haben, werden sich bei Ihrer Rede im
Grabe umgedreht haben.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Thilo Hoppe für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Otra alianza es posible“: So lautete das Motto eines
großen grünen Lateinamerikakongresses, den wir Ende
letzten Jahres veranstaltet hatten. Otra alianza es posible! Eine andere Partnerschaft ist möglich - und nötig zwischen Europa und Lateinamerika; denn die derzeitige
offizielle strategische Partnerschaft zwischen der EU
und Lateinamerika ist sehr einseitig an den Exportinteressen beider Kontinente orientiert
({0})
und für soziale und ökologische Belange leider blind.
({1})
In wenigen Tagen treffen sich die Regierungschefs in
Santiago de Chile. Es bahnt sich eine Wiederholung
dessen an, was ich vor fast drei Jahren als einziger parlamentarischer Beobachter aus Deutschland auf dem letzten EU-Lateinamerika-Gipfel in Madrid verfolgen
konnte. Da wurden die Freihandelsabkommen beschworen und als Wirtschaftswachstumsmotor gefeiert. Die
große Vision: Verfünffachung der Fleischexporte von
Lateinamerika nach Europa gegen die Verdoppelung
der Automobil- und Automobilteilexporte von Europa
nach Lateinamerika. Eine prima Agenda, die vielleicht
das Wirtschaftswachstum anheizt, aber mit Sicherheit
auch den Klimawandel. Eine solche Agenda blendet
Menschenrechtsfragen ebenso aus wie die Zerstörung
wertvoller Wälder.
({2})
Wir fordern in unserem Antrag eine neue Partnerschaft zwischen Europa und Lateinamerika, die wirklich
einer menschenrechtsbasierten nachhaltigen Entwicklung dient.
({3})
Ich habe heute einiges gehört, was man in unseren
Antrag, der diese Debatte bewirkt hat, hineininterpretiert. Bitte zitieren Sie richtig, und bleiben Sie bei der
Wahrheit! Wir fordern nichts anderes als das, was der
Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltfragen, der
WBGU, dieser Bundesregierung fordert: eine sozialökologische Transformation bei uns, in Europa, in Lateinamerika und weltweit. Denn nur wenn wir nach den
Prinzipien wirtschaften, die bereits 1992 auf dem ersten
Weltnachhaltigkeitsgipfel in Rio beschlossen und
proklamiert wurden, lassen sich der Klimawandel eindämmen, die Welternährungskrise überwinden und mehr
soziale Gerechtigkeit verwirklichen.
({4})
Auch Wirtschaft und Handel brauchen soziale und
ökologische Leitplanken, die verhindern, dass wir auf
Kosten anderer oder auf Kosten nachfolgender Generationen leben. Aber in den Freihandels- und Assoziierungsabkommen, die in Santiago unterschrieben und gefeiert werden sollen, sucht man vergeblich nach diesen
sozialen und ökologischen Leitplanken. Die Kollegin
Hänsel hat zwei Beispiele aufgezählt: Deregulierung im
Bankenbereich - Geldwäsche wird erleichtert - und das
Abkippen von hochsubventioniertem Milchpulver, wodurch die kleinbäuerliche Milchwirtschaft in den Ländern Zentralamerikas zerstört wird. Das ist keine
Agenda für eine nachhaltige Entwicklung. Dies sind
zwei von vielen Gründen, die uns Grüne bewogen
haben, sowohl im Europaparlament als auch hier im
Bundestag diese Freihandels- und Assoziierungsabkommen der EU mit Kolumbien, Peru und den Staaten Zentralamerikas in den nächsten Wochen abzulehnen.
({5})
Unser Antrag atmet den Geist einer sozialen und
ökologischen Marktwirtschaft. Schade, dass die Regierungskoalition diesen Antrag ablehnt. Eigentlich war es
nicht anders zu erwarten. Wir finden es aber auch enttäuschend, dass sich SPD und Linke enthalten. Die Argumente, die Sie vorgetragen haben, waren nicht überzeugend.
({6})
Natürlich gibt es auch Anerkennung für die sozialen
Fortschritte in einigen Ländern Lateinamerikas. Aber die
Schattenseiten dürfen nicht übersehen werden; denn
auch die linkeren Regierungen Lateinamerikas finanzieren ihre durchaus lobenswerten Sozialprogramme überwiegend durch den Verkauf von Bodenschätzen, von
Agrarrohstoffen, von Produkten der Plantagenwirtschaft.
({7})
Bei diesem Extraktivismus lassen sie ökologische und
soziale Menschenrechtsfragen in der Ecke stehen.
({8})
Zu unserem großen Lateinamerikakongress hatten wir
viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingeladen. Die sozialen Fragen werden zwar von einigen, aber
bei weitem nicht von allen Regierungen Lateinamerikas
angepackt. Die ökologischen Fragen werden ganz ausgeblendet. Das führt zur Verdrängung von Indigenen, von
Kleinbauern. Minderheiten geraten unter die Räder.
Wertvolle Wälder werden zerstört.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Hoppe.
Ja. - Es ist nicht alles schlecht; es gibt auch positive
Ansätze, derzeit noch überwiegend durch die Umweltbewegung, durch soziale Bewegungen und durch
Menschenrechtsaktivisten. Wir arbeiten daran, dass
diese Bewegungen mehr an Bedeutung gewinnen und
dass sie sich auch in den Regierungen abbilden werden.
Dann kann man eines Tages wirklich sagen: Otra alianza
es posible!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „EU - Lateinamerika: Partnerschaft für eine sozial-ökologische Transformation“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12093, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11838 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der KoaliVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
tionsfraktionen bei Enthaltung von SPD und Linken und
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Friedensdialog in Kolumbien aktiv unterstützen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12094, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/11839 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen und Enthaltung der
SPD-Fraktion.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Sozialen Fortschritt und regionale Integration in Lateinamerika unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12087, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3214
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/12061 mit dem Titel „CELAC-EUGipfel in Santiago de Chile - Neue Zusammenarbeit mit
neuen Partnern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung von SPD und Grünen gegen die Stimmen der
Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche
Zwangsmaßnahme
- Drucksache 17/11513 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/12086 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Stephan Thomae von der FDPFraktion das Wort.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu
nehmen oder den Saal zu verlassen, falls Sie an der
Aussprache nicht teilnehmen wollen. - Bitte, Herr
Kollege Thomae.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit zwei
Entscheidungen vom 20. Juni 2012, die im Juli veröffentlicht worden sind, hat der BGH der ärztlichen
Zwangsbehandlung etwas überraschend die Rechtsgrundlage entzogen.
Zuvor hatte man die Rechtsgrundlage für ärztliche
Zwangsmaßnahmen im § 1906 BGB gesehen. Diese
Vorschrift regelt jedoch genau genommen nur die
zwangsweise Unterbringung in einer Anstalt. Mit dieser
Entscheidung gab es also keine Rechtsgrundlage mehr
für eine ärztliche Zwangsbehandlung, für eine zwangsweise Behandlung.
Nun könnte man sagen, das ist richtig; denn es gibt
nun einmal keine Pflicht, sich ärztlich behandeln zu
lassen; es gibt bei uns keinen Arztzwang, es gibt die
Freiheit zur Krankheit. Wenn jemand sagt: „Das heilt
auch so wieder“, dann kann man ihn nicht zwangsweise
zum Arzt schicken. Ein Problem taucht aber dann auf,
wenn jemand aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung, beispielsweise einer Persönlichkeitsstörung, außerstande ist, zu erkennen, dass die ärztliche Behandlung
eines Leidens möglich ist, dass er behandelt werden
kann und behandelt werden muss. Wenn er sich nun gegen diese Behandlung wehrt, dann kann ein Problem
auftreten. Genau dieses Problem lösen wir mit dem
heute zu beschließenden Gesetzentwurf.
({0})
Nehmen wir das Beispiel, dass sich jemand gegen
eine Dialyse wehrt, obwohl er vielleicht einen Nierenschaden oder nur eine Niere hat. Er bräuchte die Dialyse,
aber er glaubt vielleicht, dass er vergiftet werden soll
oder dergleichen, und wehrt sich deshalb gegen eine solche Dialysebehandlung. Deswegen kommt zu dem Aspekt, dass es keine Pflicht gibt, sich ärztlich behandeln
zu lassen, jetzt der andere Aspekt, dass eine ärztliche
Zwangsbehandlung in manchen Fällen als letztes Mittel
notwendig ist.
Der Gang des Verfahrens war folgender: Am Anfang
bestand der Eindruck, dass eine große Eile notwendig
sei; es gab Nachrichten über unhaltbare Zustände in
Krankenhäusern, über Patienten, die eingesperrt und am
Bett fixiert werden mussten, über Pfleger, die sich weigerten, solche Krankenzimmer und -stationen zu betreten, über verzweifelte Angehörige, die das Leiden ihrer
Angehörigen nicht mehr mit anschauen konnten. Das hat
uns anfangs dazu veranlasst, dieses Thema in großer Eile
zu beraten. Aber dann gab es eine ganze Reihe von Gesprächen, die wir Berichterstatter - auch ich persönlich mit Betroffenen und Betroffenenverbänden geführt
haben. Das hat, wie es manchmal so ist, einen neuen
Blickwinkel auf das Thema eröffnet. Das hat mich und
viele Kollegen und Kolleginnen nachdenklich gemacht,
beispielsweise Berichte über die Wirkungen und Nebenwirkungen von Neuroleptika. So war es richtig, dass wir
uns Zeit für intensive Beratungen genommen haben,
dass wir sogar mehr als die üblichen parlamentarischen
Beratungsstufen genommen haben.
Das Ergebnis der Abwägungen entspricht dem, was
wir heute beschließen wollen: Wir brauchen in bestimmten Fällen als letztes Mittel die Möglichkeit zur zwangsweisen Behandlung, weil es eine Schutz- und Fürsorgepflicht des Staates nach Art. 2 Grundgesetz gibt. Wie
können wir aber auf der anderen Seite den exzessiven
Gebrauch der Möglichkeit zur ärztlichen Zwangsbehandlung eindämmen? Das war die Frage, die wir zu beraten hatten. Wir haben fünf Punkte des ursprünglichen
Regierungsentwurfs in der parlamentarischen Beratung
nachgearbeitet:
Der erste Punkt ist, dass der Arzt oder Betreuer versuchen muss, den Betreuten ohne Druck und, wo es möglich ist, ohne zeitliche Not vom Sinn und von der Notwendigkeit der Maßnahme zu überzeugen, sodass der
Betreute eine auf Vertrauen gründende Entscheidung
treffen kann und dann vielleicht doch in die ärztliche
Maßnahme einwilligt.
Der zweite Punkt, den wir in der parlamentarischen
Beratung nachgearbeitet haben, war, dass wir in jedem
Einzelfall einen Verfahrenspfleger bestellen wollen, der
die Rechte des Betreuten auch gegenüber dem Betreuer
wahrnimmt.
Der dritte Punkt ist, dass wir das Vieraugenprinzip gestärkt haben, indem vor jeder ärztlichen Zwangsmaßnahme ein ärztlicher Gutachter bestellt werden muss, der
nicht zugleich der behandelnde Arzt sein darf.
Der vierte Punkt hat auch mit dem Vieraugenprinzip
zu tun. Bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen, deren Gesamtdauer mehr als zwölf Wochen beträgt, soll ein externer Gutachter bestellt werden, der erstens nicht schon
früher als Gutachter oder behandelnder Arzt mit dem
Patienten, dem Betreuten befasst war und zweitens auch
nicht der Einrichtung angehört, in der der Betreute unterzubringen wäre.
Der fünfte Punkt, den wir in der parlamentarischen
Beratung nachbearbeitet haben, ist, dass sich das ärztliche Gutachten nicht nur über den Zustand des Betroffenen äußern muss, sondern auch über die Notwendigkeit
der konkreten ärztlichen Maßnahme.
Ich meine, dadurch wird deutlich, dass wir in dieser
intensiven parlamentarischen Beratung bewiesen haben,
wie ernst wir das Thema nehmen, dass wir sehr wohl
versucht haben, beide Seiten abzuwägen, dass wir also
Sicherheitsfilter eingebaut haben. Deshalb ist am Ende
ein guter Gesetzentwurf dabei herausgekommen.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Kolleginnen
und Kollegen Mitberichterstattern aller Fraktionen
bedanken. Ich finde, das war eine sehr konstruktive, eine
ernsthafte und eine oft auch nachdenkliche Beratung
dieses Gesetzentwurfs.
Ich bitte um Nachsicht, dass wir den Entschließungsanträgen der Linken und der Grünen heute nicht zustimmen wollen, weil wir der Auffassung sind, dass den
notwendigen Punkten Genüge getan worden ist. Ich bedanke mich noch einmal bei allen. Außerdem freue ich
mich besonders, dass die SPD dem Vernehmen nach
heute dem Gesetzentwurf zustimmen wird.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Sonja
Steffen das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns
kann einmal in eine psychische Krise geraten. Angststörungen, Depressionen, Sucht und Psychosen sind weit
verbreitete Erkrankungen. Laut einer Studie aus dem
Jahr 2011 treffen sie rund 38 Prozent der Bevölkerung
Europas. Das heißt, dass jeder Dritte, auch jeder Dritte
von uns, in eine Situation geraten könnte, die eine sogenannte Einweisung und eine Zwangsbehandlung zur
Folge hat. In Deutschland werden derzeit jedes Jahr
1,2 Millionen Menschen in staatlichen Einrichtungen
therapiert.
Ich bin überzeugt, dass wir uns alle nicht wünschen,
hilflos in einer Klinik und nicht mehr in der Lage zu
sein, zu entscheiden, ob und welche Behandlung wir
wünschen, und im schlimmsten Fall keine Entscheidungskraft mehr darüber zu haben, ob wir gegen unseren
Willen Medikamente verabreicht bekommen, deren
Wirkung und vor allem deren Nebenwirkungen wir erst
recht nicht überblicken können.
In einer solchen Situation wünsche ich mir behutsame
und kompetente Ärzte.
({0})
Ich wünsche mir, dass Personen mit Sachverstand und
Einfühlungsvermögen für mich entscheiden. Ich wünsche, dass erkannt wird, wann eine medizinische Behandlung - auch gegen meinen Willen - notwendig ist,
um einen schwerwiegenden gesundheitlichen Schaden
zu verhindern. Vor allem aber wünsche ich, dass man
mir hilft, möglichst bald wieder ein gesundes und selbstbestimmtes Leben führen zu können.
({1})
Wir sind uns an dieser Stelle alle einig, dass es besonders wichtig ist, seelische Störungen möglichst frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Eine Einweisung und
erst recht eine Zwangsbehandlung sollte möglichst vermieden werden.
({2})
Dazu müssen ambulante Hilfesysteme ausgebaut werden, um in Krisensituationen schnell und frühzeitig
helfen zu können. Patienten sind darüber hinaus rechtzeitig auf die Möglichkeiten einer Patientenverfügung
und einer Vorsorgevollmacht hinzuweisen, damit ihr
freier Wille dokumentiert ist, bevor es zu spät ist. Es gibt
eine ganze Reihe von Bereichen, die einer Überprüfung
oder vielleicht sogar einer neuen gesetzlichen Regelung
bedürfen.
In Anbetracht der rechtsfreien Situation nach den
schon erwähnten Entscheidungen des BGH - Herr
Thomae hat bereits darauf hingewiesen - war es aktuell
jedoch notwendig, eine gesetzliche Regelung für medizinische Zwangsbehandlungen zu schaffen; denn seit diesen Entscheidungen sind Behandlungen von Betroffenen
gegen ihren Willen nicht mehr möglich. Ärzte hängen
derzeit in der Luft, wenn sie einem Patienten in einer bedrohlichen Situation helfen wollen, dieser aber nicht einwilligt. In diesem Zusammenhang sind bereits Beispiele
genannt worden.
Meine Damen und Herren, es ist letztlich auch der
SPD-Fraktion zu verdanken, dass wir den Gesetzentwurf
in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beraten
und eine öffentliche Expertenanhörung durchgeführt
haben.
({3})
Für uns war es besonders wichtig, die Betroffenenverbände anzuhören; denn als gesunder Mensch kann man
sich nicht vorstellen, welche Leidenswege die Betroffenen auch im Zusammenhang mit Zwangsbehandlungen
zum Teil gegangen sind. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens haben wir viele Berichterstattergespräche
geführt und viele Änderungen des ursprünglichen Regierungsentwurfs diskutiert und auch erreichen können, die
die Rechte der Betroffenen besser schützen.
Heute entscheiden wir nun über einen, wie ich meine,
ausgewogenen Gesetzentwurf, der die Vorgaben der
Rechtsprechung beachtet und vor allem einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Recht auf freie Selbstbestimmung auf der einen Seite und dem Schutz vor einer erheblichen gesundheitlichen Gefährdung auf der
anderen Seite schafft.
({4})
Im Gesetzentwurf sind die Bedingungen für eine
Zwangsbehandlung genau formuliert. Voraussetzung ist
zunächst, dass dem Patienten ohne ein Eingreifen ein erheblicher Gesundheitsschaden droht. Anders als bisher
muss der Richter zukünftig nicht nur in die Einweisung
einwilligen, sondern auch in die Behandlung selbst und
ihre Ausgestaltung im Einzelnen genehmigen. Eine
Zwangsbehandlung darf tatsächlich nur das allerletzte
Mittel sein.
({5})
Zuvor muss versucht werden, den Betreuten von der
Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen.
Der behandelnde Arzt muss also zunächst mit dem nötigen Zeitaufwand und dem erforderlichen Einfühlungsvermögen versuchen, den Patienten von einer freiwilligen Behandlung zu überzeugen. Ganz wichtig ist, dass
die Bestellung eines Verfahrenspflegers aufgenommen
wurde. Der Verfahrenspfleger ist sozusagen der Anwalt
des Betreuten, und er hat die Aufgabe, seine Rechte bei
der anstehenden Entscheidung über eine Zwangsbehandlung deutlich zu vertreten.
Im Ausschuss, aber auch in meiner Fraktion, hat uns
besonders die Frage der ärztlichen Begutachtung des Betroffenen beschäftigt. Wir haben eine Regelung getroffen, die vorsieht, dass der Sachverständige, der einschätzt, ob die Behandlung medizinisch notwendig ist,
nicht der behandelnde Arzt sein soll. Falls die Maßnahme länger als zwölf Wochen erfolgt, muss eine externe Begutachtung erfolgen. Der Arzt soll den Patienten
noch nicht behandelt haben und außerdem nicht Arzt der
Unterbringungsklinik sein. Nur ausnahmsweise - deswegen gibt es diese Sollvorschrift - darf von diesen
Grundsätzen abgewichen werden; denn in ländlichen
Bereichen kann es zu personellen Engpässen kommen.
Nur dann, wenn ein externer Arzt nachweislich nicht zur
Verfügung steht, kann die Begutachtung durch einen
Arzt der Klinik erfolgen. Wir gehen davon aus, dass in
Zukunft von der Sollvorschrift in der Praxis nur sehr restriktiv Gebrauch gemacht wird. Es wird darüber hinaus
gesetzlich vorgeschrieben, dass die ärztlichen Zeugnisse
nur von Sachverständigen erstellt werden, die über die
notwendigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie verfügen.
Wir entscheiden heute über einen ausgewogenen Gesetzentwurf. Sie haben recht, Herr Thomae, wir werden
dem Gesetzentwurf heute zustimmen. Trotzdem ist das
Thema der medizinischen Behandlung psychisch erkrankter Menschen noch lange nicht ausreichend behandelt. Der Bundes- und auch die Landesgesetzgeber sind
gefragt, weitere Maßnahmen zu ergreifen, durch die den
Patienten frühzeitig Hilfe angeboten wird und menschenwürdige, zugleich aber auch heilende Maßnahmen
ermöglicht werden.
Noch einen Satz: Das ist ein dickes Brett, das wir hier
bohren müssen. Ich bin überzeugt, dass wir mit präventiven Maßnahmen schon bei unseren Kindern beginnen
können. Durch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Lebensverhältnisse können wir dazu beitragen, dass die Menschen gar nicht erst krank werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir eine klare
Rechtsgrundlage. Wir setzen zugleich enge Grenzen für
die Einwilligung des Betreuers in eine medizinisch notwendige Behandlung, die der Betreute selbst ablehnt.
Wir schließen damit eine Lücke im Betreuungsrecht, die
aufgrund der Rechtsprechung entstanden ist; denn
danach fehlt es gegenwärtig an einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für eine Zwangsbehandlung von
psychisch Kranken, die in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht sind. Der Gesetzentwurf der Koalition gewährleistet, dass eine solche Zwangsbehandlung
nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf, nämlich
wenn sie erforderlich ist, um schwerwiegende gesundheitliche Schäden vom Patienten abzuwenden.
Der Gesetzentwurf orientiert sich eng an den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Dabei müssen wir einerseits
das Selbstbestimmungsrecht des psychisch kranken
Patienten im Blick behalten, andererseits auch seinen
Schutz vor schweren Gesundheitsschäden. Das muss
sorgfältig abgewogen werden. Es geht ausschließlich um
Fälle, in denen der Betreute aufgrund einer psychischen
Krankheit oder einer seelischen oder geistigen Behinderung die Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahme
nicht erkennen kann oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. Das ist etwa ein Patient, der aufgrund einer
manischen Depression verkennt, dass er eine Dialyse
bräuchte, oder es ist ein Patient, der dringend eine Blinddarmoperation benötigt, aber aufgrund einer Wahnvorstellung irrigerweise annimmt, gar keinen Blinddarm
mehr zu haben. Das sind die Fälle, von denen wir hier
reden. Der psychisch Kranke kann also in eine notwendige medizinische Maßnahme nicht selbst einwilligen.
Das ist auch der Grund, weshalb er einen rechtlichen
Betreuer hat, der für ihn handelt. Wir reden außerdem
nur von Fällen, in denen der psychisch Kranke mit
richterlicher Genehmigung in einer geschlossenen
Einrichtung untergebracht ist.
Hier muss der Staat seiner Fürsorgepflicht gerecht
werden. Deshalb müssen wir im Interesse der Betroffenen die Möglichkeit für eine psychiatrische Behandlung
gegen den Willen des Patienten schaffen; aber wir müssen zugleich auch sicherstellen, dass eine solche
Zwangsbehandlung nur in Ausnahmefällen stattfindet.
Natürlich ist eine medizinische Behandlung, die mit
Zustimmung des Betroffenen durchgeführt wird, immer
vorzuziehen; denn das stärkt das Vertrauen zwischen
Arzt und Patient und dient am Ende auch dem Behandlungserfolg. Deshalb müssen alle milderen Mittel ausgeschöpft werden, die in Betracht kommen, um die drohende gesundheitliche Gefahr abzuwenden, bevor eine
Zwangsbehandlung überhaupt erwogen wird.
Um das klarzustellen, führen wir zusätzlich zu den
bestehenden Grundsätzen des Betreuungsrechts die neue
Regelung ein, dass die Einwilligung des Betreuers in
eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur dann zulässig ist,
wenn zuvor versucht worden ist, den Betreuten von der
Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen.
Dieser Versuch - das ist schon angesprochen worden muss ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne
unzulässigen Druck unternommen werden. Das haben
wir in der Begründung des Gesetzentwurfs im Einzelnen
explizit aufgeführt, sodass wir den Anforderungen des
Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfang gerecht
werden.
Wenn der Versuch misslingt, den Patienten von der
Notwendigkeit der medizinischen Behandlung zu überzeugen, dann greift ein Katalog mit strengen Voraussetzungen, die allesamt erfüllt sein müssen, um den Patienten gegen seinen Willen behandeln zu können: Die
ärztliche Zwangsmaßnahme muss zum Wohl des Betreuten erfolgen, sie muss erforderlich sein, um einen
drohenden, erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden - dieser erhebliche Gesundheitsschaden darf
durch keine andere, dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden können -, und der zu erwartende Nutzen der Maßnahme muss gegenüber den zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen.
Diese engen Voraussetzungen garantieren einen größtmöglichen Schutz des Betroffenen.
Wir verknüpfen diese materiellen Voraussetzungen
im Interesse des Patienten mit einer ganzen Reihe von
verfahrensrechtlichen Sicherungen: Nur wenn das Betreuungsgericht nach sorgfältiger Prüfung die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme
genehmigt, darf die Behandlung durchgeführt werden.
Das müssen Sie zusammen lesen mit dem Umstand, dass
sich diese Patienten bereits in Betreuung, in Unterbringung befinden, die ihrerseits bereits gerichtlich genehmigt worden sein muss. Somit gewährleisten wir eine
umfassende gerichtliche Prüfung.
Weil der Betroffene seine Rechte im Verfahren vor
dem Betreuungsgericht allerdings regelmäßig nicht
selbst wahrnehmen kann - er hat deshalb einen rechtlichen Betreuer -, haben wir uns dazu entschlossen, dass
immer ein Verfahrenspfleger bestellt werden muss, um
dem besonderen Schutzbedürfnis des Betroffenen zusätzlich Rechnung zu tragen. Das bedeutet: Der Patient
hat außerhalb der Beziehung zum Arzt zwei Personen,
die auf seiner Seite stehen und seine Interessen wahrnehmen, zum einen den rechtlichen Betreuer und zum anderen in jedem Fall - das ist neu - einen Verfahrenspfleger.
Hinzu kommt, dass das Gericht sich einen persönlichen
Eindruck vom Patienten verschaffen muss und den
Patienten persönlich anhören muss. Schließlich muss
auch die ärztliche Begutachtung des Betroffenen der gerichtlichen Entscheidung vorausgehen. Der ärztliche
Sachverständige mit einschlägiger psychiatrischer Erfahrung soll dabei nicht der behandelnde Arzt sein.
Wenn es um eine Zwangsbehandlung oder um eine
Unterbringung für mehr als zwölf Wochen geht, setzen
wir die Anforderungen, was die Auswahl des Sachverständigen angeht, noch höher. Dann soll das Gericht
keinen Sachverständigen bestellen, der den Betroffenen
bereits behandelt oder begutachtet hat oder in der Einrichtung tätig ist, in der der Betroffene untergebracht ist.
Ich sehe zwar, dass die Grünen hier noch weitergehende Vorschläge haben und ohne Ausnahme außenstehende Sachverständige heranziehen wollen. Diesen Vorschlag halte ich allerdings offen gestanden für nicht
verantwortbar; denn dann könnte eine medizinisch notwendige Behandlung daran scheitern, dass es ein so
dichtes Netz an Psychiatern in Deutschland gar nicht
gibt. Wir stellen mit der Sollvorschrift sicher, dass im
Regelfall externe Sachverständige eingesetzt werden
müssen. Nur im Ausnahmefall kann davon abgewichen
werden. Das muss vom Gericht im Genehmigungsbeschluss auch so begründet werden.
({0})
Meine Damen und Herren, wir setzen im Ergebnis die
Hürden für eine psychiatrische Zwangsbehandlung deutlich höher als bisher. Genau das ist auch Ausdruck des
Ultima-Ratio-Gedankens. Die ärztliche Zwangsbehandlung ist nur als letztes Mittel zulässig, wenn es gar nicht
mehr anders geht. Leider gibt es aber eben immer wieder
Fälle, in denen eine Zwangsbehandlung zum Wohle des
Betroffenen erforderlich ist. Es gibt Angehörige und
auch Patienten, die darunter leiden, dass nach gegenwärtiger Rechtslage nicht behandelt werden darf. Keine akzeptable Alternative ist es, meine Damen und Herren,
wenn stattdessen Patienten dauerhaft fixiert oder erst im
Rahmen eines rechtfertigenden Notstands behandelt
werden, wenn nämlich der Gesundheitszustand bereits
akut lebensbedrohlich geworden ist. Damit können wir
uns im Interesse der Betroffenen nicht zufriedengeben.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
den letzten Wochen und Monaten eine umfassende Diskussion geführt. Mit sechs Sachverständigen haben wir
ein ausführliches Expertengespräch im Kreise der Berichterstatter gehabt, einschließlich der Kolleginnen und
Kollegen aus dem Gesundheitsausschuss. Zusätzlich haben wir - das ist außergewöhnlich für unsere Gesetzgebungsverfahren - eine öffentliche Anhörung durchgeführt, sodass wir zwei Expertengespräche hatten. Ich
will betonen, dass es uns gelungen ist, die Sachverständigen für die öffentliche Anhörung von allen Fraktionen
einvernehmlich zu benennen. Mir war wichtig, dass insbesondere auch Vertreter der Betroffenen und der Angehörigen dabei gehört wurden.
Die Sachverständigen haben uns nahezu durchgehend
bestätigt, dass unsere Vorschläge zielführend sind. Es ist
auch deutlich geworden, dass ein vollständiger Verzicht
auf Zwangsbehandlung kein gangbarer Weg wäre. Wir
brauchen sie als letztes Mittel zum Schutz der Betroffenen selbst. Das gilt umso mehr, als sich diese Patienten
bereits in Unterbringung und damit in staatlicher Obhut
befinden. Die Schutzpflicht des Staates gebietet es hier,
dass wir diesen Patienten eine notwendige medizinische
Behandlung nicht generell versagen.
Aus den Expertengesprächen sind aber auch eine
Reihe von Änderungsvorschlägen entwickelt worden,
die im Ergebnis das Schutzniveau für die Betroffenen
substanziell erhöhen. Das Gesetz bietet Rechtssicherheit
für Ärzte, Patienten und Betreuer. Insbesondere aber bietet es auch für die Betroffenen Hilfe, die notwendig ist,
bei gleichzeitig bestmöglicher Wahrung ihrer Rechtsposition. Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetzentwurf
zuzustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Jörn Wunderlich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ist
eine gesetzliche Neuregelung Voraussetzung dafür, dass
ärztliche Zwangsmaßnahmen - Fixieren am Bett oder
Zwangsmedikation mit Psychopharmaka etc. - stattfinden können. Hier ist schon wiederholt gesagt worden:
Ärztliche Zwangsmaßnahmen dürfen aufgrund des damit verbundenen erheblichen Grundrechtseingriffs wirklich nur das allerletzte Mittel sei.
Um eine Zwangsbehandlung durchführen zu können,
hat die Regierung in diesem Gesetzentwurf die Voraussetzungen für Zwangsmaßnahmen verschärft, wird jedoch den Bedürfnissen nach einer wirklichen Lösung
nicht gerecht.
({0})
Insgesamt gibt es nach dem Gesetzentwurf fünf Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung: Uneinwilligungsfähigkeit des Patienten; vorheriger Versuch, von
der Behandlung zu überzeugen; sie muss zum Wohle des
Betreuten erfolgen, um erheblichen gesundheitlichen
Schaden abzuwenden; keine andere zumutbare Maßnahme darf möglich sein; ihr Nutzen muss die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen. Fast
könnte man geneigt sein, zu sagen: Wunderbar, das alles
ist zum Wohle der Patienten geregelt. - Aber weit gefehlt. Darum geht es der Regierung auch nicht. Sie
möchte die alte Rechtslage möglichst wenig verändert
beibehalten. Das ergibt sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs. Dort heißt es unter anderem - ich zitiere -:
„Der Entwurf bildet … die bis zu den jüngsten Beschlüssen … bestehende Rechtslage möglichst nah ab.“ Laut
dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen Zwangsmaßnahmen unter verschärften Voraussetzungen ermöglicht
werden. Es wird nicht versucht, sie möglichst zu vermeiden. Das lässt der Gesetzentwurf vermissen. Die Linke
möchte gerade das ändern.
({1})
Jeder von uns, der sich damit befasst, hat unzählige
Schreiben von Psychiatrieerfahrenen bekommen. Immer wieder wird von Behandlungen berichtet, die als
traumatisierend und entwürdigend empfunden worden
sind und noch so empfunden werden. Insoweit ist der
Nutzen von Zwangsbehandlungen schon infrage zu stel26882
len. Die Behauptung der Regierung, dass Betroffene
ohne eine Zwangsbehandlung schwerwiegende gesundheitliche Schäden nehmen, ist mit nichts belegt.
({2})
Im Gegenteil: Wir alle kennen das Schreiben des
Chefarztes der psychiatrischen Kliniken Heidenheim,
Dr. Zinkler, welcher seit mehr als einem Jahr genau gegenteilige Erfahrungen macht. Die Kliniken nehmen
jährlich circa 1 200 psychisch kranke Patienten auf, Patienten, die freiwillig in die Kliniken kommen, und auch
Patienten, die eingewiesen werden. Dadurch, dass nicht
zwangsweise Psychopharmaka verabreicht werden und
dies dem Patienten auch sofort erklärt wird, verliert die
Unterbringung einen Großteil ihres Schreckens.
Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dass
vor einer Zwangsbehandlung ernsthaft versucht werden
muss, eine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zur
Behandlung zu erreichen, wird durch den Gesetzentwurf
nicht exakt geregelt. Hier heißt es lediglich, dass zuvor
versucht werden muss, „den Betreuten von der Notwendigkeit der Maßnahme zu überzeugen“. Art und Weise,
wie sie im Urteil näher umschrieben werden, bleiben im
Gesetzestext außen vor. Das macht die Linke nicht mit.
({3})
Das Argument, den Leuten müsse geholfen werden
- dieses Argument wurde auch hier wieder zusammen
mit seltsamen Beispielen genannt -, kann als solches
nicht gelten. Denn Psychopharmaka - um diese geht es
hier primär - heilen ja nicht, sondern sie stellen ruhig.
Die Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind - das ist
unbestritten - ganz erheblich. Dennoch sollen sie weiterhin gegen den Willen der zu behandelnden Menschen
eingesetzt werden.
Inzwischen wird festgestellt: Der Gesetzentwurf
wurde in zig Anhörungen und mit vielen Sachverständigen ganz ausgiebig und gut beraten. Ja, aber warum?
Das liegt an der Linken und der SPD. Ursprünglich
sollte dieser Gesetzentwurf als ein Änderungsantrag an
einen anderen Gesetzentwurf gehängt werden und einfach so blitzschnell durchgewunken werden. Erst durch
Intervention der Opposition wurde daraus ein eigener
Gesetzentwurf, und auf Antrag der Linken und der SPD
wurde eine Anhörung dazu durchgeführt.
({4})
Die Regierung wollte den Gesetzentwurf schnell
durchwinken. Ich kann mir auch denken, warum. Die
alte Rechtslage sollte, wie gesagt, mehr oder weniger unverändert fortbestehen. Es sollte - so ergibt es sich aus
dem Gesetzestext bzw. aus der Begründung - keine Kostenbelastung für Unternehmen entstehen. Anders gesagt:
Es sollen keine Umsatzeinbußen bei den Pharmakonzernen verursacht werden.
Es bleibt dabei: Zwangsmaßnahmen sind ein außergewöhnlich schwerer Eingriff in die Grund- und Menschenrechte. Zu prüfen ist und bleibt, ob nicht auf medikamentöse Zwangsbehandlung grundsätzlich verzichtet
werden kann. Gesundheit ist keine Ware.
({5})
An der Grundlage der Probleme zu arbeiten, liegt der
Regierung fern. Wir brauchen - Frau Steffen hat es
schon angesprochen - ambulante Hilfesysteme, belastbare Fallzahlen, Modellversuche von Selbsthilfegruppen
in den Krankenhäusern, eine angemessene Einbeziehung
Betroffener, Aufklärung zu Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Behandlungsvertrag, ordentliche Honorierung und nicht fallpauschalenbasierte Bezahlung in
der Psychiatrie. Da ist unser Gesundheitsminister einmal
gefordert; das konterkariert das Ganze.
Ich weiß ja, wie die Abstimmung zu diesem Gesetzentwurf ausgehen wird. Daher sage ich: Stimmen Sie zumindest unserem Entschließungsantrag, in dem diese
Probleme angegangen werden, oder auch dem der Grünen zu. Tun Sie dies zum Wohle der Betroffenen.
Danke.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Hönlinger von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ein Mitglied dieses Parlaments erkranken sollte,
dann ist es doch selbstverständlich, dass dieses Mitglied
frei darüber entscheidet, welche Medikamente es zu sich
nimmt. Für uns alle hier im Saal ist dies genauso wie für
die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Bestandteil unserer Grundrechte auf Selbstbestimmung und
körperliche Unversehrtheit.
({0})
Es gibt jedoch Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen oder seelischen
Behinderung nicht in der Lage sind, über eine ärztliche
Behandlung eigenverantwortlich zu entscheiden. Hier
stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine rechtliche Betreuerin oder ein rechtlicher Betreuer stellvertretend für sie in eine Behandlung einwilligen kann. Konkret geht es darum, ob ein rechtlicher
Betreuer über die ärztliche Behandlung eines anderen
Menschen, der sich in einer Einrichtung wie der Psychiatrie befindet, entscheiden kann.
Der Bundesgerichtshof hat im Juni 2012 zu Recht
festgestellt, dass die ärztliche Zwangsbehandlung im
Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung nur
unter engen Voraussetzungen möglich sein kann und
dass die bestehenden Gesetze keine ausreichende Grundlage hierfür bieten. Im November 2012 hat uns die Bundesregierung hier im Parlament einen Regelungsvorschlag unterbreitet. Als Anhängsel eines anderen
Gesetzentwurfes sollte das Betreuungsrecht ergänzt werden, also sang- und klanglos im Eilverfahren und ganz
nebenbei.
Nun kann man der Regierung zugutehalten, dass sie
möglichst rasch Rechtssicherheit für die Betroffenen, die
Betreuerinnen und Betreuer und die Ärztinnen und Ärzte
schaffen wollte. Aber mit einem solchen Schnellverfahren wären wir der schwierigen Situation von Menschen,
die unter Betreuung stehen und in einer Einrichtung untergebracht sind, nicht gerecht geworden.
({1})
Ohne eine erste Lesung im Plenum, ohne die Einbeziehung von Sachverständigen oder Betroffenenverbänden
und ohne Beteiligung des Gesundheitsausschusses können nicht alle Aspekte ausreichend abgewogen werden.
Da fehlt es an Expertise und Transparenz. Ein Schnellverfahren ist unangemessen. Wir sind betreuten Menschen ein ordentliches parlamentarisches Verfahren
schuldig.
({2})
Wir Grünen haben, ebenso wie die beiden anderen Oppositionsfraktionen, von Anfang an dagegen protestiert.
Ich begrüße es sehr, dass wir nun den Weg zu einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren eingeschlagen haben.
Die Gutachten, die wir eingeholt haben, haben dazu
geführt, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung in
wesentlichen Punkten verbessert worden ist. Dazu gehört: Die Entscheidungsbefugnisse des Betreuers bzw.
der Betreuerin sind klar definiert. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist gut umgesetzt. Der oder die Betroffene
bekommt einen Verfahrenspfleger oder eine Verfahrenspflegerin zur Seite gestellt. Jetzt erst erfüllt der Gesetzentwurf die strengen Voraussetzungen des Bundesgerichtshofes - aus meiner Sicht aber leider noch immer
nicht vollständig.
In § 1906 BGB soll es nun heißen: Der Betreuer kann
in eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur dann einwilligen, „wenn zuvor versucht wurde, den Betreuten von der
Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen“. Das greift zu kurz. Wir müssen sicherstellen, dass
die Gespräche zwischen Betreuer, Arzt und Betreutem
mit angemessenem Zeitaufwand und ohne Druck erfolgen.
({3})
Dieses Schutzniveau müssen wir im Gesetzestext verankern und nicht lediglich in der Gesetzesbegründung;
denn hier bewegen wir uns in einem sehr grundrechtssensiblen Bereich. Deshalb, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, können Sie auch nicht argumentieren, dass dies den Gesetzestext unnötig aufbläht.
({4})
Auch im Verfahrensrecht haben Sie, meine Damen
und Herren von der Regierungskoalition, wichtige
Punkte nicht berücksichtigt. Sie haben geregelt, dass vor
Beginn einer Zwangsbehandlung eine Überprüfung
durch einen unabhängigen Sachverständigen notwendig
ist. Dieser Sachverständige kann aber ein Arzt sein, der
in derselben Einrichtung arbeitet wie der Arzt, der die
Behandlung durchführt. Das reicht nicht aus. Von einer
wirklichen Unabhängigkeit können wir erst dann sprechen, wenn der Sachverständige nicht in der Einrichtung
arbeitet, in der der Betroffene untergebracht ist. Arzt und
Sachverständiger müssen unterschiedlichen Einrichtungen angehören. Anderenfalls kann eine Interessenkollision entstehen. Der müssen wir vorbeugen.
({5})
Auch Eilmaßnahmen dürfen nach meiner Überzeugung nur dann zulässig sein, wenn durch den Aufschub
der Zwangsmedikation die Gefahr droht, dass der Betreute stirbt oder einen schweren und länger andauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Diese wichtige
Einschränkung fehlt in Ihrem Gesetzentwurf.
({6})
Meine Damen und Herren, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung sind schwere Grundrechtseingriffe. Wichtig ist und
bleibt, dass wir den Dialog zwischen Betroffenen und
Professionellen weiter fördern, mehr Transparenz schaffen und die Versorgungssituation in den Einrichtungen
verbessern.
Unser Ziel muss sein, dass eine Zwangsbehandlung
der Ausnahmefall bleibt. Wir brauchen rechtliche Sicherheit und ein überzeugendes Verfahren, um einen
sensiblen Umgang mit Menschen, die in sehr schwierigen Lebenssituationen sind, zu garantieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Jetzt hat das Wort der Kollege Rudolf Henke von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen!
Eine Vorbemerkung. Herr Wunderlich, wenn Sie im
Zusammenhang mit diesem Gesetz von einer Umsatzsicherung für die pharmazeutische Industrie sprechen,
kann ich nur sagen: Das mag vielleicht in der Vergangenheit so gewesen sein, wenn nach Gesprächen mit der
pharmazeutischen Industrie eigentlich geplante Gesetzesmaßnahmen einer rot-grünen Koalition vom Bundeskanzler kassiert wurden. Wenn Sie einen solchen Vorwurf nun ausgerechnet gegenüber der Koalition erheben,
die das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz beschlossen hat und von der pharmazeutischen Industrie wegen
der erlittenen Umsatzrückgänge angegriffen wurde,
muss man schon sagen: Da sind Sie irgendwie in die falsche Spur geraten.
({0})
- Doch, das ist schon so.
Aber jetzt zu der Frage: Warum am Anfang diese
Schnelligkeit? Ich glaube, das hat viel mit den beiden
Beschlüssen zu tun, die der Bundesgerichtshof am
20. Juni 2012 gefasst hat. Seitdem fehlte für ärztliche
Zwangsmaßnahmen die Rechtsgrundlage, die vorher
existiert hatte.
Dann hat sich eine Situation eingestellt, die uns Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde und andere Behandler
an Beispielen ausgiebig geschildert haben. Wenn man
sich diese Beispiele vergegenwärtigt, wird, jedenfalls
aus dem Blickwinkel der gesundheitlichen Versorgung,
deutlich, dass Handlungsbedarf von Anfang an bestand.
Nun braucht das parlamentarische Verfahren seine Zeit.
Aber ich will - auch mit Blick auf das, was Sie, Frau
Hönlinger, an dem jetzt zur Abstimmung stehenden Gesetz noch einmal kritisiert haben - zwei Beispiele der
DGPPN in Erinnerung rufen:
Erstens. Da leidet eine 18-jährige Frau seit ihrem
11. Lebensjahr an schwerer Anorexia nervosa, also Magersucht. Bei einem lebensbedrohlichen Untergewicht
von 31 Kilogramm lehnt sie eine Zwangsernährung ab
und gibt an, den Tod einem Zwang zur Nahrungsaufnahme und damit einer Gewichtszunahme vorzuziehen.
Ihr gesamtes Denken zentriert sich auf das Thema „Nahrungsaufnahme und Gewicht“. In zahlreichen Gesprächen mit viel Zeitaufwand wird klar, dass die Patientin
zu einer abwägenden, freien Entscheidung nicht in der
Lage ist. Jetzt verlangen die Eltern unter Androhung
rechtlicher Schritte, dass alles getan wird, damit ihr Gewicht zumindest stabil bleibt. Nach der Rechtslage, die
im Anschluss an die BGH-Beschlüsse bestand, war eine
Zwangsbehandlung unter Rückgriff auf den rechtfertigenden Notstand nur noch möglich, wenn die Patientin
bzw. der Patient das Bewusstsein verloren hatte. In diesem Zustand misslingt eine Lebensrettung jedoch meistens. Deswegen kann man verstehen, dass Psychiater
von Anfang an, ab dem Bekanntwerden des Gesetzentwurfes, gesagt haben: Mit der Lage, in der wir da sind,
können wir uns nicht anfreunden.
Zweitens. Ein 64-jähriger Bauingenieur wird wegen
einer rheumatischen Gelenkentzündung einige Wochen
mit Cortison behandelt. Darunter entwickelt er einen
ausgeprägten Verfolgungswahn und rast mit stark überhöhter Geschwindigkeit durch ein Wohngebiet - auf der
vermeintlichen Flucht vor Geheimdienstagenten. In der
Notaufnahme eines Allgemeinkrankenhauses ist er der
Erklärung, dass seine Wahrnehmungen infolge der Cortisonbehandlung verzerrt sind, nicht zugänglich. Er will
das Krankenhaus sofort wieder verlassen, um mit dem
Auto seinen Verfolgern zu entkommen. Der Patient leidet unter einer Cortison-induzierten Psychose, einer
Komplikation, die einen kleinen, aber bestimmten Prozentsatz dieser Patienten betrifft. Da das, was der Mann
erlebt, für ihn Realitätscharakter hat, kann er den Darlegungen, es handele sich um ein akutes Krankheitsgeschehen, nicht folgen.
Nach Beendigung der Behandlung mit Cortison - man
könnte jetzt ja sagen: Setzt das ab! - kann es Wochen dauern, bis diese Symptomatik abklingt. Bei einer adäquaten
antipsychotischen Behandlung klingt die Symptomatik in
Stunden bis Tagen ab. Diese Behandlung war nach den
beiden Beschlüssen des Bundesgerichtshofs aber nicht
möglich.
Die Konsequenz einer unter Umständen unbehandelten Symptomatik ist eine mehrere Wochen dauernde Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung gegen den
Willen des Betroffenen; denn diese Unterbringung gegen
seinen Willen - ohne Behandlung - war ja weiter möglich und ist im Rahmen der entsprechenden rechtlichen
Grundlagen für die Unterbringung auch vollzogen worden.
Ich habe Verständnis dafür, dass die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, die solches und anderes - wir kennen die Beispiele - erlebt haben, gesagt haben: Es ist
auch für uns eine würdelose Situation, in der wir zuschauen müssen, wie jemand gegen seinen Willen
zwangsweise untergebracht wird, während wir gleichzeitig die Möglichkeit nicht nutzen können, ihm diese Unterbringung zu ersparen, indem wir die Symptomatik
durch Behandlung beenden. Das gehört zu seinen Rechten.
({1})
Ferner habe ich Verständnis dafür, dass die Bundesregierung zwar allmählich Handlungsbedarf gesehen hat,
aber warten musste - das hat draußen niemand verstanden; keiner meiner ärztlichen Kolleginnen und Kollegen
hat das verstanden -, bis das Gericht seine Urteilsbegründung vorgelegt hatte, weil erst dann Konsequenzen
gezogen werden konnten und es natürlich zur Sorgfaltspflicht einer Bundesregierung gehört, erst dann mit einem Gesetzentwurf zu reagieren, wenn man die Begründung eines relevanten Urteils kennt. Darüber sind aber
Monate vergangen.
Die Bundesregierung hat dann Gespräche geführt auch mit den Betroffenenorganisationen: beispielsweise
mit dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und mit
der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener.
Man muss die Bundesregierung also vor dem falschen
Vorwurf in Schutz nehmen, dass nicht mit den Betroffenen gesprochen worden wäre.
Das Verfahren, das dann gewählt wurde, hat im Sinne
all dessen, was wir in der Ausschussanhörung und in den
vielen Gesprächen innerhalb der Fraktionen diskutiert
haben, noch einmal zu einer erheblichen Verbesserung
des Gesetzentwurfes geführt.
Um die notwendigen Voraussetzungen für eine
Zwangsmaßnahme noch einmal festzuhalten:
Der Betreute kann aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung
die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln.
Die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung muss zum Wohle des Betreuten erforderlich
sein, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen
Schaden abzuwenden.
Und: Der erhebliche gesundheitliche Schaden kann
durch keine andere zumutbare Maßnahme abgewendet
werden.
Deswegen sage ich: Der Vorwurf, dies würde die
Rechte der Betroffenen nicht wahren, geht fehl. Es ist so:
Die Rechte der Betroffenen werden gewahrt. Ich kann
mir auch nicht vorstellen, dass eine Oppositionsfraktion
wie die SPD dem Gesetzentwurf zustimmen würde,
wenn dies nicht der Fall wäre.
Ich muss sagen: Das Schwierigste, was wir heute hier
gehört haben, war für mich in der Tat der Vortrag von Ihnen, Herr Wunderlich.
({2})
Mit den beiden Positionen, dass man da noch Änderungsbedarf sieht, kann ich mich aber anfreunden.
Auch ich sehe Änderungsbedarf: Ich finde es schwierig, dass wir jetzt auch die Patienten, die eigentlich keine
Unterbringung brauchen, sondern ambulant versorgt
werden könnten, unterbringen müssen, wenn eine
Zwangsbehandlung nötig ist, um sie möglich zu machen.
Ein Beispiel: Mir hat der Vater eines durch das DownSyndrom beeinträchtigten Jungen, dessen Zähne immer
wieder vereitern, erzählt, dass er, weil der Junge nicht
gerne zum Zahnarzt geht, immer den Weg über die Unterbringung gehen muss, damit eine Zwangsbehandlung
nicht erst dann möglich wird, wenn eine lebensbedrohliche Infektion mit Ausbreitung auf den Körper, gegebenenfalls verbunden mit einer Todesgefahr, entstanden ist.
Ich finde, darüber hätten wir vielleicht auch noch etwas länger diskutieren müssen. Aber diese Frage war
auch dagegen abzuwägen,
Herr Kollege Henke, in Ihrer Redezeit, nicht außerhalb.
- dass eben der Handlungsbedarf bestand. - Ja, ich
will uns durch längere Ausführungen auch nicht davon
abhalten, dass wir jetzt dieses Gesetz, bei dem ich ja
Handlungsbedarf registriert habe, beschließen. Deswegen beende ich meine Rede.
Ich bedanke mich für den freundlichen Hinweis beim
Präsidenten, und Ihnen danke ich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Edgar Franke von der SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Medizinische Zwangsbehandlungen von psychisch Kranken sind
ein Thema - das haben wir, glaube ich, heute in der Diskussion gesehen -, das uns alle betrifft. Viele von uns
kennen sicherlich in ihrem persönlichen Umfeld Personen, die von einer psychischen Erkrankung betroffen
sind. Frau Steffen hat eben gesagt: Es werden mehr als
1 Million Menschen - diese Zahl war mir nicht bekannt - jedes Jahr in Deutschland therapiert. Gerade die
Anforderungen aus der Gesellschaft oder der Arbeitswelt, die in der heutigen Zeit immer komplexer werden,
sind auch eine Ursache - das ist sicherlich nicht entscheidend, aber eben auch ein Beispiel - für die Zunahme psychischer Erkrankungen.
Dazu, was das im sozialen Umfeld auslöst, haben sicherlich viele von uns Zuschriften - gerade im Rahmen
der Diskussion dieser Thematik - in den Wahlkreisbüros
bekommen.
Ich darf vielleicht noch eine persönliche Anmerkung
machen. Ich bin seit 30 Jahren Betreuer meines Bruders.
Mein Bruder ist in jungen Jahren psychisch erkrankt. Er
musste einmal sogar psychiatrisch zwangsbehandelt
werden. Er lebt heute in einer Einrichtung, in einer
Wohngemeinschaft, in der er betreut wird und in der er
ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen kann.
Ich habe selbst als Betreuer, als Bruder, als Familienangehöriger erfahren, dass es Situationen geben kann, in
denen jemand, der einem besonders nahe ist, der für einen wichtig ist, krankheitsbedingt nicht in der Lage ist,
einen freien Willen zu bilden, und zumindest für sich
selber eine Gefahr darstellt. Ich denke, in diesen Fällen
ist der Staat aufgefordert, den Betroffenen auch vor sich
selbst zu schützen.
Wir wissen: Das kann nur unter ganz engen Voraussetzungen geschehen; das haben wir ja auch besprochen.
Aber es muss jetzt natürlich eine Regelung gefunden
werden - ich glaube, das ist der entscheidende Punkt,
Herr Wunderlich -, sodass im Detail klar ist, unter welchen Voraussetzungen das gemacht werden kann. Hier
gilt das Ultima-Ratio-Prinzip - der Begriff ist ja schon
mehrmals gefallen -: Es muss eben das allerletzte Mittel
sein.
({0})
Zwangsmaßnahmen - auch das ist natürlich schon
mehrmals von verschiedenen Rednern in dieser rechtspolitischen Debatte erwähnt worden - verstoßen gegen
Grundrechte, sind ein Grundrechtseingriff. Das ist das
Schlimmste - Herr Thomae, Sie haben es auch gesagt -,
was einem Menschen geschehen kann - insofern, als
man in das Grundrecht der körperlichen Integrität eingreift.
Wir brauchen eine Regelung, die über den § 1906
BGB hinausgeht, wir brauchen auch Regelungen im Familienverfahrensgesetz.
Was man aber nicht vergessen darf - da, Herr
Wunderlich, gebe ich Ihnen durchaus recht -, ist, dass
bei der Behandlung von Menschen, die gegen ihren Wil26886
len untergebracht werden, in der Regel Psychopharmaka
eine bedeutende Rolle spielen. Das ist sicherlich Ihnen
gegenüber im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
von vielen auch schriftlich dokumentiert worden. Da
gibt es viele Schicksale. Wenn man diese Briefe liest,
sieht man, dass auch in der heutigen Psychiatrie viele
gravierende psychische Störungen mit Medikamenten
behandelt werden und dass die Psychotherapie nur begleitend ist. Was bewirkt die Psychotherapie, was bewirkt eine Zwangsbehandlung? Sie bewirken sicherlich,
dass Patienten apathisch werden; die sogenannten Neuroleptika bewirken das natürlich.
Das ist ein schwerwiegender Eingriff, Herr Thomae.
Es kommt auch zu irreversiblen Nebenwirkungen; das
muss man sagen. Deswegen war es wichtig, dass wir uns
Mühe gegeben haben, dass wir nicht nur ein erweitertes
Berichterstattergespräch geführt haben, sondern dass wir
uns mit der Materie wirklich intensiv auseinandergesetzt
und diese Anhörung auf Druck - Frau Steffen hat es gesagt - der SPD und auch der Linken durchgesetzt haben.
({1})
Wir haben bis zur zweiten und dritten Lesung vieles
verändert. Herr Thomae, Sie haben zu Recht gesagt:
Auch die Koalitionsfraktionen sind in dem Verfahren
schlauer geworden. Damit haben wir auch hier dem
Struck’schen Gesetz Rechnung getragen. Die beschlossenen Maßnahmen sind sicherlich die Ultima Ratio.
Dass man vor der Zwangsmaßnahme mit dem Betreuten
intensiv redet und alles probiert, haben wir besprochen.
Dies wurde berücksichtigt. Die Bestellung eines Verfahrenspflegers, den Frau Steffen erwähnt hat, ist in das Gesetz gekommen.
Gerade wir SPD-Gesundheitspolitiker haben durchaus, Frau Hönlinger, Sympathie für Ihren Vorschlag gehabt, dass der Arzt, der über die Genehmigung einer
ärztlichen Zwangsmaßnahme entscheidet, eher nicht der
zwangsbehandelnde Arzt sein soll. Auch soll es sich immer um einen Facharzt für Psychiatrie handeln. Viele
Gesundheitspolitiker bei uns haben in diese Richtung
diskutiert.
Fairerweise muss man allerdings hinzufügen - das
haben auch Sie, Herr Thomae, im Ausschuss gesagt -,
dass praktische Erwägungen der Länder, etwa Versorgungskapazitäten, eine Rolle dabei gespielt haben, aus
dieser Muss- eine Sollvorschrift zu machen. Aber, Herr
Stadler, zumindest aus Sicht der SPD-Fraktion sollte
man diese Vorschrift daraufhin evaluieren, wie das in der
Praxis mit der Sollvorschrift aussieht, dass man diese
Sollvorschrift wirklich nur in atypischen Fällen, ähnlich
wie Ermessensvorschriften im Verwaltungsrecht, als
Ausnahme anwendet.
({2})
Herr Kollege Franke, das wäre ein schöner Abschluss
Ihrer Rede. Sie sind schon weit über Ihre Redezeit.
Noch ein Abschlusssatz, Herr Präsident. - Aber
gleichwohl muss ich sagen, dass der jetzt vorliegende
Gesetzentwurf mit den Änderungen, die auch auf Anregung der SPD eingefügt wurden, ein sachgerechter Gesetzentwurf ist, der das Vertrauen der Betroffenen verdient und mit dem auch die Grundrechte der Betroffenen
respektiert werden. Ein Gesetzentwurf, mit dem die
Grundrechte respektiert werden, ist immer ein guter Gesetzentwurf. Gerade in einer rechtspolitischen Debatte
kann man das sagen, Herr Stadler.
Ich danke Ihnen.
({0})
Jetzt ist es Ihnen gelungen, die Redezeitüberschreitung von Herrn Henke zu übertreffen. Insofern haben
wir wieder Gerechtigkeit hergestellt.
Ich schließe die Aussprache.
({0})
- Die Aussprache ist leider beendet. Das tut mir leid; das
war auch nicht vorauszusehen.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12086, den Gesetzentwurf
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/11513 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/12090. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und
Enthaltung von SPD und Grünen. Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12091. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und
der Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion.
Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Schneider ({2}), Uwe Beckmeyer, Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Privatkundengeschäft der Finanzagentur
Deutschland GmbH fortsetzen
- Drucksache 17/12062 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD-Fraktion beantragt heute, einen schwerwiegenden
Fehler von Herrn Minister Schäuble zu korrigieren.
({0})
Herr Minister Schäuble - mit ihm die Bundesregierung,
und ich vermute, auf Druck der Fraktion - hat entschieden, dass die über Jahrzehnte geübte Praxis beendet
wird, dass der Staat, der Bund, also wir, uns direkt beim
Bürger verschulden können, dass wir Bundesschatzbriefe, eines der Hauptprodukte in diesem Zusammenhang, direkt an den Bürger geben können, um die notwendige Kreditaufnahme zu finanzieren. Wir haben über
2 Billionen Gesamtschulden, davon rund 1,3 Billionen
beim Bund.
Sie haben entschieden, dass diese über Jahrzehnte geübte Praxis, sich nicht gänzlich von Banken und Finanzmärkten abhängig zu machen, beendet wurde. Sie haben
entschieden, dass es nicht mehr möglich ist, seinem Staat
selbst Geld zu leihen; das soll nur noch über Bankgeschäfte mit hohen Provisionen möglich sein. Das, meine
Damen und Herren, ist ein schwerwiegender Fehler, und
wir fordern Sie auf, ihn zu korrigieren.
({1})
Die Bundesfinanzagentur, die dafür zuständig ist,
durfte nicht einmal mehr Werbung machen. Die Begründung, warum Sie es einstellen, ist, dass Sie Gelder zur
Finanzierung von fast 99 Prozent der gesamten Staatsschulden an den Kapitalmärkten bei Investoren aufnehmen wollen.
({2})
Wenn man für ein Produkt keine Werbung mehr macht
und den Vertrieb von Bundesschatzbriefen mehr oder
weniger torpediert, dann braucht man sich auch nicht zu
wundern, wenn diese nicht mehr in dem Maße nachgefragt werden.
Ich finde, insbesondere auch angesichts der Schuldenkrise in anderen Ländern, wo man wie in Italien froh ist,
eine Inlandsverschuldung von 50 Prozent zu haben - in
Deutschland ist die Zahl viel schlechter ({3})
- Inlandsverschuldung, sehr geehrter Herr Fricke -, sollten wir uns nicht gänzlich von an der Börse gehandelten
Wertpapieren abhängig machen, die von amerikanischen
Investoren, den Scheichs in Arabien, norwegischen Ölfonds oder der chinesischen Zentralbank geführt werden.
Dass Sie die Möglichkeit beenden, dass der Staat
selbst in der Lage ist, auch bei seinen Bürgern Geld zu
leihen, ist purer Marktideologie geschuldet. Die FDP hat
das immer gefordert. Ich gebe Ihnen recht: Sie haben
jetzt eine klare Entscheidung in der Koalition durchgesetzt. Aber dass die CDU/CSU - das finde ich fast unpatriotisch ({4})
dem Bürger nicht mehr die Möglichkeit einräumt, dem
Staat direkt Geld zu leihen, sondern dies nur noch über
die Banken geschehen kann, ist ein schwerwiegender
Fehler. Das zeigt den Charakter dieser Koalition.
({5})
Wir lehnen dies ab und fordern Sie auf: Besinnen Sie
sich! Geben Sie nicht nur dem Markt, sondern auch dem
Staat und dem Bürger die Chance, sich selbst zu helfen
und sich nicht von Dritten abhängig zu machen. Deswegen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Sie haben die Gelegenheit dazu!
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Alexander Funk von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
SPD möchte also, dass das Privatkundengeschäft der Finanzagentur fortgesetzt wird. Wenn ich ehrlich bin, irritiert mich der Antrag - sowohl der Zeitpunkt als auch
der Inhalt.
({0})
Zum Zeitpunkt. Bereits am 2. Juni 2012 wurden die
Mitglieder des Finanzierungsgremiums über die Entscheidung, das Privatkundengeschäft einzustellen, informiert. Wieso Sie dann erst heute dieses Thema diskutieren, bleibt Ihr Geheimnis.
({1})
Wenn es Ihnen um die Sache gehen würde, müssten Sie
einsehen: Dieser Antrag kommt mindestens ein halbes
Jahr zu spät.
Aber auch der Inhalt verwirrt. Sie fordern ein Unternehmen auf, weiter ein Produkt zu vertreiben, das jedes
Jahr Verluste bringt, immerhin 50 bis 70 Millionen Euro.
Jeder wirtschaftlich normal denkende Mensch kann da
nur mit dem Kopf schütteln.
({2})
Sie glauben dies tun zu können, weil der Bund Eigentümer ist - nach dem Motto: Ist ja nicht unser Geld. - Für
uns als christlich-liberale Koalition ist ein solches Finanzgebaren absolut unverständlich. Unsere Aufgabe ist
es, sparsam und verantwortungsvoll mit dem Geld der
Steuerzahler umzugehen.
({3})
Wir sind auf dem Weg zu einem ausgeglichenen
Haushalt. Solide Staatsfinanzen sind unser Markenkern.
({4})
Deshalb überprüfen wir unwirtschaftliche Geschäftszweige auch bei Unternehmungen des Bundes und handeln, zumal es Alternativen gibt.
Es ist ja nicht so, dass Anleger nun nicht mehr in
Bundeswertpapiere investieren könnten. Sie können
komfortablere und häufig preisgünstigere Erwerbswege
als den Kauf über die Finanzagentur nutzen. Das ist doch
das Problem, das zu der Entscheidung, das Privatkundengeschäft einzustellen, geführt hat: Banken haben
vielfach preiswertere Angebote im Sortiment, und sie
haben der Finanzagentur hier den Rang abgelaufen.
({5})
Genau darauf hat auch der Bundesrechnungshof
mehrfach kritisch hingewiesen. Ich hätte ja noch Verständnis gehabt, wenn Sie den Rechnungshofbericht
zum Thema gemacht und die Verluste der vergangenen
Jahre kritisiert hätten.
({6})
Aber heute so zu tun, als gäbe es diesen Bericht nicht,
ist schon mehr als seltsam.
({7})
- Ja, die Zeiträume.
Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich aus den
Bemerkungen 2012 des Bundesrechnungshofes:
Das Bundesfinanzministerium stellt auf Empfehlung des Bundesrechnungshofes bis zum Ende des
Jahres 2012 den Verkauf von Wertpapieren ein, die
es für Privatanleger anbietet. Dieses Privatkundengeschäft ist für die Kreditaufnahme des Bundes bedeutungslos geworden, weil Privatanleger seit über
20 Jahren immer weniger Wertpapiere des Bundes
kaufen.
Und weiter:
Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäft
sank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 Milliarden Euro auf unter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an der gesamten Kreditaufnahme des Bundes
reduzierte sich damit von 40,9 Prozent auf 0,7 Prozent.
({8})
Zudem entstanden im Privatkundengeschäft in den
letzten Jahren Verluste, teilweise in zweistelliger
Millionenhöhe.
Weiter:
Der Bundesrechnungshof hat bezweifelt, dass sich
das Privatkundengeschäft mit neuen Produkten
oder bei einem höheren allgemeinen Zinsniveau
deutlich ausweiten und kostendeckend betreiben
lässt.
Abschließend:
Privatanleger sind damit nicht von einer Geldanlage
beim Bund ausgeschlossen. Sie können weiterhin
Wertpapiere des Bundes über Kreditinstitute erwerben.
({9})
Meine Damen und Herren, damit ist eigentlich schon
alles gesagt. Es stellt sich für mich nur die Frage, ob Sie
den Bericht nicht gelesen oder was Sie an diesem Bericht nicht verstanden haben. Denn wie sonst ist es zu erklären, dass Sie alle Bürgerinnen und Bürger für diejenigen zahlen lassen wollen, die Geld verleihen können.
({10})
Seien Sie sicher: Ihr Kanzlerkandidat kann mit seinen
Honoraren auch weiterhin den sicheren Hafen deutscher
Anleihen anlaufen.
({11})
Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich ankündige, dass
wir Ihren Antrag ablehnen werden.
Vielen Dank.
({12})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Harald
Koch von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Zuhörer! „Günther“ verzieht sich in seinen Panzer! Die Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur
GmbH, deren Maskottchen die Schildkröte Günther war,
hat sich mit Beginn des Jahres aus dem Privatkundengeschäft mit Bundeswertpapieren zurückgezogen. Seit längerem meckerte der Bankenverband darüber, dass Privatanleger direkt über die Finanzagentur Bundeswertpapiere erwerben und gebührenfrei auf dem Schuldbuchkonto verwahren lassen können. Schon eilt die Regierung der Bankenlobby willfährig zu Hilfe, statt sich eine
verbraucherfreundliche Regelung auszudenken. Verbraucherschutz bleibt bei dieser Regierung eine Worthülse.
({0})
Anleger müssen ab jetzt zum Beispiel Bundesanleihen bei ihrer Hausbank kaufen. Dafür und für die Aufbewahrung werden jedoch Gebühren fällig. Privatkunden
sind zudem nun stärker gefährdet, entgegen der eigenen
Risikoneigung und Anlageabsicht unpassende Finanzinstrumente von „Bankberatern“, also Verkäufern, aufgedrückt zu bekommen; denn an sicheren Tages- oder Festgeldkonten verdient eine Bank nichts. Provisionen für
den Verkäufer würden dabei schon gar nicht sprudeln.
Natürlich muss man zugeben: Das Privatkundengeschäft war am Ende nicht mehr sehr erträglich,
({1})
dafür aber arbeitsintensiv und teuer. Dennoch sollten wir
uns nicht vom Privatkundengeschäft der Finanzagentur
verabschieden. Zum einen bleibt viel zu vage, was mit
dem Personal geschieht. Rund 200 Mitarbeiter könnten
ihren Job verlieren. Die Linke ist auch hier gegen eine
Schrumpfkur im öffentlichen Dienst.
({2})
Zum anderen sollte man sich neben einer Kompensation anfallender Mehrkosten besser überlegen, wie man
ohne Risikozunahme Bundeswertpapiere für Privatanleger attraktiver gestalten könnte und damit langfristiges
Denken bei der Anlage unterstützt.
In Ihrem Antrag schreibt die SPD, dass Deutschland
von der Finanzmarktkrise dadurch profitiert hat, dass
Schuldtitel des Bundes stark nachgefragt worden sind.
Dies springt viel zu kurz. In Wahrheit profitierte
Deutschland auf Kosten anderer Staaten vor allem durch
Lohn-, Sozial- und Steuerdumping infolge der von der
SPD beschlossenen Agenda 2010. In Wahrheit profitiert
Deutschland von den exorbitanten Außenhandelsungleichgewichten.
Es stimmt: Der Bund wird etwas unabhängiger von
Großinvestoren, und der Fiskus gewinnt, wenn das Privatkundengeschäft blüht. Aber es reicht nicht aus und ist
naiv, wenn Sie vorrangig Spareinlagen der einfachen
Bürger mobilisieren wollen, um in Not geratene Staaten
besser refinanzieren zu können. Auch das ist hier heute
schon einmal festgestellt worden.
({3})
Sie entlassen so Auslöser und Profiteure der Finanzkrise aus ihrer Verantwortung. Sie ignorieren mit Ihrem
Antrag Forderungen nach einer sozial gerechten Steuerund Lohnpolitik, die eine Umverteilung von oben nach
unten vorantreibt. Und Sie ignorieren Forderungen nach
einer europaweiten Vermögensabgabe von Millionären.
({4})
Die Staatsfinanzierung muss endlich der Willkür der
Finanzmärkte entzogen werden. Wir haben alle noch die
Jahre 2008 und 2009 in Erinnerung.
Neben einer rigorosen Regulierung der Finanzmärkte
brauchen wir Euro-Bonds. Die Europäische Zentralbank
muss ermächtigt werden, den Euro-Staaten günstige
Kredite zu geben, und zwar direkt oder über eine zwischengeschaltete europäische Bank für öffentliche Anleihen.
({5})
Der Staat darf sich nicht zum Vorteil der Bankenlobby
und zum Nachteil der Verbraucher und seiner eigenen
Finanzierung in einen Schildkrötenpanzer zurückziehen. Das wäre wieder einmal nicht nur ein falsches, sondern auch ein gefährliches Signal.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat nun Otto Fricke für die FDP-Fraktion.
({0})
Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Was will die SPD eigentlich mit
dem Antrag bewirken? Der Kollege Funke hat es so
schön gesagt: Es geht um etwas ganz anderes. Carsten
Schneider hätte hier ehrlicherweise sagen sollen: Unser
ganz großes Projekt „Wir gegen die Banken“ wollen wir
heute fortsetzen, und jetzt machen wir es auch noch bei
der Finanzagentur.
Wissen Sie, wer eigentlich das Opfer Ihres Antrages
wäre, wenn nicht die Koalition wüsste, was sich gehört?
Das wären Genossen. Sie als Sozialdemokraten gehen
hier nämlich insbesondere gegen die Genossenschaftsbanken vor. Sie als Sozialdemokraten gehen gegen die
Sparkassen vor; denn das sind gerade diejenigen, die in
Konkurrenz mit einer staatlich subventionierten Finanzagentur arbeiten. Denen wollen Sie das Geschäft wegnehmen. Nur darum geht es Ihnen und um nichts anderes. Das zu sagen, wäre eigentlich auch Ihre Aufgabe
gewesen.
({0})
Meine Damen und Herren, was will eigentlich ein
Staat mit einem Privatkundengeschäft?
({1})
Warum soll er das machen? Na ja, vielleicht deswegen,
weil er so günstiger an Finanzmittel herankommt. Wenn
das der Fall wäre, dann sollten wir als Staat auch überlegen, ob wir diesen Weg wählen. Dann sollte man als Erstes der Frage nachgehen - das sollten Haushälter eigentlich tun -: Wie viel kostet uns denn ein solches
Privatkundengeschäft pro Privatkunde, und wer sind eigentlich die Privatkunden, denen wir hier möglicherweise etwas aus dem Steuersäckel, also aus dem Bundeshaushalt, schenken? Dann müssen wir feststellen: Es
sind Leute, die als Privatmenschen Geld haben und dieses Geld anlegen wollen. Jedem, der ein Konto bei der
Finanzagentur hat, geben wir pro Jahr - das können Sie
ja leicht ausrechnen - 200 Euro. Das heißt nichts anderes, als dass Sie wollen, dass der Staat Leuten, die Geld
haben, die über Vermögen verfügen, auch noch Geld aus
dem Steuersäckel gibt. Wie Sie das bei den Aufgaben,
die der Staat hat, begründen wollen, frage ich mich. Das
müssen Sie den Bürgern erst einmal erklären.
Ein nächster Punkt. Der Kollege Schneider hat es genau gesagt: Er möchte das wie in Italien haben. Ich füge
dazu: Er möchte dann wahrscheinlich auch die Verschuldung wie in Italien haben. - Er möchte mit seiner Partei,
dass im Endeffekt möglichst viele private Bürger sich zu
- ich will es vorsichtig formulieren - Komplizen der
Verschuldungspolitik machen,
({2})
dass sie persönlich und direkt an der Verschuldungspolitik des Staates hängen. Das wollen wir eben nicht.
Jetzt könnte man als zweiten Punkt zu dem Antrag sagen: Na ja, aber wir sind doch der Meinung, dass der
Bürger eine sichere Anlage braucht, eine Anlage, bei der
er ganz sicher ist, dass er sein Geld zurückbekommt. Dann fragen Sie einmal andere Bürger in Europa, ob sie
noch glauben, dass ihr Geld, wenn sie es direkt beim
Staat anlegen, auch nur ein Jota sicherer ist als woanders, wenn der Staat sich zu sehr verschuldet.
Nein, meine Damen und Herren, es geht um etwas anderes. Es geht hier um die Frage: Wo ist das Geld der
Privatanleger eigentlich sicher?
({3})
Es war doch bisher die Meinung der Sozialdemokraten,
der Grünen und auch der Linken: Gerade bei den Sparkassen und gerade bei den Genossenschaftsbanken ist
das Geld aufgrund der eigenen Sicherungssysteme viel
sicherer als irgendwo anders. Jetzt wollen Sie den Bürgern sagen: Geht nicht in die sicheren Formen, sondern
geht lieber zum Staat; denn dann können wir als Staat
viel stärker regulieren.
({4})
Nein, meine Damen und Herren, das ist nicht das, was
die Koalition an der Stelle will. Wir müssen überlegen,
warum der Staat an dieser Stelle noch Geld ausgeben
muss.
({5})
Sie haben keinen einzigen Grund genannt, warum wir
auch künftig noch einen zweistelligen Millionenbetrag das mag für Sie ja wenig sein - für Privatkunden ausgeben müssen.
Diese Koalition sagt - der Kollege Funke hat all die
Punkte genannt -: Warum sollen wir bei abnehmendem
Interesse, bei abnehmendem Volumen - 0,7 Prozent Anteil an der gesamten Kreditaufnahme des Bundes -, dafür dann noch Geld ausgeben?
({6})
Zu den Äußerungen, das wären norwegische Fonds
und irgendwelche Finanzhaie, die hier die Staatsanleihen
tätigen: Das ist doch gar nicht so. Kollege Schneider, Sie
wissen es besser. Die betriebliche Altersvorsorge, Versorgungswerke, Riester-Sparer und Lebensversicherungen sind hier ganz wesentlich beteiligt.
({7})
Sie sagen an der Stelle: Die sind alle schlimm. - Das
Verständnis habe ich nicht. Hier versucht doch die SPD,
einen Weg zu gehen, den sie meinetwegen für sich einschlagen kann, aber der vollkommen dem widerspricht,
was wir als Koalition als richtig ansehen. Sie vertrauen
dem Staat und glauben, dass der Staat das richtig macht.
({8})
Wir setzen darauf, dass der Staat eine Kernaufgabe hat,
ein schlanker Staat sein muss, der die Kernaufgabe
wahrnehmen muss; denn erst dadurch sorgt er für etwas,
was wir eigentlich am liebsten hätten, nämlich dass wir
überhaupt keine Finanzagentur bräuchten, dass wir weniger Schulden machten.
Ein nächster Punkt. Es wird hier gesagt, dass das
Geld, wenn die Bürger immer nur zu Sparkassen und
Genossenschaftsbanken gingen, so wenig Zinsen brächte
und nur Kosten verursachen würde. Erstens. Eine Kostensubvention über den Steuerzahler wollen wir sicherlich alle nicht. Zweitens. Es ist doch ein Irrglaube, wenn
Sie hier weismachen wollen, dass das Geld dann irgendwo auf dem Konto liegt. Warum brauchen denn
Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Privatbanken
auch Geldeinlagen? Warum brauchen sie das Geld des
Sparers? Weil wir auf der anderen Seite - ich hatte das
immer so verstanden, dass Sie das auch so sehen; das
scheinen Sie inzwischen aufgegeben zu haben - die Banken auch zur Finanzierung des Mittelstands und der
Wirtschaft brauchen, damit sie denen, die investieren
wollen, die Arbeitsplätze sichern wollen, Kredite geben
können.
Dahinter steckt noch eine andere Ideologie. Sie wollen die Möglichkeiten der Banken, selber Kredite zu verOtto Fricke
geben, immer weiter einschränken. À la WestLB, à la
NRW Bank, à la KfW
({9})
wollen Sie auf allen möglichen Wegen lieber dafür sorgen, dass es der Staat ist, der die Kredite gibt.
Wir vertrauen auf eine funktionierende Marktwirtschaft. Wir sind deswegen auch klar und deutlich der
Meinung, dass die Bürger auf einen Staat vertrauen können müssen, in Brunsbüttel und auch an anderer Stelle,
der in der Lage ist, ihre Einlagen zu sichern, eben da, wo
sie liegen, weil es ein stabiler und sparsamer Staat ist
und nicht ein Staat, der einfach nur mehr Geld ausgeben
will und deswegen noch mehr Geld vom Bürger bekommen will.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,
die Verbliebenen im Saal kennen alle Günther Schild,
die Schildkröte, die für die Bundeswertpapiere geworben hat. Wenn nicht, ist es schade; denn Sie werden sie
nun nicht mehr kennenlernen.
({0})
Ich weiß nicht, ob sie sich nach Brunsbüttel zurückgezogen hat. Auf jeden Fall wird sie nicht mehr auftauchen.
Das Problem ist doch unter anderem, dass die Finanzagentur seit 2006 fast 36 Millionen Euro für Werbung
ausgegeben hat, weil die Zahl der Anlagen in Bundeswertpapiere durch Privatanleger zurückging. Am Anfang setzte man auf die falsche Werbestrategie, die dann
noch einmal geändert wurde. Dann wurde richtig geklotzt, richtig viel Geld ausgegeben, um dann dennoch
2011 zu entscheiden, das Privatkundengeschäft auszusetzen. Ich finde, diese Strategie seitens der Bundesregierung - erst bewerben, dann einstampfen - merkwürdig. Sie passt aber in das Chaoshandeln dieser
Regierung.
Viel ärgerlicher ist, dass ein zweites wichtiges Standbein zur Aufrechterhaltung der deutschen Schuldenverwaltung gekappt wird. Ein Grund ist, dass es eine günstige Refinanzierung in der Euro-Krise gibt und große
Investoren nach Deutschland kommen. Das kann aber
ins Auge gehen. Wenn die Euro-Krise abflacht, wollen
wir vielleicht wieder die Privatanleger haben. Aber dann
werden sie nicht mehr zurückkommen.
({1})
Es ist ein echter strategischer Nachteil, wenn man den
Kreis der Anleger so begrenzt.
Lieber Otto Fricke, es geht nicht darum, dass man den
Genossenschaftsbanken und den Sparkassen ihre Kunden wegnimmt. Bislang war es so, dass die Privatkunden
hier und dort waren, aber auch bei der Finanzagentur gekauft haben. Das ist die richtige Strategie. Wir wissen
doch auch, dass die Berater der Sparkassen und Genossenschaftsbanken nicht nur für Bundeswertpapiere oder
ihre eigenen Papiere werben, sondern vor allen Dingen
auch für Investmentfonds, die in der Welt gestreut sind.
Das ist der eigentliche Grund, warum die FDP schon immer dagegen war, dass es eine Direktvermarktungsstrategie der Finanzagentur gibt. Ihr wollt den Banken auf
jeden Fall die Provisionsgebühr sichern, und zwar zulasten der Privatanleger. Wir finden, das ist der falsche Weg
und der falsche Schritt.
({2})
Insofern ist das wieder ein Klientelgeschenk der FDP.
Leider hat die CDU mitgemacht. Die Banken machen
Gewinn und der Konkurrent, der Mitbewerber - das gehört zu einer Marktwirtschaft, auch wenn es in dem Fall
der Staat ist - wurde von euch ausgeschaltet.
({3})
- Für die Direktvermarktung eines eigenen Produktes,
das es nicht auf dem Markt gibt, ist der Staat in dem Fall
ein Mitbewerber und ein Konkurrent.
({4})
Dieser wurde von euch ausgeschaltet. Wir bedauern das
sehr und werden dem Antrag der SPD zustimmen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Bartholomäus Kalb für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Hinz, ich weiß nicht genau, warum Sie die
Schildkröte nach Brunsbüttel verorten wollen. Vermutlich deswegen, weil wir dort die Schleuse sanieren und
eine neue Schleuse bauen. Da wird jeder Einsatz willkommen geheißen. Hoffentlich zieht die Schildkröte
dann nicht den Kopf ein.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
der SPD ausdrücklich danken. Im Vorspann zu diesem
Antrag hat sie in bemerkenswerter Objektivität die Probleme mit dem Privatkundengeschäft beschrieben.
({1})
Ich darf zitieren:
Bundesschatzbriefe der Typen A und B sowie die
ein- und zweijährigen Finanzierungsschätze, die
das „traditionelle“ Privatkundengeschäft der Finanzagentur bilden, sind ökonomisch unattraktiv
geworden. Der Anteil des Privatkundengeschäfts an
der Kreditaufnahme des Bundes liegt derzeit unter
ein Prozent.
- Objektiv richtig.
({2})
Ich nenne Ihnen ein zweites Zitat:
Die Finanzagentur leistet sehr erfolgreiche Arbeit.
Dem können wir uns in der Bewertung ausdrücklich anschließen und freuen uns, dass dies zutreffenderweise so
geschildert wird.
Ich will noch ein drittes Zitat nennen:
Grundlage
- für diese Entscheidungen seien Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, die auf der
Basis der Entwicklung seit 2006 und der geschätzten Entwicklung über die kommenden fünf Jahre
hinweg durchgeführt worden seien. Ergebnis sei,
dass das Privatkundengeschäft etwa 50 bis 70 Millionen Euro Mehrkosten verursache …
Dann wird korrekterweise noch darauf hingewiesen,
dass auch der Bundesrechnungshof nach eigenen Angaben seit zehn Jahren dieses Privatkundengeschäft beobachtet und zu eindeutigen Empfehlungen gekommen
ist.
Ich denke, dass all das, was im Vorspann zu diesem
Antrag gesagt wird, zutreffend ist, dass Sie aber zu falschen Schlussfolgerungen kommen. Sie stellen fest, dass
das Privatkundengeschäft rückläufig sei, dass es an Bedeutung verloren habe und dass es an Bedeutung auch
für uns, für die Bundesseite, verloren habe. Wenn der
Gesamtbestand weniger als 1 Prozent der Finanzierungen des Bundes ausmacht, dann kann man das nicht
ignorieren wollen.
({3})
Ohne aus dem Gremium, dem der Kollege Carsten
Schneider vorsteht, Geheimnisse auszuplaudern, darf ich
ganz offen sagen, dass wohl alle Kolleginnen und Kollegen - so jedenfalls mein Eindruck in den Beratungen es gerne gesehen hätten, wenn das Privatkundengeschäft
fortgeführt worden wäre, wenn es sich denn rechtfertigen ließe.
({4})
Allerdings haben sich die Dinge völlig anders entwickelt als erwartet. So haben die Geldanleger - ganz offensichtlich auch die Privatkunden - neue Anlagemöglichkeiten für sich erschlossen. Wir meinen daher, dass
50 bis 70 Millionen Euro Mehrkosten einfach nicht zu
rechtfertigen sind.
({5})
- Wir wollen aber keine Zwangsbeglückung, wie es der
Kollege Norbert Barthle dazwischenruft, vornehmen,
sondern den Menschen die Wahlfreiheit geben
({6})
und nicht krampfhaft ein Produkt vorhalten, das so nicht
mehr nachgefragt wird.
Da ich dem Bundestag schon ziemlich lange angehöre, weiß ich, dass in den 90er-Jahren das Privatkundengeschäft - im Übrigen bei einem völlig anderen Zinsniveau - eine sehr viel größere Bedeutung für uns hatte.
Es war nicht nur für die Kunden, sondern auch für uns
auf der Bundesseite von Interesse, da wir uns auf dem
Privatkundensektor abstützen konnten.
Diese Funktion ist nicht mehr in dem Maße gegeben,
wie es sein sollte oder wie wir es gerne hätten und wie
wir meinen, dass eine Fortführung dieses Geschäfts unter dann obwaltenden Umständen noch vertretbar wäre.
Darum können wir die Entscheidung des Bundesfinanzministers und des Bundesfinanzministeriums nicht kritisieren. Auch von uns bedauert es der eine oder andere,
dass es so gekommen ist. Es gibt aber keinen Anlass zur
Kritik. Das sollten wir so auch hinnehmen.
Der beste Gradmesser dafür, ob politisches oder administratives Handeln richtig oder falsch ist, ist immer
noch die Reaktion der Bürger bei uns in den Bürgersprechstunden. Wenn ich zu einer Entscheidung keine
einzige Mail erhalte und zu dieser Sache keinen einzigen
Bürger in der Sprechstunde empfangen darf, dann kann
die Entscheidung so falsch eigentlich nicht sein und wird
von den Betroffenen zumindest akzeptiert.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Bettina Hagedorn für die SPDFraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Präsident!
Wenn man ein bisschen genauer hingehört hat, hat man
bei dem Kollegen Bartholomäus Kalb, dem Kollegen der
Union aus dem Haushaltsausschuss, gerade eben herausgehört, dass ihm dieser Schritt doch schwerer fällt als
zum Beispiel dem Kollegen Fricke von der FDP.
So muss ich denn sagen: Wir wissen, dass es in der
Union viele Sympathisanten für den Antrag der SPD
gibt. Es ist nämlich in der Tat ein Fehler, dass Sie das
Privatkundengeschäft aufgeben. Sie verbrämen diesen
Fehler immer mit dem Hinweis auf den Bundesrechnungshof. Darauf möchte ich kurz eingehen.
Der Bundesrechnungshof hat dieses Geschäft in der
Tat über lange Jahre, genauer seit 1990, kritisch begleitet. Der Zeitraum, der da betrachtet worden ist, hat allerdings mit dem Zeitraum seit 2008, mit den Dingen, mit
denen wir es seitdem in diesem Lande und weltweit zu
tun haben, wenig gemein; er ist der falsche Maßstab.
Selbstverständlich haben wir im SPD-Antrag ehrlicherweise die derzeitige schwierige Situation geschildert;
Herr Kollege Kalb, Sie haben das zu Recht zitiert. Die
Frage ist dennoch, welche Konsequenzen man daraus
zieht.
Weil das Zitieren hier heute Abend so modern ist,
zitiere ich jetzt aus einem Schreiben des Finanzministeriums vom April 2010,
({0})
in dem sich das Finanzministerium mit den Bemerkungen des Bundesrechnungshofs zu diesem Thema auseinandergesetzt hat. Darin werden drei Varianten genannt:
die Einstellung des Privatkundengeschäfts, die marktschonende Modernisierung und die unveränderte Fortführung der Neupositionierung. Das BMF begründete
damals ausführlich, warum es nicht für die Einstellung,
sondern für die marktschonende Modernisierung votiert.
Sie sollten vielleicht einmal überlegen, ob Sie das heute
wirklich ganz anders sehen oder ob das vielleicht eher
mit der FDP zu tun hat als mit allem anderen.
({1})
Das BMF plädierte dafür,
… eine marktschonende Modernisierung … weiterzuverfolgen, um das Privatkundengeschäft des
Bundes in nachhaltiger Weise auf eine wirtschaftlich gesicherte Grundlage zu stellen. In Gesprächen
mit der Kreditwirtschaft sollte die Finanzagentur
unter Aufsicht des BMF unter Beteiligung der …
Bundesbank die Möglichkeit des Abschlusses einer
Rahmenvereinbarung sondieren, die es der Kreditwirtschaft ermöglicht, sich auf die inhaltliche und
zeitliche Planung, welche die Finanzagentur bei der
Modernisierung des Privatkundengeschäfts verfolgt, einzustellen.
Gut gebrüllt, Löwe! Aber leider ist das Ministerium vom
Kurs abgewichen.
({2})
Weil in den Unterlagen immer gern davon die Rede
ist, dass sich das alles nicht rechne, dass es ein altmodisches Instrument sei, das es schon so lange gebe,
({3})
will ich einmal sagen, dass wir hier sehr wohl über etwas
reden, das mit einer Wertedebatte, mit Tradition zu tun
hat.
({4})
Es hat damit zu tun, wie die Menschen, deren Glaube in
seinen Grundfesten ein Stück weit erschüttert wurde, eigentlich auf die Finanz- und Wirtschaftskrise reagieren.
Wahr ist doch, dass uns nicht etwa die Staaten in die
Krise geführt haben,
({5})
sondern die Banken, die Manager, die eine falsche Geschäftspolitik betrieben haben, solche, die geglaubt haben, dass Haftung und Risiko nicht zusammengehören;
aber sie gehören zusammen. Viele Bürgerinnen und
Bürger, die in die falschen Geschäftsmodelle investiert
haben, haben mit ihrem Privatvermögen bitter dafür
bezahlt. Die falsche Erwartung einer schnellen Rendite
hat sie um Kopf und Kragen gebracht.
({6})
- Nein, wir reden über deutsche Anleger und nicht über
griechische. ({7})
Der Staat musste eingreifen, um das Schlimmste zu vermeiden.
Es ist heute modern, an die Bonität des Staates zu
glauben. Darum könnten die Instrumente, die Sie hier
gerade einstampfen, sehr wohl tragfähige Zukunftsmodelle sein. Nicht nur ich bin sicher, dass die Bürgerinnen
und Bürger in dieser Zeit der Unsicherheit im Grunde
genommen nicht die schnelle Mark machen wollen; sie
wären schon froh, wenn sie ihr hart Erspartes sicher anlegen könnten. Sie vertrauen in Zeiten der Unsicherheit
glücklicherweise gerade und vor allen Dingen dem
Staat. Wir sollten als Demokraten gemeinsam stolz darauf sein und denjenigen widersprechen, liebe Damen
und Herren der FDP, die es auch in dieser Zeit noch für
klug halten, den Staat verächtlich zu machen.
({8})
Das entsprach einmal dem Zeitgeist; aber dieser
Zeitgeist hat sich überholt. Ich weiß, Otto, dass du dich
darüber aufregst. Aber du kannst mir eine Zwischenfrage stellen.
({9})
Die SPD ist der Auffassung, dass dies der richtige
Antrag zum richtigen Zeitpunkt ist. Wir freuen uns, dass
die Kolleginnen und Kollegen der Opposition zustimmen. Wir wissen, dass es viele in der Union auch gerne
tun würden und dass es nur eine Fraktion in diesem
Hause gibt, die diesen Antrag wirklich von Herzen
schlecht findet, und das ist die FDP.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12062 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des
Fiskalvertrags
- Drucksache 17/12058 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schon zum zweiten Mal diskutieren wir heute das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz. Wir tun das gerne - auch
um diese Uhrzeit -, weil wir davon überzeugt sind, dass
es ein gutes Gesetz ist und dass wir unsere Verpflichtungen, die wir gegenüber der Europäischen Union eingegangen sind, jetzt endlich zeitnah umsetzen sollten.
({0})
- Sie lachen. Wir sind aber nicht schuld daran, dass es
erst heute dazu kommt.
({1})
Nach der verfassungsrechtlichen Verankerung der
Schuldenbremse und der Schaffung des Stabilitätsrats
gehen wir mit dem Fiskalpakt den nächsten Schritt hin
zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik und zu tragfähigen Staatsfinanzen.
Peer Steinbrück plante im Haushaltsentwurf 2010
noch mit einer Neuverschuldung von über 86 Milliarden
Euro. Der Haushaltsabschluss 2011 unter Finanzminister
Schäuble sah nur noch ein Defizit von 17,3 Milliarden
Euro vor. Selbst unter Berücksichtigung der zwei Raten
an den Euro-Rettungsschirm und der Erhöhung des deutschen Kapitalanteils an der Europäischen Investitionsbank schließt der Haushalt 2012 mit einem Defizit von
22,5 Milliarden Euro ab.
Bereits in diesem Jahr wird der Bund trotz Fälligwerdens zweier weiterer ESM-Raten die erst ab 2016 durch
die Schuldenbremse vorgegebene Grenze für die strukturelle Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts unterschreiten. Wir sind damit für die
europäische Schuldenregel gut aufgestellt.
Im Zuge der Einführung der Schuldenbremse haben
wir nach sehr intensiven Diskussionen eine Möglichkeit
geschaffen, um eine kreative Gestaltung, nämlich die besonders positive Schätzung von Haushaltsdaten, zusätzlich zu verhindern. So haben wir der Gefahr der unerlaubten Verschuldung durch besonders optimistische
Schätzung der Einnahmen und Ausgaben bei der Haushaltsaufstellung ein Kontrollkonto gegenübergestellt, bei
dem sich derartige Schätzfehler rächen, weil diese nämlich zeitnah in den nächsten Haushaltsjahren ausgeglichen werden müssen.
Damals haben wir nicht ernsthaft damit gerechnet,
dass wir einmal noch besser sein werden, als wir es bei
der sowieso schon ambitionierten Schuldenbremse sein
müssen. Deshalb gibt es bis heute keine befriedigenden
Regelungen, die vorschreiben, was mit positiven Salden
auf diesem Kontrollkonto passieren soll.
Nach unserer Auffassung - ich bin froh, dass die
Haushälter diese Auffassung immer geteilt haben - dürfen Positivsalden nicht als Ausgleichsmassen für
schlechtere Haushaltsjahre genutzt werden, um damit
eine höhere Neuverschuldung zu rechtfertigen. Deshalb
danke ich dem Finanzminister und dem Staatssekretär,
dass wir heute mit diesem Gesetz klarstellen, dass der
kumulierte Saldo des Kontrollkontos am Ende des Übergangszeitraums, also zum 31. Dezember 2015, gelöscht
wird.
({2})
- Das können Sie gleich in Ihrer Rede vorschlagen. Hätten Sie seit dem Jahr 2005 den Haushalt ausgeglichen,
dann wären wir ein gutes Stück weiter vorangekommen.
({3})
- Herr Kahrs ist wieder da. Darüber freue ich mich.
({4})
Dann habe ich wieder einen Gesprächspartner. Er ist
jetzt auch viel leiser als zuvor.
Noch entscheidender sind die Auswirkungen auf die
Kommunen. Während die Länder im Zusammenhang
mit der Schuldenbremse innerhalb Deutschlands nach
außen noch signalisiert haben, dass sie sich für die
Schulden der Kommunen nicht zuständig fühlen, ist das
aufgrund dieses Fiskalvertragsumsetzungsgesetzes endlich Geschichte.
Mit § 51 Abs. 2 Satz 1 Haushaltsgrundsätzegesetz
sollen die Länder ganz klar in die Pflicht genommen
werden:
Das strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen darf eine Obergrenze von 0,5 ProAntje Tillmann
zent des nominalen Bruttoinlandsprodukts nicht
überschreiten.
Das ist eine sehr große Erleichterung für die Kommunen, die seit der Einführung der Schuldenbremse in
Deutschland natürlich befürchten, die Länder könnten
sich auf ihre Kosten entschulden. Hierfür ist NordrheinWestfalen ein gutes Beispiel. Es macht nämlich gar
keinen Sinn, wenn ein Land zwar keine zusätzlichen
Schulden macht, aber gleichzeitig die Schulden der
Kommunen steigen. Genau das ist nicht Sinn unserer
Schuldenbremse.
Dieser Gesetzentwurf bedeutet einen zweiten Quantensprung für die Kommunen, weil sie noch intensiver
als bisher in die Überwachung der Einhaltung der Schuldenbremse in Deutschland einbezogen werden. Über einen unabhängigen Beirat des Stabilitätsrats können
Kommunen mitentscheiden. Dieser Beirat tagt öffentlich
und fasst auch Beschlüsse. Diese werden auch im Parlament und in den Unterausschüssen diskutiert, sodass die
Kommunen bei uns ein Ohr finden. Darüber hinaus werden die vom Stabilitätsrat beschlossenen Empfehlungen
an die Landesregierungen weitergeleitet, die dann wiederum an die Parlamente weitergeleitet werden.
Die Landtagskollegen hatten sich bereits bei der Einführung der Schuldenbremse darüber beschwert, dass sie
nicht hinreichend einbezogen wurden. Wir werden das
nun verändern. So werden auch die Landtagskollegen
und damit auch die kommunalen Vertreter bei der
Begrenzung der Schulden angehört. Das ist eine weitere
wesentliche Verstärkung der Beteiligung der Kommunen.
Wir haben aber nicht nur die Kommunen im Auge.
Den Bundeshaushalt haben wir Gott sei Dank weitgehend saniert. Wir achten auch darauf, dass die Länder
nicht überfordert werden. Denn natürlich stehen die Länder durch die Fiskalpaktgrenze vor einer noch größeren
Herausforderung: nicht nur durch die Verschuldung der
Kommunen, sondern auch durch die strengere Schuldenbremse bis 2020.
Wir haben den Ländern zugesagt, dass wir etwaige
Sanktionen der Europäischen Kommission komplett tragen, obwohl sie nach unserer Verfassung anteilig von
Bund und Ländern zu tragen wären. Darüber hinaus
überweisen wir regelmäßig Geld an die Länder für Aufgaben, für die wir gar nicht zuständig sind. Wir haben intensiv das Thema Kitaausbau besprochen. Neben den
4 Milliarden Euro, die wir sowieso schon zur Verfügung
gestellt haben, kommen heute noch einmal 580,5 Millionen dazu. Wir haben für die Kommunen die Kosten für
die Grundsicherung in Höhe von 18,5 Milliarden Euro
übernommen. Wir haben in dieser Woche sichergestellt,
dass auch 2014 mehrere Milliarden Euro Entflechtungsmittel an die Länder fließen, und zwar für Aufgaben, die
eigentlich Ländersache sind. Aus unserer Sicht gibt es
überhaupt keinen Grund mehr - weder für die Opposition noch für die Vertreterinnen und Vertreter des Bundesrates - diesem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Fiskalpakts nicht zuzustimmen.
({5})
Wir sind in Europa sowieso schon spät dran, was ich
mittlerweile peinlich finde. Es gibt für Sie keinen Grund,
sich wieder aus der Verantwortung zu stehlen. Hören Sie
mit dem Pokern um noch mehr Bundesgelder auf; denn
ausschließlich darum geht es Ihnen ja. Sie sehen zu, wo
Sie vom Bund noch mehr Geld für die Länder bekommen können. Hören Sie auf damit, und kommen Sie endlich Ihrer Verantwortung nach, die Sie gegenüber der
Europäischen Union eingegangen sind! Ich fordere Sie
auf, unserem Gesetzentwurf endlich zuzustimmen,
({6})
damit wir unseren Verpflichtungen gerecht werden.
Ich danke Ihnen. Ich freue mich, dass meine Rede zu
so viel Erheiterung geführt hat.
({7})
Das Wort hat nun Carsten Schneider für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
schon einmal über diesen Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung des Fiskalvertrags diskutiert. Es wurden
auch Anhörungen im Haushaltsausschuss dazu durchgeführt. Im Bundesrat gab es keine Einigung, weswegen
Sie den Gesetzentwurf heute erneut einbringen.
Wir als SPD-Fraktion haben eine klare Haltung: Wir
wollen keine Schulden.
({0})
- Jetzt warten Sie einmal! Ich bin doch noch gar nicht
fertig, ganz ruhig. - So wie wir die nationale Schuldenregel in Deutschland 2009 hier im Deutschen Bundestag
beschlossen haben, wollen wir auch den europäischen
Fiskalvertrag goutieren und implementieren.
Was bedeutet das? Durch den Fiskalvertrag wird die
Schuldenregel in die nationalen Gesetze in Europa aufgenommen, ob nun in Athen, in Madrid - oder in Brunsbüttel.
({1})
Das bedeutet aber nicht, dass deren Einhaltung kontrolliert wird. Das ist ein großer Fehler. Warum kann die
Einhaltung nicht im Rahmen des Fiskalvertrages kontrolliert werden? Sie kann nicht kontrolliert werden, weil
es nicht um europäisches Sekundärrecht geht, sondern
um einen zwischenstaatlichen Vertrag. Das ist der grund26896
Carsten Schneider ({2})
sätzliche Fehler, den die Regierung - vorneweg Frau
Merkel - gemacht hat. Es ist nicht gelungen, eine einheitliche Regelung zu schaffen. Das europäische Recht
ist ein Flickenteppich. Das trägt nicht zu Glaubwürdigkeit und Transparenz bei.
Nun zu Deutschland. Wir als SPD-Fraktion haben im
Zuge der letzten Beschlussfassung gemeinsam mit den
Grünen - bei den Linken bin ich mir nicht mehr ganz sicher - einen Änderungsantrag eingebracht. Wir haben
auch eine Anhörung dazu durchgeführt. Ich möchte das
hier und heute im Deutschen Bundestag noch einmal
aufgreifen. Es geht um die Frage: Welche Rolle spielt
das Parlament, der Deutsche Bundestag, eigentlich bei
der Kontrolle der nationalen Haushalte, sowohl angesichts der zunehmenden europäischen Vernetzung als
auch angesichts der stärkeren Gouvernementalisierung?
Das bedeutet, dass immer mehr Aufgaben auf die Regierung ausgelagert werden, ohne dass die Parlamente - sowohl was die Personalausstattung als auch die eigenen
Rechte betrifft - in der Lage sind, ihrer Haushaltsverantwortung gerecht zu werden.
Das Ergebnis der Anhörung war so eindeutig, wie ich
es noch nie erlebt habe. In diesem speziellen Punkt, in
der Frage, ob es ein unabhängiges Gremium gibt, das die
Finanzpolitik der Regierung auswertet, ihr keine Empfehlungen gibt, aber ihre Politik bewertet, waren alle
Sachverständigen, auch die von der Union berufenen,
eindeutig der Auffassung, dass das, was vorgelegt
wurde, nicht ausreichend ist.
({3})
Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Sie implementieren ein
von der Kommission gefordertes unabhängiges Gremium mit neun Mitgliedern, von denen sechs einer Partei angehören und daher bestimmte Interessen verfolgen,
also mehr oder weniger weisungsgebundene Beamte
sind. Im Endeffekt sind es die Finanzminister selbst, die
über Strafzahlungen oder andere Interventionen entscheiden. Letztendlich bleiben wir mit dieser Vereinbarung weit hinter den europäischen Vereinbarungen zurück, die wir mit dem Six-Pack korrigiert haben. Das ist
ein Rückschritt. So wird die Finanzpolitik nicht glaubwürdig. Auf dieser Basis kann das Parlament nicht vernünftig im Bundestag diskutieren. So kann das Parlament keine Auswertung vornehmen und keine Alternativen aufzeigen. Deshalb wäre es im Interesse des Haushaltsausschusses und des gesamten Parlaments klug, so
meine ich, diese Chance zu nutzen und im Gesetzgebungsverfahren auf die Vorschläge der Sachverständigen
einzugehen.
Es wäre klug, dem Bundestag die notwendigen Mittel
an die Hand zu geben,
({4})
damit wir über die Finanzpolitik - schließlich tragen wir
die Hauptverantwortung für die Budgetpolitik - diskutieren können, damit wir auf einer breiten, fundierten
Grundlage eine öffentliche Diskussion führen können.
Ich glaube, das wäre in unserem eigenen Interesse. Ich
hoffe, dass es uns gelingt, dies zu implementieren.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Florian Toncar für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Eine der wichtigsten Reformen in Deutschland in den
letzten Jahren war die Schuldenbremse, die wir 2009 in
das Grundgesetz eingefügt haben. Das war mitten in der
Krise mutig. Ich glaube, das ist nicht nur Anlass, stolz
auf unser Land zu sein, sondern durchaus auch Anlass,
stolz auf das politische System in Deutschland zu sein,
das zumindest früher als viele andere erkannt hat, dass
zu viele Schulden eine Gefahr für Staaten, für Gesellschaften darstellen können. Wir können stolz darauf
sein, dass Deutschland sich früher als andere Länder dafür entschieden hat, etwas dagegen zu tun.
({0})
Wir haben in der Bundesregierung und der Koalition
seit 2010 gewaltige Anstrengungen unternommen, um
den Haushalt zu konsolidieren.
({1})
In der Krise stand eher das Geldausgeben im Vordergrund. Ich will das gar nicht kritisieren; aber es sind damals immerhin 80 Milliarden Euro für Konjunkturprogramme ausgegeben worden. Viele dieser Ausgaben
waren durchaus richtig; aber trotzdem mussten wir das
Geld in den Folgejahren wieder einsammeln, wieder einsparen. Wir mussten die Haushalte wieder konsolidieren.
Wenn man fragt, was die eigentliche politische Leistung
ist, dann muss man sagen - für mich jedenfalls ist das
so -, dass Einsparen immer schwerer ist als Ausgeben.
Einsparen ist die eigentliche Leistung. Die haben wir erbracht.
({2})
Das Ergebnis ist, dass wir bereits im abgelaufenen
Jahr 2012 die Zielmarke der Schuldenbremse in Deutschland eingehalten haben: 0,32 Prozent Neuverschuldung
beim Bund. Dieses Ziel haben wir vier Jahre früher erreicht, als das Grundgesetz es von uns verlangt. Darauf
sind wir stolz. Ich glaube, vor drei, vier Jahren hätte es
niemand für möglich gehalten, dass wir das bereits im
Jahr 2012 erreichen würden. Das ist erfreulich. Das ist
eine gute Nachricht, auch für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
({3})
Das haben wir geschafft, obwohl wir neue und gute
Schwerpunkte gesetzt haben - im Bereich Bildung und
Forschung beispielsweise haben wir 12 Milliarden Euro
mehr ausgegeben -, obwohl wir die Kommunen um annähernd 20 Milliarden Euro entlastet haben und obwohl
wir mit dem ESM infolge der Staatsschuldenkrise eine
Verpflichtung übernommen haben, die uns bisher
17 Milliarden Euro gekostet hat. Trotz dieser ganzen
Sonderbelastungen haben wir es geschafft, den Haushalt
weitgehend zu konsolidieren. Jedenfalls sind wir auf einem sehr guten Weg.
Das Volumen, um das wir die Neuverschuldung
schneller gesenkt haben, als es das Grundgesetz von uns
verlangt, wurde auf einem sogenannten Kontrollkonto
gebucht. Auf dieses Konto wird kein Geld eingezahlt,
aber dort wird gebucht: Wenn man weniger Schulden gemacht hat, als erlaubt, darf man in den folgenden Jahren
etwas mehr Schulden machen. - Ein Vorwurf der Opposition lautete immer - ich habe das für eine Verschwörungstheorie gehalten; aber ich erinnere mich gut, Kollege Schneider, dass auch Sie das hier gesagt haben -:
Sie beschreiten diesen Abbaupfad, um sich eine Kriegskasse für das Wahljahr 2013 anzulegen. 2013 werden Sie
dieses Kontrollkonto nutzen. Dann wird noch einmal
richtig Geld ausgegeben. Dann werden Sie mehr Schulden machen, um Wahlprogramme finanzieren zu können. - Sie müssen jetzt, 2013, feststellen: Die Ausgaben
sind konstant. Wenn dieser Gesetzentwurf nach der Beratung im Ausschuss vom Plenum beschlossen wird,
dann wird das Kontrollkonto, das Sie für unsere Wahlkampfkasse gehalten haben, gelöscht. 2016 beginnt das
Ganze wieder von vorne; dann beginnt man wieder bei
null. Das ist eine sinnvolle Regelung. Das zeigt aber
auch, dass Verschwörungstheorien oft einfach nur Verschwörungstheorien sind und eben nicht richtig.
({4})
Mit dem Fiskalpakt haben wir es geschafft, diese
Politik der Konsolidierung, der finanziellen Stabilität auf
Europa zu übertragen. Lange galt eine Neuverschuldungsgrenze von 3 Prozent in Europa. Das wurde mit
dem Maastricht-Vertrag festgelegt, den Sie maßgeblich
mit ausgehöhlt haben, den Sie mit kaputtgemacht haben,
als Sie regiert haben. Das musste repariert werden. Wir
sind das angegangen. Das Wort „Fiskalpakt“ ist letzten
Endes nur ein Begriff dafür, dass es uns, dieser Regierung, zusammen mit unseren europäischen Partnern gelungen ist, die Fehlentscheidungen von damals zu korrigieren und in Europa wieder strenge Regeln gegen
Verschuldung einzuführen, damit Staaten nicht wieder in
die Situation kommen, in der sich einige Länder Europas
zurzeit befinden. Wir haben das übertragen. Dieser Fiskalpakt ist ein großer europapolitischer Erfolg der Bundesregierung. Er enthält strenge Regeln, klare Sanktionen und auch ein Bekenntnis zum Abbau der bestehenden
Verschuldung.
Das wird jetzt mit diesem Gesetz - zumindest teilweise - ins deutsche Recht umgesetzt, sofern das erforderlich ist. Im Haushaltsgrundsätzegesetz wird noch einmal klargestellt, dass neben der Schuldenobergrenze von
0,35 Prozent die etwas anders berechnete Grenze nach
dem Fiskalpakt gilt, nämlich 0,5 Prozent. Der sogenannte Stabilitätsrat überwacht die Einhaltung des Fiskalpakts, damit das transparent und unabhängig geschieht.
Ein besonders wichtiger Punkt sind die Strafzahlungen der Länder. Der Bund hat sich im Rahmen eines
Kompromisses - um einen für Deutschland und Europa
elementar wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung,
nämlich den Fiskalpakt, zu retten - auch den Ländern
gegenüber verpflichtet, deren Strafzahlungen mit zu
übernehmen, wenn sie dazu beitragen, dass Deutschland
gegen den Fiskalpakt verstößt. Das war meines Erachtens eine sehr großzügige Geste des Bundes, mit der er
noch einmal gezeigt hat, dass ihm außenpolitische und
europapolitische Interessen sowie finanzielle Stabilität
wichtiger sind als das Klein-Klein um Zuständigkeiten
in unserem Föderalismus. Dafür muss man denen, die
das verhandelt haben, ein Kompliment machen. Wenn
der Fiskalpakt daran gescheitert wäre, wäre das für
Deutschland und Europa unverantwortlich gewesen.
({5})
Ich fasse zusammen: Europa denkt um - solide Finanzen statt Strohfeuer, ausgeglichene Haushalte als Ziel für
alle. Das ist ein Beitrag zur Lösung dieser Krise und
auch ein Beitrag für eine stabile Währungsunion in der
Zukunft. Mit dem heutigen Gesetz sorgt auch Deutschland für noch mehr finanzielle Solidität, von Berchtesgaden bis Brunsbüttel.
({6})
Der Kollege Roland Claus hat seine Rede zu Proto-
koll gegeben.1) - Damit sind wir wieder bei Priska Hinz
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Tillmann, ich kann gleich aufklären, warum ich mich
über Ihre Rede gefreut habe. Ich finde es nämlich lustig,
dass wir hier zum zweiten Mal innerhalb eines Monats
ein Gesetz, dem auch wir zugestimmt haben, lesen und
Sie uns nun auffordern, diesem Gesetz doch endlich die
Zustimmung zu geben. Sie halten uns hier erst einen
Grundsatzvortrag, als wüssten wir gar nicht, worum es
geht. Dann fordern Sie uns auf, einem Gesetz zuzustimmen, das Sie im Bundesrat versenkt haben, weil die Bundesregierung nicht in der Lage war, ihre Vereinbarung
mit den Ländern einzuhalten. Es ist Ihr handwerklicher
Fehler, dass wir dieses Gesetz hier noch einmal lesen
müssen.
({0})
Es würde noch nicht einmal in Brunsbüttel vorkommen,
dass man etwas einbringt, es dann aufgrund handwerkli-
cher Fehler versenkt und hinterher die Opposition auf-
fordert, sie solle doch, bitte schön, alles reparieren und
1) Anlage 9
Priska Hinz ({1})
über das Ganze dann im Gleichschritt noch einmal mit
abstimmen.
Ich komme zu meinem Kollegen Toncar, den ich eigentlich sehr schätze.
({2})
Aber auch bei ihm habe ich mich ein wenig gewundert.
Ich habe mich gewundert, dass Sie hier am späten Abend
so aufs Klötzchen hauen und erstens so tun, als hätten
Sie die Schuldenbremse erfunden bzw. eingeführt. Soweit ich mich erinnere, hat die FDP damals auch nicht
zugestimmt.
({3})
Zweitens tun Sie so, als hätten Sie mit Schuldenmachen
nichts zu tun. Die wahren Schuldenkönige und -königinnen in diesem Land sind die Liberalen und CDU/CSU.
({4})
Wir haben, gesamtstaatlich gesehen, über 2 Billionen
Euro Schulden. Allein unter der Kanzlerschaft Merkel
sind die Schulden um 500 Milliarden Euro gewachsen.
Aber Sie stellen sich hier hin und sagen: Jetzt endlich
werden mit diesem Gesetz die Schulden abgebaut. - Das
Gegenteil ist der Fall: Auch in diesem Jahr ist die Nettokreditaufnahme viel zu hoch. Es ist zu befürchten, dass
die Nettokreditaufnahme, wenn die Konjunktur lahmt,
noch höher wird als geplant.
({5})
Jetzt will ich darauf zu sprechen kommen, warum wir
dieses Gesetz zum zweiten Mal lesen. Wir wurden gehetzt. Uns wurde gesagt, es müsse im Dezember gleich
nach unserer Anhörung beschlossen werden, obwohl
klar war, dass wir eigentlich eine bessere parlamentarische Beteiligung beim Prozess der Umsetzung brauchen,
dass wir eine Art Budget Office brauchen. Danach ging
die Bundesregierung mit dem beschlossenen Gesetz in
den Bundesrat. Dort stellte sich heraus, dass das Entflechtungsgesetz, das die Bundesregierung den Ländern
im Oktober letzten Jahres zugesagt hatte, schlicht und
einfach nicht vorhanden war. Darüber war noch nicht
einmal im Kabinett entschieden. Trotzdem wundern Sie
sich, dass die Länder das Gesetz haben durchfallen lassen.
Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Sie haben dieses
Thema heute weiträumig umschifft. Deswegen bringe
ich es hier so klar zur Sprache. Sie halten Grundsatzreden und sprechen darüber, dass alle anderen Schulden
machen, nur nicht Sie. Es geht aber darum, dass Sie das
Gesetz im Bundesrat versenkt haben und jetzt nachbessern müssen.
({6})
Erstaunlich ist, dass Sie das Umsetzungsgesetz jetzt
einbringen, das Entflechtungsgesetz aber immer noch
nicht vorliegt. Es soll erst im Februar oder März in den
Bundestag kommen und im Mai verabschiedet werden.
Ich bin gespannt, ob sich die Länder darauf einlassen
oder ob Sie es schon wieder versenken, weil Sie seit Oktober nicht in der Lage waren, ein Entflechtungsgesetz
vorzulegen, zumindest mit der Krücke „Weiterfinanzierung bis 2014“; eigentlich müsste es bis 2019 finanziert
werden. Sie schaffen es noch nicht einmal, dies zeitgleich mit dem zweiten Gesetzgebungsverfahren zum
Entwurf eines Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung
des Fiskalvertrags einzubringen. So eine dilettantische
Regierung und so eine dilettantische Koalition hat dieses
Land nicht verdient.
({7})
Auch an diesem Punkt zeigt sich wieder: Wir brauchen
eine neue Regierung.
({8})
Wir sind bereit, diese zu übernehmen, damit so etwas
künftig nicht mehr passiert.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun Bartholomäus Kalb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe den Eindruck: Brunsbüttel ist hier noch nie so zur
Geltung gekommen wie in dieser Debatte. Deshalb grüßen wir die Bürgerinnen und Bürger von Brunsbüttel
sehr herzlich
({0})
und natürlich auch die Mitarbeiter der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung, zum Beispiel die Schleusenwärter, all das Personal, das sich heute Abend noch mit Problemen herumschlagen muss. Herzliche Grüße!
Ich hoffe, dass die finanziellen Schleusen nicht wieder von der Opposition geöffnet werden, sondern dass
wir die Schleusen schließen,
({1})
damit die finanzpolitische Stabilität gewährleistet bleibt.
Mittlerweile hat sich ja nicht nur bei uns im Land, bei
unseren Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch in ganz
Europa und zum Teil weltweit die Erkenntnis durchgesetzt, dass nachhaltige Haushaltspolitik, also Haushaltskonsolidierung und finanzielle Disziplin, die Grundvoraussetzung dafür ist, dass in einem Land, in einer
Region, auf einem Kontinent Finanzstabilität gewährleistet werden kann, dass Wohlstand gewährleistet werden kann, dass die Beschäftigung auf ein hohes Niveau
gebracht werden kann und damit letztlich auch die soziale Sicherheit garantiert werden kann. Das sind ganz
hohe Güter, für die es sich lohnt, sich einzusetzen.
Deutschland ist hier, wie ich meine, mit gutem Beispiel vorangegangen. Deutschland hat viele Diskussionen und Beschlüsse auf europäischer Ebene und im Bereich der G 20 angestoßen und vorangebracht. Wir
haben uns damit nicht nur Freunde gemacht; aber in der
Zwischenzeit hat sich diese Erkenntnis allgemein durchgesetzt.
Carsten Schneider hat vorhin gesagt,
({2})
dass wir darin übereinstimmen, dass wir keine Schulden
wollen.
({3})
Aber rufen wir uns einmal die Debatte von heute Morgen in Erinnerung.
({4})
Dort habe ich gehört, wie sich der Finanzminister von
Nordrhein-Westfalen dazu eingelassen hat. Wenn ich mir
auch noch vor Augen halte, Kollege Norbert Barthle,
was die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg veranstaltet, dann stelle ich fest: Das ist alles andere als das,
was Carsten Schneider hier zum Ziel erklärt.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Haushaltsabschluss, den wir in diesen Tagen vom Bundesfinanzministerium bekommen haben, zeigt, dass wir auf
genau dem richtigen Weg sind. Wir konnten den Haushalt 2012 mit einem noch besseren Ergebnis abschließen, als in den Planungen vorgesehen war. Wenn man
um 5 Milliarden Euro besser abschneidet, als erwartet,
ist das zumindest eine Erwähnung wert. Wenn man eine
niedrigere strukturelle Neuverschuldung ausweisen
kann, als vorgesehen, dann ist auch das eine besondere
Erwähnung wert.
Es muss betont werden - die Kollegin Tillmann hat
das schon erwähnt -, dass wir die Vorgaben der Schuldenbremse viel schneller werden einhalten können. Das
schaffen wir bereits 2013, also drei Jahre früher als geplant. Dazu waren große Anstrengungen erforderlich.
Insgesamt ist das natürlich sehr gut, nicht nur für unsere
Haushalte, sondern auch im Hinblick auf die Stabilität
der Finanzmärkte in Deutschland und Europa. Die gewisse Beruhigung, die wir derzeit feststellen können, hat
sicherlich auch damit zu tun, dass die Finanzmärkte zur
Kenntnis nehmen, dass die Situation in Deutschland und,
von Deutschland ausgehend, in Europa besser ist, als
bisher zu vermuten war. Ganz offensichtlich werden von
den Finanzmärkten die Probleme in den USA und in anderen Regionen der Welt wieder stärker zur Kenntnis genommen.
({6})
Kollegin Tillmann hat vorhin darauf hingewiesen,
dass dieser Gesetzentwurf auch vorsieht, dass das sogenannte Kontrollkonto zum 31. Dezember 2015 gelöscht
wird. Das heißt, dann gibt es keine - wenn auch verfassungsrechtlich zulässige - heimliche Möglichkeit mehr,
eine höhere Verschuldung einzugehen. Auch das unterstreicht, dass wir es sehr ernst meinen.
Die Kollegin Tillmann und der Kollege Toncar haben
darauf hingewiesen, dass wir den Ländern sehr weit entgegengekommen sind und ihnen sehr viel Hilfestellung gegeben haben, sodass sie jetzt in der Lage sind, die Vorgaben
des Fiskalpaktes innerstaatlich umzusetzen. Erwähnt wurden auch andere Maßnahmen: vom Kinderbetreuungsangebot über das Entflechtungsgesetz, den Hochschulpakt,
die Grundsicherung bis hin zu der In-Aussicht-Stellung,
dass wir im Rahmen des Bundesleistungsgesetzes, also
für die Behinderten in dieser Republik, noch mehr tun
wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
seit 2008 die richtigen Maßnahmen zur Bewältigung der
Finanz- und Wirtschaftskrise ergriffen. Dadurch sind
auch für die Länder und die Kommunen Windfall Profits
angefallen,
({7})
die es ihnen erlauben, ihre Haushalte schneller zu konsolidieren - Gott sei Dank. Allerdings muss in diesem
Hause auch gesagt werden: Die Lasten hat hauptsächlich
- sogar fast alleine - der Bund getragen.
({8})
Das Statistische Bundesamt hat letzte Woche Zahlen
veröffentlicht. Bei der Zahl der erwerbstätigen Personen
in Deutschland ist der Höchststand in der gesamten
Nachkriegsgeschichte zu verzeichnen;
({9})
das muss erwähnt werden, und darüber sollten wir uns
freuen. Außerdem hat die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter einen Höchststand erreicht. Das
ist ein Garant dafür, dass die Situation unserer Sozialkassen, wie heute in einer anderen Debatte bereits erwähnt
wurde, besser ist, als wir es noch vor ein, zwei Jahren
befürchten mussten.
({10})
Letztlich sind all das Umstände, über die wir uns
freuen sollten. Denn dadurch werden die Menschen in
die Lage versetzt, aus eigener Kraft und durch eigene
Anstrengung ein Einkommen zu erzielen und für sich
und ihre Familien ein Auskommen zu sichern. Ich
denke, das ist etwas, worüber man sich freuen kann und
darf, auch wenn die Zeit heute Abend schon etwas fortgeschritten ist.
({11})
Herr Kollege, Sie sollten mit dieser Freude zum
Schluss kommen.
Damit darf ich, Herr Präsident, zum Schluss kommen.
Ich wünsche Ihnen, wenn das erlaubt ist zu dieser späten
Stunde, dass es mit diesen schwäbischen Wecken keine
weiteren Probleme mehr gibt,
({0})
dass sie wohlschmeckend sind, auch in Berlin.
Herzlichen Dank und einen schönen Abend.
({1})
Das Wort hat nun Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben hier eine Debatte gehört, die mit
dem eigentlichen Thema nicht mehr viel zu tun hatte.
Aber ich möchte an den Kollegen Kalb anschließen: Es
ist leider so, dass CDU/CSU und FDP dem Thema
Brunsbüttel nie genug Bedeutung zugewiesen haben.
Das sieht man daran, dass, obwohl der Haushaltsausschuss das Geld für den Bau der fünften Schleuse bewilligt hat, noch immer kein einziger Bagger rollt. Das ist
tragisch.
({0})
Wenden wir uns jetzt wieder der Sachebene zu. Im
Kern ist es doch so, dass Sie hier sagen: Der Haushalt ist
saniert, die wirtschaftliche Lage ist gut, die Koalition hat
etwas geleistet.
({1})
Dass das nicht richtig ist, weiß jeder. Sie alle kennen den
schönen Spruch: Getretener Quark wird breit, nicht
stark.
({2})
So ist das mit der Lobhudelei, die Sie ständig betreiben.
Warum ist die Lage denn gut? Das ist doch ganz einfach: Rot-Grün hat unter Gerhard Schröder Reformen
durchgesetzt, die dieses Land nach vorne gebracht haben.
({3})
Rot-Grün hat es geschafft, etwas durchzusetzen, was der
FDP noch nie durchzusetzen gelungen ist: eine anständige Steuerreform.
({4})
Rot-Grün hat es geschafft, Sozialreformen durchzusetzen, von denen wir heute noch profitieren.
({5})
CDU/CSU und FDP haben so etwas in den letzten Jahren nicht geschafft. Sie sollten sich alle bei Rot-Grün,
bei Gerhard Schröder bedanken;
({6})
denn Sie kassieren die Windfall Profits, Sie profitieren
von den Entscheidungen, die damals getroffen worden
sind.
({7})
Wir werden in vier, fünf oder sechs Jahren das Problem
haben, dass das, was Sie alles nicht geschafft haben, uns
auf die Füße fällt. Deswegen sollten Sie sich einmal besinnen, wem Sie die gute Lage verdanken, und sich bedanken. Gerhard Schröder wird sich bestimmt freuen.
Frau Tillmann hat in der Debatte gesagt, dass Sie darauf achten, dass die Länder nicht überfordert werden.
({8})
Diese Aussage muss Science-Fiction sein; denn selbst
die von Ihnen regierten Länder haben das überhaupt
nicht so gesehen. Beim Thema Entflechtungsmittel verdienen Sie eine Fünf minus. Sie haben die Gewährung
um ein Jahr verlängert. Das Entflechtungsgesetz, auf das
die Länder warten, liegt bis heute nicht vor. Die Kollegin
Priska Hinz hat wunderbar dargestellt, was Sie nicht gebacken bekommen haben.
Im Bereich der Kinderbetreuung geben Sie die Mittel
für dieses unsinnige Betreuungsgeld aus. Deswegen gibt
es nicht genug Kitaplätze, deswegen haben Sie die Probleme.
({9})
Deswegen haben die Länder Probleme, den Rechtsanspruch umzusetzen. Das sollten Sie irgendwann einmal
zur Kenntnis nehmen!
({10})
Ich glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist; aber das
werden auch Sie noch merken.
Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Die Länder
wollten Bund-Länder-Anleihen. Es wurde lange darüber
geredet und verhandelt. Sie haben die Länder dann hinter die Fichte geführt. Sie haben nicht getan, was abgesprochen war, Sie haben keine Anleihe gemacht, bei der
sich der Bund das Geld leiht und es an die Länder weitergibt. Entsprechend sind die Ergebnisse; deswegen
springen die Länder alle ab.
({11})
Wundern Sie sich nicht, wenn Sie mit diesem Entwurf
eines Gesetzes zur Umsetzung des Fiskalvertrages wieder in den Bundesrat gehen und die Länder Ihnen vorJohannes Kahrs
werfen: Sie haben uns alleingelassen; wir sind nicht gefördert worden. - Frau Tillmann hat unrecht; denn die
Länder werden hier überfordert. Deswegen kann es gut
sein, dass Sie im Bundesrat wieder Probleme bekommen.
Dann dürfen Sie sich aber nicht bei uns beschweren, sondern müssen in den Spiegel schauen und - nachdem Sie
Gerhard Schröder gedankt haben - sich schämen.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/12058 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Gerdes, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Starke Forschung für die Energiewende
- Drucksache 17/11201 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energieforschung konsequent am Atomausstiegsbeschluss des Deutschen Bundestages
ausrichten
- Drucksache 17/11688 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11201 und 17/11688 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführungen sind jedoch strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen
Federführung jeweils beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Die Fraktionen von SPD und Bündnis
90/Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss
für Bildung und Forschung.
Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim Ausschuss für Bildung und Forschung abstimmen. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
beiden Überweisungsvorschläge sind mit den Stimmen
der Regierungsfraktionen und der Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP - Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
beiden Überweisungsvorschläge sind mit den Stimmen
der Regierungsfraktionen und der Linken gegen die
Stimmen der beiden anderen Fraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({4})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Programms Kreatives Europa
KOM({5}) 785 endg.; Ratsdok. 17186/11
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grund-
gesetzes
- Drucksachen 17/8227 Nr. A.51, 17/11107 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Christoph Poland
Siegmund Ehrmann
Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Agnes Krumwiede
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einver-
standen.2)
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11107, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 2
des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
1) Anlage 10 2) Anlage 11
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
men der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stim-
men der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Legalisierung von Cannabis durch Einführung von Cannabisklubs
- Drucksachen 17/7196, 17/11556 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf ({7})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Katrin GöringEckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheitliche Risiken des Drogengebrauchs
verringern - Drugchecking ermöglichen
- Drucksachen 17/2050, 17/11911 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Maag
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus von der FDPFraktion.
({9})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Cannabis
ist und bleibt eine gefährliche Droge, die gravierende
Schäden verursachen kann.
({0})
Studien zeigen, dass Cannabiskonsum und -missbrauch
zu erheblichen geistigen Störungen führt.
({1})
Die Herausgeber der Zeitschrift SUCHT betonen
- Heft 3 aus Juni 2011 -, dass die gesundheitlichen Probleme, die sich aus Cannabismissbrauch ergeben, weder
verschwinden noch abnehmend sind. Für Verharmlosung
ist an dieser Stelle also überhaupt kein Raum.
({2})
Ganz im Gegenteil: Die Zahl der Behandlungssuchenden
wegen cannabisbezogener Störungen steigt weiterhin an.
Eine Langzeitstudie an der Duke University in Durham in North Carolina hat nachgewiesen, dass Cannabiskonsum das zentrale Nervensystem unwiderruflich
schädigen und den IQ senken kann. Cannabiskonsum ist
also schädlich für das Gehirn und kann unter anderem zu
Schizophrenie führen.
Sehr erschreckend ist auch - das hat diese Studie ergeben -, dass besonders der frühe Cannabiskonsum
schwerwiegende Folgen hat. Denn offenbar - so die Autoren der Studie - nimmt der IQ umso stärker ab, je früher die Menschen beginnen, Cannabis zu konsumieren.
Man hat festgestellt, dass sich bestimmte Areale des Gehirns von Dauerkonsumenten deutlich und irreversibel
verschlechtert haben. Darüber hinaus zeigten die Untersuchungen, dass Langzeitkiffer Erinnerungsprobleme
haben und sich auch schlechter konzentrieren können.
Als Gegenargument wird nun oft angeführt, man
wolle doch nur den Gelegenheitskonsum entkriminalisieren. Das funktioniert aber nicht. Denn insbesondere
Jugendliche laufen Gefahr, zu dauerhaften Konsumenten
zu werden, je früher sie in Kontakt mit der Droge kommen, auch wenn das nur gelegentlich passiert.
Eine Cannabislegalisierung hätte also gesundheitliche
und psychosoziale Folgen, die aus meiner Sicht nicht
hinnehmbar sind.
({3})
Denn, wie gesagt, das Gehirn der Jugendlichen ist offenbar nicht in der Lage, sich von den Folgen des Konsums
völlig zu erholen. Hier gibt es keinen Reset-Knopf.
({4})
Konkret bedeutet das: Dauerkiffen macht Jugendliche
dümmer. Dies dürfen wir durch eine Legalisierung nicht
auch noch befördern.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jugendschutz
muss in der Sucht- und Drogenpolitik eine ganz zentrale
Rolle einnehmen. Aber wie können wir Kinder und Jugendliche effektiv schützen, wenn Cannabis wesentlich
leichter, weil ja legal, verfügbar ist? Elementar ist dabei
auch die Frage: Wie soll der fließende Übergang vom legalen Eigengebrauch, den Sie ja fordern, zur illegalen
Herstellung und zum illegalen Handel überhaupt kontrolliert werden? Glauben Sie denn wirklich ernsthaft,
dass in Cannabisklubs keine Kriminellen auftauchen, die
dann unter dem Deckmantel der staatlichen Legitimation
den Stoff anbauen und dann auf dem nächsten Schulhof
an Jugendliche weiterverkaufen? Das können Sie doch
überhaupt nicht verhindern.
Der reine Wunsch nach streng kontrolliertem und legalem Umgang wird nicht dafür sorgen, dass in der Realität auch tatsächlich so verfahren wird. Der niederländische Schwarzmarkt verdeutlicht das leider auf sehr
bittere Weise.
Meine Damen und Herren, den Realitätscheck hat Ihr
Antrag auf Rauschsozialismus bereits beim ersten Lesen
leider nicht bestanden.
({6})
Ihr Antrag ist deshalb nicht mehr als ein utopisches
Wunschdenken.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ausdruck von utopischem Wunschdenken ist auch der Antrag der Fraktion
der Grünen zum Drugchecking. Sie wünschen sich, dass
man die gesundheitlichen Risiken des Drogengebrauchs
durch Drugchecking verringern könnte.
({8})
Das ist aber ein gefährlicher Trugschluss. Denn beim
Drugchecking wird immer nur auf einzelne Substanzen
geprüft. Wenn zum Beispiel eine Partypille auf Rattengift überprüft und diesbezüglich für negativ befunden
wurde, heißt das noch lange nicht, dass darin nicht andere schädliche Substanzen wie zum Beispiel die bei Ihnen im Antrag erwähnten Milzbranderreger sind.
Einmal abgesehen davon, dass schon die reine Pille
an sich sehr schädlich ist: Ein Drugchecking wiegt den
Konsumenten deshalb nur in einer gefährlichen, in einer
trügerischen Sicherheit. Besonders bei Jugendlichen
kann damit der völlig falsche Eindruck entstehen, ein
unbedenkliches und ein von offizieller Stelle geprüftes
Produkt erworben zu haben.
Bei illegalen Drogen handelt es sich aber keinesfalls
um standardisierte und in einem kontrollierten Verfahren
hergestellte Produkte. Die vermeintliche Unbedenklichkeit sagt doch zum Beispiel auch überhaupt nichts über
andere zum Beispiel nicht getestete Verunreinigungen in
dieser Pille oder andere gesundheitsgefährdende Beimischungen aus.
Meine Damen und Herren, ein Drugchecking würde
nur suggerieren, es gäbe gesunde, unbedenkliche Substanzen in den Drogen. Das ist aber nicht so. In der Anhörung hier im Bundestag wurde das ganz klar deutlich:
Drogenkonsumenten können sich keineswegs darauf
verlassen, dass die getesteten Drogen frei von Beimengungen sind und keine überdosierten Stoffe enthalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte die Drogenpolitik, wie sie mit Ihrem Antrag formuliert wird, für
schizophren. Auf der einen Seite verbieten Sie in NRW,
dass Raucher in von Rauchern betriebenen Eckkneipen
das legale Produkt Zigarette konsumieren dürfen, und
auf der anderen Seite fordern Sie hier mit Ihrem Antrag
gleichzeitig das Einführen von einem Drugchecking,
also einer regelmäßigen Analyse illegaler psychoaktiver
Substanzen in Diskotheken.
({9})
Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Nach der Schicht
ist in der Kneipe die Zigarette zum Bier verpönt und verboten, aber in der Disco steht jemand vom staatlichen
Drogen-TÜV bereit und bescheinigt einer möglicherweise verunreinigten Pille eine trügerische Unbedenklichkeit.
Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Das ist Unsinn. Die vorgelegten beiden Anträge sind daher nicht
zielführend, sind völlig realitätsfremd und stellen auch
die Drogenprävention, so wie wir sie wollen, komplett
infrage.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer Drogen- und Suchtpolitik macht, der bekommt viel
Post, oft von Menschen, die sich aus persönlicher Betroffenheit für eine Legalisierung von Cannabis einsetzen. Ich bin mir sicher, dass die Briefe- und Mailschreiber diese Debatte aufmerksam verfolgen. Ich hätte mir
aber schon vorstellen können, den Tagesordnungspunkt
zu Protokoll zu geben. Wenn das mit einem Tagesordnungspunkt zur Forschung für die Energiewende möglich ist, geht das auch mit diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Man hätte den Saaldienern damit einen großen Gefallen
getan.
({1})
Doch nun zum Thema. Klar ist, dass wir den medizinischen Gebrauch, zum Beispiel im Rahmen einer
Schmerztherapie, von strafrechtlichen Konsequenzen
ausnehmen, den Betroffenen den Zugang zu Cannabisprodukten erleichtern und die Forschung in diesem Bereich verstärken müssen.
Allerdings wird im Antrag der Linken die Droge Cannabis und deren psychischen und physischen Auswirkungen auf den Menschen aus meiner Sicht bagatellisiert. Sie führen nämlich eine drogenpolitische Debatte
nach dem Motto: Alkohol versus Cannabis. Dabei reden
Sie einer Benachteiligung der Cannabiskonsumenten gegenüber Alkoholkonsumenten das Wort.
Übrigens sind Sie dabei auch nicht konsequent. Wenn
Sie wirklich keinen Unterschied zwischen der schädlichen Wirkung von Alkohol und der von Cannabis sehen:
Warum wollen Sie dann laut Antrag am Verbot des Handelns festhalten?
({2})
Angelika Graf ({3})
Warum soll man dann Cannabis nicht wie Bier oder Zigaretten im Supermarkt kaufen können? Ich habe so das
Gefühl, dass Sie Ihren eigenen Vorschlägen nicht trauen.
({4})
Ich möchte darauf hinweisen, dass es gerade im legalen Bereich bei Tabak und Alkohol Bemühungen gibt,
die Verfügbarkeit und die Attraktivität zu reduzieren,
und zwar mit gutem Recht. Bei Cannabis nun den umgekehrten Weg gehen zu wollen, halte ich für falsch. Vielleicht sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei, darüber nachdenken, ob Suchterkrankungen nicht auch durch die Begrenzung des Angebotes
vermieden werden können.
({5})
So wünsche ich mir als Drogenbeauftragte der SPDBundestagsfraktion - hören Sie mir zu -, dass es künftig
eine EU-weite restriktivere Politik bei Alkohol und Tabak gibt. Der Europäische Rat hat sich auf seiner Tagung
vom 7. Dezember in Brüssel mit den wachsenden Problemen des gesundheitsschädlichen Alkoholkonsums
beschäftigt. Er fordert deshalb eine neue Alkoholstrategie mit Einschränkungen in der Werbung, Warnhinweisen und einer anderen Preispolitik.
({6})
Ich denke, Sie als Linke sitzen dem Irrglauben auf,
sich über eine liberale Drogenpolitik ein jugendliches
Image geben zu können. Dabei kommen dann Forderungen wie die nach der Einrichtung von Cannabisklubs
oder die von 2011 auf Ihrem Parteitag nach einer Legalisierung aller Drogen heraus.
Ich behaupte: Man kann nicht EU-weit an der Reduzierung der Attraktivität von Alkohol oder Nikotin arbeiten und gleichzeitig mindestens eine, lieber auch alle
Drogen legalisieren. Das widerspricht doch jeder Logik.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich
bedaure wirklich, dass Sie bei den Anhörungen des
Deutschen Bundestages offenbar recht selektiv wahrnehmen.
({8})
Dort wurde eben nicht ausgeschlossen, dass der Cannabiskonsum die Wahrscheinlichkeit für einen späteren
Konsum härterer Drogen erhöhen kann oder regelmäßiger Konsum von größeren Mengen von Cannabis die
Gesundheit gefährdet. Im Gegenteil wurde von den
Suchtmedizinern - das ist schon erwähnt worden - sehr
deutlich gesagt, dass der Gebrauch von Cannabis, insbesondere im Kinder- und Jugendalter, ganz verheerende
Folgen für die geistige und körperliche Entwicklung mit
sich bringen kann.
Die Erfahrungen in den Niederlanden und in Spanien
mit Cannabisklubs und ähnlichen Einrichtungen sind
auch nicht so positiv, wie Sie uns das in Ihrem Antrag
glauben machen wollen.
Ich vermisse zudem Angaben darüber, wie der Anbau
zum Eigenverbrauch definiert bzw. kontrolliert werden
soll. Auch auf Folgeprobleme wie die Kontrolle des
THC-Grenzwerts von Konsumenten im Straßenverkehr
wird lediglich ein kurzer Satz verschwendet, der zudem
vermeidet, sich auf irgendeine Höchstgrenze festzulegen.
Ich habe das Gefühl, die Linksfraktion macht sich bei
den aufkommenden ernsthaften Fragen einen schlanken
Fuß und will diese nicht beantworten. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, Sucht bekämpft man nicht mit der Strafverfolgung von Süchtigen. Basierend auf der grundsätzlichen Strafbarkeit des Besitzes von Cannabis bin ich daher für eine bundesweit einheitliche Regelung im
Bereich der geringen Mengen für den Eigenbedarf. Hierfür müssen wir meines Erachtens in § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes die Grenze festlegen.
Die derzeitige Regelung überlässt dies den Ländern.
Sie überlässt ihnen auch, ab wann sie strafrechtlich relevante Verfahren einstellen. Ich denke, nur die konkrete
Festlegung im Bundesgesetz schafft eine Entkriminalisierung, Rechtssicherheit, eine bundeseinheitliche Gerichtspraxis und den Abbau der sinnlosen Beschäftigung
von Staatsanwaltschaften.
Die geringe Menge aber auf 30 Gramm getrocknete
Teile der Cannabispflanze, also die fünffache Dosis des
in einigen Bundesländern bislang Erlaubten, zu erhöhen,
ist für mich ein weiteres Zeichen der Bagatellisierung,
die ich am Anfang schon angesprochen habe. Ich glaube,
Sie nehmen die Droge Cannabis nicht ernst. Deswegen
werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zu dem Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen. Er fordert vor dem Hintergrund, dass Drogen manchmal giftige Verunreinigungen
und Beimengungen enthielten, die Zulassung und Einführung von Drugchecking-Projektmodellen. Ich erkenne sehr an, dass Ihnen das Wohl der User am Herzen
liegt. So verstehe ich übrigens auch die Koalitionsverträge in Schleswig-Holstein und Berlin, in denen das
auch zumindest Erwähnung findet. Ich befürchte aber,
dass das Signal, das von dieser Maßnahme ausgeht,
falsch ist.
Erstens sind Drogen, denke ich, auch ohne zusätzliche giftige Beimengungen gefährlich und schädlich.
Zweitens kann man von der untersuchten Droge nicht
zwingend auf die Reinheit der gesamten erworbenen
Drogen rückschließen. Davon abgesehen wären für eine
seriöse Analyse aufwendige Verfahren notwendig, die
zum Beispiel im Rahmen eines mobilen Drugcheckings,
wie es angedacht ist, gar nicht möglich sind.
({9})
Ich denke, dass wir dabei vor der Frage stehen, ob wir
mit dem Stempel des Drugcheckings nicht das Signal
aussenden, dass die Droge im Ganzen ungefährlich ist.
Das ist der Grund, weshalb wir nach ausführlicher interAngelika Graf ({10})
ner Debatte innerhalb der SPD auch diesen Antrag ablehnen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({11})
Das Wort hat nun Karin Maag für die CDU/CSUFraktion.
({0})
- Ich ertrage es mit Fassung.
({1})
Wir reden nachher noch einmal darüber.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von den
Linken, ich empfinde es als starkes Stück, dass kein einziger Gesundheitspolitiker bei diesem gesundheitspolitischen Thema anwesend ist.
({0})
Das halte ich mit dem Verständnis von Politik in diesem
Hause für schwer vereinbar.
Cannabisklubs und Drugchecking haben nur bedingt
etwas miteinander zu tun.
({1})
Die Klammer sind wahrscheinlich die illegalen Drogen,
aber nun gut.
Ich beginne mit Cannabis, und zwar vor allem mit den
Erkenntnissen aus der Anhörung. Dazu hat die Kollegin
Graf schon das Richtige gesagt. Die Anhörung scheint
von Ihnen nur sehr selektiv wahrgenommen worden zu
sein.
Strafrechtlich ist die Situation eindeutig: Es gibt kein
Recht auf Rausch - Ausrufezeichen! Unser Betäubungsmittelstrafrecht schützt eben nicht nur die Gesundheit
des Einzelnen, sondern auch die der Allgemeinheit, insbesondere der Jugendlichen. Es geht um den Schutz vor
organisierter Kriminalität, und es geht um die Gewährleistung der internationalen Zusammenarbeit bei der
Suchtstoffkontrolle. Genau deswegen - weil es dieses
Recht auf Rausch nicht gibt - hat das Bundesverfassungsgericht 2005 bestätigt, dass es richtig ist, die von
Cannabis ausgehenden Gefahren mit den Mitteln des
Strafrechts zu begrenzen. Es ist auch kein Verstoß gegen
den Gleichheitsgrundsatz, dass Alkohol und Nikotin erlaubt sind, Cannabis aber verboten ist. Genau das hat das
Bundesverfassungsgericht auch so gesehen.
Der bloße Konsum ist straffrei. Genau deshalb lässt
auch unser Strafrecht bei der Strafverfolgung mit vielen
Ermessensvorschriften, ob ein Verfahren überhaupt eingeleitet werden soll, eine auf jeden Einzelfall abgestimmte Entscheidung und Beurteilung zu. Es funktioniert in der Praxis; auch das hat die Anhörung ergeben.
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die weit überwiegende
Zahl der Fälle des bloßen Konsums von Cannabisprodukten eingestellt wird. Allein in Hessen waren es über
70 Prozent.
Herr Tempel, auch Sie wissen, dass Deutschland die
Suchtstoffkonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet hat. Wir haben uns damit verpflichtet, die Verwendung von Cannabis und von anderen Suchtstoffen
auf ausschließlich medizinische und wissenschaftliche
Zwecke zu beschränken. Logischerweise ist in Deutschland wie übrigens auch in allen anderen europäischen
Staaten, die Vertragsstaaten dieser Suchtstoffkonvention
sind, der Verkehr mit Cannabis grundsätzlich strafbar.
Strafbar sind also Herstellung, Handel, Einfuhr, Abgabe,
Veräußerung, Erwerb, Besitz von entsprechenden Pflanzen und Pflanzenteilen.
Stichwort „Anhörung“, Herr Tempel: Die Produkte
sind in den letzten Jahren deutlich gefährlicher geworden. Zum einen wurde kontinuierlich der THC-Gehalt
- das ist der Wirkstoffgehalt im Cannabis - hochgezüchtet und intensiviert. Zum anderen hat das Kriminalwissenschaftliche Institut des LKA Niedersachsen in einer
anderen Anhörung darauf hingewiesen, dass es allein in
den letzten Monaten drei gefährliche Beimischungen
nachgewiesen hat, die allesamt zu Gewichtserhöhung
eingesetzt wurden. Diese Beimischungen sind Bleistaub,
Glas und Haarspray. Da können Sie nur schwer behaupten, dass das alles so ungefährlich ist, wie Sie es in Ihrem Antrag darstellen.
({2})
Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat schon darauf
hingewiesen: Die Gesundheitsgefahren beim Cannabismissbrauch sind erwiesen. Der Einzelsachverständige
Professor Thomasius, immerhin der Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalters am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, hat
dargelegt, dass vor allem der regelmäßige und intensive
Gebrauch zu körperlichen und psychischen Erkrankungen führen kann. Cannabiskonsum steigert auch, wie wir
gehört haben, das Risiko für Schulversagen und Entwicklungsstörungen. Außerdem erhöht der frühe Cannabiskonsum die Wahrscheinlichkeit eines späteren Drogenmissbrauchs. Das hat nicht nur der Herr Professor
Thomasius festgestellt; auch die Begleitforschung zu
den niederländischen Coffeeshops, die Sie sicher kennen, zeigt, dass niederländische Jugendliche im europäischen Vergleich überdurchschnittlich viel Cannabis konsumieren und früher einsteigen als der europäische
Durchschnitt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus unserer Sicht ist eins klar: Mit uns ist keine Freigabe denkbar und kein Cannabisklub zu realisieren.
({3})
Der Antrag auf Ermöglichung des Drugcheckings war
deutlich differenzierter. Nichtsdestotrotz werden wir
auch diesen Antrag ablehnen. Nur für die Kollegen, die
in diesen Themen nicht drin sind: Beim Drugchecking
geht es, kurz gesagt, um die Analyse illegaler Drogen
auf Verunreinigungen, entweder mobil in Discos oder
bei Veranstaltungen oder immobil in Drogenberatungsstellen. Auch davor hat der Internationale Suchtstoffkontrollrat der Vereinten Nationen gewarnt, vor allem mit
dem Argument, dass ein Testergebnis „Probe enthält
keine Verunreinigung“ von Jugendlichen als Aufmunterung zum weiteren Konsum verstanden werden könnte.
({4})
Aber auch dieser Hinweis des Suchtstoffkontrollrats
wurde in der Anhörung eindrucksvoll bestätigt. Man
sollte nicht glauben, wenn man zuhört, was man aus Anhörungen lernen kann.
Mit dem Drugchecking wird suggeriert, es gebe die
gesundheitlich unbedenkliche Droge. Genau das ist der
falsche Zungenschlag. Drogen sind generell gefährlich.
Beim Drogenkonsum geht es dem Konsumenten doch
gerade um deren toxische Wirkung. Dabei wird eine Sicherheit vorgespiegelt, die es nicht gibt. Drogen werden
nicht in standardisierten Verfahren hergestellt. Die vermeintliche Unbedenklichkeit hinsichtlich einer Tablette
sagt nichts über andere, nicht getestete Einheiten aus.
Selbst identisch aussehende Drogen, die aus dem gleichen Labor stammen, haben oftmals einen unterschiedlichen Wirkstoffgehalt und unterschiedliche Beimengungen. Es müsste also jede einzelne Partie, jede einzelne
Tablette getestet werden.
Heute werden auch die unterschiedlichsten Drogenarten gleichzeitig konsumiert, auch kombiniert mit Alkohol oder mit freiverkäuflichen Medikamenten. Das heißt,
die Wirkungen potenzieren sich und sind kaum oder gar
nicht vorauszusehen.
Der heutige Drogenmarkt ist dynamisch. Um den
Nachweis zu erschweren, wird täglich etwas Neues erfunden, es werden Moleküle ausgetauscht, die Bestandteile in Nuancen verändert. Ich habe bereits bei Cannabis
darauf hingewiesen, dass auch die Beimischungen laufend variiert werden und ständig neue Produkte auftauchen.
Schließlich wird durch Drugchecking der Eindruck
vermittelt, der Drogenbesitz sei legalisiert. Das ist eine
völlig falsche Zielrichtung. Das wird bei uns so nicht
funktionieren.
Ein Schmankerl am Rande. Bei einer Droge, die untersucht und bei entsprechendem Befund anschließend
wieder an den Verbraucher herausgegeben werden
müsste, würde sich derjenige, der die Droge herausgibt,
jetzt strafbar machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit all dem Wissen
lehnen wir beide Anträge ab. Ich bedanke mich insbesondere bei meiner Fraktion für das zahlreiche Erscheinen bei diesem Thema.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Frank Tempel für die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Damit es wenigstens eine Gemeinsamkeit
gibt, möchte auch ich mich für das Erscheinen bedanken; denn das Wichtigste, das diese Debatte braucht, ist
eine gesellschaftliche und breite Debatte.
({0})
Insofern finde ich es ausgezeichnet, dass Sie zu so später
Stunde heute noch einmal hergekommen sind. Es wäre
doch schade gewesen, wenn wir die Reden zu genau diesem Thema zu Protokoll gegeben hätten.
({1})
Ich bin übrigens stellvertretendes Mitglied des Gesundheitsausschusses, der sich genau mit dieser Thematik beschäftigt.
({2})
Deshalb bin ich auch ganz bewusst mit dieser Thematik
beauftragt worden.
({3})
- Ich komme jedes Mal, wenn es um dieses Thema geht,
weil es mein Thema ist.
({4})
Ich möchte Ihnen auch gerne sagen, warum dies so ist.
Ich komme als Kriminaloberkommissar aus der Rauschgiftbekämpfung. Meine Fraktion hat vor drei Jahren einfach den Neustart bei dieser Thematik gemacht.
({5})
- Sie können ruhig mal zuhören. - Man kann auch mal,
ohne gleich in Ohnmacht zu fallen, das Thema Rauschgiftkriminalität, Rauschgiftkonsum und Drogenpolitik
diskutieren, indem man sich die Argumente anguckt und
wenn man sich vielleicht auch mal anguckt, was dazu
aufgeschrieben worden ist.
Ich habe von meiner Fraktion den Auftrag bekommen, einfach einmal zu ermitteln, wie ich es in 16 Jahren
Polizeidienst gelernt habe, was für ein Verbot spricht
und was gegen ein Verbot spricht.
Ich habe zum Konsum selbst keinerlei Affinität und
bin das Thema völlig offen angegangen. Hier geht es
eben nicht darum, infrage zu stellen, ob Cannabis mehr
oder weniger gefährlich ist. Das spielt in unserer ganzen
Debatte überhaupt keine Rolle. Es ist schön, dass Sie
dieses Thema ausführlich behandelt haben, es spielt aber
bei uns keine Rolle.
Ich habe das Thema deswegen zu vertreten, weil es
um die Frage geht: Ist ein Verbot erfolgreich, funktioniert ein Verbot? Wenn der Staat mit einem Verbot und
entsprechender Strafverfolgung in die Grundrechte seiner Bürger eingreift, dann ist das ein sehr empfindlicher
Eingriff in die Rechte eines Bürgers, und dann muss man
gucken, wie das funktioniert. Gucken wir uns doch an,
ob es funktioniert.
Die Niederlande sind angesprochen worden. Ich habe
hierzu Zahlen aus den Niederlanden mitgebracht, auch
für Sie, Frau Maag, zur Lebensprävalenz bei Cannabis.
Dies sind bei den 15- bis 64-Jährigen in Deutschland
25,6 Prozent, in den Niederlanden 22,6 Prozent, also weniger. Sie sprachen von den jungen Leuten, von denen es
angeblich mehr in den Niederlanden gibt. Es sind in
Deutschland bei den 15- bis 24-Jährigen 34,6 Prozent, in
Holland 28,3 Prozent.
Wo ist denn da die Logik? In Holland geht man in seinen Coffeeshop um die Ecke, kauft sich unbehelligt seinen Eigenbedarf und wird nicht strafverfolgt. Trotzdem
funktioniert offensichtlich selbst der Jugendschutz unter
diesem Modell besser.
({6})
Damit Sie auch wissen, woher ich die Zahlen habe:
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und
Drogensucht hat diese Zahlen 2011 bekannt gegeben.
Die können Sie nachlesen. Das kann man googeln. Auch
über Drogenpolitik kann man sich kundig machen.
({7})
- Ich spreche über den Sinn oder Unsinn. Es gibt auch
Hörhilfen, wenn man da Schwierigkeiten hat.
({8})
Ich spreche über den Erfolg oder Nichterfolg der
Strafverfolgung. Wir haben mit keinem Wort - mit keinem Wort! - die Gesundheitsgefährdung durch Cannabis
in Abrede gestellt. Da sind wir d’accord. Da ist überhaupt kein Problem. Es geht vielmehr darum: Funktioniert ein Verbot?
Schauen wir auf weitere Länder in Europa: Die
Schweiz verzichtet bei geringen Mengen auf Strafverfolgung; das ist eine Ordnungswidrigkeit, wesentlich niederschwelliger. Was sich nicht verändert hat, ist die Zahl
der Konsumenten. Überall da, wo man auf eine Strafverfolgung, auf ein Verbot verzichtet, steigt die Anzahl der
Konsumenten nicht. Das ist enorm wichtig. Ein Verbot
ist nur wirklich wirksam, wenn es dann auch eine Veränderung in den Zahlen gibt. Also muss man sagen: Wenn
Sie hier mit dem Mittel der Strafverfolgung arbeiten,
dann arbeiten Sie mit einem ungeeigneten Mittel.
({9})
Sie sagen, dass mit dem Ziel „Verringerung von
Nachfrage und Angebot“ gearbeitet werden muss. Die
Frage ist bloß, wie. Deswegen sagt die Linke: Aufklärung statt Verfolgung, Hilfe statt Ausgrenzung. Dann
bekommt man übrigens auch Fragen wie die des THCGehalts in den Pflanzen geregelt. Streckmittel gibt es
dann nicht mehr.
Ganz zum Schluss für Sie, Frau Graf, noch zu der
Frage, warum der Handel nicht legalisiert werden soll,
aber der Eigenanbau: Handel bedeutet immer Gewinnerzielung. Einem illegalen Markt, der eine gewaltige Kriminalität erzeugt - die Kriminalität, die wir hier haben,
ist ein Nebenprodukt der Strafverfolgung -, entziehen
wir 3 bis 4 Millionen Kunden, Kunden, die auch nicht
auf einen legalen Markt kommen. Ein Verkäufer braucht
Absatz, neue Kunden, mehr Kunden, Kunden, die immer
mehr nehmen. Das fällt beim Eigenanbau weg und ist
auch im legalen Handel nicht zu finden. Deswegen
haben wir extra ein Modell gewählt - das ist eine Ausnahmeregelung für Cannabis -, bei dem Handel nicht legalisiert wird, sondern Kunden sich selbst versorgen und
dann nicht mehr auf Leute angewiesen sind, die wollen,
dass immer mehr Menschen Cannabis konsumieren.
Lediglich die 2 bis 4 Millionen, die jetzt schon Konsumenten sind, bekommen die Gelegenheit, ihren Bedarf
durch Eigenanbau zu decken.
Sie müssen Anträge auch dann lesen, wenn Sie sie
ablehnen wollen.
({10})
Das Wort hat nun Harald Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Auch von mir Hochachtung angesichts
der großen Teilnahme an der Diskussion!
Ich fange an mit einem Zitat von Dr. Gaßmann, dem
Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, die den größten Teil der Suchtkrankenhilfe vertritt. Zitat:
Nach so vielen Jahrzehnten ergebnisloser Diskussionen sind wir nicht mehr an Glaubenssätzen, Meinungen und Allgemeinplätzen zur Prohibition interessiert. Wir erwarten Beweise. Für die Vorteile von
Prohibition wurde noch kein einziger vorgelegt.
Diejenigen dagegen mehren sich von Jahr zu Jahr.
Ob uns das gefällt oder nicht, spielt überhaupt keine
Rolle. Es sei denn, Suchtpolitik wäre eine Geschmacksfrage.
Ich denke, die Suchtkrankenhilfe steht nicht in dem
Ruf, die Risiken psychoaktiver Substanzen zu verniedlichen, und das machen wir auch nicht. Aber was
Dr. Gaßmann und auch wir einfordern, ist nichts weniger
als eine sachliche und faktenbasierte Auseinandersetzung mit den Folgen der herrschenden Drogenpolitik für
Konsumenten und für unsere Gesellschaft, im Übrigen
auch für andere Staaten.
Stattdessen erleben wir ideologische Ablenkungsmanöver; ein Teil davon ist heute zur Sprache gekommen. Da geht es dann um Fragen wie: Ist der THCGehalt gestiegen? Ist Cannabis eine Einstiegsdroge?
Dient Drugchecking der Förderung des Drogenkonsums?
Einmal abgesehen davon, dass man alle diese Fragen
faktenbasiert klar verneinen muss, finde ich sie im Kern
irrelevant.
({0})
Worauf es mir ankommt, ist: Wir müssen grundsätzlich
darüber diskutieren. Sie sind irrelevant, weil die eigentliche Kernfrage lauten muss: Was müssen wir tun, um die
Folgen riskanter Formen des Drogengebrauchs für den
Einzelnen und die Gesellschaft zu minimieren?
({1})
Also nicht „Drogengebrauch, ja oder nein?“, sondern
„Riskanter Drogengebrauch, ja oder nein?“ ist die Frage.
Sicher sind die von Union, FDP und - wie ich heute gehört habe - SPD befürwortete Drogenprohibition und
Repression als Antwort und Lösung gänzlich ungeeignet
und gestrig.
({2})
Es gibt keinen einzigen seriösen wissenschaftlichen Beleg für den Nutzen der Prohibition. Wir wissen das auch
aus der Geschichte, beispielsweise der amerikanischen.
Stattdessen wird mit der Prohibition ein Schwarzmarkt
geschaffen, auf dem keine Regeln gelten und der die
roheste Form eines Marktes darstellt. Dort gibt es keinen
Jugendschutz, keine Öffnungszeiten, keinen Verbraucherschutz, keine Preisregulierung. Das findet alles nicht
statt.
Nur in einem legalen Markt mit vernünftiger Regulierung der Substanzen können Sie die gesundheitlichen
und gesellschaftlichen Schäden verringern. Prohibitive
Politik schafft zusätzliche Risiken und kriminalisiert die
Konsumentinnen und Konsumenten, mit häufig schlimmen Folgen gerade für junge Menschen. Sie hat auch erhebliche Folgen für unsere Gesellschaft. Mehr als zwei
Drittel der gesamten drogenbezogenen Ausgaben des
Staates werden für repressive Maßnahmen ausgegeben,
gehen in die Verfolgung von Konsumentinnen und Konsumenten. Dadurch fehlt es beispielsweise an Geld für
Prävention und Hilfsangebote. Die repressive Säule unserer Drogenstrategie erreicht das angestrebte Ziel überhaupt nicht - in Deutschland nicht und in Europa nicht.
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen, dass die Drogenpolitik auch ein internationales Problem ist. Viele
Beispiele zeigen, dass die Stabilität von Staaten gefährdet wird und elementare Menschenrechte eingeschränkt
werden. Beispielsweise gab es in Mexiko 50 000 Tote im
Drogenkrieg. Ein weiteres Beispiel ist Kolumbien, wo
Korruption und Drogenkartelle den Staat zerstören.
Ähnliche Entwicklungen gibt es in Brasilien, Kenia und
in anderen Staaten.
Ich frage Sie: Wollen wir auf diesem Weg immer weitergehen? Ich glaube, die Antwort der beiden vorliegenden Anträge von den Grünen und den Linken auf diese
Frage ist ganz klar. Nein, so können wir nicht weitermachen. Das realitätsblinde Weiter-so in der Drogenpolitik muss ein Ende haben. Wir brauchen eine ehrliche
Analyse der derzeitigen Drogenpolitik und darauf aufbauend eine grundlegende Reform.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und guten
Heimweg.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Legalisierung von Cannabis durch
Einführung von Cannabis-Clubs“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11556, den Antrag auf Drucksache 17/7196
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen
der Linken und der Grünen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Gesundheitliche Risiken des Drogengebrauchs verringern - Drugchecking ermöglichen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/11911, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2050 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes
- Drucksache 17/12059 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. - Sie sind damit einverstanden.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12059 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt
1) Anlage 12
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
dazu, wie ich sehe, keine anderweitigen Vorschläge.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 22 sowie zu
Zusatzpunkt 6:
22 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Schneider, Katja Dörner, Sven-Christian Kindler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eigenständige Jugendpolitik - Selbstbestimmt
durch Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und
Emanzipation
- Drucksache 17/11376 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan
Schwartze, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mit einer eigenständigen Jugendpolitik Freiräume schaffen, Chancen eröffnen, Rückhalt
geben
- Drucksache 17/12063 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto-
koll zu geben. - Sie sind damit einverstanden.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/11376 und 17/12063 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir das
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbeugung vor und Bekämpfung von Tierseuchen
({3})
- Drucksache 17/12032 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Für die christlich-liberale Koalition hat der Tier-
schutz einen hohen Stellenwert - wir setzen uns für ei-
nen respektvollen Umgang mit Tieren und das Wohl
unserer Mitgeschöpfe ein. In diesem Sinne haben wir
im vergangenen Jahr das Tierschutzgesetz weiterent-
wickelt. In diesem Jahr widmen wir uns mit dem glei-
chen Anspruch der Novelle zum Arzneimittelgesetz und
auch dem Tiergesundheitsgesetz, das wir heute in ers-
ter Lesung beraten.
In der Werbung eines Tiernahrungsherstellers heißt
es: „Ist das Tier gesund, freut sich der Mensch.“ In
dieser Aussage steckt ein wahrer Kern. Die Erkran-
kung von Tieren beeinträchtigt das Tierwohl und ruft
bei uns Menschen häufig Mitleid hervor. In der Land-
wirtschaft stellen Tierkrankheiten ein großes wirt-
schaftliches Risiko für die Betriebe dar. Darüber hi-
naus können Tierkrankheiten eine große Gefahr für
Menschen sein. Wir sehen also: Auch die Gesundheit
von Tieren ist ein hohes Gut. Aus diesem Grund ist es
richtig, dass die Koalition die Förderung der Tierge-
sundheit auf eine neue gesetzliche Grundlage stellen
will. Die Bundesregierung hat deshalb den Entwurf für
ein Tiergesundheitsgesetz vorgelegt.
Mit dem Tiergesundheitsgesetz wollen wir das Tier-
seuchengesetz ersetzen. Das Tierseuchengesetz, des-
sen Ursprünge ins Jahr 1909 zurückreichen, ist vom
Aufbau und Regelungsansatz her veraltet. Es stellt die
Bekämpfung von ausgebrochenen Krankheiten und
Seuchen in den Vordergrund. Das neue Tiergesund-
heitsgesetz hingegen zielt neben der Krankheits- und
Seuchenbekämpfung auch darauf ab, Erkrankungen
und Seuchen vorzubeugen.
Zahlreiche Neuregelungen sorgen dafür, dass bei
der Tiergesundheit die Prävention größeres Gewicht
erhält. So können künftig zu Präventionszwecken in
Betrieben mit Tierbeständen eigenbetriebliche Kont-
rollen und verpflichtende hygienische Maßnahmen an-
geordnet werden. Der Personenkreis, der zur Anzeige
einer Tierseuche verpflichtet ist, wird erweitert. Neben
Amtsveterinären sollen auch Tiergesundheitsaufseher,
Veterinäringenieure, amtliche Fachassistenten und
Bienensachverständige bestimmte Erkrankungen mel-
den. Große Bedeutung kommt dem geplanten Monito-
ring zu. Durch systematische Beprobungen sollen die
zuständigen Behörden die Möglichkeit erhalten, Ge-
fahren für die Tiergesundheit frühzeitig zu erkennen
und gezielt Abwehrmaßnahmen einzuleiten.
Die Intention dieses Gesetzes lässt sich auf einen
einfachen Nenner bringen: „Vorbeugen ist besser als
Heilen.“ Die Vermeidung von Krankheiten dient nicht
nur unmittelbar dem Tierwohl. Gesunde Tiere schonen
auch den Geldbeutel des Tierhalters, weil beispiels-
weise weniger Ausgaben für Tierarzneimittel erforder-
lich sind. Durch bessere Prävention ist zu erwarten,
dass weniger Tierarzneimittel eingesetzt werden müs-1) Anlage 13
sen - dies gilt auch hinsichtlich Antibiotika. Das Tiergesundheitsgesetz unterstützt das Ziel der Koalition,
den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu reduzieren
und Antibiotikaresistenzen zu vermeiden.
Eine Schlüsselrolle bei der Prävention von Krankheiten und Seuchen kommt Impfungen zu. Das Tiergesundheitsgesetz sieht vor, am Friedrich-Loeffler-Institut eine Ständige Impfkommission Veterinärmedizin
einzurichten - vergleichbar mit der Ständigen Impfkommission für die Humanmedizin am Robert-KochInstitut. Aufgabe der Kommission ist es, auf wissenschaftlicher Grundlage Impfempfehlungen abzugeben.
Durch die amtlichem Empfehlungen wird es für Tierärzte und Tierhalter, aber auch für Behörden und für
die Öffentlichkeit verständlicher, welche Impfungen
erforderlich sind und welche nicht.
Mehr Transparenz kann einen Beitrag dazu leisten,
die Impfbereitschaft zu erhöhen und auch die Akzeptanz von Impfungen bei Nutztieren zu verbessern. Es
ist wissenschaftlich erwiesen, dass Fleisch von geimpften und freigetesteten Tieren genauso sicher ist wie
Fleisch von nicht geimpften Tieren. Durch Impfungen
kann vermieden werden, dass bei der Eindämmung
von Seuchen nicht auch noch gesunde Tiere getötet
werden müssen - so wie es bei der Bekämpfung der
Klassischen Schweinepest leider viel zu häufig geschehen ist. Auf europäischer Ebene muss in den Beratungen zum EU-Tiergesundheitsrechtsakt erreicht werden,
dass unbedenkliches Fleisch von geimpften Tieren keinen Handelsrestriktionen unterliegt.
Der Handel mit Tieren und tierischen Erzeugnissen,
die Träger von Tierseuchenerregern sein können,
nimmt sowohl innerhalb der Europäischen Union als
auch mit Drittstaaten zu. Zunehmende Handelsverflechtungen bringen die Gefahr mit sich, dass Tierseuchen nach Deutschland eingeschleppt werden. Um
Seuchengefahren frühzeitig erkennen zu können, sieht
das Tiergesundheitsgesetz sinnvollerweise vor, das
Friedrich-Loeffler-Institut zu beauftragen, das weltweite Seuchengeschehen zu beobachten - so können
wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, um präventiv
Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Der zunehmende Handel mit Tieren und tierischen
Erzeugnissen macht neben der Auswertung des weltweiten Seuchengeschehens noch eine weitere Schlussfolgerung erforderlich. Wir müssen in Europa sowohl
bei der Bekämpfung von Tierseuchen als auch bei der
Prävention effektiv und auf der Grundlage gemeinsamer Standards zusammenarbeiten. Ich begrüße es sehr,
dass die Bundesregierung in Brüssel für eine Harmonisierung des Tierseuchenbekämpfungsrechts eintritt.
Mit dem geplanten EU-Tiergesundheitsrechtsakt sollen nicht nur bestehende Vorschriften zur Tiergesundheit zusammengefasst werden, auch das Prinzip „Vorbeugen ist besser als Heilen“ wird größeres Gewicht
erhalten. Dem tragen wir mit dem neuen Tiergesundheitsgesetz Rechnung.
Lassen Sie uns im parlamentarischen Verfahren
prüfen, ob an dem guten Gesetzentwurf weitere Verbesserungen vorgenommen werden sollten. Ich wünsche mir dabei von der Opposition sachlichere Beiträge als in den zurückliegenden Debatten über die
landwirtschaftliche Tierhaltung.
Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf
eines Gesetzes zur Vorbeugung und Bekämpfung von
Tierseuchen ({0}).
Die Neufassung und Überarbeitung des bestehenden Tierseuchengesetzes ist längst überfällig. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf und den Änderungsvorschlägen des Bundesrates, denen die Bundesregierung auch in weiten Teilen folgen will, soll das Tierseuchenrecht den gestiegenen Herausforderungen auf
europäischer Ebene angepasst werden. Der Gesetzentwurf ist im Hinblick auf die erforderlichen Regelungen
zum Tierseuchenrecht in seinem Kern unstrittig.
Dem Anspruch eines Tiergesundheitsgesetzes wird
dieser Gesetzentwurf jedoch nicht gerecht. Es handelt
sich um einen klaren Fall von Etikettenschwindel. Das
Gesetz will mit seiner Bezeichnung mehr versprechen,
als es tatsächlich einhalten wird. Tiergesundheit ist
mehr als nur das Ziel, Tierseuchen zu vermeiden und
zu bekämpfen. Tiergesundheit erfordert einen ganzheitlichen Ansatz. Tiergesundheit in einem Tierbestand
bedeutet vor allen Dingen ein gutes betriebliches
Hygienemanagement im Bestand.
Und daher sage ich der Bundesregierung ausdrücklich: Es reicht nicht aus, ein paar Vorbeugemaßnahmen ins Gesetz zu schreiben, die der Erhaltung und der
Förderung der Tiergesundheit dienen - und schon haben wir auf Bundesebene ein Tiergesundheitsgesetz. So
einfach geht es nicht!
Wir müssen bestehende Regelungen der TierschutzNutztierhaltungsverordnung und Schweinehaltungshygieneverordnung durch weitere Rechtsgrundlagen
zum betrieblichen Hygienemanagement ergänzen und
weiterentwickeln.
Ich bin der Meinung, dass die Pflichten der Tierhalter, der Tierärzte und anderer Beteiligter vom Stall bis
zur Schlachtung zu einem einheitlichen Rechtsrahmen
zusammengefasst werden. In diesem Rechtsrahmen
sollten die unabdingbaren hygienischen und baulichen
Voraussetzungen erfasst werden, die eine Übertragung von Tierseuchen verhindern sollen. In diesem
Zusammenhang wären auch die daraus resultierenden
Vorgaben und Bestimmungen zur Stallhygiene zu erfassen. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse
- beispielsweise zu den Anforderungen an das Stallklima, zu Schadgaskonzentrationen und zu Luftwechselraten - sollten ergänzt werden. Eine Dokumentationspflicht für regelmäßig vorzunehmende Desinfektionsmaßnahmen in Tierhaltungsbeständen ab einer bestimmten Betriebsgröße wäre in diesem
Rechtsrahmen ebenfalls zu regeln.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch im Hinblick auf eine Antibiotikaminimierungsstrategie und die dazu aktuell geführte Diskussion über die Anwendung von Antibiotika in der Tierhaltung ist eine weitergehende gesetzliche Regelung
dringend notwendig. Das hat auch die Anhörung zum
Arzneimittelgesetz gezeigt.
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass
die Zahl der Verordnungen und damit die Menge der
eingesetzten Antibiotika überwiegend von der Stallhygiene abhängen. Die Mehrzahl der Antibiotikaverordnungen erfolgt aufgrund von Atemwegserkrankungen. Hier gilt es, das Übel an der Wurzel zu
packen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen
im Gesetz so geregelt werden, dass wir ein effizientes
Tiergesundheits- und Hygienemanagement auch im
Hinblick auf die Krankheitsverhütung und das Wohlbefinden der Tiere erreichen. Die Leitlinien des tierärztlichen Berufsstandes zur Bestandsbetreuung
zeigen vorbildlich, wie es geht. Ein regelmäßiges
Monitoring des Tierhygienestatus sowie die tierärztliche Bestands- und Hygieneberatung sind also zwingend vorzuschreiben.
Eine Rechtsgrundlage für das Monitoring über den
Gesundheitszustand der Tiere findet sich zwar im
Gesetz, aber am Ende reicht dies alleine nicht aus. Ich
vermisse wesentliche Durchgriffsrechte und Anordnungsbefugnisse für Kontrollbehörden, wenn sie gravierende Hygiene- und Haltungsmängel in tierhaltenden Betrieben feststellen. Warum berücksichtigen Sie
nicht vorhandenes Wissen und legen ein Gesetz vor,
das dem anspruchsvollen Titel „Tiergesundheitsgesetz“ in vollem Umfang gerecht wird?
In der Anhörung des Deutschen Bundestages zur
Novelle des Tierschutzgesetzes spielten Tierwohlindikatoren eine große Rolle. Auf europäischer Ebene gibt
es bereits weitreichende Vorarbeiten zur Definition
von Tierwohl.
Der Gesundheitsstatus innerhalb einer Tierhaltung
kann anhand weniger Parameter beurteilt werden: Ich
nenne in diesem Zusammenhang Mortalitäts- und
Morbiditätsraten sowie physiologische Kenngrößen,
Verhalten und Leistungswerte.
Die Mortalitätsrate wird bisher als wichtigstes Kriterium nicht erfasst. Auch die Zahl erkrankter Tiere
kann objektiv bestimmt und kontrolliert werden. Die
Dokumentation von Behandlungen findet heute schon
statt. Jedoch werden Organbefunde bei der Schlachtung und erkennbare äußerliche Verletzungen nicht
ausreichend erfasst. Auch sie geben Auskunft über die
Tiergesundheitsstatus des Herkunftsbetriebes. Und
schließlich geben Leistungsdaten wie tägliche Zunahmen, Futterverwertung und Fruchtbarkeit Auskunft
über den Gesundheitsstatus der Tiere.
Diese Erkenntnisse werden bereits seit langem wissenschaftlich belegt. Hier hätte die Bundesregierung
Anknüpfungspunkte für ein ganzheitliches Tiergesundheitsgesetz finden können. So hat die Bundesregierung
ihre Hausaufgaben nur teilweise erledigt. Die tierseuchenrechtlichen Regelungen gehen zwar so weit in
Ordnung. Die Bundesregierung muss zur Tiergesundheit jedoch noch nacharbeiten.
Das alte Tierseuchengesetz hat ausgedient. Es
wurde 1909 im Kaiserreich beschlossen und geht auf
ein Gesetz aus dem Jahr 1880 zurück. Trotz einiger
Änderungen besteht es in seinen Grundzügen noch
heute. Es wird den aktuellen Herausforderungen nicht
mehr gerecht, die entstanden sind durch globale Handelsströme, durch umfangreiche Reiseaktivitäten der
Menschen über Kontinente hinweg und sich ändernde
klimatische Bedingungen. Tierseuchenerreger können
so über unzählige Wege nach Deutschland gelangen.
Vor diesem Hintergrund und angesichts eines stetig zunehmenden internationalen Handels mit Tieren und
tierischen Erzeugnissen werden wirksame Vorbeugung
und schnelle Krisenreaktion immer wichtiger. Das Auftreten völlig neuer, unbekannter Krankheitserreger wie
des Schmallenberg-Virus und des Blauzungenvirus, die
afrikanischen Virenstämmen ähneln, haben uns das
deutlich vor Augen geführt.
Wir Liberale haben bereits im März letzten Jahres
gefordert, das Tierseuchengesetz zu modernisieren. Im
Hinblick auf die umfangreichen Änderungen, die das
BMELV und die christlich-liberale Koalition in den
letzten Monaten erarbeitet haben, ist der Begriff
„Tiergesundheitsgesetz“ wesentlich angemessener.
Denn mit der Namensänderung verbindet sich ein
neuer, verbesserter Ansatz. Wir wollen auftretende
Seuchen und neue Krankheiten nicht erst dann bekämpfen, wenn sie bei uns in Erscheinung treten, sondern wir wollen ihnen mit dem neuem Gesetz wirkungsvoll vorbeugen. Das Gesetz dient damit der
Erhaltung und Förderung der Tiergesundheit. Mittelfristig sollte das Tiergesundheitsgesetz auch um den
Bereich der Tierarzneimittel ergänzt werden, um alle
Aspekte der Tiergesundheit in einem Gesetz zu vereinen.
Eine der wichtigsten Neuerungen ermöglicht es
jetzt, für neue Tierseuchen sehr zügig eine Anzeigepflicht ohne vorherige Zustimmung des Bundesrates
einzuführen. Entsprechenden Verordnungen musste
bisher immer der Bundesrat zustimmen. Dies kann
jetzt auch nachträglich erfolgen. Die Anzeigepflicht
ermöglicht es den Landwirten, von der Tierseuchenkasse finanzielle Hilfen für ihre erkrankten und verstorbenen, aber auch für vorsorglich gekeulte Tiere zu
erhalten. Ebenso wird es durch eine Anzeigepflicht
einfacher, das epidemiologische Geschehen zu verfolgen und Strategien gegen die weitere Ausbreitung und
zukünftige Ausbrüche zu entwickeln. In dem neuen Gesetz stehen die Vorbeugung und der Schutz vor Tierseuchen im Vordergrund. Aber auch die Bekämpfung
und die Überwachung des Seuchengeschehens werden
optimiert. Dazu wurde der Personenkreis, der zur Anzeige einer anzeigepflichtigen Tierseuche verpflichtet
ist, erweitert. Es wurden die Befugnisse ausgedehnt,
Zu Protokoll gegebene Reden
vorbeugende Maßnahmen anzuordnen, beispielsweise
eigenbetriebliche Kontrollen und die Durchführung
hygienischer Maßnahmen. Dazu gehört auch die Einführung einer Ständigen Impfkommission Veterinärmedizin. Dem Grundsatz „Impfen statt Töten“, den wir
Liberale auch bereits seit langem fordern, wird damit
noch stärker Rechnung getragen. Dieses Ziel wird von
allen Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam
verfolgt.
Ein weiterer Schwerpunkt des Tiergesundheitsgesetzes ist die Möglichkeit eines Monitorings über den
Gesundheitsstatus von Tieren. Das beginnt mit einer
ständigen Beobachtung der weltweiten Tiergesundheitslage, die zukünftig vom Friedrich-Loeffler-Institut, FLI, mit Blick auf eine mögliche Einschleppung
von Tierseuchenerregern durchgeführt wird. Es setzt
sich fort mit einer Bewertung der möglichen Gefahrensituation beim Auftreten einer Tierseuche und mit der
Beratung der zuständigen Behörde und des neuen Zentralen Krisenstabs „Tierseuchen“ zur Vorbeugung, Erkennung und Verhinderung der Verschleppung. Wir
Liberale begrüßen es, dass die Bundesregierung diese
sinnvolle Forderung des Bundesrates im weiteren Verfahren umsetzen wird. Auch wenn das FLI diese Aufgaben grundsätzlich bereits jetzt wahrnimmt, werden sie
nun rechtlich bindend festgeschrieben und den aktuellen Entwicklungen angepasst.
Bei diesem Monitoring setzen wir auf die freiwillige
Mitarbeit von Schwerpunktbetrieben, welche sich in
Gebieten mit erhöhtem Gefährdungspotenzial befinden. Diese können beispielsweise in der Nähe internationaler Flughäfen, der Landesgrenze, in Gebieten mit
klimatischen Besonderheiten oder anderen Hotspots
liegen. So liegen die Orte des ersten Auftretens der
Blauzungenkrankheit und des Schmallenberg-Virus
nicht weit voneinander entfernt. Das neue Monitoring
soll Erkenntnisse darüber bringen, wo neue Krankheiten zuerst auftreten und wie sie sich verbreiten. Auch
können mit Schwerpunktbetrieben die Folgen des
Krankheitsgeschehens auf den Bestand insgesamt und
mögliche Immunisierung erkrankter aber nicht verstorbener Tiere effizienter und langfristig untersucht
werden. Die FDP setzt sich für eine bestmögliche Ausstattung der Forschung auf diesen Gebieten ein. Denn
Vorsorge ist langfristig immer besser als die Bekämpfung von Epidemien und zahlt sich aus. Grundsätzlich
begrüßenswert ist das Ziel der Bundesregierung,
Nachweismethoden für Tierseuchen, insbesondere sogenannte In-vitro-Diagnostika, erst zuzulassen, wenn
deren Qualität nachgewiesen ist. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich im parlamentarischen Verfahren
dafür einsetzen, dass eine praktikable Ausgestaltung
des Zulassungsverfahrens erfolgt. Wir setzen uns dafür
ein, dass vor allem kleine und mittelständische Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die häufig bei
neuen oder seltenen Erregern besonders schnell und
innovativ reagieren, nicht ausgegrenzt werden.
Eine bessere Tiergesundheit ist im Interesse der gesamten Gesellschaft. Zusammen mit der Novellierung
des Arzneimittelgesetzes schaffen wir beim Tiergesundheitsgesetz gute rechtliche Grundlagen zur stetigen Verbesserung der Tierhaltung. Vorbeugen statt
heilen, impfen statt keulen, dies sind wichtige Grundsätze nicht nur in der christlich-liberalen Koalition.
Wir stärken die Tierhaltungsbetriebe, erleichtern die
Hilfen über die Tierseuchenkassen und mindern den
Medikamenteneinsatz. So können wir den kommenden
Herausforderungen durch alte und neue Tierseuchen
gestärkt und energisch entgegenwirken.
Im Jahr 2012 trat eine neue Tierseuche mit großen
Schäden vor allem in Schafbeständen auf. Als Ursache
wurde später ein bislang völlig unbekanntes Virus
identifiziert, das nach dem ersten Ort benannt wurde,
wo die Erkrankung auftrat: das Schmallenberg-Virus.
Aber auch in den Jahren davor erkrankten Nutztierbestände an neuen oder bislang hier unbekannten Krankheiten. Erinnert sei an die Blauzungenkrankheit bei
Schafen und Ziegen oder das Blutschwitzen der Kälber. Das sogenannte Vogelgrippe-Virus verbreitete
sich in einer bislang nicht gekannten Geschwindigkeit
von Asien bis nach Europa und löste eine Debatte über
das Risiko von Pandemien aus, also Infektionserkrankungen, die sich ohne zeitliche und räumliche Beschränkungen ausbreiten und damit besonders riskant
sind. Es gibt auch Bestandserkrankungen, deren Ursache sehr lange ungeklärt bleiben, wie beim sogenannten chronischen Botulismus der Rinder.
Fazit: Tiererkrankungen und Tierseuchen sind unterdessen zu existenzbedrohenden Risikofaktoren für
Landwirtinnen und Landwirte geworden, ganz davon
abgesehen, dass solche Situationen Bäuerinnen und
Bauern auch emotional stark belasten. Auch deshalb
muss das Thema Tiergesundheit in der Politik viel höhere Priorität bekommen. Das gilt selbstverständlich
auch für Kontrollbehörden und Tierärzteschaft. Gemeinsam tragen wir die Verantwortung für gesunde
landwirtschaftliche Nutztierbestände und ihren Schutz
vor Erkrankungen und Tierseuchen. Dazu werden
auch tiergerechtere Haltungsbedingungen gebraucht
und eine integrierte tierärztliche Bestandsbetreuung.
Das hat die Linksfraktion auch im Zuge der Diskussionen zur Novelle zum Arzneimittelgesetz und den zu
Recht kritisierten hohen Antibiotikaverbrauch in
Deutschland gefordert.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnen
seit langem vor steigenden Infektionsrisiken durch den
globalisierten Handel und Personenverkehr. Auch die
Folgen des Klimawandels tragen zu neuen Risiken bei,
insbesondere wenn Infektionskrankheiten durch Insekten oder andere Vektoren übertragen werden. So haben
unterdessen selbst die Afrikanische Pferdepest, African Horse Sickness, AHS, die Chikungunya-Infektion,
die Afrikanische Schweinepest und das West-Nil-Virus,
WNV, ein Gefährdungspotenzial für europäische Tierbestände.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ein „Einfach weiter so“ kann es deshalb aus meiner
Sicht nicht geben. Die Agrarforschung, insbesondere
die epidemiologische Forschung, muss dringend gestärkt werden, um die Ausbruchs- und Verbreitungsrisiken besser zu kennen und Handlungskonzepte zu ihrer Vermeidung bzw. zur Schadensbegrenzung zu
entwickeln. Doch leider handeln seit vielen Jahren die
Bundesregierungen aller Farbenspiele jenseits richtig
Rot entweder nicht oder genau entgegengesetzt. Gerade weil die Bedrohungen immer größer werden, fordert die Linksfraktion ein epidemiologisches Zentrum,
das sich mit den drängenden angewandten Fragestellungen befasst, die sich in den Tierhaltungsbetrieben
stellen.
Die Linksfraktion hat sich im Jahr 2012 intensiv mit
der problematischen Tiererkrankungssituation beschäftigt und einen eigenen Antrag dazu vorgelegt,
Bundestagsdrucksache 17/9580. Immer häufiger sehen
sich tierhaltende Betriebe unverschuldet und ungeschützt mit bisher unbekannten oder zurückkehrenden
Infektionsrisiken konfrontiert. Zusätzlich tragen hohe
Bestandsdichten in den Ställen und in einigen Regionen zum steigenden Tierseuchenrisiko bei, deren Folge
das Töten großer Bestände aus Gründen des Seuchenund Verbraucherschutzes bedeuten kann. Klimawandel
und Globalisierung erhöhen das Risiko von Tierseuchen und -erkrankungen, die existenzgefährdend für
landwirtschaftliche Betriebe sind. In solchen bedrohlichen, aber kaum vermeidbaren oder zumindest nicht
selbst verschuldeten Situationen greifen die bisher verfügbaren Regularien - staatliche Feststellung, Tierseuchenkassen - nicht oder zu spät. Daher hält die
Linksfraktion einen Notfonds für tierhaltende Betriebe
für dringend notwendig. Der Antrag wurde leider abgelehnt.
Der heute vorliegende Entwurf eines Tiergesundheitsgesetzes geht aus Sicht der Linksfraktion in die
richtige Richtung. Viele Forderungen der Tierärzteschaft wurden in den Gesetzentwurf eingearbeitet. Das
ist gut so. Die Kritikpunkte der Agrarwirtschaft sollten
wir im Ausschuss diskutieren.
Dem Ansatz der Vorbeugung wird im Tiergesundheitsgesetz eine neue, ebenso wichtige Priorität gegeben. Im bisherigen Tierseuchengesetz war dies nicht
so. Das ist ein Fortschritt. Der Schutz der Menschen
vor Zoonosen sollte allerdings auch im Gesetzeszweck
festgehalten werden, finde ich. Unverständlich ist, warum die umfangreichen Änderungsvorschläge des
Bundesrates so wenig berücksichtigt werden. Das wird
im Agrarausschuss noch zu diskutieren sein. Für die
Linksfraktion geht es darum, weiterhin eine möglichst
hohe Effektivität bei der Verhütung und Bekämpfung
von Tiererkrankungen zu sichern. Dabei sind auch
Tierhalterinnen und Tierhalter stärker in die Pflicht zu
nehmen. Sie haben direkten Einfluss auf ihre Tiere und
die Haltungsbedingungen. Gesunde Tierbestände sind
ein Gemeinschaftswerk.
Immer mehr lebende Tiere und tierische Produkte
werden innerhalb der EU transportiert, und auch der
Handel mit Drittländern nimmt stetig zu. Damit steigt
auch die Gefahr der Übertragung von Tierseuchen.
Das Tiergesundheitsgesetz - für mich eigentlich immer
noch besser das Tierseuchengesetz - rückt die Prävention in den Mittelpunkt. Das ist richtig. Das wollen wir
Grüne. Und auch die geplante Möglichkeit für
Monitoringprogramme sowie die ständige Impfkommission am Friedrich-Loeffler-Institut sind prinzipiell
sinnvoll.
Vor allem aber ist es richtig, „Impfen statt Töten“
endlich zum Grundsatz zu erheben. Dafür haben wir
uns bereits in einem fraktionsübergreifenden Antrag
im Bundestag ausgesprochen. Gleiches fordert nun der
Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Tiergesundheitsgesetz. Dem müssen wir folgen.
Jeder von uns sieht noch die grauenvollen Bilder
von Bergen in Großbritannien gekeulter, brennender
Tiere mit Vogelgrippe oder Maul- und Klauenseuche
vor sich. Dieses unnötige Töten Zighundert, Tausender
Tiere müssen wir verhindern. Bei vielen Tierkrankheiten wird die Impfung längst als völlig selbstverständlich angesehen, auch bei lebensmittelerzeugenden Tieren. Das muss, wo immer möglich, zum
Normalfall werden. Und wir müssen überlegen, wie
wir die in den Verordnungen festgelegten, oft übergroßen Sperrkreise, die um den Seuchenherd gezogen
werden, flexibler handhaben können.
Bei aller Hygiene und Prävention müssen wir uns
aber auch fragen: Wohin führt unsere Art der immer
weiter industrialisierten tierischen Produktion?
Längst ist bekannt, dass Regionen mit viel zu hohen
Tierdichten übermäßig anfällig sind für Tierseuchen.
Damit gefährden sie auch Regionen mit vernünftigen
Viehdichten. Trotzdem geht der Aufwuchs an Ställen in
den völlig überlasteten Regionen weiter. Alleine im
Kreis Vechta wurden in den letzten drei Jahren 3 Millionen Tierplätze für Masthühnchen beantragt, und
das, obwohl Vechta bereits zu den viehdichtesten Regionen Deutschlands gehört. Betriebe mit mehreren
Hunderttausenden Tieren stellen potenzielle Brandherde für Tierseuchen dar.
Trotz aller bekannten Fakten will die schwarz-gelbe
Bundesregierung nicht steuernd eingreifen oder
wenigstens den Kommunen brauchbare Instrumente
zur Steuerung von Tierfabriken an die Hand geben.
Auch Tiertransporte verbreiten Tierkrankheiten.
Trotzdem hat die Zahl der Tiertransporte in den letzten
Jahren immer weiter zugenommen. Innerhalb der EU
nimmt Deutschland bei den Lebendtiertransporten
eine wichtige Rolle ein: 70 Prozent der in der EU
transportierten Schweine gehen nach Deutschland.
Viele Zehntausende lebende Schweine, die bis zum
Ural transportiert werden, führen dazu, dass jede
lokale Epidemie zur globalen Gefahr wird. Es ist also
Zu Protokoll gegebene Reden
eine zweifelhafte Strategie, die die Bundesregierung
betreibt.
Ebenso sieht es bei der Antibiotikaproblematik aus.
Gerne wird betont, dass Schutzimpfungen auch die
Gaben von Arzneimitteln, insbesondere Antibiotika,
senken können. Das ist zwar richtig, aber auch hier
ignoriert die Bundesregierung beharrlich, dass vor allem die Haltungsbedingungen in der Nutztierhaltung
verbessert werden müssen, wenn wir den Antibiotikaeinsatz wirksam senken wollen.
Tatsache ist: Tiere, die artgerecht mit ausreichend
Platz, Auslauf und artgerechtem Futter gehalten
werden, sind widerstandsfähiger und gesünder. In bäuerlichen Betrieben mit ein paar Hundert Tieren ist der
Tier-Mensch-Kontakt größer als in automatisierten
Anlagen mit Tausenden von Tieren, und Krankheiten
werden schneller erkannt. Tritt eine Tierseuche auf,
kann sie sich nicht so rasch verbreiten wie in einer
Intensivtierhaltung mit mehreren Hunderttausend Tieren.
Das Tiergesundheitsgesetz kann daher nur ein Baustein in einer Strategie für gesunde Tierbestände sein.
Wichtiger ist, dass wir die Haltungsbedingungen
grundsätzlich ändern, unter dem Motto: Für eine neue
Haltung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12032 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt
dazu, wie ich sehe, keine anderweitigen Vorschläge.
Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Steffen Bilger, Peter Götz,
Armin Schuster ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Werner Simmling, Birgit
Homburger, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Projektbeiratsbeschluss bei der Rheintalbahn
umsetzen
- Drucksachen 17/11652, 17/11932 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Rheintalbahn ist eines der ganz besonders
wichtigen deutschen Schienenprojekte - auch international gesehen: Immerhin gibt es bereits seit 1998 eine
Vereinbarung mit der Schweiz darüber; dazu führt die
Strecke von Rotterdam bis nach Genua über diesen Abschnitt. Es war und ist in unseren Beratungen immer
unstrittig gewesen: Besondere Projekte verdienen besondere Behandlung. Für dieses Verständnis bin ich
allen Kollegen sehr dankbar. Nicht zuletzt deshalb gibt
es jetzt bereits den zweiten Antrag der Koalitionsfraktionen zur Rheintalbahn in dieser Wahlperiode. An der
Umsetzung dieses Bahnvorhabens sind die Bürgerinnen und Bürger vor Ort maßgeblich beteiligt. Ich bin
froh darüber, wie konstruktiv die Anwohner sich in
Bürgerinitiativen oder über ihre kommunalen Vertreter
einbringen. Dafür möchte ich mich an erster Stelle
ganz herzlich bedanken.
Die berechtigten Anliegen der Anwohner und deren
Engagement für die Umsetzung der Rheintalbahn verdienen und erhalten unsere Unterstützung aus der
Politik. Auch deshalb haben CDU/CSU und FDP diesen Antrag eingebracht. Mit der Verabschiedung des
Antrags machen wir den Weg frei dafür, dass das Bundesverkehrsministerium die im Projektbeirat besprochenen Mehrkosten für den Bund umsetzen kann. Dazu
haben wir diesen Antrag schnell - und im Einvernehmen mit der Opposition - durch die parlamentarischen
Gremien gebracht. So herrscht nun für alle Beteiligten
Klarheit.
Viele haben daran gezweifelt, dass die Rheintalbahn
tatsächlich Modellprojekt für die Abschaffung des
Schienenbonus werden wird, ja sogar daran, dass der
Schienenbonus insgesamt abgeschafft wird und dass
die Mehrkosten für den menschen- sowie umweltverträglichen Ausbau der Rheintalbahn wirklich von
Bund und Land übernommen werden. Aber der Bund
hat geliefert. Die christlich-liberale Koalition steht zu
ihren Zusagen und hat sie umgesetzt. Der sogenannte
Schienenbonus wurde im letzten Jahr abgeschafft. Nun
ist auch gesetzlich klar: Lärm ist Lärm, es gibt keinen
Unterschied mehr zwischen gutem oder schlechtem.
Die bereits beschlossenen und angekündigten Verbesserungen sind auch ein Erfolg der Region für die Region. Hieran haben einen maßgeblichen Anteil die
Bürgerinitiativen entlang der Rheintalbahn. Mit ihrer
Rückendeckung haben sich in Berlin meine Kollegen
vor Ort eingesetzt. Stellvertretend möchte ich hier vor
allem Armin Schuster und Peter Weiß erwähnen. Daneben waren es viele andere Kollegen aus der CDULandesgruppe Baden-Württemberg und die Verkehrspolitiker der Koalition. Dieser geballte Einsatz machte
den Erfolg möglich. Vielen Dank auch an dieser Stelle
für die gute Zusammenarbeit.
Durch dieses gemeinsame Vorgehen konnten dringend notwendige Nachbesserungen in Weil am Rhein
und Eimeldingen erreicht werden. Nach der Optimierung des kürzlich fertiggestellten Katzenbergtunnels erfolgt jetzt die Umsetzung der Kernforderungen 3 und 4,
auf die mein Kollege Ulrich Lange in seinem Beitrag
im Detail eingehen wird, wobei der die Gemeinde Riegel betreffende Bereich nochmals gesondert betrachtet
werden soll.
Doch nun zum Katzenbergtunnel. Er ist der längste
zweiröhrige Tunnel im deutschen Netz, und BundesSteffen Bilger
verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat diesen persönlich im letzten Dezember in Betrieb genommen. An
dieser Stelle gilt mein Dank auch ihm und seinem Haus
- besonders den Staatssekretären Professor KlausDieter Scheurle und Michael Odenwald - für die große
Unterstützung bei der Rheintalbahn. Staatssekretär
Odenwald wird übrigens am kommenden Montag die
Region bereisen, um mit den betroffenen Städten, Gemeinden und Bürgermeistern zu sprechen. Dankbar
bin ich auch für die kooperative Haltung der Deutschen Bahn AG.
Bei den besprochenen Nachbesserungen gegenüber
der ursprünglichen Planung bei der Rheintalbahn war
immer klar, dass sich Bund und das Land BadenWürttemberg die Kosten je zur Hälfte teilen. Nur durch
dieses gemeinsame Vorgehen konnte dieser Erfolg erreicht werden. So war es mit der CDU-Landesregierung abgesprochen gewesen, und so waren die Signale
der grün-geführten Nachfolgeregierung - und so sieht
es der einstimmige Landtagsbeschluss vom 8. Dezember 2011 ebenfalls vor. Nun bin ich mit meinen
Unionskollegen etwas irritiert darüber, dass sich die
Begeisterung über diesen Landtagsbeschluss bei Ministerpräsident Kretschmann offensichtlich in Grenzen
hält. Zumindest war der Presse zu entnehmen, dass er
sich beim Bürgerempfang in Heitersheim dahin gehend äußerte, „nicht glücklich“ über die Kofinanzierung zu sein. Was heißt das für die kommenden Abschnitte? Sollte ein Kompromiss am fehlenden
Engagement des Landes scheitern, so wissen wir bereits, an wen sich die Bürger wenden müssen - das
Land Baden-Württemberg und seine Regierung. Das
übliche Spielchen von Herrn Kretschmann, immer nur
nach einer Finanzierung durch den Bund zu rufen, ist
ein Offenbarungseid seiner Politik, wie wir es auch bei
Fragen der Bildung, Betreuung, Energiepolitik und
fast in jedem anderen Bereich erleben. Wir werden
Herrn Kretschmann jedenfalls an den Landtagsbeschluss erinnern, wenn er nichts mehr davon wissen
will.
Es ist schließlich noch viel zu tun. Eine Lösung für
Offenburg muss noch genauso her wie für den Abschnitt zwischen Offenburg und Freiburg und für die
niveaufreie Verknüpfung bei Buggingen. Bedauerlicherweise bekommen die Kollegen im Stuttgarter Landtag
keine vernünftigen Antworten, wie sich die Landesregierung hier verhalten will. Das Verhalten der Landesregierung ist umso merkwürdiger, da es immer die
Grünen im Bundestag gewesen waren, die am lautesten eine Mitfinanzierung des Landes gefordert haben.
Nun, da Landesverkehrsminister Winfried Hermann
nicht mehr Oppositionspolitiker im Bundestag, sondern Regierungspolitiker im Land ist, zeigt sich mal
wieder: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Sprich:
Regieren ist schwerer als opponieren. Die Koalition
mit unserer Mehrheit im Bundestag und die von uns
getragene Bundesregierung jedenfalls stehen weiterhin zu ihren Zusagen, um die Menschen entlang der
Rheintalbahn bestmöglich bei ihren berechtigten Forderungen zu unterstützen.
Ein schönes Zeichen für die Anwohner war zumindest schon einmal, dass der federführende Ausschuss
des Deutschen Bundestages, der für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung, in seiner Sitzung am 12. Dezember
2012 einstimmig dem vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionen zugestimmt hat. Die Ausschüsse für
Haushalt und Tourismus haben sich ebenso verhalten.
Merkwürdigerweise haben sich im Finanzausschuss
SPD und Grüne enthalten sowie in den Ausschüssen
für Wirtschaft und Umwelt die Grünen. Ich hoffe und
werbe dafür, dass der Deutsche Bundestag sich dem
Votum des federführenden Verkehrsausschusses anschließt und einstimmig unserem CDU/CSU-FDP-Antrag zustimmt.
Wir sind uns alle darin einig, dass wir mehr Güter
auf die Schiene bringen wollen. Damit wollen wir auf
der einen Seite unser Straßennetz entlasten, gleichzeitig aber auch den CO2-Ausstoß reduzieren.
Die Ausbau- und Neubaustrecke Karlsruhe-Basel
ist Bestandteil des wichtigsten europäischen Güterkorridors Rotterdam-Köln-Basel-Mailand-Genua.
Die Verkehrsachse zwischen den holländischen Häfen
und dem Mittelmeer zählt zu den durch die EUVerkehrspolitik als vorrangig eingestuften transeuropäischen Netzen, TEN, die mit modernster Technologie
Europa näher zusammenbringen sollen.
Die genannte Strecke ist der wichtigste nördliche
Zulauf zur Neuen Eisenbahn-Alpentransversale,
NEAT, mit ihren zentralen Projekten Gotthard- und
Lötschberg-Basistunnel. Mit der Fertigstellung der
NEAT in der Schweiz wird die Strecke zu einem der
wichtigsten Schienenstränge in Europa, der über
Mailand bis nach Genua führt. Die Realisierung der
leistungsfähigen Alpenquerung schafft die Voraussetzungen, um im Eisenbahnverkehr zwischen der
Schweiz und Deutschland den Schwerlastverkehr von
der Straße auf die Schiene zu verlagern.
Die Aus- und Neubaustrecke Karlsruhe-Basel ist
damit auch eines der wichtigsten Verkehrsinfrastrukturprojekte des Bundes. Die 182 Kilometer lange
Strecke gehört zu den am stärksten befahrenen Magistralen im Netz der Bahn. Die Fertigstellung der Ausund Neubaumaßnahme ist für 2020 geplant.
Wir sind uns natürlich auch darüber im Klaren,
dass dieser Ausbau zu einer Zunahme des Schienenlärms führen wird. Für 2025 werden bis zu 335 Güterzüge täglich auf der Strecke prognostiziert. Aus diesem
Grund wurden viele Bürgerinitiativen gegen den Bau
gegründet. Um zu einer einvernehmlichen Lösung zu
kommen, wurden die Bürgerinnen und Bürger bei den
Planungen einbezogen. Hierzu wurde am 5. September
2009 der sogenannte Projektbeirat gegründet. Im Projektbeirat sitzen neben Vertretern der Bundesregierung, der Deutschen Bahn AG, der Landesregierung
und Landkreise auch Mitglieder der IG BOHR, dem
Zu Protokoll gegebene Reden
Dachverband der Bürgerinitiativen entlang der
Rheintalbahn.
Im Projektbeirat einigte man sich darauf, dass
zusätzlich zu den geplanten Schutzmaßnahmen im
Zuge der Ausbaumaßnahmen weitere Investitionen, die
über das gesetzlich erforderliche Maß hinausgehen,
durchgeführt werden sollen.
Die letzte Sitzung des Projektbeirates fand am
5. März 2012 statt. Schwerpunktthemen waren die sogenannten Kernforderungen 3 und 4, die Güterumfahrung Freiburg sowie die Bürgertrasse. Im Rahmen der
Güterumfahrung Freiburg ist die Realisierung von
Einhausungen und Galerien sowie von zusätzlichen
Schall- und Habitatschutzwänden in einer Größenordnung von maximal 84 Millionen Euro beschlossen
worden.
Die weitere Kernforderung betrifft im Bereich der
Bürgertrasse im Markgräflerland die Realisierung einer ebenerdig geplanten Antragstrasse in Tieflage
durch Trogbauwerke und steil geböschte Polsterwände
mit Überführungen als Landschaftsbrücken sowie einer, soweit rechtlich möglich, westlichen Umfahrung
Buggingen mit einem Kostenaufwand von maximal
166 Millionen Euro.
Bund und Land Baden-Württemberg haben sich bei
der Finanzierung von zusätzlich maximal 250 Millionen Euro darauf geeinigt, die Kosten jeweils zur Hälfte
zu tragen.
Abschließend möchte ich noch betonen, dass die
Bildung des Projektbeirates ein sehr gutes Beispiel für
die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Verkehrsprojekten ist. Den gewachsenen Ansprüchen
nach mehr Teilhabe an Infrastrukturentscheidungen
wurde ausgezeichnet nachgekommen. Es führt zu einer
Akzeptanzverbesserung bei den kommenden vor uns
liegenden Infrastrukturmaßnahmen. Ein Danke an
dieser Stelle an unseren Bundesverkehrsminister
Dr. Peter Ramsauer, der sich die größere Bürgerbeteiligung auf die Fahnen geschrieben hat!
Großprojekte müssen nicht aus dem Ruder laufen,
es geht auch anders. Ein positives Beispiel ist der Ausbau der Rheintalbahn. Dank mehr Bürgerbeteiligung
und einer Politik des Zuhörens wird es transparenter
und sachorientierter. Dank auch den Menschen vor
Ort in Südbaden: Seit Jahren begleiten sie konstruktiv
den viergleisigen Ausbau von Karlsruhe bis Basel. Sie
haben sich sachkundig gemacht, Gespräche mit Politikern und Verantwortlichen geführt und Überzeugungsarbeit geleistet. Mit großem Engagement und Sachverstand wurden Vorschläge gemacht und das Konzept
„Baden 21“ erarbeitet.
Wenn die Bahn und die Politik auf Landes- und
Bundesebene diesen Weg weiter verfolgen, kann der
Ausbau der Rheintalbahn eine Geschichte erfolgreicher Bürgerbeteiligung werden, ein Beispiel aktiver
Zivilgesellschaft: Bürgerinnen und Bürger, Vertreter
von Kommunen entlang der Bahnstrecke, Bürgerinitiativen wie die Interessengemeinschaft Bahnprotest an
Ober- und Hochrhein „IG BOHR“ Gemeinderäte,
Stadträte und Bürgermeister wie zum Beispiel aus
Lahr, Kenzingen, Herbolzheim, Riegel, Hohberg,
Ettenheim, Kappel-Grafenhausen und Meißenheim,
die Anfang März 2012 nach Berlin gereist sind, um mit
Mitgliedern des Verkehrsausschusses zu diskutieren.
Alle setzen sich über Parteigrenzen hinweg ein für ihr
Anliegen, für ihre Region. Sie wollen mitreden, haben
eigene Ideen. Die Menschen im Südwesten stehen zu
einem menschen- und umweltverträglichen Ausbau
der Rheintalbahn. Sie bekennen sich zur Verlagerung
der Güter von der Straße auf die Schiene und unterstützen den Ausbau der Schiene. Das ist wichtig.
Nur der viergleisige Ausbau verhindert den
Verkehrskollaps entlang der Rheinschiene. Nur mit
mehr Kapazitäten auf der Schiene wird eine Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene erreicht.
Nur so gibt es eine Entlastung auf den Straßen in
Baden-Württemberg und somit weniger Staus und
Abgase. Dies steht im Einklang mit der EU-Verkehrspolitik, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Der Neu- und Ausbau der Rheintalbahn für den
Güterverkehr ist nicht nur für Baden-Württemberg von
zentraler Bedeutung, sondern auch für Deutschland
und unsere europäischen Nachbarn. Mehr Güter von
der Straße auf die Schiene zu bringen, ist so möglich.
Und Deutschland ist in der Pflicht gegenüber der
Schweiz. Die Bundesregierung muss den Vertrag von
Lugano 1996 umsetzen. Sie hat sich verpflichtet, die
Rheintalstrecke zwischen Karlsruhe und Basel als
Zulaufstrecke zu den NEAT-Tunneln, Neue EisenbahnAlpentransversale, Gotthard und Lötschberg viergleisig auszubauen.
Wir, die SPD auf kommunaler, Landes- und Bundesebene, unterstützen die alternative Trassenführung
„Baden 21“, ein Konzept, das Kommunen und die IG
BOHR entwickelt haben, eine Alternativplanung, die
über 90 Kilometer von Offenburg bis südlich von
Buggingen im Markgräflerland reicht, eine Alternativplanung, die von den Menschen selbst erarbeitet
wurde, die akzeptiert wird am Oberrhein, wovon ich
mich selbst bei zahlreichen Terminen vor Ort, bei vielen Gesprächen überzeugen konnte. „Baden 21“
bedeutet ein Güterzugtunnel durch Offenburg; eine
autobahnparallele Trasse von Offenburg bis Riegel,
die Lärm meidet und Ackerland schont; Mittel- und
Teiltieflagen mit lokal verstärkten Lärmschutzmaßnahmen von Riegel bis Mengen; eine teilgedeckelte
Tieflage von Mengen bis südlich Buggingen.
Beim Ausbau der Rheintalbahn werden bei der
Planung neue Wege gegangen. Im Juli 2009 wurde in
der Großen Koalition von Bundesverkehrsminister
Tiefensee der Projektbeirat Rheintalbahn ins Leben
gerufen. Darin diskutieren Vertreterinnen und Vertreter der Deutschen Bahn AG, der Bundes- und der
Landesregierung, Landräte, Bürgermeister und Mitglieder der Bürgerinitiativen. Gemeinsam führen der
Zu Protokoll gegebene Reden
Bund und das Land Baden-Württemberg den Vorsitz.
Der Projektbeirat bewertet noch vor dem jeweiligen
Planfeststellungsbeschluss die vorgeschlagenen Varianten, schlägt alternative Lösungen vor und lässt Verbesserungen zum Beispiel zum Lärmschutz einfließen.
Für viele Streckenabschnitte zwischen Karlsruhe und
Basel wurden bereits Lösungen gefunden, bei manchen
mussten Kompromisse gemacht werden, bei manchen
wird noch verhandelt. Der Projektbeirat Rheintalbahn
ist ein gelungenes Beispiel für Beteiligung, ein
Beispiel wie Konflikte im Vorfeld geklärt werden können, ein Beispiel, wie Bürgerinnen und Bürger in die
Planungen einbezogen werden und ein Projekt gesellschaftlich akzeptiert und mitgetragen wird.
Bürgerbeteiligung ist für die SPD kein Modethema.
Willy Brandt hat seine 1. Regierungserklärung 1969
unter das Motto gestellt: „Mehr Demokratie wagen“.
Beteiligungsformen müssen daher künftig so gestaltet
sein, dass sie möglichst vielen Menschen die Teilnahme ermöglichen. Dies bedeutet einen grundlegenden Wechsel in der Planungskultur: Transparenz statt
Diskussionen hinter verschlossenen Türen, eine
umfassende Öffnung der Planungsverfahren und ein
neues, auf Dialog ausgerichtetes Selbstverständnis
von Politikern und Verwaltungen. Informationen müssen rechtzeitig offengelegt, Verfahren und Planungen
verständlich gemacht, die Öffentlichkeit frühzeitig und
umfassend eingebunden, die Anliegen, Ideen und
Bedenken von Betroffenen vor Ort ernst genommen
werden. Verfahren müssen gestrafft und zusammengelegt, Bürgerbeteiligung durch Bürgeranwälte eingeführt sowie die Informationspflichten von Verwaltung und Vorhabenträger ausgebaut und verbindliche
Standards bei den Verfahren festgelegt werden.
Allein kosmetische Änderungen sind zu wenig, ein
grundlegend neuer Politikansatz ist notwendig. Beteiligung ist nicht Mittel zum Zweck, um nachträglich
Akzeptanz zu schaffen für Beschlüsse, die vorher unter
Ausschluss der Öffentlichkeit gefasst worden sind. Die
Bürgerinnen und Bürger müssen von Anfang an mitgenommen werden, nicht erst wenn die wesentlichen
Entscheidungen gefallen sind. Vor allem kann man es
Behörden und öffentlichen Planungsträgern nicht freistellen, ob sie die Bürgerinnen und Bürger beteiligen
wollen oder nicht. Manche befürchten, dass der Bau
neuer Großprojekte dann noch länger braucht als
bisher. Das Gegenteil ist richtig: Planungs- und Umsetzungszeiten lassen sich gerade für umstrittene Projekte am besten dadurch verkürzen, dass frühzeitig alle
eingebunden werden und Transparenz hergestellt wird.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, teilen die Forderung, beim Ausbau der Rheintalbahn Karlsruhe-Basel
im Abschnitt von Kilometer 187,8 - Gemeinde Teningen - bis Kilometer 235,5 - Gemeinde Hügelheim der Planfeststellungsabschnitte 8.1 Riegel-March,
8.2 Freiburg-Schallstadt, 8.3 Bad Krozingen-Heitersheim und 9.0 a Buggingen-Müllheim die Maßnahmen
der Kernforderungen 3 und 4 entsprechend den Festlegungen zwischen Bund und dem Land BadenWürttemberg als expliziten Teil des Bedarfsplanvorhabens umzusetzen.
Wir stimmen dem Antrag „Projektbeiratsbeschluss
bei der Rheintalbahn umsetzen“ zu und begleiten den
Ausbau der Rheintalbahn weiterhin konstruktiv. Der
Ausbau der Rheintalbahn muss Modell für Bürgerbeteiligung, Lärm- und Landschaftsschutz werden.
Die Rheintalbahnstrecke ist eine der wichtigsten
Ausbaumaßnahmen der Schieneninfrastruktur der
Bundesrepublik. Seit 25 Jahren steht der Ausbau der
Rheintalbahn auf der Agenda des Bundesverkehrsministeriums. Anfangs ging es darum, den Personenzugverkehr zu beschleunigen. Aber als die Schweiz in den
90er-Jahren den Bau der Neuen Alpentransversale,
NEAT, beschloss, bekam der Ausbau der Rheintalstrecke eine neue Dimension. Als nördlicher NEATZubringer ist sie Teil der wichtigsten europäischen
Transitstrecke für Güterverkehr, die die Häfen von
Genua und Rotterdam miteinander verbindet. Die
Schweiz und Deutschland schlossen im Jahr 1996 einen Staatsvertrag, in dem sie sich verpflichten, „den
grenzüberschreitenden Eisenbahnpersonen- und -güterverkehr zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik
Deutschland durch aufeinander abgestimmte Maßnahmen der Schieneninfrastruktur in seiner Leistungsfähigkeit zu sichern“. Doch während der Bau der NEAT zügig
voranschritt und der Gotthard-Basistunnel voraussichtlich schon vor dem anvisierten Termin im Jahr 2017
fertiggestellt sein wird, verzögerte sich der Ausbau auf
deutscher Seite immer wieder. Gründe sind Finanzierungsengpässe, aber auch Proteste seitens der Anwohner. Denn die gesellschaftliche Akzeptanz des
Schienenverkehrs ist geringer geworden, und das aus
verständlichen Gründen. Es geht hier vor allem zum einen um den sensiblen Eingriff in die Landschaft. Zum anderen ist der Lärm von Güter- und Personenzügen für
Anwohner an Gleisstrecken schwer zu ertragen. Und
perspektivisch wird dieser Lärm speziell an der Rheintalbahn nicht abnehmen, sondern stetig zunehmen. Insbesondere für die geplante viergleisige Strecke Karlsruhe-Basel wird die höchste Belastung durch den
Güterzugverkehr im gesamten deutschen Güterverkehr
erwartet. Für das Jahr 2025 sind Zugzahlen von bis zu
490 pro Tag prognostiziert - alle drei Minuten ein Zug.
Auf diese Entwicklung gehen wir mit dem vorliegenden
Antrag ein und bekräftigen so auch noch einmal unser
Vorhaben der Reduzierung von Lärmimmissionen beim
wichtigen Ausbau der Rheintalbahn.
Im Zuge dessen konnten im Projektbeirat durch die
konstruktive Zusammenarbeit von Bund, Land, der
Bahn, regionalen Vertretern und der Bürgerinitiativen
am 5. März 2012 Beschlüsse gefasst werden, welchen
wir mit diesem Antrag entsprechen wollen. Denn nur
dann erhalten die betroffenen Anwohner den Lärmschutz, der ihnen nach den Verhandlungen im Projektbeirat zusteht. Somit werden den Kernforderungen
3 und 4 Rechnung getragen. Das bedeutet, dass man
Zu Protokoll gegebene Reden
sich bei der Güterumfahrung Freiburg für die Realisierung von Einhausungen und Galerien sowie für zusätzliche Schall- und Habitatschutzwände ausgesprochen hat. Hier werden konkret Kosten in Höhe von
84 Millionen Euro angesetzt.
Bei der Bürgertrasse im Markgräflerland soll die
Realisierung der ebenerdig geplanten Antragstrasse in
Tieflage durch Trogbauwerke und steil geböschte Polsterwände mit Überführungen als Landschaftsbrücken
sowie einer - soweit rechtlich möglich - westlichen
Umfahrung Buggingen erfolgen. Hier werden Kosten
von maximal 166 Millionen Euro erwartet. Die Gesamtkosten belaufen sich auf 250 Millionen. Das Land
Baden-Württemberg hat am 8. Dezember 2011 beschlossen, dass die Landesregierung sich mit bis zu
50 Prozent an den Mehrkosten, die über das gesetzliche Erfordernis hinausgehen, an der Rheintalbahn
zur Sicherstellung eines menschen- und umweltgerechten Ausbaus beteiligt. Für diese Entscheidung bin ich
dankbar, vor allem, dass wir uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig sind und so den Ausbau der
Rheintalbahn unter weitgehendem Schutz der Bevölkerung voranbringen.
Die Linke begrüßt die politische Umsetzung der Beschlüsse des Projektbeirats bei der Rheintalbahn. In
Absprache mit unseren Gesprächspartnern in der Region können wir dem vorliegenden Koalitionsantrag
zustimmen.
Mit dem heute gefassten Beschluss des Bundestages
verbinden wir aber auch die Erwartung, dass weitere
Kernforderungen der Interessengemeinschaft Bahnprotest an Ober- und Hochrhein ebenso ernst genommen werden. Der Projektbeirat hat bisher eine hervorragende Arbeit geleistet und entscheidend zur
Beseitigung der Konflikte zwischen Bahn und Bevölkerung vor Ort beigetragen.
Eine weitere positive Begleitung durch den Bundestag, mit entsprechenden Beschlüssen, wäre ein Anliegen der gesamten Region am südlichen Oberrhein und
kann helfen, weitere Verzögerungen bei diesem so
wichtigen Projekt zu verhindern.
Uns ist klar, dass insbesondere durch die Kernforderung einer zweigleisigen Tunnelröhre im Raum Offenburg mit zusätzlichen Kosten zu rechnen ist. Wer die
Lage Offenburgs aber kennt und wem die enorme Bedeutung der Rheintalbahn bewusst ist, der muss diese
Forderung ernst nehmen. Den oft in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff „Mehrkosten“ halte ich
zudem für irreführend. Es handelt sich vielmehr um
Realkosten; denn die tatsächlichen Erfordernisse der
Region wurden bisher nur unzureichend berücksichtigt.
Angesichts stetiger Baupreissteigerungen fordern
wir die Projektbeteiligten auf, für das ganze Projekt
eine transparente Kostenplanung vorzunehmen. Notwendige Mittel in Höhe der zu erwartenden Baupreissteigerungen sind vorzuhalten und etwaige Risiken bereits jetzt zu berücksichtigen. Die sicher zu erwartende
Projektteuerung bis zur Fertigstellung darf nicht dazu
führen, dass die heute bewilligten Mehrkosten von
166 Millionen Euro zu einer Kürzung der Bauleistungen führen. Auf ein Desaster wie bei Stuttgart 21 und
dem neuen Berliner Flughafen kann und will die Region gut und gerne verzichten. Die Kostenübernahme
durch Bund und Land muss sofort durch klare Beschlüsse geklärt werden.
Sosehr wir es begrüßen, dass hier am Oberrhein
auch der Schienenbonus für die überarbeiteten Planungen nicht mehr angewendet werden soll, so sehr
bedauern wir, dass dies nur hier und nicht bundesweit
jetzt schon erfolgen soll. Andernorts besteht ebenfalls
der verständliche Wunsch, den Schienenbonus sofort
zu streichen. Hier war die Koalition bestenfalls halbherzig. Immerhin ist das Land Baden-Württemberg bereit, die Mehrkosten, die ein besserer Lärmschutz bedingt, zu tragen. Aber das darf nur die Ausnahme sein;
denn Lärmschutz nach Kassenlage ist keine Lösung.
Wie man am Beispiel des Oberrheintals sieht, wird der
Schienengüterverkehr nur dann akzeptiert, wenn alles
für den Lärmschutz der Anwohnerinnen und Anwohner
Notwendige getan wird. Daran hapert es bei den meisten Schienen- und Straßenbauprojekten leider noch
ganz erheblich.
An dieser Stelle möchten wir als Linke noch einmal
festhalten, dass ein guter Lärmschutz an der Rheintalbahn auch mit einer klugen Streckennutzung zu tun
hat. Unseres Erachtens darf es nicht sein, dass der
Neubau im Wesentlichen dem schnellen Fernverkehr
vorbehalten sein soll. Die Strecke muss auch dazu genutzt werden, laute sowie gefährliche Güterverkehre
aus den Ortschaften herauszubekommen. Denn auch
mit dem vorliegenden Antrag sind Entlastungen der
durch die Orte verlaufenden Altstrecke nicht zu erwarten. Die von der DB gewünschte Verkürzung der Reisezeiten zwischen Karlsruhe und Basel ordnen wir diesem Ziel nach. Auch eine optimale Nutzung der
gesamten Strecke für den regionalen Bahnverkehr
sollte Vorrang haben.
Das unmissverständliche Signal muss sein, nicht zu
feilschen, sondern fertig zu werden. Das Projekt
Rheintalbahn soll endlich im Einvernehmen mit den
Menschen in der Region umgesetzt werden, damit es
nicht am Ende heißt, die Planungs- und Bauzeit war
länger als die prognostizierte Nutzungsdauer der
neuen Rheintalbahn von circa 100 Jahren.
Mit dem Wechsel der Landesregierung, aber auch
im Zusammenhang mit den bevorstehenden Bundestagswahlen ist nun die Bewegung in das Projekt gekommen, die sich die Menschen in der Region seit Jahren gewünscht haben und für die sie zu Tausenden auf
die Straße gegangen sind. Für die Linke ist klar, dass
sich die Zehntausenden Stunden ehrenamtliche Arbeit
in den Initiativen vor Ort jetzt auszahlen und auch als
eine Investition in die Zukunft verstanden werden sollten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Großprojekte dieser Dimension müssen immer zusammen mit den Menschen vor Ort entwickelt werden,
müssen sich den räumlichen, sozialen und ökologischen Interessen einer Region fügen - von Anfang an
und nicht erst dann, wenn der Widerstand in einer Region zu groß wird. Zudem muss von Anfang an kostentransparent und ehrlich geplant werden. Wenn sich mit
dem heutigen Beschluss auch diese Erkenntnis im Bundestag durchsetzt, sind wir endlich auch grundsätzlich
einen wichtigen Schritt weitergekommen - nicht nur
am Oberrhein.
Eines unserer wichtigsten verkehrspolitischen Ziele
ist eine stärkere Verlagerung des Güterverkehrs auf
die Schiene. Nicht nur aus umweltpoltischen, sondern
auch aus verkehrspolitischen Zwängen müssen wir
umdenken, weg vom Gütertransport auf der Straße,
denn unsere Straßeninfrastruktur ist nicht beliebig erweiter- und finanzierbar, wie uns ja auch Herr Minister Ramsauer mittlerweile täglich in den Medien erläutert. Gut, dass diese Erkenntnis damit auch bei der
Union angekommen ist.
Der zügige Ausbau der Rheintalbahn, darin besteht
bei uns allen Einigkeit, zählt zu den wichtigsten Schieneninfrastrukturprojekten in der Bundesrepublik
Deutschland. Die herausragende Bedeutung der
Rheintalschiene im Hinblick auf den europäischen Güterverkehrskorridor wird durch unsere Pflichten aus
dem Staatsvertrag mit der Schweiz zusätzlich betont.
Deshalb ist es wirklich erfreulich, dass es nun auch der
Koalition endlich gelungen ist, einen Antrag vorzulegen, der die Bedeutung des Projekts aufgreift und die
Beschlüsse des Projektbeirates vom März des vergangenen Jahres unterstützt. Die fraktionsübergreifende
Zustimmung für die Forderungen des Antrages ist daher richtig, sie ist wichtig und sie setzt ein deutliches
Signal an die lärmbetroffenen Bürgerinnen und Bürger
der Region. Das heißt aber nicht, dass sich das Parlament auf dem bisher Erreichten ausruhen und die Augen vor den noch vielen offen Fragen und Problemen
beim lärmarmen Ausbau der Rheintalbahn verschließen darf.
Der Durchbruch bei der Optimierung der Güterzugumfahrung Freiburg und der Bürgertrasse im
Markgräflerland, also den Kernforderungen 3 und 4
der Region, konnte im Wesentlichen aus zwei Gründen
erreicht werden. Zum Ersten ist das Engagement der
vielen Bürgerinnen und Bürger in den Initiativen an
dieser Stelle zu nennen. Gerade die Beteiligung zu einem frühen Zeitpunkt unterscheidet dieses Projekt von
Stuttgart 21, wo erst in äußerster Not eine Art
Schlichtung versucht wurde, aber viel zu spät, nämlich
nachdem alle entscheidenden Planfestlegungen bereits
erfolgt und die wesentlichen Finanzierungsvereinbarungen getroffen waren. Stuttgart 21 zeigt, wie notwendig, die Rheintalbahn zeigt, wie sinnvoll und erfolgreich es sein kann, wenn betroffene Bürgerinnen und
Bürger rechtzeitig eine umfassende Mitsprache bei der
Realisierung von Großprojekten einfordern und bekommen.
Und zum Zweiten, weil sich das Land Baden-Württemberg bereit erklärt hat, einen Teil der Mehrkosten
für einen angemessenen Lärm- und Landschaftsschutz
zu zahlen, und somit das Land an dieser Stelle Verantwortung für seine Bürgerinnen und Bürger übernommen hat. Langfristig kann es aber sicher nicht die Aufgabe der Bundesländer sein, die Kosten für einen
menschenverträglichen Ausbau der Bundesschienenwege zu übernehmen, denn hier ist und bleibt der Bund
in der Pflicht.
Ja, Lärmschutz kostet Geld, und ja, unsere finanziellen Mittel sind begrenzt. Daher muss es endlich
eine Konzentration auf die wichtigen Verkehrsprojekte
wie den Ausbau der Rheintalbahn geben. Es kann doch
nicht sein, dass wir ständig über fehlende Finanzen
klagen und gleichzeitig zusehen, wie die Kosten für
den überflüssigen und wahnsinnig teuren Tiefbahnhof
in Stuttgart exorbitant, nämlich in mehrfacher Milliardenhöhe aus dem Ruder laufen und wirklich notwendige Infrastrukturprojekte deshalb bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Hier müssen Worten
auch Taten folgen, statt weiter an teuren Prestigeobjekten mit unkalkulierbarem Ausgang festzuhalten,
ganz abgesehen davon, dass die Bahn ganz offenbar
nicht einmal in der Lage zu sein scheint, das Projekt
Stuttgart 21 ordnungsgemäß, sicher und im avisierten
Zeitraum durchzuführen.
Die vom Projektbeirat für die Rheintalbahn beschlossenen Lösungen für die Kernforderungen 3 und
4 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wie
vor wichtige Punkte im nördlichen Verlauf der Trasse
ungeklärt sind. Insbesondere die sogenannten Kernforderungen 1 und 2, also die Untertunnelung in Offenburg und der Trassenverlauf südlich davon. Denn
hier ist der Lärmschutz für die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner bislang nicht annähernd befriedigend gewährleistet. Hier ist eine offene Prüfung notwendig, um die wirklich beste Lösung für Mensch und
Natur zu finden. Jede der denkbaren Trassen betrifft
ökologisch höchst wertvolle und sensible Gebiete,
auch Natura-2000-Flächen, deren Schutzbedürfnisse
nicht hintanstehen dürfen. Denn der Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen ist auch ein Schutz der
Menschen. Gerade deshalb ist darauf zu achten, dass
die Naturschutzbelange objektiv bewertet werden. Es
dürfen nicht die vom Vorhabenträger bisher ungewollten Trassenvarianten mit fiktiv hohen Kosten für die
Bewältigung der Naturschutzbelange künstlich hochgerechnet und damit verhindert werden.
Der Projektbeirat steht hier vor weiteren Herausforderungen. Wir erwarten an dieser Stelle von der
Bundesregierung, dass sie sich weiterhin ernsthaft im
Projektbeirat für gute und vor allem lärmarme Lösungen für die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner
einsetzt. Denn nur mit wirksamen Lärmschutzmaßnahmen werden wir die allgemeine Akzeptanz der BevölZu Protokoll gegebene Reden
kerung für den Ausbau der Rheintalbahn und auch anderer Schieneninfrastrukturprojekte erhalten können.
Eine sehr wirksame Lärmschutzmaßnahme wäre die
sofortige Abschaffung des Schienenbonus, statt diese
Abschaffung erst in einigen Jahren wirksam werden zu
lassen. Was Sie als Gesetzentwurf noch am Ende des
vergangenen Jahres vorgelegt haben, widerspricht
doch ihren Forderungen im vorliegenden Antrag. Einerseits mehr Schallschutzmaßnahmen über das gesetzliche Maß hinaus fordern und anderseits den
Anwohnerinnen und Anwohnern einen sofortigen
Rechtsanspruch für den Bau leiser Schienenwege im
Rheintal verwehren, das ist scheinheilig und nimmt die
Sorgen, Ängste und Anliegen der Betroffenen nicht
ernst.
In diesem Sinne lassen Sie uns den Ausbau der
Rheintalbahn gemeinsam als ein Modellprojekt für
lärmarmes, umweltverträgliches, zügiges Bauen ohne
Schienenbonus mit Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger gestalten.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11932, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/11652 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Empfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Durch Humanarzneimittel bedingte Umweltbelastung reduzieren
- Drucksache 17/11897 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wasser ist unser wichtigstes Lebensmittel, unsere
gesamte Nahrung und unser Leben hängen davon ab.
Als Lebensmittel Nummer eins muss Trinkwasser hohen Anforderungen genügen. Dank der nachhaltigen
und konsequenten Maßnahmen der Bundesregierung
wird dem seit Jahren Rechnung getragen.
Bereits seit den 70er-Jahren hat die Bundesrepublik
Deutschland unbestreitbare Erfolge im Wasserschutz
erzielt und die Wasserqualität konsequent verbessert.
Auf der anderen Seite hat die SED-Vorgängerpartei
der Antragsteller sich sprichwörtlich einen Dreck um
die Qualität ihrer Gewässer und der Umwelt geschert,
was wir nach der Wende flächendeckend erfahren
mussten. Deshalb sind Sie von den Linken als Antragsteller die Letzten, die sich so zu Wasserschutz melden
dürfen. Doch auch dieses Defizit aus der Zeit der DDR
haben wir aufgeholt.
Die qualitativen Eigenschaften unseres Trinkwassers bekommen nach wie vor ausschließlich Bestnoten;
denn die Trinkwasserverordnung gibt diese verbindlich vor. Es dürfen zum Beispiel keine Krankheitserreger, Schwermetalle oder andere gesundheitsschädigenden Stoffe im Trinkwasser enthalten sein. Unser
Ziel ist es, Wasser als ein großes Gut in ausreichender
Menge und Qualität weiterhin flächendeckend zu garantieren. Hier ist Deutschland beispielgebend für
viele Länder. Durch eine konsequente Ausweitung und
Modernisierung von Kläranlagen und die innovativen
Entwicklungen der Analyseverfahren der Spurenstoffe
im Wasser ist eine bessere Untersuchung der Wasserqualität möglich geworden. Verfahren, die vor Jahren
nicht bekannt waren, werden heute erfolgreich zur
Qualitätsverbesserung unseres Trinkwassers angewendet. Dies waren übrigens in vielen ostdeutschen
Kommunen mit die ersten Infrastrukturmaßnahmen,
die mit dem Aufbau Ost angepackt worden sind, meine
Kolleginnen und Kollegen der Opposition.
Mit dem gleichen wissenschaftlichen Eifer arbeiten
unsere Pharmakologen an hochwirksamen Arzneimitteln, die wir als Verbraucher und Patienten in einer alternden Gesellschaft einfordern. Der medizinische
Fortschritt dient uns, den Menschen. Aber es handelt
sich auch um Arzneimittel, die als biologisch aktive
Stoffe nicht nur bei Mensch und Tier ihre Wirkung zeigen, sondern auch bei ihren Ausscheidungen und der
Entsorgung ins Abwasser- bzw. Grundwassersystem
eindringen. Diesen Konflikt gilt es aufzulösen. Diese
hocheffizienten medizinischen Wirkstoffe sind uns am
Ende der Kette bei ihrer Abscheidung in der genauen
Wirkung von Kleinstelementen, wie wir sie heute wissenschaftlich analysieren können, bedingt durch Tierund Humanarzneimittel, noch unzureichend bekannt.
Auch die Frage, ob von den in Gewässern gemessenen
Stoffkonzentrationen ein grundsätzliches oder tatsächliches Risiko ausgeht, kann bis heute nicht eindeutig
für jeden Stoff beantwortet werden.
Der Antrag der Linken befasst sich mit dem Risiko
von Verunreinigungen der Abwässer durch Humanarzneimittel, also einem hinlänglich bekannten Sachverhalt. Liest man den Antrag der Linken, entsteht das
Gefühl, dass dem Thema Schutz der Umwelt vor Risiken aufgrund von Arzneimitteleinträgen bislang kein
ausreichendes Gewicht beigemessen wird. Das ist aber
nicht der Fall. Nicht erst seit heute haben wir klare
europäische und nationale Regelungen für die Zulassung von Arzneimitteln zum Schutz der Patienten und
zum besseren Schutz der Umwelt. Hier werden im Rahmen von Zulassungsverfahren Umweltauswirkungen
abgeschätzt und bewertet. Bereits in der Amtszeit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel als Bundesumweltministerin wurde das Umweltbundesamt, UBA,
federführend seit 1997 als mitprüfende Behörde eingeIngbert Liebing
setzt. Man unterscheidet von der Systematik her allerdings zwischen Tier- und Humanarzneimitteln. Bei
Tierarzneimitteln ist das Umweltbundesamt als sogenannte Einvernehmensbehörde tätig. Das heißt, es
kann bei der Zulassung von Tierarzneimitteln Auflagen
bestimmen, wenn es Gefahren für die Umwelt sieht, die
sogar bis zur Versagung der Zulassung gehen können.
So weitgehende Befugnisse gelten jedoch nicht für Humanarzneimittel. Bei diesen gibt es seit 2001 entsprechende Vorschriften zur Umweltprüfung, die allerdings nur für neue Arzneimittel gelten, während ältere
auf dem Markt befindliche Arzneimittel erst einmal außen vor bleiben. Über die Machbarkeit einer solchen
rückwirkenden Prüfung von etablierten Arzneimitteln
kann man diskutieren.
Rückstände von Arzneistoffen und Kosmetikrückständen, Waschmittelinhaltstoffe, Rückstände von
Pflanzenschutz- und Düngemitteln oder Nanopartikeln
gelangen ins Abwasser und damit in die Umwelt, und
dies alles selbstverständlich grenzüberschreitend.
Deshalb werden derzeit anthropogene Spurenstoffe in
Gewässern bzw. im Trinkwasser zunehmend wegen der
Vielfalt an Stoffen, deren Auswirkungen auf Mensch
und Umwelt zum großen Teil noch nicht bekannt sind,
als komplexes Problem erkannt und diskutiert. Dieses
Thema hat in den letzten Jahren sowohl die Fachwelt,
die Medien als auch die Öffentlichkeit zunehmend beschäftigt. So war gerade die Belastung von Gewässern
durch Arzneimitteleinträge Gegenstand einer sechsjährigen Beratung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe der
Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft für Chemikaliensicherheit. Hier wurden richtungsweisende Messverfahren entwickelt. Aber es gibt noch Einiges zu tun;
das ist uns allen bewusst. Uns muss aber auch allen
klar sein, dass eine Lösung nur im europäischen Rahmen Sinn macht. Nicht nur Deutschland hat mittlerweile umfangreiche gesetzliche Regelungen im Bereich
des Emissionsschutzes bzw. im Bereich der Chemikalienbewertung, sodass genau geprüft werden kann, ob
und welche Schadstoffe ins Wasser gelangen. Wir sind
uns alle einig, dass die Belastung von Gewässern so
gering gehalten werden muss wie nur möglich, aber
gerade im Kleinstpartikelbereich lässt sich dies noch
nicht überall realisieren.
Was die Prüfung von gefährlichen Stoffen angeht, so
ist der Standard auf europäischer Ebene weitgehend
harmonisiert worden. Ständig werden die Bedingungen für eine sichere Nutzung im Rahmen des Stoffrechtes geprüft. So führt die REACH-Verordnung dazu,
dass bis 2018 für einen Großteil der chemischen Stoffe
Einstufungen und Kennzeichnungen verfügbar sind.
Schon heute sind über 100 000 Stoffe so in einem Datenpool erfasst. Die bestehenden Informationslücken
bei den sogenannten Altstoffen im Bereich Biozide, Industriechemikalien und Arzneimittel, werden bis 2020
abgebaut sein. Aber auch der Grundsatz der Verringerung der Spurenstoffe an der Quelle ist für uns die Basis zur Vermeidung der Umweltverschmutzung durch
Spurenstoffe.
Unser primäres Ziel muss also sein, diese Stoffe erst
gar nicht in den Wasserkreislauf gelangen zu lassen.
Die Information der Verbraucher über den verantwortungsvollen Umgang mit Produkten, die solche Stoffe
enthalten, gilt es ständig zu verbessern, und es sollen
Umweltverträglichkeit und mögliche Substitution kritischer Stoffe sowie Verwendungsbeschränkungen vorangetrieben werden.
Um mögliche toxische Stoffe nicht in den Wasserkreislauf gelangen zu lassen, müssen alle wichtigen Informationen für den Patienten bzw. Bürger über den
Umgang mit Produkten zugänglich gemacht werden.
Daran arbeiten wir. Um die Bevölkerung zu sensibilisieren und die Bürgerinnen und Bürger aufzuklären,
damit Verhaltensveränderungen in der Entsorgung von
Arzneimitteln eintreten, stellt die Bundesregierung ein
breites Angebot an Informationsmedien zur Verfügung.
Hier möchte ich als Beispiel den Blauen Engel erwähnen oder auf die Informationen zur Vermeidung von
Biozideinsatz seitens des Umweltbundesamtes aufmerksam machen. Außerdem werden von der Bundesregierung zahlreiche Institutionen im Rahmen der Verbändeförderung gefördert, die die Bürger zum Thema
Chemikalien in Produkten aufklären.
Sie sehen, das Bundesumweltministerium und die
Bundesregierung wirken konstruktiv daran mit, die relevanten Fakten zu erfassen, zu analysieren und potenzielle Risiken zu bewerten und Lösungswege zu erarbeiten. Aber damit nicht genug: Die Bundesregierung
sieht weiterhin Forschungsbedarf bei anthropogenen
Stoffen in Gewässern und Böden durch Arzneimittelrückstände. Es werden derzeit mehrere Projekte gefördert oder sind in Planung. Da sind zum Beispiel Forschungsarbeiten, die sich mit der Frage befassen, ob
die Belastung durch endokrine Disruptoren, das heißt
Umwelthormone zunehmen oder nicht. Mit einem anderen Forschungsvorhaben soll das Biomonitoring
von Arzneimitteln vorangetrieben werden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert im
Rahmen seines Förderschwerpunktes „Nachhaltiges
Wassermanagement“ insgesamt zwölf Verbundforschungsprojekte mit einem Finanzvolumen von 30 Millionen Euro. Hier werden Fragen zu den ökotoxikologischen Folgen von Gewässern und Böden durch
Arzneimittelrückständen angegangen und beantwortet.
Außerdem gibt es Bemühungen, eine bessere Datengrundlage hinsichtlich der Belastung von Umweltmedien mit Arzneistoffen zu erhalten. In diesem Zusammenhang hat auch die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft
für Chemikaliensicherheit das Thema „Umweltrisiken
durch Arzneimittel“ wieder aufgegriffen und wird weiteren Handlungsbedarf prüfen. Des Weiteren fördert
das Bundesumweltministerium regelmäßig aus Mitteln
des Umweltforschungsplans Vorhaben, die das Thema
Erkennung der Risiken durch Arzneimittel für die Umwelt und Möglichkeiten der Risikominderung zum Gegenstand haben.
Der vorliegende Antrag der Linken fordert die Einführung einer gesetzlichen Verpflichtung für ZulasZu Protokoll gegebene Reden
sungsnehmer und ein umfassendes Messprogramm
zum Nachweis von Arzneistoffen in Umweltmedien
durchzuführen. Grundsätzlich ist gegen ein solches
Nachzulassungsmonitoring nichts einzuwenden. Es
geht aber in der Form, wie der Antrag es vorschlägt,
zu weit und wäre nicht gerechtfertigt. Selbst bei Pflanzenschutzmitteln gibt es keine Vorschriften, die so weit
reichen.
Des Weiteren fordert der Antrag eine gesetzliche
Rücknahmeverpflichtung der nicht verbrauchten Arzneimittel durch die Apotheken. Dies wäre viel zu aufwendig und würde einen enormen bürokratischen Aufwand bedeuten. Auch hier sei auf die umfangreichen
abfallrechtlichen Vorschriften verwiesen, die wir in
den letzten Jahren in diesem Haus auf den Weg gebracht haben.
Schließlich fordert der Antrag eine Änderung des
deutschen Rechtes dahin gehend, dass bislang nicht
durchgeführte Umweltprüfungen von Altarzneimitteln
in der Verantwortung und auf Kosten der Zulassungsnehmer nachgeholt werden. Auch diese Forderung ist
schlichtweg unrealistisch; denn eine solche Gesetzesänderung hätte nur auf EU-Ebene eine Chance auf
Durchsetzung und Erfolg. Deshalb setzt sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für eine bessere
Vernetzung von Wasserrecht und Stoffrecht ein. Aus allen diesen Gründen wird die Unionsfraktion den Antrag der Fraktion der Linken ablehnen.
Ungefähr 3 500 Arzneimittelwirkstoffe sind in
Deutschland zugelassen. Etliche davon werden im
Körper nicht abgebaut. Über die Toilettenspülung gelangen sie in Bäche, Seen und Flüsse. Ungefähr
150 Arzneimittelwirkstoffe wurden bisher in den Gewässern nachgewiesen.
Bereits 2003 hat das Monitoringprogramm der
Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft für Chemikaliensicherheit, BLAC, ein realistisches Bild der Belastung
der Umwelt mit Arzneimitteln geliefert. Arzneimittel
wurden flächendeckend in den Oberflächengewässern
nachgewiesen. Röntgenkontrastmittel haben die höchsten Konzentrationen, gefolgt von Diclofenac und dem
Antiepileptikum Carbamazepin.
Das Rheuma- und Schmerzmedikament Diclofenac
- auf Nummer zwei dieser Liste - hat nachgewiesene
ökotoxikologische Effekte: Am Bayerischen Landesamt für Umwelt wurde 2004 untersucht, wie in der
Realität vorkommende Konzentrationen auf Forellen
wirken. Das Ergebnis: Nach vier Wochen waren die
Kiemen verändert und die Nieren geschädigt.
Diclofenac soll daher - so hat es die EU-Kommission vorgeschlagen - auf die Liste der prioritären
Stoffe, also auf die Liste der Stoffe, die langfristig nicht
mehr in die Gewässer gelangen sollen. Sowohl im
Europäischen Parlament als auch im Bundesrat hat
die Debatte darüber deutlich gemacht: Es ist unklar,
ob die wissenschaftliche Bewertung so weit ist, für
Gewässer Umweltqualitätsnormen für Arzneimittel festzulegen. Außerdem müssen den Patientinnen und Patienten weiterhin wirksame Medikamente zur Verfügung stehen.
Dies entbindet uns aber nicht davon, den Eintrag
von Arzneimitteln in die Gewässer zu vermindern. Das
Umweltbundesamt hat dazu ja Vorschläge gemacht.
Letztendlich schlägt das UBA eine Minimierungsstrategie vor, die von einem umfassenden Umweltmonitoring begleitet wird. Das ist ein vernünftiges Konzept.
Eine Umweltbewertung ist mittlerweile für neu zuzulassende Arzneimittel vorgesehen. Bei Tierarzneimitteln kann die Umweltbewertung zur Nichtzulassung
führen, bei Arzneimitteln für den Menschen können
Auflagen festgelegt werden. Dies ist ein wichtiger
Schritt. Kümmern müssen wir uns um die Medikamente, die noch ohne Umweltbewertung zugelassen
wurden. Eine nachträgliche Umweltbewertung für all
diese Medikamente schießt aber über das Ziel hinaus.
Eine Kombination aus Umweltmonitoring und Bewertung der Wirkstoffe mit Umweltrelevanz scheint mir
angemessen.
Wir wollen, dass weniger Arzneimittel in die Gewässer gelangen. Problematisch ist, dass es sich vielfach um diffuse Einträge handelt. Während Röntgenkontrastmittel in Krankenhäusern herausgefiltert
werden können, bevor sie ins Abwasser gelangen, wird
Diclofenac zu Hause eingenommen. Das macht es
schwer, die Wirkstoffe wieder aus dem Wasser zu filtern. Eine vierte Reinigungsstufe bei kommunalen
Kläranlagen ist nicht zu finanzieren, sie macht nur
Sinn bei Punkteinträgen - wie zum Beispiel den Kontrastmitteln im Krankenhaus.
Was kann man tun? Das UBA empfiehlt eine Informationskampagne, um die Bevölkerung über die richtige Entsorgung von Arzneimitteln zu informieren und
einheitliche Entsorgungswege zu schaffen. Es muss
klar sein: Altmedikamente gehören in die graue Tonne.
In den Müllverbrennungsanlagen werden die arzneilichen Wirkstoffe so zerstört, dass kein Eintrag in die
Umwelt mehr erfolgen kann. Sie gehören nicht ins Klo
gespült. Das UBA empfiehlt weiter, Ärzte und Apotheker über die Umweltwirkungen von Arzneimitteln zu
informieren und ein Klassifikationssystem zu schaffen.
Damit könnte die Umweltwirkung in die Auswahl der
Medikation einfließen. Zusätzlich müssen wir den Eintrag von Arzneimitteln aus der Tierhaltung minimieren.
Mit der Umweltbewertung von neuen Arzneimitteln
ist bereits ein wichtiger Schritt gemacht. Es geht - und
das mahnt die Linke in ihrem Antrag zu Recht an - jetzt
darum, weiterzugehen. Das bedeutet für mich: Wir
brauchen ein Umweltmonitoring, und wir brauchen
eine umsetzbare und finanzierbare Minimierungsstrategie, die auch den Interessen der Patienten und Patientinnen gerecht wird. Das müssen wir anpacken.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke macht einen Vorschlag, und - wie sollte
es anders sein - der Vorschlag ist unreif, weil er einfach nicht zu Ende gedacht wurde. Sie werfen ein Problem auf, das die Koalition und die Bundesregierung
seit einiger Zeit bereits beschäftigt. Es ist richtig, dass
Altarzneimittel in relevanten Größenordnungen
fälschlicherweise über Toiletten und Spülbecken ins
Abwasser gelangen. Es ist auch richtig, dass einige
Wirkstoffe zum Teil unverändert über Ausscheidungen
ins Abwasser gelangen. Diese Fakten haben dazu geführt, dass wir in Europa auf Bestreben der Bundesregierung Hormone zum Beispiel bei der Antibabypille
oder auch Wirkstoffe wie Diclofenac als prioritäre
Stoffe stärker beobachten und entsprechende Maßnahmen wie zusätzliche Reinigungsstufen in besonders betroffenen Gebieten durchführen lassen.
Jetzt geht es Ihnen aber natürlich nicht darum, sich
mit unseren Maßnahmen auseinanderzusetzen. Sie
bringen zwei Vorschläge, mit denen Sie das Wasser
noch stärker von Medikamenten befreien wollen. Das
eine ist die verpflichtende Einführung eines Medikamentenrücknahmesystems für Apotheken, und das andere die Einführung eines ständigen Umweltmonitorings für jeden zugelassenen Arzneistoff. Beide
Vorschläge überzeugen mich nicht. Neben der Rücknahmepflicht alter Medikamente durch die Apotheken
wollen Sie auf diese Abgabemöglichkeit auf jedem Beipackzettel hinweisen. Dadurch hoffen Sie, das Gegenargument zu entkräften, dass eine solche Rücknahmepflicht nichts bringt. Ich muss Sie leider trotzdem
darauf hinweisen: Diese Rücknahmepflicht bringt
nichts. Sie schaffen zusätzliche Vorschriften und erzielen keine positive Wirkung. Wie Sie sicherlich wissen,
machen die Apotheken mit den Medikamenten nichts
anderes als das, was passiert, wenn man sie über den
Hausmüll entsorgt. Sie werden verbrannt. Gelegentlich gibt es sogar Apotheker, die Chemikalien und Medikamente nicht sachgerecht entsorgen. So hat zuletzt
im Mai vergangenen Jahres ein Apotheker in Memmingen durch die Entsorgung über das Abwasser für einen
Großeinsatz der Polizei und Feuerwehr gesorgt.
Der entscheidende Punkt ist aber: Einige von denjenigen, die bereits jetzt Medikamente sachgerecht im
Hausmüll entsorgen, machen sich dann vielleicht die
Mühe, alte Arzneimittel tatsächlich zur Apotheke zu
bringen. Die meisten anderen tun dies aber vermutlich
nicht. Mit Ihrem Vorschlag werden Sie diese meisten
anderen jetzt aber nicht mehr darüber informieren
können, dass die Entsorgung über den Hausmüll die
richtige Alternative ist. Damit steigt mangels Information voraussichtlich der Anteil derjenigen, die Medikamente falsch entsorgen. Unser größtes Interesse ist
aber vor allem, die Berührung mit Wasser weitgehend
zu vermeiden. Ihr Vorschlag führt damit nicht nur
dazu, dass überhaupt kein Vorteil erzielt wird. Er birgt
sogar das Risiko, dass das Gegenteil von dem passiert,
was Sie sich wünschen. Ich bin dafür, im Beipackzettel
auf die richtige Entsorgungsart hinzuweisen: die Restmülltonne. Ihr Vorschlag ist allerdings kontraproduktiv.
Auch für die andere Frage liefert die Linke eine falsche Antwort. Sie glauben, durch ein umfassendes Umweltmonitoring die Gewässer besser zu schützen. Ich
glaube, Sie verrennen sich. Nicht, dass Sie mich falsch
verstehen, der Gewässerschutz steht für mich an
oberster Stelle. Und dennoch: Ihr Vorschlag wird der
Sache nicht gerecht. In Deutschland führt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinforschung momentan 91 482 zugelassene Arzneimittel auf. Darunter
sind Arzneimittel und Wirkstoffe, die in großer Menge
abgesetzt werden, und solche, die nur in sehr geringen
Stückzahlen und ausschließlich in Krankenhäusern
eingesetzt werden. Bei jedem neu zugelassenen Arzneimittel findet eine Umweltbewertung statt. Sie wollen
nach der Zulassung für jede Substanz eine Überwachung der Auswirkungen einführen. Mir ist nicht klar,
ob Sie den Umfang dieser Überwachungsmaßnahmen
richtig einschätzen können. Für fast 100 000 Medikamente sollen ständige Prüfungen im Wasser und Boden
durchgeführt werden. Die dafür erforderlichen Laborkapazitäten und Kosten sind gigantisch. Für viele der
Wirkstoffe bestehen noch überhaupt keine Messverfahren. Wie gehen Sie mit diesen um? Und was ist dann?
Einmal angenommen, Sie hätten für jeden erdenklichen Wirkstoff eine belastbare, natürlich unter Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten erstellte
Aussage über die Konzentration in den verschiedenen
Gewässern. Dann wollen Sie einen Auftrag an das
Umweltbundesamt erteilen, inwieweit stärkere Auflagen für die Anwendung von Arzneimitteln zu einer Verbesserung der Wasserqualität führen. Und dann?
Dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Wenn es
sich nämlich um ein nutzbringendes Medikament handelt - und genau das wird in der Zulassung bekanntlich geprüft -, dann hilft Ihnen die Aussage, dass es
wassergefährdend ist, nicht weiter. Sollte etwa ein
wassergefährdendes, aber hochwirksames Krebsmedikament erlaubt oder nicht erlaubt werden? Sie müssten
dann zwischen Gesundheit und Umwelt abwägen.
Denn das kann das Umweltbundesamt mit Sicherheit
nicht.
Ich finde unseren Weg deutlich besser. Wir konzentrieren unsere Kapazitäten auf die Wirkstoffe, die wir
aufgrund der Menge und durchgeführten Umweltbewertungen für besonders problematisch halten, und
suchen nach sinnvollen Lösungen, um den Eintrag in
das Wasser effektiv zu verringern. Damit erreicht man
schneller und besser Ergebnisse als mit Ihrem Vorschlag.
Die Linke will ein bürokratisches Monster erschaffen, Unsummen finanzieller Mittel der Hersteller aufwenden und wird am Ende dabei nichts erreichen. Ich
halte Ihren Vorschlag für das gut gemeinte und
schlecht gemachte Unterfangen, durch viel zu viele
Aufgaben die Verwaltung zu erdrosseln und damit für
niemanden einen Vorteil zu erzielen. Das ist bedauerlicherweise ein Wesenszug Ihrer Politik.
Zu Protokoll gegebene Reden
Proben aus unseren Flüssen erschrecken Fachleute,
immer mehr Reste von Arzneimitteln, Kontrastmitteln
und Hormonpräparaten finden sich im Wasser. Das
Umweltbundesamt stellte fest: Einer unserer beliebtesten Speisefische, der Zander, hat Probleme. Den Zanderfamilien gehen die Männer aus, es gibt nur noch
halb so viele Kerle wie üblich und nötig. Damit die
Zanderpopulation überleben kann, braucht es wieder
mehr Männer unter der Wasseroberfläche.
Der Zander ist nur ein Beispiel. Viele Tierarten leiden unter den Abfällen der Wirtschaft und in diesem
Fall unserer Gesundheitswirtschaft. Die Naturfreunde
und Umweltschützer in EU und UBA haben auch sofort die passende technische Lösung parat: Die vierte
Reinigungsstufe für Klärwerke muss her. Anfangen
will man in den Großstädten und dann das Problem
Klärwerk für Klärwerk abarbeiten.
Die Projektbüros frohlocken, die Bauindustrie reibt
sich die Hände, und die Klärwerkslobby träumt von
neuen Rekorden. Zwischen 2 und 3 Euro Mehrkosten je
Kubikmeter Abwasser würden entstehen, schätzte man
im Schweriner Umweltministerium. Ich will das mal
für eine Thüringerin hochrechnen. Also, wir brauchen
im Thüringer Durchschnitt etwa 80 Liter Wasser am
Tag. Das sind bei 365 Tagen im Jahr 29 200 Liter oder
29 Kubikmeter. Da wir Politiker uns bei Preisen, wie
zum Beispiel bei Stuttgart 21, eher zu niedrig orientieren, rechne ich mit 3 Euro weiter. 29 Kubikmeter mal
3 Euro pro Kubikmeter sind 87 Euro Mehrkosten im
Jahr. Für uns 2,4 Millionen Thüringerinnen und Thüringer ergibt das ein zusätzliches jährliches Geschäftsvolumen von 210 Millionen Euro allein in Thüringen.
Wer soll das bezahlen? Die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen im Freistaat? Schon jetzt zahlt
die Thüringer Landesregierung jährlich über 73 Millionen Euro, damit die Kostenexplosion bei Abwassergebühren und Beiträgen, durch die zweite und dritte
Reinigungsstufe und zentralisierte Abwasserbehandlung ausgelöst, sozialverträglich abgemildert wird.
Vor dem Thüringer Verfassungsgericht liegt der Antrag eines Volksbegehrens, von mehr als 25 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern getragen, der sich
gegen überhöhte Kommunalabgaben richtet, auch und
insbesondere beim Abwasser.
Wer in dieser Situation eine weitere Gebührenerhöhung auslöst, gefährdet den sozialen Frieden unserer
Republik und im Übrigen auch seine eigene Wiederwahl.
Was tun? Die Umwelt schreit nach Hilfe, und viele
Bürgerinnen und Bürger können diese nicht mehr
schultern. Keine Medikamente sind auch keine Lösung.
Die Linke hat deshalb ein Konzept ausgearbeitet,
wie es gelingen könnte, die Flüsse vom Medikamentencocktail zu entlasten, ohne dass der Abwasserpreis explodiert. Heute sprechen wir über unseren Antrag im
Bundestag, der die Bundesebene umfasst, und meine
Kolleginnen und Kollegen werden ergänzende Anträge
auf Länderebene einbringen.
Die Langzeitwirkungen von Arzneimitteln in Gewässern müssen besser bekannt werden, die Wirkung
ihrer Substanzen und Zerfallsprodukte auf Tiere und
Pflanzen müssen wir kennen. Deshalb fordern wir,
dass die Bundesregierung dies zum Bestandteil der Zulassung von Medikamenten auf der EU-Ebene macht.
Auch national müssen die Überwachung und Untersuchung der Verbreitung und Wirkung von Medikamenten in der Umwelt entsprechend dem geschätzten
Gefahrenpotenzial erfolgen. Als Ziel wollen wir erreichen, dass Wirkstoffe und Medikamente, welche keinen
medizinischen Extranutzen im Vergleich zu anderen
Mitteln haben, aber die Umwelt stärker belasten als
andere wirkungsgleiche Medikamente, die Zulassung
verlieren. Das ist ein Schritt, der langfristig für Entlastung in den Gewässern sorgen wird.
Bis zur Änderung der Verpackungsverordnung im
Jahr 2009 gab es ein herstellerfinanziertes Rücknahmesystem für Altarzneimittel. Dies wurde abgeschafft.
Wohin also mit den Medikamenten, die übrig sind oder
deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist? Dies fragen
sich viele, wenn die Apotheke deren Annahme verweigert. Einige werfen Altarzneimittel in den Hausmüll dies ist meistens richtig. Aber einige fabrizieren Mülltrennung: Die Verpackungen zu Verpackungen - und
die Tabletten, die Tropfen ab in den Ausguss. Unendlich viele Punkte stehen auf den Beipackzetteln, aber
der Entsorgungsweg von Resten fehlt zumeist. Eine gesetzliche Verpflichtung für ein erneutes herstellerfinanziertes Rücknahmesystem, das 2015 funktioniert,
und eine Verpflichtung, dass der Entsorgungsweg auf
der Verpackung und auf dem Beipackzettel steht, wäre
ein erster, zwar kleiner, aber schneller Schritt, um einen Teil der Arzneimittelfracht aus dem Wasser zu bekommen.
Auf der Länderebene fordert die Linke eine gezielte
Vorreinigung oder getrennte Erfassung und Entsorgung der besonders mit Arzneimitteln belasteten Abwässer zum Beispiel aus Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Das reduziert die Mengen des zu reinigenden
Abwassers und erleichtert wegen der höheren Konzentration von Schadstoffen die Klärtechnik.
Als Mann, Vater und Liebhaber von gebratenem
Zanderfilet habe ich Angst, Angst, dass wir uns über
das Essen selbst vergiften, Angst, dass die Männer, wie
die Zander, zeugungsunfähig werden und ich vielleicht
keine Enkel erlebe. Und als Vater und Bürger habe ich
Angst, dass für viele Mitbürger das Leben unbezahlbar
wird und es deshalb zu sozialen Unruhen mit unabsehbaren Folgen kommt. Deshalb bitte ich Sie: Folgen Sie
unseren Vorschlägen, notfalls kopieren Sie diese. Wir
stellen diese Vorschläge nicht unter das Urheberrecht.
Helfen Sie bitte mit, damit sich die Zanderfamilien
gesund in sauberem Wasser vermehren und sich alle
die Abwassergebühren leisten können, damit wir ohne
Zu Protokoll gegebene Reden
den Wahnsinn einer vierten Reinigungsstufe in kommunalen Klärwerken die Umwelt und unsere Gesundheit schützen und ich ohne Angst und Gewissensbisse
Zander genießen kann.
Verbraucherinnen und Verbraucher wissen derzeit
nicht, wohin mit abgelaufenen Arzneimitteln. Uns allen ist bekannt, dass eine sachgerechte Entsorgung
derzeit nicht sichergestellt ist. Viele Apotheken verweigern seit einer Änderung der Verpackungsverordnung
die Annahme von Altmedikamenten. Bis 2009 gab es
ein etabliertes Rückgabesystem bei den Apotheken, organisiert durch Hersteller und Handel. Heute gibt es
kein flächendeckendes Entsorgungssystem; nur einige
wenige Apotheken nehmen Altmedikamente weiterhin
an und sorgen für die sichere Entsorgung - meist auf
eigene Kosten.
Die Bundesregierung empfiehlt, Altmedikamente
über den normalen Hausmüll zu entsorgen. Der Minister scheint dies als ausreichend anzusehen, zumindest
ergibt dies die Antwort auf eine Kleine Anfrage der
Grünen im Juni 2011. Wie wir ist auch das Umweltbundesamt anderer Ansicht. Es empfiehlt auf seiner
Internetseite nachdrücklich: „Medikamentenreste
NICHT über den Ausguss und das Klo oder den Hausmüll entsorgen!“ Das UBA fordert weiterhin, „unverbrauchte Arzneimittel über Apotheken und Schadstoffsammelstellen zu entsorgen“.
Zu viele Altmedikamente, insbesondere flüssige Arzneien, werden jetzt über die Toilette entsorgt. Viele
Wirkstoffe können aber in den Kläranlagen nicht abgebaut werden. Diese finden wir anschließend in unseren
Gewässern wieder - mit unangenehmen Folgen. So
wurden unterhalb der Kläranlagen bereits Verweiblichungen bei männlichen Fischen nachgewiesen. Außerdem endet der giftige Cocktail im Trinkwasser.
Ursache sind letztlich auch die Unklarheiten bei der
Entsorgung. Es gab bis 2009 einen gut funktionierenden Entsorgungsweg, der von der Bevölkerung angenommen wurde: die kostenlose Annahme in den Apotheken. Weil dieses vernünftige System abgeschafft
wurde, haben wir jetzt einen Flickenteppich an „Lösungen“. Diese sind von Kommune zu Kommune unterschiedlich. Damit nimmt das Ministerium die steigende Gefahr durch unsachgemäße Entsorgung über
Toiletten und Abflüsse in Kauf. Wir brauchen die Möglichkeit der Rückgabe in den Apotheken als sinnvolles
Angebot an Verbraucherinnen und Verbraucher. Eine
Pflicht zur Abgabe in Apotheken, wie von der Fraktion
der Linken gefordert, halten wir jedoch für falsch.
Wir haben aber noch weitere Probleme; denn Medikamente gelangen auch über andere Wege in die Gewässer. Sie werden zum Beispiel von Menschen und
Tieren ausgeschieden, und ihre Bestandteile sind weiterhin wirksam. Gülle und Klärschlamm, die häufig als
Dünger eingesetzt werden, enthalten neben Nährstoffen auch Substanzen wie Schwermetalle und Arzneimittelrückstände. Dringend notwendig ist daher die
Begrenzung von Schadstoffeinträgen in Böden und
Grundwasser in den verschiedenen Verordnungen, die
Gewässer-, Bodenschutz-, Landwirtschafts- und Abfallpolitik betreffen.
Über den heute zur Beratung anstehenden LinkenAntrag hinaus sehen wir die Notwendigkeit, auch das
Chemikalien- und das Arzneimittelrecht auf diese Probleme einzustellen. Es sind neben den Rückständen
von Arzneimitteln auch Chemikalien aus Alltagsprodukten, die die Gewässer massiv belasten. Ein bekanntes Beispiel sind die perfluorierten Tenside ({0}). PFT
sind langlebige organische Chemikalien, die in der
Natur nicht vorkommen. Sie werden in einer Vielzahl
von Alltagsprodukten verwendet. Bei jedem Waschen
aber lösen sich kleinste PFT-Partikel von den Produk-
ten und gelangen über kurz oder lang in die Umwelt.
Lange wurde das Problem unterschätzt und negative
Auswirkungen der PFT auf verschiedenste Organis-
men negiert. Mittlerweile sind diese nachgewiesen. Im
Rahmen des europäischen Chemikalienrechts wurde
der Einsatz von zumindest einer PFT-Stoffgruppe weit-
gehend verboten. Was bleibt, sind jedoch weiterhin die
Belastungen durch das sich bereits in der Umwelt be-
findliche PFT und andere PFT-Stoffgruppen.
Wir brauchen einen vorsorgenden Gewässerschutz,
bevor sich die Umweltprobleme massiv ausweiten. Wir
Grüne wollen ein fachrechtübergreifendes Vorsorge-
konzept mit strengen Grenzwerten für Stoffeinträge al-
ler Art in unsere Gewässer und ein systematisches,
bundesländerübergreifendes Arzneimittelmonitoring.
Dies geht über den Antrag der Linken noch deutlich
hinaus.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11897 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b sowie Zusatz-
punkt 7:
28 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jens Spahn,
Dietrich Monstadt, Michael Grosse-Brömer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Jens Ackermann, Rainer
Brüderle und der Fraktion der FDP
Revision der europäischen Medizin-
produkte-Richtlinien: Vertrauen wieder
herstellen - Patientensicherheit bei Medi-
zinprodukten muss erste Priorität sein
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit, Wirksamkeit und gesundheitli-
chen Nutzen von Medizinprodukten besser
gewährleisten
- Drucksachen 17/11830, 17/8920, 17/12088 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dietrich Monstadt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten
- Drucksachen 17/9932, 17/11312 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Harald Terpe
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Opfer des Brustimplantate-Skandals unterstützen - Keine Kostenbeteiligung bei medizinischer Notwendigkeit
- Drucksachen 17/8581, 17/12092 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Marlies Volkmer
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wenn man die aktuelle öffentliche Debatte zur Sicherheit von Medizinprodukten verfolgt, soll man den
Eindruck gewinnen, die Politik wäre erst durch einen
Skandal um schadhafte Brustimplantate aus dem
Dornröschenschlaf erwacht und würde dem Thema
keine Aufmerksamkeit schenken. Dies ist unzutreffend.
Wir handeln. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Medizinproduktegesetz, MPG, welches die
Umsetzung dreier europäischer Richtlinien in nationales Recht darstellt, überarbeitet. Unter anderem trat
im Frühjahr 2010 die Medizinprodukte-Klinische-Prüfungsverordnung, MPKPV, in Kraft, welche eine Vereinheitlichung des Einreichungsverfahrens von klinischen Prüfungen und eine Bündelung in den einzelnen
Bundesländern beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI,
brachte. Dieses System hat sich bewährt und stellt eine
bürokratische Erleichterung dar.
Seit der zweiten Jahreshälfte 2011 arbeitete man in
Brüssel an einer Überarbeitung der europäischen Medizinprodukterichtlinien, die auch in Deutschland mit
Spannung erwartet wurde, regeln diese Richtlinien
doch die deutsche Medizinproduktegesetzgebung weitgehend durch harmonisierte Rechtsvorschriften. Es
wurde der Probebetrieb eines von der Industrie und
den Krankenkassen finanzierten Endoprothesenregisters aufgenommen, welcher von der Bundesregierung
finanziell unterstützt wurde. Durch die Allgemeine
Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Medizinproduktegesetzes wird die Überwachung im Medizinproduktebereich durch die zuständigen Behörden der
Bundesländer ab dem 1. Januar 2013 zentralisiert und
spürbar optimiert.
Ende Dezember 2011 wurde der Fall des französischen Herstellers für Brustimplantate Poly Implant
Prothese, PIP, bekannt. Wie man heute weiß, hatte die
Firma Brustimplantate, die auch nach Deutschland
geliefert wurden, nicht mit Silikon medizinischer Qualität, sondern mit billigerem Industriesilikon befüllt,
welches ein zwei- bis sechsfach erhöhtes Risiko für
Rupturen, Risse, aufweist. Die Folge war, dass Frauen
sich aufgrund drohenden oder bereits erfolgten Silikonaustritts die Implantate explantieren lassen mussten. Dieser für die Betroffenen äußerst bedauernswerte
Fall ist nun Ausgangspunkt einer Debatte über die Sicherheit von Medizinprodukten und deren Markteinführung und Marktüberwachung generell geworden.
Es ist in der Sache richtig, dass wir uns mit dem Thema
Sicherheit von Medizinprodukten beschäftigen. Deshalb erörtere ich hier den Antrag der Regierungskoalition. Ich möchte aber betonen, dass es nicht zielführend
ist, einen kriminellen Fall wie PIP zu emotionalisieren
und die Fakten aus dem Blick zu verlieren. Wir brauchen kein hastiges Rufen nach Verschärfungen im
Zuge eines aufgetretenen Skandals, sondern müssen
eine an der Sache orientierte Debatte führen.
Welches sind die großen Streitfragen beim Thema
Medizinproduktesicherheit? Erstens. Marktzugangsvoraussetzungen. Für die CDU/CSU-Fraktion hat
Patientensicherheit oberste Priorität, weshalb wir
kurzfristig eine spürbare Verbesserung der Sicherheit
erreichen wollen - hauptsächlich im Bereich der
Marktüberwachung. Dem Patienten soll dabei gleichzeitig weiterhin der schnelle Zugang zu innovativen
Medizinprodukten erhalten bleiben. Auch die Oppositionsfraktionen haben den Vorfall PIP zum Anlass genommen, Änderungen an bestehenden gesetzlichen Regelungen bei Medizinprodukten zu fordern. In einigen
Punkten, die den Bereich Marktüberwachung tangieren, stimmen diese Anträge der Koalitionsmeinung zu.
Die Regierungskoalition ist sich jedoch einig, dass wir
eine staatliche oder behördliche Zulassung von Medizinprodukten der hohen Risikoklassen II b und III mit
einer Nutzenbewertung wie bei Arzneimitteln - anders
als die Opposition - ablehnen. An dieser Stelle sei in
Kürze der Antrag der Fraktion Die Linke erwähnt, der
weniger weitreichend ist. Hier wurde lediglich gefordert, die Folgekosten des PIP-Skandals nicht den Betroffenen und den Krankenkassen in Rechnung zu stellen wie aktuell nach § 52 Abs. 2 SGB V. Wir lehnen
diesen Antrag ab. Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt die Unzulänglichkeiten. Der PIP-Hersteller,
der laut der Fraktion Die Linke zu belangen wäre, ist
längst insolvent. Ginge es nach der Fraktion Die
Linke, wäre den Opfern noch heute nicht geholfen.
Dem deutschen Steuerzahler die Kosten für Explantationen für in der Mehrzahl freiwillige Schönheitsoperationen aufzubürden, entspricht ebenfalls nicht meinem Weltbild.
Die Lösungsansätze der Regierungskoalition suchen wir primär innerhalb des derzeitigen Marktzugangs- und Überwachungssystems. Damit Medizinprodukte auf dem europäischen Markt in Verkehr
gebracht oder in Betrieb genommen werden können,
müssen sie mit einer CE-Kennzeichnung versehen werden. Die CE-Kennzeichnung darf nach europäischem
Recht nur angebracht werden, wenn das Produkt die in
den einschlägigen Richtlinien vorgegebenen grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen erfüllt hat. Diese sind umfangreicher als offensichtlich
manch einem Kritiker bekannt ist. Durchgeführt werden muss eine Risikobewertung, ein Verfahren des Risikomanagements zur Minimierung von Risiken, eine
klinische Bewertung auf der Grundlage klinischer
Daten, eine Analyse des Verhältnisses von Patientennutzen zu vorhandenen Risiken. Zudem muss ein der Risikoklasse des Produkts angemessenes Konformitätsbewertungsverfahren erfolgreich durchgeführt werden.
Bei Produkten mit höherem Risiko muss der Hersteller eine unabhängige Prüforganisation, eine benannte Stelle, in Deutschland zum Beispiel Dekra oder
TÜV, in die Konformitätsbewertung des Produktes einbeziehen. Die benannten Stellen werden durch staatliche Behörden zugelassen und überwacht. Einfluss auf
den Marktzugang von Medizinprodukten übt der Staat
damit über die Akkreditierung, Benennung und Überwachung der benannten Stellen aus. Daneben unterliegen die Hersteller der Marktüberwachung, die in
Deutschland von den Behörden der Bundesländer ausgeführt wird. Der Unterschied in der Zulassung zwischen Medizinprodukten und Arzneimitteln ist somit
kleiner als häufig von der Opposition behauptet. Dass
bei Medizinprodukten eine benannte Stelle die Einhaltung der strengen Kriterien überprüft, hat gute
Gründe. Die Bandbreite bei Medizinprodukten ist
wesentlich größer als bei Arzneimitteln. Rollstühle,
Beatmungsgeräte, Kontaktlinsen, Endoskope, Herzschrittmacher, Gefäßklemmen oder Stents sind in den
Anforderungen an Bewertungsexpertise sehr verschieden voneinander. Somit müsste im Vergleich eine staatliche Behörde einen Personalstab vorhalten, der nicht
finanzierbar wäre. Eine staatliche Behörde müsste als
Beispiel einen Experten für künstliche Herzklappen
ganzjährig in Vollzeit anstellen, wobei er wahrscheinlich nur zwei Produkte pro Jahr zulässt. Gleichzeitig
interagieren Medizinprodukte in der Regel nicht chemisch mit dem menschlichen Körper, weshalb die Studien oft technischer angelegt sind. Darüber hinaus
kommen bei Medizinprodukten oft viel kleinere Stückzahlen im Verkauf zum Einsatz und die Modellspanne
ist sehr groß.
Ein Arzneimittel kann, einmal getestet, jahrelang
unverändert und in hoher Anzahl verkauft werden. Medizinprodukte hingegen werden ständig weiterentwickelt. Kniegelenksprothesen oder Herzschrittmacher
beispielsweise werden permanent minimal optimiert
und den Patientenbedürfnissen angepasst, noch dazu
oft von kleinen bis mittelständischen und sehr innovativen Unternehmen. Für diese wäre es schlicht nicht
leistbar, wenn bedeutend längere Zulassungsdauern,
Innovationszyklen und höhere Studienkosten wie bei
Arzneimitteln etabliert würden.
Weiterhin gestaltet sich ein randomisiertes und doppelt verblindetes Studiendesign wie bei Arzneimitteln
als nicht durchführbar. Einen Placebo-Herzschrittmacher habe ich jedenfalls noch nicht zu Gesicht bekommen. Und ich denke, Sie können mir nicht viele
gesunde Freiwillige zeigen, die sich für Studien ein
künstliches Kniegelenk einsetzen lassen. Selbstverständlich soll die Sicherheit und der Nutzen für den
Patienten überprüft werden - dies geschieht bereits
jetzt. Jedoch kann die Arzneimitteltestung nicht eins zu
eins auf Medizinprodukte übertragen werden. Zweitens. Marktüberwachung. Die Koalition aus CDU/
CSU und FDP sieht grundsätzlich keinen Änderungsbedarf am New Approach mit Konformitätsbewertung
als Marktzugangsvoraussetzung. Teilweise erheblichen Nachbesserungsbedarf gibt es jedoch im Rahmen
der Marktüberwachungsprozesse. Erst der jüngst im
British Medical Journal veröffentlichte Fall, bei dem
benannte Stellen in Ungarn, der Tschechischen Republik und der Slowakei bereit gewesen sein sollen, Medizinprodukte zu zertifizieren, die kein CE-Kennzeichen hätten erhalten dürfen, macht deutlich, dass eine
stärkere Kontrolle der benannten Stellen durch die Zulassungsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten erfolgen muss. Vollzugsdefizite müssen aufgehoben werden
und eine Reakkreditierung sollte erfolgen. Es ist deshalb zwingend erforderlich und richtig, die Marktüberwachung EU-weit zu vereinheitlichen, die Zulassung der benannten Stellen besser zu überwachen und
der Kommission Kontrollrechte einzuräumen, sodass
die Möglichkeit eines Einschreitens besteht. Deshalb
begrüßen wir den Entwurf einer EU-Verordnung, der
dies so vorsieht und in Verordnungsform das richtige
Rechtsmittel darstellt. Gleichzeitig benötigen die benannten Stellen weitergehende Rechte, Stichproben
beim Hersteller zu nehmen. Die Kontroll- und Überwachungsbehörden der Länder müssen Kontrollen von
im Markt befindlichen Medizinprodukten in Form von
Stichprobennahmen durchführen.
Auch das von der Opposition ins Feld geführte Argument, Medizinprodukte könnten zu einfach über die
Regelung der Substantial Equivalence bzw. Produktgleichheit in den Markt kommen, ist streng genommen kein Problem der Zulassung. Teilweise wird diese
Regelung zu großzügig bei der Überprüfung von Produkten durch die benannten Stellen herangezogen, für
die sie nicht ausgelegt ist - Beispiel Metall-auf-MetallHüftendoprothesen. Scheinbar besteht hier bei den
Zu Protokoll gegebene Reden
benannten Stellen Ermessensspielraum. Dies gilt es zu
konkretisieren oder abzuschaffen.
Die sich hieraus ergebenden Forderungen der Koalition: Mit dem Antrag der Koalition aus CDU/CSU
und FDP, der als einziger im Gesundheitsausschuss
eine Mehrheit gefunden hat, fordern wir eine Beibehaltung des New Approach und insbesondere eine Verbesserung der Marktüberwachung. Wir begrüßen den
Entwurf einer Verordnung - Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte
und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung ({0}) Nr. 178/2002 und der Verordnung ({1})
Nr. 1223/2009 -, der im Duktus mit unseren Forderungen übereinstimmt, an einigen Stellen jedoch einiger
Präzisierung bedarf.
Unsere Forderungen zur Umsetzung im EU-Recht
in einzelnen Punkten sind: bessere Überwachung der
benannten Stellen, Sanktionsmöglichkeiten der Kommission bei Nichteinhaltung, mehr Rechte für unangemeldete Kontrollen und Produktprüfungen durch benannte Stellen beim Hersteller, obligatorische,
unangemeldete Kontrollen durch nationale Behörden
bei Produkten der Klassen II b und III im Handel und
bei Gesundheitseinrichtungen, Einführung eines Systems zur eindeutigen Identifizierung von Medizinprodukten mit weltweit einheitlichem Mindestdatensatz,
obligatorisches Aushändigen eines Implantatepasses
mit relevanten Identifizierungsdaten und Patienteninformationen wie Haltbarkeit und Termine der Kontrolluntersuchungen an Patienten durch die entsprechende Gesundheitseinrichtung, Verpflichtung aller
Mitgliedstaaten zur Etablierung eines Implantatregisters mit einem einheitlichen Mindestdatensatz, im
Sinne des Patientenschutzes Gleichbehandlung von
Einmal- und Mehrfachprodukten bei der Inverkehrbringung, Weiterentwicklung des CE-Kennzeichens in
ein medizinproduktspezifisches Gütesiegel, beispielsweise CE-med. Im nationalen Recht muss die bereits
bestehende Aufzeichnungs- und Meldepflicht gemäß
Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung durch
eine Sanktion bewehrt werden.
Sollten die Verdachtsfälle bestätigen, dass in einigen europäischen Ländern Mängel bei der Überwachung der benannten Stellen bestehen, fordern wir die
Bundesregierung auf, sich bei den Verhandlungen einer EU-Verordnung für eine zeitnahe Lösung einzusetzen. In einem europäischen Binnenmarkt mit freiem
Warenverkehr wäre ein solcher Zustand unhaltbar.
Gleichzeitig fordern wir die Bundesregierung auf,
darauf hinzuwirken, dass bei der Umsetzung einer EUVerordnung das bestehende hohe Regelungsniveau im
deutschen Medizinprodukterecht nicht unterschritten
werden darf. Wie ich dargelegt habe, besteht kein Anlass, grundsätzlich vom bewehrten Zulassungssystem
der Konformitätsbewertung und CE-Zertifizierung Abstand zu nehmen. Kriminelles Handeln wie beim PIPSkandal verhindert man bedauerlicher Weise auch
durch das strengste Gesetz nicht. Es besteht allerdings
ein Regelungs- und Vollzugsdefizit im Bereich der
Marktüberwachung. Um eine schnelle und spürbare
Verbesserung der Patientensicherheit zu erreichen, unterstützen wir den Entwurf einer Verordnung der Europäischen Kommission, MDD, und fordern die Bundesregierung auf, diese Ziele bei den Verhandlungen in
Brüssel umzusetzen.
Vor etwa einem Jahr sorgte der Vorfall um Brustimplantate der französischen Firma PIP für umfassende
Diskussionen über das bestehende Medizinprodukterecht. Das Unternehmen hatte illegalerweise billiges
Industriesilikon zur Herstellung verwendet. Die Implantate zersetzten sich im Körper und standen im
Verdacht, das Krebsrisiko zu erhöhen. Bereits vorher
hatte es Vorfälle mit gebrochenen Endoprothesen oder
Absonderungen von Schwermetallen bei Implantaten
gegeben. Die Betroffenen erhielten oft keinerlei Unterstützung und die Kosten für den Austausch wurden von
den Herstellern auf die Sozialversicherung oder
- noch schlimmer - auf die Patientinnen und Patienten
abgewälzt. Es ist offensichtlich, dass es nicht nur bei
der Marktüberwachung und Schadensregulierung von
Medizinprodukten deutliche Defizite gibt, die Patientinnen und Patienten gefährden.
Obwohl das potenzielle Gesundheitsrisiko einiger
Medizinprodukte mit dem von Arzneimitteln durchaus
vergleichbar ist, gelten für den Marktzugang von
Produkten hoher Risikoklassen bislang andere Anforderungen als für Medikamente. Sie werden als technische Güter angesehen und nicht als medizinische,
daher wird ein CE-Siegel als ausreichend betrachtet,
wie es zum Beispiel auch Toaster und andere Haushaltsgeräte erhalten. Mit dem Kennzeichen erklärt der
Hersteller, dass sein Produkt den geltenden Anforderungen genügt. Dafür hat er in einem Konformitätsverfahren einer benannten Stelle gegenüber nachgewiesen, dass die grundlegenden Anforderungen des
Medizinproduktegesetzes eingehalten werden, dass
das Medizinprodukt sicher ist und dass es die ihm zugeschriebenen medizinischen Leistungen erbringt.
Dieses Zulassungsverfahren ist anfällig für Manipulationen. Die benannten Stellen sind private Unternehmen und verdienen an Beratung sowie Zulassung.
Sie stehen zueinander in einem europaweiten Wettbewerb und konkurrieren um den Preis, die Geschwindigkeit und Erfolgsaussichten einer Zertifizierung.
Eine Undercover-Recherche des British Medical Journal hat aufgedeckt, wie bereitwillig benannte Stellen
über fehlende Unterlagen und sogar Konstruktionsmängel hinwegsehen.
Bereits im Juni vergangenen Jahres haben wir von
der SPD daher mit dem heute ebenfalls vorliegenden
Antrag Vorschläge gemacht, wie die Situation für die
Patientinnen und Patienten wirksam verbessert werden kann. Eine sichere Behandlung mit sicheren
Medizinprodukten ist aus unserer Sicht ein essenzielles
Patientenrecht. Neben einer Vielzahl anderer wichtiger Aspekte fehlt auch dieser Punkt im aktuellen PaZu Protokoll gegebene Reden
tientenrechtegesetz vollkommen. Unser Ziel ist, dass
nur solche Medizinprodukte zugelassen werden, für
die der Patientennutzen im Verhältnis zu den Risiken wissenschaftlich nachgewiesen und vertretbar
ist. Daher setzen wir uns für eine europaweite amtliche Zulassung für die Medizinprodukte höherer
Risikoklassen, also beispielsweise Implantate und
Herzschrittmacher, ein. Um schnell einen besseren
Schutz der Patientinnen und Patienten in Deutschland zu erreichen, sollen die Kosten für neu auf den
Markt kommende Medizinprodukte der hohen Risikoklassen von den gesetzlichen Krankenkassen nur
dann getragen werden, wenn ihr Patientennutzen im
Verhältnis zu den Risiken nachgewiesen und vertretbar
ist.
Zudem muss auch die Sicherheit von schon auf dem
Markt befindlichen Medizinprodukten verbessert werden. Unter anderem müssen die Fertigungsstätten
durch die benannten Stellen bei unangekündigten Besuchen kontrolliert werden. Auch ist es notwendig,
Stichproben von Medizinprodukten aus dem Produktionsprozess zu ziehen und zu überprüfen. Durch ein
Medizinprodukt geschädigte Patientinnen und Patienten müssten dadurch abgesichert werden, dass
Hersteller zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung verpflichtet werden und der Austausch von
fehlerhaften Implantaten bei Serienfehlern auf Kosten
der Hersteller erfolgt. Zur schnellen Ermittlung betroffener Patientinnen und Patienten im Falle des
Bekanntwerdens von Problemen ist zudem ein entsprechendes Verzeichnis notwendig.
Damit für Medizinprodukte Versorgungsforschung
möglich wird, muss ein Implantateregister geschaffen
werden. Dieses gibt Auskunft über regelmäßig auftretende Komplikationen bei Behandlungsmethoden und
den dabei verwendeten Medizinprodukten.
Um eine Verbesserung der völlig unzureichenden
Informationslage zu erreichen, müssen Verstöße gegen
bestehende Meldeverpflichtungen bei fehlerhaften
Medizinprodukten wirksam überwacht und spürbar
sanktioniert werden. Überdies sollte bei unterlassenen
Meldungen durch einen Arzt oder ein Krankenhaus
eine Beweislastumkehr bei einem vermuteten Behandlungsfehler greifen, sodass Patientinnen und Patienten
bei späteren gerichtlichen Auseinandersetzungen besser als heute gestellt werden.
Sie sehen, wir haben uns intensiv mit der Thematik
beschäftigt. Und was hat die schwarz-gelbe Regierung
das ganze letzte Jahr getan? Nichts. Sie blieb das gesamte letzte Jahr über völlig untätig. Auch der von den
Fraktionen der Union und FDP vorgelegte Antrag ist
ein Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten.
Die Koalition hält noch immer an dem Irrglauben fest,
dass das bestehende System ausreichende Sicherheit
für die Patientinnen und Patienten gewährleistet. Die
Koalition versteckt sich hinter der EU-Gesetzgebung
und bekennt sich zu einem Zulassungssystem, das erwiesenermaßen eine Gefährdung für Patientinnen und
Patienten darstellt.
Auf nationaler Ebene sehen die Kolleginnen und
Kollegen von CDU, CSU und FDP keinerlei Handlungsbedarf. Folglich leistet ihr Antrag nur eins: Er
beruhigt die Hersteller von Medizinprodukten. Sie
können sich sicher sein, dass sich unter dieser Bundesregierung nichts ändern wird, weder auf europäischer
noch auf nationaler Ebene.
Nicht erst seit dem Aufdecken der skandalösen Betrügereien mit Implantaten im Dezember 2011 ist die
Politik angehalten, sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit für Medizinprodukte zu entwickeln. Diese Position wurde im Antrag der CDU/CSUFraktion und der FDP-Fraktion sehr deutlich.
Was sind eigentlich Medizinprodukte? Jeder von
uns benutzt sie wahrscheinlich im alltäglichen Gebrauch. Das fängt an bei den immer wieder diskutierten Brustimplantaten, geht über Herzschrittmacher;
aber auch Verbandmittel oder Kondome sind Beispiele
für Medizinprodukte. In der aktuellen Diskussion geht
es aber vor allem um Medizinprodukte der Klasse II b
und Klasse III, zu denen die eben bereits erwähnten
Herzschrittmacher oder Brustimplantate oder auch
künstliche Gelenke gehören.
Was uns in diesem Zusammenhang nicht hilft, sind
populistische Ansätze zur Eigenprofilierung, die hier
auf dem Rücken der Patienten und der Unternehmen
ausgetragen werden. Sowohl die Linke-Fraktion als
auch die Grünen-Fraktion hatten versucht, im Frühjahr 2012 daraus Kapital zu schlagen.
Im vergangenen September machte dann die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Revision der
Medizinprodukte-Richtlinie für Medizinprodukte und
In-vitro-Diagnostika. Die Kommission schlug vor, die
Rechtsbestimmungen für Medizinprodukte klarer und
breiter zu fassen, die Kontrollen über unabhängige
Prüfungsstellen zu verschärfen, den Verbrauchern,
Patienten und Mitarbeitern im Gesundheitswesen
mehr Schutz zu bieten. Zudem möchte man den Zugriff
auf innovative Produkte erleichtern und nur sichere
Produkte auf den EU-Markt lassen.
Wir haben uns anschließend in den Fachgremien
der Koalitionsfraktionen mit dem Vorschlag der Kommission intensiv auseinandergesetzt und konnten im
Dezember 2012 den vorliegenden Antrag einbringen.
Dieser fordert eine schärfere Medizinprodukte-Richtlinie und soll heute beschlossen werden.
Seit dem ersten Bekanntwerden des Skandals im Dezember 2011 wurde zunächst sehr viel, in jüngster Vergangenheit wieder weniger über die Sicherheit von
Medizinprodukten in der Öffentlichkeit diskutiert. Es
ist genau aus diesem Grund sehr wichtig, den Patienten Sicherheit zu bieten; auf der anderen Seite benötigen Patienten ebenfalls einen schnellen Zugang zu innovativen Medizinprodukten. Man muss doch nur
einmal die Entwicklung der Medizin in den letzten
zehn Jahren betrachten. Der rasante Fortschritt durch
Zu Protokoll gegebene Reden
das Nutzen der modernen Informationstechnologie
darf nicht durch schärfere Zulassungen behindert werden.
Und politischer Aktionismus ist an dieser Stelle
überhaupt nicht hilfreich, sondern politische Sacharbeit, die realistische und nachhaltige Lösungsansätze
aufbieten kann, beschreibt den richtigen Weg. Die Lösungsansätze sollten innerhalb des bestehenden Systems gesucht werden, da eine Übergangsphase in ein
neues System wiederum Jahre dauern könnte. Das
heißt, zunächst sollen die bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten ausgereizt werden, bevor man einen
vollständigen Systemwechsel in Erwägung zieht.
Das heißt aber auch, dass wir keine Verschärfung
der Zulassungskriterien möchten, da die Standards bereits heute sehr hoch angesetzt sind. Es geht um einheitliche internationale Standards, letztlich auch bei
den Kontrollen und Produktprüfungen, die unangekündigt durchzuführen sind.
Es müssen die Anforderungen an die staatlich akkreditierten Überwachungsstellen, die die Herstellung
der Medizinprodukte überwachen, deutlich erhöht
werden. Es soll zudem eine Verbesserung der Maßnahmen zur Überwachung durch staatliche Behörden geben. Zusätzlich fordern wir eine Verpflichtung zu unangemeldeten Produktprüfungen bei den Herstellern
sowie die Einführung europäischer Marktüberwachungsprogramme.
Es soll bei entsprechender Umsetzung mindestens
für Implantate und andere gefährliche Medizinprodukte ab Klasse II b unangemeldete stichprobenartige
Kontrollen im Handel und in den Gesundheitseinrichtungen geben. Das gibt den Bürgerinnen und Bürgern
mehr Sicherheit. Die Patienten und das Gesundheitspersonal, beide Seiten müssen sich auf die Zuverlässigkeit eines Herzschrittmachers, eines künstlichen
Gelenks oder Ähnlichem verlassen können.
Die Lösungsansätze sollen aber nach unseren Vorstellungen primär innerhalb des derzeitigen Marktzugangs- und Überwachungssystems gefunden werden.
Wir möchten kein neues staatliches Zulassungssystem.
Eine Veränderung bei den Zulassungskriterien kann
für die Bürgerinnen und Bürger ein böses Erwachen
haben, wenn sie nicht mehr die neuesten innovativen
Produkte im Medizinsektor nutzen können, weil gesetzliche Schranken beispielsweise die Einführung einer
neuen Generation von Herzschrittmachern verhindern. So eine Politik ist mit der FDP nicht zu machen.
Und hier unterscheiden wir uns fundamental von
der Opposition; die möchte nämlich am liebsten die
Zulassungskriterien verschärfen. Und ich kann Ihnen
versprechen, es würde große Probleme bei der Markteinführung neuer Produkte geben. Das hätte, wie eben
gesagt, zur Folge, dass die Patienten länger auf innovative Produkte warten müssten. Diese Art von Politik
kann man sich im Bereich Gesundheit einfach nicht erlauben. Das kann nicht der richtige Weg sein. Deshalb
bieten wir Ihnen hier einen sehr guten Vorschlag zur
Beschlussfassung an, der die Sicherheit der Patienten
nachhaltig stärken wird und weiterhin Innovation ermöglicht.
Man muss auch mal ehrlich sein, liebe Opposition:
Bei krimineller Energie helfen Ihre Vorschläge auch
nicht.
Ein sinnvoller Weg zur Verbesserung der Sicherheit
der Patienten sind mehr Kontrollen sowie Sanktionen
bei Nichteinhaltung der Regelungen, statt alle Unternehmen unter Generalverdacht zu stellen oder gar die
Zulassungsbedingungen zu verschärfen. Wir benötigen
hier keinen Systemwechsel, das bestehende System
bietet gute Ansätze. Es muss nur besser durch die
staatlich akkreditierten Stellen kontrolliert werden.
Und da habe ich, ehrlich gesagt, am Markt lieber weniger Institutionen, die kontrollieren, dafür aber im Interesse der Bürgerinnen und Bürger für mehr Sicherheit bei Medizinprodukten sorgen.
Zum Abschluss möchte ich noch auf die Wichtigkeit
der Weiterentwicklung der CE-Kennzeichnung hin zu
einem EU-weiten Prüf- und Qualitätssiegel „CE-Med“
verweisen, womit gekennzeichnet wird, dass Medizinprodukte die höchsten Sicherheitsanforderungen erfüllen, und deren Leistungsfähigkeit nachgewiesen ist.
Die Bürgerinnen und Bürger benötigen Medizinprodukte in höchster Qualität. Sie sind Bestandteil unseres Alltags. Deshalb lassen Sie uns für mehr Sicherheit
sorgen, und stimmen Sie der Beschlussempfehlung des
Gesundheitsausschusses zu.
Der Koalition scheint die Sicherheit der Patientinnen und Patienten, die eine Herzklappe, ein Kniegelenk oder ein anderes Medizinprodukt brauchen, recht
egal zu sein. Anders kann ich mir beim besten Willen
nicht mehr erklären, was hier veranstaltet wird. Die
Debatte um die Sicherheit von Medizinprodukten zieht
sich schon lange hin, und immer wieder gibt es
Meldungen, dass Patientinnen und Patienten Gesundheitsschäden davontragen oder gar sterben, weil die
Medizinprodukte in Deutschland - und der EU insgesamt - vor und nach dem Verkaufsstart viel zu schlecht
geprüft werden. Umso enttäuschender ist es, wenn die
Koalition erst jetzt und erstmals eine parlamentarische Initiative dazu vorlegt, und dann noch eine so
schlechte und folgenlose.
Die Koalition und die Regierung haben die Aufgabe, bei drängenden Problemen zu handeln. Die richtige Methode wäre hier ein Gesetzentwurf, der die
Zulassung von Medizinprodukten strenger reglementiert. Stattdessen finden sich gerade einmal vier Fachpolitiker der Koalition dafür, einen dünnen Antrag zu
schreiben, der bloß Forderungen an die Bundesregierung enthält, die so weichgespült sind, dass sie kaum
das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Außerdem
bin ich mir sicher: Niemand in diesem Parlament
glaubt ernsthaft, dass in dieser Wahlperiode sich die
Bundesregierung dieser schwachen Forderungen anZu Protokoll gegebene Reden
nimmt und sie in einen Gesetzentwurf gießen wird.
Und dann behandelt die Koalition dieses Thema im
Bundestag noch zu einer Zeit, in der die Reden gar
nicht gehalten werden, sondern zu Protokoll gehen.
Die Menschen draußen bekommen nichts mit, auch
weil zu dem Koalitionsantrag keine Anhörung stattfand.
Dabei ist die Situation ernst. Ein Beispiel für die
laschen Zulassungsregeln: Stellen Sie sich vor, Sie hatten einen Schlaganfall. Man stellt fest, dass in Ihrem
Gehirn ein Blutgefäß verengt ist und dies die Ursache
für den Schlaganfall war. Man will nun natürlich alles
tun, damit sich der Schlaganfall nicht wiederholt. Die
Standardtherapie sind Medikamente, die Blutgerinnsel
verhindern. Die Medizinproduktindustrie bietet seit einigen Jahren auch eine Alternative an, nämlich sogenannte Stents. Das sind kleine Röhrchen, die in das
verengte Blutgefäß eingesetzt werden, sich dort aufweiten und so das Gefäß offenhalten sollen. Hört sich
gut an. Aber ist diese Therapie denn besser als die
Gabe von Medikamenten? Sind diese Stents sicher,
oder verursachen sie vielleicht Krankheiten oder
Todesfälle? Zum Zeitpunkt der Zulassung wusste man
das nicht. Man hat diese Stents aber dennoch, nachdem sie das CE-Zeichen hatten, unbeschränkt zugelassen und alleine von 2008 bis 2010 insgesamt
3 500 Menschen in Deutschland eingesetzt. In den
USA gab es auch schon 2005 eine Zulassung, allerdings mit Auflagen, dass zum Beispiel das Blutgefäß zu
mindestens 50 Prozent verengt sein muss. Die Krankenkassen waren skeptisch und haben in den USA zudem das Recht zu sagen: „Das bezahlen wir aber nur,
wenn das in jedem einzelnen Fall überwacht wird.“
Bei dieser Überwachung hat man festgestellt, dass
diese Stents das Risiko, einen erneuten Schlaganfall zu
erleiden oder zu sterben, gegenüber der Medikamententherapie um das Zweieinhalbfache erhöht haben.
Sofort hat man diese Behandlung eingestellt und darf
diese Stents nur noch einsetzen, wenn die Medikamententherapie nachgewiesenermaßen nichts bringt, das
Blutgefäß zu mindestens 70 Prozent verengt ist, noch
einige Kriterien erfüllt sind und zudem eine Ethikkommission zugestimmt hat.
Was passierte in Deutschland? Nachdem diese
furchtbaren Ergebnisse bekannt wurden, hielten die
deutschen Aufsichtsbehörden Einschränkungen für
nicht nötig. Ein halbes Jahr später, im Februar 2012,
gab es eine freiwillige Einschränkung durch den Hersteller auf Patienten, die nicht auf die Medikamente
ansprechen und deren Blutgefäß zu 50 Prozent verengt
ist. Was fällt auf? Erstens. So weit waren die USA
schon 2005, weit bevor man wusste, dass an diesem
Stent Menschen sterben können. Zweitens. Der Hersteller ist in Deutschland offensichtlich strenger mit
sich selbst als die Aufsichtsbehörden. Das darf nicht
sein, und wenn das so ist, ist es die Aufgabe der Bundesregierung, daran etwas zu ändern. Genau das
macht sie allerdings nicht. Das verbietet ihr das liebste
Kind des Gesundheitsministeriums, die Gesundheitswirtschaft. Und selbst die vier der 20 Gesundheitsexperten der Koalition, die sich trauen, einen wirkungslosen Antrag zu stellen, schreiben darin von
„pauschalen Verdächtigungen gegen deutsche Medizinproduktehersteller“ und auch, dass „die berechtigten Interessen der Medizinprodukteunternehmen berücksichtigt werden“ müssen.
Die Linke hat bereits Ende November einen Entschließungsantrag zum Patientenrechtegesetz gestellt,
Bundestagsdrucksache 17/11722, und acht konkrete
Forderungen zur Verbesserung der Sicherheit gefordert, so etwa die Zulassung durch eine zentrale Bundesbehörde statt durch den TÜV und andere Stellen, so
auch, den Nutzen und die Risiken vor der Zulassung zu
prüfen, denn die Patientinnen und Patienten sind keine
Versuchsobjekte, so auch, dass nach der Zulassung die
Ärztinnen und Ärzte mögliche Nebenwirkungen an
eine zentrale Datenbank übermitteln sollen, und noch
einiges mehr. Dreimal dürfen Sie raten, ob SchwarzGelb diesen Antrag angenommen hat.
In den USA schaut man übrigens besorgt nach
Europa, was die Sicherheit der Medizinprodukte angeht. In einer Studie der FDA, der US-amerikanischen
Zulassungsbehörde, von Mai 2012, „Unsafe and ineffective devices approved in the EU that were not
approved in the US“, also frei übersetzt „Unsichere
und nutzlose Medizinprodukte, die in der EU, aber
nicht in den USA zugelassen wurden“, schreibt die
FDA als Schlussfolgerung ebenso frei übersetzt:
„Stents und andere Medizinprodukte kosten europäische Patienten ihr Leben, ohne dass sie irgendeinen
Nutzen hätten.“ Und: „Andere Medizinprodukte wie
Brust- und Ellenbogenimplantate oder Roboter für
Hüft-OPs verursachen ernsthafte Verletzungen und
damit auch kostenintensive Behandlungen, um den
Gesundheitsschaden zu beheben, den sie verursacht
haben.“
Für die Linke ist klar: Patienteninteresse geht vor
Wirtschaftsinteresse. Die Medizinprodukteindustrie ist
kein Selbstzweck, sondern sie ist da, um nützliche und
sichere Produkte herzustellen, die den Menschen
helfen. Wir brauchen Zulassungsregelungen, die die
Industrie auf diesen Grundsatz verpflichten. Wir brauchen keine Bundesregierung, die im Zweifel gegen die
Patienteninteressen entscheidet.
Nochmal zur Klarstellung: Die von den Koalitionsabgeordneten geforderten Maßnahmen sind grundsätzlich nicht falsch. Sie würden, wenn man sie auch
tatsächlich umsetzte, das Sicherheitsniveau bei Medizinprodukten in Deutschland ein wenig verbessern.
Der Antrag ist aber unzureichend und packt viele der
Probleme, die wir bei den Medizinprodukten haben,
überhaupt nicht an. Deshalb enthalten wir uns.
Um es klar zu sagen: Der heute hier neben unserem
und anderen Anträgen der Opposition zur Abstimmung
stehende Antrag von Union und FDP zu Medizinprodukten ist schwach - nicht wegen der Forderungen, die
Zu Protokoll gegebene Reden
darin stehen, sondern wegen derer, die nicht darin stehen.
In ihrem Antrag listet die Koalition eine Reihe von
Vorschlägen auf, die die Bundesregierung bei den laufenden Beratungen um das neue EU-Medizinprodukterecht einbringen soll. Im Kern entsprechen die
Vorschläge weitgehend dem, was ohnehin bereits Gegenstand des EU-Verordnungsentwurfs ist. Insofern ist
ihr Antrag eigentlich überflüssig. Der Antrag verdeutlicht aber, dass diese Koalition nicht willens ist, sich
darüber hinaus mit einem eigenen Beitrag für die Patientensicherheit bei Medizinprodukten einzusetzen.
Ein scheinbar kleines Detail ihres Antrags zeigt dies
ganz klar. Im vergangenen Jahr hatte die AG Gesundheit der CDU/CSU-Fraktion ein Positionspapier zu
Medizinprodukten beschlossen. Schon dieser Beschluss ist verhältnismäßig dürftig. Immerhin findet
sich dort zumindest aber die sinnvolle, im Übrigen seit
Jahren als geeignet angesehene Forderung, dass in einem Register für hochriskante Medizinprodukte neben
Produkt- und Patientendaten auch besondere Ereignisse, Komplikationen und Nebenwirkungen beispielsweise im Zusammenhang mit Implantaten registriert
werden sollen. Das würde zumindest die Möglichkeit
schaffen, dass man relativ schnell sieht, wenn sich bei
einem bestimmten Implantat Wechseloperationen oder
andere Komplikationen häufen.
In ihrem hier vorliegenden Antrag fehlt genau diese
Forderung. Es ist mir daher absolut rätselhaft, wie mit
einem solchen Register ohne die Daten zu Vorkommnissen eine bessere Langzeitüberwachung von Medizinprodukten erreicht werden soll. Besser kann man
nicht klarmachen, dass sie hier nicht die Sicherheit der
Patientinnen und Patienten, sondern vor allem die Interessen der Medizinproduktehersteller vertreten. Es
ist das, was ein zuständiger Mitarbeiter des Bundesgesundheitsministeriums im Sommer des vergangenen
Jahres bei einer Veranstaltung des Herstellerverbandes als „Abwehrkampf“ gegen eine grundlegende Reform des Medizinproduktesystems bezeichnet hat.
Dabei ist in diesem System so viel im Argen. Erschreckendes dazu war zum Beispiel im Oktober vergangenen Jahres im „British Medical Journal“ über
die sogenannten benannten Stellen zu lesen. Die Autoren konnten dort nachweisen, wie einfach es in Europa
ist, eine Zertifizierung für ein erfundenes, aber schon
nach Aktenlage hochgefährliches Implantat zu bekommen.
Es ist unverantwortlich gegenüber den Patientinnen
und Patienten, bei Medizinprodukten der höchsten
Risikostufe weiter auf ein Zulassungssystem zu verzichten, bei dem nicht die erforderlichen, staatlich
vorgegebenen Nachweise der Patientensicherheit im
Vordergrund stehen. Es ist unverantwortlich, bei Produkten der höchsten Risikostufe keine klinischen Studien durchzuführen, mit dem Nutzen, dass Risiko und
Wirksamkeit von Produkten untersucht werden können. Und es ist unverantwortlich, bei derartigen Produkten kein wirksames Stufenplanverfahren zu etablieren, mit dem problematische Produkte schnell vom
Markt genommen werden können.
Es ist zweifellos nicht falsch, dass es künftig unangemeldete Kontrollen der benannten Stellen bei den
Herstellern geben soll. Sie können aber noch so häufig
und noch so unangemeldet bei den Herstellern anrücken, sie werden so nichts daran ändern, dass manche
Produkte für die Patientinnen und Patienten gefährlich sind. Sie können so nicht mal im Ansatz verhindern, dass Hüftimplantate aus Metall eingesetzt werden, die deutlich häufiger als andere Prothesen wieder
ausgetauscht werden müssen und sogar Tumorerkrankungen oder andere Organschäden auslösen können,
und auch nicht verhindern, dass etwa Stents in den
Umlauf geraten, mit denen das Schlaganfall- oder Infarktrisiko erhöht wird, statt es, wie beabsichtigt, zu
verringern. Sie werden mit den von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen nichts dagegen ausrichten, dass
Patientinnen und Patienten völlig wirkungslosen oder
sogar gefährlichen Behandlungen ausgesetzt werden.
Dazu sind anstelle von eher oberflächlichen Produktprüfungen seriöse klinische Studien mit patientenrelevanten Endpunkten nötig.
Der Herstellerverband, aber auch diese Koalition
verweisen häufig darauf, alles dafür tun zu wollen,
dass medizinische Innovationen ohne bürokratische
Hürden so schnell wie möglich den Patientinnen und
Patienten zur Verfügung stehen. Dann sollten sie sich
aber auch der Frage stellen, was überhaupt eine Innovation ist. Wie innovativ ist eigentlich eine Therapie,
wenn sie den Patientinnen und Patienten schaden, ihre
Gesundheit oder gar ihr Leben gefährden kann? Auch
innovative Produkte müssen vor allem sicher sein,
auch im Interesse der Hersteller, und für die Patientinnen und Patienten einen Nutzen haben. Sicherheit,
Wirksamkeit und Nutzen müssen bei der Markteinführung neuer Medizinprodukte gewährleistet sein. Das
kann, wie auch die Untersuchungen im „British Medical Journal“ zeigen, ganz offensichtlich nur durch eine
letztlich staatlich verantwortete Zulassung vor allem
der riskanteren Medizinprodukte gewährleistet werden.
Vor diesem Hintergrund fordere ich die Bundesregierung und die beiden Regierungsfraktionen auf,
nicht länger mit den Herstellern herumzukungeln, sondern sich endlich den Patienteninteressen verpflichtet
zu fühlen und sich auf europäischer Ebene für ein
wirksames Zulassungs- und Überwachungssystem einzusetzen. Wenn Sie nicht wissen, wie Patientenschutz
geht, dann schauen Sie einfach in den grünen Antrag,
den SPD-Antrag oder in den Beschluss des Europäischen Parlaments. Dort finden Sie viele hilfreiche Vorschläge.
Wir kommen zur Abstimmung zunächst über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 17/12088. Der Ausschuss empfiehlt unter
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Buchstabe a seiner Empfehlung die Annahme des
Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/11830 mit dem Titel „Revision der europäischen Medizinprodukte-Richtlinien: Vertrauen wieder herstellen - Patientensicherheit bei Medizinprodukten muss erste Priorität sein“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung der
Linken angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8920 mit dem Titel „Sicherheit,
Wirksamkeit und gesundheitlichen Nutzen von Medizinprodukten besser gewährleisten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache
17/11312, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9932 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen
Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Zusatzpunkt 7. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Opfer des Brustimplantate-Skandals unterstützen - Keine Kostenbeteiligung bei medizinischer Notwendigkeit“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/12092, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8581 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke,
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf
Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfeträger
- Drucksachen 17/10863, 17/11748 Berichterstattung:
Abgeordneter Pascal Kober
Wie der Tagesordnung zu entnehmen ist, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir beraten heute abschließend einen Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der sich für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfeträger einsetzt. Hintergrund
dieses Antrags ist offensichtlich die in einigen Bundesländern etablierte Praxis, verstärkt und teilweise flächendeckend Anträge auf Kindergeldabzweigung zu
stellen. Die Zahl der Abzweigungsanträge ist tatsächlich gestiegen.
Was ist die Rechtslage?
Für ein Kind mit Behinderung können Eltern auch
über das 18. Lebensjahr hinaus und ohne altersmäßige
Begrenzung Kindergeld erhalten, wenn das Kind aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, sich
selbst zu versorgen. Voraussetzung ist, dass die Behinderung des Kindes vor dem 25. Lebensjahr eingetreten
ist. Im Einkommensteuergesetz ist geregelt, dass die
Familienkassen das eigentlich den Eltern zustehende
Kindergeld an die Stelle auszahlen dürfen, die dem
Kind Unterhalt gewährt. Diese Anrechnung kommt
dann in Betracht, wenn das Sozialamt dem Kind Unterhalt erbringt.
Der unter Umständen lebenslange Anspruch auf die
Leistung ist darin begründet, dass der Mehrbedarf der
Eltern, der mit dem Kindergeld zum Wohle des Kindes
ausgeglichen werden soll, bei Menschen mit Behinderung eben nicht regelmäßig mit ihrer Volljährigkeit endet. Selbst wenn die Unterhaltspflicht nicht mehr voll
besteht, geht der Gesetzgeber davon aus, dass den Eltern durch die Beeinträchtigung ihrer Kinder regelmäßig durch zusätzlichen Aufwand Kosten entstehen, die
andere Eltern mit Kindern ohne Behinderung in dieser
Form nicht haben. Es handelt sich daher um einen indirekten Nachteilsausgleich.
Auch mich haben Beschwerden betroffener Eltern
erreicht, die sich über die Praxis beklagen, das offensichtlich in der Abzweigung des Kindergeldes ein nicht
zu rechtfertigender Automatismus eingetreten ist. Nun
muss man aber wissen, dass die Sozialämter nicht nur
aufgrund von Sparzwängen so vorgehen, sondern sich
auch auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofes
vom 17. Dezember 2008 sowie weitere Entscheidungen
des Bundessozialgerichts berufen. Nach diesen Rechtsprechungen darf das Kindergeld an den Sozialleistungsträger, in der Regel die Landkreise, tatsächlich
abgezweigt werden. Voraussetzung ist, dass der Kindergeldberechtigte, zumeist die Eltern, nicht zum Unterhalt des volljährigen behinderten Kindes verpflichtet sind, weil das Kind Leistungen der Grundsicherung
nach dem SGB XII erhält.
Grundsätzlich darf das Kindergeld für ein Kind mit
Behinderung, das die Eltern beziehen, nicht bedarfsmindernd auf die Grundsicherung angerechnet werden. Eine Anrechnung kann nur erfolgen, wenn das
Kindergeld entweder von den Eltern an das Kind weitergeleitet oder direkt an das Kind ausgezahlt wird.
Allerdings kam es in der Vergangenheit immer wieder vor, dass Sozialämter trotzdem auch Grundsicherungsempfänger aufgefordert haben, einen Antrag bei
der Familienkasse auf Auszahlung des Kindergelds an
das Sozialamt zu stellen. Die Begründung lautete, dass
dies das Einkommen des Kindes erhöhen würde und
die Grundsicherung dementsprechend gekürzt werden
müsste. Grundsätzlich sind Sozialhilfeträger, sobald
sie für Sozialleistungen von Menschen mit Behinderung aufkommen, auch befugt, bei den Familienkassen
diese sogenannten Abzweigungsanträge zu stellen. Bei
positiver Entscheidung der Familienkasse über den
Abzweigungsantrag wird das Kindergeld dann nicht
mehr an die Eltern ausgezahlt, sondern an den Sozialhilfeträger direkt überwiesen.
Die Familienkassen haben bei diesen Entscheidungen einen Ermessensspielraum. Für die Entscheidung,
ob und in welcher Höhe abgezweigt wird, müssen sowohl die Antragsteller als auch die betroffenen Eltern
gewissenhaft angehört und in jedem Einzelfall muss
entsprechend den Gegebenheiten eine Einzelfallentscheidung gefällt werden. Wenn die Voraussetzungen
für eine Abzweigung vorliegen, hat die Familienkasse
bezüglich des „Ob“ einer Abzweigung angesichts der
geltenden Rechtsprechung allerdings keinen Spielraum mehr. Dann muss sie der Abzweigung zustimmen.
Dies kann auch bei einem volljährigen Kind mit einer
Behinderung der Fall sein, das zu Hause bei den Eltern lebt.
Als Konsequenz aus der Gesetzeslage und der geltenden Rechtsprechung dürfen Eltern das Kindergeld
nur dann vollständig behalten, wenn sie auch nachgewiesene Kosten in Höhe des Kindergeldes haben. Das
hat zur Folge, dass für die zusätzlichen Aufwendungen
Belege beigebracht werden müssen, zum Beispiel die
Kinokarte oder der Beförderungsbeleg. An dieser
Stelle ist der bürokratische Aufwand nicht zu leugnen.
Aber der Nachweis ist unumgänglich; denn es handelt
sich dabei um öffentliche Mittel.
Die Rechtslage für den Anspruch des Kindergeldes
ist klar. Trotzdem stelle auch ich fest, dass es leider immer wieder Fälle gibt, bei denen die Sozialhilfeträger
einen Antrag auf Abzweigung auch dann stellen, wenn
die Eltern mit ihren Kindern in einem Haushalt leben
und entsprechend hohe Ausgaben für ihre Kinder tragen. Der Ärger ist entsprechend groß, weil Eltern nicht
ausreichend über die Belegnachweise informiert werden oder Bescheide ohne Begründung ergehen. In diesen besonderen Fällen ist den Betroffenen zu raten,
das direkte Gespräch zu suchen und bei verhärteten Situationen entsprechende Rechtsmittel einzulegen.
Fundierte Hilfestellungen für betroffene Familien
gibt auch der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen, dem ich an dieser Stelle
sehr herzlich für seine wertvolle und fachlich erstklassige Arbeit danken möchte. Hier bekommen die betroffenen Eltern gut verständliche Informationen an die
Hand. Sie finden auf der Internetseite ein Musterschreiben, verbunden mit einer ausführlichen Argumentationshilfe. Dies ist konkrete Hilfe zur Selbsthilfe,
die für die Betroffenen oftmals schnell zum gewünschten Ergebnis führt und Klageverfahren und damit Kosten vermeiden kann.
Grundsätzlich also gilt - und darin sind wir uns sicher alle einig -, dass diese Anträge tatsächlich nur in
begründeten Ausnahmefällen gestellt werden dürfen,
wo seitens der Behörden der Verdacht besteht, dass Eltern nicht zum Unterhalt ihrer Kinder mit Behinderung
beitragen. Das hat das zuständige Bundesministerium
noch einmal auch gegenüber den Bundesländern klargestellt. Bereits im Jahr 2011 wurden die Länder von
der Bundesregierung dezidiert auf den Sachverhalt
aufmerksam gemacht, dass die Abzweigung von Kindergeld für ein volljähriges Kind mit Behinderung nur
in begründeten Ausnahmefällen in Betracht kommt.
Daraufhin haben die Länder ihre Sozialhilfeträger
entsprechend unterrichtet.
Die Praxis hat gezeigt, dass sich vor allem in den
Großstädten die Sozialhilfeträger der Rechtsauffassung der Bundesregierung angeschlossen haben und
umsichtig im jeweiligen Einzelfall handeln. Dass vonseiten einzelner Sozialhilfeträger auf ihre Pflicht verwiesen wird, Einnahmemöglichkeiten der Sozialhilfe
zu realisieren, ist eher die Folge von einem gewissen
Druck, Einsparungen angesichts einer angespannten
finanziellen Lage der Kommunen bzw. der jeweils zuständigen Behörde zu erzielen. Ich finde diese Argumentation sehr scheinheilig. Was den betroffenen Menschen zusteht, muss ihnen auch gegeben werden. Und
da der Bund die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter in erheblicher Größenordnung
übernommen hat, ist dieses Argument nicht mehr
nachvollziehbar bzw. trägt nicht.
Die Antragsteller bekräftigen in ihrem Antrag
selbst, dass die in einigen Bundesländern etablierte
Praxis mit der bestehenden Rechtslage nicht vereinbar
ist. Damit ist einvernehmlich klargestellt, dass wir
keine Gesetzesänderung brauchen, wie im Antrag gefordert. Vielmehr brauchen wir eine gesetzestreue Praxis, die „kundenfreundlich“ ist und in den Amtsstuben
verantwortet werden muss.
Das ist auch der Grund, warum wir den vorliegenden Antrag ablehnen. Allerdings möchte ich versöhnlich hinzufügen, dass wir als Parlament durch diesen
Antrag die leider notwendige sowie wünschenswerte
Möglichkeit haben, den Sachverhalt als solchen noch
einmal öffentlich darzustellen und eine möglichst unbürokratische Umsetzung der rechtlichen Regelung
einzufordern.
Den betroffenen Eltern wollen wir durchaus den Rücken stärken, damit sie alle Möglichkeiten der Teilhabe ihrer Kinder mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben nutzen, weil ihnen der Ausgleich des
Mehraufwandes in genannter Höhe, also des Kindergeldes, zusteht.
Wir sind dankbar für die Leistung, die viele, viele
Eltern erbringen. Sie leisten de facto mehr an Werten,
Zu Protokoll gegebene Reden
als ihnen in der Summe je ausgeglichen werden kann.
Das liebevolle Zusammenleben ist Tag für Tag eine
neue Herausforderung. Das wissen wir. Aber wir wissen ebenso, dass es leider auch gelegentlich eine missbräuchliche Verwendung der für die Kinder zugedachten Leistungen gibt. Vor diesem Hintergrund ist der
Nachweis der Mehraufwendungen für erwachsene
Kinder durch das Kindergeld im Vergleich zu minderjährigen Kindern gerechtfertigt.
Nicht gerechtfertigt sind Automatismen zum Nachteil der Eltern, die sich zu Hause um ihre Kinder kümmern. Sie leben unseren Grundsatz „ambulant vor stationär“ vor. Es ist zu wünschen, dass dies weiterhin
viele tun, was vor allem unter dem Aspekt der demografischen Entwicklung eine große Herausforderung
bleibt. Und weil dies so ist, will ich noch einmal die
Dinge aufzählen, die von dem Kindergeld als Mehraufwand auf Nachweis erstattet werden: der Unterhaltsbeitrag für die Kosten der dem Kind geleisteten Eingliederungshilfe bzw. Hilfen zur Pflege; die Ausgaben
für Bekleidung, die aufgrund der Behinderung geändert werden muss oder schneller verschleißt; die
Fahrtkosten für Behördengänge oder die Kosten für
Therapiebesuche sowie für Arzt- und Therapiebehandlungen, Zahnersatz oder Medikamente, die nicht von
der Krankenkasse finanziert werden; die Kosten für
Sehhilfen, die grundsätzlich nicht mehr von der Krankenkasse übernommen werden; die Kosten für die Ersatzbeschaffung von Einrichtungsgegenständen, etwa
Matratzen bei Kindern mit Inkontinenz; die Kosten für
Freizeitunternehmungen; die Unterhaltsgewährung in
Form von kostenfreier Unterkunft, wenn das Kind tatsächlich kostenlos bei seinen Eltern lebt und dafür
keine Unterkunftskosten im Rahmen der Grundsicherung geltend macht; die Aufwendungen für notwendige
Betreuungsleistungen durch andere Personen, die
nicht von der Pflegekasse oder dem Sozialhilfeträger
erstattet werden; die Aufwendungen für notwendige
Betreuungsleistungen durch die Eltern selbst, die nicht
von der Pflegekasse oder dem Sozialhilfeträger erstattet werden.
Diese Aufzählung zeigt einmal mehr, dass unser Sozialstaat durchaus die Lebenssituationen erfasst und
ausgleicht. Sie zeigt aber auch sehr deutlich, mit welchen Mehraufwendungen Eltern von Kindern mit Behinderung alleine fertigwerden müssen und dass sie
damit keinerlei Bevorteilung erfahren, wie manch einer leider behauptet.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Rechtslage ist klar und lebensnah, die Umsetzung ist komplex
und manchmal auch kompliziert, weil nicht jeder Einzelfall im Gesetz abgebildet werden kann. Deshalb bitten wir um eine verantwortungsvolle Umsetzung der
genannten gesetzlichen Regelungen.
Ein behindertes Kind ist für viele Eltern eine Lebensaufgabe. Sie versorgen es oft bis ins hohe Alter.
Als Ausgleich für finanzielle Mehrbelastungen erhalten sie dann auch für ihr erwachsenes Kind noch das
Kindergeld, wenn es sich wegen seiner Behinderung
nicht selbst unterhalten kann. Dieser Anspruch kann
bis zum Tod bestehen. Das betrifft Eltern, deren Kinder
im Schwerbehindertenausweis entweder das Merkmal H
haben, eine volle Erwerbsminderungsrente beziehen
oder wegen der Schwere der Behinderung nicht dem
ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Mit dem
lebenslangen Kindergeld sollen Mehrausgaben der
Eltern abgegolten werden. Schauen wir uns einmal an,
was das für Ausgaben sein können: zusätzliche Kosten,
die anfallen, wenn Eltern mit ihren Kindern in einer
gemeinsamen Wohnung leben; Kosten für Begleitfahrten zu Freunden, zu Kultur- und Sportveranstaltungen;
zusätzliche Aufwendungen für einen gemeinsamen
Urlaub, der durch die Behinderung des erwachsenen
Kindes finanziell oft ganz andere Dimensionen annimmt; günstige Alternativen wie die U-Bahn-Fahrt
zum Flughafen oder die Übernachtung auf dem
Campingplatz fallen unter Umständen flach; Kosten,
die entstehen, wenn Eltern ihre Kinder zu Behandlungen, Kuren und Arztbesuchen begleiten oder bei Hilfsund Heilmitteln und Medikamenten Geld aus eigener
Tasche zuschießen; zusätzliche Kosten für ein spezielles Auto, um Rollstuhl und Zubehör unterbringen zu
können.
Das sind nur einige wenige Beispiele. Schon sie zeigen: Diese Eltern leisten Großes - oft auf Kosten ihrer
eigenen Bedürfnisse und oft ihr Leben lang. Deshalb
ist es gerecht, dass sie einen finanziellen Ausgleich für
zusätzliche Kosten erhalten. Ihre Kinder werden nämlich nicht, wie andere, einmal auf eigenen Beinen stehen und sich selbst versorgen können. Aber ist es der
richtige Weg, für den Ausgleich dieser Kosten ausgerechnet das Kindergeld zu wählen? Menschen mit
schwerer Behinderung haben genauso das Recht auf
Respekt wie alle anderen auch. Kinder mit Behinderung bleiben nicht ihr Leben lang Kinder. Auch sie
werden erwachsen. Und dieser Umstand muss in unseren Gesetzen nachvollzogen werden.
Ich komme zum Antrag der Grünen. Menschen mit
Behinderung, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst
verdienen können, sind häufig auf Sozialhilfe angewiesen. Das trifft auch auf Kinder zu, die als Erwachsene
bei ihren Eltern leben oder in Pflegeeinrichtungen von
ihnen umsorgt werden. Die Sozialhilfeträger können
bei den Familienkassen sogenannte Abzweigungsanträge stellen. Das heißt, das Kindergeld wird dann
nicht weiter an die Eltern, sondern an die Sozialhilfeträger ausgezahlt. Somit kommt in diesen Familien
kein Kindergeld an. Früher ging dies nur, wenn das
Kind in einer vollstationären Einrichtung lebte, die
anfallenden Unterhaltskosten vom Sozialamt übernommen wurden und die Eltern keine oder nur geringe
Aufwendungen für das Kind hatten. Seit drei Jahren
gibt es eine andere Rechtsprechung. Das Kindergeld
kann nun auch Eltern gestrichen werden, die sich
nachweislich liebevoll und mit hohem finanziellem
Engagement um ihre Kinder in Pflegeeinrichtungen
kümmern, sie oft besuchen und ihnen das Leben verZu Protokoll gegebene Reden
schönern. Und der Sozialhilfeträger kann das Kindergeld jetzt sogar dann abzweigen, wenn das Kind im
Haushalt der Eltern lebt, was in der Regel mit
Mehrkosten verbunden ist, die nicht alle ausgeglichen
werden. Diese Rechtslage nutzen die Sozialhilfeträger
und zweigen immer mehr Kindergeld ab. Sie tun es, um
Geld zu sparen. Den Eltern bleibt in diesem Fall nur
der Widerspruch. Das darf nicht sein.
Es muss dringend darauf hingewirkt werden, dass
Sozialhilfeträger keine ungerechtfertigten Abzweigungsanträge stellen. Jetzt muss man überlegen, wie
man das hinbekommt. Das haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ja auch gemacht: rechtlich die Situation noch mal klarstellen und die Beweislast umkehren.
Das sind gute Vorschläge, aber sie helfen über das
Grundproblem leider nicht hinweg. Natürlich haben
Familien mit behinderten Kindern Nachteile und
Mehraufwendungen - auch die Eltern -, aber bitte
schön: Die behinderten Kinder sind irgendwann erwachsen. Und sie sollten nicht darauf angewiesen
sein, dass Mama und Papa zusätzliche Kosten, die
durch die Behinderung entstehen, für sie tragen. Und
sie sollten genauso wenig darauf angewiesen sein,
dass Mama und Papa dafür mit Kindergeld abgespeist
werden. Wir stehen für eine Politik, die auf die Selbstbestimmung behinderter Menschen zielt. Nachteilsausgleiche müssen den Menschen mit Behinderung
selbst gewährt werden. Mehraufwand der Eltern darf
nicht mit einem lebenslangen Kindergeld ausgeglichen
werden. Hier brauchen wir neue Konzepte. Die haben
wir in unserem Antrag „UN-Konvention jetzt umsetzen Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen“, Bundestagsdrucksache 17/7942, beschrieben. Wir wollen
weg vom Prinzip der Fürsorge und hin zur Teilhabe,
weg vom SGB XII in das SGB IX. Wir wollen die Möglichkeit eines einkommens- und vermögensunabhängigen Teilhabegeldes prüfen. Wir haben unseren Antrag
zusammen mit behinderten Menschen erarbeitet. Und
die haben ihren Anspruch ganz klar formuliert: Sie
möchten unabhängig sein! Das muss der Weg sein. Die
vielen unrechtmäßigen Kindergeldabzweigungen müssen wir stoppen, keine Frage. Aber die Problematik
jetzt einzelgesetzlich neu zu regeln, wäre Flickschusterei.
Wir sollten den großen Wurf wagen und konsequent
den Weg hin zu Teilhabe und Selbstbestimmung beschreiten. Das tun Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Grünen, mit Ihrem Antrag nicht. Deshalb werden
wir uns hier enthalten.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
den wir hier beraten, spricht ein Problem an, das in
der Vergangenheit vereinzelt existierte. Er ist dennoch
überflüssig, da diese christlich-liberale Bundesregierung durch ihr schnelles Handeln eine rechtliche
Klarstellung herbeigeführt hat.
Das Kindergeld erhält grundsätzlich der Elternteil,
der das Kind in seinen Haushalt aufnimmt und ihm
Unterhalt leistet. Nur in Ausnahmefällen kann das
Kindergeld von der zuständigen Familienkasse an
Dritte, entweder das Kind selbst oder den Sozialhilfeträger, ausbezahlt werden. Dies darf jedoch nur dann
geschehen, wenn der Elternteil seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind tatsächlich nicht nachkommt.
Während der Anspruch auf Kindergeld in der Regel
spätestens mit dem 25. Geburtstag endet, kann er bei
Menschen mit Behinderung auch über das 25. Lebensjahr hinaus bestehen, wenn sie aufgrund der Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, sich selbst zu unterhalten. Die Behinderung muss in diesen Fällen jedoch
vor dem 25. Lebensjahr eingetreten sein.
Hier haben die Sozialhilfeträger, die für die jeweiligen Sozialleistungen zuständig sind, die Möglichkeit,
einen Abzweigungsantrag zu stellen. Diesem ist jedoch
nur dann stattzugeben, wenn die Eltern nicht für den
Unterhalt des Kindes sorgen.
Wenn jedoch einzelne Kommunen mittlerweile
verstärkt Anträge auf Kindergeldabzweigung stellen,
dann ist das mit der bestehenden Rechtslage nicht vereinbar.
Deshalb hat das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales auch klargestellt, dass sich die Rechtslage
nicht geändert hat und dass solche Anträge nur in Ausnahmenfällen positiv beschieden werden können. Die
dafür erforderlichen Kriterien haben sich nicht geändert. Diese Rechtsauffassung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den Ländern für die Konferenz der obersten Landessozialbehörden am 7. April
2011 mitgeteilt.
Seit diesem Zeitpunkt ist festzustellen, dass in der
Sozialhilfepraxis, insbesondere in den Großstädten,
der Rechtsauffassung der Bundesregierung gefolgt
wird. Eine gesetzliche Änderung ist daher nicht notwendig.
Im Übrigen möchte ich die Gelegenheit nutzen, um
etwas zu den Kindergeldplänen der Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion zu sagen. Sie fordern über
die gesamte Legislaturperiode immer wieder, dass
statt in das Kindergeld viel mehr in Infrastruktur für
Kinder investiert werden müsse. Noch 2010 haben sie
sogar eine Senkung des Kindergeldes gefordert.
Diese Bundesregierung hat bei der Infrastruktur gehandelt. Wir haben in die Infrastruktur für Kinder zusätzlich investiert. Wir haben über 580 Millionen Euro
zusätzlich als Investitionszuschüsse für die Betreuung
von Kindern bereitgestellt. So können 30 000 zusätzliche Plätze für die öffentlich geförderte Betreuung von
Kindern unter drei Jahren geschaffen werden.
Zusätzlich hat das Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend gemeinsam mit der
Kreditanstalt für Wiederaufbau ein zweijähriges Förderprogramm für den Ausbau von Kindertagesstätten
Zu Protokoll gegebene Reden
aufgelegt. Hier stehen für den Zeitraum 350 Millionen
Euro zur Verfügung.
Sie sehen, dass diese Regierungskoalition handelt sowohl bei der Verbesserung der Infrastruktur für Kinder wie auch bei der Entlastung von Familien. Wir haben das Kindergeld pro Kind um 20 Euro im Monat
und den Kinderfreibetrag erhöht - und dabei trotzdem
den Haushalt konsolidiert. Ich würde mir wünschen,
dass die Länder hier genauso handeln würden.
Diese haben aber beim Ausbau der Kinderbetreuungsplätze noch Nachholbedarf, und durch die Blockade des Gesetzes zum Abbau der kalten Progression
verhindern die von SPD, Grünen und Linken regierten
Länder eine Entlastung der Familien.
Der Höhepunkt der Unredlichkeit sind dann ihre
Pläne zur Umgestaltung des Kindergeldes. Jetzt wollen sie das Kindergeld für bestimmte Familien erhöhen, für andere soll die Förderung hingegen geringer
ausfallen. Das zeigt, dass sie nicht wissen, was sie
wollen. Mal fordern sie eine Absenkung, mal eine teilweise Erhöhung.
Wir handeln lieber im Interesse der Kinder in unserem Land - und das mit in sich stimmigen Konzepten.
Hat Ihr Kind einen hohen Verschleiß an Kleidung
und Schuhen? Wenn ja, legen Sie bitte die Gründe dar,
und teilen Sie mit, was im Jahr an Kosten für Schuhe
und Kleidung anfallen. Muss Ihr Kind öfters ins Krankenhaus? Bitte teilen Sie mit, wie hoch Ihre gesamten
Kosten für die Renovierung des Zimmers des Kindes
waren. Wie oft renovieren Sie das Zimmer Ihres Kindes? Eigenartige Fragen. Können Sie sich vorstellen,
dass die Familienkasse die Beantwortung solcher und
weiterer ähnlich gelagerter Fragen fordert, bevor Sie
das Kindergeld bzw. den Kinderfreibetrag gewährt bekommen? Sicher nicht, denn das staatliche Kindergeld
soll - zumindest teilweise - die finanziellen Belastungen ausgleichen, die Eltern durch den Unterhalt ihrer
Kinder entstehen. Kindergeld ist ein Recht, kein Gnadenakt.
Es gibt aber solche Fragen von Familienkassen,
gestellt an Eltern von Kindern über 25 Jahren mit Behinderungen. Und dann bzw. schon zuvor erfolgt die
Kindergeldabzweigung. Was das ist? Dazu ein anonymisiertes Beispiel aus dem Landkreis Harz.
„Im Oktober 2011 kam Post von der Familienkasse,
FK, für die Eltern von Erika Mustermann. Erikas Eltern waren erstaunt, hatten sie doch erst vor kurzem,
wie in jedem Jahr, den Bescheid von der FK erhalten,
dass sie weiterhin Kindergeld für Erika bekommen.
Erika ist auf den Rollstuhl angewiesen. Sie lebt bei ihren Eltern im Haushalt. Da sie wirtschaftlich nicht
selbstständig und auf Hilfe angewiesen ist, erhält sie
vom Sozialamt des Landkreises Grundsicherung nach
dem Sozialgesetzbuch XII. Außerdem steht den Eltern
entsprechend Einkommensteuergesetz § 32 Kindergeld
auch nach dem 25. Lebensjahr ihres Kindes - Erika ist
über 30 Jahre alt - auf Dauer zu. Doch in diesem
Schreiben der FK steht, dass das Sozialamt des Kreises
ab November 2011 das Kindergeld für sich beantragt.
Was passierte dann? Der Abzweigungsantrag des
Landkreises an die FK bewirkt, dass die Kindergeldzahlung ab 1. November 2011 eingestellt wird, obwohl
noch nichts entschieden ist. Innerhalb von 14 Tagen
müssen die Eltern der FK mitteilen, welche finanziellen Aufwendungen ihnen für ihr Kind entstanden sind,
die über die Grundsicherung oder Leistungen anderer
- Kranken- oder Pflegekasse - hinausgehen. Dafür
sind der FK Nachweise - Quittungen, Belege usw. vorzulegen. Dann kommt die Mitteilung von der FK,
dass die Belege unzureichend seien, verbunden mit
Fragen wie zum Beispiel nach höherem behinderungsbedingten Verschleiß von Kleidung und Schuhen.
Nachweise müssen nachgereicht werden, noch weitere
werden von der FK gefordert. Monate vergehen.
Im Frühjahr 2012 kommt endlich der Bescheid von
der FK. Doch was ist das? Erikas Eltern sollen nur
noch etwa ein Drittel des bisherigen Kindergeldes von
184 Euro erhalten, der Landkreis bekommt etwa zwei
Drittel. Eine Nachzahlung ab November wird den Eltern angekündigt. Doch dazu kommt es nicht. Der
Landkreis gibt sich mit einer Teilabzweigung nicht zufrieden und legt Einspruch gegen diesen Bescheid bei
der FK ein. Er will alles. Bis zum letzten Herbstmonat
des Jahres 2012 ist noch keine Entscheidung gefallen.
Erikas Eltern bekommen jetzt bereits seit einem Jahr
kein Kindergeld, obwohl sie sich wie seit über 30 Jahren liebevoll um ihre Tochter kümmern. Die natürlich
weiterhin anfallenden behinderungsbedingten Mehraufwendungen können sie seit einem Jahr nur noch erbringen, indem sie selbst auf Nötiges für sich verzichten.
Der Landkreis hat die Mittel, die er 2012 aus Kindergeldabzweigungen eingenommen hat - 180 000 Euro -,
inzwischen als Deckungsquelle für eine überplanmäßige Ausgabe eingesetzt. Das Geld im Haushaltsplan
2012 hat nicht für die Zahlung der Sozialhilfe - dafür
ist ebenfalls der Landkreis zuständig - an alte Menschen gereicht, die von ihrer geringen Rente nicht leben können. Sie erhalten jetzt das Geld, das den Eltern
erwachsener behinderter Kinder abgezweigt wurde.“
Dies wurde auf Grundlage einer Vielzahl von Gesprächen mit betroffenen Eltern vom Kreistagsabgeordneten Eberhard Schröder, Die Linke, am 16. November 2012 aufgeschrieben. Ähnliche Berichte kenne
ich auch aus Gera in Thüringen, Gemeinden in Bayern
und anderen Kommunen. Am 5. Dezember 2012 übergab eine Elterninitiative 2 305 Unterschriften an den
Landrat Dr. Michael Ermrich anlässlich der Harzer
Kreistagssitzung. Inzwischen sind weitere 400 Unterschriften hinzugekommen. Nachfolgend die Worte von
Frau Birgit Kortum, Vertreterin der Elterninitiative
Quedlinburg, anlässlich der Übergabe der 2 305 Unterschriften gegen die Kindergeldabzweigung: „Sehr
geehrter Herr Landrat, sehr geehrte Mitglieder des
Kreistages, ich spreche heute für mich und für alle
Eltern, denen der Landkreis per Verfügung das Kindergeld, welches wir für unsere behinderten Kinder
Zu Protokoll gegebene Reden
von der Kindergeldkasse erhalten haben, abspricht.
Der Landkreis unterstellt uns damit, dass wir uns nicht
ausreichend um unsere behinderten Angehörigen kümmern. Uns wird weiter unterstellt, dass wir das Kindergeld nicht für unsere Kinder ausgeben, und wir müssen
detailliert aufführen, was wir mit dem Kindergeld machen und wie wir es verwenden, damit wir es ganz oder
teilweise weiter bekommen. Als seinerzeit das Gesetz
erlassen wurde, dass Kindergeld länger für ein behindertes Kind gezahlt werden kann, hat man sicherlich
bedacht, dass Eltern, die ihr behindertes Kind zu
Hause haben, ständig gefordert sind und mehr Ausgaben haben als mit einem gesunden Kind, welches einmal selbstständig leben kann.
Wir fordern deshalb die Rücknahme der Abzweigungsanträge durch den Landkreis. Nicht nur wir, sondern auch viele Bürger unseres Landes unterstützen
unsere Forderung mit ihrer Unterschrift, und deshalb
möchte ich Ihnen heute einen Teil der Listen unserer
Unterschriftenaktion übergeben.“
Auf Antrag der Fraktion Die Linke im Landtag
Sachsen-Anhalt gab es am 14. Dezember 2012 dazu
eine Debatte in der Landeshauptstadt Magdeburg
- „Abzweigung von Kindergeld für erwachsene Behinderte stoppen“, Drucksache 6/1671 -, auch in den
Landtagen Bayern und Thüringen stand das Thema
schon auf der Tagesordnung. Auch der Bundesregierung ist das Problem seit längerem bekannt. Ich verweise diesbezüglich unter anderem auf meine Anfragen aus den Jahren 2010 und 2011 sowie die
abwiegelnden Antworten und äußerst halbherzigen
Reaktionen der Bundesregierung dazu. Schon damals
erklärte die Bundesregierung, dass hier gegen geltendes Recht verstoßen wird und sie Maßnahmen zur Änderung der kritisierten Praxis ergreift. Und trotzdem
wird das Kindergeld Familien mit behinderten Jugendlichen vorenthalten. Deswegen unterstützt die Linke
auch den hier zur Abstimmung stehenden Antrag der
Grünen. Absurd sind die Begründungen von CDU/
CSU, FDP und SPD für ihre Ablehnung bzw. Stimmenthaltung, nachzulesen in der Beschlussempfehlung,
Drucksache 17/11748. Selbstverständlich: Es gibt bessere Möglichkeiten für Nachteilsausgleiche als das gegenwärtige Kindergeldsystem. Ich nenne dafür die
Vorschläge der Linken, nachzulesen in unserem Antrag
für ein Teilhabesicherungsgesetz, Drucksache 17/7889.
Aber solange diese Form von bedarfsgerechten, einkommens- und vermögensunabhängigen Teilhabeleistungen nicht verwirklicht ist, muss das vorhandene
System im Sinne der Betroffenen umgesetzt werden.
Und das heißt unter anderem, dass Kindergeldabzweigungen nur in wenigen begründeten Ausnahmefällen
möglich sein dürfen.
Und auf ein weiteres, großes Problem möchte ich an
dieser Stelle hinweisen. Wenn Eltern, in deren Haushalt ein erwachsenes behindertes „Kind“ lebt, selbst
Hartz IV - SGB II - oder Grundsicherung - SGB XII beziehen, wird ihnen in jedem Fall das Kindergeld als
Einkommen angerechnet und von ihrem Regelsatz abgezogen. Hinzu kam die Einführung der Regelbedarfsstufe 3, mit der die Regelsätze für junge Menschen, die
bei den Eltern leben, gekürzt wurden. Hier geht es
nicht um den Umgang von einzelnen Kommunen mit
Bundesgesetzen, sondern um bestehendes Bundesrecht
selbst. Hartz IV und die Agenda 2010 sind Armut per
Gesetz.
Für mich bleibt es ein Skandal, wenn immer wieder
bei den Ärmsten in der Gesellschaft gespart wird,
wenn bei Familien mit Kindern und vor allem bei
Familien mit Kindern bzw. Jugendlichen mit Behinderungen Geld abgezweigt wird. Dabei gibt es andere
Möglichkeiten, Geld für klamme Haushalte in Bund,
Ländern und Kommunen abzuzweigen, denke ich nur
an unnötige Ausgaben für Banken, Konzerne, für unsinnige Großprojekte, für Rüstung und Kriegseinsätze.
Niemand hier stellt infrage, dass Eltern, deren erwachsene behinderte Kinder ihren Lebensunterhalt
nicht durch Erwerbsarbeit bestreiten können, weiterhin Kindergeld beziehen sollen. Nur in begründeten
Einzelfällen, wenn zum Beispiel zwischen Eltern und
Kind kein Kontakt besteht, ist eine Kindergeldzahlung
nicht gerechtfertigt. Die Diskussion, die wir im Ausschuss über den hier zur Debatte stehenden Antrag
hatten, hat die Einigkeit zwischen den Fraktionen in
dieser Hinsicht sehr deutlich gemacht. Da angenommen werden kann, dass den Eltern in Folge der Beeinträchtigung ihres Kindes höhere Kosten entstehen als
Eltern nichtbehinderter Kinder, erhalten sie auch eine
staatliche Leistung länger. Die Einigkeit darüber, dass
es bei der Umsetzung dieses Rechtsanspruchs erhebliche Probleme gibt, war im Ausschuss ebenfalls relativ
groß. Kein Wunder, denn die Zahl der Klagen ist in dieser Sache hoch, und ich nehme an, dass sich betroffene
Familien nicht nur an mich gewandt haben.
So hat mir beispielsweise ein Vater aus Thüringen
vom Rechtsstreit berichtet, den die Familie im Zusammenhang mit dem Kindergeld für die erwachsene behinderte Tochter hat. Nachdem die Familienkasse
nach Prüfung der von den Eltern eingereichten Unterlagen den Antrag des Sozialhilfeträgers auf Abzweigung abgelehnt hatte, klagte der Sozialhilfeträger. Das
Sozialamt klagte aber nicht nur in diesem Fall, sondern in dieser Stadt gleich in über zehn Fällen. In meinem Wahlkreis Dortmund hat die Stadt im vorletzten
Jahr bei 550 infrage kommenden Fällen 458 Abzweigungsanträge gestellt. Bei nahezu allen von der Familienkasse abgelehnten Fällen hat der Sozialhilfeträger
Einspruch eingelegt. Aus anderen Bundesländern ist
mir Ähnliches bekannt. Den Eltern entsteht durch
diese Praxis der Sozialhilfeträger zum einen der Aufwand, kleinteilig nachzuweisen, in welchem Umfang
sie für ihre Kinder aufkommen. Zum anderen entsteht
Unsicherheit, inwiefern sie sich auf diese Leistung
finanziell verlassen können. So war diese Leistung
nicht gedacht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich habe es schon gesagt: Das Kindergeld darf nur
in besonders begründeten Ausnahmefällen entzogen
werden, in dieser Frage sind sich alle Fraktionen einig. Es ist leicht nachzuweisen, dass die Sozialhilfeträger nicht nach diesem Prinzip agieren. Ich kann das
angesichts der prekären finanziellen Lage der Träger
auch nachvollziehen. Das ändert aber nichts daran,
dass sie mit ihrer Praxis der Intention des Gesetzgebers widersprechen, von den Kosten, die durch die
zahlreichen Gerichtsverfahren entstehen, ganz zu
schweigen. Eine Klarstellung scheint also tatsächlich
geboten zu sein.
In Anbetracht der großen interfraktionellen Einigkeit in der Sache würde man annehmen, dass unser Antrag auch auf große Zustimmung stößt. Dies ist leider
nicht der Fall. Die Koalitionsfraktionen meinen, die
Rechtslage sei klar, und die Bundesregierung steuere
der kritisierten Entwicklung bereits entgegen. Warum
bei klarer Rechtslage derart viele Prozesse geführt
werden, leuchtet mir nicht ein. Aber ich hoffe wirklich,
dass dieses Gegensteuern bald positive Effekte zeitigt.
Die Probleme sind ja nun lang genug bekannt.
Erstaunt haben mich mit ihrem Abstimmungsverhalten zum wiederholten Male die Sozialdemokraten.
Denn die SPD kann sich ebenfalls nicht zu einer Zustimmung durchringen. Zwar hat auch die SPD infolge
unseres Antrags geprüft, ob es tatsächlich ein Problem
gibt mit vermehrten Abzweigungsanträgen, und dabei
festgestellt, dass dies der Fall ist. Insbesondere einen
Grund hat die Fraktion im Ausschuss genannt, der ihr
an unserem Antrag Bauchschmerzen bereitet. Denn
das Geld, das jetzt die Familien bekommen, müsse eigentlich an die Menschen mit Behinderung selbst ausgezahlt werden. Ich halte dies ebenfalls für das richtige langfristige Ziel, deshalb haben wir es auch in
unseren Antrag aufgenommen. Es „muss eine Lösung
gefunden werden, die Menschen mit Beeinträchtigungen entsprechend ihrer behinderungsbezogenen,
individuellen Mehrbedarfe einen einkommens- und
vermögensunabhängigen Nachteilsausgleich garantiert. Solange eine solche Neuregelung im Sinne von
Menschen mit Behinderungen nicht gefunden ist, muss
die Praxis der nicht gerechtfertigten flächenmäßigen
Kindergeldabzweigung beendet werden.“ Warum die
SPD einem Antrag nicht zustimmen kann, der Familien
mit behinderten Kindern entlastet, ohne dabei aus dem
Blick zu verlieren, dass langfristig das System der
Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderung
neu geordnet werden muss, ist schlicht nicht nachvollziehbar. Es ist die Weigerung, die konkreten Probleme
anzugehen, mit denen Menschen mit Behinderung und
ihre Familien zu kämpfen haben. Oder anders gesagt:
Ich freue mich darauf, die SPD an ihre weitgehenden
Forderungen zu erinnern, sollte sie in Regierungsverantwortung kommen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/11748, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10863 abzulehnen. Wer stimmt für diese Empfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Tagesordnungspunkt 30:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
personenstandsrechtlicher Vorschriften ({0})
- Drucksache 17/10489 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll genommen.
In der heutigen Debatte beschäftigen wir uns in erster Lesung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften. Bei Inkrafttreten des Reformgesetzes zum 1. Januar 2009
standen die für die Einführung der elektronischen Registerführung erforderlichen technischen Komponenten und Verfahren noch nicht zur Verfügung. Deshalb
wurde für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember
2013 auch weiterhin die Beurkundung in Papierregistern zugelassen. Die fünfjährige Übergangsphase für
die verbindliche Einführung der elektronischen Beurkundungs- und Mitteilungsverfahren im Personenstandswesen gab den Ländern Gelegenheit, erste Erfahrungen der Standesämter und Rechenzentren mit
dem neuen Recht und den elektronischen Prozessen
auszuwerten und für eine Überprüfung der entsprechenden Vorschriften zu nutzen. Die von den Personenstandsrechtsreferenten der Länder am 25. Februar 2010
beschlossene Evaluierung hat gezeigt, dass das neue
Recht sich bei der praktischen Anwendung in den
Standesämtern grundsätzlich bewährt hat. Regelungslücken werden durch den jetzt vorgelegten Änderungsentwurf geschlossen.
Viele der Änderungen sind lediglich redaktioneller
Art. An dieser Stelle möchte ich niemanden mit Details
langweilen. Dennoch ist das Thema wichtig, denn es
betrifft jeden einzelnen Bürger und jede einzelne Bürgerin in unserem Land im täglichen Leben. Bei Geburt,
Umzug, Hochzeit, Scheidung, Kindern und Tod spielt
das Personenstandsrecht eine wichtige Rolle. Deshalb
möchte ich insbesondere auf die Änderungen eingehen, die dazu dienen sollen, den betroffenen Menschen
das Leben zu erleichtern, und die ich deshalb als besonders hervorhebenswert erachte.
Da ist zum einen: Die Antragsberechtigung für
Sterbefälle von Deutschen im Ausland. Diese wird erweitert. Das betrifft einerseits Personen, die nach dem
Verstorbenen erbberechtigt sind. Diese Personen ha26940
ben zwar einen Rechtsanspruch auf Ausstellung einer
Sterbeurkunde - § 62 Abs. 1 Satz 2 PStG -, konnten jedoch bisher die Nachbeurkundung eines nicht im Inland beurkundeten Sterbefalls nicht verlangen. Dies
kann jedoch - wie die Praxis zeigt - erforderlich sein,
wenn der Verstorbene in einem Land verstorben ist,
das für ausländische Staatsangehörige keine Sterbeurkunden ausstellt. Darüber hinaus wird den deutschen
Auslandsvertretungen insbesondere für Sterbefälle von
Bundeswehrsoldaten, Polizeibeamten und sonstigen
im Dienst der Bundesrepublik Deutschland stehenden
Personen, die im Auslandseinsatz versterben, eine Antragsberechtigung eingeräumt.
Besonders wichtig erscheint mir auch, dass der jetzt
vorgelegte Änderungsentwurf für Eltern die Möglichkeit schafft, eine Fehlgeburt dem Standesamt gegenüber anzuzeigen und ihr totgeborenes Kind - unabhängig von dessen Gewicht - über den Eintrag in das
Personenstandsregister juristisch als Person anerkennen zu lassen. Eine Fehlgeburt ist für die betroffenen
Familien schrecklich. Ich kann das Bedürfnis von Eltern, ihrem totgeborenen Kind einen Namen und damit
eine Identität geben zu wollen und es beerdigen zu
können, gut nachvollziehen.
Eine Schutzmöglichkeit eröffnet auch der Änderungsentwurf gemäß § 62 Transsexuellen vor einer Offenbarung ihrer Transsexualität. Durch das Änderungsgesetz zum Transsexuellengesetz vom 17. Juli 2009 ist
die Ledigkeit des Antragstellers nicht mehr Voraussetzung für die gerichtliche Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit. Dadurch können verheiratete Transsexuelle ihre bestehende Ehe oder Lebenspartnerschaft
trotz des Wechsels der Geschlechtszugehörigkeit fortführen. In der Ehe- und Lebenspartnerschaftsurkunde
wird in solchen Fällen durch die Anpassung der Leittexte „Ehemann“ und „Ehefrau“ oder durch die Angabe eines geänderten Vornamens mittelbar die Tatsache der Transsexualität eines Partners offensichtlich.
Mit der beabsichtigten Regelung wird deshalb der
bisher nur für Geburtsurkunden bestehende Offenbarungsschutz auch auf die Erteilung von Ehe- und
Lebenspartnerschaftsurkunden erweitert. Nach § 62
Abs. 3 Personenstandsgesetz gilt diese Beschränkung
auch für die Auskunft aus einem und Einsicht in einen
Registereintrag sowie Auskunft aus den und Einsicht in
die Sammelakten des Standesamts.
Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehung
der Länder zustande gekommen ist, ist fachlich und
politisch zu begrüßen. Es ist notwendig, das Personenstandsrecht den Anforderungen und den Bedürfnissen
unserer Zeit anzupassen und Gesichtspunkte wie Deregulierung, Verwaltungsvereinfachung und Kostenreduzierung zu berücksichtigen. Durch die jetzt vorgesehenen
Änderungen wird eine nachhaltige Harmonisierung
des Personenstandsrechts in Deutschland und eine
effektive Durchführung des personenstandsrechtlichen
Beurkundungsverfahrens erreicht. Soweit an der einen
oder anderen Stelle möglicherweise noch Optimierungsbedarf besteht, können wir dies im Verfahren berücksichtigen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Im November 2006 haben wir in der Großen Koalition das Gesetz zur Reform des Personenstandsrechts
verabschiedet. Dieses Gesetz, das 2007 in Kraft getreten ist, basiert auf einem Entwurf der rot-grünen Koalition aus der 15. Wahlperiode und wurde nur wenig
verändert. Es hat das Personenstandsrecht von 1937
in der Fassung von 1957 abgelöst. Die Schwerpunkte
der damaligen Reform waren die Einführung elektronischer Personenstandsregister anstelle der bisherigen papiergebundenen Personenstandsbücher, die Begrenzung der Fortführung der Personenstandsregister
durch das Standesamt sowie die Abgabe der Register
an die Archive, die Ersetzung des Familienbuchs durch
Beurkundungen in den Personenstandsregistern, die
Reduzierung der Beurkundungsdaten auf das für die
Dokumentation des Personenstandes erforderliche
Maß, die Neuordnung der Benutzung der Personenstandsbücher sowie die Schaffung einer rechtlichen
Grundlage für eine Testamentsdatei. Da das damalige
Gesetz eine tiefgreifende Änderung, nämlich die Umstellung von papiergestützter Beurkundung auf ein
elektronisches Register bedeutete, wurde damals eine
Übergangsfrist in § 75 PStG aufgenommen. Diese
Übergangsfrist endet am 30. Juni diesen Jahres. In den
letzten Jahren hat sich gezeigt, dass sich die Reform
des Personenstandsrechts bewährt hat.
Das nun vorliegende Personenstandsrechts-Änderungsgesetz setzt die Ergebnisse der Evaluierung des
Personenstandsrechts von 2007 um. Es sind nur punktuelle Verbesserungen notwendig. Leider beschränkt
sich dieser Gesetzentwurf nur auf technische und formelle Fragen und lässt Menschen, die Probleme mit
der personenstandsrechtlichen Eintragung haben, außer Acht. Der Deutsche Ethikrat hat im Februar 2012
eine Stellungnahme zum Themenschwerpunkt „Intersexualität“ vorgelegt. In dieser Stellungnahme, die der
Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung erstellt hat,
gibt er auch Empfehlungen an die Politik. In den Empfehlungen zum Personenstandsrecht heißt es: „Der
Deutsche Ethikrat ist der Auffassung, dass ein nicht zu
rechtfertigender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht
und das Recht auf Gleichbehandlung vorliegt, wenn
Menschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Konstitution weder dem Geschlecht ‚weiblich‘ noch
‚männlich‘ zuordnen können, rechtlich gezwungen
werden, sich im Personenstandsregister einer dieser
Kategorien zuzuordnen.“
Der Ethikrat schlägt vor, ein sogenanntes drittes
Kästchen, zu ermöglichen und auch auf eine Eintragung zu verzichten, bis sich der oder die Betroffene
selbst entscheiden kann. Diese Änderungen fordert
auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme.
Die Bundesregierung hingegen äußert sich wie folgt
dazu: „Eine Lösung der komplexen Probleme insbesondere unter Berücksichtigung medizinischer Aspekte
Zu Protokoll gegebene Reden
kann in diesem schon weit fortgeschrittenen Gesetzgebungsverfahren nicht kurzfristig gefunden werden.“
Diese Aussage ist eine Enttäuschung für die Betroffenen. Die Stellungnahme des Ethikrates ist vom Februar 2012. Im Mai 2012 wurde der Gesetzentwurf
dem Bundesrat zugeleitet. Es wäre also hinreichend
Zeit gewesen, sich mit diesem Thema zu befassen, die
Empfehlungen des Ethikrates aufzunehmen oder einen
Änderungsantrag vorzulegen. Offensichtlich nimmt
die Bundesregierung die Probleme und Sorgen der Betroffenen nicht ernst. Es wird, wie in vielen anderen
Bereichen auch, so zum Beispiel beim Transsexuellengesetz, das durch mehrere Bundesverfassungsgerichtsurteile in vielen Teilen verfassungswidrig ist, nur angekündigt und vertröstet, aber nicht gehandelt.
Ein weiteres Problem, das durch diesen Gesetzentwurf nicht gelöst wird, ist das Problem der „Weißen
Karteikarten“. Dabei geht es um den Schutz des Erbrechts und der Verfahrensbeteiligungsrechte nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder im Nachlassverfahren. Die Standesämter führen in Deutschland seit
Ende des 19. Jahrhunderts die Personenstandsregister.
Der Staat beurkundet dort den Personenstand jedes
Bürgers - und damit seine Stellung innerhalb der
Rechtsordnung einschließlich des Namens. Während
eheliche Kinder schon ab 1935 beim Heiratseintrag
oder im Familienbuch registriert wurden, war die Praxis bei nichtehelichen Kindern uneinheitlich. So gab es
zum Beispiel von 1958 bis 1970 keine Hinweise bei den
Geburtseinträgen der Eltern, von 1970 bis 2009 wurden die Geburtsregister der Eltern über die Geburt
nichtehelicher Kinder mittels Weißer Karteikarten unterrichtet, die von den Geburtsstandesämtern der Kinder übersandt wurden. Im Personenstandsregister der
Eltern wurde ein Vermerk angebracht. Nach der
Wende galt dieses Verfahren ab 1990 auch in den
neuen Bundesländern. Vergleichbare Regelungen gab
es über die Jahrzehnte für einzeladoptierte Kinder. Seit
1. Januar 2009 wird einheitlich am Geburtseintrag
beider Eltern ein Hinweis auf alle Kinder mit den Kindesdaten angebracht. Eine Unterscheidung zwischen
ehelichen, nichtehelichen und einzeladoptierten Kindern findet nicht statt. Die Frage, die sich nun stellt
und die der Gesetzentwurf nicht löst, ist der weitere
Umgang mit diesen Weißen Karteikarten. Der Bundesrat schlägt in einem Gesetzentwurf vor, die Weißen
Karteikarten zusammen mit den sogenannten Gelben
Karteikarten, die Verwahrungsnachrichten über Testamente und Erbverträge enthalten, an das zentrale
Testamentsregister der Bundesnotarkammer zu überführen. Dann könnte die Bundesnotarkammer die
Nachlassgerichte wenigstens über nichteheliche und
einzeladoptierte Kinder, die in den alten Bundesländern zwischen 1970 und 2008 und in den neuen Bundesländern zwischen 1990 und 2008 geboren wurden,
unterrichten. Die Bundesregierung lehnt dies ab. Sie
kümmert sich leider überhaupt nicht um dieses Problem. In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der
SPD-Fraktion vom November des vergangenen Jahres
hat sie ausgeführt, es sei gar nicht nötig, das Vorhandensein nichtehelicher Kinder im Sterbefall dem Nachlassgericht mitzuteilen. Die Bundesregierung hat weiter mitgeteilt, es sei richtig, dass die Standesämter die
Weißen Karteikarten vernichten dürften. Die Bundesregierung habe sich jedoch dieser Problematik angenommen und sei mit den Ländern im Gespräch. Die
Bundesregierung gehe davon aus, dass eine angemessene Regelung gefunden wird. Geschehen ist seither
nichts. Auch in diesem Gesetzentwurf findet sich kein
Wort dazu. Der Bundesrat hat das bemängelt. Jetzt
schlägt die Bundesregierung in ihrer Erwiderung vor,
dass die Länder selbst in einer Rechtsverordnung die
Aufbewahrung und Nutzung der Weißen Karteikarten
regeln sollen. Das ist keine ernsthafte Lösung, sondern
eine unangemessene Abschiebung des Problems. In
der Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD hat die
Bundesregierung noch erklärt, die Länder könnten gar
keine Schutzregelungen erlassen. Wir brauchen für einen wirksamen Schutz des Erbrechts der betroffenen
Kinder einen einheitlichen Standard und Vollzug, und
dafür muss der Bundesgesetzgeber sorgen.
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass dieser Gesetzentwurf die personenstandsrechtliche Registrierung
von sogenannten Sternenkindern vorsieht. Kinder, die
mit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm tot zur
Welt kommen, werden Sternenkinder genannt. Bisher
sieht das derzeit gültige Personenstandsrecht keine
personenstandsrechtliche Erfassung dieser Kinder vor.
Deshalb begrüßen wir als SPD-Bundestagsfraktion es
ausdrücklich, dass es hier eine Veränderung gibt. Ich
selbst habe von vielen Eltern von Sternenkindern
Briefe bekommen, in denen sie mir erklärt haben, dass
eine solche Eintragung ihrer Kinder, die sie verloren
haben, ein wichtiger Beitrag zur Verarbeitung dieses
Verlustes ist. Eine Frage, die mir von Eltern gestellt
wurde, ist, ob wir nicht auch eine rückwirkende Eintragung der Sternenkinder ermöglichen können. Den
Eltern ist durchaus klar, dass sich aus einer solchen
Eintragung keine finanziellen oder sonstigen Ansprüche ergeben. Für sie geht es nur darum, dass ihr Kind
nicht einfach nur eine Fehlgeburt ist, sondern auch
rechtlich als Kind anerkannt wird. Für viele Eltern von
Sternenkindern hat diese Eintragung eine hohe emotionale Bedeutung. Auch wenn die Vorschrift des § 31
des Gesetzentwurfes wohl eine rückwirkende Registrierung der Sternenkinder ermöglicht, so wäre für die
Betroffenen eine explizite Formulierung in dieser Vorschrift sicherlich ein gutes Signal. Darüber sollten wir
in den Beratungen sprechen.
Das Gesetz enthält klarstellende und vor allem redaktionelle Änderungen, bringt aber keine Verbesserungen für intersexuelle und transsexuelle Menschen.
Deren Anliegen scheinen die Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen nicht zu interessieren. Auch wollen sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ihrer Verantwortung bezüglich der nichtehelichen und einzeladoptierten Kinder nicht stellen.
Ich hoffe, dass wir in den anstehenden Beratungen
doch noch zu Fortschritten kommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Personenstandsgesetz von 2007 durch die christlich-liberale Koalition nachhaltig verbessert. Die Änderung
des Gesetzes ist nötig, weil einige Aspekte des Gesetzes
sich als nicht zeitgemäß herausgestellt haben und an
die Gegebenheiten und an die gesellschaftlich gelebten
Realitäten angepasst werden müssen.
In unserem Land kommt es tragischerweise immer
wieder dazu, dass Kinder tot geboren werden und weniger als 500 Gramm wiegen. Bisher hat das Personenstandsrecht diese Sternenkinder nicht erfasst. Für
den Staat haben sie rechtlich sozusagen nicht existiert.
Das trifft aber überhaupt nicht die brutale Realität,
mit der die Eltern konfrontiert sind, die eine Bindung
zu ihrem ungeborenen Kind aufgebaut haben und die
mit den Rechtsfolgen des alten Personenstandsgesetzes konfrontiert sind. So kam es in der Vergangenheit
leider vor, dass Friedhöfe die Bestattung dieser Kinder
verweigerten, so wie es einem Ehepaar aus Hessen geschehen ist.
Das ist nicht hinnehmbar. Eltern sollen immer ein
Recht auf Anerkennung ihrer Elternschaft haben. Sie
sollen die Möglichkeit bekommen, um ihr Kind angemessen trauern zu können, wenn sie es so früh verloren
haben, und sie sollen die Möglichkeit bekommen, seiner anständig gedenken zu können.
Das möchten wir mit Ihrer Zustimmung im Personenstandsrechts-Änderungsgesetz schaffen. Und darum bitte ich Sie alle herzlich um Ihre Zustimmung.
Doch damit hört es nicht auf: Viele Deutsche halten
sich immer wieder im Ausland auf. Sie gehen als Entwicklungshelfer oder Katastrophenschützer oder als
Freiwillige im Entwicklungsdienst ins Ausland, sie dienen als Bundeswehrsoldaten oder Polizisten. Sie berichten als Korrespondenten aus Krisengebieten, oder
sie machen Urlaub auf den Kanarischen Inseln. Immer
wieder kommt es dabei zu Todesfällen. Ein Sprengsatz,
ein bewaffneter Raubüberfall, ein Verkehrsunfall, ein
Badeunfall: All diese Ereignisse haben in der Vergangenheit zum tragischen Tod von Deutschen im Ausland
geführt. Die Hinterbliebenen stehen derzeit vor großen
Problemen. Sie haben einen schmerzhaften persönlichen Verlust erlitten und müssen sich zusätzlich um die
Rückführung ihres verstorbenen Angehörigen kümmern. Und sie haben behördlichen Aufwand, da sie
derzeit noch bei ihrem örtlichen Standesamt die Sterbeurkunde des Angehörigen ausfertigen lassen müssen.
Dass Menschen in einer solch schwierigen Situation
auch noch mit bürokratischem Ärger behelligt werden
- ja sogar Probleme bekommen können, da eventuell
wichtige Unterlagen nicht sofort beigetrieben werden
können -, halte ich für inakzeptabel.
Daher passen wir im neuen Personenstandsgesetz
die Verwaltungsarbeit an die Realität an. Zukünftig
können auch deutsche Auslandsbehörden die Ausstellung der Sterbeurkunde in Auftrag geben und die Angehörigen so entlasten. Das ist eine Verbesserung.
Daneben werden wir noch eine Reihe technischer
Anpassungen im Gesetz durchführen, um das Personenstandswesen zeitgemäßer und moderner zu machen
und es stärker an der Lebensrealität der Bürgerinnen
und Bürger zu orientieren. So wollen wir die Erfassung
der Geschlechtszugehörigkeit in bestimmten Fällen
zukünftig genauer bestimmen und harmonisieren,
nicht zuletzt, um damit auch Transsexuellen zukünftig
die Möglichkeit zu geben, ihr rechtliches Geschlecht
richtig dokumentieren zu lassen.
Insgesamt kann man sagen: Mit dem Personenstandsrechts-Änderungsgesetz schaffen wir mehr Möglichkeiten und Verbesserungen für die Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland. Ich bitte Sie daher, dieses
Gesetzesvorhaben zu unterstützen.
Im Jahr 2006 hat der Bundestag eine weitreichende
Reform des deutschen Personenstandsrechts beschlossen, die 2009 in Kraft getreten ist. Mit dieser Reform
wurde das Personenstandsrecht in der Bundesrepublik
entschlankt und zugleich auf eine elektronische Führung der Personenstandsdaten umgestellt. Dieses Gesetz soll nun nach den ersten Erfahrungen mit der Einführung der elektronischen Register in den Ländern
nochmals gestrafft und klarer formuliert werden. Dem
ist zunächst einmal nichts entgegenzuhalten. Doch an
den seinerzeit umstrittenen Punkten ändert sich nichts,
ohne dass der Gesetzentwurf sich dazu weiter äußert.
Diese Punkte seien hier nochmals ins Gedächtnis gerufen. Durch eine Länderöffnungsklausel ist die
Schließung einer Lebenspartnerschaft vor dem Standesamt weiterhin nicht in allen Ländern obligatorisch.
In Bayern wird die Lebenspartnerschaft immer noch
vor dem Notar geschlossen und dann vom Standesamt
lediglich eingetragen. Gleichgeschlechtlichen Paaren
bleibt damit der feierliche Rahmen, den die Standesämter bieten, verwehrt. Im Übrigen bleibt auch die
Übertragung der Daten über die Schließung einer Lebenspartnerschaft an die Kirchen erhalten. In Einrichtungen der katholischen Kirche kann das Bekanntwerden einer eingetragenen Lebenspartnerschaft zur
Kündigung führen.
Um bei den Kirchen zu bleiben: Die Aufnahme der
Religionszugehörigkeit in die Geburtenregister wurde
mit der Reform im Jahr 2009 auf eine freiwillige Basis
gestellt. Weiterhin ist aber die Frage offen, wozu dieses Datum denn überhaupt in den Geburtenregistern
eingetragen werden soll. Im Sinne der Datensparsamkeit hätte dieses Merkmal nun ganz gestrichen werden
können, denn schließlich ist es für keine Behörde außer das Finanzamt von Relevanz.
Ich will noch auf einen letzten Punkt eingehen. Der
Bundesrat hat in seiner Stellungnahme von der Bundesregierung gefordert, sie möge die Einführung einer Kategorie „anderes“ als dritte Alternative bei der Angabe
des Geschlechts in personenstandsrechtlichen AngeleZu Protokoll gegebene Reden
genheiten prüfen. Es ist bekannt, dass trans- und intersexuelle Menschen durch die geltende Rechtslage massiv diskriminiert werden, weil man ihnen verweigert,
ihre Geschlechtsidentität in ihrem Pass und weiteren
Urkunden amtlich dokumentieren zu lassen. Der Bundesrat schließt sich deshalb mit seiner Stellungnahme
einer Empfehlung des Nationalen Ethikrates vom Februar 2012 an. Die Bundesregierung weist dieses Ansinnen mit der Begründung zurück, die mit Intersexualität verbundenen Probleme seien hochkomplex, und
man müsse erst Betroffene und Sachverständige anhören. Ich will darauf hinweisen, dass es schon 2007 im
Innenausschuss des Bundestages ein öffentliches
Fachgespräch zum Thema Transsexuellenrecht gab.
Von einzelnen Betroffenen und ihren Verbänden liegen
zahlreiche Stellungnahmen vor. Die komplexen Probleme als auch mögliche Lösungsansätze sind also
schon lange bekannt. Es gibt zahlreiche Modelle, wie
die Interessen und Bedürfnisse von Inter- und Transsexuellen im Personenstandsrecht berücksichtigt werden
können. So ist es in Australien möglich, statt männlich
oder weiblich ein X in den Pass eintragen zu lassen.
Staaten rund um die Welt haben ähnliche Lösungsansätze. Die Diskriminierung von inter- und transsexuellen Menschen muss endlich beendet werden.
Für den Protagonisten von B. Travens weltberühm-
tem Roman „Das Totenschiff“ wird der Verlust seiner
Papiere zu einer kafkaesken Reise ins Nichts, gleichbe-
deutend mit dem Verlust von Identität und Hoffnung.
Alles kein Problem, werden Sie ganz nüchtern entgeg-
nen, er kann ja eine neue Geburtsurkunde beantragen.
Dafür braucht es aber ein funktionierendes Personen-
standswesen.
Das moderne bundesdeutsche Personenstandsrecht
verfügt die Erfassung und Beglaubigung der Bundes-
bürger in für rechtlich relevant erklärten Personen-
standsereignissen wie Geburt, Heirat, Tod, Adoption,
Vaterschaftsanerkennung oder auch Namensände-
rung, weil an diese Ereignisse wichtige Rechtsfolgen
geknüpft werden. Zuständig sind bei uns die Standes-
ämter der Kommunen, die Erfassung erfolgt - das Be-
urkundungsmedium Papier hat abgedankt - in unter-
schiedlichen elektronischen Registern. Über den
Umfang und Inhalt der Einträge wird regelmäßig ge-
stritten.
Die wesentliche Reform des Personenstandswesens
erfolgte in der letzten Legislaturperiode. Die schwarz-
rote Koalition war in der glücklichen Lage, im Wesent-
lichen auf die Vorarbeiten der rot-grünen Koalition zu
dieser komplexen Fachmaterie zurückgreifen zu kön-
nen. Im Ergebnis wurden insbesondere die Beurkun-
dung in elektronischen Personenstandsregistern und
der standardisierte elektronische Informationsaus-
tausch zwischen den Standesämtern gesetzlich umge-
setzt. Für die tatsächliche Umsetzung dagegen wurde
eine fünfjährige Übergangsperiode und die Evaluie-
rung der Erfahrungen durch eine Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe festgesetzt. Die Ergebnisse der Evaluie-
rung liegen nach Angaben der Bundesregierung im
Wesentlichen dem nun vorgelegten Gesetzentwurf zu-
grunde.
Der heute zu diskutierende Gesetzentwurf umfasst
vor allem klarstellende und redaktionelle Änderungen,
die wir mittragen können. Hervorzuheben sind die ver-
schiedentlich geforderte neu geschaffene Möglichkeit
der Anzeige auch einer Fehlgeburt gegenüber dem
Standesamt und die Erlangung einer amtlichen Be-
scheinigung hierüber. Ferner ausdrücklich zu begrü-
ßen ist die Erweiterung der Antragsmöglichkeiten für
die gerichtliche Feststellung der Geschlechtszugehö-
rigkeit auch auf Verheiratete. Dadurch können verhei-
ratete Transsexuelle ihre bestehende Ehe oder Le-
benspartnerschaft fortführen.
Bedauerlich bleibt, dass die Bundesregierung im Rah-
men dieser Reform keine Bereitschaft zeigt, auf die auch
vom Bundesrat unter Bezugnahme auf die Stellung-
nahme des Deutschen Ethikrates angeratene Berück-
sichtigung von Intersexuellen einzugehen. Wir haben
dazu in einem eigenen Antrag, Bundestagsdrucksache
17/5528, und in Übereinstimmung mit dem Ethikrat
eine eigene Berücksichtigung Intersexueller im Perso-
nenstandsrecht eingefordert bzw. eine Überprüfung
der Notwendigkeit der Eintragung des Geschlechts,
gegebenenfalls deren Ausdifferenzierung.
Das Personenstandswesen wird in dem Maße im
Umbruch bleiben, wie der gesellschaftliche Wandel
Veränderungen von Ehe, Familie oder auch Identitäts-
vorstellungen allgemein nach sich zieht. Gerade bei
der von uns maßgeblich erstrittenen Lebenspartner-
schaft werden wir weiter darauf hinwirken, dass die
Gleichbehandlung auch im Rahmen des Personen-
standsrechts gewahrt bleibt. Datenschutz und Daten-
sicherheit der mittlerweile auf digitale Verarbeitung
umgestellten Personenstandsregister bleiben ebenfalls
aktuell. Von besonderer Bedeutung bleiben dabei die
Einhaltung des Erforderlichkeitsgrundsatzes und die
Beschränkung der Erfassung von personenbezogenen
Daten auf das zur Zweckerreichung unbedingt Erfor-
derliche.
Das Bundeskabinett hat im Mai 2012 Änderungen
des Personenstandsrechts auf den Weg gebracht. Der
Gesetzentwurf ist für eine kleine Gruppe von Eltern
ganz besonders wichtig, für Eltern nämlich, deren
Kind mit einem Gewicht von unter 500 Gramm tot zur
Welt gekommen ist. Er sieht vor, dass sie ihr Kind beim
Standesamt namentlich anmelden können. Sie können
seine Geburt so dauerhaft dokumentieren lassen und
ihm damit offiziell eine Existenz geben. Das war bisher
nicht möglich. Sogenannte Fehlgeburten, also Kinder,
die mit unter 500 Gramm tot geboren wurden, waren
grundsätzlich von der Beurkundung ausgeschlossen.
Eltern, die mit einer Fehlgeburt im fortgeschrittenen
Zu Protokoll gegebene Reden
Schwangerschaftsstadium schon einen schweren
Schicksalsschlag erlitten hatten, mussten auch noch
hinnehmen, dass ihr totes Kind behandelt wird, als
hätte es nie existiert. Ich bin sehr froh, dass ich dem
Kabinett zusammen mit meinem Kollegen Herrn Bun-
desminister Dr. Friedrich einen Regelungsvorschlag
vorlegen konnte, der endlich einen würdigen Umgang
mit diesen „Sternenkindern“, wie viele Eltern sie nen-
nen, ermöglicht. Das Thema liegt mir sehr am Herzen,
weil solche Schicksale mir auch persönlich sehr nahe-
gehen. Immer wieder bekomme ich dazu Briefe betrof-
fener Eltern.
Besonders bewegt hat mich der Brief einer Frau,
die mir ein Foto ihrer totgeborenen Zwillinge ge-
schickt hat. Sie hatte in der 22. Schwangerschaftswo-
che eine Fehlgeburt. Ihre Zwillinge haben zu diesem
Zeitpunkt 420 Gramm und 450 Gramm gewogen. Ich
habe dieses Bild gesehen, das zwei winzige und doch
so vollständige Menschen zeigt, und konnte das tiefe
Bedürfnis der Eltern so gut verstehen, ihren Kindern
einen Namen zu geben und damit auch deutlich zu ma-
chen: Wir sind Mutter und Vater, auch wenn unsere
Kinder nicht mehr leben. Diesen Brief und das Foto
habe ich damals an meinen Kollegen, Bundesminister
Dr. Friedrich, geschickt. Wir waren uns einig, dass wir
diesen Eltern helfen müssen. Dieser Meinung sind, wie
ich weiß, auch viele Kolleginnen und Kollegen hier im
Deutschen Bundestag, und das ist auch und vor allem
ein Verdienst der Familie Martin. Ihre Geschichte hat
mich darin bestärkt, dass es richtig war, eine Gesetzes-
änderung anzustoßen. Das Ehepaar Martin kämpft
unter anderem mit einer Petition an den Deutschen
Bundestag um einen würdigen Umgang mit allen Ster-
nenkindern. Sie haben ihre drei Kinder verloren. Nur
eines wog über 500 Gramm und zählt im rechtlichen
Sinne. Die anderen beiden existieren nur in ihrer Er-
innerung. Sie wollen Paaren helfen, die Ähnliches
durchleiden müssen wie sie. Ich habe vor ihrem Enga-
gement großen Respekt.
Nicht nur aus persönlichem Erleben heraus, son-
dern auch aus familienpolitischen Erwägungen ist die
derzeitige Regelung nicht hinnehmbar: Mütter und Vä-
ter haben zu ihrem ungeborenen Kind in einem fortge-
schrittenen Stadium der Schwangerschaft meistens
eine intensive Bindung entwickelt. Wenn sie es verlie-
ren, brauchen sie einen Raum für ihre Trauer und ih-
ren Schmerz. Sie brauchen einen Raum, um Abschied
zu nehmen, und sie wollen als Familien wahrgenom-
men werden. Ich halte die derzeitige Gesetzeslage da-
her insgesamt für ethisch nicht vertretbar. Deshalb
habe ich mich für eine Änderung des Personenstands-
rechts eingesetzt. Dabei war es mir wichtig, dass die
neue Regelung rückwirkend auch für Mütter und Väter
gilt, die diesen schweren Schicksalsschlag bereits er-
leiden mussten, wie beispielsweise Familie Martin und
das Elternpaar, das mir das Foto ihrer toten Zwillinge
geschickt hat.
Die neue Regelung mag den Schmerz nicht lindern,
den der Verlust eines Kindes bedeutet. Aber sie ermög-
licht Eltern wenigstens einen würdigen Abschied von
ihrem Kind. Deshalb bin ich auch froh, dass viele Bun-
desländer inzwischen betroffenen Eltern die Möglich-
keit geben, ihre zu früh geborenen Kinder zu bestatten,
und dass viele Kommunen sich Gedanken machen, wie
sie für Eltern würdige Orte der Erinnerung schaffen
können. Auf vielen Friedhöfen gibt es zum Beispiel
mittlerweile einen „Garten der Sternenkinder“.
Personenstandsrecht, Familienrecht und ethische
Erwägungen sind eng miteinander verknüpft. Hinter
nüchternen Regelungen für Verzeichnisse, Register
und Dokumente stehen Familiengeschichten und per-
sönliche Schicksale. Das dürfen wir nicht aus den Au-
gen verlieren. Deshalb ist die Änderung des Personen-
standsrechts zugunsten der vielen Mütter und Väter
eines Sternenkindes nicht nur rechtlich und familien-
politisch notwendig, sondern vor allem eine Frage der
Menschlichkeit. Und deshalb bitte ich Sie: Begleiten
Sie diesen Gesetzentwurf in den parlamentarischen
Beratungen konstruktiv.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10489 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich
sehe, es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann ha-
ben wir das so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EUEmissionshandels
- Drucksache 17/12064 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, Bettina
Herlitzius, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 17/156 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
- Drucksache 17/9780 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Dr. Lutz Knopek
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Oliver Krischer
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll genommen.
Die Energieversorgung muss sicher, bezahlbar und
klimafreundlich erfolgen. Diesem Ziel haben sich die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen verpflichtet. Zu dieser Zielsetzung bekennt sich auch die
Opposition.
In der laufenden Legislaturperiode wurden viele
wichtige Vorhaben fortgeführt, angeschoben und beschlossen, die eine saubere Energieversorgung der
Bürgerinnen und Bürger langfristig absichern. Die erneuerbaren Energien sichern mittlerweile 25 Prozent
unserer Stromversorgung ab. Das ist ein großer Erfolg.
Wir wären sicherlich in Deutschland auch noch ein
Stück weiter, wenn die SPD nicht durch ihre gegenwärtige Mehrheit im Bundesrat richtige Vorhaben behindern würde, Stichwort: Gebäudesanierung. Die Energiewende wäre auch für die Verbraucher deutlich
kostengünstiger, wenn wichtige Änderungen und
Anpassungen am Erneuerbaren-Energien-Gesetz nicht
von der SPD im Bundesrat torpediert würden.
Ich finde es auch bedauerlich, dass die Opposition
an ihrem Gesetzesvorschlag aus dem Jahr 2009 festhält. Mit der Gesetzesinitiative wird nicht mehr oder
weniger gefordert als der unverzügliche Kohleausstieg. Die im Gesetzesvorschlag genannten Effizienzund Wirkungsgrade sind von den modernsten Kraftwerken der Welt nicht erreichbar. Mit der modernsten
Technologie kann man die geforderten Kriterien nicht
erreichen. Gerade vor dem Hintergrund des von uns
allen beschlossenen Atomausstiegs und der noch zu
lösenden Herausforderungen beim Umbau der Energieversorgung halte ich den Vorschlag daher für absolut falsch.
Wir, die Koalitionsfraktionen, wollen, dass unsere
Energieversorgung schnellstmöglich durch erneuerbare Energie abgedeckt wird. Es gibt auch vielversprechende Ansätze, bisherige Probleme mit der starken
Volatilität zu lösen. Ich halte es aber nicht für verantwortungsvoll, alle bisherigen Säulen der Energieversorgung aufzugeben, ohne dass wir andere starke
und tragfähige Säulen errichtet haben. Die Gesetzesinitiative der Grünen riskiert dunkle und kalte Wohnzimmer genauso wie abgeschaltete Industrieanlagen.
So wollen wir die Energiewende nicht gestalten.
Die Kohlekraftwerke sind mittlerweile viel flexibler,
als oftmals unterstellt, und wir brauchen diese Kraftwerke als Übergang. Wir brauchen auch neue Kohlekraftwerke, um die Energiewende erfolgreich und bezahlbar zu gestalten.
Das ist kein uneingeschränktes Ja zur weiteren
Kohleverstromung für Jahrzehnte. Ganz im Gegenteil:
Wir weisen den Kohlekraftwerken eine klare Funktion
zu. Diese Kraftwerke haben eine Brückenfunktion, um
vorhandene Schwankungen und Versorgungslücken
auszugleichen. Der Ausbau der erneuerbaren Energie
ist auf einem guten Weg, und wir setzen Anreize für zügige Innovationen sowohl bei den Erzeugungsanlagen
selbst als auch im Bereich der Speichertechnologien.
Gleichzeitig wird der Netzaus- und -umbau vorangetrieben.
Der heimischen Kohle wollen die Oppositionsfraktionen kurzfristig eine Absage erteilen. Der Gasimport
soll zum Ausgleich gesteigert werden. Unsere Abhängigkeit von teurem russischem Gas würde also steigen.
Dass Russland gerne weiteres Gas nach Deutschland
exportiert und die eigene russische Stromversorgung
dann mit Kohle absichert, spielt bei der Betrachtung
der Oppositionsfraktionen keine Rolle. Dass die russischen Kohlekraftwerke eine wesentlich geringere Effizienz besitzen als die Anlagen in Deutschland, dürfte
aber bekannt sein. Folglich steigt in Deutschland mit
den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht nur der Energiepreis, sondern im Ergebnis auch der CO2-Ausstoß.
Das können wir nicht befürworten.
Die ständigen Attacken auf die Kohle verunsichern
die Menschen, die von der Kohle leben. Allein in
meinem Bundesland sind deutlich mehr als 10 000 Arbeitsplätze aufs Engste mit der Braunkohle verbunden.
Diese Menschen wissen, dass die Braunkohleverstromung endlich ist, und das ist in den Kohlerevieren
auch weitgehend akzeptiert. Die ständigen Nadelstiche
und das Drohen mit dem sofortigen Ausstieg schaffen
aber Verunsicherung und Zukunftsängste. Diese
Verunsicherung schadet der Energiewende und der
notwendigen Akzeptanz für Netzausbau und Anlagen
im Bereich der erneuerbaren Energien insgesamt.
Hören Sie bitte damit auf!
Sie wissen doch genauso wie wir, dass nicht der
schnellstmögliche Kohleausstieg den Erfolg der Energiewende sichert. Durch den Einspeisevorrang für erneuerbare Energien sind Kohlekraftwerke gar keine
Konkurrenz für die Stromerzeugung aus erneuerbaren
Energien. Der Erfolg der Energiewende ist abhängig
von der Verbesserung der Energieeffizienz, vom Ausbau innovativer marktfähiger Erzeugungsanlagen für
erneuerbare Energien, von Speicherlösungen und von
Fortschritten beim Netzaus- und -umbau. Hierauf
sollte auch endlich die Opposition ihre Aufmerksamkeit richten.
„Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EUEmissionshandels“, so heißt der Antrag der Linksfraktion, über den wir heute hier beraten. Dadurch wird
zumindest klar ausgesprochen, was auch die Grünen
schon seit Beginn der Legislaturperiode im Dezember
2009 mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes verfolgen: Nach
den Kernkraftwerken wollen Sie nun auch den Braunund Steinkohlekraftwerken in Deutschland den Garaus
machen.
Diese Deutlichkeit ist allerdings auch schon der
einzige positive Aspekt an Ihrem Antrag. Denn der
schnellstmögliche und vollständige Ausstieg aus der
Kohleverstromung in Deutschland, den Sie im Endeffekt anstreben, hätte nicht nur gravierende Nachteile
für die Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit
des Stroms in unserem Land. Er wäre auch ökologisch
nachteilig.
Linke und Grüne strengen sich zwar auch heute an,
den Eindruck zu erwecken, es ginge ihnen um wirksame CO2-Vermeidung und damit um Fortschritte
beim Klimaschutz. Tatsächlich aber versagen sie,
wenn es um die Realisierung der wirklich großen
Potenziale von CO2-Einsparung geht: Der Wärmebedarf unserer Wohn- und Geschäftsgebäude macht mit
49,8 Prozent beinahe die Hälfte der in Deutschland
verbrauchten Energie und damit des freigesetzten CO2
aus. Zum Vergleich werden für die Stromerzeugung
„nur“ 20,5 Prozent der Energie verbraucht.
Trotz dieses riesigen Potenzials haben sich alle
Landesregierungen, an denen die Grünen oder die
Linken beteiligt sind, im Bundesrat gegen die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung
entschieden. Sie haben damit dem Klimaschutz in diesem Land einen Bärendienst erwiesen. Und nun stellen
Sie sich heute hier hin und fordern publikumswirksam,
wie Sie glauben, letztlich die Beseitigung von großen
Kohlekraftwerken in Deutschland. Aber im Bundesrat
haben Sie Ihr wahres Gesicht gezeigt: Es geht Ihnen
um politische Machtspiele und nicht darum, wirklich
etwas für den Umwelt- und Klimaschutz in diesem
Land zu erreichen. Ich bedanke mich deshalb ausdrücklich bei der Bundesregierung, dass sie nun ein
Bundesprogramm auflegt, um die energetische Gebäudesanierung - trotz der Blockade im Bundesrat voranzubringen.
Wie widersprüchlich die Grünen handeln, zeigt ein
näherer Blick auf die von Ihnen vorgeschlagene Gesetzesänderung: Noch im Jahr 2004 hat der grüne Umweltminister Trittin die Einführung einer Ausnahme im
§ 5 Abs. 1 Satz 4 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
betrieben, die Anlagen von der Anwendung von Mindestwirkungsgraden ausnimmt, die am europäischen
Emissionshandel teilnehmen. Das war auch denklogisch; denn die Verringerung des CO2-Ausstoßes
durch Großemittenten wie Kraftwerke sollte europaweit einheitlich in allen Mitgliedstaaten mit demselben
Instrument erreicht werden: dem Handel mit CO2Emissionszertifikaten. Und dieser Emissionshandel
hat - allen Anfeindungen zum Trotz - seinen eigentlichen Zweck bisher erfüllt. Der Treibhausgasausstoß
ist in der EU im beabsichtigten Umfang zurückgegangen.
Und obwohl es logisch war und ist, die Teilnehmer
am Emissionshandel von weitergehenden Verpflichtungen auszunehmen, will die Grünen-Bundestagsfraktion jetzt ihre eigene Regelung wieder streichen. Gradlinige Politik sieht anders aus!
Auch die Linke zeigt durch ihren Antrag, dass sie
die Notwendigkeit einer globalen Strategie zum Klimaschutz nicht verstanden hat. Dem weltweiten Klimaschutz ist nicht gedient, wenn man ständig alle internationalen Anstrengungen auf diesem Gebiet anzweifelt
und alle getroffenen Regelungen - etwa zum EUEmissionshandel - regelmäßig infrage stellt. Und dem
globalen Klimaschutz ist erst recht nicht gedient - gerade wenn man sich vor Augen führt, dass unser Land
nur für circa 1 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes
verantwortlich ist -, wenn man den deutschen Bürgern
und Unternehmen ständig weitere Sonderlasten aufbürdet.
Richtig ist, dass Deutschland die größtmöglichen
Anstrengungen unternimmt, um unser im Energiekonzept 2010 gestecktes, auch im internationalen Vergleich sehr ehrgeiziges Ziel von 40 Prozent CO2-Einsparung bis 2020 gegenüber 1990 zu erreichen. Mit
dieser Vorbildfunktion auch die übrigen EU-Staaten zu
größeren Anstrengungen bei der CO2-Einsparung anzureizen, halte ich für sinnvoller, als die in Europa gemeinsam verabredeten Einsparungsziele infrage zu
stellen.
Das Gleiche gilt für die Kritik des Antrags der
Linken am Zertifikatesystem des Clean Development
Mechanism, CDM. Das System sorgt dafür, dass international getätigte Investitionen in den Klimaschutz im
nationalen Emissionshandelssystem berücksichtigt
werden können. Für das Weltklima ist schließlich unerheblich, wo die CO2-Emissionen vermieden werden.
Entscheidend ist, dass für jeden investierten Euro die
größtmögliche Menge Treibhausgas eingespart wird.
Deshalb ist es richtig, Investitionen dort vorzunehmen,
wo mit dem investierten Geld die größte CO2-Einsparung erzielt werden kann. Nationale Scheuklappen
sind hier fehl am Platz.
Noch viel bedenklicher ist aber, wie leichtfertig
durch beide Vorlagen die Stabilität der - derzeit ohnehin durch die Energiewende stark herausgeforderten Versorgungssicherheit aufs Spiel gesetzt wird. Noch im
Herbst des letzten Jahres hat die Bundesnetzagentur
auf die äußerst angespannte Versorgungssicherheitslage im Februar 2012 hingewiesen und dabei die wichtige Funktion der grundlastfähigen Kraftwerke - zumeist Kohlekraftwerke - betont. Wer wie die Linken in
ihrem Antrag von einer „Verstopfung der Netze durch
Kohlestrom“ spricht, zeigt, dass er technische Zusammenhänge nicht begreift oder begreifen will.
Wenn beide Vorlagen nun - durch ein direktes Verbot oder mit unerreichbaren Mindestwirkungsgraden die Stromerzeugung durch Kohlekraftwerke faktisch
unmöglich machen wollen, lässt das nur zwei Schlüsse
zu: Entweder ist Ihnen die gesicherte Versorgung unserer Bevölkerung und unserer Wirtschaft mit lebenswichtiger elektrischer Energie unwichtig, oder Sie
haben sich jeder realistischen Einschätzung der derzeitigen Lage im Stromerzeugungssektor verschlossen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dass dieser Gesetzentwurf eher das Ergebnis einer
realitätsfernen Sacheinschätzung ist, zeigt sich, wenn
man die Folgen der Regelung bis zum Ende denkt.
Denn die für alle Kohlekraftwerke im Gesetzentwurf
der Grünen vorgesehenen Mindestwirkungsgrade können zurzeit und auch in den nächsten Jahren weder
Alt- noch Neuanlagen technisch erreichen. 58 Prozent
Wirkungsgrad wird zurzeit nur durch neue hochmoderne Gaskraftwerke erreicht. Modernste Kohlekraftwerke können dies nicht schaffen; so hat das kürzlich
in Betrieb gegangene Braunkohlekraftwerk Grevenbroich-Neurath einen Wirkungsgrad von 43 Prozent.
Auch die Grünen wollen also den Ausstieg aus der
Kohle, obwohl Braunkohle der einzige heimische fossile Energieträger ist, aus dem zu konkurrenzfähigen
Preisen subventionsfrei Strom gewonnen wird.
Das Gesetz macht den Bau der Anlagen faktisch unmöglich - was im Titel des Linken-Antrags auch deutlich zum Ausdruck kommt. Dasselbe gilt aber auch für
die Bestandskraftwerke: Eine Nachrüstung auf das von
den Grünen geforderte Niveau von 38 Prozent bei
Steinkohle und 36 Prozent bei Braunkohle bis 2015 ist
völlig unrealistisch.
Wer eine solche Erdrosselung politisch fordert, verkennt sowohl die rechtlichen als auch die tatsächlichen Rahmenbedingungen. Ein - wenn auch nur faktisches - Verbot von Kohlekraftwerken muss sich
insbesondere mit Blick auf die Altanlagen an der Verfassung messen lassen. An der Zulässigkeit einer solchen Regelung bestehen erhebliche Bedenken.
Sie ist aber darüber hinaus auch umweltpolitisch
vollkommen widersinnig. Denn durch das faktische
Verbot des Kraftwerkneubaus einerseits und den verfassungsrechtlichen Bestandsschutz für Altanlagen andererseits wird erreicht, dass die alten, ineffizienten
und stark emittierenden Kraftwerke nicht durch
moderne Anlagen ersetzt werden. Stattdessen setzen
sie ihren Betrieb fort, weil dieser für die Stabilität des
deutschen Stromnetzes und damit für unsere Versorgungssicherheit unerlässlich ist.
Beide Vorlagen sind daher rechtlich sowie umweltpolitisch komplett verfehlt und daher abzulehnen.
Seit der Kehrtwende der Bundesregierung hin zum
Atomausstieg und dem damit verbundenen Einstieg in
die Energiewende sind wir uns in diesem Haus zum
Glück zumindest in einer Sache einig: dass Deutschland bis 2050 seine Energieversorgung ausschließlich
über regenerative Energien decken soll.
Der uns heute vorliegende Antrag der Fraktion Die
Linke und der uns seit längerem bekannte Entwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen versuchen, das Problem unserer Treibhausgasemissionen zu lösen. Beide
Anträge schießen jedoch - aus unterschiedlichen
Gründen - über das Ziel hinaus.
Die Energieproduktion aus Kohlekraftwerken linear
zu reduzieren, wie von der Fraktion Die Linke gefordert, ist eine Wunschvorstellung, die so in der Realität
nicht umsetzbar ist, auch wenn zugleich die Analyse,
dass die einstmals einkalkulierte Lenkungswirkung des
Emissionshandels momentan nicht funktioniert, sicherlich richtig ist.
Den im Antrag gezogenen Schlussfolgerungen kann
ich jedoch nicht folgen. Denn wenn ein von uns eingeführtes Lenkungssystem, also der Handel mit CO2-Zertifikaten, nicht funktioniert, wie ursprünglich vorgesehen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass das
Lenkungssystem an sich falsch ist - was aber der Antrag impliziert. Die Frage der aktuellen Umsetzung
des Zertifikatehandels stellt sich mir hier eher, als über
andere Reformvorschläge zu diskutieren.
Die Forderung der Grünen-Bundestagsfraktion,
hohe Effizienzgrade bei Neubauten von Kohlekraftwerken als Mindestwirkungsgradforderung zu formulieren, begrüßen wir grundsätzlich. Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf wird aber de facto eine sofortige
Abschaffung von Kohlekraftwerken gefordert. Unserem Ansatz, Kohlekraftwerke ({0}) als Back-up-Last
zu nutzen, widerspricht dies aber.
Bei dem grundsätzlichen Ziel, auf Dauer auf Kohle
zu verzichten, sind wir uns sicher alle einig, zumal die
in unseren Kraftwerken verwendete Kohle zum Großteil importiert wird und meist unter menschenunwürdigen und umweltschädlichen Bedingungen abgebaut
wird.
Einig sind wir uns sicher außerdem darin, dass wir
bis 2050 ausschließlich regenerative Energien in
Deutschland verwenden wollen. Wenn wir jedoch vorher das bestehende System zum unkontrollierten Kollaps bringen, ist dem gemeinsamen Ziel der Energiewende nicht gedient.
Unabhängig davon sind die bisher technisch möglichen höchsten Wirkungsgrade - ob bei Gas oder Kohle nur dann zu erreichen, wenn das entsprechende Kraftwerk möglichst gleichmäßig läuft. Der durch die hohe
Volatilität von erneuerbaren Energien geschuldeten
aktuellen Anforderung an Kraftwerke, immer flexibler
am Netz zu sein, widerspricht der hier formulierte Ansatz.
Vielmehr brauchen wir dringend einen funktionierenden Emissionshandel mit angemessenen Zertifikatepreisen. Und es ist allerhöchste Zeit, die groben
Versäumnisse der Bundesregierung in Sachen Emissionshandel zu korrigieren. Denn die Blockadehaltung
des Wirtschaftsministers hinsichtlich einer Reform des
Emissionshandels zugunsten unserer Umwelt vordergründig zum Schutz der deutschen Wirtschaft schadet
dieser langfristig aber mehr, als es nutzt, und widerspricht nebenbei dem Ziel der Energiewende.
Wäre das Handeln unserer Bundesregierung so verantwortungsvoll wie das Reden, müssten wir hier nicht
über Probleme von steigenden Treibhausgasen durch
Kohlekraftwerke diskutieren; denn dann wäre aus
Zu Protokoll gegebene Reden
Kohle produzierter Strom schlicht und ergreifend zu
teuer.
Wir enthalten uns der Stimme beim Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Dem Antrag der Fraktion Die Linke über ein
Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-Emissionshandels werden wir nicht zustimmen.
Anders als der Titel des Antrags der Linken nahelegt, ist der EU-Emissionshandel nicht gescheitert,
und er steht auch nicht kurz vor dem Scheitern. Zwar
ist der Preis für CO2-Emissionszertifikate dramatisch
eingebrochen und liegt nun bei ungefähr 6 Euro pro
Tonne CO2. Allerdings ist das Ziel des Emissionshandels nicht ein bestimmter Zertifikatepreis, sondern die
Einhaltung des Cap, das heißt, der EU-weit gedeckelten Gesamtmenge an CO2, die emissionshandelspflichtige Anlagen ausstoßen. Dieses Ziel wird bislang erreicht; von einem Scheitern kann also keine Rede sein.
Ganz unproblematisch ist die Situation allerdings
auch nicht. Der niedrige Zertifikatepreis führt zu einem niedrigeren Anreiz, in CO2-arme und nachhaltige
Technologien zu investieren. Diesen Anreiz aber benötigen wir, wenn die EU, wie in Doha zugesagt, bis 2014
überprüfen wird, ob ein über die Reduktion von
20 Prozent hinausgehendes Klimaschutzziel übernommen werden kann. Daneben brechen die Einnahmen
des Energie- und Klimafonds ein, der eine wesentliche
Rolle bei der Finanzierung der Energiewende spielt.
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, zur Stabilisierung des CO2-Preises das sogenannte Backloading
anzuwenden, das heißt, Zertifikate in der beginnenden
Handelsperiode zurückzuhalten. Die Forderung der
Linken, diese Zertifikate endgültig stillzulegen, führt in
jedem Fall zu weit. Denn die EU-Kommission würde
so ein Instrument aus der Hand geben, um bei einer
Überhitzung des CO2-Zertifikatemarktes zu reagieren,
etwa wenn die europäische Wirtschaft wieder an Fahrt
gewinnt.
Neben dem Emissionshandel hat der Antrag der
Linken noch ein zweites Thema: ein Verbot des Neubaus von Kohlekraftwerken. Dies ist im Übrigen auch
der Inhalt des grünen Gesetzentwurfs, der ebenfalls
unter diesem Tagesordnungspunkt debattiert wird. Was
die Linken klar benennen, wollen die Grünen durch die
Hintertür erreichen: Der in ihrem Gesetzentwurf geforderte Mindestwirkungsgrad für neue Kohlekraftwerke lässt sich ohne vorhandene Wärmesenken am
Standort rein technisch nicht erreichen. Aber wie der
Atomstrom stabil ersetzt werden soll, bis dies auch erneuerbare Energien leisten können, wird nicht erklärt.
In Wahrheit werden wir für eine Übergangszeit auf
Kohle nicht verzichten können, schon alleine aus
Gründen der Netzstabilität. Wer den Bau neuer effizienterer Kohlekraftwerke verhindert, trägt Schuld am
Weiterbetrieb alter ineffizienter Dreckschleudern und
erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst.
Die CO2-Emissionen in Deutschland liegen zwar
knapp 27 Prozent unter denen von 1990. Das ist gut,
wir wissen aber alle, dass daran der Zusammenbruch
der ostdeutschen Wirtschaft einen gehörigen Anteil
hat.
Natürlich gab es auch echten Klimaschutz, keine
Frage; denken wir nur an den rasanten Ausbau der erneuerbaren Energien.
Dagegen hat sich in der Energiewirtschaft insgesamt und in der Industrie seit langer Zeit kaum mehr
etwas bewegt. Und das sind ausgerechnet die emissionshandelspflichtigen Sektoren. Diese haben ihre
Treibhausgasemissionen seit 2005 - so lange gibt es ja
den Emissionshandel - gerade einmal um magere
5 Prozent verringert. Im letzten Jahr stieg gar der Anteil der klimaschädlichen Braun- und Steinkohle am
Strommix von 43 auf 45 Prozent. Super Emissionshandel, kann ich da nur sagen.
Offenbar stimmt etwas nicht mit dem tollen Handelssystem. Und wir wissen, warum. Es sind schlicht
zu viele Emissionsberechtigungen am Markt. Der CO2Preis liegt dementsprechend im Keller. Unter 6 Euro
kostet die Tonne momentan - Ramschware.
Sprechen wir es aus: Der Emissionshandel steht am
Rande des Scheiterns, weil Massen an windigen Zertifikaten aus dem globalen Süden einflogen, weil die Industrie zu viele Rechte erhielt und auch wegen der
Wirtschaftskrise. Anreize, in den Klimaschutz zu investieren, sind aus diesem System nicht mehr zu erwarten.
Es sei denn, es würde radikal reformiert.
Die Hälfte der überschüssigen Emissionsrechte lediglich für drei Jahre zurückzuhalten, wie es die EUKommission als ersten Schritt vorhat, nutzt dem Klimaschutz dabei gar nichts. Nein, Zertifikate über etwa
2 Milliarden Tonnen CO2 müssen verschwinden, und
zwar dauerhaft, sonst kracht der EU-Emissionshandel
zusammen. Zudem muss der CO2-Ausstoß bis 2020
mindestens doppelt so schnell reduziert werden, wie
gegenwärtig im System vorgesehen, sonst purzeln die
Zertifikatpreise gleich wieder in den Keller.
Darum müssen die Regierungen in Europa die langfristig wirkenden Reformvorschläge des Kohlenstoffmarktberichtes der Kommission aufgreifen. Und genau
das fordern wir Linke in unserem Antrag.
Die Gesamtmenge der Emissionszertifikate für die
kommende Handelsperiode muss um jenes Volumen
gekürzt werden, das in der laufenden Handelsperiode
entstanden ist. Es geht also um besagte 1,4 Milliarden
bis 2 Milliarden Zertifikate, die nicht nur zeitweise,
sondern endgültig stillzulegen sind.
Die sind übrigens nur in zweiter Linie krisenbedingt
oder aufgrund der Überausstattung entstanden. Rund
zwei Drittel der Gesamtmenge kommen aus oft zweifelZu Protokoll gegebene Reden
haften Projekten des Clean Development Mechanism,
CDM. Diese dürfen künftig nicht mehr anrechenbar
sein.
Zudem muss das jährliche Minderungsziel für emissionshandelspflichtige Anlagen in der dritten Handelsperiode von den momentan festgelegten 1,74 auf rund
3,9 Prozent erhöht werden. Das vorbehaltsose Minderungsziel für EU-Treibhausgasemissionen ist entsprechend von 20 auf mindestens 30 Prozent für den Zeitraum 1990 bis 2020 anzuheben.
Die Bundesregierung hat sich leider immer noch
keine Meinung zu den Optionen der EU-Kommission
gemacht. Denn Herr Rösler blockt wieder einmal und
steht einmal mehr auf der Bremse beim Klimaschutz.
Wahrscheinlich wird das Ganze auch in Europa nicht
durchsetzbar sein.
Darum fordert die Linke im Falle des Scheiterns der
Reformvorschläge ein Kohleausstiegsgesetz. Mit dem
Antrag wird also eine Alternative aufgemacht: Entweder die Mitgliedstaaten schaffen es gemeinsam, bis
zum Frühjahr den EU-Emissionshandel, ETS, radikal
zu reformieren, um ihn klimaschutztauglich zu machen, oder die Bundesregierung muss politisch das
Scheitern dieses Instruments feststellen und ein nationales Kohleausstiegsgesetz formulieren.
Greenpeace Deutschland hatte im Mai letzten Jahres ein solches Gesetz gefordert, da damals schon
klar war, dass der Emissionshandel als Lenkungsinstrument versagt. Die Organisation legte gleichzeitig
Grundzüge eines entsprechenden Gesetzentwurfs vor.
Wir greifen auf diese Idee zurück.
Daran angelehnt könnten ab 2014 die jährlichen
Strommengen aus Kohlekraftwerken begrenzt und in
den Folgejahren stetig und weitgehend linear reduziert
werden. Der Neubau von Kohlekraftwerken und der
Neuaufschluss von Tagebauen müssten entsprechend
verboten werden. Infolge eines solchen Gesetzes
könnte spätestens 2040 das letzte deutsche Kohlekraftwerk vom Netz gehen. Die Reststrommengen sind in
diesem System an die Betreiber von Kohlekraftwerken
anhand von Effizienz-Benchmarks unter Berücksichtigung der bisherigen Laufzeit zu vergeben.
Vielfach wurde in den vergangenen Jahren gemahnt: Der EU-Emissionshandel ist die letzte marktwirtschaftliche Ausfahrt im Klimaschutz. Wird sie aufgrund profitorientierter Lobbyinteressen verfehlt, so
muss striktes Ordnungsrecht her. Denn wir dürfen
nicht zulassen, dass unser Planet verhökert wird.
Das Scheitern des Emissionshandelssystems muss
also ein Kohleausstiegsgesetz zur Folge haben. Wir erwarten von der Bundesregierung, entsprechend zu
handeln.
Die europäische Klimapolitik steckt in der Krise.
Die Klimaziele der EU hinken der Wirklichkeit hinterher. Der Emissionshandel liegt auf der Intensivstation.
Und ausgerechnet die Bundesregierung stellt sich den
notwendigen Rettungsmaßnahmen in den Weg.
Der Emissionshandel gibt den klimaschädlichen
CO2-Emissionen aus Fabriken und Kraftwerken einen
Preis. Die Höhe des CO2-Preises ist ein Indikator für
den Ehrgeiz der europäischen Klimaschutzpolitik. Und
dieser CO2-Preis befindet sich seit Monaten im freien
Fall. Wer das Klima mit einer Tonne CO2-Ausstoß belasten will, muss dafür heute nicht einmal 6 Euro bezahlen. Vor anderthalb Jahren waren es noch 17 Euro.
Das hat fatale Konsequenzen: Investitionen in Klimaschutz und Energieeffizienz lohnen sich kaum noch.
Klimaverschmutzer kommen billig davon. Und im
Bundeshaushalt brechen die eingeplanten Einnahmen
aus der Versteigerung der Emissionszertifikate weg,
aus denen die Bundesregierung wichtige Projekte der
Energiewende finanzieren wollte.
Das Problem ist seit Monaten auf dem Tisch. Aber die
Bundesregierung findet nicht die Kraft und Geschlossenheit für eine Lösung. Nicht einmal Minischritte wie die
von EU-Klimakommissarin Heedegaard geforderte Verschiebung anstehender CO2-Auktionen möchte die
Bundesregierung mitgehen. Statt dessen streiten sich
Umweltminister Altmaier und Wirtschaftsminister
Rösler öffentlich über die Medien. Dieser Streit lähmt
derzeit die ganze EU. Das ist eine Blamage für die
deutsche Klimapolitik.
Notwendig sind schnelle und tiefgreifende Reformen im Emissionshandel. 1,4 Milliarden überschüssige CO2-Zertifikate müssen endgültig vom Markt genommen werden. Der Zufluss billiger und ökologisch
fragwürdiger Emissionszertifikate aus China und Indien gehört eingeschränkt. Und wir brauchen einen
CO2-Mindestpreis, um drastischen Preiseinbrüchen
vorzubeugen. Vor allem muss das überholte EU-Klimaziel von 20 Prozent Emissionsminderung bis 2020
endlich auf 30 Prozent angehoben werden. Dass wir
das 30-Prozent-Ziel immer noch nicht haben, liegt
nicht nur an polnischen Bedenken. Es liegt auch daran, dass die Bundesregierung die Anhebung nur halbherzig unterstützt. Wenn sich die Kanzlerin mit Nachdruck für den Klimaschutz eingesetzt hätte, könnten
wir das 30-Prozent-Ziel längst haben.
Die Kohleverstromung ist eine der klimaschädlichsten Formen der Stromerzeugung. Deshalb erfordert
der Klimaschutz die Ablösung der Kohlekraft durch erneuerbare Energien, Energieeffizienz und effiziente
Gaskraftwerke. Doch der niedrige CO2-Preis hat die
gegenteilige Wirkung: Er hat dazu geführt, dass der
Anteil der Kohle an der Stromversorgung im letzten
Jahr massiv gestiegen ist, während klimaverträglichere Gaskraftwerke stillstanden. Dieser Kohleboom
ist kein Ergebnis des Atomausstiegs oder der Energiewende. Er ist die Folge der verfehlten Klimapolitik der
Bundesregierung.
Die Erfahrung zeigt, dass auch gestärkter Emissionshandel allein nicht genügend Anreize setzt, die
Kohle zurückzudrängen. Deshalb brauchen wir dafür
Zu Protokoll gegebene Reden
weitere Instrumente jenseits des Emissionshandels: ein
nationales Klimaschutzgesetz mit strikten CO2-Minderungszielen und verbindliche Mindestwirkungsgrade
für fossile Kraftwerke.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen zeigt,
wie man mit ambitionierten Vorgaben an die Effizienz
von Kohle- und Gaskraftwerken Ressourcen sparen
und gleichzeitig das Klima schützen kann. Ich fordere
Sie auf: Stimmen sie diesem Gesetzentwurf zu. Und
machen sie endlich den Weg frei für die überfällige Reform des europäischen Emissionshandels.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12064 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss
für Umwelt empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/9780, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/156 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung
von SPD und Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auf europäischer Ebene ein betrugssicheres,
transparentes und bürokratiearmes Mehrwertsteuersystem schaffen
- Drucksache 17/12065 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem vorliegenden Antrag wollen die Grünen
den Bundestag feststellen lassen, die Reformpläne der
Europäischen Kommission zur Überarbeitung des europäischen Mehrwertsteuerrechts im Europäischen
Rat und im Ministerrat aktiv zu unterstützen. Damit
solle ein betrugssicheres und bürokratiearmes Mehrwertsteuersystem geschaffen werden. Es wird hier
grundsätzlicher Handlungsbedarf im europäischen
Mehrwertsteuerrecht gesehen. Die Grünen fordern in
Ihrem Antrag auch wieder einmal Verbote -„Keine
Mehrwertsteuerbefreiungen und -ermäßigungen auf
umweltschädliche Produkte und Dienstleistungen“und wollen die Umsatzsteuersätze erhöhen, „dass die
Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer in der
Europäischen Union … verbreitert wird.“ Wir haben
es hier wieder einmal mit einem Schaufensterantrag zu
tun, der die Realität nicht richtig darstellt. Aus diesem
Grund hier noch einmal einige Gedanken zur Entwicklung der letzten Jahre der Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung auf EU-Ebene. Damit möchte ich deutlich
machen, dass die EU-Kommission und die Bundesregierung bereits seit langem engagiert für ein effizientes, einfaches und robustes Umsatzsteuersystem einsteht.
Die EU-Kommission hat in ihrem Grünbuch vor
über drei Jahren bereits analysiert, dass aufgrund der
Komplexität der Mehrwertsteuervorschriften den Unternehmen ungeheure Verwaltungslasten aufgebürdet
werden. Dadurch besteht die Gefahr, dass die EU ihre
wirtschaftliche Anziehungskraft verliert. Anlass zur
Besorgnis geben insbesondere verschiedene Kernbestandteile des Systems wie mehrwertsteuerliche Pflichten, Vorsteuerabzug und die unterschiedlich hohen und
sehr differenziert anwendbaren Steuersätze. Diese
Faktoren, so die Analyse, können KMU stärker belasten, weil es für sie zu kostspielig sein kann, für die zunehmend komplexer werdenden Umsatzsteuerbestimmungen die Hilfe von Fachleuten in Anspruch zu
nehmen. Auch Professor Mario Monti sprach in einem
Bericht an Kommissionspräsident Barroso im Mai
2010 davon, dass eine „binnenmarktorientierte Reform der Mehrwertsteuervorschriften“ in der EU notwendig sei. Damit soll der Kontinent wirtschaftlich attraktiver werden.
Vorgehen in Deutschland. Auch die Bundesregierung stimmt einer Reform des Mehrwertsteuersystems
zu, und in einer Antwort an die SPD-Fraktion auf
Drucksache 17/8748 vom 27. Februar 2012 stellt sie
sich grundsätzlich hinter die Aussage, dass ein EUMehrwertsteuersystem einfach, effizient und neutral,
robust und betrugssicher sein muss. Dies ist ein deutliches Zeichen gewesen, dass bereits vor einem Jahr
deutlich gemacht wurde: Wir sind uns einig, dass nur
eine abgestimmte Reform sinnvoll und deswegen eine
Zusammenarbeit mit der EU-Kommission wichtig ist.
Im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir als
CDU/CSU in Deutschland den Umsatzsteuerbetrug
bekämpft. Bereits 2009 hat die CDU-geführte Bundesregierung eine Anhebung der Grenze für die Istbesteuerung auf 500 000 Euro durchgesetzt. Damit
wurden nicht nur kleine und mittelständische Unternehmen noch besser unterstützt, sondern auch dem
Umsatzsteuerbetrug wurde entgegengewirkt. Weiterhin hat sich die Union für Betrugsmöglichkeiten bei
der umsatzsteuerfreien Lieferung von Waren und
Dienstleistungen innerhalb der EU eingesetzt. Die erdachte Gelangensbestätigung ist zwar alleine zu bürokratisch, doch gemeinsam mit der Wirtschaft wird und
wurde an einer bürokratiearmen und wirtschaftsentlastenden Ausgestaltung gearbeitet.
Wir wollen auch die Möglichkeiten des ReverseCharge-Verfahren ausdehnen, weil wir darin ein effizientes Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung sehen. Mit dem Jahressteuergesetz 2013 wollten
wir dieses sinnvolle Instrument auch auf die Stromund Gaslieferung von inländischen Unternehmen ausdehnen. Da aber Rot-Grün dieses Gesetz im Bundesrat
und Vermittlungsausschuss gestoppt hat, kommt es
hier nicht zu einer verbesserten Betrugsbekämpfung.
Die Grünen hätten hier zeigen können, dass sie nicht
gut im Fordern sind, sondern ihren Worten auch Taten
folgen lassen können. Dem war wieder einmal nicht
so.
Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir uns auf EUEbene grundsätzlich über grundlegende Maßnahmen
zur Reform der Umsatzsteuersystematik in Europa abstimmen und die entsprechende Mehrwertsteuersystemrichtlinie überarbeiten. Mit mehr Einfachheit und
Klarheit machen wir die Umsatzsteuer weniger anfällig für Betrug. Dabei müssen nationale Interessen und
Unterschiede beachtet werden. Außerdem ist eine Akzeptanz der Reform in den Mitgliedsländern notwendig, damit diese dann auch konsequent umgesetzt werden - alles andere macht keinen Sinn.
Schluss und kritischer Ausblick. Aber ich sage auch,
dass wir vorher im eigenen Land über die Reform des
Umsatzsteuersystems diskutieren müssen. Die christlich-liberale Koalition hat richtigerweise im Koalitionsvertrag die Reform ermäßigter Mehrwertsteuersätze
niedergeschrieben. Hier wurde ein Handlungsbedarf
bereits analysiert. Hier bedauere ich, dass die eingesetzte Kommission aus Termingründen noch nicht tagen konnte. Ein wenig mehr Engagement der Beteiligten wäre hier aber sicherlich sinnvoll gewesen. Die
Überarbeitung und die Beseitigung von Benachteiligungen bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen ist
nach über 40 Jahren des Bestehens unserer Umsatzsteuersystematik zwingend geboten.
Wir als christlich-liberale Koalition werden weiterhin an einem effizienten, robusten und einfachen Umsatzsteuersystem für Deutschland und Europa arbeiten
und müssen uns nicht von überholten Schaufensteranträgen treiben lassen.
Aus diesem Grund werden wir den vorliegenden Antrag ablehnen.
Ein betrugssicheres, transparentes und bürokratiearmes Mehrwertsteuersystem, wer wollte das denn
nicht?
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion der Grünen, es ist ein sehr ehrenwertes Anliegen, zu versuchen, auf ein solches System hinzuwirken. Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber ich
befürchte, es nicht mehr zu erleben, dass wir in ganz
Europa ein Mehrwertsteuersystem haben werden, das
Betrug verhindert, ohne Bürokratie zu verursachen,
und dabei noch für jeden Bürger verständlich ist.
Nichtsdestotrotz ist es natürlich richtig, an Verbesserungen zu arbeiten und den Optimismus nicht zu verlieren. Aber wieso muss die Opposition die Regierung
darauf hinweisen? Das ist nur deswegen notwendig,
weil CDU/CSU und ihr FDP-Anhängsel eine systematische Beschäftigung mit der Mehrwertsteuer sowohl
auf nationaler Ebene als auch in der EU scheuen wie
der Teufel das Weihwasser. National war die Klientelkoalition mit dem Ansatz gestartet, die Mehrwertsteuer
neu zu ordnen. Der Katalog der Mehrwertsteuerermäßigungen sollte durchgearbeitet werden und unnötige
Ermäßigungen gestrichen werden. So ist es im Koalitionsvertrag vereinbart. Es kam anders. Statt einer
Neuordnung des Systems wurde eine Steuerermäßigung für Hoteliers beschlossen, im Nachhinein doch
etwas ganz Besonderes, weil es das Einzige ist, was die
FDP in der Regierungszeit erreicht hat. Na, das ist
doch mal eine Bilanz.
Die Kommission zur Reform der Mehrwertsteuersätze hat nicht ein einziges Mal getagt, ja sie hat sich
nicht einmal konstituiert. Lediglich Herr Schäuble
deutet nun an, dass für die nächste Legislatur geplant
ist, die Mehrwertsteuerermäßigungen komplett zu
streichen. Daraus kann man aber wohl nur schließen:
Herr Schäuble rechnet nicht mehr damit, 2014 Bundesfinanzminister zu sein.
Nun, die Fehler auf nationaler Ebene kann eine rotgrüne Bundesregierung in der nächsten Legislatur
korrigieren. Die Vernachlässigung der Arbeit auf EUEbene wird jedoch alle in der EU Zeit und Geld kosten.
Zum Grünbuch der EU zur Zukunft der Mehrwertsteuer hat die SPD-Fraktion eine inhaltlich detailliertere und umfassendere Stellungnahme geschrieben als
die Bundesregierung. Dieser Satz wäre übrigens auch
richtig, wenn wir statt von der SPD-Fraktion von Lobbyistengruppen sprechen würden; denn auch diese haben umfassendere Stellungnahmen geschickt als die
Bundesregierung. Dies mag mit der Missachtung erklärbar sein, die die Bundesregierung gegenüber den
EU-Institutionen vielfach zu haben scheint; es ist aber
kurzsichtig. Es wäre ausgesprochen wichtig, deutsche
und europäische Interessen bei der EU frühzeitig geltend zu machen und auf eine Fortentwicklung des
Mehrwertsteuersystems zu drängen. Mir ist bewusst,
dass das ein schwieriger Weg sein wird, weil eine Änderung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie Einstimmigkeit braucht. Aber ist dies ein Grund, sofort von
vornherein auf Weiterentwicklung zu verzichten? Die
EU zeigt sich bereit, an Verbesserungen zu arbeiten.
Solange ein wichtiger Staat wie Deutschland dies blockiert, werden sie nicht möglich sein. Und wenn ich
auch nicht alles teile, was Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, in ihren Forderungskatalog
geschrieben haben, so haben sie recht mit der Aufforderung an die Bundesregierung: Sie müssen jetzt bei
der EU handeln. Wir zählen ihre letzten 248 Tage rückwärts.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu Protokoll gegebene Reden
Liebe Antragsteller: Sie stellen hier einen bunten
Strauß an Forderungen zur Behandlung der Mehrwertsteuer auf europäischer Ebene, wie sie zum Teil
auch schon von der Europäischen Kommission vorgeschlagen wurden. Einige dieser Punkte sind sinnvoll,
verkörpern aber keine Neuigkeiten, da sie sich bereits
in der Umsetzung oder Prüfung befinden. Andere greifen zentrale Punkte der Hoheitsrechte von Mitgliedstaaten an und sind daher abzulehnen.
SPD und Grüne haben in dieser Legislatur bereits
kleine Anfragen zum Umsetzungsstand des von Ihnen
aufgeführten Grünbuchs beziehungsweise der allgemeinen Pläne der Europäischen Kommission zu einem
europäischen Mehrwertsteuersystem gestellt. An den
Positionen der Koalitionsfraktionen beziehungsweise
denen der Bundesregierung hat es seitdem keine elementaren Wechsel gegeben und für detaillierte Einzelfragen kann ich Ihnen nur die Lektüre der Antworten
der Bundesregierung empfehlen.
So ist beispielsweise die Einführung eines EUMehrwertsteuer-Forums bereits beschlossen und die
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer wird ebenfalls unterstützt, um die Betrugsmöglichkeiten einzudämmen und sich sinnloser und
teurer Subventionen zu entledigen. Zudem trägt eine
breitere Bemessungsgrundlage zur Haushaltskonsolidierung der Mitgliedstaaten bei, welche höchste Priorität genießt und durch einem guten Mix von Maßnahmen zum einen auf der Einnahme- vor allem aber auch
auf der Ausgabenseite erfolgen sollte. Durch Regelungen zu elektronischen Rechnungen auf Unionsebene
wurde zudem der Bürokratieaufwand für Unternehmen
bereits stark reduziert. Ihre Forderung für die Einführung eines Reverse-Charge-Verfahrens im Business-toBusiness-Bereich ist ebenfalls hinfällig, da das geltende Mehrwertsteuerrecht dies bereits für die überwiegende Zahl von grenzüberschreitenden Dienstleistungen zwischen Unternehmen vorsieht und die
Bundesregierung des Weiteren eine punktuelle Ausdehnung des Verfahrens stets unterstützt hat.
Auch wenn wir schon viel erreicht haben, muss man
bei all diesen Maßnahmen jedoch verstehen, dass es
bei der Vielzahl der Regelungen der europäischen Einzelstaaten und der Union als Ganzes nicht einfach
möglich ist, diese im Tabula-Rasa-Verfahren umzustoßen. Es handelt sich um einen schrittweisen Prozess
zur Vereinfachung und Effizienzsteigerung. Wir sind
also stets bemüht, den europäischen Wirtschaftsraum
durch einfache und klare Regelungen für Unternehmen
und Bürger noch attraktiver zu machen. Viele Vorschläge sind jedoch nicht oder nur sehr langsam umsetzbar, da in einer Gemeinschaft auch Einigkeit bei
der Durchführung herrschen muss. Projekte wie beispielsweise die Schaffung von nationalen Anlaufstellen
für Unternehmen, über die sie ihre mehrwertsteuerlichen Pflichten in diesem Land abwickeln können finden in der Union keinen Konsens.
Eine standardisierte europäische Mehrwertsteuererklärung ist unserer Auffassung nach jedoch nicht
realisierbar: Art. 113 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union beschränkt den Harmonisierungsauftrag auf die materiell-rechtlichen
Mehrwertsteuerbestimmungen. Es mangelt damit an einer primärrechtlichen Rechtsgrundlage. Es liegt ganz
in der Hand der souveränen Mitgliedstaaten, wie sie
ihr Verfahrensrecht, ihre Steuerverwaltung und Arbeitsweise ausgestalten. Es ist nicht im Interesse der
Bundesrepublik diese Hoheit anzugreifen.
Das Gleiche gilt für die Vorstöße, ein gemeinsames,
grenzübergreifendes Mehrwertsteuerprinzip auf Ursprungslandbasis zu schaffen. Die damit zwingend
notwendige Angleichung der Steuersätze, Zulassung
eines grenzübergreifenden Vorsteuerabzugs und Einführung eines Clearing-Verfahrens greift abermals
massiv in die Souveränität der Mitgliedstaaten ein. Mit
der Verabschiedung des - von der deutschen Wirtschaft geforderten - Mehrwertsteuerpakets vom 1. Januar 2010 hat die Bundesrepublik einen Paradigmenwechsel hin zum Bestimmungslandprinzip vollzogen.
Eine erneuter Systemwechsel gegen den Wunsch der
Betroffenen hätte keinerlei Basis oder Nutzen vorzuweisen.
Die FDP ist stets Europapartei gewesen. Der Gewinn einer solchen Gemeinschaft entspringt aber in
seiner Diversität und dem Austausch und nicht in der
erzwungenen Gleichmacherei und der Untergrabung
von Souveränität. Bis zu einem gewissen Maß ist es daher durchaus sinnvoll, gemeinsame Normen zu schaffen, um die Interaktion miteinander zu vereinfachen.
Eine Aushöhlung von Hoheitsrechten wie Haushalt,
Steuererhebung und -verwaltung gefährdet jedoch unser gemeinsames europäisches Projekt. Kein Staat in
der Union darf sich durch die Gemeinschaft gegängelt
oder unterworfen fühlen. Die Akzeptanz der Bürger
Europas für die Union ist der Nährboden, auf dem sie
gedeiht. Europa war stets erfolgreich und ein Garant
für Freiheit, weil Barrieren eingerissen und nicht weil
neue Regeln geschaffen wurden.
Wir werden dem Antrag daher nicht zustimmen.
Bei der Mehrwertsteuer gibt es ohne Frage noch
sehr viel zu tun. Deshalb stand sie völlig zu Recht auf
der To-do-Liste der Bundesregierung für diese Legislaturperiode. Doch im Koalitionsvertrag 2009 stand
viel - und jetzt nach fast 4 Jahren Regierungszeit steht
dort noch immer viel - Unerledigtes. Sie wollten eine
Kommission einsetzen, die sich mit der Systemumstellung bei der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der ermäßigten Mehrwertsteuersätze befasst. Doch diese
Kommission hat noch nicht ein einziges Mal getagt,
obwohl sie bereits vor drei Jahren eingesetzt wurde.
Dabei gibt es gerade bei der Mehrwertsteuer viel zu
tun, wie der vorliegende Antrag noch einmal aufgezeigt hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn wir nur mal die weit verbreiteten Umsatzsteuer-Karussellgeschäfte herausgreifen. Dabei wird
die Umsatzsteuerfreiheit bei grenzüberschreitenden
Lieferungen ausgenutzt und dem Lieferanten in
Deutschland von dem deutschen Finanzamt die Vorsteuer erstattet, obwohl die Umsatzsteuer im Empfängerland nicht abgeführt wurde. Das wird vor allem
dadurch ermöglicht, dass bundesweit Tausende Steuerfahnderinnen und Steuerfahnder sowie Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer fehlen. Der Abbau von Stellen in den Finanzverwaltungen in den Bundesländern
hat dazu geführt, dass Umsatzsteuererklärungen nur
unzureichend überprüft werden können. Eine lückenhafte Zusammenarbeit der Steuerbehörden untereinander erleichtert die Betrügereien. Die seit vielen Jahren
stattfindenden Karussellgeschäfte führen in Europa zu
Steuerausfällen im Milliardenhöhe. Es besteht also
nicht nur großer, sondern vor allem auch dringender
Handlungsbedarf. Darum fordern wir die Einrichtung
einer Bundesfinanzpolizei, die schlagkräftig nicht nur
gegen den Umsatzsteuerbetrug, sondern auch gegen
nationale und internationale Geldwäsche tätig sein
kann. Zusammen mit dieser und der Aufstockung des
Personals der zuständigen Bundesländer ließen sich
Milliarden von Umsatzsteuerausfällen vermeiden. Und
die Bundesregierung könnte sich ersparen, die Steuerausfälle durch Kürzungen der Sozialleistungen bei den
Armen wieder reinzuholen.
Bei den Mehrwertsteuersätzen besteht ebenfalls Regelungsbedarf. Doch es ist Streit in Ihrer Regierung
angesagt, wenn Sie beispielsweise Korrekturen bei der
ermäßigten Mehrwertsteuer angehen würden. Außerdem gäbe es erheblichen Widerstand aus den den Regierungsparteien nahestehenden Kreisen. Bei Kürzungen von Sozialleistungen wird man sich dagegen
schnell einig.
Einen weiteren Punkt in dem Antrag, den ich ausdrücklich hervorheben möchte, ist der Bürokratieabbau. Vereinheitlichung der Formulare in Europa
und Annäherung der immer noch unterschiedlichen
Rechtsvorschriften bei der Mehrwertsteuer stellen einen wesentlichen Beitrag zum Bürokratieabbau dar
und sorgen für Kosteneinsparungen sowohl bei Unternehmen als auch bei Behörden. Das hatten die Regierungsparteien 2009 ebenso erkannt und widmeten dem
Bürokratieabbau ein eigenes Kapitel in ihrem Koalitionsvertrag. Doch auch hier gilt das Gleiche wie
oben: Es ist noch zu erledigen.
Es besteht, wie der Antrag aufzeigt, großer und
auch dringender Handlungsbedarf auf vielen Feldern
der Umsatzbesteuerung. Doch in den letzten Monaten
bis zu den Wahlen ist von dieser Bundesregierung nicht
mehr viel zu erwarten. Daran ändert auch dieser Antrag nichts, dem wir zustimmen werden.
Wir teilen die Auffassung, dass das Mehrwertsteuersystem einer gründlichen Überarbeitung bedarf.
Doch das wird nicht mit dieser Bundesregierung erfolgen. Sie wird nicht der Treiber sein, sondern steht auf
der Bremse. Die Betrüger und Bürokraten freut es.
Und der Koalitionsfrieden ist gesichert, zumindest bei
dem Thema Mehrwertsteuer.
Eine gerechte und ergiebige Steuerpolitik und die
Sicherstellung der auf diesen politischen Vorgaben be-
ruhenden Steuereinnahmen sind Kernelemente einer
zukunftsfähigen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Und
darum geht es uns bei dem vorgelegten Antrag zur
Unterstützung der europäischen Initiative, das Mehr-
wertsteuerregime betrugssicherer und bürokratieärmer
zu machen. EU-Steuerkommissar Semeta hat im Ge-
spräch mit dem Finanzausschuss des Deutschen Bun-
destages im letzten November die Einnahmeverluste
durch Steuerbetrug und aggressive Steuergestaltung
mit der gewaltigen Summe von 1 000 Milliarden Euro
beziffert. Die Schweizer Bank Wegelin musste kürzlich
erklären, gezielt ein Geschäftsmodell verfolgt zu ha-
ben, das Steuerhinterzieher aus anderen Ländern anlo-
cken sollte. Und einige Angestellte der Deutschen
Bank sind angeklagt, bei sogenannten Karussellge-
schäften, also Umsatzsteuerbetrug, Beistand geleistet
zu haben. Es ist vollkommen klar, das wir da dringend
und zielgerichtet Maßnahmen ergreifen müssen, die-
sem Treiben nicht nur Einzelner, sondern auch von
ganzen Organisationen, Einhalt zu gebieten.
Und da klingt es schon wie Hohn und zeigt die Dop-
pelzüngigkeit der Bundesregierung, wenn der Bundes-
finanzminister heute Morgen in der Debatte um die
Bankenunion seiner Sorge um den Steuerbetrug und
die Steuergestaltung Ausdruck verleiht und ganz be-
sonders den Umsatzsteuerbetrug anspricht und gleich-
zeitig in Brüssel auf der Bremse steht. Das ist einfach
nicht hinnehmbar. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Regierungskoalition, mit einer Zustim-
mung zu unserem heute vorgelegten Antrag haben Sie
Gelegenheit, endlich Farbe zu bekennen und daran zu
arbeiten, Ihr völliges Versagen beim Thema Mehrwert-
steuer zu korrigieren.
Ihr Versagen auf diesem Gebiet ist unverantwort-
lich. Diesen Schluss ziehen nicht nur wir Grüne, son-
dern auch der Bundesrechnungshof, wie aus seinem
gestern vorgelegten Bericht zur Umsatzsteuer hervor-
geht. Und da uns heute Morgen verschiedene Redner
der Koalition Besserwisserei vorgeworfen haben: Wer
hat denn im Koalitionsvertrag vollmundig die Mehr-
wertsteuerreform angekündigt? Wer hat denn die Bil-
dung einer Kommission angekündigt, um den Dschun-
gel der Ausnahmeregelungen der Mehrwertsteuer zu
lichten, die dann kein einziges Mal getagt hat? Wer hat
denn bei der einzigen Änderung der Mehrwertsteuer in
die richtige Richtung, nämlich der Abschaffung einzel-
ner ungerechtfertigter Ausnahmeregelungen, sich zu
diesen Maßnahmen erst durch den Europäischen Ge-
richtshof zwingen lassen müssen? Die schwarz-gelbe
Koalition.
Nicht, dass die Koalition ganz untätig war. Sie hat
schon gearbeitet, aber leider auf der falschen Bau-
stelle, und dabei nicht etwa die Staatsfinanzen im Blick
Zu Protokoll gegebene Reden
gehabt, sondern schlicht ihre Klientel. Denn was hat
die Koalition geändert? Die Steuer auf Übernachtun-
gen wurde gesenkt, die Ermäßigung für Pferde wurde,
wie gesagt, auf Druck der EU-Kommission abge-
schafft, um dann aber zeitgleich über den Weg des Um-
satzsteuer-Anwendungserlasses neue Möglichkeiten zu
schaffen, wie Züchter und Landwirte ihre Pferde doch
zu 7 Prozent verkaufen können. Und sie hat es fertigge-
bracht, den Verkauf von Maultieren weiterhin mit dem
verminderten Steuersatz zu unterstützen. Ein Hoch auf
die unterstützungsbedürftigten Maultierbesitzer in die-
sem Land! Das ist wirklich alles andere als eine syste-
matische Überarbeitung unserer Ermäßigungen, das
ist in manchen Punkten wirklich ein schlechter Witz, in
der Substanz ein Offenbarungseid dieser Koalition.
Denn es gibt und gab noch einige wirklich wichtige
Baustellen, bei denen die Koalition erst einmal gar
nichts getan hat.
So wurde die Wirtschaft mit der Einführung der Ge-
langensbestätigung als alleinigem Liefernachweis für
EU-Exporte völlig verunsichert. Das BMF hat nach
langem Protest diese Neuregelung wieder kassiert. Bei
der Reform der Istbesteuerung dagegen musste die
Bundesregierung zum Jagen getragen werden. Erst
durch unseren Druck wurde die Grenze für die Besteu-
erung nach tatsächlich vereinnahmten Entgelten auf
500 000 Euro festgesetzt und Unternehmen so wert-
volle Liquidität gesichert. Und die Baustelle vermin-
derte Mehrwertsteuersätze wurde zwar ausgeschildert,
aber weder Bauleitung noch irgendein Arbeiter wur-
den je zu dieser Baustelle geschickt. Deutlich mehr als
3 Milliarden Euro ungerechtfertigter Branchensubven-
tionen wurden nicht angepackt, und da reden wir noch
nicht einmal über verrückte Regelungen der aktuellen
Trüffel- und Mineralwasserbesteuerung.
Diese Liste beweist, dass wir steuerpolitisch fast
vier Jahre verschenkt haben. Zum nationalen Dilettan-
tismus von Herrn Schäuble und seiner Koalition aus
Hotel- und Pferdefreunden kommt auf Ebene der EU
das internationale Versagen. Seit Ausbruch der Fi-
nanzkrise wird über eine verbesserte Koordination der
Wirtschafts- und Finanzpolitiken verhandelt. Gleich-
zeitig werden Wege gesucht, wie die haushalterisch an-
geschlagenen Mitgliedstaaten der EU zu einer Erhö-
hung ihrer Einnahmebasis kommen können. Leider
wurde die Mehrwertsteuer in diesem Prozess nicht auf-
gegriffen. Es ist noch schlimmer: Die Bundesregierung
bremst auf europäischer Ebene bei neuen Maßnahmen
gegen Mehrwertsteuerbetrug, wie bei einem Schnell-
reaktionsmechanismus gegen Betrug, den die Euro-
päische Kommission vorgeschlagen hat. So verhindert
die Bundesregierung wirksame Änderungen, von de-
nen die Haushalte aller Mitgliedstaaten profitieren
würden. Wie bereits ausgeführt, entgehen den Haus-
halten nach Schätzungen der EU durch Steuerhinter-
ziehung und Betrug jährlich Einnahmen in Höhe von
1 Billion Euro. Auf die Mehrwertsteuer entfällt dabei
ein dreistelliger Milliardenbetrag. Es ist mehr als
fahrlässig, hier nicht tätig zu werden.
Genau aus diesem Grund fordern wir die Bundesre-
gierung auf, die Europäische Kommission bei einer
europaweiten Reform der Mehrwertsteuer zu unter-
stützen. Die Kommission hat 2010 einen Prozess in
Gang gesetzt, der die Steuer europaweit stärker har-
monisieren soll und so zu mehr Einnahmen für die Mit-
gliedstaaten und einfacheren Regeln für die Steuerzahler
führen soll. Besonders die Themen Betrugsbekämp-
fung und Vereinfachung durch europäische Harmoni-
sierung sollten ernsthaft vom Deutschen Bundestag
und der Bundesregierung unterstützt werden. Durch
diese Änderungen wird auch der europäische Binnen-
markt ein Stück weit effektiver.
Konkret fordern wir die europaweite Umkehr der
Steuerschuldnerschaft bei der Umsatzsteuer, das Re-
verse-Charge. So fallen Steuerschuld und Vorsteuerer-
stattung an ein Unternehmen. Damit würde besonders
Karussellbetrug wirksam erschwert. Fälle wie jüngst
bei der Deutschen Bank, die den Betrug mit Emissions-
zertifikaten zumindest begünstigt haben soll, würden
der Vergangenheit angehören. Es ist wichtig, dass eu-
ropaweit eine einheitliche Regelung für das Reverse-
Charge getroffen wird, weil Betrug sonst nicht verhin-
dert würde und das System kompliziert bleiben würde.
Aber allein dieser Schritt reicht nicht aus, um Betrug
völlig zu verhindern. Wir wollen einheitliche Stan-
dards und Formulare für die Mehrwertsteuer in der
gesamten EU. Gleichzeitig müssen die Finanzbehör-
den untereinander enger kooperieren und gemeinsame
Datenbanken nutzen. Nur diese bessere Zusammenar-
beit kann verhindern, dass Betrüger weiter darauf ver-
trauen können, dass sie schneller untertauchen kön-
nen, als ihnen die Finanzbehörden auf die Schliche
kommen.
Die Harmonisierung der Mehrwertsteuer hat wei-
tere positive Effekte. Für Unternehmen werden Liefe-
rungen von Waren und Dienstleistungen in den euro-
päischen Binnenmarkt erleichtert. Sie müssen nicht
mehr für jeden Mitgliedstaat andere umsatzsteuerliche
Pflichten und Regeln erfüllen. Auch müssen sie sich
nicht mehr überall steuerlich registrieren, um Vorsteu-
erbeträge erstattet zu bekommen, denn die Steuer-
schuldnerschaft liegt bei Ihren Abnehmern. Dies wäre
die größtmögliche bürokratische Entlastung für expor-
tierende Unternehmen. Die Bundesregierung beschäf-
tigt sich an dieser Stelle leider lieber mit der Gelan-
gensbestätigung, eine Bankrotterklärung.
Zum Schluss möchte ich noch auf die Ermäßigungen
und Befreiungen eingehen. Auch hier brauchen wir
einheitliche Regeln für alle Mitgliedstaaten. Sonder-
regelungen für einzelne EU-Mitglieder darf es nicht
geben. Nur so kann verhindert werden, dass etwa
Luxemburg als Steueroase für Amazon E-Books mit
3 Prozent Mehrwertsteuer belegt, während sie im Rest
der EU mit dem normalen Mehrwertsteuersatz des je-
weiligen Landes belegt werden müssen. Nur so kann
verhindert werden, dass die CSU über den Steuersatz
für Übernachtungen in Österreich debattiert und des-
Zu Protokoll gegebene Reden
wegen auch den deutschen Hoteliers Steuergeschenke
macht.
Gleichzeitig widerspreche ich an dieser Stelle expli-
zit der EU-Kommission, die die Steuerbefreiung für die
öffentliche Hand komplett infrage stellt. Es ist ganz
klar, dass Leistungen, die zur öffentlichen Daseinsvor-
sorge zählen, wie etwa Bildung, weiter steuerfrei sein
müssen. Nur an Stellen, wo private und kommunale
Anbieter im Wettbewerb stehen, müssen Lösungen ge-
funden werden, die einen fairen Wettbewerb erlauben,
aber ohne nachteilige Regelungen für die Kommunen.
Sie sehen, bei der Mehrwertsteuer gibt es viele Bau-
stellen. Leider hat die Koalition nicht eine angepackt.
Den Schaden haben die Bürger, die - ob sie wollen
oder nicht - über die Umsatzsteuer für die Lobbygrup-
pen der Koalition bezahlen. Den Schaden haben die
Unternehmen, die mit einem komplizierten Umsatz-
steuerrecht leben müssen, und den Schaden haben die
Mitgliedstaaten der EU, denen wirksame Instrumente
gegen Mehrwertsteuerbetrug vorenthalten bleiben.
Diese Bundesregierung hat steuerpolitisch versagt, in
Deutschland und in Europa. Zum Glück ist spätestens
im September Schluss für Schwarz-Gelb, und so be-
steht Hoffnung, dass die nächste Bundesregierung die
Zeichen der Zeit erkennt und auch bei der Mehrwert-
steuer für ein Mehr an Europa kämpft.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12065 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Petermann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Herstellung der
institutionellen Unabhängigkeit der Justiz
- Drucksache 17/11701 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Petermann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Herstellung der institutionellen Unabhängigkeit der
Justiz
- Drucksache 17/11703 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll genommen.
Die vorliegenden Gesetzesentwürfe der Fraktion
Die Linke zielen auf eine organisatorische Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive und damit auf eine
umfassende und tiefgreifende Reform der Justizstrukturen. Neben den dafür notwendigen Änderungen des
Grundgesetzes müssten zahlreiche Änderungen auf
einfachgesetzlicher Ebene vorgenommen werden. Die
in Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz normierte Unabhängigkeit der Richter zählt zu den verfassungsgestaltenden
Strukturprinzipien des Grundgesetzes. Die richterliche
Unabhängigkeit ist nicht nur Ausdruck des Gewaltenteilungsprinzips, sie gehört auch zum Standard rechtsstaatlichen Handelns. Die Gewährung des grundrechtlich garantierten effektiven Rechtsschutzes ist nur
durch unabhängige Richter möglich, es gehört zum
Wesen richterlicher Tätigkeit, dass sie durch einen
nicht beteiligten Dritten in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird. Sie steht, wie der
ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
Dr. Hans-Jürgen Papier, zu Recht beschrieben hat, außerdem in engem Zusammenhang mit der in Art. 20
Abs. 3 Grundgesetz hervorgehobenen Bindung der
Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Eine Abhängigkeit, gar inhaltliche Steuerung der richterlichen Tätigkeit durch die Exekutive wäre mit Art. 97 Grundgesetz
nicht vereinbar. Aber müssen wir uns Sorgen machen,
dass es hier Abhängigkeiten und unzulässige Einflussnahmen gibt, wie uns die Anträge der Linken glauben
machen wollen? Gibt es tatsächlich Strukturen, die
eine umfassende Reform der Justizstrukturen erforderlich machen? Und sollten uns dafür die Beispiele
anderer europäischer Länder mit organisatorisch
selbstständiger Justiz als Vorbild dienen?
Als Richterin am Amtsgericht habe ich selbst durchaus erlebt, dass mit dem zuständigen Justizministerium
des Landes um knappe Gelder gerungen werden
musste, dass hohe Fallzahlen, geringe Personalausstattung im richterlichen Dienst ebenso wie auf den
Geschäftsstellen und in der Verwaltung durchaus
Wünsche offen ließen. Oft ist es nur ein besonders engagierter Einsatz der Richter, aber auch der Mitarbeiter in der Verwaltung und auf den Geschäftsstellen, der
die gewohnte zügige und fachlich hochwertige Bearbeitung der Streitfälle ermöglicht, die nicht zuletzt
auch einen echten Standortvorteil Deutschlands im internationalen Vergleich ausmacht. Wir haben uns in
dieser Legislaturperiode mit der Dauer von Gerichtsverfahren befasst und erstmals Rechtsmittel gegen
überlange Verfahren eingeführt - auch in diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass eine knappe Ausstattung nicht ohne Auswirkung auf die Effizienz der
grundgesetzlich geschützten Rechtsgewährung bleibt.
Und dennoch kann ich die Analyse der vorliegenden
Anträge nicht teilen. Dort wird geradezu der Eindruck
vermittelt, dass die Entscheidungsbefugnisse der Exekutive in Bezug auf die Ausstattung der Justiz oder
auf Personalentscheidungen die Unabhängigkeit der
Rechtsprechung infrage stellen und die deutsche Justiz
in großem Maße verfassungswidrig agiere. Dies
möchte ich klar zurückweisen.
Insbesondere habe ich keine Einflussnahme der
Exekutive auf die Justiz bei Personalentscheidungen
erlebt: Ich selbst habe mich vor meiner Einstellung in
den Richterdienst ausschließlich beim zuständigen
OLG-Präsidenten vorgestellt. Beurteilungen wurden
selbstverständlich ausschließlich von Richtern der jeweiligen Gerichtsverwaltung vorgenommen. Dass hier
Befugnisse der Justizverwaltung, die in Personalunion
von den Präsidentinnen und Präsidenten der Gerichte
wahrgenommen werden, für eine Beeinflussung der
Justiz genutzt werden, wird auch in den vorliegenden
Anträgen nicht behauptet.
Bei der personellen und sachlichen Ausstattung der
Gerichte bleiben immer Wünsche offen; dies gilt für
die Justiz ebenso wie für die Exekutive auf allen staatlichen Ebenen, das gilt gleichermaßen auch für die
Ausstattung der Verfassungsorgane mit eigenem Haushalt. Oder könnten Sie nicht noch mehr wissenschaftliches Personal, mehr Hilfe bei der Presseauswertung,
bei der Organisation und Vorbereitung von Terminen
gebrauchen, wenn es ein noch größeres Personalbudget gäbe? Beim Bundestag, vermutlich ähnlich beim
Bundesrat, aber ebenso in jeder Schule, jeder Stadtverwaltung, jeder sonstigen öffentlichen Verwaltung
wird es ähnlich sein. Knappe Mittel sind also keineswegs ein Sonderproblem der Justiz. Vor allem ist mir
wichtig: Zu keinem Zeitpunkt habe ich erlebt, dass
Fragen der Ausstattung mit Personal oder Sachmitteln
davon abhängig gemacht wurden, dass inhaltliche
Vorgaben für die Rechtsprechung eingehalten wurden,
dass bestimmte Verfahren vorgezogen oder anders behandelt wurden, als es die jeweils zuständigen Richter
in ausschließlich eigenverantwortlicher Entscheidung
bestimmt haben. Hier gab und gibt es keinerlei synallagmatischen Zusammenhang zwischen den Ausstattungs- oder Personalentscheidungen der Justizverwaltung auf der einen und richterlichen Entscheidungen
auf der anderen Seite. Das ist nicht nur mein eigener
subjektiver Eindruck, sondern das kann objektiv belegt
werden. Der Global Competitiveness Report 2012 bis
2013 des Weltwirtschaftsforums kommt zu dem Ergebnis, dass die deutsche Judikative im Bereich der Unabhängigkeit weltweit auf dem siebten Platz und damit
deutlich vor den klassischen Vertretern einer selbstverwalteten Justiz liegt. Die Studie zeigt außerdem, dass
die von den Linken vorgeschlagenen Organisationsstrukturen gerade keine Gewähr bieten, zu mehr tatsächlicher Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu
kommen. Klassische Vertreter einer selbstverwalteten
Justiz wie Frankreich, Spanien und Italien liegen auf
den Plätzen 39, 60 und 68 dieses Reports deutlich hinter Deutschland. Wenn es in der Antragsbegründung
heißt: „Deutschland muss wieder den Anschluss an
den aktuellen europäischen Standard der Rechtsstaatlichkeit finden“, ist das demnach - gelinde gesagt absurd. Ein Missstand, eine Abhängigkeit der Justiz
von der Exekutive, die aus verfassungsrechtlichen
Gründen eine grundlegende Justizreform erfordern
würde, ist also keinesfalls festzustellen. Ob die Länder
eine etwaige Grundgesetzänderung mittragen würden,
ist eher zweifelhaft.
Gleichwohl: Jede Organisationsstruktur muss von
Zeit zu Zeit überdacht werden. Vorschläge von Kollegen - schließlich basieren die Vorschläge der Linken
auf Positionen der Neuen Richtervereinigung - werden
aus Prinzip selbstverständlich ernst genommen. Wir
werden dazu ebenso selbstverständlich die Stellungnahmen des Deutschen Richterbundes, der Berufsvertretungen und Kammern im Bereich der Justiz, der
Lehre etc. berücksichtigen und dann die einzelnen
Vorschläge bewerten. Das ist uns unsere Justiz wert.
Brauchen wir eine funktionierende oder eine selbstverwaltete Justiz? Nach meiner Meinung brauchen wir
eine funktionierende Justiz, die die Kriminalität erfolgreich bekämpft und die Bürgerrechte schützt, eine
Justiz, die das Recht überall in der Gesellschaft durchsetzt. Wir wollen, dass alle Bürgerinnen und Bürger
unabhängig von Geld und Vermögen ihre Rechte, auch
und gerade im zivilrechtlichen Bereich, in angemessener Zeit durchsetzen können.
Bedarf es dazu einer selbstverwalteten Justiz? Sie
fordern in Ihrem Gesetzentwurf, dass Deutschland
wieder den Anschluss an den europäischen Standard
der Rechtsstaatlichkeit finden und die Justiz in Bund
und Ländern institutionell unabhängig ausgestalten
muss. Dabei verweisen Sie auf eine große Mehrheit anderer europäischer Demokratien.
In der Tat wird seit Jahren von einem europäischen
Trend zu einer Selbstverwaltung der Justiz gesprochen. Wir dürfen aber nicht einem Trend folgen, sondern haben zu fragen, wie die Stellung der Justiz in
unserer Staatsverfassung zu begreifen ist. So hat das
der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts
Hans-Jürgen Papier, Vorgänger des heutigen Präsidenten Andreas Voßkuhle, schon in einem Vortrag beim
Hamburgischen Richterverein am 16. Februar 2004
sinngemäß formuliert.
Sie sehen, ich stehe der Einführung einer Selbstverwaltung der Justiz eher kritisch gegenüber. Papier hat
schon damals festgestellt, „dass in der Diskussion noch
nicht hinreichend geklärt ist, welche Verbesserungen
mit einer Selbstverwaltung der Justiz erreicht werden
sollen und auch tatsächlich erreicht werden könnten“.
Sie schreiben von einer Begünstigung informeller
Abhängigkeitsstrukturen. Jetzt frage ich zurück: Gibt
es ein Problem in Deutschland mit der Unabhängigkeit
der Richter? Im Gegenteil: Es gibt genügend Beispiele, die belegen, dass wir keine willfährigen Richter
haben, die auf Beförderungsposten schielen und deshalb regierungs- oder verwaltungsfreundliche Entscheidungen treffen.
Bedarf es einer Gewaltentrennung, um die Gewaltenteilung zu sichern, wie Sie meinen? Hierzu wäre
dann eine Grundgesetzänderung erforderlich. Doch
Zu Protokoll gegebene Reden
gerade das Grundgesetz will eine effektive Erfüllung
staatlicher Aufgaben durch ein Zusammenwirken der
Teilgewalten; das Grundgesetz zeichnet sich gerade
durch eine vielfältige Verschränkung aus.
Sichert eine selbstverwaltete Justiz die Interessen
und Bedürfnisse der Bürger? Es ergeben sich bei mir
Zweifel darüber, ob eine selbstverwaltete Justiz diesen
Interessen der Bürger folgen würde oder vielmehr den
eigenen.
Und wie steht es um die demokratische Legitimation
der Selbstverwaltungsorgane? Wäre nicht eine selbstverwaltete Justiz der demokratischen Kontrolle mit
parlamentarischer Verantwortlichkeit entzogen?
Für die SPD-Bundestagsfraktion stelle ich hier fest,
dass die richterliche Unabhängigkeit, die verfassungsgarantierte richterliche Unabhängigkeit, nicht von einer Selbstverwaltung der Justiz berührt wird oder von
ihr abhängig ist.
Eine Selbstverantwortung würde auch den Staat
nicht von seiner Pflicht entbinden, die Justiz so zu organisieren und auszustatten, dass diese ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtung entsprechen kann.
Deutschland kann stolz sein auf sein Justizsystem.
Unsere Richterinnen und Richter, unsere Staatsanwältinnen und Staatsanwälte leisten hervorragende Arbeit. Die deutsche Justiz zeigt sich im internationalen
Vergleich als hochqualifiziert, effektiv, kostengünstig
und auch unabhängig. Das zeigen beispielsweise internationale Vergleichsstudien. Die deutsche Justiz belegte etwa im Global Competitiveness Report 2011 bis
2012 den siebten Platz - wohlgemerkt weltweit. Gemeinsam sollten wir hier im Hause jedenfalls festhalten, dass die Bürgerinnen und Bürger darauf vertrauen
können, dass in Deutschland justizielle Entscheidungen auf Recht und Gesetz beruhen. Wir sollten dem
Eindruck entgegentreten, es gebe Gefälligkeitsentscheidungen, wie die Begründung des vorliegenden
Gesetzentwurfes mit Formulierungen wie „informellen
Abhängigkeitsstrukturen“ in der Justiz vielleicht anzudeuten versucht.
Die Diskussionen um eine weitere Stärkung der institutionellen Unabhängigkeit der Justiz sind grundsätzlich gut und wichtig. Dabei ist die Debatte um eine
Selbstverwaltung der Justiz nicht neu. Bereits im Jahr
1953 beschäftigte sich der 40. Deutsche Juristentag
mit der Frage: „Empfiehlt es sich, die vollständige
Selbstverwaltung aller Gerichte im Rahmen des
Grundgesetzes gesetzlich einzuführen?“. Die vorliegenden Entwürfe von Gesetzen zur Herstellung der institutionellen Unabhängigkeit der Justiz gehen zudem
auf die Gesetzentwürfe der Neuen Richtervereinigung
e.V. aus dem Jahr 2010 zurück, die damals bereits ausführlich diskutiert wurden. Zweifelhaft ist aus meiner
Sicht jedoch, ob die vorgeschlagenen strukturellen Änderungen in der deutschen Justiz ihren anerkannt hohen Standard wirklich steigern. Der internationale
Vergleich weckt daran jedenfalls Zweifel. In dem eingangs erwähnten Global Competitiveness Report
jedenfalls liegen Länder mit ähnlichen Selbstverwaltungsstrukturen, wie sie der Entwurf vorschlägt, wie
etwa Frankreich, Italien und Spanien weit hinter
Deutschland mit aktuellen Rängen von 37, 60 und 65.
Daher ist mein Eindruck nach vielen Gesprächen mit
der Richterschaft, dass der eigentliche Treiber der Reformbestrebungen die Hoffnung ist, dass die Selbstverwaltung dringend notwendige Verbesserungen für die
Finanz- und damit Personal- und Sachausstattung der
Justiz insbesondere in den Ländern erleichtert. Daran
habe ich jedoch große Zweifel. Sollten Gerichte und
Staatsanwaltschaften nicht mehr durch die Landesjustizministerien verwaltet werden, wird es - so befürchte
ich - einen Trend zur Zusammenlegung der „Rumpfkompetenzen“, der dann nur noch sogenannten Justizministerien mit anderen Ministerien, zum Beispiel mit
den Innenministerien geben. Das heißt, dass in den
Kabinetten dieser Republik bei den Aufstellungen der
Haushaltsgesetzentwürfe den Finanzministern kein Interessenvertreter der Justiz mehr mit Kabinettsrang
gegenübersteht. Meine große Sorge ist, dass das die
Stellung der Justiz in den Haushaltsverhandlungen,
also bei der Grundlegung für Finanz- und damit Personal- und Sachmittelausstattung nicht verbessert,
sondern enorm schwächen wird.
Wir sind gespannt, ob sich diese Sorgen im Rahmen
der Ausschussberatungen entkräften lassen, und freuen
uns auf konstruktive Beratungen zum Besten der deutschen Justiz mit ihren vielen hochqualifizierten und
engagierten Richterinnen und Richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten.
Mit den Gesetzentwürfen zur Herstellung der institutionellen Unabhängigkeit der Justiz hat nun endlich
ein Thema den Bundestag erreicht, das auf europäischer Ebene seit vielen Jahren auf der Tagesordnung
steht. EU-Beitrittskandidaten müssen eine personell
und institutionell unabhängige Justiz vorweisen. Das
wäre für Deutschland ein Problem: Würde die Bundesrepublik heute einen Antrag auf Aufnahme in die Europäische Union stellen, müsste Brüssel die Aufnahme
verweigern. Grund dafür ist unser Justizsystem, das
aus dem 19. Jahrhundert stammt und den heutigen Anforderungen der Europäischen Union an eine unabhängige rechtsprechende Gewalt nicht mehr gerecht wird.
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates,
in der unsere heutige Justizministerin LeutheusserSchnarrenberger einst als Berichterstatterin agierte,
hat am 30. September 2009 explizit von der Bundesrepublik Deutschland gefordert, erstens zur Sicherung
der Unabhängigkeit der Justiz in der Zukunft ein System der gerichtlichen Selbstverwaltung unter Berücksichtigung der föderalen Struktur der deutschen Justiz
einzurichten, und zwar nach dem Vorbild der bestehenden Justizräte in der überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten, zweitens schrittweise die Gehälter
von Richtern und Staatsanwälten sowie die zur VerfüZu Protokoll gegebene Reden
gung stehenden Mittel für Prozesskostenhilfe zu erhöhen, drittens die Möglichkeit der Minister, der Justiz
für die Strafverfolgung Anweisungen in einzelnen Fällen zu geben, abzuschaffen.
Nach mehr als drei Jahren muss sich die Bundesregierung fragen lassen, welche dieser Forderungen erfüllt wurde. Die Antwort lautet: keine. Stattdessen sollen die Ansprüche auf Prozesskostenhilfe erschwert
und gekürzt werden. In einer Antwort auf eine Kleine
Anfrage aus dem Jahre 2010 macht das Justizministerium im Hinblick auf die notwendige Änderung des
Grundgesetzes deutlich, dass es nicht gewillt ist, die
Forderungen des Europarates umzusetzen. Die Linksfraktion hat sich des Themas angenommen und zeigt,
dass eine Umsetzung der Forderung möglich ist.
Gemäß Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz sind die Richterinnen und Richter „unabhängig und nur dem Gesetze
unterworfen“. Bekanntermaßen ist damit die richterliche Unabhängigkeit gemeint. Der preußische Justizminister Leonhardt hatte einst zur Unabhängigkeit der
Richter zutreffend bemerkt: „Solange ich über die Beförderung bestimme, bin ich gerne bereit, den Richtern
ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren.“ Das
Zitat aus dem 19. Jahrhundert ist auch heute noch zutreffend und geeignet, die herrschenden Zustände zu
beschreiben. An der Stellung der Richterinnen und
Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte
hat sich seither kaum etwas geändert. Auch heute hat
die Politik die Justiz fest im Griff. Das geben die Entscheidungsträger in der Justiz natürlich nicht zu.
Durch das Leugnen dieses Einflusses funktioniert dieses System seit Jahrzehnten fast reibungslos. Und es
sind nicht nur die hohen Justizämter, die nach Parteiproporz vergeben werden. Schon bei den Einstellungen
und Beförderungen kann die Parteizugehörigkeit des
Kandidaten unter Umständen eine entscheidende
Rolle spielen. Nach meinem Verständnis ist damit bereits frühzeitig eine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit möglich und findet auch statt.
Es werden zum Beispiel Vorgaben gemacht, nach
denen die richterliche Arbeit durch die Gerichtspräsidenten zu bewerten ist. Aufgrund dieser Beurteilungen
werden dann die Beförderungsstellen vergeben. Es ist
nicht vorstellbar, dass Fachwissen, Denk- und Urteilsvermögen, Verhandlungsgeschick, Kooperationsbereitschaft oder Arbeitseinstellung bemessen werden,
ohne gleichzeitig Aussagen über den Umgang mit dem
„unabhängigen Amt“ zu treffen. Insofern ist es für die
eigene Karriere dienlich, die Rechtsauffassung des
Gerichtspräsidenten zu teilen. In der Folge kommt es
dazu, dass sich die Fallbearbeitung auch an der Karrierenützlichkeit orientiert. Natürlich wird diese Tatsache von den entscheidungsbefugten Personen in den
Gerichten bestritten.
Man hört indes immer wieder, die Justiz sei, trotz ihrer Abhängigkeit von der Exekutive, leistungsfähig.
Das stimmt nur bedingt und liegt ausschließlich an
dem hohen Einsatz der Richterinnen, Richter,
Staatsanwältinnen, Staatsanwälte, Rechtspflegerinnen, Rechtspfleger sowie der Angestellten. Personell
sowieso chronisch unterbesetzt, sind die meisten Gerichte auf dem baulichen und technischen Stand der
70er-Jahre stecken geblieben. Dafür sind derzeit die
Justizministerien zuständig, deren vornehmste Aufgabe es sein müsste, gegenüber der Legislative die
hohe Bedeutung der dritten Gewalt auch über die
Höhe des geforderten Budgets zu verdeutlichen. Doch
hier lässt die Leidenschaft in manchen ministeriellen
Amtsstuben allzu oft zu wünschen übrig.
Negativbespiele gibt es en masse, beispielsweise die
damalige Diskussion um die Auflösung des Bayerischen Obersten Landgerichts durch Herrn Stoiber, um
Tatkraft und Sparsamkeit der neuen Landesregierung
zu demonstrieren, oder aber das Oberlandesgericht
Koblenz in Rheinland-Pfalz, welches aufgelöst werden
sollte, weil die Landesregierung ihren Wunschkandidaten für den Präsidentenposten nicht durchsetzen
konnte und nun dem Gericht gezeigt werden sollte,
dass es nur eine nachgeordnete Behörde sei und die
Landesregierung doch am längeren Hebel säße. Ein
besonders negatives Beispiel liefert Hessen ab, wo der
derzeitige FDP-Justizminister die hessischen Richterinnen und Richter um Verständnis für Einsparungen
bittet. Dabei geht es um Stellenabbau und Gerichtsschließungen, und das, obwohl die Justizhaushalte zu
den kleinsten in Bund und Ländern gehören und bei
hoher Deckungsquote - mindestens 30 Prozent - mit
1 bis 3 Prozent einen geringen Teil des Gesamthaushalts ausmachen. Für eine Haushaltskonsolidierung
ist diese Spielwiese der Finanzminister wirklich ungeeignet. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger,
dass die selbstverwaltete Richterschaft ein eigenes
Budget entwirft und dieses direkt mit dem Parlament
verhandelt; den Ministern fehlt dazu in der Regel die
unmittelbare Erfahrung.
Durch den Einfluss der Exekutive auf die rechtsprechende Gewalt wird der Gewaltenteilungsgrundsatz
des Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz ad absurdum geführt.
Art. 92 Grundgesetz konkretisiert für die Judikative,
dass die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist. Diese Verfassungsnormen sollen Machtkonzentration und Machtmissbrauch verhindern. Deshalb
darf der, der Gesetze schafft, nicht mit ihrer Durchsetzung betraut sein. Wer Gesetze ausführt, ist ein
schlechter Schiedsrichter, wenn es um ihre richtige Anwendung geht. Und das ist auch der Grund, warum wir
Legislative, Exekutive und Judikative unterscheiden.
Dazu passt es eben nicht, wenn die Exekutive bestimmt, wem in der Judikative die Rechtsprechung
übertragen wird, wer dort Karriere macht, wie viel
Personal für wie viele Eingangszahlen erforderlich ist,
welche technische Ausstattung und welchen baulichen
Zustand die Gerichtsgebäude haben.
Unsere Kritik richtet sich nicht an die einzelnen
Justizminister, die nun langsam erkennen sollten, dass
das obrigkeitsstaatliche Modell der Justizverwaltung
ein alter Zopf ist, der abgeschnitten gehört. Sie sind
nur ein kleines Zahnrad im großen Getriebe. Meine
Zu Protokoll gegebene Reden
Kritik richtet sich an politische Positionen, die
krampfhaft an einem System festhalten, das mittlerweile 135 Jahre weitgehend unverändert als letzte
Trutzburg des spätfeudalen Deutschen Kaiserreichs
fortbesteht. Die Reformforderungen auch aus den
Richterverbänden sind unüberhörbar. Die Zeit für eine
gemeinsame Diskussion ist überreif.
Mit den vorgelegten Gesetzentwürfen lade ich Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, herzlich dazu ein.
Die Rechtsprechung ist als eine der drei Staatsgewalten im Grundgesetz fest verankert. Sie ist unabhängig. Das ist Kern der Rechtsstaatlichkeit.
Heute debattieren wir über Maßnahmen zur organisatorischen Stärkung dieser Unabhängigkeit. Die
Linke schlägt tiefgreifende Reformen der Justiz vor.
Deren Basis ist eine Änderung der Verfassung. Einfachgesetzliche Regelungen sollen sich anschließen.
Verfassungsändernde Maßnahmen müssen aber wohl
überlegt sein.
Über ein Mehr an Autonomie in der Justiz ist schon
lange diskutiert worden. Die Debatte hat an Schubkraft gewonnen, als der Deutsche Richterbund ein
Eckpunktepapier und einen Landesgesetzentwurf formulierte. Der frühere grüne Justizsenator von Hamburg hat ein eigenes Modell für die Autonomie der Justiz entwickelt und ist dazu in einen Diskursprozess
getreten. Die Neue Richtervereinigung hat Diskussionsentwürfe für die Bundesebene vorgeschlagen. Diese
Vorschläge hat die Linke ihren Gesetzentwürfen zugrunde gelegt.
Allerdings sind die Reformen, die die Linksfraktion
vorschlägt, sehr weitreichend. Für solche Umstrukturierungen der Justiz bedarf es neben der Grundgesetzänderung vieler Änderungen einfachgesetzlicher Vorschriften. Dies betrifft sowohl die Bundes- als auch die
Länderebene; denn Justiz ist vorwiegend Ländersache. Wollen wir einen neuen Aufbau der Justiz ermöglichen, so können wir dies sinnvoll nur in Zusammenarbeit mit den Ländern erreichen. Das muss
umfassend aufbereitet und diskutiert werden.
Wir Grüne stehen Reformen der Justizstrukturen offen gegenüber. Auch die Länder mit grüner Regierungsbeteiligung zeigen hier Offenheit. So haben in
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Regierungskoalitionen vereinbart, die Unabhängigkeit der
Justiz zu stärken. Die grün-rote Regierung in BadenWürttemberg hat bereits einen Gesetzentwurf erarbeitet, der bald weiter beraten wird und neben der Rechtsprechung auch die Staatsanwaltschaft als Teil der
Justiz in den Blick nimmt.
Tatsächlich aber wäre es auch Sache des Bundesjustizministeriums gewesen, die Zeichen der Zeit zu
erkennen. Es hätte diese Legislaturperiode nutzen können, um die Autonomie der Justiz thematisch anzupacken. Das ist leider nicht geschehen.
Nun zu den Gesetzentwürfen der Linken: Das Richterbild, das unserem Grundgesetz zugrunde liegt,
zeichnet sich dadurch aus, dass die Richterschaft gegenüber der Exekutive unabhängig und dem Gesetz
verpflichtet ist. Zur Verwirklichung der rechtsprechenden Gewalt ist ein hohes Maß - aber nicht unbedingt
ein umfassendes Maß - an Selbstverwaltung notwendig. Verbesserungen der aktuellen Gesetzeslage sind
hier sicher möglich. Wir Grünen unterstützen das Anliegen, der Richterschaft im Bund und in allen Ländern
ein entscheidendes Mitspracherecht bei der Richtereinstellung und Beförderung zuzusprechen. Gleichzeitig müssen wir aber auch die Grenzen der Unabhängigkeit berücksichtigen. Die Richterschaft kann nicht
völlig losgelöst von der Exekutive agieren, mit vollständiger finanzieller, personeller und organisatorischer Selbstständigkeit.
Bei den Staatsanwaltschaften stellt sich die Frage,
inwieweit diese überhaupt eine justizielle Selbstverwaltung ausüben sollten. Hier spielen ganz andere
verfassungsrechtliche Erwägungen eine Rolle. Die
Staatsanwaltschaften sind ein Organ der Rechtspflege,
aber nicht der Rechtsprechung. Sie sind Teil der Exekutive. Nach Art. 92 des Grundgesetzes ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut.
Die Linke will daraus jetzt machen: „Die rechtsprechende Gewalt liegt in den Händen der Richter und
Staatsanwälte.“ Damit verkennt sie, dass die Tätigkeit
von Staatsanwälten funktionell keine Rechtsprechung
ist. Staatsanwälte entscheiden eben nicht verbindlich
in einem geregelten Verfahren, was im konkreten Fall
rechtens ist. Die Staatsanwaltschaft erfüllt einen anderen Zweck als die Rechtsprechung. Sie führt das Recht
und damit exekutive Gewalt aus.
Die Richter brauchen Unabhängigkeit, weil sie
Recht sprechen. Die Staatsanwaltschaften müssen in
ihrer Tätigkeit unmittelbare demokratische Rückanbindung haben, bis hin zur politischen Verantwortung
der jeweiligen Ministeriumsspitze für die generelle Organisation der Arbeit der Staatsanwaltschaft.
Das heißt nicht, dass wir Grünen die Staatsanwaltschaften von der Justizreform ausnehmen wollen. Insbesondere das einzelfallbezogene Weisungsrecht der
Politik gegenüber der Staatsanwaltschaft sollte abgeschafft werden. Es darf nicht sein, dass aus politischen
Gründen Ermittlungen gegen einzelne Personen blockiert oder forciert werden können. Das widerspricht
der Gleichheit aller vor dem Gesetz.
Dagegen halten wir es für sinnvoll, ein allgemeines
Weisungsrecht der Politik gegenüber der Staatsanwaltschaft zu erhalten. Das ist nötig, um Richtlinien
für die Handhabung der Strafverfolgung jenseits von
Einzelfällen aufzustellen. Das sichert die Einheitlichkeit des Vorgehens in gleichgelagerten Fällen und ist
manchmal erforderlich, um Defizite zu beseitigen. Ich
nenne nur als Beispiel den früheren Umgang mit Verfahrenseinstellungen bei Fällen häuslicher Gewalt, in
Zu Protokoll gegebene Reden
denen allzu leicht ein öffentliches Interesse an der
Strafverfolgung verneint wurde.
Meine Damen und Herren von der Linksfraktion,
eine weitere Kritik kann ich Ihnen nicht ersparen: Bei
den Kosten der Gesetzesumsetzung machen Sie es sich
zu leicht. Der Gesetzentwurf formuliert lapidar, dass
bei den Ländern Kosten entstehen können, deren Höhe
„nicht absehbar“ ist.
Natürlich hängen die Kosten von der konkreten
Ausgestaltung im Einzelnen ab. Aber schaut man in die
Vorlagen der Neuen Richtervereinigung hinein, wird
erkennbar, dass die Reformvorschläge aufgrund der
Änderung der Besoldungsstruktur der Richterschaft
auf eine vermutlich ganz erhebliche Kostensteigerung
hinauslaufen, zumindest während einer längeren
Übergangszeit. In Zeiten knapper Kassen ist das aber
nicht realistisch. Da gibt es - auch innerhalb der Justizpolitik - andere Prioritäten. Da müssen wir zum
Beispiel für ausreichend Personal in der Justiz und gegen eine Kürzung von Prozesskosten- und Beratungshilfe kämpfen.
Außerdem werden wir noch mit der gesamten Richterschaft zu diskutieren haben, ob die angestrebte Einheitlichkeit der Besoldung aller Richterinnen und
Richter, unabhängig davon, welche Funktion sie ausüben, welche Qualifikation sie haben - und damit der
Wegfall von Leistungsanreizen -, wirklich in ihrem
Sinne ist. Das würde ich bezweifeln. Zwar haben Sie
nicht die altersdiskriminierende Besoldungsregelung
aus dem Gesetzentwurf der NRV übernommen, aber
die Ersetzung durch eine reine Dienstaltersregelung
stellt keinen Anreiz dar, andere Funktionen anzustreben und sich dafür zu qualifizieren.
Wichtig ist mir bei der Justizreform noch ein weiterer Aspekt, der in der Diskussion bisher weder von den
Richterverbänden noch von anderen Fraktionen aufgegriffen wurde: Das ist die Durchsetzung der Geschlechtergleichstellung in der Justiz.
Der Anteil der Frauen in der höheren Richterschaft
ist gering, obwohl an den Amtsgerichten zu über
40 Prozent Richterinnen beschäftigt sind. Hier kann
die Politik im Rahmen einer Umstrukturierung neue
Bedingungen schaffen. Der Gesetzentwurf der Linken
bleibt eine Antwort auf die Frage schuldig, wie der
Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes in der Justiz umzusetzen wäre.
Wir sollten eine unabhängige und eine diskriminierungsfreie Justiz schaffen. Eine Justizreform muss
gründlich beraten werden, vielleicht sogar vorbereitet
durch eine Bund-Länder-Kommission, um zu bestmöglichen Ergebnissen zu kommen. Das wird uns in dieser
Wahlperiode und mit dieser Regierung nicht mehr
möglich sein. Aber wir nehmen die Diskussion als
Leuchtturmprojekt mit in die nächste Legislaturperiode.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/11701 und 17/11703 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann haben wir
das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Omid
Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise
Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln - Unterrichtung und Evaluation verbessern
- Drucksachen 17/5099, 17/8697 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({2})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll genommen.
Die aktuelle Situation in Mali und das Eingreifen
französischer Truppen führt uns vor Augen, wie komplex die Lage bei Auslandseinsätzen sein kann. Selbst
mit den besten Informationen lassen sich die Gegebenheiten vor Ort oft nicht vollständig einschätzen. Die
Ziele der beteiligten Nationen - das haben wir auch in
Afghanistan erfahren - müssen deshalb kontinuierlich
angepasst werden. In diesem Zusammenhang ist die
Forderung nach exakten Prüfkriterien und festgelegten Evaluationsverfahren zwar leicht ausgesprochen,
sie bedarf aber einiger grundsätzlicher Überlegungen,
die von den Antragstellern bisher nicht gemacht
wurden.
Zunächst einmal muss klar festgestellt werden, dass
grundsätzliche und sehr starke Kriterien für unsere
Auslandseinsätze bereits formuliert sind. Mit den
Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011, dem neuen
strategischen Konzept der NATO 2010, dem EUVertrag von Lissabon 2009, dem Weißbuch der Bundesregierung zur Bundeswehr 2006 oder der Europäischen Sicherheitsstrategie 2003 verfügen wir über
Grundlagendokumente, die - entweder ressortspezifisch ausgerichtet oder auf hohem Abstraktionsgrad die sicherheitspolitischen Herausforderungen und die
Handlungsspielräume der Bundesregierung beschreiben.
Das erste entscheidende Kriterium sind für Deutschland immer der völkerrechtliche Rahmen und besonders die Existenz eines Mandats der Vereinten Nationen. Ein Einsatz könnte darüber hinaus nach Art. 1
- Wahrung der internationalen Sicherheit - Art. 2
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit - oder im Rahmen der Nothilfe nach Art. 51 - Selbstverteidigungsrecht - der VN-Charta erfolgen. Schließlich ist auch
ein Einsatz im Rahmen von Bündnisverpflichtungen
einschließlich Art. 5 des NATO-Vertrags möglich.
Das zweite herausragende Kriterium ist die Frage,
welche anderen Partner aus NATO und/oder EU
teilnehmen. Die multilaterale Ausrichtung deutscher
Außen- und Sicherheitspolitik ist unverzichtbarer
Bestandteil unserer politischen Kultur.
Drittes entscheidendes Kriterium ist, den Einsatz
militärischer Mittel sorgsamst und im Verbund anderer
Möglichkeiten abzuwägen. Wesentlich ist, Konfliktlösung im Vorfeld möglicher militärischer Maßnahmen
durch Diplomatie, Nachbarschaftspolitik, abgewogenes Krisenmanagement und Vorsorge zu erreichen.
Militärische Eingriffe können nur als Ultima Ratio
gelten. Das schließt möglicherweise abgestimmte präventive Maßnahmen nicht von vornherein aus.
Diese Kriterien sind gute Leitlinien für die Entscheidungen über einen Einsatz und den Umfang eines
Einsatzes sowie für die anschließende Bewertung. Der
Deutsche Bundestag ist bekanntlich über den Einsatzauftrag, das Einsatzgebiet, die rechtlichen Grundlagen
des Einsatzes, die Höchstzahl der einzusetzenden Soldaten, die Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte,
die geplante Dauer des Einsatzes sowie dessen voraussichtliche Kosten und Finanzierung zu informieren. Im
Anschluss trifft das Parlament eine Entscheidung.
Neben diesem sehr transparenten Verfahren werden
zurzeit Maßnahmen ergriffen, um eine neue sicherheitspolitische Gesamtstrategie zu erarbeiten. Die
erfolgreiche Bundesakademie für Sicherheitspolitik
soll weiterentwickelt werden und ihre Rolle als höchstrangige und ressortübergreifende Plattform des
Bundes noch stärker ausüben. Schon heute vernetzt sie
sicherheitspolitische Akteure und organisiert Diskussionen über strategische Fragestellungen. Ein sogenanntes Nationales Sicherheitsforum soll noch in
diesem Jahr erstmalig stattfinden. Des Weiteren arbeiten die distinguierten Think Tanks Stiftung „Wissenschaft und Politik“ und German Marshall Fund an
einem breit angelegten Projekt zu Elementen einer außenpolitischen Strategie für Deutschland. Das
Auswärtige Amt ist hier federführend beteiligt, und einige von uns Abgeordneten auch. Auf dem Gebiet der
strategischen Gesamtausrichtung ist sicher noch einiges zu tun, aber die zuständigen Minister haben dies
erkannt, und es wird gehandelt.
Man könnte in diesem Zusammenhang noch über
eine Beteiligung unseres internationalen Personals bei
den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und
bei der NATO nachdenken. Sie haben sicher auch
einen guten Blick auf die Erwartungen unserer Bündnispartner an die strategische Grundausrichtung
Deutschlands.
Zum Schluss möchte ich noch einmal konkret auf die
Auslandseinsätze zu sprechen kommen und ein Beispiel für eine gelungene Evaluation und ein nachhaltiges Arbeiten aufführen: der Übergang von IFOR über
SFOR zu EUFOR ALTHEA im ehemaligen Jugoslawien. Der erfolgreiche Friedenseinsatz ist ein Beispiel wie koordiniert und nachhaltig ein Auslandseinsatz von A bis Z organisiert wird. Anfangs sorgten
unsere Truppen in den NATO-geführten Einsätzen
IFOR bzw. SFOR für Schutz und Hilfe, nun sind sie im
Rahmen von EUFOR unter der Führung der EU tätig.
Zuletzt beschloss das Parlament am 1. Dezember 2011
auf Antrag der Bundesregierung eine Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an
EUFOR ALTHEA im Rahmen der Überwachung und
Umsetzung des Dayton-Abkommens. Insgesamt liefen
die Übertragung der Verantwortung, die Anpassung
der Truppenstärke und die internationale Zusammenarbeit während der Mission bis zur Beendigung der
deutschen Beteiligung reibungslos. Der Deutsche Bundestag war zu jedem Zeitpunkt umfassend informiert
und hat die entscheidenden Schritte mitentschieden.
Wir sehen an diesem Beispiel, dass wir über ausreichende Einsatzkriterien und transparente Verfahren
verfügen und in der Lage sind, Einsätze im Nachgang
zu bewerten und gegebenenfalls weiterzuführen. Ein
kleinteiliges Evaluationsverfahren des Bundestages,
wie in dem Antrag gefordert, war hier nicht notwendig.
Dennoch halte ich viel davon, sämtliche bisher
durchgeführten Einsätze weiter auszuwerten, um Empfehlungen für die Begleitung künftiger Einsätze zu gewinnen. Insbesondere ist es hierbei vorteilhaft, auch
auf die Erfahrungen unserer Partner in NATO und EU
zurückzugreifen. Eine Regierung braucht für Einsätze
Flexibilität und politischen Handlungsspielraum und
wir als Parlament brauchen Hintergrundwissen, um
die Einsätze wirksam mandatieren und kontrollieren zu
können. Kleinteilige Kriterien wie im Antrag vorgesehen helfen uns da aber nicht weiter.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die beteiligten Ausschüsse aus guten Gründen den vorliegenden Antrag abgelehnt haben.
Die Entscheidung, deutsche Soldaten in einen Auslandseinsatz zu entsenden, ist wahrlich keine leichte.
Sie bedarf in jedem einzelnen Fall einer individuellen,
eingehenden Prüfung. Diese jedoch anhand im Vorfeld
festgelegter Prüfkriterien für Auslandseinsätze zu
fällen, lehnen wir ab. Ein derartiges pauschalisiertes
Vorgehen würde unserer moralischen Verantwortung,
die wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages
für die Einsätze deutscher Soldaten im Ausland übernehmen, und außerdem der unverzichtbaren konkreten
Einzelfallbeurteilung nicht gerecht werden. Auch wenn
wir uns in der CDU/CSU-Fraktion nicht auf Prüfkriterien für Auslandseinsätze festlegen wollen bzw. es aufgrund der unüberschaubaren Bandbreite sicherheitspolitischer Herausforderungen gar nicht können, so
Zu Protokoll gegebene Reden
müssen doch bei jedem einzelnen Auslandseinsatz der
Bundeswehr unabdingbare Voraussetzungen erfüllt
sein. Sie müssen vor allem als Ultima Ratio einer werteorientierten deutschen Außenpolitik zum Ziel haben,
die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten
und Frieden zu stiften.
Ich habe in den letzten Jahren, in denen ich Mitglied
im Auswärtigen Ausschuss war, eine ganze Reihe von
Mandatierungen neuer Auslandseinsätze und Verlängerungen von bestehenden Einsätzen mitgetragen.
Natürlich wäre es leichter, wenn eine Art Kriterienkatalog einem dabei die Gewissheit geben könnte, die
richtige Entscheidung zu treffen. Nur leider kann einem ein steifer Kriterienkatalog eine Gewissensentscheidung - und um eine solche handelt es sich letztlich in diesem Fall - nicht abnehmen. Ich habe mich
bei Mandatierungen, genau wie meine Kollegen der
Unionsfraktion, immer vor allem von folgenden Erwägungen leiten lassen: Gibt es eine völkerrechtliche
Grundlage für den Einsatz? Welchen Zielen dient er?
Welches außenpolitische Interesse Deutschlands steht
hinter dem Einsatz? Welche Länder bzw. welche Organisationen beteiligen sich? Was kann der Einsatz bewirken? Was wären die möglichen Konsequenzen eines
Nichthandelns? Können wir die Verantwortung für unsere Soldaten in diesem Einsatz übernehmen? Ich
glaube, wenn man eine Art Komplexitätsreduktion
versucht, dann sind das die wesentlichen Punkte, auf
deren Basis man eine derart gewichtige Entscheidung
treffen kann.
Ich finde es wichtig und richtig, dass diese letzte
Lesung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/die Grünen uns mit der Notwendigkeit konfrontiert, uns noch
einmal fraktionsübergreifend über die Werte auszutauschen, die einem solchen Einsatz zugrunde liegen müssen. Denn es ist vor allem auch eine ethische Entscheidung, das Leben unserer Soldaten für die Sicherheit in
mitunter entlegenen Regionen der Welt aufs Spiel zu
setzen. Ein Auslandseinsatz deutscher Soldaten ist und
bleibt nach der deutschen Staatsraison immer das
letzte Mittel.
Aktuell stellt sich beispielsweise die Frage, ob wir
den französischen Einsatz in Mali unterstützen und
Mali mit logistischen und humanitären Mitteln zu Hilfe
eilen können. Oftmals muß es nicht gleich ein Einsatz
deutscher Soldaten mit Waffengewalt sein, der eine gefährliche Krisenlage entschärfen hilft. Bei diesen
Überlegungen müssen wir uns auch immer die Konsequenzen eines Nichteingreifens vor Augen halten.
Diese Debatte sollten wir nicht nur unter uns, sondern
auch mit einer breiten Öffentlichkeit führen. Auslandseinsätze der Bundeswehr müssen besser kommuniziert
werden. Dies ist auch ein Teil der Verantwortung, die
wir gegenüber unseren Soldaten im Auslandseinsatz
haben. Sie leisten einen wichtigen Dienst, der in den
letzten Jahren fester Bestandteil der deutschen Außenpolitik geworden ist. Diese Leistung gilt es unseren
Bürgern deutlich zu machen und entsprechend zu
würdigen.
Hilfreich hierzu wären, da stimme ich mit dem
Antrag überein, Evaluierungen der Auslandseinsätze
bei Mandatsverlängerungen oder am Ende eines Einsatzes. Gerade abschließende Evaluierungen wären
gut geeignet, unter Einbeziehung der Öffentlichkeit die
längst fällige Debatte um Kosten und Nutzen von Auslandseinsätzen zu führen.
Das Recht des Deutschen Bundestages, über militärische Auslandseinsätze zu entscheiden, ist ein sehr
hohes Gut, das nicht viele Parlamente besitzen. Dieses
Recht hat seine historischen Wurzeln in der deutschen
Vergangenheit, aus der die Lehre gezogen wurde, dass
das Militär niemals wieder „Staat im Staate“ sein
darf. Die Entscheidung über den Einsatz der Bundeswehr im Ausland mit all ihren weitreichenden Konsequenzen für die deutschen Soldatinnen und Soldaten
sowie die Menschen vor Ort in den Einsatzgebieten
soll durch eine öffentliche Debatte und eine breite
politische Willensbildung zustande kommen.
Mit diesem Recht geht jedoch eine große Verantwortung für die Abgeordneten einher, die diese Entscheidung zu fällen haben. Wir Abgeordneten bekommen damit eine Verantwortung für die deutschen
Soldatinnen und Soldaten, die wir in eine Gefahrensituation schicken, und deren Familien. Ebenso müssen wir der Verantwortung gerecht werden, die wir für
die Menschen in den Ländern, in denen die Einsätze
stattfinden, haben. Unser ehemaliger Kollege Michael
Groschek hatte in seiner Rede zu diesem Thema in der
ersten Lesung darauf hingewiesen, dass wir genauso
eine Verantwortung für die potenziellen Opfer eines
militärischen Einsatzes haben, egal welcher Herkunft
sie sind und ob sie in Uniform oder in Zivil umkommen. Es handelt sich hierbei also um Gewissensentscheidungen, die sich sicherlich kein Abgeordneter
leicht macht.
Um eine solch schwere Entscheidung jedoch guten
Gewissens treffen zu können, bedarf es einer guter
Entscheidungsgrundlage. Wir Abgeordnete müssen
abschätzen, ob ein Einsatz der Bundeswehr im Ausland wirklich geboten und alternativlos ist und ob er
voraussichtlich mehr Gutes als Schlechtes bewirken
wird. Um diese Einschätzung vorzunehmen, brauchen
wir Informationen über die Lage vor Ort und die Möglichkeiten und Grenzen des Militäreinsatzes. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz verpflichtet daher die Bundesregierung, den Abgeordneten zur Wahrnehmung
ihrer parlamentarischen Verantwortung und Kontrollfunktion alle erbetenen Informationen zur Verfügung
zu stellen.
Der Antrag der Grünen ist in einem Punkt vollkommen richtig: In Einklang mit dieser Gesetzesvorschrift
fordert er eine verbesserte Unterrichtungspraxis des
Bundestages vonseiten der Bundesregierung. Denn es
ist wahr, dass diese bislang unzureichend ist. Zwar
werden wir wöchentlich über Lagevorfälle in den Einsatzgebieten der Bundeswehr mit der sogenannten UnZu Protokoll gegebene Reden
terrichtung des Parlaments informiert, jedoch besteht
hier noch erheblicher Verbesserungsbedarf. Es fängt
damit an, dass die Information nicht ganzheitlich genug ist. Der Antrag fordert völlig zu Recht, dass sowohl über militärische als auch über polizeiliche und
zivile Entwicklungen in den Einsatzländern in ausreichendem Maße informiert werden muss. Dabei sollte
genauso über Entsendungen von Polizisten, unbewaffneten Soldaten und Zivilisten unterrichtet werden.
Es geht damit weiter, dass sehr viele Informationen
über Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht oder nur
an wenige weitergegeben werden mit dem Verweis auf
die Qualifizierung der Information als geheim. Dabei
ist es oft fraglich, ob diese Qualifizierung tatsächlich
immer notwendig ist. Denn diese nimmt nur der jeweilige Autor eines Textes vor, und sie wird in der Regel
danach nicht mehr geprüft oder revidiert. Eine Information ist also ruck zuck als geheim eingestuft und
bleibt damit für die allermeisten Abgeordneten für immer verborgen. Selbstverständlich gibt es in der Außen- und Sicherheitspolitik sensible Informationen, die
durchaus geschützt werden müssen. Jedoch sollten
wirklich nur Informationen vorenthalten werden, die
handelnde Personen oder die laufende Operation gefährden könnten. Und wenn dieses Gefährdungspotenzial wegfällt, beispielsweise weil die Operation beendet ist, so spricht auch nichts dagegen, die Information
freizugeben. Dies gilt ganz genauso für die Einsätze
der KSK.
Die unzulängliche Informierung des Bundestages
wird auch nicht durch die exklusive Unterrichtung der
Obleute aufgewogen. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, und das gesamte Parlament trägt die Verantwortung, über Auslandseinsätze zu entscheiden.
Also muss auch das gesamte Parlament so weit wie
möglich mit den erforderlichen Informationen hierzu
versorgt werden. Es darf keine zwei Klassen von Abgeordneten geben. Ich halte es deshalb ebenfalls für eine
gute Idee, im Anschluss an die Unterrichtung der Obleute die Aufzeichnungen der Regierungsvertreter in
der Geheimschutzstelle des Bundestages für alle Abgeordneten zur Einsicht zu hinterlegen.
Was die Evaluierungspraxis von Auslandseinsätzen
der Bundeswehr anbelangt, so sehe ich gleichermaßen
großes Verbesserungspotenzial. Es ist kaum zu glauben, dass über abgeschlossene Einsätze wie beispielsweise die Operation „Enduring Freedom“ bislang keinerlei Evaluierungsberichte vorliegen. Zwar gibt es
seit 2010 den halbjährlichen Fortschrittsbericht „Afghanistan“ der Bundesregierung für das ISAF-Mandat, jedoch weiß jedes Kind, dass eine Selbstbeurteilung niemals so objektiv sein kann wie eine externe
Beurteilung. Die SPD-Fraktion fordert deshalb gemeinsam mit der Fraktion der Grünen seit Jahren eine
Evaluierung des deutschen Afghanistan-Einsatzes, die
von unabhängigen Experten durchgeführt wird und
den Zeitraum von 2001 an umfassen soll. Und dies hat
nichts mit Outsourcing zu tun, wie es einige Kollegen
von der Regierungskoalition behauptet haben. Sicherlich hat die Bundesregierung die Berichtsfunktion
inne, sie hat ja gerade die Berichtspflicht. Aber eine
unabhängige Evaluierung ist keine Ausgliederung von
Regierungsaufgaben, sondern eine wertvolle und nützliche Ergänzung zu den Einschätzungen, die uns die
Regierung gibt. Leider haben sich die Koalitionsfraktionen unserer Forderung verweigert und unserem Antrag aus dem Jahr 2010 nicht zugestimmt. Damit wurde
eine gute Chance vertan. Nehmen wir die Fortschrittsberichte „Afghanistan“ als Beispiel. Im Allgemeinen
fallen diese positiver aus als Lagebeurteilungen von
unabhängigen Think Tanks. Aber erst unterschiedliche
Perspektiven können uns ein möglichst objektives Bild
von der tatsächlichen Lage vor Ort geben. Dabei finde
ich den Punkt, den der Kollege Dr. Bijan Djir-Sarai in
seiner Rede in der ersten Lesung gemacht hat, einen
Evaluierungsbericht zu erstellen, der mittel- bis langfristig ausgerichtet ist, da der Erfolg eines Einsatzes
oft erst im Laufe der Zeit erkennbar wird, gar nicht
verkehrt. Jedoch heißt dies ja nicht, dass wir nicht sowohl zeitnahe wie auch langfristige Evaluierungen
vornehmen können.
Nun möchte ich gleichwohl zu unserem Kritikpunkt
an dem Antrag der Grünen kommen. Wir halten es für
wenig hilfreich, einen statischen Kriterienkatalog aufzustellen, der bei Entscheidungen über künftige Auslandseinsätze herangezogen werden kann. Sich über
Ziele eines Einsatzes im Vorfeld zu verständigen, eine
umfassende und kohärente Strategie zu erarbeiten, wie
diese Ziele erreicht werden sollen, und im Anschluss
den Einsatz anhand der Bilanz der erreichten oder
eben nicht erreichten Ziele zu bewerten, ist eine Forderung, die auch wir immer wieder machen und die ich
ausdrücklich teile. Jedoch muss trotzdem jeder Einsatz
individuell betrachtet und politisch entschieden werden. Eine Einsatzentscheidung des Bundestages ist ja
nicht nur ein verfassungsrechtlich gebotener Verwaltungsakt. Auch wenn unser Engagement im Ausland in
eine außen- und sicherheitspolitische Gesamt-Agenda
eingebettet sein sollte, so müssen die jeweiligen Umstände eines jeden Einsatzes für sich betrachtet werden. Die jeweiligen Realitäten, Bedingungsgeflechte
und Machtkonstellationen sind zu komplex, als dass
die Entscheidung zu einem Auslandseinsatz der Bundeswehr anhand eines Kriterienkatalogs gefällt werden könnte.
Ich fasse zusammen: Wir brauchen eine verbesserte
Versorgung mit Informationen des gesamten Parlaments - und nicht nur einiger weniger Abgeordneter mit den relevanten Informationen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Diese Information muss umfassend alle Gesichtspunkte einer Mission abdecken.
Und diese Information muss sowohl laufend als auch
in Form einer Gesamtevaluierung nach Beendigung
eines Einsatzes geschehen. Die abschließende Evaluierung sollte dabei von unabhängigen Experten vorgenommen werden. Wir müssen bereit sein, aus Fehlern, die in der Vergangenheit gemacht wurden, zu
lernen. Es ist nichts Verwerfliches daran, dass Politik
auch immer ein Prozess des „Trial and Error“ ist, soZu Protokoll gegebene Reden
lange die Politik sich nicht scheut, Fehler einzugestehen und aus ihnen Lehren zu ziehen. Wir brauchen außerdem endlich eine außen- und sicherheitspolitische
Gesamtstrategie, die uns ebenfalls dabei helfen würde,
über künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr zu
entscheiden. Im Vorfeld einer Operation muss sich mit
den Partnern über die angepeilten Ziele und eine gemeinsame Strategie zur Erreichung dieser Ziele verständigt werden. Diese festgelegten Ziele sollten dann
zur nachgelagerten Beurteilung eines Auslandseinsatzes herangezogen werden. Was wir jedoch nicht brauchen, ist ein starrer Kriterienkatalog für künftige
Auslandseinsätze, den es angesichts der höchst unterschiedlichen Gegebenheiten von jedem einzelnen Einsatz auch nicht geben kann.
Deshalb werden wir uns bei dem vorliegenden Antrag der Stimme enthalten.
Noch nie hat eine Bundesregierung das Parlament
so ausführlich, so offen, so präzise und so schnell über
Auslandseinsätze der Bundeswehr informiert wie die
heute amtierende. Eine so detaillierte und auch selbstkritische Evaluierung eines Einsatzes vorzulegen, wie
es der Fortschrittsbericht Afghanistan darstellt, hat
keine vorhergehende Bundesregierung gewagt. Ich bedanke mich vor allem bei den zuständigen Ministern,
federführend bei Außenminister Westerwelle und Verteidigungsminister de Maizière, die immer für die Information des Parlamentes zur Verfügung stehen und
vor allem auch im Vorfeld von Mandatsentscheidungen
die enge Abstimmung mit dem Parlament suchen. Natürlich gibt es Einsatzszenarien, bei denen Geheimhaltung notwendig ist, und es kann auch Fälle geben, bei
denen Geheimhaltung bezüglich der Details über das
Ende des Einsatzes hinaus notwendig ist. Hier müssen
wir weiterhin bei der politischen Abwägung bleiben,
was darf bekannt werden und was nicht. Hier ist die
Obleuteunterrichtung die bewährte und geeignete
Form, in der meine Fragen ausnahmslos vollständig
beantwortet werden. Die von Ihnen kritisierte Mangelhaftigkeit bei der Unterrichtung kann ich nicht im
Mindesten erkennen.
Weiter fordern Sie in dem Antrag die Bundesregierung auf, einen Kriterienkatalog zu erarbeiten, nach
dem Auslandseinsätze beurteilt werden. Damit habe
ich erhebliche Probleme. Erst einmal möchte ich mir
als Parlamentarier von keiner Bundesregierung vorschreiben lassen, nach welchen Kriterien ich die Entscheidung treffe, ob ich einem Auslandseinsatz der
Bundeswehr zustimme oder nicht. Diese Gedanken
müssen wir uns als Parlamentarier schon selber machen. Und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass
es bei diesen Entscheidungen nicht darum gehen kann,
einzelne Kriterien abzuhaken.
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen:
Wir sind uns wohl alle einig, dass es äußerst wünschenswert ist, als völkerrechtliche Grundlage für einen Einsatz einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates
zu haben. Wenn wir das aber ausdrücklich zur Voraussetzung machen würden, hätte Deutschland dem Kosovo-Einsatz nicht zustimmen dürfen.
Und wir sind uns wohl auch alle einig, dass die Einbettung eines Einsatzes in eine politische Gesamtkonzeption sehr wünschenswert ist. Wenn wir das aber zur
unabdingbaren Voraussetzung machen, dann könnten
auch die Kollegen von den Grünen heute nicht fordern,
dass sich die Bundeswehr in Mali beteiligt; denn hier
sind wir noch nicht so weit.
Schon diese beiden Beispiele zeigen, dass jeder Einsatz für sich bewertet werden muss und es mit dem Abhaken von Kriterien nicht getan ist.
Ähnlich ist es mit der Evaluierung von Einsätzen.
Natürlich muss bei jedem Einsatz geprüft werden: Was
war gut, was hätte anders laufen sollen? Die Bundeswehr selber macht das ja auch im Detail. Die Gesamtbewertung eines Einsatzes und die Frage, welche Lehren aus einem Einsatz zu ziehen sind, das sind eminent
politische Fragen, auf die es keine objektive Antwort
gibt. Aus dem Afghanistan-Einsatz werden sehr unterschiedliche Lehren gezogen: zum einen die, dass solche Einsätze länger dauern und schwieriger sind, als
anfänglich gedacht, sodass man sie in Zukunft eher
lassen sollte; zum anderen die, dass die anfängliche
Strategie falsch war, mit nur sehr geringen Kräften vor
Ort zu sein. Auch diese Bewertung kann und darf das
Parlament nicht outsourcen.
Ich bin seit langem der Ansicht, dass wir eine viel
grundsätzlichere Debatte über die deutsche Außenund Sicherheitspolitik in der Öffentlichkeit, aber auch
hier im Parlament brauchen. Deshalb plädiere ich für
die Formulierung einer deutschen außen- und sicherheitspolitischen Strategie, aus der sich dann auch Folgerungen für Einsatzentscheidungen ableiten lassen.
Dabei darf es aber nicht nur um Kriterien für Bundeswehreinsätze gehen. Wir müssen im Gegenteil insgesamt unsere Werte und Interessen definieren und uns
dann mit der Frage befassen, welche Mittel und Instrumente wir dafür einsetzen wollen und können. Das
geht dann von Entwicklungshilfe über Außenpolitik,
Außenwirtschaftspolitik bis zur Ultima Ratio eines militärischen Einsatzes. Eine solche umfassende Debatte
führen wir gerne, und wir halten sie auch für dringend
notwendig. Denn nur wenn wir uns in Deutschland darüber im Klaren sind, was wir wollen, können wir
diese Positionierung auch in eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik einbringen.
Das Klein-Klein Ihres Antrages wird dieser Aufgabe in keiner Weise gerecht, und deshalb lehnen wir
ihn ab.
Der Ernstfall Frieden gehört für die Bundeswehr
ganz offensichtlich der Vergangenheit an. Die Bundeswehr ist zur globalen Interventionsarmee umgebaut
worden. Inzwischen beteiligt sich die Bundeswehr in
zahlreichen Regionen dieser Welt an Kriegs- und BeZu Protokoll gegebene Reden
satzungseinsätzen. An dieser Entwicklung waren von
Rot-Grün bis Schwarz-Gelb alle Parteien in diesem
Parlament gleichermaßen beteiligt. Einzig die Linke
hat sich diesem Kriegskurs bisher konsequent verweigert und wird sich ihm auch in Zukunft nicht anschließen.
Immer stärker dominiert das Militär die deutsche
und europäische Außenpolitik. Etwa 300 000 Soldatinnen und Soldaten wurden aufgrund von Entscheidungen des Bundestages in Auslandseinsätze geschickt.
Alle wesentlichen Entscheidungen in diesem Bereich
werden namentlich abgestimmt. Es entspricht durchaus der besonderen Bedeutung einer Abstimmung über
Krieg und Frieden, dass Abgeordnete hier jeweils eine
individuelle Entscheidung treffen und sich für diese
auch öffentlich verantworten müssen.
Um eine fundierte Entscheidung treffen zu können,
ist eine umfangreiche Information vor, während und
nach einem Militäreinsatz notwendig. Den entsprechenden gesetzlichen Anspruch gibt es im Parlamentsbeteiligungsgesetz. Die Umsetzung dieses Informationsanspruchs ist äußerst unzureichend. Es ist zum Beispiel
nicht nachvollziehbar, warum nicht alle Abgeordnete
die Unterrichtungen des Parlaments über die Lage in
den Einsatzgebieten der Bundeswehr bekommen. Aber
auch die sogenannten Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker werden meist nur oberflächlich informiert. So
ist es absolut inakzeptabel, dass die Abgeordneten wesentliche Informationen über die Tätigkeit von Spezialeinheiten wie dem Kommando Spezialkräfte bestenfalls aus den Medien erfahren. Deswegen begrüßen
wir jede Initiative, diese Geheimnistuerei zu beenden.
Die Linke ist jedoch realistisch genug, um zu wissen, dass das erste Opfer des Krieges immer die Wahrheit ist. Wir vertrauen deswegen nicht darauf, dass
eine umfassendere Unterrichtungspflicht die Schattenseiten von Krieg und Militär wirklich angemessen offenlegt. Wir sind davon überzeugt, dass die Risiken
und Nebenwirkungen von Militäreinsätzen dem versprochenen Nutzen bei weitem überwiegen. Deswegen
halten wir es für nicht erstrebenswert, Prüfkriterien
für „gute“ oder „gerechte“ Kriege zu entwickeln. Die
entsprechende Forderung in dem hier vorliegenden
Antrag der Grünen klingt sehr danach, als sollte hier
eine Art Gütesiegel für zukünftige Kriege vorgeschlagen werden. Die Aufstellung vermeintlich neutraler
Entscheidungskriterien für einen Krieg halten wir für
gefährliche Augenwischerei.
Außerdem ist völlig unklar, woher denn tatsächlich
zuverlässige und neutrale Informationen kommen sollen, auf die sich diese Kriterien anwenden lassen. Gerade in der wichtigen Zeit vor einer Entscheidung im
Bundestag sind die Debatten so geprägt von Lügen
und Halbwahrheiten, dass eine objektive Beurteilung
der Situation kaum möglich ist.
Wesentlich sinnvoller ist deshalb ein grundsätzliches Nein zu Auslandseinsätzen. Kriegführung und
demokratische Ansprüche lassen sich schwer miteinander vereinbaren. Deswegen setzt die Linke auf eine
rein zivile Außenpolitik.
Zunächst möchte ich mich für die lebhafte Debatte
zu unserem Antrag in erster Lesung bedanken. Das gilt
insbesondere für den Kollegen Kiesewetter.
Wir von Bündnis 90/Die Grünen fordern Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Dies soll
keinesfalls, wie vom Kollegen Kiesewetter behauptet,
eine Checkliste sein, die einfach abgehakt wird. Vielmehr fordern wir Grundkoordinaten für eine gemeinsame Debatte und gewissenhafte Bewertung.
Daher verwundert es mich doch sehr, dass der Kollege Kiesewetter gleich noch weiter hervorprescht und
selbst sieben handfeste Prüfkriterien benennen kann,
die aus seiner Sicht erfüllt sein müssen. Wir könnten
uns auf vieles einigen, Herr Kollege Kiesewetter, beispielsweise auf die Formulierung von realistischen
und überprüfbaren Zielen bei künftigen Mandaten, die
Berichterstattung über Maßnahmen zur zivilen Krisenprävention und die ganzheitliche Evaluierung von aktuellen Einsätzen.
An anderer Stelle wurde kritisiert, dass durch die
Einbindung externer und unabhängiger Experten Verantwortung abgegeben wird. Das Gegenteil ist der
Fall.
Durch die Einbindung von Expertise werden wir als
Abgeordnete erst unserer Verantwortung gegenüber
den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern in Uniform
genauso wie gegenüber der Öffentlichkeit gerecht.
Denn nur umfassendes Informieren, kritisches Hinterfragen und Über-den-Tellerrand-Hinausschauen ist
auch verantwortliches Entscheiden. Sie, Herr Kollege
Kiesewetter, und andere haben selbst eine umfassendere Unterrichtung der Abgeordneten gefordert.
Sehen wir uns deshalb beispielhaft den zweiten sogenannten Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu
Afghanistan an. Hier hatte die Bundesregierung doch
die Möglichkeit, die Öffentlichkeit umfassend zu informieren. Doch wo finden sich in dem Fortschrittsbericht die von Ihnen geforderten entwicklungs- und
wirtschaftspolitischen Sichtweisen? Wieder einmal
hält der Bericht nicht, was versprochen wurde. Er beinhaltet keinerlei selbstkritische Evaluation des zivilen
und militärischen Engagements und schönt in Teilen
die entwicklungs- und sicherheitspolitische Lage. Wie
soll auf Basis eines solchen Berichts eine umfassende
Evaluation möglich sein?
Meine Kollegin Katja Keul stellte daher bei unserer
letzten Debatte im Plenum zu Recht fest, dass jeder Abgeordnete, der Verantwortung übernimmt, auf eine
umfassende Berichterstattung angewiesen ist. Eine
umfassende Unterrichtung schließt auch Berichte mit
ein, die der Geheimhaltung unterliegen. Gelten die
Prämissen „so viele Informationen wie möglich und so
wenig Geheimhaltung wie nötig“, besteht kein Konflikt
zwischen notwendiger Information und dem Schutz beZu Protokoll gegebene Reden
teiligter Personen. Hierauf weisen wir in unserem Antrag ebenfalls hin.
Die Praxis der Berichterstattung im Hinterzimmer
führt nicht zu einer konstruktiven Berichterstattung im
Parlament und leistet erst recht keinen Beitrag zu einer öffentlichen Debatte, die angesichts der vielen
Konflikte weltweit dringend notwendig ist.
Gerade aktuelle Umfragen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr bezüglich des Einsatzes in Afghanistan zeigen doch, dass die Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland Bedarf an mehr Information haben. Die Bürgerinnen und Bürger wollen wissen, warum neben Erfolgen auch Misserfolge und
Rückschläge zu verzeichnen sind. Was sind die Lehren,
um in Zukunft Misserfolge zu verhindern?
Aus dieser Verantwortung gegenüber unseren Bürgerinnen und Bürgern heraus haben wir aus voller
Überzeugung den vorliegenden Antrag gestellt. Doch
genau dieser Verantwortung wollen sich CDU/CSU,
FDP und die Linke durch eine Ablehnung nicht stellen.
Dabei verpflichten gerade die Auslandseinsätze der
Bundeswehr zu einem verantwortungsvollen und
selbstbewussten Agieren von uns Parlamentariern.
Deshalb bitte ich Sie, verehrte Kolleginnen und
Kollegen der Koalition und der Linken, unserem Antrag im Gegensatz zum Abstimmungsverhalten in den
Ausschüssen zuzustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8697, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5099 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({0})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 30. Januar 2013, ein.
An diesem Tag findet um 12 Uhr hier im Plenarsaal
die Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages für
die Opfer des Nationalsozialismus statt. Aus diesem
Grund beginnt die Plenarsitzung erst um 13.30 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
friedliche Nacht.