Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte einen Au-
genblick Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich zur ersten Plenarsitzung des Deutschen Bundes-
tages in diesem Jahr, verbunden noch einmal mit allen
guten Wünschen für Sie persönlich und für unsere ge-
meinsame Arbeit.
Gleichzeitig möchte ich Sie bitten, damit einverstan-
den zu sein, dass, wie interfraktionell vereinbart, der Ta-
gesordnungspunkt 1 b von der heutigen Tagesordnung
abgesetzt werden soll. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann können wir so verfahren.
Bevor wir nun in die vereinbarte Tagesordnung ein-
treten, bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kurz vor Weihnach-
ten erreichte uns eine Nachricht, die uns alle tief bestürzt
hat. Mit großer Betroffenheit erfuhren wir vom plötzli-
chen Tod unseres Kollegen Peter Struck. Er starb am
19. Dezember 2012 im Alter von 69 Jahren in Berlin.
Peter Struck war eine parlamentarische Instanz. Er hat
die bundesdeutsche Politik über drei Jahrzehnte maßgeb-
lich mitgestaltet. Peter Struck kam 1980 erstmals ins
Parlament und gehörte dem Hohen Haus als Mitglied der
SPD-Fraktion bis 2009 an. Eigentlich wollte Peter
Struck nach dem Studium der Jurisprudenz und der Pro-
motion irgendwann einmal Bürgermeister oder Stadtdi-
rektor seiner Heimatstadt Göttingen werden. Er hätte das
zweifellos gekonnt und gut gemacht.
Glücklicherweise ist es anders gekommen. Nach sei-
ner ersten erfolgreichen Kandidatur im Wahlkreis Celle-
Uelzen für den Deutschen Bundestag hat Peter Struck
acht Legislaturperioden mit wichtigen Aufgaben und
wachsendem Einfluss absolviert.
Peter Struck haben die meisten von uns als einen feinen
Kerl und einen verlässlichen Kollegen kennengelernt. Er
war über viele Jahre eine der Stützen der Fußballmann-
schaft des Deutschen Bundestages, deren Bedeutung für
das kollegiale Klima über die Fraktionen hinweg nicht zu
unterschätzen ist. Peter Struck wusste, dass es in der Poli-
tik wie im Sport nicht nur Siege, sondern auch Niederla-
gen gibt - und er hatte die Gabe, bei Siegen nicht das Maß
zu verlieren und bei Niederlagen nicht das Selbstbewusst-
sein.
Um Ämter und Aufgaben hat er sich nicht beworben,
aber er hat sich auch nicht verweigert, wenn sie ihm
- manchmal überraschend und gegen seine eigenen
Präferenzen - angetragen wurden: Er war Obmann im
sogenannten Flick-Untersuchungsausschuss Mitte der
1980er-Jahre, er war Parlamentarischer Geschäftsführer,
Fraktionsvorsitzender der SPD-Fraktion von 1998 bis
2002 und in der Großen Koalition wieder von 2005 bis
2009, und er war Bundesminister der Verteidigung von
2002 bis 2005.
In diesen unterschiedlichen Ämtern hat er sich den
Respekt seiner Kolleginnen und Kollegen und der Öf-
fentlichkeit und die besondere Zuneigung der Soldaten
erworben. Das hohe Regierungsamt des Inhabers der
Verteidigungs- und Kommandogewalt war ihm zunächst
alles andere als nahe, eher fremd. Am Ende, rückbli-
ckend, war es ihm von allen Ämtern vielleicht das
liebste, nicht aber das wichtigste. Das Größte, hat Peter
Struck mehr als einmal erklärt, sei, Mitglied des Deut-
schen Bundestages zu sein.
Peter Struck hatte eine klare Vorstellung von der Ord-
nung der Staatsgewalt, und er wusste zwischen der Be-
deutung von Ämtern und ihrer Prominenz in der öffentli-
chen Wahrnehmung zu unterscheiden. Das sogenannte
Struck’sche Gesetz, nach dem Gesetzentwürfe in aller
Regel das Parlament nicht so verlassen, wie sie einge-
bracht worden sind, hat er nicht erfunden, aber er hat es
praktiziert, und zwar nicht in Oppositionszeiten, sondern
als Vorsitzender einer Regierungsfraktion.
2009 schied Peter Struck aus eigener Entscheidung
aus dem Parlament aus. Damals glaubten nur wenige sei-
ner Ankündigung, sich als Politikruheständler vor allem
dem geliebten Motorrad widmen zu wollen. Tatsächlich
blieb Peter Struck der Politik verbunden. Er übernahm
schwierige Schlichtungsaufgaben und wurde 2010 Vor-
sitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Nur wenige Tage
Präsident Dr. Norbert Lammert
vor seinem Tod war er in diesem Amt einstimmig bestä-
tigt worden.
In der nächsten Woche wäre er 70 Jahre alt geworden.
Viele von uns hatten sich auf das Wiedersehen gefreut -
er auch. Viele von uns verlieren einen geschätzten Kolle-
gen und guten Freund. Peter Struck hat sich um unser
Land große Verdienste erworben.
Seiner Frau und seiner Familie spreche ich im Namen
des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus. Alle dieje-
nigen, die das Privileg hatten, mit ihm zusammenarbei-
ten zu können, werden ihn gewiss nicht vergessen.
Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 a auf:
a) Vereinbarte Debatte
50 Jahre Élysée-Vertrag - Zusammenarbeit
und gemeinsame Verantwortung für die Zukunft Europas
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich möchte zu Beginn darauf hinweisen, dass wir uns
in den vergangenen Wochen über die Fraktionen mit den
französischen Kolleginnen und Kollegen auf einen Text
verständigt haben, den wir am nächsten Dienstag nach
der gemeinsamen Sitzung mit den Mitgliedern der Assemblée nationale per Akklamation hier im Reichstagsgebäude am Schluss der Veranstaltung annehmen wollen. Insofern besteht Gelegenheit, in der Debatte darauf
Bezug zu nehmen, Hinweise zu machen und vielleicht
auch den einen oder anderen Akzent zu setzen, weil sich
in einem solchen gemeinsamen Text naturgemäß nicht
jede einzelne Präferenz in gleicher Weise und vor allen
Dingen mit der vielleicht gewünschten Deutlichkeit wiederfindet.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich dem Kollegen Andreas Schockenhoff für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
den vergangenen Monaten ist viel Kritisches über den
Zustand der deutsch-französischen Beziehungen gesagt
worden, manches zu Recht, vieles aber auch aufgrund zu
kurzsichtiger Betrachtung zu Unrecht. So ist es gut, dass
wir aus Anlass des 50. Jahrestages der Unterzeichnung
des Élysée-Vertrages ausführlich über die Bedeutung der
deutsch-französischen Zusammenarbeit sprechen.
Denn bei allem notwendigen Streit über die besten
Wege zur Überwindung der Schuldenkrise sollten wir
immer die historische Leistung der deutsch-französischen Zusammenarbeit und die daraus erwachsende Verantwortung für die Entwicklung Europas im Auge behalten.
In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union sagte der
Vorsitzende des norwegischen Nobelpreiskomitees - ich
zitiere -: Die Aussöhnung zwischen Frankreich und
Deutschland ist wahrscheinlich das überzeugendste Beispiel dafür, dass Krieg und Konflikte rasch in Frieden
und Zusammenarbeit verwandelt werden können. Diese Worte würdigen die Leistung der Männer und
Frauen, die nach drei fürchterlichen Kriegen den Neuanfang und die Aussöhnung wagten und damit die Voraussetzungen für den europäischen Einigungsprozess und
die Überwindung der Teilung Europas schufen.
Das Nobelpreiskomitee würdigt aber auch den besonderen politischen Mut von Außenminister Robert
Schuman. Mit seinem Plan zur Montanunion hatte er den
Franzosen bereits fünf Jahre nach Kriegsende zugetraut,
eine gleichberechtigte Partnerschaft mit der jungen,
machtlosen Bundesrepublik einzugehen, und er hat damit den Grundstein gelegt zu der Freundschaft, die nunmehr unsere beiden Länder so eng miteinander verbindet. Der dadurch gelungene Aufbruch in eine neue,
gemeinsame und vor allem bessere Zukunft ist, so denke
ich, auch heute noch Grund zur Dankbarkeit.
({0})
Für die Aussöhnung, Freundschaft und Zusammenarbeit von Franzosen und Deutschen steht symbolisch der
Élysée-Vertrag. Er hat viel bewirkt. Ich möchte nur zwei
Beispiele nennen. Es sind zwei Beispiele, die sich seit
der ersten gemeinsamen Plenarsitzung unserer beiden
Parlamente vor zehn Jahren in Versailles besonders gut
entwickelt haben.
Ich nenne zum einen das Deutsch-Französische Jugendwerk. Nach zwei Evaluierungen, die auf Anregung
des Bundestages und der Assemblée nationale 2004
durchgeführt wurden, konnte seine Effizienz deutlich gesteigert werden. Heute ist es wieder eine Erfolgsgeschichte. In den letzten zwei Jahren lag die Anzahl der
Teilnehmer deutlich über 200 000, und es ist gut, dass
der Etat des Jugendwerkes - übrigens zum ersten Mal
seit 1963 - angehoben wurde. Aber es könnten noch
deutlich mehr junge Menschen am Austausch teilnehmen, wenn auf beiden Seiten mehr Finanzmittel zur Verfügung stünden. Hier sollten wir nicht wieder 50 Jahre
bis zur nächsten Erhöhung warten. Es ist doch ein gutes
Zeichen für die gemeinsame Zukunft, wenn die deutschfranzösischen Beziehungen gerade auch bei der jungen
Generation über hohe Anziehungskraft verfügen.
Ich nenne zum anderen das deutsch-französische Geschichtsbuch für die Oberstufe. Beide Regierungen haben am 22. Januar 2003 dafür die Anregung des deutschfranzösischen Jugendparlamentes aufgenommen. Inzwischen sind drei Bände des Lehrbuches erschienen, das
nicht nur den Lehrplänen beider Länder gerecht wird; es
sind weltweit die ersten in zwei Staaten inhaltlich identischen Schulbücher, die von der griechischen Demokratie
bis hin zur Gegenwart auch die Sicht des jeweils anderen
zum Ausdruck bringen. Wer weiß, wie sensibel Fragen
der Geschichte - insbesondere der eigenen - sind, kann
sich angesichts der schwierigen Vergangenheit unserer
Länder vorstellen, welch wichtiger Beitrag mit diesem
gemeinsamen Geschichtsbuch für eine dauerhafte Aussöhnung geleistet wird.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz dieser und vieler anderer Erfolge in den deutsch-französischen Beziehungen bleibt noch viel zu tun. Deshalb verstehe ich die
Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU nicht nur
als eine Würdigung ihrer bisherigen Leistungen und der
Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland; sie
ist zugleich der Auftrag, insbesondere an unsere beiden
Länder, ihrer besonderen Verantwortung für den weiteren Integrationsprozess und für die Selbstbehauptung
Europas in der globalisierten Welt gerecht zu werden.
Deshalb begrüße ich sehr, dass es in der gemeinsamen
Erklärung von Bundestag und Assemblée nationale
heißt, dass unsere Länder als starke Wirtschaftsnationen
besondere Möglichkeiten haben, die weitere Gestaltung
der EU voranzubringen, und dass sie gemeinsame Verantwortung für den Erfolg des europäischen Modells im
globalen Wettbewerb übernehmen müssen.
Will Europa Subjekt im globalen Wettbewerb bleiben
und nicht zum Objekt werden und in die Bedeutungslosigkeit abrutschen, muss es seine Schuldenkrise, vor
allem die Ursachen dafür, überwinden. Hier sind wir bereits ein wichtiges Stück vorangekommen; aber dieser
Prozess muss weitergehen, so schmerzhaft er für einige
Länder auch ist - dazu zähle ich auch Frankreich. Stabilität und Wachstum, Disziplin und Verantwortung, das
Ökonomische und das Soziale sind gleichermaßen nötig,
um die Krise nachhaltig zu bewältigen. Das wird nur gelingen, wenn es hinsichtlich der in der EU unterschiedlichen Auffassungen im Wirtschaftsdenken zu einer Annäherung kommt mit dem Ziel eines modernen, global
wettbewerbsfähigen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Gerade wegen seiner noch sehr unterschiedlichen Auffassungen in wesentlichen wirtschafts- und
finanzpolitischen Fragen steht das deutsch-französische
Paar diesbezüglich vor einer besonderen Bewährungsprobe. Deutschland und Frankreich müssen bei diesen
Fragen noch näher zusammenkommen, um Europa zusammenzuhalten.
Aber auch bei anderen Herausforderungen, vor denen
die EU steht, müssen wir bei der Suche nach Lösungen
enger zusammenkommen. Ich nenne nur die Stichworte
Energiesicherheit, Fragen der Arbeitsmigration, Gewährleistung hoher Umweltstandards und die Gestaltung
unserer Nachbarschaft im Osten, vor allem aber ganz aktuell auch im Süden. Gerade dieses letzte Beispiel zeigt:
Auch die deutsch-französische sicherheitspolitische
Zusammenarbeit muss für die Verbesserung der europäischen Fähigkeiten in der GSVP weiter vertieft werden.
Auch hier stellen sich schwierige grundlegende
Fragen; denn wir müssen feststellen, dass es in der EU
durchaus unterschiedliche Prioritätensetzungen gibt:
Frankreich fokussiert sich strategisch eher auf Nordafrika, während die Mittel- und Osteuropäer eher nach
Osten und unsere nordischen Partner zunehmend in
Richtung Arktis blicken. Deshalb brauchen wir in der
EU, vor allem aber zwischen unseren beiden Ländern,
eine strategische Diskussion über die Frage, was die EU
mit ihren zivilen und militärischen Missionen erreichen
will und auf welche geografischen Herausforderungen
sie sich besonders ausrichten sollte.
({2})
Das ist übrigens auch eine Voraussetzung dafür, dass wir
mit Pooling und Sharing von militärischen Fähigkeiten
und Kapazitäten zu wirklich substanziellen Kooperationen kommen. Solange Frankreich und Deutschland hier
nicht am gleichen Strang ziehen, werden wir die notwendige Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht voranbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der französische
Ministerpräsident Ayrault hat gesagt: Wir müssen noch
mehr miteinander sprechen. - Ich denke, das gilt auch
für das Gespräch zwischen uns Abgeordneten. Auch
wenn unsere Zusammenarbeit in der deutsch-französischen Parlamentariergruppe so intensiv wie in keiner anderen Parlamentariergruppe ist, reicht das noch nicht
aus. Angesichts der Herausforderungen, die ich vorhin
angesprochen habe, müssen wir auch die Zusammenarbeit unserer Parlamente auf eine qualitativ neue Stufe
stellen. Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass mit
unserer Gemeinsamen Erklärung, die wir nächsten
Dienstag annehmen, diese Zusammenarbeit vertieft werden soll. Schon heute gibt es konkrete Fragen, bei denen
wir uns enger abstimmen sollten. Ich nenne beispielsweise die Subsidiaritätsprüfung.
Im Zusammenhang mit der Stärkung der Wirtschaftsund Währungsunion und der parlamentarischen Begleitung des Europäischen Semesters wird es voraussichtlich
zweimal jährlich interparlamentarische Konferenzen geben. Gerade angesichts der in Frankreich und Deutschland durchaus unterschiedlichen wirtschafts- und finanzpolitischen Auffassungen halte ich es für sinnvoll, dass
wir uns unmittelbar vor solchen Tagungen erst einmal
mit unseren französischen Kollegen beraten. Die
zwischen dem Bundestag und der Assemblée nationale
bestehenden Unterschiede sind bekannt. Die Assemblée
nationale hat ein sehr eingeschränktes Initiativrecht. In
europapolitischen Fragen hat der Bundestag mit dem
EUZBBG oder bei Bundeswehreinsätzen mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz eine sehr viel stärkere Stellung
in unserer Verfassung als die Assemblée nationale in der
französischen Verfassung. Dennoch wollen und müssen
wir uns so eng wie möglich abstimmen und unsere Politik so weit wie möglich koordinieren. Wenn die Abgeordneten aus Deutschland und Frankreich dies in den
wichtigen und vor allem schwierigen Fragen der europäischen Politik regelmäßig tun, dann wird dies tiefer
gehen und ein besseres Verständnis für die Position der
anderen Seite schaffen, als wenn dies allein von den
Regierungen geleistet werden muss.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es auch
weit mehr als ein Symbol, wenn wir nächste Woche in
diesem Raum als Plenarversammlung mit der Assemblée
nationale gemeinsam tagen und gegenüber unseren
Völkern den gemeinsamen Willen zur Gestaltung des bi26616
lateralen Verhältnisses und zur Behauptung der Stellung
Europas in der Welt zum Ausdruck bringen.
Ich bedanke mich ganz herzlich und freue mich mit
Ihnen gemeinsam auf den nächsten Dienstag.
({3})
Günter Gloser ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Der Élysée-Vertrag ist eine einmalige
historische Leistung. Er hat der Aussöhnung Deutschlands und Frankreichs einen institutionellen Rahmen
gegeben. Dieser prägt bis heute die Zusammenarbeit
zwischen beiden Ländern. Deshalb ist es auch richtig,
dieses Jubiläum feierlich zu begehen.
Seinen Wegbereitern Adenauer und de Gaulle gilt darüber hinaus große Anerkennung für dieses Dokument
der Annäherung. Auch für alle SPD-geführten Bundesregierungen war der Vertrag die Basis ihrer FrankreichPolitik. Aber nun wird gegenwärtig in beiden Staaten die
Frage gestellt: Sind denn 50 Jahre Élysée-Vertrag angesichts von Streitpunkten, mühsamen Kompromissen und
auch angesichts gelegentlich auftretenden Misstrauens
ein Grund zum Feiern? Ich sage Ja; denn ich beurteile
diesen Vertrag eben nicht nur aus der Perspektive der
letzten Wochen und Monate oder bestimmter Abschnitte
während der letzten 50 Jahre, sondern aus der historischen Perspektive entlang der gesamten letzten 50 Jahre.
({0})
Es geht heute eben nicht nur um 50 Jahre freundliches
Nebeneinander, sondern um ein Miteinander, da die Beziehung beider Länder in dieser Zeit, wie ich finde, eine
weltweit einzigartige Vertiefung erfahren hat. Manche
Nörgler, die diese Feier kritisieren, blenden die enormen
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen
Leistungen aus, für die der Élysée-Vertrag die Grundlage
war. Die Kritiker sollten einfach einmal vom Jahr 1963
50 Jahre zurückgehen, um sich zu erinnern, was auf unserem Kontinent zwischen unseren beiden Ländern geschehen ist und was Deutsche Franzosen angetan haben.
Das sei an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich
erwähnt.
Die deutsch-französischen Beziehungen sind aber
mehr als nur das „Couple“, das Tandem der Staats- und
Regierungschefs, oder aber auch, wie es Kollege
Schockenhoff ausgedrückt hat, die Beziehungen
zwischen den beiden Parlamenten, auch wenn die in der
letzten Zeit eine bedeutende Rolle spielen.
Der Élysée-Vertrag hat dazu beigetragen, dass sich
ein einzigartiges Netz der Beziehungen zwischen unseren Ländern entwickelt hat. Ich will dafür einige
Beispiele nennen. Wo auf diesem Erdball gibt es so zahlreiche Partnerschaften zwischen Gemeinden, Städten,
Kreisen und Regionen? Allein über 2 000 kommunale
Partnerschaften existieren.
({1})
Wo sonst auf dieser Welt gibt es so viele Menschen, die
sich aktiv in Partnerschaftsvereinen und Freundschaftsgesellschaften engagieren? Diese Menschen sind die
wahren Brückenbauer in den deutsch-französischen Beziehungen.
({2})
Wo sonst gibt es bilaterale Einrichtungen und Publikationen wie die Deutsch-Französische Hochschule, die
Deutsch-Französische Industrie- und Handelskammer
oder aber das erwähnte deutsch-französische Geschichtsbuch? Hier hätte ich mir allerdings eine intensivere Verbreitung in den Schulen gewünscht. Da kann das
Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern nicht
das große Hindernis sein.
Auch unsere Parteien und politischen Stiftungen, die
Gewerkschaften und die Kirchen haben in den letzten
fünf Jahrzehnten viel für den politischen und gesellschaftlichen Austausch zwischen Frankreich und
Deutschland getan.
Eine weitere Erfolgsgeschichte ist das DeutschFranzösische Jugendwerk. Wir wissen, dass dieses
Jugendwerk zum Vorbild für die Beziehungen auch mit
anderen Ländern geworden ist. Ich erinnere nur an die
Beziehungen zwischen Deutschland und Polen.
Ich hege den Wunsch, dass der Kulturaustausch
zwischen unseren Ländern noch weiter ausgebaut wird.
Wir Parlamentarier haben eine wichtige Rolle, was die
Zukunftsfähigkeit von Goethe-Instituten und Auslandsschulen anbelangt; denn angesichts der aktuellen
Herausforderungen und auch der gelegentlich auftretenden Missverständnisse brauchen wir diese Kulturmittler.
({3})
Wer sich diesem Vertrag verpflichtet fühlt, muss sich
auf Augenhöhe begegnen. Häme, wie ich sie kürzlich in
Beiträgen im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation
Frankreichs gelesen habe, ist unangebracht und geschichtslos.
({4})
Es gab auch Zeiten, da waren die wirtschaftlichen Daten
in Frankreich viel positiver als die in Deutschland. Dass
Deutschland in der guten wirtschaftlichen Lage von
heute ist, hat auch mit den guten deutsch-französischen
Beziehungen zu tun; denn etwa 30 Prozent unseres
Exports in die Euro-Zone gehen nach Frankreich. Das
wird hier allzu oft vergessen.
Wir feiern den Vertrag am nächsten Dienstag zusammen mit der Assemblée nationale im Deutschen Bundestag. Es wird eine Feier, die dem Ereignis und den
deutsch-französischen Beziehungen angemessen ist. Es
wird keine Sause und es wird auch keinen Pomp geben,
aber - das sage ich ausdrücklich - wir dürfen dieses
Jubiläum nicht verstecken.
({5})
Für mich bedeuten die Feierlichkeiten vor allem, dass
wir, die Politikerinnen und Politiker, aber auch die Bürgerinnen und Bürger beider Länder, weiterhin Interesse
aneinander haben, Neugierde für das jeweils andere
Land und gegenseitiges Verständnis entwickeln.
Zum Schluss noch zu einem Dauerthema in unseren
Beziehungen. Es geht um den Spracherwerb in beiden
Ländern. Ich habe im letzten Jahr einen Artikel zu dieser
Thematik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entdeckt. Dort las ich einen Beitrag der Präsidentin des
Frankoromanistenverbandes. Sie beschreibt, dass 1956
in einer Abiturprüfung in Deutschland eine Passage aus
dem Roman Jean-Christophe von Romain Rolland zu
übersetzen war. Eine Passage lautete: „Nous avons besoin de vous et vous avez besoin de nous.“ 1956 übersetzte ein gestresster deutscher Abiturient diesen Satz
folgendermaßen ins Deutsche: „Wir haben genug von
euch, und ihr habt genug von uns.“
({6})
Ohne Abiturstress übersetzt lautet der Satz richtig - ich
weiß, dass Sie alle das verstehen -: „Wir brauchen euch,
und ihr braucht uns.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dieser Satz Romain Rollands, 1913 formuliert, klingt bis
heute wie ein Weckruf für die Zukunft.
Vielen Dank.
({7})
Für die Bundesregierung erteile ich das Wort nun dem
Staatsminister Michael Link.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Élysée-Vertrag haben Frankreich und Deutschland
nach zwei Weltkriegen ihre Versöhnung besiegelt und
eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen eingeleitet. Sie haben das aber nie nur mit Blick auf sich gemacht, sondern
von Anfang an immer mit Blick auf die gemeinsame europäische Verantwortung.
Tiefe und Intensität der deutsch-französischen
Freundschaft sind einzigartig. Das gilt für den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich. Das gilt
vor allem aber auch für das beispielhaft enge Netzwerk
zwischen den Bürgerinnen und Bürgern. Die Kollegen,
die vor mir gesprochen haben, haben völlig zu Recht genau darauf hingewiesen.
Wenn wir die letzten 50 Jahre betrachten, sehen wir,
dass sich eine tief in der Gesellschaft verwurzelte, echte
Freundschaft entwickelt hat. Das ist es, was die deutschfranzösische Freundschaft einzigartig macht: ihre Dichte
und die gelebte Nähe zwischen den Bürgerinnen und
Bürgern. Die erste der heute 2 200 Städtepartnerschaften
wurde schon 1950 geschlossen. Allein über 8 Millionen
Jugendliche haben seit der Gründung des DeutschFranzösischen Jugendwerks - auf seine Verdienste ist zu
Recht hingewiesen worden - an einem Austauschprogramm teilgenommen. In wirtschaftlicher Hinsicht sind
Deutschland und Frankreich - man muss es immer wieder betonen, weil es sonst manchmal in Vergessenheit
gerät - füreinander immer noch die wichtigsten Exportmärkte.
Dabei sollte uns allen klar sein: Die Freundschaft
zwischen Deutschland und Frankreich ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss in jeder Generation von den
Bürgerinnen und Bürgern und vor allem auch von uns
politisch Verantwortlichen in beiden Ländern neu mit
Leben gefüllt werden. Sie speist sich, außer aus gemeinsamen Werten, vor allem aus zwei Hauptquellen: gemeinsam erlebter Geschichte und gelebter Nähe.
Weil die gelebte Nähe so wichtig ist und viele Kolleginnen und Kollegen der Bundesregierung Anregungen
gegeben haben, was bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit besser werden muss - ein Punkt, der, wie
ich weiß, über die Fraktionsgrenzen hinweg viele umtreibt -, wollen wir bei diesem Jubiläum einen besonderen Schwerpunkt auf die Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit legen, bei der in der Tat
noch einiges unterstützt und besser gemacht werden
müsste. Vorbilder für diese Zusammenarbeit haben wir.
Ich nenne beispielhaft den Eurodistrikt; ich könnte noch
viele andere Bereiche nennen. Hier muss aber wirklich
noch einiges konkret vorangebracht werden. Genau daran arbeitet auch die Bundesregierung.
({0})
Das Ziel des deutsch-französischen Jubiläumsjahres
ist das gegenseitige Verständnis. Das geht, Kollege
Gloser, natürlich bis in die Sprache hinein; denn da geht
Verstehen los. Wir wollen das gegenseitige Verständnis
steigern und junge Menschen für das Projekt begeistern.
Lassen Sie mich, auch mit Blick auf die vielen Schülerinnen und Schüler, sei es, dass sie uns heute zuhören
oder diese Debatte nachlesen, sagen: Es muss einfach
auch wieder cool werden, die Sprache des Nachbarn zu
sprechen und einen Teil der eigenen Ausbildung im
Nachbarland zu absolvieren.
Im deutsch-französischen Jubiläumsjahr werden wir
deshalb nicht nur das in der Vergangenheit Erreichte feiern, sondern uns auch auf unsere gemeinsame Zukunft
und Verantwortung für Europa ausrichten. Der ÉlyséeVertrag hatte immer eine europäische Dimension.
Deutschland und Frankreich haben Europa bisher ge26618
meinsam vorangebracht. Für die nächsten Jahrzehnte
gilt, dass unsere beiden Länder die zukünftigen Herausforderungen nur im Rahmen eines einigen und starken
Europa werden bewältigen können.
Wir als Bundesregierung haben immer wieder gesagt
- das ist in vielen Debatten, gerade im letzten Jahr, als
wir über die Stabilisierung der Euro-Zone diskutiert haben, deutlich geworden -: Die Europäische Union ist unsere Antwort auf die Fragen, die die Globalisierung an
uns stellt. Das europäische Projekt steht vor ganz entscheidenden Herausforderungen. Viele Krisen sind beileibe noch nicht gelöst, im Gegenteil: Ich nenne die
Schuldenkrise, den Verlust von Wettbewerbsfähigkeit,
die Bedrohungen unserer inneren und äußeren Sicherheit
und den Auftritt neuer Kraftzentren. Wir sind mitten
drin, Antworten auf diese Herausforderungen zu gestalten. Dazu können Deutschland und Frankreich mit ihrem
Vorbild und unserem europäischen Modell einer offenen,
sozialen und toleranten Gesellschaft vieles beitragen.
Das haben wir nicht so gemacht - ich habe es gesagt -, dass wir nur aufeinander geblickt oder versucht
haben, andere zu dominieren. Vielmehr haben wir es von
Anfang an so gemacht, dass wir versuchten, die deutschfranzösische Freundschaft im Dienste einer Öffnung
nach außen zu wenden. Wir haben die deutsch-französische Freundschaft im Rahmen des Weimarer Dreiecks
exemplarisch um Polen erweitert. Das Weimarer Dreieck
- ich möchte es ganz ausdrücklich hervorheben - steht
ebenfalls für gelebte Nähe und gelebte Nachbarschaft
aufgrund gemeinsam erlebter Geschichte. Es ist zur
nicht mehr wegdenkbaren Ergänzung der deutsch-französischen Freundschaft geworden; das sei auch mit
Blick auf unsere polnischen Freunde und Nachbarn ausdrücklich erwähnt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Schuldenkrise, die uns aktuell trifft, zu überwinden, muss sich die
EU hin zu einer wirklichen wirtschaftlichen und politischen Union entwickeln. Deutschland und Frankreich
haben die Aufgabe - ich bin davon überzeugt: auch den
Mut -, die hierzu notwendigen Maßnahmen zu treffen.
Bei unserer Zusammenarbeit müssen wir jedoch ein
Missverständnis vermeiden: Die Ziele und Interessen
Deutschlands und Frankreichs sind natürlich nicht immer und automatisch deckungsgleich. Deutschland und
Frankreich bleiben, bei allen Gemeinsamkeiten, zwei
Länder mit vielen Unterschieden im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich. Kontroversen gehören in der EU wie auch in der deutsch-französischen
Partnerschaft dazu; sonst wären wir ein Museum.
Um Fortschritte und Kompromisse wurde in der Vergangenheit und wird auch jetzt stets hart gerungen.
Wenn aber erst einmal eine Einigung gefunden war - das
ist das, was Deutschland und Frankreich so besonders
auszeichnet -, dann stand sie, und dann war dieser Kompromiss meist auch das Vorbild für eine Einigung in der
gesamten EU. Für mich bestehen deshalb die Aufgabe
und der Beitrag des deutsch-französischen Motors vor
allem darin, europäische Entscheidungen vorzustrukturieren und sie dadurch oft überhaupt erst zu ermöglichen. Unsere Fähigkeit zum Kompromiss, trotz aller unterschiedlichen Auffassungen und Herangehensweisen,
ist es, was das deutsch-französische Verhältnis so einmalig macht und auszeichnet. Deshalb stellt sich die Bundesregierung, wenn sie eine europapolitische Position
formuliert, von Anfang an, vom ersten Moment an, die
Frage: Wo steht Frankreich in dieser Angelegenheit?
Diesen deutsch-französischen Reflex, wenn ich es einmal so nennen darf, kann man gar nicht hoch genug
schätzen. So etwas lässt sich nicht vertraglich anordnen,
das wächst über Jahrzehnte.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Deutschland und Frankreich können viel voneinander
lernen. Deutschland kann, um ein Beispiel zu nennen,
bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf außerordentlich viel von Frankreich lernen. In diesem Bereich
gibt es viele Impulse, die wir mit Interesse studieren.
Umgekehrt ist, wie wir an den vielen Fragen unserer
französischen Freunde - über alle Parteigrenzen hinweg - merken, die duale berufliche Ausbildung in
Deutschland für Frankreich wie für viele unserer Nachbarn von großem Interesse.
Die gegenseitige Wertschätzung spiegelt sich auch in
dem Bild wider, das die Bürger vom jeweiligen Partnerland haben. Aus einer ganz aktuellen Umfrage geht hervor, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich
zwischen 80 und 90 Prozent der Bürger die deutsch-französische Freundschaft positiv sehen und sie für wichtig
und entscheidend für Europa halten.
Meine Damen und Herren, beim Aufbau unseres zukünftigen Europas und bei der Wahrung unseres Wohlstandes und des europäischen Gesellschaftsmodells ist
Frankreich unser unverzichtbarer Partner. In diesem
Sinne wollen wir den 22. Januar begehen - nicht versteckt, sondern feierlich, festlich und selbstbewusst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsch-französische Freundschaft, sie ist keine Nostalgie und auch
keine Rhetorik; sie ist eine hochaktuelle Strategie, um
unsere Europäische Union Schritt für Schritt voranzubringen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Wolfgang Gehrcke ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt einen Jahrhundertroman für Deutsche und Franzosen: Das ist Erich Maria Remarques Im Westen nichts
Neues. Ich will Ihnen wenige Zeilen aus diesem Roman
vorlesen; denn dort begründet sich die gemeinsame Verantwortung, die wir haben. Remarque schreibt:
Es wird von einer Offensive gemunkelt. Wir gehen
zwei Tage früher an die Front. Auf dem Wege passieren wir eine zerschossene Schule. An ihrer
Längsseite aufgestapelt steht eine doppelte, hohe
Mauer von ganz neuen, hellen, unpolierten Särgen.
Sie riechen noch nach Harz und Kiefern und Wald.
Diese Särge warteten auf die Soldaten, auf die Franzosen
und auf die Deutschen.
Ich möchte, dass von unserem Parlament eine deutliche Botschaft ausgeht: „Nie wieder!“ Für dieses „Nie
wieder!“ muss man aktiv zusammenarbeiten.
({0})
Eingegraben in mein Gedächtnis haben sich auch Gespräche mit meinem jüdischen deutsch-französischen
Freund, dem Kommunisten Peter Gingold. Von den Nazis verfolgt, nach Frankreich geflohen, kämpfte er in der
Résistance gegen die deutsche Besatzung und somit für
Deutschland. Peter Gingold hat in Frankreich eine hohe
Auszeichnung erhalten, seine Tochter in Deutschland
Berufsverbot. Auch das ist Teil der deutsch-französischen Geschichte, über die wir gemeinsam nachdenken
müssen. Geschichte wird oft dargestellt als eine Geschichte großer Männer, seltener großer Frauen - warum
eigentlich?
Wir können de Gaulle und Adenauer für den ÉlyséeVertrag loben; doch zur Geschichte gemacht haben ihn
Jugendliche, die Schlagbäume und Grenzpfähle einrissen, die sich ernsthaft mit der Vergangenheit auseinandersetzten oder offen für ihre Nachbarn waren. Die
Menschen haben den Weg zur deutsch-französischen
Freundschaft geebnet, und die Politik ist ihnen gefolgt.
Ich finde das gut so.
({1})
Wie lebendig können wir von sozialen Bewegungen und
Arbeiterkämpfen in Frankreich lernen, von ihrem Geist
des Widerspruchs und des Spotts über Autoritäten! Als
Jugendlichen hat mich 1968 mitten im brodelnden Paris
der Aufstand der jungen Generation, der Arbeiter und
Intellektuellen mitgerissen. Er kam dann über den Rhein
zu uns. Die ersten Anstöße für eine multikulturelle Gesellschaft kamen aus Frankreich, bevor sie auch uns einholte. Gelöst haben wir beide diese Aufgabe nicht.
Ich hätte in der Erklärung, die wir annehmen werden,
gerne die Sätze gesehen: Es gilt, Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus konsequent entgegenzutreten.
Eine nachhaltige Kultur des Friedens, der Demokratie
und der sozialen Sicherheit liegt im Interesse der Bevölkerungen Frankreichs und Deutschlands. - Auch wenn
diese Sätze nicht in der Erklärung stehen, sollten beide
Parlamente doch in diesem Geiste zusammenarbeiten.
Wenn wir uns die Realität ansehen, dann erkennen
wir, dass eine solche Verpflichtung angesichts der
rechtsextremen Mordserie bei uns bitter notwendig ist.
Zusammen mit meinen kurdischen und französischen
Freundinnen und Freunden trauere ich über den bestialischen Mord an den drei kurdischen Politikerinnen in Paris. Auch diese gemeinsame Trauer muss zu unserer Geschichte gehören.
({2})
Deutschland und Frankreich haben jeweils eine koloniale Geschichte. So etwas prägt die Kolonialmächte genauso wie die Unterdrückten. Noch immer berühren
mich die wundervollen Gedichte, die Ho Chi Minh über
Frankreich geschrieben hat, gegen das er doch kämpfte.
Wie viele Französinnen und Franzosen, wie viele Deutsche waren solidarisch mit den Befreiungskämpfen in
Algerien, Marokko, in Tunesien und Vietnam! Auch das
ist etwas, was uns verbindet.
Umso betrüblicher ist es für mich und meine Fraktion
- ich sage das in voller Übereinstimmung mit der französischen Friedensbewegung und der französischen Linken -, dass sich die französische Regierung zur Militärintervention in Frankreichs ehemaliger Kolonie Mali
entschlossen hat. Deutschland und Frankreich können
viel gemeinsam leisten, aber bitte sehr zivil und mit immer weniger Waffen in dieser Welt.
({3})
Ich habe mit Erich Maria Remarque begonnen und
möchte Ihnen zum Schluss noch einen anderen für mich
großen Deutsch-Franzosen zitieren. Karl Marx hat 1844
geschrieben, der deutsche Auferstehungstag werde durch
das Schmettern des gallischen Hahnes verkündet. Vielleicht könnten wir Karl Marx heute in Gedanken sagen,
dass der gallische Hahn zu der Wiederauferstehung des
europäischen Gedankens, einer Europäischen Union des
Friedens, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit, schmettern wird: Ein anderes Europa ist möglich! Ein solches anderes Europa wollen wir gemeinsam mit
Frankreich erreichen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Frithjof Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich Ihnen, Herr Präsident, einmal danken.
Dass wir heute vor dem Hintergrund einer gemeinsamen
Erklärung der Französischen Nationalversammlung und
des Deutschen Bundestages zur Unterzeichnung des
Élysée-Vertrages vor 50 Jahren debattieren, ist auch
ganz wesentlich Ihrem Einsatz zu verdanken. Das ist ein
gutes Symbol für das europäische Zusammenwachsen
unserer beiden Länder.
({0})
Ich finde es besonders wichtig, dass wir uns mitten in
einer tiefen europäischen Krise vergewissern, welche
entscheidende Bedeutung die deutsch-französischen Beziehungen haben. Dass wir nach einer langen Geschichte
von Rivalität und Kriegen, von deutscher Aggression
und von den Verbrechen der Nationalsozialisten nicht
nur Partner, sondern europäische Freunde werden konnten, ist das politische Wunder am Rhein im 20. Jahrhundert - nicht weniger als das.
({1})
Dafür gebührt vor allem den Französinnen und Franzosen Dank. Es war Frankreich, das nach den deutschen
Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, nach den Gräueltaten
von Deutschen in Frankreich, bereit war, einen Neuanfang in den deutsch-französischen Beziehungen anzugehen. Westdeutschland wurde als europäischer Partner akzeptiert. Das war eine große politische Geste. Es war
auch eine strategische Entscheidung, die den Weg zur
Europäischen Union geebnet hat.
Am Anfang stand 1950 der Schuman-Plan, der 1952
zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der
Montanunion, geführt hat. 1957 kamen dann die Römischen Verträge über eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Aber erst der Élysée-Vertrag hat mit der
deutsch-französischen Aussöhnung den Durchbruch für
eine neue Qualität des europäischen Zusammenwachsens gebracht.
({2})
Ich sage: Diese politische Weitsicht de Gaulles hat eine
entscheidende Grundlage für Frieden und Integration in
Europa geschaffen, und das werden wir nicht vergessen.
Ich finde es sinnvoll, hier einmal kurz zu erwähnen,
welche Auswirkungen der Élysée-Vertrag auf mich ganz
persönlich hatte.
Meine Jugend fand im alten Westdeutschland statt. In
der zweiten Hälfte der 60er-Jahre haben wir in der
Schule Theaterstücke und Texte von Jean-Paul Sartre
und Albert Camus gelesen. Dass die in die Lehrpläne gekommen sind, war eine Konsequenz des Élysée-Vertrages. Die große Politik hatte unten ganz praktische Wirkung gezeigt. Da wurden eine Sicht auf die Welt und ein
Lebensgefühl vermittelt, die es so in Deutschland - zumindest in meiner Wahrnehmung - damals kaum gab.
„Existenzialismus“ war das schillernde Zauberwort, das
eine ganze Welt der Kultur und auch der politischen Kultur neu eröffnet hat.
Dann gab es ein Austauschprogramm zwischen meinem Gymnasium und einem französischen Gymnasium
in der Normandie. - Auch eine Auswirkung des ÉlyséeVertrages. 14 Tage fuhr eine deutsche Gruppe nach
Frankreich, 14 Tage kam eine französische Gruppe nach
Deutschland - 14 Tage, die für uns die Welt verändert
haben. Seitdem habe ich auf die Frage nach einer möglichen zweiten Heimat immer spontan „Frankreich“ geantwortet. Deswegen bin ich zutiefst davon überzeugt,
dass Partnerschafts- und Austauschprogramme, und
zwar nicht nur für Studentinnen und Studenten, sondern
für alle Jugendlichen, ganz zentral sind.
({3})
Wir müssen sie ausbauen und verbreitern. Da gibt es
eine Menge zu tun.
Nun möchte ich noch einige Bemerkungen zur Bedeutung von Frankreich und Deutschland in der europäischen Familie machen.
Frankreich und Deutschland verfügen zusammen
über mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes der
Europäischen Union. Das gibt uns objektiv gemeinsam
eine besondere Verantwortung. Wirkungsvolle Entwicklung und Fortschritt gibt es vor diesem Hintergrund
nämlich nur, wenn Franzosen und Deutsche an einem
Strang ziehen. Das geht nur gemeinsam mit allen anderen Partnern, aber es geht nicht ohne die beiden zusammen.
Allerdings dürfen sie nicht der Gefahr erliegen, ein
Direktorium zu bilden.
({4})
Deswegen kommt der gemeinsamen Kooperation mit allen Partnerländern, gerade auch mit den wirtschaftlich
kleineren Partnerländern, eine besondere Bedeutung zu.
Wenn das nicht beherzigt wird, dann ist das kontraproduktiv. Dafür gibt es in der jüngeren Vergangenheit
durchaus Beispiele.
({5})
Die Verteidigung wichtiger politischer, sozialer und
ökologischer Errungenschaften Europas ist eine entscheidende Herausforderung in der Globalisierung. Daher gibt es objektiv ein überragendes Eigeninteresse der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sich gemeinsam weiterzuentwickeln und die Union zu vertiefen.
Deutschland und Frankreich markieren dabei ganz unterschiedliche Ausprägungen der Demokratie. Das heißt
nicht etwa besser oder schlechter, sondern eben anders.
Manche Experten bezeichnen das Modell in Frankreich
als eine Exekutivdemokratie oder Präsidialdemokratie
und das in Deutschland als eine parlamentarische Demokratie. Das führt in der Praxis zu ganz unterschiedlichen
Diskursen über Entscheidungsprozesse, ihr Tempo, ihre
Kontrolle, ihre Umsetzung, und das führt gelegentlich
auch zu Missverständnissen.
Ich glaube, dass keines der beiden Modelle eine Lösung für die Vertiefung der Demokratie in der Europäischen Union darstellt. Vielleicht muss es ein Kompromiss aus beiden Modellen sein, der Europa den Weg
weist. Vielleicht ist das ja die zeitgemäße Form der Fortschreibung des Élysée-Vertrages im 21. Jahrhundert. Das
wäre ein großes Thema für die weitere Diskussion zwischen den beiden Parlamenten und Regierungen über die
Vertiefung der Europäischen Union. Diese Union
braucht eine Vertiefung, wenn sie sich in der Globalisierung auf lange Sicht selbst behaupten will.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass der Élysée-Vertrag eine so fundamentale Bedeutung für die europäische Integration erlangen würde, war
bei der Unterzeichnung am 22. Januar 1963 in Paris
nicht absehbar. Im Gegenteil! Dieser Vertrag war gerade
in Deutschland heftig umstritten. Die Atlantiker haben
im Gegensatz zu den Gaullisten befürchtet, dass ein bilateraler Vertrag mit Frankreich zulasten der transatlantischen Partnerschaft gehen könnte. Eine Besorgnis, die
sich nicht bewahrheitet hat.
Dieser Vertrag hat aber nicht nur den bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich einen
Rahmen gegeben. Vor allem ist es damit gelungen, auf
nur fünf Seiten die Grundlagen für Versöhnung, für Zusammenarbeit, für Frieden in Europa zu schaffen. Dieser
Vertrag prägt die Entwicklungslinien der gesamten europäischen Integration bis heute. Das war und bleibt das
maßgebliche Verdienst von zwei großen Staatsmännern,
des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle
und des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer.
Es gibt auf der Welt kaum zwei Staaten, die so enge
Beziehungen pflegen wie Deutschland und Frankreich.
Das ist das Ergebnis einer in der Geschichte bisher einmaligen Aussöhnung ehemaliger Erbfeinde, wobei ich
zu denen gehöre, die das Wort „Erbfeinde“ nur in Anführungszeichen verwenden; denn die Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen beweist: Feindschaft ist
nicht erblich.
({0})
Feindschaft sitzt nicht in den Genen, sondern in den
Köpfen. Feinde können Freunde werden, wenn sie es
denn wirklich wollen. Feindschaft kann also überwunden werden. Wir, Deutsche und Franzosen, haben sie
überwunden. Das ist die zentrale und bis heute aktuelle
Botschaft des Élysée-Vertrags für Europa und die Welt.
Aber Freundschaft ist auch nicht vererbbar. Freundschaft muss gepflegt werden. Freundschaft muss ständig
erneuert werden. Deswegen geht es darum, die Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen Jahr für Jahr
lebendig zu erhalten und von Generation zu Generation
weiterzuentwickeln. Das ist unser gemeinsamer Auftrag
aus 50 Jahren Élysée-Vertrag.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
nicht nur auf der Ebene der Regierungen ein eng geknüpftes Netz zwischen Deutschland und Frankreich,
sondern wir haben auch in vielen Kommunen, in den
Ländern im Bereich der Kultur, der Wissenschaft und bei
der Sprachförderung eine enge Kooperation. Circa
300 deutsch-französische Vereinigungen, regionale Partnerschaften, kommunale Partnerschaften: All das bildet
ein starkes Wurzelgeflecht zwischen unseren Bürgern.
Wir haben uns auch seitens des Deutschen Bundestages
und der Assemblée nationale im Februar 2010 eine gemeinsame deutsch-französische Agenda 2020 gegeben,
mit der wir 80 neue Projekte der Zusammenarbeit bis
zum Jahr 2020 umsetzen wollen.
Dass die Jugendarbeit einen besonderen Stellenwert
in unseren Beziehungen hat, ist von nahezu allen Vorrednern zu Recht betont worden. In diesem Zusammenhang
kann die Leistung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes nicht genug gewürdigt werden. Seit 1963 haben
die Programme des Deutsch-Französischen Jugendwerkes mehr als 8 Millionen Teilnehmer erreicht. Dieser
Austausch zwischen deutschen und französischen Jugendlichen bleibt eine wesentliche Voraussetzung für
eine gute Entwicklung unserer künftigen bilateralen Beziehungen und für die Entwicklung der europäischen Integration. Deswegen will ich den jungen Leuten zurufen:
Bewahrt euch eure Neugier aufeinander, und bewahrt
euch das Interesse füreinander!
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die enge
Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland ist
umso höher einzuschätzen, als wir aus teilweise sehr unterschiedlichen Traditionen kommen, beispielsweise was
unsere Auffassungen von Wirtschaftspolitik betrifft, die
Ausgestaltung des politischen Systems, der Parteienlandschaft, den Stellenwert von Religion, das Bildungssystem und viele andere Dinge mehr. Aber genau weil
unsere Ausgangsvoraussetzungen so unterschiedlich
sind, hat unsere Zusammenarbeit, hat unsere Verständigung einen so hohen Stellenwert, nicht nur für die bilateralen Beziehungen, sondern auch für die europäische
Integration insgesamt. Das ist der Grund, weshalb
Deutschland und Frankreich zu Pionieren und zur Triebfeder der europäischen Integration geworden sind. Ob
Binnenmarkt, Schengen-Abkommen, Wirtschafts- und
Währungsunion, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: Alle wegweisenden europäischen Initiativen der
letzten Jahre und Jahrzehnte wären ohne den engen
Schulterschluss zwischen Deutschland und Frankreich
undenkbar gewesen.
Wir wissen freilich auch, dass eine Einigung zwischen unseren beiden Ländern alleine die Kompromissfindung auf europäischer Ebene noch nicht ersetzt,
sondern dass sie dafür eher ein Ausgangspunkt ist. Deswegen müssen wir betonen: Die deutsch-französische
Kooperation im Rahmen der Europäischen Union war
nie als Bevormundung zu verstehen, sondern es war immer eine Einladung zur Zusammenarbeit an alle. Ich
würde es deswegen begrüßen, wenn wir unsere Beziehungen auch zu anderen Partnern der Europäischen
Union wie Italien oder Polen vertiefen, die ihrerseits
eine integrierende Wirkung in ihrem regionalen Umfeld
entfalten können. Wir haben mit dem Weimarer Dreieck
dafür ein Format, das sich zwischen Deutschland, Frankreich und Polen etabliert hat. Das ist das Zeugnis eines
gelungenen Aussöhnungsprozesses zwischen Deutschland und unseren beiden größten europäischen Nachbarn
im Westen und im Osten.
Meine Damen und Herren, es fehlt nicht an Themen
für die künftige Zusammenarbeit zwischen Deutschland
und Frankreich: die Weiterentwicklung der Wirtschaftsund Währungsunion, die Stärkung der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, die Energiepolitik und
die Luft- und Raumfahrtindustrie. Bei all diesen Themen
gilt es, im Geiste des Élysée-Vertrages unsere Partnerschaft immer wieder mit Leben zu erfüllen. Dieses
Signal sollten wir in der nächsten Woche bei der gemeinsamen Sitzung der Assemblée nationale mit dem Deutschen Bundestag hier in Berlin geben. Ich freue mich darauf.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Axel Schäfer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind in diesem Parlament geteilt, nämlich in fünf verschiedene Fraktionen, richtigerweise; wir sind aber auch
vereint in vielen gemeinsamen Überzeugungen. Gerade
heute sollte Anlass sein, dieses deutlich zu machen.
Dass wir alle miteinander die deutsch-französische
Verständigung, besser gesagt die deutsch-französische
Freundschaft, als unverrückbare Grundlage unserer eigenen Politik verstehen, ist einer der ganz großen Erfolge
der Politik der letzten 50 Jahre. Dann gehört es sich auch
für einen Sozialdemokraten, einen Christdemokraten
wie Konrad Adenauer ausdrücklich zu loben. Auch das
sollte in diesem Hause selbstverständlich sein.
({0})
Da wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind,
kommt es gerade auch heute darauf an, auf wichtige parlamentarische Entwicklungen, die etwas mit Deutschland, Frankreich und Europa zu tun haben, noch einmal
ausdrücklich hinzuweisen.
Erstens. Wir, das heißt unsere Vorgängerinnen und
Vorgänger, haben es nach vielen Debatten im Deutschen
Bundestag - und das war sicherlich auch unter den Kolleginnen und Kollegen der Assemblée nationale streitig
- auf Basis einer Initiative des sozialdemokratischen
Kanzlers Helmut Schmidt und des französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing hinbekommen, dass erstmals ein Parlament über Ländergrenzen hinaus direkt
gewählt wird, nämlich 1979 das Europäische Parlament.
({1})
Das war eine Jahrhundertentscheidung für die parlamentarische Demokratie, und die hat etwas mit dieser sehr
intensiven, vertrauensvollen Zusammenarbeit - auch auf
parlamentarischer Ebene - mit Deutschland und Frankreich zu tun. Das sollten wir gerade an diesem Tag noch
einmal unterstreichen.
({2})
Wir sollten auf ein Zweites hinweisen, weil auch das
zu oft vergessen wird: Die Realisierung der deutschen
Vereinigung - das heißt, der rechtliche Akt, wie die
DDR der Bundesrepublik beigetreten ist - war nur möglich, weil in Europa ein kluger und solidarischer Kommissionspräsident, der französische Sozialist Jacques
Delors, zusammen mit dem Europäischen Parlament ein
Verfahren gewählt hat - es war eine dänische Kollegin,
die das dann organisiert hat -, das keine jahrelangen Beitrittsverhandlungen über die Integration voraussetzte,
die wir sonst hätten führen müssen und die uns ungeheure rechtliche Schwierigkeiten bereitet hätte. Dadurch
ist die Wiedervereinigung auf sehr sanfte, vor allen Dingen auf sehr zügige und sehr auf Gemeinschaft angelegte
Weise möglich geworden. Das war für die deutsche Wiedervereinigung 1990 eine ganz wichtige Voraussetzung.
Gleichzeitig war es eine ganz wichtige Aussage, dass
auch Kolleginnen und Kollegen aus der früheren DDR,
vom Bundestag entsandt, ins Europäische Parlament kamen. Das war ein Novum in der parlamentarischen Demokratie und auch ein Ausdruck der deutsch-französischen Zusammenarbeit zwischen den Ländern und im
Parlament.
({3})
Drittens. Wir müssen uns jetzt, wo die staatliche und
die institutionelle Zusammenarbeit außer Frage steht,
selbstkritisch fragen, wie wir die parlamentarische und
auch die parteipolitische Zusammenarbeit verbessern
können, weil das das Fundament ist, auf das wir die
nächsten Jahrzehnte gründen. Wir haben gelernt, dass es
gut ist, sich auf deutsch-französischer Ebene zu verständigen. Christdemokraten haben gelernt, sich mit den
jeweiligen Parteiformationen zusammen- und auseinanderzusetzen. Das gilt für die Liberalen in Frankreich sicherlich genauso. Ich fand es gut, dass die Grünen in
Person von Daniel Cohn-Bendit ausprobiert haben, wie
es ist, wenn man sowohl in Deutschland als auch in
Frankreich kandidiert; das war ganz wichtig. Ich fand es
auch wichtig, dass die Linkspartei bei einer Reihe von
Problemen Resolutionen gemeinsam mit ihren französischen Bruder- und Schwesterorganisationen vorgelegt
hat. Natürlich können Sie nicht erwarten, dass ich diesen
immer zustimme.
Axel Schäfer ({4})
({5})
Aber es ist wichtig, dass man so etwas praktiziert.
Ich erinnere daran, dass wahrscheinlich das erste gemeinsame parlamentarische Gesetzgebungsprojekt in
Europa hier im Deutschen Bundestag 2011 gestartet
worden ist. Das war die Gesetzgebungsinitiative der
SPD zur Finanztransaktionsteuer, die am selben Tag von
der Parti socialiste in der Assemblée nationale gestartet
wurde. Ich bin froh, dass wir nach dieser Initiative und
dem Regierungswechsel in Frankreich das auch praktisch vorangebracht haben. Das zeigt die deutsch-französischen und auch die europäischen Gemeinsamkeiten.
({6})
Viertens. Unabhängig von meiner parteipolitischen
Präferenz wünsche ich mir, dass alle hier im Saal die
Möglichkeiten nutzen, die Beziehungen zu Frankreich
über Städtepartnerschaften hinaus auszubauen. Für mich
war es eine außergewöhnliche Erfahrung, im letzten Jahr
im Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich aufzutreten. Man ist dann auch gezwungen, seine Französischkenntnisse zu aktivieren und einiges neu zu erlernen; das
war wichtig. Das haben Frank Steinmeier, Peer
Steinbrück, Sigmar Gabriel, Martin Schulz und andere
Abgeordnete der SPD ebenfalls gemacht. Ich appelliere
an die anderen Parteien und Fraktionen, sich daran ein
Beispiel zu nehmen. Denn das macht deutlich: Ja, wir
sind Deutsche und Franzosen, aber wir gehören in
Europa zu verschiedenen Parteifamilien. - Das führt zur
Festigung des Fundaments, oder, wie es der bedeutende
Franzose Jean Monnet gesagt hat: Es geht immer um die
Solidarität der Tat. - Das sollten wir jeden Tag aufs Neue
praktizieren.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Luksic für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was würden wir heute der Jugend sagen? General de
Gaulle hat seine Vision zu Deutschland, Frankreich und
Europa in Ludwigsburg grandios dargelegt. Ich bin der
festen Überzeugung: Wir brauchen jetzt eine neue
Erzählung, eine neue Vision für Europa. Der ÉlyséeVertrag ist das Fundament der deutsch-französischen
Erfolgsgeschichte, die uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat. Wir müssen sie jetzt ergänzen um
neue, konkrete deutsch-französische Projekte.
Adenauer und de Gaulle hatten eine klare Vision von
Europa. Nach Ende des Krieges und der Rivalitäten war
der Vertrag ein historischer Schritt hin zu einer neuen,
friedlichen Zukunft. Heute sind aber die Erinnerungen
an Konflikte und Kriege nicht mehr so präsent. Der Ruf
nach Frieden und Sicherheit ist nicht mehr allzu laut.
Dementsprechend muss sich auch die Botschaft der
deutsch-französischen Freundschaft in unserer Zeit ein
Stück weit wandeln. Im Europa der 27 mit stärkeren
supranationalen Institutionen haben die deutsch-französischen Beziehungen am Anfang ein Stück weit an
Bedeutung verloren. Aber gerade die Euro-Krise hat
gezeigt: Die Zusammenarbeit beider Länder wurde wieder gestärkt. Eine starke Freundschaft ist und bleibt
wichtig. Europa braucht gerade jetzt mitten in der EuroKrise einen starken deutsch-französischen Motor.
({0})
Nach dem von Europa geprägten 19. und dem eher
von Amerika geprägten 20. Jahrhundert wird nun Asien
eine wichtige Rolle spielen. Da Europa bald nur noch
7 Prozent der Weltbevölkerung repräsentiert, brauchen
wir ein wirtschaftlich und politisch starkes, vereintes
Europa. In Deutschland haben wir es mit wachsender
Euro-Skepsis zu tun; das hat man auch in Frankreich,
Stichwort „Ablehnung der EU-Verfassung“. Wir sehen,
dass gerade unter jungen Menschen ein Stück weit Misstrauen gegenüber Europa herrscht. Dagegen muss man
angehen; denn wie de Gaulle richtig erkannt hat, brauchen wir gerade die jungen Generationen, um eine
stabile Zukunft zu schaffen. In diesen Generationen
muss auch der europäische Patriotismusgedanke eine
stärkere Rolle spielen; denn Europa hat seinen Preis. Wir
müssen aber auch stärker seinen Wert erkennen. Wer ein
vereintes Europa will, der muss auch Bewusstsein für
die Werte schaffen, die uns hier in Europa von allen anderen Regionen der Welt unterscheiden. Ich glaube, auf
die europäische Erfolgsgeschichte können wir hier im
Deutschen Bundestag wirklich stolz sein.
({1})
Wir müssen dringend Projekte stärker fördern, die
eine deutsch-französische Zusammenarbeit direkt erfahrbar machen, gerade in den Grenzregionen. Hier
funktioniert das „deutsch-französische Labor“ am besten. Projekte zwischen weit entfernten Regionen machen
wenig Sinn. Deswegen müssen wir uns hier auf die
Grenzregionen fokussieren, und wir müssen das Verständnis der Länder füreinander stärker fördern. Gerade
die neueste Umfrage des SR in Zusammenarbeit mit
ARD, Arte, Deutschlandfunk und Radio France hat gezeigt, wie sich das Deutschland- und das Frankreichbild
auf beiden Seiten des Rheins geändert hat.
Verständnis für beide Seiten kommt nicht nur durch
parlamentarische Treffen, durch Regierungszusammenarbeit zustande, sondern vor allem dann, wenn unsere Gesellschaften zusammenkommen. Verständnis kommt
durch mehr gemeinsame konkrete Projekte zustande. Insbesondere im Bereich Bildung/Kultur haben wir einige
Erfolge vorzuweisen, an die wir anknüpfen müssen: die
deutsch-französischen Gymnasien - ich durfte sie besuchen -, die Deutsch-Französische Hochschule in Saarbrücken, Austauschprogramme des Deutsch-Französischen
Jugendwerkes, „Erasmus“-, „Sokrates“-Programme. Diese
Programme laufen gut und müssen jetzt durch Alumninetzwerke ergänzt werden.
Aber wir haben noch viel Verbesserungsbedarf.
Schauen wir uns einmal den Arbeitsmarkt an. Wir haben
bei uns in Deutschland in vielen Regionen Fachkräftemangel. Gerade im deutsch-französischen Grenzbereich,
in Frankreich ist die Jugendarbeitslosigkeit hoch.
Gleichzeitig nehmen die Sprachkompetenzen - es wurde
eben zu Recht angesprochen - eher ab als zu. Deswegen
müssen wir Schritte hin zu einem deutsch-französischen
Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gehen. Die Abschlüsse müssen gegenseitig besser anerkannt werden. Der
Spracherwerb muss gestärkt werden. Das wären konkrete Vorteile, die gerade junge Menschen, deutsche und
französische Jugendliche, am eigenen Leib erfahren
würden.
({2})
Ein anderes Thema ist die grenzüberschreitende medizinische Versorgung, die in der Praxis immer noch
nicht funktioniert. Wenn man auf der französischen Seite
einen Herzinfarkt hat und sich in Deutschland behandeln
lassen will, funktioniert das eben immer noch nicht im
Hinblick auf Krankenkassen und andere Institutionen.
Das muss sich ändern, wenn wir Europa wirklich erfahrbar machen wollen.
Wir brauchen mehr Leuchtturmprojekte im Bereich
Forschung und Entwicklung. Frankreich ist und bleibt
unser wichtigster Handelspartner. Unsere Basis für
Wohlstand auf beiden Seiten des Rheins sind Forschung
und Entwicklung. Da müssen wir neue Leuchtturmprojekte schaffen. Das ist wichtig für das Europa von
morgen.
({3})
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Die deutschfranzösischen Beziehungen haben immer Höhen und
Tiefen gehabt. Im Europa der 27 brauchen wir in der Tat
noch stärker das Weimarer Dreieck. Wir brauchen jetzt
aber vor allem einen deutsch-französischen Motor, der
Impulse liefert, weil Europa eben nicht das Problem ist,
sondern die Lösung. Wir müssen stärker neue Chancen
schaffen für junge Menschen. Wir brauchen Projekte mit
Mehrwert für beide Seiten des Landes, gemeinsame Ausbildungen, einen gemeinsamen Arbeitsmarkt, Leuchtturmprojekte in Forschung und Entwicklung, konkrete
Projekte in den Grenzregionen. Denn nur wenn wir neue
Wege einschlagen, können wir Frieden, Freiheit und
Wohlstand für die junge Generation in Deutschland,
Frankreich und Europa auch in den nächsten 50 Jahren
schaffen und erhalten.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist der
Kollege Andrej Hunko.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die
Linke bezieht sich positiv auf die deutsch-französische
Aussöhnung. Sie erkennt auch die Bedeutung der
Élysée-Verträge, die vor 50 Jahren geschlossen worden
sind. Wir beziehen uns maßgeblich - auch positiv - auf
die zivilgesellschaftlichen Komponenten.
Ich selbst war als Jugendlicher mit elf, zwölf Jahren
als Mitglied der C-Jugend einer Fußballmannschaft Teil
eines Austauschprogrammes. Ich erinnere mich sehr gut
an die Atmosphäre in der französischen Gastfamilie, die
uns aufgenommen hat. Ich habe gespürt, welche Bedeutung dieser Austausch für sie hatte und welche Überwindung dahinter stand angesichts der drei Kriege, die
vorangegangen waren. Ich bin sehr dankbar, dass ich
diese Möglichkeit hatte.
Für uns Linke hat die deutsch-französische Kooperation allerdings eine längere Geschichte. Ich will erinnern
an die Französische Revolution 1789, an die Ideen, die
überhaupt die Grundlage auch für eine moderne Linke
gebildet haben, an die utopischen Sozialisten Anfang des
19. Jahrhunderts, die die Arbeiterbewegung und die
Linke in Deutschland im 19. Jahrhundert stark beeinflusst haben. Ich will erinnern an die Pariser Commune
mit ihrer Praxis der direkten Demokratie, und ich will
erinnern an die antimilitaristischen Traditionen insbesondere im Ersten Weltkrieg und an die Résistance im
Zweiten Weltkrieg. All das waren Vorgänge, Ideen, die
starken Einfluss auf linke Bewegungen in Deutschland
hatten.
({0})
Aber auch in der jüngeren Geschichte hat es aus
linker Perspektive Wechselwirkungen gegeben. Die
Gründung der globalisierungskritischen Organisation
Attac ist in Frankreich vollzogen worden. Das linke
Nein zum Verfassungsvertrag 2005, die gute Zusammenarbeit der Linken in den Comités du NON haben starken
Einfluss gehabt auf die Gründung unserer Partei in
Deutschland, auf das Projekt einer pluralen Linken. Umgekehrt hat diese Gründung Einfluss gehabt auf die
Gründung der Front de gauche in Frankreich. Das sind
wichtige Bezugspunkte für uns, und an derlei werden
wir auch in Zukunft sehr stark arbeiten.
Aktuell werden Frankreich und der französische
Präsident von den internationalen Finanzmärkten sehr
stark unter Druck gesetzt. Davon betroffen sind die
höher entwickelte französische Sozialstaatlichkeit, der
Mindestlohn von 9,40 Euro, der in Frankreich existiert,
das höher entwickelte Sozialsystem. Diesem Druck
müsste sich eine deutsch-französische Solidarität entgeAndrej Hunko
genstellen, statt dass man sich gemeinsam in militärische
Abenteuer stürzt.
({1})
Ich freue mich, dass wir in der nächsten Woche hier
auch die Kolleginnen und Kollegen der Front de gauche
begrüßen können. Für uns ist die deutsch-französische
Zusammenarbeit von links sehr wichtig; Axel Schäfer
hat es eben erwähnt. Wir haben eine Reihe von gemeinsamen Anträgen gestellt, und wir werden das in Zukunft
weiter intensivieren; denn wir sind zutiefst davon überzeugt, dass wir einen deutsch-französischen Motor von
links brauchen für eine andere Entwicklung in Europa,
für ein anderes, ein soziales und friedliches Europa.
Daran werden wir in Zukunft sehr intensiv arbeiten.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Kollege Schockenhoff hat vorhin schon einiges Richtige
zum Friedensnobelpreis gesagt, über den wir uns alle
freuen können und dessen Kernelemente die deutschfranzösische Aussöhnung und damit natürlich der
Élysée-Vertrag von 1963 sind. Aber ebenso wie der
Friedensnobelpreis hatte auch der Élysée-Vertrag seine
Vorgeschichte. Es war 1950, als der Schuman-Plan
präsentiert wurde, ein mutiger und zugleich genialer
Plan; denn es sollte fortan das unter eine gemeinsame
Verantwortung mit einer gemeinsamen Behörde gestellt
werden, was jahre-, jahrzehnte-, vielleicht sogar jahrhundertelang die Ursache militärischer Konflikte und
Kriege war. Es gab unter anderem eine gemeinsame
Verantwortung für Rohstoffe.
Man muss auch hier die Vorgeschichte bedenken: Es
waren damals mutige Männer wie Präsident de Gaulle
und Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler, die sich über den Trümmerbergen von Europa die
Hände reichten. Deswegen ist es in gewisser Weise,
wenn man so möchte, posthum auch ihr Friedensnobelpreis.
Auch damals gab es natürlich Schwierigkeiten, etwa
was die Präambel anging; Kollege Silberhorn hat darauf
hingewiesen. Deutschland wollte die neue deutsch-französische Achse haben, wie sie danach vielfach bezeichnet wurde, aber nicht unter Preisgabe der Beziehungen
zu Großbritannien und den USA. Präsident de Gaulle
sprach in Ansehung der Präambel sogar von einer Entwertung des Vertrages. Die Geschichte sollte aber anderes lehren.
Die drei Kernelemente waren: regelmäßige Konsultationen der Regierungschefs, Aufbau eines deutschfranzösischen Jugendwerks und natürlich gemeinsame
Zielsetzungen im Bereich der Außenpolitik und der Sicherheitspolitik. Gerade Letzteres zeigt, dass der ÉlyséeVertrag auch 50 Jahre nach seiner Unterzeichnung noch
eine Menge an Potenzial hat.
Ja, es ist viel passiert. Viele erinnern sich vermutlich
noch daran, dass es hieß: Die Schlagbäume müssen
brennen zwischen Frankreich und Deutschland. - Es
wurde die Abschaffung der Grenzkontrollen gefordert.
Und siehe da: Jahre später konnten wir mit der Realisierung des Schengen-Raums tatsächlich den Wegfall der
Grenzkontrollen feiern - eine der ganz großen europäischen Errungenschaften, weil es unsere Bürgerinnen und
Bürger zusammenbringt.
({0})
Ich darf auch daran erinnern, dass es unter den damaligen Staatsministern Hoyer und Lellouche ein 80Punkte-Programm gab, das noch abgearbeitet werden
muss.
Aber auch wir selbst als Parlament müssen eine engere deutsch-französische Zusammenarbeit suchen. Der
Europaausschuss des Deutschen Bundestages und die
Kollegen der Assemblée nationale haben im Januar 2011
eine gemeinsame Delegation gebildet und sind nach
Kroatien gereist. Wir werden das im April wiederholen;
Ziel ist diesmal Serbien. Vielleicht können wir ja das,
was zwischen Deutschland und Frankreich mit dem
Élysée-Vertrag gelungen ist, was der Kern des Friedensnobelpreises war, auch in eine Region des sogenannten
westlichen Balkans hineintragen, sodass es dort genauso
friedenstiftend wirken kann. Genau das macht unsere
Europäische Union aus.
Die deutsch-französische Zusammenarbeit wurde oftmals als Motor bezeichnet: der Motor Europas, der Motor der europäischen Integration. Aber ein Auto fährt
nicht mit einem Motor allein. Wir brauchen einander, so
wie man auch bei einem Auto alles braucht. Mit Blick
auf andere Länder der Europäischen Union darf man
deswegen auch an einem solchen Tag sagen: Man sollte
nicht vom vierten Gang in den Rückwärtsgang zurückschalten, weil man sonst Gefahr läuft, dass einem das
Getriebe um die Ohren fliegt.
Der kommende Dienstag, an dem wir, exakt 50 Jahre
nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, zusammen hier in Berlin feiern dürfen, ist ein Tag der Freude,
ein Geschenk der Geschichte und - man darf auch
sagen - ein Rendezvous des Glücks. Lassen Sie uns in
diesem Sinne weiter an einer Vertiefung der deutschfranzösischen Zusammenarbeit arbeiten! Europa braucht
uns und schaut auf uns.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin DrobinskiWeiß das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, Herr Kollege Krichbaum, Sie haben recht: Der
Élysée-Vertrag hat noch Potenzial, auch weibliches.
Die Zukunft, die Zukunft unserer beiden Völker,
der Grundstein, auf welchem die Einheit Europas
gebaut werden kann und muss, der höchste Trumpf
für die freie Welt, bleiben die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen
dem französischen und dem deutschen Volk.
({0})
Diese Worte richtete 1962 der französische Präsident an
die deutsche Jugend.
Mit einem historischen Freundschaftsvertrag setzten
de Gaulle und Adenauer 1963 dann einen Schlussstrich
unter eine Erbfeindschaft, die jahrhundertelang Krieg
und Zerstörung verursachte.
In der Region meines Wahlkreises, in Baden, in der
Nachbarschaft zum Elsass, haben diese Worte eine ganz
besondere Bedeutung. Immer wieder aufs Neue entlud
sich an den Menschen am Oberrhein der nationalistische
Wahn dieser Erbfeindschaft. Das hinterlässt Narben.
Nach langjähriger grenzüberschreitender Zusammenarbeit haben etwa Straßburg und ihre deutsche Nachbarstadt Kehl erst knapp 60 Jahre nach dem Krieg begonnen, sich mit baulichen Projekten sichtbar und spürbar
näher zu kommen. Erst jetzt soll die grenzüberschreitende Straßenbahnverbindung erneut entstehen, die es
schon vor 100 Jahren gab, die aber wegen des Ersten
Weltkrieges ein frühzeitiges Ende fand. Erst jetzt wendet
sich Straßburg auch geografisch seiner deutschen Nachbarin zu und bebaut das Niemandsland, das sie bisher
trennte. Diese Baustellen zeugen davon, dass wir uns bei
den deutsch-französischen Beziehungen längst noch
nicht in einem Stadium der Denkmalspflege befinden,
sondern mitten im Aufbau. Das gilt auch für den Lebensalltag der Menschen.
Der Rhein wandelt sich von einer Grenze zu einem
Element, das verbindet. Wo einst Menschen aufeinander
geschossen haben, kommen heute Menschen zusammen
und erleben einen Alltag, der ganz selbstverständlich
grenzüberschreitend ist.
In diesem Alltag stoßen die Menschen auch noch auf
Barrieren. Wer im Nachbarland einkauft, wohnt, studiert, arbeitet oder Familie hat - wer diese Freiheiten im
geeinten Europa wahrnimmt -, bekommt oft Schwierigkeiten. Beim Steuerrecht oder bei der Gesundheit können das existenzielle Fragen sein. Aber auch banale
Dinge können im deutsch-französischen Alltag Ärger
bereiten. So hat zum Beispiel das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz in Kehl jährlich Zehntausende
von Anfragen, Reklamationen und Rechtsfälle aus ganz
Frankreich und ganz Deutschland zu bearbeiten. Im Bereich der Verbraucherpolitik hat sich einiges getan. Doch
es bleibt noch mehr zu tun. In anderen Bereichen, zum
Beispiel bei der Mobilität von Patientinnen und Patienten, stehen wir erst am Anfang.
Nach 50 Jahren Freundschaft in einem vereinten Europa besteht zu Recht der Anspruch, dass solche Hürden
im Leben der Menschen verschwinden. Wenn wir uns
wünschen, dass Deutsche und Franzosen wieder neugieriger aufeinander werden und sich mehr Menschen mit
der Kultur des Nachbarlandes bekannt machen und auch
persönliche Beziehungen knüpfen, dann müssen wir
diese Hürden abbauen.
({1})
Ich glaube, wir sind in Deutschland nach wie vor neugierig auf unsere Nachbarn. Das zeigen nicht nur die Erfolge von französischen Filmen wie „Ziemlich beste
Freunde“ oder „Willkommen bei den Sch’tis“. Seit 1963
- das ist schon mehrfach genannt worden - hat das
Deutsch-Französische Jugendwerk fast 8 Millionen jungen Deutschen und Franzosen die Teilnahme an Austauschprogrammen ermöglicht. Ich selbst bin eine von
ihnen und konnte auf diesem Weg meine Brieffreundin
in Nantes persönlich kennenlernen und mich dabei und
auch später mit der französischen Kultur und der Sprache vertraut machen.
Ich bedaure, dass inzwischen immer weniger Menschen die Sprache des Nachbarn tatsächlich erlernen
wollen. Das ist besonders schade, weil gerade heute, im
Gegensatz zu 1963, der Aufwand minimal ist, mit interessanten Menschen im Nachbarland in Kontakt zu kommen, zum Beispiel über Internetdienste wie Twitter.
Immer wieder wurden seit 1963 neue Impulse in der
deutsch-französischen Beziehung gesetzt. Zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages wünsche ich mir besonders
im Bereich der Sprache und Verständigung neue Vorstöße.
Sehr geehrte Damen und Herren, was bei uns recht
nüchtern deutsch-französischer Motor heißt, das nennen
unsere Nachbarinnen und Nachbarn etwas romantischer
das deutsch-französische Paar - le couple franco-allemand. Ein Paar, das schon 50 Jahre zusammen ist, muss
sich immer wieder neu kennenlernen. „Nichts kommt
von selbst. Und nur wenig ist von Dauer“, hat Willy
Brandt treffend gesagt. Das gilt auch für die gegenseitige
Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen
Frankreich und Deutschland. Diese Werte müssen wir
stets aufs Neue vermitteln und dabei neue Impulse setzen. Nur so schaffen wir eine Art Erbfreundschaft, deren
erste 50 Jahre nur der Anfang waren.
Vielen Dank.
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Andreas Mattfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Élysée-Vertrag hat - wir haben
es heute gehört - die Politik und die Beziehungen zwiAndreas Mattfeldt
schen Frankreich und Deutschland auf eine Weise verändert, wie es nie zuvor der Fall war. Ohne die deutschfranzösische Freundschaft, die eben nicht selbstverständlich ist, hätte sich auch Europa ganz anders entwickelt.
Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass neben den
politischen und wirtschaftlichen Fakten ein Aspekt im
Umgang zwischen Staaten eine besondere Rolle spielt,
und das ist der Faktor „Vertrauen“. Aussöhnung können
wir in schriftlichen Verträgen wie dem Élysée-Vertrag
beschreiben; gelebt wird sie durch gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Achtung.
Gerade dieses Vertrauen zwischen beiden Ländern
haben die seinerzeitigen Staatschefs de Gaulle und
Adenauer gelebt und - ich möchte fast sagen - zementiert. Sie haben es so zementiert, dass alle nachfolgenden
Spitzen beider Länder sich mit großer Hingabe dem Erbe
Adenauers und de Gaulles nicht nur verpflichtet fühlten,
sondern alle in ihrer ganz persönlichen Art dieses aufgebaute Vertrauen gefestigt und fortentwickelt haben.
Meine Damen und Herren, große Politik hat immer
auch Auswirkungen auf den ganz persönlichen Bereich
der Menschen. Gestatten Sie mir daher einen Schwenk
in den privaten Bereich, um zu verdeutlichen, welche
positiven Auswirkungen der Élysée-Vertrag für uns Bürger hat.
Ich persönlich kann sagen, dass es mich ohne die
deutsch-französische Freundschaft aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geben würde. Denn durch die im ÉlyséeVertrag vereinbarten Städtepartnerschaften haben sich
meine Eltern 1968 kennengelernt. Leider war aufgrund
der Jugend meiner Eltern mein Vater bereits wieder in
Frankreich, als ich in Deutschland geboren wurde. Und
es sollte 35 Jahre dauern, bis ich meine französische Familie kennenlernen durfte.
Ein besonderes Geschenk war für mich, dass ich bei
meinem ersten Familienbesuch auch noch meine französischen Großeltern persönlich kennenlernen durfte. Dabei war die größte Überraschung, dass mein Opa sofort
in einem ausgezeichneten Deutsch mit mir sprach. Alle
waren erstaunt, denn niemand, auch nicht in meiner französischen Familie, wusste, dass er die deutsche Sprache
so gut beherrschte; hiervon hatte er nie erzählt.
Natürlich fragten wir alle, warum er so gut Deutsch
könne, und er erzählte zum ersten Mal von seiner Verschleppung durch Nazideutschland in den ersten Kriegstagen. Vier Jahre lang musste er in Thüringen in den
unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Betrieben unter - wie wir uns alle vorstellen können - zum Teil erbärmlichsten Umständen arbeiten.
Diese Zeit wollte er verdrängen, und ich hatte Angst,
dass er seine schlimmen Erfahrungen mit Deutschland
und den Deutschen auch auf mich übertragen würde.
Doch diese Angst war unbegründet; denn er erzählte immer wieder, dass durch die Freundschaft von de Gaulle
und Adenauer auch Freundschaft zwischen den Menschen in Deutschland und Frankreich entstanden sei.
Man müsse verzeihen können, so seine Worte. Dies war
für die Generation meiner französischen Großeltern sicherlich nicht selbstverständlich.
Verschweigen möchte ich nicht, dass mein Opa mir
Erlebnisse geschildert hat, die zumindest jemanden aus
meiner Generation sehr nachdenklich machen. Er hat
aber auch von Begebenheiten erzählt, die Hoffnung
machten - Hoffnung, dass eben nicht alle Deutschen seinerzeit die Zwangsarbeiter als reine Sklavenarbeiter sahen, sondern einige anders dachten. Meinem Großvater
wurde, wenn auch verbotenerweise, Familienanschluss
geboten. Dennoch ist er nie wieder nach Deutschland gekommen.
Meine Damen und Herren, für mich waren diese Gespräche natürlich hochinteressant. Denn persönliche Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg kannte ich bis dato
nur aus Schilderungen meiner deutschen Familienmitglieder, von denen einige an der französischen Front eingesetzt waren. Allein der Gedanke, dass sich mein deutscher und mein französischer Großvater theoretisch im
Krieg hätten töten können, hat schon etwas Unwirkliches.
Meine Damen und Herren, ich glaube, diese persönliche Erfahrung macht sehr deutlich, dass gute politische
Verträge wie der Élysée-Vertrag und daraus resultierende
Freundschaften sehr viel Positives für die Menschen bewirken können. Ganz persönlich freue ich mich, dass ich
als Mitglied dieses Hauses und als Mitglied des Haushaltsausschusses, der auch für das Deutsch-Französische
Jugendwerk zuständig ist, dazu beitragen konnte, dass
das DFJW erstmals seit seiner Gründung zusätzliche finanzielle Mittel aus Deutschland und - das war für die
Franzosen nicht einfach - auch aus Frankreich erhält.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam
die deutsch-französische Freundschaft weiter leben, im
Interesse eines vereinten Europas, im Interesse nachfolgender Generationen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/12056 und 17/11879 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf mich insbesondere für die liebenswürdigen Hinweise auf die Resolution bedanken; einige der Redner haben sie ausdrücklich angesprochen. Nach dem Verlauf der Debatte habe
ich den Eindruck, dass wir morgen im Ältestenrat einvernehmlich feststellen können, dass dies der gemeinsame Text ist, den wir hier in der nächsten Woche mit
den französischen Kollegen beschließen wollen.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann halte ich das
so ausdrücklich fest.
Ich mache Sie zweitens darauf aufmerksam, dass Sie
morgen in Ihren Fächern die Unterlagen zum Programm-
ablauf und zu den einzelnen Veranstaltungen sowie die
Zeitpläne finden werden. Ebenso erhalten Sie eine Re-
produktion der Originalausfertigung des Élysée-Vertra-
ges - er hat heute in dieser Debatte aus guten Gründen
eine zentrale Rolle gespielt -, die dieses historische Er-
eignis bei jedem von Ihnen gewissermaßen in dauerhaf-
ter Erinnerung hält.
Schließlich erlaube ich mir den technischen Hinweis
- möglicherweise hat es da bei dem einen oder anderen
Missverständnisse gegeben -, dass wir in der nächsten
Woche zwar keine Sitzungswoche haben, die gemein-
same Sitzung mit der Assemblée nationale aber selbst-
verständlich ein Sitzungstag des Deutschen Bundestages
ist.
Dann können wir zum nächsten Tagesordnungspunkt
kommen. - Ich werde gerade darauf aufmerksam ge-
macht, dass sich die von mir soeben aufgerufenen Über-
weisungen von Vorlagen auf den Tagesordnungspunkt
beziehen, den wir nun erst behandeln wollen. Ich ver-
mute, dass das an der nachher zu wiederholenden Be-
schlussfassung in der Sache nichts ändern wird. Zu dem
Tagesordnungspunkt, den wir gerade abgeschlossen ha-
ben, gab es keine ausdrücklichen Vorlagen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 2 a
bis 2 e:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine neue Haltung - Artgerecht statt massenhaft
- Drucksache 17/12056 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Bettina Herlitzius, Dorothea Steiner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dörfer vor Agrarfabriken schützen - Planungs- und Immissionsrecht verschärfen
- Drucksache 17/11879 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm
Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung senken
und eine wirksame Reduktionsstrategie um-
setzen
- Drucksachen 17/8157, 17/8611 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Alexander Süßmair,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Landwirtschaftliche Nutztierhaltung tierschutz-
gerecht, sozial und ökologisch gestalten
- Drucksachen 17/10694, 17/11817 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Alexander Süßmair
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff,
Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haltungsbedingungen für Puten verbessern
- Drucksachen 17/11667, 17/12048 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Alexander Süßmair
Für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung eineinviertel Stunden vorgesehen. Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch, sodass wir so
verfahren können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser
Woche beginnt die Internationale Grüne Woche. Das
zeichnet die Situation aus: Auf der Internationalen Grünen Woche - das ist sozusagen die Leistungsschau der
Landwirtschaft - wird wahrscheinlich wieder gezeigt,
wie eine Kuh dazu gebracht werden kann, pro Jahr weit
mehr als 10 000 Liter Milch zu geben. Zeitgleich wird
hier ganz in der Nähe eine Demonstration unter dem
Motto „Wir haben es satt!“ stattfinden. Denn es gibt in
diesem Land immer mehr Menschen, die sagen: Wir akzeptieren nicht mehr, dass mit Tieren so umgegangen
wird, dass Tiere nicht mehr artgerecht gehalten werden,
sondern nur noch auf Masse gesetzt wird. - In unserem
Land gibt es mittlerweile über 200 Bürgerinitiativen, davon allein 80 im Land Niedersachsen, die sagen: Schluss
mit den Megaställen, den Megaschlachthöfen, Schluss
mit der Massentierhaltung!
({0})
Diese Woche findet noch etwas anderes statt. Frau
Aigner tut immer so, als sei gar nichts zu verändern, weil
alles so gut ist. Der niedersächsische Landwirtschaftsminister ließ sich neulich sogar zu der Behauptung herab,
in der Landwirtschaft gebe es gar keinen Veränderungsbedarf. Ich sage Ihnen aber: Der Druck ist groß. Der
Druck ist auch bei Ihnen groß, weil Sie merken, dass die
Verbraucherinnen und Verbraucher und auch die bäuerliche Landwirtschaft Ihr Zugehen auf die Agrarindustrie
nicht mehr akzeptieren wollen. Warum sonst sollte sich
Frau Aigner selbst einladen, um heute beim Tierschutzbund die „Initiative Tierwohl-Label“ vorzustellen? Sie
hat an dieser Stelle gar nichts vorzuweisen, nur die aufgedrängte Bereicherung durch Anwesenheit einer Ministerin.
({1})
Noch putziger - ich weiß gar nicht, wann es das jemals gab -: Der Druck, wegen der Tierhaltung auf dem
Lande die Wahl am Sonntag zu verlieren, ist in der
Union so hoch, dass sogar die Bundeskanzlerin Angela
Merkel an diesem Freitag zur Eröffnung der Internationalen Grünen Woche erscheint.
({2})
Glaubwürdig sind Sie mit Ihrer Politik trotzdem nicht.
({3})
Davon kann gar nicht die Rede sein. Ein kleiner Rundgang ändert das nicht.
Letztes Jahr hat Frau Aigner auf der Internationalen
Grünen Woche eine Charta für die Landwirtschaft vorgestellt.
({4})
Das ist aber nur schöner Schein auf Hochglanzpapier,
sonst nichts. Wahr ist: Die Union, CDU und CSU, ist immer noch Erfüllungsgehilfe der Agrarindustrie, der
Großmastanlagen und der Megaschlachthöfe.
({5})
Bei Ihnen heißt es immer noch: Massenware, Dumpingpreise und Weltmarktorientierung. Bei Ihnen heißt es immer noch: Investitionshilfen vor allem für jene Betriebe,
die expandieren wollen, statt für jene, die auf Qualität
setzen. Es geht bei Ihnen sogar so weit, dass Sie Hermesbürgschaften für Hühnerknäste vergeben, nicht nur
in der Ukraine, sondern sogar in Weißrussland. Damit
machen Sie den hiesigen Bauern durch deutsche Steuergelder Konkurrenz.
({6})
Das ist garantiert nicht die Partei, die für die Bauern in
Deutschland steht.
Unter Ihrer Regierung hat sich seit 2007 die Zahl der
Masthühner pro Betrieb mehr als verdoppelt. Dieses
wachstumsgetriebene Agrarmodell befindet sich nicht
nur in einer Krise, es treibt die Landwirtschaft immer
weiter in die Krise hinein. Immer weniger Bauern können ein angemessenes Einkommen erwirtschaften. In der
Massentierhaltung herrschen verheerende Zustände:
durch systematische Tierquälerei bei Zucht und Haltung
und durch den missbräuchlichen Einsatz von Antibiotika. Die Auswirkungen dieses Missbrauchs können
mittlerweile im Schweinemett festgestellt werden. Die
Qualität des Grundwassers ist wegen der hohen Nitratbelastung vielerorts beängstigend. Schauen Sie sich an, wie
viele Böden allein in Niedersachsen überbelastet sind.
Sie hingegen verbreiten den Eindruck, als würden wir all
das schöne Fleisch produzieren, um die Ernährung in der
Welt zu sichern, dabei ist es umgekehrt. Die grausame
Wahrheit ist: Der Anbau von Tierfutter im Ausland, zum
Beispiel in Brasilien und Argentinien, der für unsere
Massentierhaltung notwendig ist, macht uns vor allen
Dingen zum Nahrungsmittelkonkurrenten für arme Menschen, das heißt, wir produzieren Hunger in Brasilien
und Argentinien. Das ist die Wahrheit!
({7})
- Herr Schweickert ruft: „vollkommener Blödsinn“,
Herr Schindler winkt gleich ab. Ich weiß nicht, ob das
Ihr Verständnis von Parlamentarismus ist. Fahren Sie
hin, lesen Sie ein gutes Buch darüber, dann wissen Sie,
wie massiv der Anbau in den Regionen vor Ort ist.
Sie haben mit Ihrer Art der Förderung die Öffentlichkeit getäuscht. Bei Ihnen steht nicht „bäuerliche Landwirtschaft“ und „Tierwohl“ drauf.
({8})
Mit Ihrem Tierschutzpaket, das eine totale Pleite ist, verhindern Sie eine Neuausrichtung der Landwirtschaft. Sie
sind verantwortlich für die quälerische Haltung von Tieren und für einen regelmäßigen Antibiotikaeinsatz.
({9})
Kein Wunder, dass die Ministerin letztes Jahr zum „Dinosaurier des Jahres“ gekürt worden ist.
Eines ist klar: Es gibt eine wachsende Bürgerbewegung, die sich das nicht bieten lässt. Die Verbraucher lassen sich diesen Mangel an Information nicht bieten. Wir
haben es satt! Deshalb gehen auch wir zur Demonstration. Die Menschen haben ein Recht, sich ein Stück Heimat zu erhalten, statt den Großinvestoren den Boden zu
überlassen.
Frau Kollegin.
Die Bauern haben das Recht, Klasse statt Masse zu
produzieren. Die Bauern haben das Recht, dass wir die
öffentlichen Gelder für sie und nicht für irgendwelche
Agrarinvestoren auf dieser Welt ausgeben.
({0})
Das Wort erhält nun für die Bundesregierung die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. - Bitte schön.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ja, es ist richtig: In dieser Woche haben wir
wieder die Freude, die Grüne Woche zu eröffnen, und
unsere Bundeskanzlerin wird die Grüne Woche, eine beeindruckende Leistungsschau, mit eröffnen, weil sie ihre
Wertschätzung für diese Branche zeigen möchte, die
qualitativ hochwertige Lebensmittel zu bezahlbaren
Preisen produziert. Das verdient nach wie vor große Anerkennung.
({0})
Nur Sie, meine Damen und Herren von den Grünen,
versuchen jedes Jahr wieder, unsere Landwirte und die
gesamte Branche schlechtzureden.
({1})
Ich bin dankbar, dass wir heute diese Debatte führen.
Das ist eine gute Gelegenheit, mit den von Ihnen immer
wieder in den Raum gestellten Falschbehauptungen aufzuräumen. Ich habe es satt, von Ihnen immer wieder dieselben falschen Behauptungen zu hören.
({2})
Das bedeutet nicht, dass ich bestehende Probleme
oder Fehlentwicklungen hier klein- oder wegreden will.
Ja, wir werden beim Thema Antibiotika etwas machen.
Wir wissen auch, dass es Diskussionen über die Viehdichten gibt. Deshalb habe ich den Charta-Prozess eingeleitet, in dem die Verbraucherverbände mit den Vertretern der Landwirtschaft zusammengebracht werden.
({3})
Sie hingegen bedienen Vorurteile, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen. Sie führen Studien durch,
die keine Neuigkeiten bringen und deren Seriosität zu
bezweifeln ist.
({4})
Ihre Stimmungsmache sehe ich in der Tat mit großer
Sorge. Tatsache ist, dass viele Menschen heutzutage keinen persönlichen Bezug mehr zur Landwirtschaft haben.
Diese Menschen dürfen keinen falschen Eindruck bekommen. Deshalb werden wir als christlich-liberale Koalition Ihre Kampagne nicht unerwidert lassen. Wir arbeiten nicht mit Abschreckung, sondern wir arbeiten an
der Herstellung einer neuen Nähe zwischen Landwirtschaft und Verbrauchern.
({5})
Vier Punkte will ich nennen:
Erste Falschbehauptung: Unsere Agrarpolitik fördert
die Massenproduktion und dient nicht dem Umweltschutz. - Tatsache ist: Wir in Deutschland haben im Gegensatz zu fast allen europäischen Nachbarn Prämien,
die nicht mehr an die Produktion gekoppelt sind.
({6})
Die Butterberge sind abgebaut, und die Milchseen sind
ausgetrocknet. Die Zeiten der Überproduktion sind vorbei. Wir fördern nur noch die Bewirtschaftung der Flächen und eben nicht mehr die Produktionsmenge von
Fleisch, Milch oder Getreide.
({7})
- Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie sollten es am allerbesten wissen.
({8})
Trotzdem kämpfen Sie gegen die Direktzahlungen. Sie
unterstützen uns nicht einmal in der Bestrebung, die anderen Länder so weit zu bringen, wie Deutschland ist.
Sie sollten uns lieber unterstützen.
({9})
Damit das etwas plastischer wirkt, rechne ich es Ihnen
persönlich noch einmal vor. Nehmen wir einen Betrieb
in Nordrhein-Westfalen. Von mir aus stehen dort auch
viele Tiere im Stall, sagen wir 1 500 Mastkälber. Der Betrieb bewirtschaftet nur wenig Fläche, nur 10 Hektar.
Dieser Betrieb bekommt in diesem Jahr 3 600 Euro Direktzahlungen. Nehmen wir einen anderen Betrieb in
Nordrhein-Westfalen mit einer größeren Fläche, mit
100 Hektar, der 100 Kühe im Stall stehen hat. Dieser Betrieb erhält 33 000 Euro Direktzahlungen pro Jahr. Wenn
dieser Betrieb ökologisch bewirtschaftet wird, dann bekommt er 50 000 Euro pro Jahr.
({10})
Das ist der Unterschied. Das leugnen Sie.
Allein in meiner Amtszeit sind zwei Steigerungen der
Fördersätze für den ökologischen Landbau im Rahmen
der Gemeinsamen Agrarpolitik zu verzeichnen. Das
Greening unterstützen wir, aber - und das ist der Unterschied - wir wollen keine Flächenstilllegungen. Wir
wollen, dass es nicht nur Bürokratie gibt. Weiter wollen
wir, dass die Leistungen, die unsere Landwirte erbringen, auch anerkannt werden.
({11})
Auf rund einem Viertel der gesamten deutschen
Agrarflächen finden heute bereits Agrarumweltmaßnahmen statt, die für mehr Biodiversität und ein attraktives
Landschaftsbild sorgen. Wir setzen eben auf eine effektive und gleichzeitig nachhaltige Landwirtschaft.
({12})
Zweite Falschbehauptung: Moderne Tierhaltung geht
zulasten des Tierwohls. - Sie von den Grünen romantisieren die Vergangenheit, als wäre früher alles besser gewesen.
({13})
Jeder neue Stallbau wird verdammt. Tatsache ist: Es ist
schlicht und ergreifend falsch, dass Tiere in größeren
Haltungen grundsätzlich weniger Platz haben. Es ist
auch falsch, dass es den Tieren in größeren Haltungen
generell weniger gut geht.
({14})
Glauben Sie wirklich, dass die dunklen und feuchten
Ställe von früher Vorbild sein können? Das ist, meine
sehr geehrten Damen und Herren, wenn man sie mit den
modernen und hygienischen Ställen von heute vergleicht, wohl nicht der Fall.
({15})
Ausschlaggebend ist die Arbeit des Landwirts oder der
Landwirtin. Sie haben sich an verbindliche europäische
Regeln zugunsten des Tierwohls zu halten. Hinzu kommt
noch die Qualität von Stallanlagen und Haltungsverfahren. Deshalb sage ich: Jeder neugebaute Stall ist grundsätzlich ein Fortschritt für das Tierwohl.
({16})
Meine Damen und Herren, die übergroße Mehrheit der
Verbraucherinnen und Verbraucher kann Ihren Alarmismus nicht mehr hören. 81 Prozent der Verbraucherinnen
und Verbraucher haben - trotz so mancher Anfeindungen
von Ihrer Seite - großes bzw. sehr großes Vertrauen gegenüber unseren Landwirten.
Dritte Falschbehauptung: Die Bundesregierung tut zu
wenig für den Tierschutz. Tatsache ist: Diese christlichliberale Koalition hat mehr für den Tierschutz getan als
jede andere Bundesregierung.
({17})
Wir regieren aber nicht nach dem Bauchgefühl,
({18})
sondern nach dem neuesten Stand der Forschung. Deshalb stellen wir 62 Millionen Euro für Forschungs- und
Innovationsprojekte sowie für Modell- und Demonstrationsvorhaben in der Nutztierhaltung bereit. Bei der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“
haben wir für besonders tierfreundliche und ressourcenschonende Haltungs- und Produktionsverfahren ebenfalls nachgesteuert.
Was heißt das? Das heißt, bis zu 40 Prozent der Investitionskosten werden künftig übernommen, wenn ein besonders tiergerechter Stall gebaut wird. Das ist ein deutliches Plus und eine Investition in das Tierwohl.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen noch
eines sagen: Sie sollten sich vielleicht grundsätzlich gut
überlegen, was Sie mit manchen Forderungen anrichten
können. Die Bedingungen, die Sie manchmal formulieren, können große Betriebe vielleicht noch ganz gut erfüllen.
({20})
Kleine Betriebe aber müssen oft zumachen, weil sie sie
nicht mehr stemmen können. Die von Ihnen geforderten
Maßnahmen würden den Strukturwandel beschleunigen.
Ich weiß nicht, ob Sie das wollen. Ich will es nicht.
({21})
Meine Damen und Herren, die christlich-liberale
Koalition hat einen klaren Standpunkt: Wir schreiben
den Verbrauchern eben nicht vor, wie sie sich zu ernähren haben.
({22})
Das unterscheidet unsere Vorstellungen von Ihren. Wir
setzen auf Transparenz und die Macht des Verbrauchers.
Deshalb habe ich das Tierwohl-Label, sehr geehrte Frau
Künast - zu der Präsentation habe ich mich nicht eingeladen, sondern ich wurde von Herrn Schröder eingeladen -,
auch mit 1 Million Euro gefördert.
({23})
- Ja, natürlich. - Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist, glaube ich, selbstverständlich, dass ich heute
zu dieser Veranstaltung gehe.
Die ersten Produkte kommen in diesen Tagen in den
Handel. Künftig können Verbraucher erkennen, wie die
Tiere gehalten werden. Sie können vor allem entscheiden, ob sie bereit sind, für die Produkte mehr zu zahlen;
denn höhere Standards kosten mehr Geld. Wir trauen unseren Verbrauchern - offensichtlich im Gegensatz zu Ihnen - diese Entscheidung zu.
Vierte, aber leider nicht letzte Ihrer Falschbehauptungen: Gegen den übermäßigen Einsatz von Antibiotika in
der Tierhaltung wird nichts unternommen. - Tatsache
ist: Die Abgabe von Antibiotika zur Wachstumsförderung und zur Prävention ist bereits heute verboten.
({24})
Zugleich haben wir aber das Problem erkannt und deshalb ein Paket geschnürt, um den Einsatz von Antibiotika zu minimieren.
Die Novelle des Arzneimittelgesetzes gibt den Ländern mehr Möglichkeiten und noch bessere Instrumente.
Die Überwachung ist allerdings in der Zuständigkeit der
Länder. Kollege Remmel zeigt mit dem Finger gern auf
andere, aber vier Finger zeigen dabei auf ihn als Teil der
Überwachungsbehörde zurück. So schaut es aus.
({25})
Leider fehlt mir die Zeit, noch weitere Punkte richtigzustellen. Die christlich-liberale Regierung steht allen
Landwirten zur Seite, und sie will die Landwirte und die
Verbraucher näher zusammenbringen, auch in Spannungsfeldern. Wir tun dies mit Fachkenntnis, ohne Aufgeregtheit und aus großer Überzeugung.
Herzlichen Dank.
({26})
Matthias Miersch ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundesministerin, als ich hier eben Ihre Worte gehört habe, habe ich mich gefragt, wo Sie eigentlich die
letzten Monate und Jahre gewesen sind. Nur unter dieser
Kuppel kann es nicht gewesen sein. Als Niedersachse
({0})
kann ich Ihnen sagen: Ich lade Sie gerne einmal ein, sich
anzuhören, was Ihre Kommunalpolitiker zu den Entwicklungen sagen, die wir tagtäglich in Niedersachsen
beobachten können. Dort fällt nämlich auf, dass Sie zwar
schön reden, aber nichts machen.
({1})
- Ich werde zum Thema kommen.
Wenn Sie sich die Entwicklung ansehen, dann stellen
Sie fest, dass eben nicht Qualität gefördert wird. Vielmehr erleben wir in Niedersachsen tagtäglich - deswegen schließen sich viele Menschen zu Bürgerinitiativen
zusammen, deswegen gehen die Menschen am Samstag
unter dem Motto „Wir haben es satt!“ auf die Straße -,
dass Massentierhaltungsanlagen aus dem Boden gestampft werden, ohne dass die Kommunalpolitik irgendwelche Handhabungen hat, diesem Vorgehen Einhalt zu
gebieten.
({2})
Es sind auch Ihre Kommunalpolitiker, Herr Schweickert
- fragen Sie die einmal -, es sind CDU-Landräte, die darum flehen, dass § 35 des Baugesetzbuchs endlich geändert wird, sodass wie bei einem Industriebetrieb oder
einem Gewerbebetrieb auch bei einer Massentierhaltungsanlage eine Steuerungsmöglichkeit gegeben wird.
({3})
Liebe Frau Bundesministerin, Sie können hier sagen,
dass der Verbraucher entscheiden soll, aber es ist doch
eine Frage von politischer Steuerung und von gesetzlichen Grundlagen, ob man Wettbewerb zulässt oder ihn
nach dem Motto „Immer größer, immer weiter“ einseitig
regelt. Das ist Ihre Agrarpolitik. Die Kleinen lassen Sie
im Stich.
({4})
Als Sozialdemokratie sagen wir, dass Ernährung ein
elementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge ist.
({5})
Ernährung, Energie- und Wasserversorgung, lieber Herr
Kollege, brauchen wir alle. Was stellen wir fest? Wir
stellen fest, dass auch Sie erkannt haben, dass man im
Energiebereich umsteuern muss, dass es nicht darum
geht, die großen Einheiten zu fördern, sondern die Dezentralität. Im Bereich der Ernährung, lieber Kollege,
stellen wir fest, dass durch Ihre Politik genau das Gegenteil passiert, dass auch konventionelle Landwirte in existenzielle Notlagen geraten, weil es in der Agrarpolitik
die Tendenz hin zu Agrarfabriken, also immer größer zu
werden, gibt. Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: In dieDr. Matthias Miersch
sem Bereich machen Sie genau das Gegenteil von zukunftsgerichteter Agrarpolitik.
({6})
Es geht dabei nicht nur um ökologische, sondern auch
um ökonomische und soziale Aspekte. Es geht um die
Frage, wer sich künftig qualitativ gute Lebensmittel leisten kann. Es geht auch um die Frage, wie in diesen Betrieben gearbeitet wird. Ich sage Ihnen auch als Niedersachse: Ihre verfehlte Politik führt augenblicklich dazu,
dass vielerorts die Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen, in diesen Betrieben unter aller Würde sind. Auch da
sind gesetzliche Rahmenbedingungen dringend notwendig.
({7})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Dr. Miersch, vielen Dank für das Zulassen einer Zwischenfrage. Sie haben uns vorgeworfen,
dass wir nichts für die Kleinen tun. Nehmen Sie bitte,
was die Biogasanlagen angeht, zur Kenntnis, dass es
diese christlich-liberale Koalition war, die die 75-kWAnlagen durchgekämpft und zugelassen hat und dass es
die Umweltpolitiker waren - das sage ich jetzt an Sie gerichtet, Herr Miersch -, die das eigentlich gar nicht wollten. Können Sie also bitte bestätigen, dass wir sehr wohl
in dieser Richtung tätig sind und dafür sorgen, dass insbesondere die Kleinen gestärkt werden?
({0})
Lieber Herr Kollege Schweickert, ich mache mit Ihnen gerne einen Diskurs in Sachen Biogas. Das ist ein
gutes Beispiel; denn hier geht es um landwirtschaftliche
und Ernährungsbetriebe. Ich sage Ihnen: Am Beispiel
Biogas wird deutlich, dass teilweise durch Fehlanreize
im Gesetz Fehlentwicklungen in Gang gesetzt worden
sind.
({0})
Insofern sage ich Ihnen wieder: Wir brauchen gesetzliche Rahmenbedingungen. Diese sind bisher falsch gesetzt geworden. Wenn Sie mit Landwirten und Vertretern
konventioneller Betriebe sprechen, werden sie Ihnen sagen: Wir müssen uns überlegen, ob wir, wenn wir weiterhin auf das Prinzip „Immer größer, immer weiter“
setzen, überleben können. Die Förderpolitik dieser Regierung und der Europäischen Union geht nämlich in genau die falsche Richtung.
({1})
Insofern wird die Qualität von Ihnen gerade nicht gefördert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem
Zusammenhang geht es um Steuerungsmöglichkeiten.
Sie können mir dazu gerne Fragen stellen und andere
Meinungen einholen. Nur, letztlich sind Sie seit drei Jahren an der Regierung. Wir haben beispielsweise zu § 35
des Baugesetzbuches schon vor anderthalb Jahren einen
Antrag eingebracht, der eiskalt abserviert wurde.
({3})
Sie haben damals gesagt: Es besteht kein Handlungsbedarf. - Ich sage Ihnen: Hier sind Sie in der Pflicht. Sie
hätten die Möglichkeit gehabt, der Kommunalpolitik bei
dieser zentralen Frage einen Steuerungshebel an die
Hand zu geben. Aber bis zum heutigen Tag haben wir
dazu nichts von Ihnen gehört. Wir haben bis zum heutigen Tag keine Lösung, um die Arbeitsbedingungen vor
Ort zu verbessern, was Mindestlöhne etc. angeht. Unser
Vorwurf an diese Bundesministerin lautet, dass sie mit
ihrer Politik genau das Gegenteil macht, weil sie die falschen Rahmenbedingungen setzt.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Entscheidend
wird sein - insofern ist Ihre Frage an dieser Stelle durchaus berechtigt, Herr Schweickert -, die Landwirtschaft
endlich als eine vernetzte, interdisziplinäre Aufgabe zu
begreifen. Es geht nämlich nicht nur um die Landwirtschaft, sondern auch um die Umweltpolitik, die Sozialpolitik und die Verzahnung der politischen Ebenen, von
der Kommunalpolitik bis zur europäischen Ebene.
({4})
Ich halte es für richtig, dass Stephan Weil gesagt hat:
Wir brauchen ein Agrarministerium, das mit der europäischen Ebene verbunden ist.
({5})
Denn dort geht es darum, die Gemeinsame Agrarpolitik
so zu formulieren, dass wir endlich Qualität und nicht
nur Masse fördern; denn Masse ist nicht gleich Klasse.
Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, lässt sich am
Beispiel der Agrarpolitik gut deutlich machen: Auf diesem Politikfeld verfolgen wir ganz unterschiedliche
Politikansätze, ebenso wie bei der Bildungspolitik, in
Sachen Steuergerechtigkeit und Arbeitsbedingungen.
Am Sonntag stehen auch hier zwei unterschiedliche
Politikansätze zur Wahl, der von Rot-Grün und der von
Schwarz-Gelb.
({6})
Das Wort erhält nun die Kollegin Christel HappachKasan für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank für diesen Einblick in den Wahlkampf in
Niedersachsen. Ich komme jetzt allerdings auf das
Thema Tierhaltung zurück.
Ich finde es gut, dass wir uns vor der Eröffnung der
Grünen Woche über ein für die Landwirtschaft in
Deutschland so essenzielles Thema unterhalten. Die
landwirtschaftliche Tierhaltung trägt nämlich zu 60 Prozent zum Einkommen der Landwirte in Deutschland bei.
Da ist es schon bemerkenswert, welche Angriffe die
Grünen auf diesem Feld fahren und dass sie ihren Wahlkampf in Niedersachsen auf dem Rücken der landwirtschaftlichen Betriebe austragen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nicht gut.
({1})
Eine Anregung an die Kollegin Künast und den Kollegen Dr. Miersch: Gehen Sie doch einmal in einen landwirtschaftlichen Betrieb! Da lernt man nämlich etwas,
und dann ist man ein bisschen klüger. Da ich vermute,
dass Sie das nicht tun werden, empfehle ich Ihnen, sich
wenigstens die Bilder der Webcam von Herrn Schwarz
auf der Internetseite des Bauernverbandes SchleswigHolstein anzusehen. Alle 20 Sekunden wird ein neues
Bild aus seinem Schweinestall gezeigt. Dann können Sie
selbst beurteilen, wie es in einem solchen Schweinestall
aussieht. Transparenz ist ein wichtiges Ziel, und das
wird dort exemplarisch vorgelebt.
({2})
Wir regieren jetzt drei Jahre; das ist gut so. Ihr habt
zehn Jahre regiert. Das war nicht so gut; das sieht man
an den Fehlern bei bestimmten Entwicklungen. Aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt in einem Punkt
durchaus eine Einigkeit in diesem Haus: Wir wollen eine
bessere landwirtschaftliche Nutztierhaltung. Das Bessere ist der Feind des Guten. Wir wollen eine Minderung
des Antibiotikaeinsatzes. Wir sind der Überzeugung,
dass auch in der landwirtschaftlichen Tierhaltung mehr
gesundheitsfördernde Maßnahmen und damit weniger
Antibiotika gebraucht werden. Einen entsprechenden
Gesetzentwurf haben wir vorgelegt.
Die Grünen sind an dieser Thematik erkennbar nicht
interessiert. Für die Grünen gibt es nur zwei Stichworte:
„Agrarfabrik“ und „Massentierhaltung“; mehr haben sie
nicht auf dem Zettel. Das heißt natürlich auch, dass Frau
Künast mit ihrer Rede nicht den Bundestag adressiert
hat, sondern diejenigen, die am Samstag in Berlin demonstrieren wollen.
An dieser Stelle sollten wir eines festhalten: Die Internationale Grüne Woche besuchen 500 000 Menschen,
an Ihrer Demonstration nehmen vielleicht gerade einmal
5 000 teil. Das sind 1 Prozent, das ist eine Aussage.
({3})
Wir als Freie Demokraten, wir als Liberale orientieren uns im Bereich des Tierschutzes insbesondere an den
fünf Freiheiten:
({4})
Freisein von Hunger und Durst - Freisein zum Zuhören,
Frau Künast, wäre auch nicht schlecht -; Freisein von
Unbehagen; Freisein von Schmerz, Verletzung, Krankheit; Freisein zum Ausleben der normalen Verhaltensweisen - Frau Künast, Sie sollten schon einmal zuhören,
das würde helfen -; Freiheit von Angst und Leiden. Deswegen haben wir - darauf sollten Sie einmal eingehen in § 11 Tierschutzgesetz festgelegt, dass wir betriebliche
Eigenkontrollen wollen; denn nicht Verordnungen,
sondern der Blick in den Tierstall ist das beste Mittel, um
sicherzustellen, dass es den Tieren gut geht. Wir wollen,
dass dies anhand von tierbezogenen Merkmalen beurteilt
wird, anhand von Tierschutzindikatoren, zum Beispiel
der Mortalität, der Klauen- und Fußballengesundheit
und der Betrachtung der auf dem Schlachthof erhobenen
Befunde. Diese drei Tierschutzindikatoren sind entscheidend, um zu beurteilen, ob sich ein Tier wohlfühlt oder
nicht.
Die Qualität der Tierhaltung hängt nicht von der
Größe des Betriebes oder von der Größe des Stalls ab;
sie hängt vielmehr von der Fähigkeit des Betriebsinhabers ab, das Ganze zu managen. Das ist ein entscheidendes Kriterium, nicht die Größe des Betriebes.
Man sollte auch eines hinzufügen: Moderne Ställe
sind für Tiere allemal besser als alte Ställe.
({5})
Gehen Sie einmal in einen Kuhstall, und Sie werden
feststellen: Die Kühe sind größer geworden. Alte Ställe
können dem nicht in der Weise genügen wie neue Ställe.
Im Hinblick auf eine Verbesserung des Tierschutzes
brauchen wir mehrere Maßnahmen: Zum einen brauchen
wir verstärkte Forschung über Tierhaltung. Deswegen
haben wir als christlich-liberale Koalition für die nächsten drei Jahre 19 Millionen Euro für Modellvorhaben im
Bereich der Tierhaltung eingeplant. Wir nehmen das
Thema Tierschutz ernst. Deswegen geben wir den eigenen Forschungseinrichtungen einen anderen Maßstab
vor und sagen: Wir brauchen in Mariensee eine Umstellung von der Anbindehaltung auf eine Laufstallhaltung.
Wir brauchen weiterhin Initiativen im Bereich der Tierzucht. Die Tierzüchter sind viel weiter als Ihr von Rot
und Grün: Im Bereich der Tierzucht findet schon lange
eine Umorientierung statt.
({6})
- Die Parteifreunde in Niedersachsen sind mit mir absolut einer Meinung, dass es gut ist, dass es im Bereich der
Tierzucht inzwischen Initiativen gibt, die nicht mehr nur
auf die Leistung setzen, sondern das gesamte Tier in den
Blick nehmen.
({7})
Vor 15 Jahren war allein die Milchleistung bei Kühen ein
Kriterium. Heute spielen weitere Kriterien eine Rolle,
die dazu führen, dass die Tiere gesünder sind.
Wir brauchen höhere Standards in der Tierhaltung.
Wir müssen den Menschen aber auch sagen: Das kostet
mehr Geld. - Deswegen finde ich es gut, dass der Deutsche Tierschutzbund ein Tierwohl-Label geschaffen hat,
an dem sich die Menschen orientieren können. So können sie selbst einen Beitrag leisten für einen höheren
Standard im Stall. Die Menschen wissen dann aber auch:
Sie müssen dafür bezahlen.
Im letzten Jahr gab es - das sollte man auch einmal
sagen - im Bereich der Fleischprodukte Kostensteigerungen von 5,4 Prozent, und die Preise werden weiter
ansteigen. Ich lade die Grünen ein, dieses dann bitte
auch zu kommunizieren. Ein Tierwohl-Label, das sich
an den Tierschutzindikatoren orientiert, ist ein echter
Fortschritt.
Eine bessere Tiergesundheit ist Voraussetzung dafür,
dass wir den Einsatz von Antibiotika mindern können.
Wir als christlich-liberale Koalition haben dazu einen
Gesetzentwurf vorgelegt. Ich setze mich persönlich sehr
dafür ein, dass dieser auch umgesetzt wird.
Wir müssen sagen: Wir brauchen nicht mehr Verbote,
sondern wir brauchen eine bessere Praxis in den Tierställen. Dazu brauchen wir die Länder. Wir setzen darauf,
dass wir mit ihnen gemeinsam einen solchen Gesetzentwurf umsetzen können, um etwas für bessere Tiergesundheit in den Ställen und damit für bessere Lebensmittel zu tun.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Alexander Süßmair für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! In Deutschland hat sich die Nutztierhaltung in den letzten 20 Jahren sehr stark verändert.
Deutschland ist in der EU der größte Schweinefleischproduzent. 1995 betrug die Ausfuhr von Schweinefleisch 230 000 Tonnen. 2011 waren es 2,3 Millionen
Tonnen. Das heißt, von 1995 bis 2011 hat sich die
Ausfuhr von Schweinefleisch verzehnfacht, während die
Einfuhr auf einem Niveau von etwa 1,1 Millionen Tonnen gleich geblieben ist. Beim Geflügel war der Verlauf
ähnlich.
Diese Steigerung der Ausfuhr blieb natürlich nicht
ohne Folgen. Die Nutztierhaltung in Deutschland hat
sich immer stärker konzentriert, ist intensiver und industrieller geworden. Diese Intensivierung und diese Konzentration betreffen aber nicht nur die Ställe, in denen
die Tiere gehalten werden, sondern sie führten auch zu
einer sehr ungleichen Verteilung der Tierbestände in
Deutschland.
Ein Vergleich: In Niedersachsen gibt es derzeit 9 Millionen Schweine, in Nordrhein-Westfalen 6,7 Millionen,
in ganz Ostdeutschland zusammen 4,2 Millionen, und in
Bayern, dem größten Flächenland Deutschlands, nur
3,5 Millionen. Diese höchst ungleiche Verteilung und
auch die Menge an Tieren vor Ort führen zu sozialen,
ökologischen, wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Konflikten.
({0})
In der öffentlichen Debatte rückt der Begriff der sogenannten Massentierhaltung dabei immer mehr in den
Fokus. Die FAO, also die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, hat 1995
„intensive Tierhaltung“ als Systeme definiert, in denen
weniger als 10 Prozent der Futtermittel dem eigenen Betrieb entstammen und die Besatzdichte zehn Großvieheinheiten pro Hektar übersteigt.
Für die Öffentlichkeit in Deutschland beginnt Massentierhaltung aber viel früher. Das Bundesministerium
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
gibt die Zeitschrift Berichte über Landwirtschaft heraus.
In der Dezemberausgabe vom vergangenen Jahr, also
2012, waren die Ergebnisse der Studie „Die Wahrnehmung des Begriffs ,Massentierhaltung‘ aus Sicht der
Gesellschaft“ zu lesen. Ich nenne hier zwei Ergebnisse:
Die Befragten assoziieren den Begriff „Massentierhaltung“ vor allem mit Grausamkeit, Geflügel, Krankheiten
und Enge. Massentierhaltung beginnt für 90 Prozent der
Befragten ab etwa 500 Rindern, 1 000 Schweinen und
5 000 Hähnchen. In der Realität liegen die Betriebe aber
häufig über diesen Zahlen; das gilt gerade auch beim Geflügel.
Vonseiten des Deutschen Bauernverbandes und auch
vonseiten der Koalitionsparteien kommt häufig der Vorwurf, die Verbraucher hätten einfach ein zu romantisches
Bild von der Landwirtschaft - Frau Ministerin hat das
auch angesprochen -, das mit der modernen Tierhaltung
nichts zu tun habe. Das mag schon sein, aber ist es nicht
auch so, dass gerade die Nahrungsmittelindustrie diese
Vorstellungen mit ihrer irreführenden Werbung selbst
produziert?
({1})
Es stellt sich eine ganz andere Frage: Ist es romantisch oder gar rückwärtsgewandt, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher wollen, dass Tiere möglichst wenig
leiden und tiergerecht gehalten werden?
({2})
Wir sagen: Nein! Die Verbraucherinnen und Verbraucher
beachten nicht nur die ökonomischen Kriterien, also den
reinen Preis, sondern sie haben auch Anspruch auf die
Einhaltung von ökologischen, sozialen und ethischen
Faktoren. Diese müssen wir berücksichtigen.
({3})
Wenn Sie diese gesellschaftlichen Anforderungen
wieder nicht berücksichtigen, dann entstehen die Konflikte vor Ort, die die Bäuerinnen und Bauern und auch
die Agrarlobby lautstark beklagen, und sie sagen daraufhin, dass keine Stallbauten mehr möglich seien und man
eine Art Hetzjagd gegen sie veranstalte. Wir haben einen
eigenen Antrag zur Nutztierhaltung gestellt. Wir wollen
dabei vor allem ökonomische und soziale Aspekte, aber
auch ethische Aspekte berücksichtigen. Uns geht es
darum, dass Grausamkeit, Krankheiten und Enge in der
Tierhaltung vermieden werden, dass es sie nicht gibt.
Deshalb fordern wir, dass sich die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in der Tierhaltung verbessern
müssen - auch in den Schlachthöfen -, dass bessere
Löhne gezahlt werden und der gesetzliche Mindestlohn
eingeführt wird.
({4})
Die Tierhaltungssysteme müssen verbessert werden,
die Qualzucht muss verhindert werden, die schmerzhaften Eingriffe wie Schwänzekneifen und Schnäbelkneifen
müssen verboten werden. Die Tiere dürfen nicht an die
Systeme angepasst werden, sondern die Systeme müssen
an die Tiere angepasst werden.
({5})
Wir möchten auch, dass sich die Politik noch viel
konsequenter für eine Ökologisierung der gesamten
Agrarwirtschaft einsetzt, und wir stellen die Forderung
an die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass solche Regelungen und Ziele auch EU-weit eingeführt werden. Und das geht auch, nämlich gerade jetzt, wenn die
Verhandlungen über die neue Förderperiode in der EU
für 2014 anstehen. Dort könnten Sie sich genau dafür
einsetzen - auch Sie, Frau Ministerin.
({6})
Wir müssen auch daran arbeiten, dass unsere Haltungssysteme und unsere gesamte Tierproduktion so verändert werden, dass wir den Antibiotika-Einsatz deutlich
reduzieren können. Wir hatten dazu bereits einen Antrag
vorgelegt und hatten eine ausführliche Debatte.
Aber es trifft auch zu - es ist angesprochen worden -,
dass die Intensivtierhaltung, wie wir sie in Deutschland
und in Europa haben, nicht nur negative Auswirkungen
innerhalb Deutschlands hat, sondern auch in anderen
Ländern, gerade im globalen Süden. Dort führt der
Anbau von Futtermitteln zu schweren ökologischen und
sozialen Schäden. Deshalb ist es wichtig, dass wir selbst
wieder mehr Futtermittel produzieren,
({7})
dass wir hier regionale Kreisläufe ökologisch und ökonomisch nachhaltig gestalten, und zwar ohne gigantische
Futtermittelimporte und Fleischexporte. Diese Importe
sind nämlich die Voraussetzung dafür, dass wir hier so
produzieren können.
Einig sind wir uns auch - das ist auch angesprochen
worden -, dass die Konzentration von Stallanlagen in
bestimmten Regionen viel zu groß ist, dass die negativen
ökologischen, kulturellen und sozialen Auswirkungen so
stark sind. Deshalb brauchen wir Änderungen im
Baurecht und im Immissionsrecht, damit solche Anlagen
kritischer geprüft werden und es vor Ort für die Kommunalpolitik mehr Einflussmöglichkeiten gibt. Auch hierfür treten wir ein.
({8})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ja, diese Woche beginnt die IGW, ja, am Wochenende
findet hier eine große Demonstration statt. Die Menschen wollen, dass sich in der Landwirtschaft einiges
grundsätzlich verändert. Auch dafür werden wir von der
Linken uns einsetzen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat nun Johannes Röring für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute
verschiedene Anträge, die alle mit Tierhaltung zu tun
haben. Ein Weiteres haben alle diese Anträge gemein:
Sie unternehmen den Versuch, die Landwirte in
Deutschland, die Bauernfamilien, von denen übrigens
ein Großteil moderne Tierhaltung betreibt, massiv anzugreifen.
({0})
Sie bezeichnen die Bauern nämlich als verantwortungslose, profitgierige organisierte Tierquäler, die Tiere mit
Antibiotika vollstopfen, die die Landschaft zerstören. Ein solches Bild malt die Opposition von modernen
Tierhaltungsbetrieben.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Diejenigen, die uns täglich satt machen, haben dieses einfach
satt.
({1})
Moderne Tierhaltung bedeutet nämlich Verantwortung für Tier und Verbraucher. Landwirte und Tierhalter
haben selbst das größte Interesse daran, dass die ihnen
anvertrauten Tiere gesund sind. Bauern haben Interesse
an hochwertigen, verantwortungsvoll erzeugten und
auch bezahlbaren Lebensmitteln. Ich sage dabei bewusst
„bezahlbar“ und nicht „billig“.
({2})
Tierschutz ist für uns Bauern eine Selbstverständlichkeit.
({3})
Deswegen ist die Tierhaltung in den vergangenen
60 Jahren von Bauern zusammen mit Wissenschaftlern,
Beratern und auch Unternehmen kontinuierlich weiterentwickelt worden. Wirkungsvoller Tierschutz benötigt
die Erfahrungen und Kenntnisse derjenigen, die täglich
mit Tieren umgehen. Deswegen setzt die christlichliberale Koalition vor allen Dingen auf Eigenverantwortung und auf Vertrauen in die Menschen, die den
Umgang mit Tieren gelernt haben.
({4})
Wir setzen - das sage ich Ihnen deutlich - auf den bäuerlichen Mittelstand und auf Tierschutz durch Vertrauen.
Die Anträge der Opposition dagegen sind von Misstrauen und Anschuldigungen durchsetzt.
({5})
Moderne Tierhaltung bedeutet für mich hohe Verantwortung von Menschen für Tiere, den Einsatz von Medizin, wenn nötig, Vermeidung von Medikation, wenn
möglich. Kranke Tiere müssen aber weiterhin behandelt
werden können.
({6})
Wir haben bereits seit über zehn Jahren die Verpflichtung für jeden Tierhalter, jede einzelne Arzneimittelanwendung bei Tieren bis ins kleinste Detail zu dokumentieren. Diese Dokumentation wird von den
Veterinärbehörden - sie haben übrigens jederzeit darauf
Zugriff - auch strengstens kontrolliert.
Wir wollen eine Novelle des Arzneimittelgesetzes,
mit der eine effektivere Überwachung des Einsatzes ermöglicht wird. Wir stehen zu dem Ziel, die Zahl der Antibiotika-Resistenzen einzudämmen. Wir haben aber
ebenso den Anspruch, dass auch andere, die bei ihrer Arbeit von der Frage der Resistenzen in erheblichem Maße
betroffen sind, zum Beispiel Humanmediziner, Krankenhäuser, diejenigen, die sich um Hygiene kümmern, konsequent ihren Job machen. Wir wollen, dass unsere
Branche ihren Job machen kann.
({7})
Moderne Tierhaltung heißt aber auch, dass es angemessene Entwicklungsmöglichkeiten für den bäuerlichen Mittelstand geben muss, und zwar ausdrücklich in
Zusammenarbeit mit den Kommunen. In Deutschland
gelten diesbezüglich sehr hohe Standards. Die Kommunen haben schon jetzt beim Bau von Ställen Steuerungsmöglichkeiten, die wir aber durch eine Novelle des Baugesetzbuches noch deutlich verbessern wollen.
Die Akzeptanz der Menschen vor Ort und in den
Kommunen ist den Bauernfamilien - das weiß ich genau - sehr wichtig. Ich stelle an dieser Stelle fest, dass
die Branche in dieser Beziehung sehr stark engagiert ist.
({8})
Wir wollen hier ganz klar keine Fremdbestimmung
und keinen ungezügelten Wildwuchs. Tierhaltung ist für
mich Bauernsache. Die 216 000 Tierhalter in Deutschland haben im europäischen Vergleich immer noch relativ kleine Bestände. Diese Struktur wollen wir erhalten.
({9})
Deswegen muss ich noch einmal feststellen: Mit Ihren Anträgen malen Sie das Zerrbild eines bösen und
verantwortungslosen Tierhalters. Fakt ist aber: Die Branche braucht sich nicht zu verstecken. Die christlich-liberale Koalition wird die vorhandenen Instrumentarien
noch deutlich verbessern. Ich kann Ihnen sagen: Die
Charta von Frau Aigner zu Transparenz in der Tierhaltung zeigt Wirkung, sei es beim Tierschutz, sei es beim
Einsatz der Tiermedizin, sei es bei der Verbesserung der
vorhandenen Steuerungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Stallbauten.
({10})
Die Anträge der Opposition sind nicht zielführend.
Sie sind von Misstrauen, von mehr Bürokratie und Verboten durchtränkt.
({11})
Genau das ist der Unterschied: Wir setzen auf die Branche. Wir setzen auf wettbewerbsfähige landwirtschaftliche Familienbetriebe.
({12})
Durch Ihr Vorgehen verdrängen Sie unseren landwirtschaftlichen Mittelstand und befördern somit eine Verlagerung der Produktion in Länder mit schlechteren Standards. Das wollen wir eindeutig nicht!
({13})
Abschließend kann ich über Ihre Anträge nur sagen:
Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr. - Wir stehen kurz vor
der Eröffnung der Internationalen Grünen Woche. Zu
diesem Zeitpunkt erleben wir von Ihnen öfters solche
Anträge.
Die deutsche Landwirtschaft präsentiert auf einem
Erlebnisbauernhof die Tierhaltung und zeigt ein realistisches Bild ihrer Arbeit und ihrer Leistung. Ich kann Ihnen wirklich nur ans Herz legen und Ihnen empfehlen,
sich das einmal anzuschauen und an diesen Tagen mit
Landwirten ins Gespräch zu kommen. Das Misstrauen
haben die Landwirte und ihre Familien, die für unser
Land wirklich wertvoll sind, satt. Wir müssen hier zu anderen Ufern kommen.
({14})
Meine Damen und Herren, aus diesem Grund und wegen der Zusammenhänge, die Sie leider nicht in allen
Einzelheiten verstehen oder verstehen wollen, lehnen
wir als Unionsfraktion Ihre sämtlichen Anträge ab.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Gabriele Groneberg für die SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Röring, wenn Sie sprechen, habe ich
automatisch das Gefühl: Sie sind in einem schalldichten
Raum. Sie machen eine Politik, die ausschließlich den
großen Agrariern nutzt. Denn der bäuerliche Mittelstand,
von dem gerade die Rede war, geht bei Ihrer Politik über
Bord.
({0})
Ich brauche auch keinen Erlebnisbauernhof. Denn ich
komme aus einer Region, wo Bauernhof tatsächlich Alltag ist und wo ich jeden Tag zu Kollegen und Freunden
auf den Bauernhof gehen und mir ansehen kann, was
dort passiert. Das ist in der Tat sehr differenziert: der
bäuerliche Mittelstand oder eben die Großagrarier.
({1})
Ich komme aus einer Region in Niedersachsen, dem
Oldenburger Münsterland, in der wir die positiven wie
aber natürlich auch die negativen Auswirkungen zu spüren bekommen. Sicherlich gibt es die positive Seite - die
wollen wir nicht verleugnen -: Das ist die absolut boomende wirtschaftliche Entwicklung einer ehemals eher
dem Armenhaus zuzurechnenden Region. Es ist schön
dort. Ich kann sie jedem empfehlen. Ich bin selber vor
über 30 Jahren aus dem Ruhrgebiet dorthin gezogen,
weil es dort so schön ist. Es ist ländlich geprägt. Es ist
mit überaus gepflegten Städten und Dörfern gesegnet.
Die Leute sind liebenswert. Es sind Menschen, die anpacken und arbeiten können, frei nach dem Motto „Von
nix kommt nix“.
({2})
Wenn man weiß, dass von den bundesweit rund
24 Millionen Schweinen etwa 8,3 Millionen in Niedersachsen aufgezogen werden - die meisten davon im Bezirk Weser-Ems, und zwar vor allem in den Landkreisen
Cloppenburg, Emsland und Vechta -, dann kann man die
Dimensionen erahnen, um die es dort geht. Wie gesagt,
die Wertschöpfung ist enorm. Viele Unternehmen sind
Zulieferer oder Abnehmer der dort gezüchteten Tiere. So
weit, so gut. Das ist die positive Seite.
Aber wie sieht die negative Seite aus? Keime und
Stäube bleiben nicht im Stall. Sie geraten auf die eine
oder andere Art und Weise in die Umwelt und verbreiten
sich - mit Auswirkungen auf die Gesundheit von Tier
und Mensch. Die Folge: Immer mehr Menschen wehren
sich gegen die Ansiedlung von Großstallanlagen.
Städte und Gemeinden gerade im ländlichen Raum,
die sich im Bereich Wohnen und Gewerbe entwickeln
wollen und auch müssen, wenn sie attraktiv bleiben wollen, werden durch den massiven Zubau der Stallanlagen
drastisch in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Schlimmer
noch: Sie haben nicht einmal die Möglichkeit, sich im
Bereich ihrer Planungshoheit wirksam gegen Entwicklungen, die sie nicht wollen, zu wehren. Der Kollege
Miersch hat es ausgeführt.
Eine dringend erforderliche Novellierung des BauGB
scheitert seit Monaten an dem Streit zwischen dem
Minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und seiner Kollegin aus dem Landwirtschaftsministerium. Das
sind wir von Ihnen gewohnt. Das kennen wir schon fast
nicht mehr anders.
Warum bauen zunehmend niederländische Investoren
Ställe im grenznahen Gebiet auf der deutschen Seite?
Weil in den Niederlanden strengere Bedingungen für die
Ansiedlung von Stallneubauten gelten. Ist das denn richtig? Das kann doch nicht sein. Da kommen die Menschen aus den Niederlanden zur Anhörung ins Kreishaus
im Emsland und beschweren sich darüber, dass im
grenznahen Raum in Deutschland die großen Stallanlagen gebaut werden. Das ist doch nicht richtig.
({3})
Zu welchem Preis wird dieses Wachstum erkauft? Wo
sind die Grenzen des Booms? Ist der Preis, dass sich eine
Gemeinde nicht mehr entwickeln kann und Wohnen und
Gewerbe im nichtlandwirtschaftlichen Bereich teilweise
drastisch einschränken muss, nicht viel zu hoch für eine
derartige massive Entwicklung?
Die Kommunen - wohlgemerkt: alle bis auf eine bei
uns im Oldenburger Münsterland CDU-regiert ({4})
haben sich - das weißt du sehr gut, mein lieber Kollege
Holzenkamp - schon vor längerer Zeit mit der Bitte um
Abhilfe an uns Abgeordnete gewandt. Was ist passiert?
Nichts. Ihr seid untätig.
({5})
Der Oldenburgisch-Ostfriesische Wasserverband
weist nachdrücklich auf die zunehmende Belastung des
Trinkwassers mit Nitraten hin - von Ihnen keine Reaktion, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU und
der FDP.
Wollen wir die drohenden Auswirkungen auf unsere
Wasserversorgung wirklich hinnehmen? Nein, wir jedenfalls wollen das nicht. Die SPD hat in etlichen Anträgen ihre Position dazu deutlich dargestellt. Alle Möglichkeiten des Handelns, die wir aufgezeigt haben, sind
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, abgelehnt worden. Ich muss für mich
feststellen: Offensichtlich sind Sie entgegen Ihren Aussagen nicht am dauerhaften und lebenswerten Bestand
der ländlichen Räume interessiert. Anders kann ich die
Untätigkeit nicht deuten.
({6})
Was passiert im nachgelagerten Bereich? Die harten
Branchenbedingungen und der hohe Preisdruck auf dem
Fleischmarkt sorgen für einen ruinösen Wettbewerb.
Dieser setzt sich bei der Schlachtung der Tiere fort.
Menschen vor allem aus Osteuropa werden per Werkverträge in den Schlachthöfen für einen Hungerlohn beschäftigt. Ihre Wohnbedingungen sind vollkommen inakzeptabel.
({7})
Wir werden morgen an dieser Stelle gegen 14 Uhr ausführlich darüber reden. Ich lade Sie ein, sich dann noch
einmal hier einzufinden. Was hier passiert, ist eindeutig
ein Werteverfall. Die Menschen in der betreffenden Region wehren sich mittlerweile massiv dagegen. An ihrer
Seite steht - man glaubt es kaum - massiv die katholische Kirche, speziell ein herausragender Vertreter. Dieser hat den Mut, die Missstände offen anzusprechen. Er
spricht deutlich aus, was hier für ein Schindluder getrieben wird. Er steht an der Seite der Menschen, die sich
dagegen wehren.
({8})
Aber was ist ihm passiert? Ihm wurde nach Mafiamethode als Drohung ein abgezogenes Kaninchen vor die
Haustür gelegt. „Wo sind wir denn hier?“, frag ich mich.
({9})
Ich hoffe, dass er sich nicht einschüchtern lässt. Er hat
unsere uneingeschränkte Solidarität verdient.
({10})
Wir werden uns also morgen noch einmal ausführlich
mit diesem Bereich befassen. Ich kann bislang zu dieser
Debatte feststellen - das enttäuscht mich -: Alle Fraktionen - bis auf die Regierungsfraktionen - haben sich mit
diesem Thema intensiv auseinandergesetzt. Alle haben
Anträge dazu vorgelegt, wir in anderen Debatten, die
Kollegen von den Grünen und der Linken heute. Aber
von Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, kommen dazu nur Beteuerungen und
ein „Weiter so“. Ich finde das nicht okay.
({11})
Das Wort hat nun Hans-Michael Goldmann für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will an Ihren letzten Satz anknüpfen, liebe
Frau Groneberg. Alle Fraktionen haben sich damit intensiv auseinandergesetzt. Aber nur die Regierungsfraktionen bieten Lösungen an.
({0})
Was Sie hier machen, ist im Grunde genommen das Beschreiben von Situationen bzw. das Überzeichnen von
Situationen, die mit der Lebensrealität nichts zu tun haben. Ich vermisse sehr, dass Sie nicht ganz klar Position
beziehen. Die Fälle in Südoldenburg, die Sie eben beschrieben haben, sind Ihnen bekannt. Wo sind die parlamentarischen Initiativen Ihrer Vertreter im Kreistag
geblieben? Wo sind Ihre kommunalen Initiativen geblieben?
({1})
Sie wissen um die betreffenden Fälle in Südoldenburg
- das ist kein neues Thema - und haben auf das Emsland
verwiesen.
({2})
Ich hätte mir gewünscht, dass sich Ihre Fraktionskollegen im Kreistag deutlich dazu äußern, dass im Emsland
und auch in anderen Regionen Ställe angezündet worden
sind. Die Einzigen, die gesagt haben, dass es sich hier
um Straftaten handelt, die nicht hinzunehmen sind, waren die FDP-Vertreter. Von Ihrer Seite ist nichts gekommen.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Priesmeier?
Sehr gerne.
Herr Kollege Goldmann, auf einer meiner Besuchstouren durch das Emsland hatte ich die Gelegenheit, mit
dem ehemaligen Landrat Bröring zu sprechen, der Ihnen
wohl bekannt sein dürfte.
Ich bin ja Mitglied des Kreistags.
Teilen Sie die Einschätzung des ehemaligen Landrats
Bröring, dass im Hinblick auf das Baugesetzbuch, die
Privilegierung und andere Tatbestände dringender Handlungsbedarf besteht? Der Landrat hat damals ein eigenständiges Gutachten angefordert. Er hat mich inständig
gebeten, Initiativen in Berlin zu starten, die zum Ziel
haben, den Kommunen und insbesondere seinem Landkreis Handlungsoptionen zu geben, die es ermöglichen,
dem Ausbau bestimmter Anlagen - nicht nur von Ställen, hauptsächlich von Geflügelställen, sondern auch
von Biogasanlagen - Einhalt zu gebieten.
Lieber Kollege Priesmeier, ich bin seit 30 Jahren Mitglied des Kreistags. Mir sind die Aktivitäten von Herrn
Bröring bestens bekannt.
({0})
- Hören Sie zu! Es soll ja eine Debatte sein. Jetzt darf
ich auch einmal etwas sagen.
({1})
Der Landkreis Emsland hat dem Agrarstrukturwandel
Tür und Tor geöffnet. Ich will Ihnen auch sagen, warum.
Weil es sich hier um ein wild-morastiges Fehn handelte,
wo die Menschen kein Geld und nichts zu essen hatten.
Dann hat man festgestellt, dass man angesichts der Bodenstruktur - es handelt sich um sandige Böden, mit denen sich nicht viel anfangen lässt - und der relativ geringen Besiedlungsdichte im Bereich der intensiven
Haltungsformen Geld verdienen kann. Das haben wir
gemacht.
Ich bestreite ja überhaupt nicht, dass wir das an der einen oder anderen Stelle übertrieben haben. Aber ich sage
Ihnen auch: Es ist eine gute Lösung. Frau Kollegin
Groneberg kann durchaus sagen, dass man in Südoldenburg bestimmte Modelle auf der Basis des bestehenden
Baugesetzbuches entwickelt hat.
({2})
- Frau Groneberg, Sie wissen durch die Geschehnisse in
Bösel und Garrel, was ich meine. Sie wissen ganz genau,
dass das da anders geworden ist.
In der Gemeinde Lathen im Emsland - jetzt beschäftigen wir uns ein bisschen mit der regionalen Geschichte hat man alle Bauern zusammengeholt und gefragt: Welcher Bauer will eine Perspektive haben? Welcher Bauer
hat einen Nachfolger? Dann hat man sich auf Entwicklungen vor Ort verständigt. Es soll mir kein Mensch erzählen, dass das jetzige Baugesetzbuch bei kluger kommunaler Planung nicht jede Menge Möglichkeiten bietet.
({3})
- Lieber Friedrich Ostendorff, die Kommunen haben
keine klugen Flächennutzungspläne aufgestellt. Die
Kommunen haben ihre Räume nicht geordnet.
({4})
Insbesondere deswegen ist diese Problematik entstanden.
Jetzt gehen wir weiter. Ich sage ganz klar: Wir werden
das Baugesetzbuch ändern. Nur, liebe Freunde, lasst uns
bloß nicht glauben, dass diese Regelung zum Nachteil
der gewerblichen Betriebe ist. Die gewerblichen Betriebe werden sich in Sondergebieten und möglicherweise auch in Gewerbegebieten ansiedeln. Das Ganze
trifft vor allen Dingen die Kleinen, die auf dem Weg zu
mehr Marktteilhabe sind, etwa Bauernfamilien.
({5})
Das gilt in besonderer Weise für das Osnabrücker Land.
({6})
Liebe Kollegen, wir sollten uns selbst fragen: Wie ist
die Situation im Bereich der Haltungsformen? In diesem
Zusammenhang ist der Begriff „artgerechte Tierhaltung“
interessant. Ich möchte erst einmal von „tiergerechter
Tierhaltung“ reden; denn die Tierart spielt in der heutigen Nutztierhaltung keine allzu große Rolle. Wir müssen
uns fragen: Sind wir im Tierschutz gut, oder sind wir im
Tierschutz schlecht? Sie wollen doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass die Bundesrepublik Deutschland im
Tierschutz nicht führend in der Welt ist.
({7})
Sind wir bei der Bekämpfung des Antibiotikaeinsatzes
mit der Planung eines neuen Tierarzneimittelgesetzes
auf dem richtigen Weg? Sind wir! Sind wir im Bereich
Umweltverträglichkeitsprüfung - Bundes-Immissionsschutzgesetz als Grundlage für das Miteinander zwischen landwirtschaftlichem Tun und anderen Dingen im
ländlichen Raum - auf einem guten Weg? Ja! Deswegen
sage ich: Wir sind gut; aber wir können noch besser werden.
Wir werden allerdings nicht besser, wenn wir so tun,
Friedrich Ostendorff und Kollegen von den Grünen, als
ob wir das Ruder zurückwerfen könnten. Das wollen wir
nicht.
({8})
- Liebe Freunde, ich bin mit meinem Vater, der Tierarzt
war - ich bin ebenfalls Tierarzt -, zu Zeiten durchs Emsland gefahren, da die Kühe angekettet waren und deswegen eine große haarlose Stelle um den Hals hatten. Weil
es dunkel war, hatte mein Vater eine Taschenlampe im
Mund, um die Nummer auf der Ohrmarke abzulesen.
Die Hinterbeine der Tiere standen im Dreck, und wenn
man ihnen zu nahe kam, hauten sie einen mit einem vollgeschissenen Schwanz durchs Gesicht. So waren die
Haltungsbedingungen. Es gab jede Menge Rotlauf, weil
die Schweine nicht vernünftig Luft bekamen.
({9})
Wir haben das geändert, und wir werden weitere Änderungen vornehmen. Deswegen sollten wir endlich einmal gemeinsam sagen: Wir sind auf einem guten Weg.
({10})
Wir müssen weitere Verbesserungen erreichen; das ist
überhaupt keine Frage.
Wenn Sie, Herr Kollege Dr. Matthias Miersch aus
Laatzen, sagen, dass wir Probleme in den Schlachtbetrieben haben, entgegne ich: Völlig unstrittig. Das war ein
großes Thema. Es hat mich als Katholik aus dem Emsland beschämt - das sage ich Ihnen ganz ehrlich -, dass
Menschen in Sögel „Eimermenschen“ genannt worden
sind. Ich muss allerdings auch sagen: Ich habe eine Ausbildung zum Berufsschullehrer für Fleischer, Bäcker,
Hotel- und Gaststättengewerbler gemacht. Man hat doch
keine Lehrlinge bekommen.
({11})
Die ganze Branche war verarmt. Deswegen gibt es hier
einen gespaltenen Markt - das wissen Sie genauso gut
wie ich -: Es gibt Werksverträge, und es gibt andere Verträge.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Groneberg?
Ja. Das erschöpft mich zwar, aber ich erlaube noch
eine.
Bitte schön, Frau Groneberg.
Herr Goldmann, ist Ihnen bekannt, dass der Schlachtbetrieb VION Emstek gerade jetzt 60 festangestellte
Mitarbeiter, die zum Teil auch eine Fachausbildung haben, entlässt, um über Werkverträge Schlachtkolonnen
aus dem Ostblock zu beschäftigen, und das zu Löhnen,
die unter aller Würde sind? Das muss man einmal deutlich sagen.
Mir ist bekannt, dass so etwas passiert. Wir haben das
auch bei einem Unternehmen im Emsland erlebt. Wir
müssen zwischen den Werksverträgen, die es in sehr vielen Betrieben gibt - nicht nur im Ernährungsgewerbe;
sie gibt es auch in anderen Betrieben, liebe Freunde;
({0})
darüber können wir gerne einmal diskutieren -, und den
anderen Verträgen unterscheiden. Dazu kann ich Ihnen
nur Folgendes sagen: Bei uns im Emsland gibt es nicht
viele, die auf diesem Markt tätig sind. Die Firma Rothkötter, die in Wietze am Pranger steht, bezahlt bestens.
Die hat mit Werksverträgen überhaupt nichts zu tun. Die
hat Kindertagesstätten eingerichtet, weil sie sehr viele
Frauen beschäftigt. Diese Firma zahlt zwischen 8 und
11 Euro als Regelbezahlung. Es ist einfach Schwachsinn, wenn heute jemand behauptet, dass in diesem Bereich bei einer vernünftigen Marktorientierung kein Geld
verdient wird und dieses Geld den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern nicht zugute kommt.
Das Problem ist - liebe Frau Groneberg, das wissen
Sie auch -, dass der deutsche Arbeiter nicht in die Fleischereien gehen wollte.
({1})
Das Problem ist nicht die Bezahlung in den Betrieben,
sondern - seien wir doch ehrlich miteinander - das Problem ist, dass man in der Region vier Menschen in einen
Raum hineingepfercht hat und man von diesen Menschen 19 bis 21 Euro pro Übernachtung abkassiert hat.
({2})
Das ist nicht ein Problem in den Betrieben, sondern das
ist ein Problem im Bereich der Akzeptanz und des Umgangs einiger in dieser Region mit den Menschen. Das,
liebe Frau Groneberg, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wollen wir ändern.
({3})
Deswegen haben der Landrecht Vechta, der Landkreis
Cloppenburg und der Landkreis Emsland hohe Anerkennung verdient für den Beschluss, diese Dinge abzustellen.
({4})
Ich behaupte an keiner einzigen Stelle, dass wir in diesem Bereich nicht vor Herausforderungen stehen. Aber
ich behaupte ganz entschieden, dass wir sehr wohl in der
Lage sind, uns vor dem Hintergrund der leistungsfähigen
Struktur und der sicheren Produktion von Lebensmitteln,
die wir haben, auf einen Weg zu machen, der Zukunft
bedeutet für Landwirtschaft, für Ernährungswirtschaft
und für kluge Verbraucherpolitik.
Ich bitte Sie um nichts anderes: Lassen Sie ab von
dieser sogenannten Wende, die da kommen muss! Lassen Sie uns vielmehr darauf hinarbeiten, die Dinge miteinander positiv weiterzuentwickeln. Meiner Meinung
nach ist dies auch meine Aufgabe als Vorsitzender des
Ausschusses.
({5})
Trotzdem lehne ich die von Ihnen eingebrachten Anträge
wegen Diskriminierung der Bauern und wegen Diskriminierung der Ernährungswirtschaft ab.
({6})
Aber wir werden uns weiterhin mit dem Thema beschäftigen. Ich freue mich, wenn Sie demnächst unserem Vorschlag zum Arzneimittelgesetz und unserem Vorschlag
zum Baugesetzbuch zustimmen werden.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Dorothée Menzner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die unhaltbaren Zustände in der Massentierhaltung,
({0})
von denen wir hier heute reden, sind in Niedersachsen
besonders gut zu studieren. Das wurde bereits angesprochen.
({1})
Etwa jedes fünfte Rind, jede dritte Legehenne und jedes dritte Schwein in Deutschland verbringt sein Leben
in Niedersachsen. Eine Schlüsselrolle spielt die Geflügelzucht. Rund 36,5 Millionen Tiere, Schlacht- und
Mastgeflügel, leben bei uns; das ist deutlich mehr als die
Hälfte des gesamtdeutschen Bestandes.
Die intensive Putenhaltung ist in Niedersachsen ein
Wachstumsbereich. Dadurch kommen die Haltungsbedingungen auch zunehmend mehr Menschen ins Bewusstsein und werden in der Öffentlichkeit diskutiert.
Die Tatsache, dass Puten nicht in der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufgeführt sind, hat zu skandalösen Zucht- und Haltungsbedingungen geführt.
Vielleicht erinnern Sie sich, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, noch an den Rücktritt der
niedersächsischen Agrarministerin Grotelüschen vor
zwei Jahren aus ebendiesem Grunde, aber auch daran,
dass die Vorsitzende des Niedersächsischen Tierschutzbundes im Dezember aus der CDU ausgetreten ist. Auslöser war, dass die CDU/FDP-Landesregierung bis heute
nicht bereit ist, für artgerechte Tierhaltung, insbesondere
auch bei Puten, zu sorgen.
Herr Lindemann, Frau Grotelüschens Nachfolger im
Ministeramt, betreibt nichts weiter als eine Beschwichtigungspolitik. Das brutale Schnäbelkürzen bei Puten will
er bis 2018 weiterhin erlauben. So lange also sollen weiterhin drei bis zu 20 Kilogramm schwere Puten zusammengepfercht auf 1 Quadratmeter leben? Weniger Platz
bedeutet auch - wir haben es hier schon gehört - mehr
Antibiotika. Ich finde, das ist eine Schande für eine Partei, die von sich behauptet, der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet zu sein.
({2})
In Wahrheit geht es um die Bewahrung des Profits für
Agrarkonzerne, die in Deutschland die Nutztierhaltung
in eine verhängnisvolle Sackgasse getrieben haben. Freiwillig - das zeigen die Erfahrungen - werden diese Konzerne bei der Profitmaximierung auf keinen Cent verzichten. Also ist Politik gefordert, Rahmenbedingungen
zu setzen und dieser Fehlentwicklung Einhalt zu gebieten.
({3})
Wenn Politik nicht in der Lage oder nicht willens ist,
dies zu tun, dann gehört sie abgewählt.
({4})
Solch ein Wechsel ist auch in Niedersachsen, in der niedersächsischen Agrarpolitik dringend notwendig;
({5})
denn die Verbraucher wollen diese Art von Haltungsbedingungen, bei denen einem nur der Appetit vergehen
kann, nicht.
Jetzt erzählen Sie mir bitte nicht, dass die Leute nicht
bereit wären, einige Cent mehr pro Kilo zu zahlen! Die
Krux ist vielmehr, dass viele sich das nicht leisten können. Wir müssen uns wirklich einmal fragen, wie wir das
verändern wollen. Die Krux ist eine Politik von Lohnraub und Sozialdumping, die die Menschen nicht in die
Lage versetzt, faire Preise für gute und gesunde Lebensmittel und artgerecht erzeugtes Fleisch zu zahlen.
({6})
Nicht zuletzt deswegen fordert die Linke einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde.
({7})
Abschließend: Der Antrag der Grünen zu den Haltungsbedingungen für Puten geht in die richtige Richtung. Die sechs Punkte, die vorgeschlagen werden, halten wir für richtig, und Sie haben unsere Unterstützung,
auch wenn man Konsequenzen aus unserer Sicht noch
deutlicher formulieren müsste.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir brauchen unbedingt eine verlässliche Haltungsverordnung für Puten und andere Nutztiere, für die es
bisher keine solche Verordnung gibt; sonst bleibt das ein
Abarbeiten an Symptomen. Das Problem der industriellen Massentierhaltung muss aber generell auf den Prüfstand. Dafür stehen wir. Ich finde, Niedersachsen sollte
damit anfangen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Für eine
neue Haltung - Artgerecht statt massenhaft“ ist der Titel
eines unserer Anträge. Wer von Ihnen je einen Blick in
eine Tierfabrik werfen konnte, wer je mit den Menschen
in den von der Agrarindustrie betroffenen Dörfern gesprochen hat, der weiß, dass wir eine neue, bessere, artgerechte, unserer Zivilisation angemessene und unserem
Grundgesetz entsprechende Haltung unserer Tiere dringend brauchen.
({0})
Es kann nicht sein, dass überall die Menschen gegen Tierfabriken auf die Straße gehen und es gleichzeitig in Ihrer
Regierungszeit eine exorbitante Zunahme der Massentierhaltung gibt: viele Millionen neue Hühnchenplätze in
Niedersachsen, allein 3 Millionen im Kreis Vechta.
Aber zu einer neuen Haltung gehört auch eine neue
Haltung in der Agrarpolitik.
({1})
Es kann nicht sein, dass die Volksparteien CDU und
CSU sich bei einem so wichtigen Thema wie der Landwirtschaft vollständig dem Deutschen Bauernverband
ausliefern.
({2})
Egal ob Tierschutz-Label, Tierschutzgesetz oder Agrarreform - es gilt doch immer noch der eine Satz, den
Ministerin Aigner zu Beginn ihrer Amtszeit geprägt hat:
Wir machen nichts, was der Bauernverband nicht will. Wie ehrlich!
({3})
- So ist es.
Meine Damen und Herren, mit dieser Haltung machen Sie die bäuerlichen Betriebe in Deutschland kaputt.
35 Bauernhöfe am Tag machen zu. Sie wollen, dass weiterhin 80 Prozent der EU-Gelder an 20 Prozent der
Großbetriebe gehen und die Masse der bäuerlichen Betriebe entsprechend benachteiligt wird. Sie verweigern
den Bäuerinnen und Bauern die Honorierung ihrer
Umweltleistungen. Sie hängen einer aberwitzigen Billigfleischexport-Ideologie an und treiben damit die Tierhaltung immer tiefer in die Sackgasse der Massentierhaltung.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns
gerade in einer entscheidenden Phase, was die nächsten
sieben Jahre Gemeinsamer Agrarpolitik in der EU angeht. Die Menschen draußen wollen eine echte grüne
Reform und sind bereit, dafür weiterhin Steuergeld zu
geben. „Öffentliche Gelder für öffentliche Leistungen“,
das ist das Grundprinzip der GAP. Wir brauchen jetzt ein
wirksames und verbindliches Greening. Wir brauchen
jetzt eine Stärkung der zweiten Säule. Wir brauchen eine
gerechtere Verteilung der Gelder.
({5})
Frau Aigner aber ist bei dieser Reform leider ein Totalausfall. Wir fordern daher die Bundeskanzlerin auf:
Frau Merkel, hören Sie auf die Menschen, die am Samstag wieder unter dem Motto „Wir haben Agrarindustrie
satt!“ bei Ihnen vor dem Kanzleramt demonstrieren werden!
Setzen Sie die Forderungen der Menschen und die
Forderungen der Imker, die diese Ihnen heute mitgegeben haben, beim EU-Gipfel im Februar um. Sie haben
die Richtlinienkompetenz und tragen die Verantwortung
für eine echte Reform, für eine bessere Agrarpolitik und
für die bäuerliche Landwirtschaft. Das erwartet die Gesellschaft von Ihnen.
({6})
Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher
auf der Tribüne! Herr Ostendorff, wenn man über andere
Personen etwas behauptet - Sie haben sich zu Frau
Aigner geäußert -, dann sollte es der Wahrheit entsprechen, gerade wenn es um das Thema Gemeinsame
Agrarpolitik geht. Das will ich an dieser Stelle deutlich
sagen.
({0})
Ich bin unserer Ministerin Ilse Aigner sehr dankbar,
({1})
dass sie gemeinsam mit Frau Merkel bei den GAP-Verhandlungen alles tut, um deutsche Interessen zu wahren.
Bei Ihren Anmerkungen hat man immer wieder den Eindruck, dass Ihnen deutsche Interessen abhandengekommen sind. Das wird bei Ihren Äußerungen offensichtlich.
({2})
In Ihren Anträgen beschreiben Sie skandalöse Zustände. Der eigentliche Skandal ist das, was Sie uns in
Ihren Anträgen inhaltlich zumuten: pauschale Verunglimpfung und Diffamierung unserer deutschen Landwirtschaft. Das ist so. Lesen Sie es nach: Verbote, Bevormundung, Gängelung. Ich frage mich, was das für
eine Geisteshaltung ist. Trauen Sie den Menschen in
Deutschland überhaupt nichts mehr zu? Welches Gesellschaftsbild haben Sie? Ich sage Ihnen deutlich - Frau
Aigner hat es richtig festgestellt -: Mit Ihren detaillierten
Forderungen in Ihren Anträgen legen Sie die Axt an die
deutsche Landwirtschaft.
({3})
Und zwar schaden Sie den kleinen Betrieben in Deutschland, nicht den großen. Das, was Sie einfordern, ist fatal.
({4})
Ich sage deutlich: Wir haben es satt, dass Sie jedes
Jahr zur Internationalen Grünen Woche versuchen, gemeinsam mit Ihnen nahestehenden Lobbyorganisationen
einen Skandal zu inszenieren, um daraus politisches Kapital zu schlagen.
({5})
Offensichtlich hat sich das bei Ihnen zu einem Geschäftsmodell entwickelt. Ich persönlich finde es unanständig. Die Leute werden es merken. Es ist viel zu
durchsichtig. Mein Appell ist: Lassen Sie uns mehr an
der Sache arbeiten.
Wir haben es auch satt, dass Sie mit absurden Fantasien und Utopien heute Wahlkampf machen. Herr
Miersch hat deutlich gesagt: Heute ist Wahlkampf. Das
war seine Äußerung vor wenigen Minuten. Ich finde, damit werden Sie der Ernsthaftigkeit dieses Parlamentes
nicht gerecht und erst recht nicht der Belange der deutschen Bauern.
({6})
Es gibt über 300 000 landwirtschaftliche Betriebe in
Deutschland. Davon beschäftigen sich über 200 000 Betriebe mit Tierhaltung, und das 365 Tage im Jahr, Tag für
Tag. Dann kommen einige daher und meinen, sie wissen
vom Sofa aus alles besser. Wo kommen wir da hin? Das
kann doch wohl nicht wahr sein.
({7})
Ich würde mir wünschen, dass auch Sie die großartigen Leistungen der landwirtschaftlich tätigen Familien
in Deutschland endlich einmal anerkennen und ihnen
Respekt entgegenbringen.
({8})
Unsere Bauern haben das verdient.
({9})
Sie sichern in Deutschland mit 5 Millionen Arbeitskräften nicht nur jeden achten Arbeitsplatz, sondern bringen
auch einen großen sozialen Beitrag. Ich erziele als Bauer
auch lieber höhere Preise. Aber - da Sie immer wieder
von sozialer Verantwortung sprechen -: Sagen Sie den
Menschen zu den Forderungen in Ihren Anträgen offen
und ehrlich, dass Sie eine Vervielfachung der Preise wollen.
({10})
Wo bleibt da bitte schön Ihre soziale Verantwortung, die
Sie für die Menschen haben sollten?
Sie fordern mehr Tierschutz, allerdings mit Verboten
und Bevormundungen - anders kennt man das nicht -,
ohne jedoch tatsächliche Lösungen beispielsweise für
Tierhaltungen oder bei Tiertransportzeiten zu bieten.
Soll der Bauer in Schleswig-Holstein seine Tiere denn
nur noch an einen Abnehmer verkaufen können? Ist dies
wirklich eine Lösung für kleinere Betriebe?
Ich will noch einmal im Namen unserer Bauern klarstellen: In Deutschland haben wir im Bereich der Tierhaltung die höchsten Standards, und zwar weltweit.
Dennoch wollen auch wir mehr Tierschutz. Der ChartaProzess ist angesprochen worden. Wir suchen den offenen Dialog mit unserer Gesellschaft. Wir wollen unsere
Spitzenposition weiter ausbauen.
({11})
Der Unterschied ist jedoch: Sie wollen Verbote, wir
hingegen bieten Lösungen. Wir entwickeln tatsächliche
Lösungen, und zwar zusammen mit der betroffenen
Landwirtschaft und mit der Forschung. Der Haushalt ist
gerade verabschiedet worden; darin sind für die nächsten
Jahre 21 Millionen Euro mehr für Tierschutzforschung
eingestellt. Daran sehen Sie: Sie reden, wir handeln.
({12})
Würden Sie mit Ihren Vorstellungen durchkommen,
meine Damen und Herren, dann befeuerten Sie den
Strukturwandel in einer Art und Weise, die gerade für
kleinere Betriebe nicht auszuhalten wäre. Das wollen
wir jedenfalls nicht.
Sie nehmen auch keine Rücksicht auf europäische
Standards. Vielmehr nehmen Sie billigend in Kauf, dass
die Tierhaltung in andere Länder verlagert wird.
({13})
Im Übrigen erweisen Sie dem Tierschutz damit einen
Bärendienst,
({14})
und Sie fügen unserer Volkswirtschaft einen riesengroßen Schaden zu. Sie haben offensichtlich kein Problem
mit einem Ausverkauf der deutschen Landwirtschaft.
Im Gegensatz zu Ihnen entwickeln wir den Tierschutz
gemeinsam mit der Forschung, mit der Wissenschaft,
aber auch mit den Landwirten. Sie behaupten, Intensivtierhaltung fördere den Klimawandel. Eines habe ich in
der Grundschule gelernt: Wenn zwei Kühe je 5 000 Liter
Milch im Jahr geben, dann erzeugen sie mehr Methanemissionen als eine Kuh, die 10 000 Liter gibt.
({15})
Ich will gar nicht behaupten, dass 10 000 Liter der
richtige Wert ist. Wenn wir jedoch über Ressourceneffizienz sprechen, dann muss man hierüber doch vernünftig
und sachlich diskutieren dürfen - auch mit Ihnen, wie
ich hoffe. Sie wollen Stallbauten ab einer bestimmten
Größenordnung verbieten, bzw. Sie wollen den berühmten § 201 BauGB ändern, und zwar dahin gehend, dass
die Flächen tatsächlich bewirtschaftet werden müssen
und nicht nur theoretisch, so wie es die Gesetzeslage
heute ermöglicht und wie es von den Landwirten in Kooperation mit den Berufskollegen gemacht wird.
Begreifen Sie eigentlich nicht, dass dies das Aus gerade kleinerer Betriebe bedeuten würde? Frau Aigner hat
Beispiele von Betrieben mit einer Größe von 10, 30 oder
40 Hektar genannt. Diese Betriebe sind auf eine solche
Kooperation angewiesen.
({16})
Was bedeutet das denn? Sie reden immer von der Förderung kleinerer Betriebe, mit Ihren Vorschlägen jedoch
bewirken Sie das genaue Gegenteil. Ich finde das heuchlerisch. Wohin führt das denn? Damit würden wir ja zum
Großgrundbesitzertum zurückkehren. Das wollen wir als
christlich-liberale Koalition garantiert nicht.
({17})
Dann sprechen Sie von der Steuerung. Michael
Goldmann hat es richtig ausgeführt: Steuerung ist bereits
heute möglich. Gabi, du kennst diese Beispiele auch.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Ende, Herr Präsident.
({0})
Es gibt positive Beispiele, die zeigen, dass es bereits
funktioniert. Auch wir wollen mehr kommunale Steuerung.
({1})
Der Kabinettsbeschluss existiert, die erste Lesung hat
stattgefunden, der parlamentarische Prozess ist in Gang.
Also tun Sie doch bitte schön nicht so, als würde gar
nichts passieren.
Herr Kollege!
Ihre Anträge sind gerade zum Beginn der Grünen Woche so zu erwarten gewesen. Sie sind eine Zumutung für
die deutsche Landwirtschaft. Lassen Sie uns die Grabenkämpfe beilegen und zu einem stärkeren Miteinander
finden.
Ein herzliches Dankeschön und eine schöne Grüne
Woche.
({0})
Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier eine
Zumutung für wen ist, mögen die Zuhörer entscheiden.
({0})
Heute haben hier seitens der CDU/CSU-Fraktion zwei
hochkarätige Funktionäre des Bauernverbandes gesprochen.
({1})
Unter den Vertretern der CDU/CSU, die hier heute Mittag neben der Ministerin geredet haben, waren der Präsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes und der Vizepräsident des niedersächsischen
Landesbauernverbandes.
({2})
- Das ist mit Sicherheit nicht unbedingt schlimm. Aber
man muss überlegen, welches Politikfeld man sich sucht.
Jedem ist klar, dass der Deutsche Bauernverband ein Interessenverband ist; er muss Interessen vertreten. Können Sie als Kollege die Argumentation, die Sie im Präsidium Ihres Verbandes vortragen, von dem unterscheiden,
was Sie hier im Bundestag vortragen, von dem, was Sie
als Abgeordneter an sich zu entscheiden haben?
({3})
Wenn die Debatte hier schon eskalieren soll, dann setze
ich in der Beziehung noch einen drauf, unabhängig von
den persönlichen Dingen. Ich achte natürlich Ihre Argumentation und auch Ihren Sachverstand. Aber ich
glaube, dass man da zwei Dinge auseinanderhalten
muss: Das eine ist die politische Aufgabe und Funktion,
die man wahrnimmt, das andere ist die Interessensvertretung in Verbänden. Das muss man einfach auseinanderhalten.
({4})
In diesem Zusammenhang ist sicherlich die Kompetenz
gefragt; ich gebe das zu bedenken, da die Diskussion
schon so erregt ist. Ich glaube, diese Auseinandersetzung, diese Debatte wird zwangsläufig immer vor der
Grünen Woche geführt.
Ich bin als Niedersachse natürlich stolz auf das, was
niedersächsische Landwirte leisten.
({5})
Es nützt niemandem, jemanden in die Ecke zu stellen
und ihm etwas zu unterstellen.
({6})
- Nein. Es geht konkret darum, dass die Politik im Dialog zwischen Gesellschaft und Landwirtschaft - es geht
um das Dreieck aus Landwirtschaft, Politik und Gesellschaft - gehalten ist, die richtigen Rahmenbedingungen
zu setzen,
({7})
damit es zu einem Ausgleich zwischen den Interessen
der Bürger vor Ort und der Landwirte kommt. Diese Interessen sind nicht immer identisch; das wissen auch Sie,
meine Damen und Herren. Das ist eben der Grund dafür,
dass man gesetzliche Regelungen braucht und man Gesetze novellieren muss. Es darf nicht alles so bleiben,
wie es ist. Aber Sie tragen vor: Es muss im Regelfalle
fast alles so bleiben, wie es ist.
({8})
Heute Abend sitzen wieder alle beim Bundesverband
Vieh und Fleisch. Da sitzen wir dann wieder vielleicht
mit den Herren zusammen, die in Deutschland im Bereich der Fleischbranche den Ton angeben: die Vertreter
von VION, von Tönnies usw. usf. Das hat schon etwas.
Aber die Herren hören offensichtlich nicht auf das, was
man ihnen vorträgt. Ich beobachte in dem Sektor eine
Oligopolisierung. Das kann nicht im Interesse der Landwirte sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Holzenkamp?
Selbstverständlich.
({0})
Herr Kollege Priesmeier, Sie haben eben ausgeführt,
dass wir gesagt hätten, es solle, was die Entwicklung angeht, alles so bleiben, wie es war; das haben Sie eben so
formuliert.
({0})
- Das haben Sie eben so formuliert. - Nehmen Sie zur
Kenntnis, was meine Kollegen und auch ich persönlich
zum Tierschutz gesagt haben? Wir haben festgestellt,
dass wir in Deutschland hohe Standards haben - das ist
richtig, das stimmt -, aber diese Standards weiterentwickeln wollen.
({1})
Wir wollen unsere Spitzenposition in der Welt und in Europa weiter ausbauen. Wir haben deshalb die Forschungsmittel wesentlich erhöht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass
wir den Tierschutz weiterentwickeln wollen
({2})
und hier die Forschung ganz stark mit einbeziehen!
Herr Kollege Holzenkamp, wenn Sie schon meiner
Rede zuhören, möchte ich Sie doch bitten, genau zuzuhören. Ich habe gesagt: „fast“. Der Begriff macht einen
Unterschied.
({0})
Ich finde es hervorragend, dass die Ansätze für die
Forschung erhöht worden sind. Aber die Anträge zum
Haushalt, die wir eingebracht haben, hätten dazu geführt, dass die Forschungsansätze wesentlich höher ausgefallen wären. Insofern glaube ich, dass wir auch da
den fortschrittlicheren Ansatz hatten; das müssen Sie mir
doch zugestehen.
({1})
Herr Kollege, das, was sich an den Strukturen im vorund nachgelagerten Bereich verändert, hat natürlich
Auswirkungen auf die Strukturen der Landwirtschaft
selber. Ich will im landwirtschaftlichen Bereich keine Investoren von irgendwo; die SPD will das nicht.
({2})
Wir wollen bäuerliche Betriebe, und wir wollen bäuerliches Kapital. Wir wollen kein Kapital aus Fonds, wir
wollen keine KTG und keine AGs. Das alles wollen wir
nicht.
({3})
Herr Kollege Holzenkamp, können Sie denn ausschließen, dass der Stall an der nächsten Ecke keinem anderen
gehört als dem, auf dessen Grund er steht und der damit
wirtschaftet? Das wissen auch Sie nicht. In diesem Sektor findet eine rasante Entwicklung statt. Das wissen Sie
genauso gut wie ich. Diese Strukturen muss man nicht
unbedingt befördern, schon gar nicht mit Bezahlung aus
öffentlichen Kassen und mit Subventionen.
({4})
Wir können stolz darauf sein, dass der Agrarsektor im
letzten Jahr eine Wertschöpfung von etwa 55 Milliarden
Euro erreicht hat, die Hälfte davon bedingt durch Tierhaltung und Veredelung. Da kann sich Deutschland
wirklich sehen lassen. Aber wir haben von den Vorrednern schon gehört, welche Probleme es in den verschiedenen Regionen gibt. Davor kann man die Augen doch
nicht verschließen.
({5})
Unterhalten Sie sich doch einmal mit den Vertretern des
Wasserverbandes und der Wasserbeschaffungsverbände
in einer bestimmten Region.
({6})
- Nein, gerade bei euch. Guck dir mal die Messergebnisse des Wassers aus den Brunnen in den Wassergewinnungsgebieten an.
({7})
Ich kann sie dir geben. Ich habe sie dabei; die bekommst
du von mir. Du brauchst gar nicht fragen.
({8})
Die Ergebnisse zeigen, wie stark die Nitratwerte in bestimmten Bereichen mittlerweile angestiegen sind. Der
Grundwasserkörper verdaut einiges; aber wenn wir so
weitermachen, dann können wir in bestimmten Bereichen in 20 bis 30 Jahren in der Tiefe kein Wasser mehr
gewinnen. Das ist einfach so.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Goldmann?
Na gut.
({0})
Lieber Wilhelm Priesmeier, lieber Kollege, es geht
ganz schnell. Das Wasser aus unserer Region ist Hümmling-Wasser - das ist dir wahrscheinlich bekannt -; damit wird die Stadt Bremen versorgt. Ist dir bekannt, dass
das Hümmling-Wasser das beste Wasser ist, das es auf
dem deutschen Markt gibt?
({0})
- Absolut; ihr habt die Zahlen bekommen. Ich habe die
Bilanz verteilt; darin steht: Hümmling-Wasser ist das
beste Wasser, das es gibt.
Sehr verehrter Herr Kollege, ich schätze das heimische Wasser und Ihres ganz besonders. Wenn ich das
nächste Mal in Ihrer Region bin, werde ich garantiert davon trinken.
({0})
- Die Frage ist gestellt; ich beantworte sie jetzt. - Es gibt
natürlich noch andere Wassergewinnungsgebiete, die
nicht im Hümmling liegen. Sie zeichnen sich dadurch
aus, dass sie in Zukunft erhebliche Probleme bekommen
werden, ganz abgesehen von den Bereichen, in denen
Stickstoff eingetragen wird und die überhaupt nicht kontrolliert werden. Niemand weiß, was dort unten passiert.
Das gebe ich zu bedenken.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Der Wasserverbandstag Bremen, Niedersachsen und SachsenAnhalt hat das bereits angemeldet. Grund dafür war eine
entsprechende Initiative der niedersächsischen Landesregierung, die das Problem erkannt hat. Wir müssen uns
aber auch auf Bundesebene diesen Problemen stellen
und darüber nachdenken, was überhaupt noch eingetragen werden darf und ob nicht baugesetzlich geprüft werden muss, ob die Flächen, die für neue Investitionen ausgewiesen sind, noch geeignet sind, die Stickstoff- und
Nitratfrachten aufzunehmen. Das sind sie nämlich nicht
mehr.
({1})
Das muss man gewärtigen, wenn man ökologische Verträglichkeit in einer landwirtschaftlich so schönen Region wie dem Oldenburger Münsterland gewährleisten
will.
({2})
Wir wollen in diesen Sektoren keine Strukturen, wie
wir sie aus anderen Ländern kennen. Der große amerikanische Konzern Smithfield ist ein Beispiel dafür, wie
man agrarische Produktion organisieren kann, nämlich
nicht horizontal mit vielen Betrieben, sondern im Regelfall vertikal. Da wird jemand zum Vertragsmäster, bindet
sich für eine bestimmte Zeit und schluckt das, was er
kriegt.
({3})
In den Bereichen der Geflügelwirtschaft und Geflügelmast ist es häufig nicht viel anders.
Bislang ist auf einem Markt produziert worden, der
aufgenommen hat. Die Nachfrage war nicht gedeckt,
und wir hatten in Bezug auf die Eigenversorgung einen
gewissen Nachholbedarf. Das ist aber schon lange nicht
mehr so. Die Marktbedingungen ändern sich zunehmend; die Marktsituation wird schwieriger. Jeder, der
heute in diesem Bereich investiert, sollte sich genau
überlegen, was er tut.
Ein weiteres Problem ist der Einsatz von Antibiotika,
der zu erheblichen Debatten geführt hat. Wir brauchen
eine dezidierte Regelung, ein Antibiotika-Minimierungskonzept,
({4})
das sicherstellt, dass durch resistente Keime aus Betrieben keine Gesundheitsgefahren für die Gesellschaft bestehen, indem kontaminierte Lebensmittel gegessen oder
Keime verschleppt werden. Dafür brauchen wir - das ist
mir besonders wichtig - eine bundeseinheitliche Datenbank.
({5})
Das ist die wichtigste Voraussetzung für die Kontrolle.
Sie muss beim Bund, beim BMVEL, angesiedelt sein.
Sie muss unter Bundesverantwortung stehen, damit man
sich nicht in den föderalen Strukturen bewegen muss,
damit nicht jeder einem anderen die Verantwortung für
Dinge zuschieben kann, die er selber nicht kontrollieren
will. Damit muss Schluss sein. Das müssen wir umsetzen.
({6})
Ich habe dazu ein Gutachten des Wissenschaftlichen
Dienstes angefordert. Dieses belegt, dass der Bund diesbezüglich durchaus die Gesetzgebungskompetenz hat.
Wir fordern das jetzt ein. Wir werden im Rahmen der
weiteren Beratung des AMG entsprechende Änderungsanträge einbringen. Dann werden wir sehen, welchen
Wert Ihr Bekenntnis, für eine bessere Gesundheit und
weniger Antibiotika-Einsatz sorgen zu wollen, hat.
Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen viel Kraft für die Grüne Woche. Uns steht einiges bevor.
({7})
Das Wort hat nun Hans-Georg von der Marwitz für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Alle Jahre wieder, pünktlich zur Eröffnung der Grünen
Woche, kommt - das ist so sicher wie das Amen in der
Kirche - ein Lebensmittelskandal: Dioxin-Eier, Antibiotika im Geflügelfleisch, Keime im Schweinemett etc.
Die Berichte sind aufgemacht mit eindrücklichen Bildern und Horrormeldungen, die von Ihnen, von der Opposition, gerne aufgenommen werden, um uns, den Regierungsparteien, schuldhaftes Handeln zu unterstellen.
Aber diese Themen taugen nicht, um sich politisch zu
profilieren.
({0})
Auch in Ihrer Regierungszeit kamen regelmäßig
Skandale an die Öffentlichkeit - ich darf Sie daran erinnern -: BSE-Krise, Nitrofen-Skandal, Hygienemängel
und Umetikettierung bei Frischfleisch. Frau Künast, Ihre
Antwort war die Schwerpunktlegung auf den Verbraucherschutz.
({1})
Die Frage drängt sich auf: Vor wem wollten Sie die Verbraucher schützen? Waren die Landwirte Ihr Feindbild?
Ihre heutigen Anträge sind teilweise interessant. Nur
wundere ich mich, dass Sie in sieben Jahren Regierungszeit keine Möglichkeit sahen, die schon damals bekannten Entwicklungen zu beeinflussen.
({2})
Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Ein typisches Beispiel ist die Einführung des
Biosiegels, das dazu führte, dass die hochwertigen Standards der Anbauverbände wie Demeter, Bioland und Naturland unterlaufen wurden. Wirklich gefördert haben
Sie in Ihrer Amtszeit, liebe Frau Künast, vor allem die
Polarisierung zwischen uns Landwirten und den Verbrauchern.
({3})
Auch wir, die Regierungsfraktionen, sind alles andere
als glücklich über viele Entwicklungen in der europäischen Landwirtschaft.
({4})
Darüber müssen wir uns sicher auch in unseren eigenen
Reihen Gedanken machen. Viele von uns sehen mit
Sorge den zunehmenden Einsatz von Antibiotika in der
Geflügel- und Schweinemast, die immer größeren Masteinheiten und den Strukturwandel weg vom bäuerlichen
Familienbetrieb hin zu anonymen Agrargesellschaften.
Liebe Freunde, dieses Argument habt ihr nicht gepachtet. Das ist tatsächlich und gerade für mich, der ich aus
dem ostdeutschen Raum stamme, ein massives Problem.
Die heute diskutierten Themen wie Antibiotika-Reduktion, artgerechte Tierhaltung oder Erhaltung mittelständischer Produktionsstrukturen werden von der Bundesregierung bereits ausdrücklich und aktiv angegangen,
auch bezogen auf das Arzneimittelgesetz und den Tierschutz.
Gerade die Entwicklung bei uns in Ostdeutschland ist
spannend. Ein kurzer Einblick: Neulich wurde mir im
Supermarkt ein Hähnchen für 3,79 Euro angeboten.
({5})
Was ist bei diesem Preis vom Erzeuger noch zu erwarten, wenn die Brütereien, die Futtermittelhersteller, die
Tierärzte, die Arbeitskräfte, die Schlachtereien, der
Großhandel, der Einzelhandel und nicht zuletzt die Banken ihre Kosten und Gewinnmargen in Rechnung stellen?
({6})
Diese Frage müssen wir genauso wie viele andere stellen. Eine Antwort, die bedenklich ist, lautet: größere,
saubere und rationeller zu bewirtschaftende Masteinheiten. Das ist bei uns in Ostdeutschland eine ganz andere
Thematik als bei Ihnen in Niedersachsen oder Westfalen.
({7})
Diese Masteinheiten sollen so groß sein, dass selbst uns
Landwirten schwindelig wird.
In den neuen Bundesländern, besonders in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt,
vollzieht sich ein in Deutschland noch nie dagewesener
Strukturwandel in der Landwirtschaft.
({8})
Agrargesellschaften, aber auch Einzelunternehmen mit
mehreren Tausend Hektar bzw. riesigen Tierhaltungsanlagen schießen wie Pilze aus dem Boden. Diesen Betrieben wird mit herkömmlichen Steuerungsmechanismen
wie GVE-Besatz - § 35 BauGB, Bauen im Außenbereich - oder BImSchV nicht mehr beizukommen sein.
Insofern besteht dort Handlungsbedarf.
In meiner Nachbarschaft laufen derzeit zwei Genehmigungsverfahren für insgesamt 860 000 Hähnchenmastplätze. Das entspricht einer Jahresproduktion von
mindestens 8 Millionen Hähnchen. Sie können davon
ausgehen, dass in diesen Anlagen der Einsatz von Antibiotika eher geringer sein wird als in kleinen und alten
Mastanlagen. Moderne Luftreinigung, Klimasteuerung
und keimabweisende Baumaterialien sorgen für einen
ziemlich reibungslosen Mastverlauf. Mit massivem Widerstand aus der Bevölkerung müssen Investoren in den
ländlichen Räumen Ostdeutschlands kaum rechnen, zumal sie alle Auflagen erfüllen werden.
Meine Damen und Herren, ich will diesen Anlagen in
keiner Weise das Wort reden, ganz im Gegenteil. Ich
komme aber an den Tatsachen nicht vorbei. Diese Megabetriebe werden deine Forderung, Friedrich Ostendorff
- übrigens noch einmal herzlichen Glückwunsch zu deinem 60. Geburtstag -,
({9})
die Bestandsdichten zu reduzieren, viel leichter umsetzen können als die vielen bäuerlichen Betriebe, ganz einfach deshalb, weil unsere Strukturen das zulassen.
({10})
Überhaupt sind Ihre Antworten, meine Damen und
Herren der Opposition, auf die drängenden Fragen dieser
Entwicklungen ausgesprochen dünn. Sie beschränken
sich darauf, einen Keil in die Landwirtschaftsbranche zu
treiben und sie in „Öko-gut“ und „Konventionell-böse“
zu unterteilen.
({11})
Ihr Verhalten ist alles andere als zielführend. Wir brauchen die Kräfte aller Akteure in der Landwirtschaft, um
den Strukturwandel zu begrenzen und die Rahmenbedingungen zu verbessern, zumal die Unterscheidungskriterien nicht wirklich nachvollziehbar sind. Gibt es nicht
auch im Ökolandbau längst Massentierhaltung?
({12})
Was ist tatsächlich artgerecht? Selbst die Haltung meiner
3 000 Biohühner im Allgäu war zwar den Auflagen des
Naturland-Verbandes konform, aber eben nicht artgerecht. Auch ich kam nicht umhin, erkrankte Bestände zu
behandeln und Aggressivität durch Lichtmanipulation zu
dämpfen.
Nein, meine Damen und Herren, die Vorstellung der
Verbraucher über die - nie dagewesene - bäuerliche
Idylle gehört in die Welt der Fabeln und Märchen
({13})
oder in die so farbenfrohen Magazine, die die Sehnsüchte der Verbraucher, vollkommen an der Realität vorbei, bedienen. Solange die Wunschvorstellungen und das
Handeln der Verbraucher im krassen Gegensatz steht,
wird es weiterhin bei vielen Lippenbekenntnissen bleiben. Ich komme nicht umhin, auch an Ihre Verantwortung, verehrte Verbraucherinnen und Verbraucher, zu appellieren: Wer sich beim Einkauf gedankenlos verhält,
darf sich nicht über Massentierhaltung oder nicht artgerechte Haltung beschweren.
Wenn wir tatsächlich andere als sich jetzt entwickelnde Agrarstrukturen wünschen, dann hätten wir in
diesem Jahr die besten Möglichkeiten, zu handeln.
({14})
Die GAP-Reform ist ein zentrales Steuerungsinstrument,
das uns in der Politik noch bleibt.
({15})
Meine Forderungen gehen, wie Sie wissen, mittlerweile
recht weit. Wenn wir wieder die fachliche Kompetenz
der Landwirte in den Mittelpunkt stellen, bürokratische
Monster abbauen und subventionsoptimiertes Wirtschaften vor allem bei uns unterbinden wollen, muss es erlaubt sein, über den mittelfristigen Ausstieg oder die
Umstrukturierung der ersten Säule bis 2020 nachzudenken.
({16})
Natürlich können wir in der Zeit frei werdende Mittel in
die Förderung von Existenzgründungen stecken oder
auch über Haltungsmethoden nachdenken. Allerdings
geht das nur im Zusammenspiel mit Brüssel. Ein Alleingang Deutschlands würde - das wissen Sie genau - nur
zur Verlagerung der Mastanlagen ins Ausland führen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Ende. Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, entscheidend ist, erstens
alle möglichen Folgen potenzieller Maßnahmen im
Blick zu haben und zweitens die Praktikabilität der Forderungen zu überprüfen. Die ausführliche Diskussion
zum Tierschutzgesetz hat es bereits deutlich gemacht:
Reiner Aktionismus ist nicht hinnehmbar.
({0})
Ich bin überzeugt, dass familiengeführte Landwirtschaftsbetriebe ein existenzielles Bedürfnis haben, dem
Tierwohl und dem Verbraucherschutz gleichermaßen gerecht zu werden. Insofern sollten diese Betriebe im Mittelpunkt der Diskussion um ein landwirtschaftliches
Leitbild stehen. Die Grüne Woche bietet die Gelegenheit, das Thema „Landwirtschaft“ öffentlichkeitswirksam, vor allem aber konstruktiv zu diskutieren.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Über die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 17/12056 und 17/11879 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse haben wir vorhin schon
abgestimmt.1)
Damit kommen wir zu den weiteren Abstimmungen,
und zwar zunächst zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak-
tion der SPD mit dem Titel „Antibiotika-Einsatz in der
Tierhaltung senken und eine wirksame Reduktionsstrate-
gie umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8611, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8157
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppo-
sitionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak-
1) siehe Seite 26627 D
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
tion Die Linke mit dem Titel „Landwirtschaftliche
Nutztierhaltung tierschutzgerecht, sozial und ökologisch gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11817, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10694
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei
Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Haltungsbedingungen für Puten
verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12048, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11667 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen
Kabinettssitzung mitgeteilt: Luftfahrtstrategie der Bundesregierung.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und Koordinator der Bundesregierung für Luft- und Raumfahrt,
Peter Hintze. Bitte schön, Kollege Hintze.
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Weltluftfahrt wächst kontinuierlich. Darin liegt eine große Chance für Hersteller,
Zulieferer und Wartungsdienstleister sowie für den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt, an diesem Hochtechnologiebereich wirtschaftlich und technisch zu partizipieren. Darin liegt auch eine große Chance für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf zukunftssichere und qualifizierte Arbeitsplätze in allen Bundesländern, aber insbesondere in Hamburg, Niedersachsen,
Bremen und Bayern, wo die Schwerpunkte der Hersteller und Zulieferer im Bereich der Luftfahrt liegen; viele
kleine und mittlere Unternehmen befinden sich aber
auch in den anderen Ländern.
Eine Chance bietet sich auch dadurch, dass der Luftverkehr hinsichtlich des Klimaschutzes global einen
großen Beitrag leisten möchte und leisten muss. Eine
Herausforderung besteht bei der Entwicklung neuer
Flugzeuge im Hinblick auf die Energieeffizienz und den
Ausstoß von Kohlenstoffdioxid. Die Internationale
Zivilluftfahrt-Organisation hat sich als Ziel gesetzt, den
gesamten CO2-Ausstoß der zivilen Weltluftfahrt bis zum
Jahre 2050 im Vergleich zu 2005 zu halbieren, also
50 Prozent weniger CO2-Ausstoß trotz wachsenden
Luftverkehrs. Sie hat sich weiterhin zum Ziel gesetzt,
das weitere Wachstum des Weltluftverkehrs ab 2020
CO2-neutral zu gestalten. Das sind mächtige Herausforderungen; aber darin liegen natürlich auch Chancen für
die Hersteller von Flugzeugen, Systemen und Subsystemen, die diese Ergebnisse ermöglichen sollen.
Das Ziel der Luftfahrtstrategie der Bundesregierung
ist also, dass der Luftfahrtstandort Deutschland mit
seinem Weltkonzern Airbus, der hier ein wichtiges
Standbein hat, und mit seiner tief gestaffelten Zulieferindustrie einen Beitrag für die Entwicklung sicherer, energieeffizienter, umweltfreundlicher und leiserer Flugzeuge leistet. Das Ganze geschieht im Kontext einer
großen technologischen Revolution. Wir sind beim Flugzeugbau dabei, den Sprung vom Metall- ins Kunststoffzeitalter zu schaffen. Kohlefaserverstärkte Kunststoffe,
die Flugzeuge leichter machen und sie energieeffizienter
fliegen lassen, werden beim Flugzeugbau eingesetzt. Bei
der Boeing 787, dem Dreamliner, ist das schon der Fall,
beim Airbus A350 wird es folgen.
Ab und zu liest man in der Zeitung oder, wie heute,
im Internet, dass bei dem neuen Flugzeug, das Boeing
auf den Weltmarkt gebracht hat, das eine oder andere
Problem identifiziert wurde. Wenn Sie sich die
Geschichte der Luftfahrt anschauen, stellen Sie fest, dass
es am Anfang bei allen großen Neuentwicklungen, ob
damals bei der Boeing 747 oder bei anderen Flugzeugen,
immer die eine oder andere Anlaufschwierigkeit gab;
das war auch beim Airbus A380 der Fall. Das gehört bei
großen Neuentwicklungen dazu, zumal diese Entwicklungen immer komplexer werden. Dennoch glaube ich,
dass dieser Weg insgesamt erfolgreich sein wird.
Ich werde gleich noch darauf zu sprechen kommen,
dass die Entwicklung zum Leichtbau im Luftverkehr
auch positive Auswirkungen hat, zum Beispiel im Hinblick auf die Energieeffizienz und unsere CO2-Reduktionsziele etwa im Straßenverkehr, also bei Pkw. Die
Bayerischen Motoren Werke haben bereits im vergangenen Jahr als erstes Unternehmen damit angefangen, ein
Fahrzeug ganz auf CFK-Basis zu produzieren; in diesem
Jahr soll es auf den Markt gebracht werden. Auch wenn
Kollege Riesenhuber mich immer ermahnt, nicht zu sehr
auf die Spill-over-Effekte zu schauen, muss ich sagen:
Im Bereich der Materialentwicklung ist ein mächtiger
Spill-over-Effekt zu verzeichnen, was den Einsatz von
CFK-Werkstoffen im Automobilbereich betrifft.
Was bedeutet die Luftfahrtstrategie konkret für
Deutschland? Es geht darum, dass wir uns im Hinblick
auf den nächsten Technologiesprung, der in der Luftfahrtindustrie ansteht, positionieren; es geht um die neue
Flugzeuggeneration. Die Flugzeuge, mit denen wir heutzutage fliegen - der Airbus A320 bzw. die 200er-Serie -,
hatten ihren Erstflug 1987, und sie werden, wie ich
denke, bis 2025 fliegen. Das sind fast vier Jahrzehnte.
Das, was heute entwickelt wird, hat also für fast ein halbes Jahrhundert Bedeutung. Das betrifft nicht nur die
Entwicklung, sondern auch die spätere Produktion. Für
die OEMs, also die Flugzeughersteller, wie für die Zulieferer bedeutet es für mehrere Jahrzehnte Geschäft, wenn
die Weichen heute richtig gestellt werden. Wir wollen
eine tief gestaffelte Wertschöpfungskette in Deutschland
erhalten, und wir wollen - das ist ganz wichtig - den
Zusammenhang zwischen Forschung, Entwicklung und
industrieller Produktion betonen.
Manchmal erleben Sie vielleicht, dass ich im lebendigen Austausch mit den Herstellern bin. Dabei wird immer wieder deutlich: Produktion ist wichtig, aber
Forschung und Entwicklung sind sehr wichtig; denn
davon hängt ab, ob Deutschland in Zukunft ein Hightechstandort bleibt und ob wir sicherstellen können, dass
der Zusammenhang zwischen Forschung, Entwicklung
und industrieller Produktion auf Dauer beachtet wird.
Herr Kollege, die fünf Minuten sind abgelaufen.
Ich habe es befürchtet, Herr Präsident.
Vielleicht können Sie in Ihren Antworten stückweise
mitteilen, was Sie sich notiert haben.
Ich habe im Wesentlichen noch nicht damit angefangen.
({0})
Ich bin aber sicher, Herr Präsident, dass so viele kluge
und sachverständige Fragen gestellt werden, dass ich die
wichtigsten Inhalte noch werde ansprechen können.
Diese Materie ist komplex. Von Albert Einstein - Herr
Präsident, wenn Sie diese Bemerkung noch gestatten
- stammt ja der Satz: Man soll die Dinge so einfach wie
möglich machen, aber nicht einfacher. - Das ist in fünf
Minuten manchmal schwierig.
Ja, aber wir haben uns diese strengen Regeln gegeben, und sie gelten auch für die Antworten. Sie sollten
immer eine Minute Redezeit einhalten, auch wenn das
schwierig ist.
Ich bemühe mich, Herr Präsident.
Jetzt kommen wir zu den Fragen zu dem Themenbereich, der gerade angesprochen worden ist. Ich bitte
Sie, kurze Fragen zu stellen.
Zunächst Kollegin Schwarzelühr-Sutter, dann Kollege Lindner.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Ihr Wort in Gottes
Ohr! Der Luftverkehrswirtschaft haben Sie in Ihrem
Papier zur Luftfahrtstrategie, wenn überhaupt, nur ein
kleines Kapitelchen gewidmet. Sie konzentrieren sich
auf die Luftfahrtindustrie, aber nicht auf die Luftverkehrswirtschaft. Diese braucht allerdings besondere
Unterstützung, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ich möchte nachfragen: Welchen Stellenwert hat für
Sie die Luftverkehrswirtschaft, haben unsere Carrier, die
international erfolgreich bleiben müssen, um auch in Zukunft Maschinen kaufen und investieren zu können? Das
kommt mir in Ihrer Beschreibung viel zu kurz. Das, was
Sie sagten, waren eher Lippenbekenntnisse zur Luftverkehrswirtschaft; es war aber eigentlich keine Strategie.
Frau Kollegin, die Analyse war korrekt, die Bewertung lieblos und inkorrekt. Ich will mit einer Kritik an
der Bundesregierung beginnen: Es müsste vielleicht in
der Tat heißen: „Luftfahrzeugherstellerstrategie“ - mit
all dem, was dazugehört. Es geht hier um die Industrie,
die Luftverkehrsflugzeuge herstellt, die Zulieferindustrie, die Maintenance-Dienstleister. Es geht nicht um die
Luftverkehrswirtschaft, also um die Fluggesellschaften
und die Flughäfen. Zu diesem Bereich wird der Bundesverkehrsminister - er ist im Rahmen der Geschäftsverteilung innerhalb der Bundesregierung dafür zuständig - eine eigene Strategie vorlegen. - Ich gebe Ihnen
recht: Auch die Luftverkehrswirtschaft ist bedeutend
und wichtig; aber sie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht Gegenstand der Beschlussfassung.
Kollege Lindner, bitte.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrem
Beitrag die Themen Emissionen, Lärm und Verbrauch
erwähnt. Es wundert mich deshalb etwas, dass es mir
nicht gelungen ist, diese Begriffe in der Pressemitteilung
des BMWi vom heutigen Tage zu finden.
Ich möchte Sie deshalb zum einen fragen, durch welche Maßnahmen Sie im Rahmen Ihrer Strategie auf der
Herstellerseite - im Bereich Forschung, Entwicklung,
Herstellung - Anreize setzen wollen bzw. ob Sie regulatorische Schritte gehen wollen, um Lärm, Verbrauch und
Schadstoffe zu mindern, und zum anderen, inwieweit Sie
sicherstellen wollen, dass solche Luftfahrzeuge von den
Luftfahrtunternehmen auch nachgefragt werden.
Herr Staatssekretär.
Die Reduktion von Emissionen, die Erhöhung der
Energieeffizienz und die Umweltfreundlichkeit der
Flugzeuge sind überhaupt die Voraussetzungen dafür,
dass eine neue Generation von Luftfahrzeugen entsteht;
denn wenn die neue Generation das nicht leistet, wäre
sie überflüssig.
Sie fragen, was für Anreize die Bundesregierung geben will. Wir wollen wie schon in dem jetzigen Aufruf
auch in dem neuen Aufruf des Luftfahrtforschungsprogramms bei diesen Themen einen Schwerpunkt setzen.
Ich weiß aus meinen Gesprächen mit der Industrie, dass
auch die Planung der Industrie genau darauf abzielt. Ich
bitte das Haus um Nachsicht, dass dieser wichtige Punkt,
den ich, um seine Bedeutung hervorzuheben, ganz am
Anfang meiner Ausführungen gebracht habe, in der
Presseerklärung des BMWi nicht auftaucht.
Kollege Tiefensee.
Sehr verehrter Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich noch einmal auf die Luftverkehrswirtschaft. In
Ihrem Bericht taucht das Stichwort „Luftverkehrsabgabe“ auf. Nach dem, was man hört, gibt der Bundesverkehrsminister auf einschlägigen Veranstaltungen zu,
dass er die Luftverkehrsabgabe nicht mag. Er heftet sie
dem Finanzminister ans Revers. Nun steht in Ihrem Bericht, dass Sie für wettbewerbsneutrale Bedingungen
sorgen wollen. Meine Frage ist: Wie beurteilen Sie die
Luftverkehrsabgabe vor diesem Hintergrund?
Die ADV, die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen, prognostiziert für 2013 nicht zuletzt
wegen dieser Abgabe einen deutlichen Einbruch des
Luftverkehrsgeschäftes. Wir sehen diesen Einbruch aktuell schon. Beurteilen Sie das ähnlich wie die ADV?
Was wollen Sie dagegen tun?
Ich möchte jetzt nicht darauf eingehen, was mein Kollege Kampeter, der Staatssekretär beim Bundesminister
der Finanzen, mir gerade zugerufen hat.
({0})
- Der Herr Staatssekretär aus dem Finanzministerium
war der Meinung, dass die Probleme des Berliner
Flughafens nicht durch die Luftverkehrsabgabe hervorgerufen wurden. - Das nur zur Herstellung der kommunikativen Offenheit hier im Plenum.
Erstens. Auch wenn wir diesen kleinen Hinweis gegeben haben, den wir im Hinblick auf unsere Hersteller
wichtig finden, beschäftigen wir uns in diesem Bericht
nicht mit der steuerlichen Behandlung des Luftverkehrs.
Ich bitte darum, diese Diskussion mit dem Bundesfinanzminister oder mit dem Bundesverkehrsminister zu
führen. Richtig ist, dass die Bundesregierung von der
Grundidee gleicher Wettbewerbsbedingungen ausgeht.
Ich kenne dieses Thema, wie Sie wissen, aus unseren
vielen Diskussionen aus dem Effeff. Wir könnten hier
noch einmal alle Argumente zu Pro oder Kontra austauschen; ich denke aber, das führt am heutigen Thema
vorbei.
Nun Stephan Kühn.
Sie haben angesprochen, dass die Bundesregierung
mit Forschungsmitteln unterstützen möchte, dass künftig
lärmärmere Flugzeuge auf den Markt kommen. Die
Frage ist immer, was sich auf dem Markt durchsetzt; das
hat etwas mit Standards zu tun. Halten Sie die internationalen Standards, die für Emissionen gelten und mit denen die Hersteller operieren müssen, für ausreichend, um
dieses Ziel zu erreichen, oder brauchen wir höhere Standards, damit die innovativen Hersteller, die lärmgeminderte Flugzeuge herstellen, tatsächlich einen Wettbewerb
vorfinden, in dem sich diese dann auch entsprechend
verkaufen lassen?
Herr Kollege, ich möchte Ihre Frage empirisch beantworten: Wenn wir uns die letzten vier Jahrzehnte im
Flugzeugbau anschauen, dann sehen wir, dass es eine
dramatisch erfolgreiche Lärmreduzierung gegeben hat.
Wenn ich das einmal kurz optisch beurteilen darf: Ich
bin geringfügig lebensälter als Sie.
({0})
- Zutreffend, ja. - Die Lärmreduzierung war dramatisch,
und auch die Industrie sagt, sie sei heute ein entscheidendes Verkaufsargument, weil überall auf der Welt die
Menschen zu Recht einfordern, dass die Lärmemissionen gering gehalten werden. Das ist also ein wirtschaftlicher Wert, der sich auch verkaufen lässt.
Es gibt aber ein technisches Dilemma in Bezug auf
die bisherigen Antriebskonzepte. Deswegen wollen wir
Geld investieren, wir wollen dieses Dilemma lösen. Bisherige Antriebskonzepte - Open-Rotor-Konzepte - arbeiten wesentlich ressourceneffizienter, sind im Hinblick
auf Lärmemissionen aber schlechter. Hier gibt es also
ein Dilemma zwischen CO2-Emissionen und Lärmemissionen. Deswegen wollen wir unsere klugen Ingenieure,
unsere Wissenschaftler, das Deutsche Zentrum für Luftund Raumfahrt, die Fraunhofer-Institute und die Universitäten mit gutem deutschen LuFo-Geld ausstatten, damit sie es schaffen, die Quadratur des Kreises hinzubekommen, also sowohl die Lärmemissionen als auch die
Kohlenstoffdioxidemissionen zu senken. Wenn ein Wettbewerber das auf den Markt bringen kann, dann hat er
ein Hauptverkaufsargument.
Rita Schwarzelühr-Sutter.
Herr Staatssekretär, ich komme auf faire Wettbewerbsbedingungen zurück. Die Bundesregierung beabsichtigt ein weltweites Abkommen, um fairen Wettbewerb zu ermöglichen und den staatlichen Einfluss
möglichst zu reduzieren.
Was verstehen Sie hier unter staatlichem Einfluss, vor
allem im Zusammenhang damit, dass Sie eine stärkere
Führungsrolle der Bundesregierung bei Airbus selber
einfordern? Wie kommt das zusammen und bei den Verhandlungspartnern an? Gibt es hierzu bereits Verhandlungen? Sind hier entsprechende Termine festgelegt?
Wie sehen und beurteilen Sie das vor dem Hintergrund
der schwierigen multilateralen Verhandlungen auch mit
der WTO und insbesondere mit den USA in der Vergangenheit? Wie betrachten Sie vor einem realistischen Hintergrund überhaupt die Erfolgschancen?
Herr Präsident, das ist jetzt eine Herausforderung:
Wenn ich richtig mitgezählt habe, waren das sechs Fragen, die ich in 60 Sekunden beantworten soll. Ich versuche das einmal ganz kurz.
Sie haben zum Schluss tatsächlich den Ausgangspunkt genannt: Es gibt zwei WTO-Verfahren. Das eine
führt die Europäische Union gegen die USA, das andere
führt die USA gegen die Europäische Union. Beide Male
geht es um die WTO-Kompatibilität oder -Nichtkompatibilität von Förderprogrammen, in dem einen Fall für
Boeing, in dem anderen Fall für Airbus. Die Passage in
der Luftfahrtstrategie, die sich ja auch in den Zeitungen
wiederfindet, bezieht sich darauf, dass wir hier versuchen müssen, international eine Vereinbarung zu erreichen.
Sie haben nach der Schrittabfolge gefragt. Die erste
Schrittabfolge wird in der Tat sein, dass wir versuchen
müssen, zwischen den USA und der Europäischen
Union einen Level Playing Ground, eine gemeinsame
Grundlage, zu erreichen, sodass es hier keinen Wettbewerb „staatliches Geld kontra private wirtschaftliche Tätigkeit“ gibt, sondern die Förderung auf einem Niveau
stattfindet, dass sie WTO-kompatibel ist. Das wollen wir
auch für die anderen Wettbewerber tun.
Weil das den Regeln entspricht, durfte ich nur fünf
Minuten lang sprechen. Wenn ich länger hätte sprechen
dürfen, dann hätte ich noch darauf hingewiesen, dass
sich die Wettbewerbssituation auf der Welt stark verändert. Gerade bei den Flugzeugen im Kurz- und Mittelstreckenbereich kommen neue Wettbewerber an den
Markt.
Ich bin darüber nicht nur mit der IG Metall, sondern
beispielsweise auch mit dem Ersten Bürgermeister von
Hamburg und anderen Verantwortlichen in einem positiven und regelmäßigen Gespräch. Sie unterstützen die
Bundesregierung parteiübergreifend darin - das kann ich
sagen -, dass wir in den Bereichen, in denen unsere Stärken liegen - bei den Kurz- und Mittelstreckenflugzeugen -, auch in Zukunft die Kompetenzen, die Arbeitsplätze, die Entwicklungskapazitäten und die Forschung
bei uns behalten wollen. Die Bundesrepublik Deutschland hat hier im Laufe der Jahre unter unterschiedlichen
Regierungen mehrere Milliarden Euro investiert, und
wir wollen nun für unsere Arbeitnehmer, für unsere Unternehmer, für unseren Mittelstand, für die Zulieferer
auch die Früchte ernten.
Ich habe mich damit auch ein bisschen öffentlich auseinandergesetzt und darf noch ein kritisches Wort sagen:
Ich fände es nicht gut, wenn alle Entwicklungszuständigkeiten bei einem europäischen Konzern außerhalb
unseres schönes Landes zentralisiert würden. Ich meine,
die Stärken, die wir haben, sollten auch bei uns weiterentwickelt und gehalten werden.
Danke schön. - Jetzt hat noch einmal Tobias Lindner
das Wort.
Herr Kollege Staatssekretär, ich möchte Ihnen in dieser Minute nur eine einzige Frage stellen. Wir kennen ja
beide sehr gut den Einzelplan Ihres Hauses und wissen,
dass die Luft- und Raumfahrt darin doch einen signifikanten Anteil hat. Mich würde interessieren, welche
Gelder die Bundesregierung beabsichtigt, in den kommenden Jahren für die Luftfahrtstrategie bereitzustellen,
die heute beschlossen wurde.
Wenn wir über Gelder in dem Bereich sprechen, haben wir zwei verschiedene Dinge. Das eine ist die Luftfahrtforschung. Da habe ich jetzt die konkrete Summe
für den Zeitraum 2007 bis 2016 nur so ungefähr parat,
weil sich die Luftfahrtforschungsaufträge immer über
mehrere Jahre überlappen. Das sind für diesen Zeitraum
von knapp zehn Jahren etwa 1 Milliarde Euro in diesem
Bereich. Daneben stehen die Zahlungen, die wir als Darlehen für die Entwicklung von neuen Flugzeugtypen geben. Die Summen hängen davon ab, wann entsprechende
Entwicklungen einsetzen, welche Anteile wir bekommen. Auch da gibt es ja - das konnten Sie in den Zeitungen lesen - die eine oder andere unterschiedliche Sicht
der Dinge. Wir sagen jedenfalls: Wenn wir Entwicklung
finanzieren wollen, wollen wir auch, dass die in dem entsprechenden Maße bei uns stattfindet. Ich hoffe, dass das
vom ganzen Haus so unterstützt wird.
Wolfgang Tiefensee noch einmal.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, meine Frage richtet sich noch einmal auf das Thema EADS. Wir werden
in der nächsten Woche unter anderem mit einem langen
Bankett die deutsch-französische, die französisch-deutsche Freundschaft feiern, Sektgläser erheben. Mir
scheint eines der Großprojekte, nämlich EADS - zumindest was die Abstimmung zwischen Deutschland, Frankreich, Großbritannien, zwischen der Bundesregierung
und der Vorstandsetage von EADS anbetrifft -, eher in
Richtung Scherbenhaufen zu gehen, wenn ich bedenke,
wie die Abwicklung einer möglichen Fusion mit BAE
gelaufen ist. Hier ist deutlich geworden, dass die Bundesregierung und die französische und die britische Regierung durchaus große Differenzen haben, dass die Information nicht fließt.
Meine Fragen sind: Geben Sie mir erstens recht, dass
EADS ein Musterbeispiel, eine Blaupause für europäische Zusammenarbeit sein muss und demzufolge viel
mehr in diese Richtung investiert werden muss? Und
zum Zweiten - es klang bereits an -: Wie wollen Sie bei
einem zurückgehenden Bestellvolumen innerhalb der
Europäischen Union dafür Sorge tragen, dass die für uns
existenziellen Arbeitsplätze, die für die Regionen existenziellen Arbeitsplätze erhalten bleiben und möglichst
noch ausgebaut werden in Bezug auf EADS und die Produktionen in den entsprechenden Firmen?
Ich hatte vor Weihnachten das Vergnügen, Redner auf
einer SPD-Veranstaltung in Hamburg zu sein. Kollege
Kahrs hatte mich eingeladen. Da war zwar nicht der versammelte Betriebsrat, aber die Spitze des Betriebsrats
von Airbus Hamburg - größter deutscher Standort auch anwesend. Ich habe dort den Eindruck gewinnen
dürfen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
wie auch ihre Gewerkschaft sehr einverstanden damit
waren, dass wir gesagt haben, wir wollen das Unternehmen so, wie die Gründungsidee war, so wie es gestaltet
ist, in einer fairen deutsch-französischen Balance weiterführen. Dass dort die Unterstützung dafür groß war, fand
ich erfreulich. Ich wollte Ihnen das einfach einmal zur
Kenntnis geben.
Das Zweite ist: Die Zusammenarbeit zwischen
Deutschland und Frankreich ist auch sehr gut. Die Zusammenarbeit mit England ist auch eine sehr gute, aber
da gibt es in der Tat einen kleinen Interessenunterschied.
Mit der Fusion mit BAE Systems wäre der weltgrößte
Rüstungskonzern entstanden. Sie können das in der
Wirtschaftspresse nachlesen oder mit der IG Metall sprechen, wie auch immer. Ob die damit verbundenen wirtschaftlichen Wirkungen für alle drei Beteiligten gleich
gut gewesen wären, weiß ich nicht. Ich glaube jedenfalls, dass das Unternehmen so, wie es jetzt aufgestellt
ist, doch besser aufgestellt ist, dass es größere wirtschaftliche Chancen hat.
Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, dass ja,
als die Fusionswünsche oder Fusionspläne bekannt gegeben wurden, der EADS-Kurs einstürzte, der BAEKurs hochstieg und dass, als die Fusion dann für beendet
erklärt wurde, der EADS-Kurs sich wieder sehr stark erholt hat. Im Übrigen haben wir das zwischen den drei
Regierungen eng besprochen. Ihre Befürchtung, es gäbe
kein gutes Gesprächsklima, kann ich widerlegen, und
zwar unter anderem auch mit dem Hinweis, dass ich seit
vielen Jahren der deutsche Vertreter in den Airbus-Ministerräten bin, wo wir uns regelmäßig in Le Bourget, in
Farnborough, hier in Berlin am Rand der ILA treffen.
Bei jeder Luftfahrtmesse gibt es eine solche Konferenz.
Dort haben wir zwischen den drei Staaten und auch mit
Spanien, das auch mit dabei ist, ein sehr gutes Gesprächsklima, ein gutes Verhältnis. Ich denke, das Unternehmen fühlt sich von uns auch gut behandelt.
Jetzt noch einmal Kollege Stephan Kühn.
Herr Staatssekretär, ich wollte noch einmal auf das
Thema der gleichen Wettbewerbsbedingungen in der
Welt zu sprechen kommen; Sie hatten das schon angesprochen. Versteht die Bundesregierung perspektivisch
darunter die Rücknahme der Luftverkehrsteuer und das
langfristige Aussetzen des Emissionshandels?
Wie ich eben schon auf die Frage eines Kollegen geantwortet habe, ist das nicht Gegenstand der Strategie,
bei der es um die Industrie geht, in der Luftfahrzeuge
entwickelt und gebaut werden. Alle anderen Fragen,
denke ich, werden dann im Rahmen der Strategie, die
der Bundesverkehrsminister vorlegen wird, zu besprechen sein.
Noch einmal Kollegin Schwarzelühr-Sutter.
Herr Staatssekretär, wenn man die Herausforderungen
in der Industrie betrachtet, dann spielt dabei Forschung
die zentrale Rolle. Aber die Ausgaben für Forschung
sind auf gleichem Niveau geblieben. Sie haben zwar vor,
einen Projektebeirat bei dem DLR einzurichten und eine
Roadmap zu definieren. Wenn es aber um einen erleichterten Marktzugang für die deutsche Industrie gehen
soll, dann gibt es nur Darlehen. Da frage ich mich schon:
Woher kommt der Impuls, den man braucht, um diese
Herausforderungen wirklich annehmen zu können, wenn
sich das nicht finanziell abbildet?
In Ägypten gibt es ein schönes Sprichwort: Eine
Palme wächst nicht schneller, wenn man an ihr zieht. Das heißt, die Idee, doppelt so viel Geld einzusetzen, um
eine doppelt so hohe Leistung zu erhalten, ist zwar sympathisch, aber falsch.
({0})
Die Mittel für die Luftfahrtforschung sind erstens sehr
umfänglich, und zweitens ist ihr Einsatz erfolgsträchtig.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Airbus entwickelt
jetzt als Zwischenschritt zur neuen Familie, die dann ab
Mitte des nächsten Jahrzehnts auf den Markt kommt,
eine Weiterentwicklung des A320. Sie heißt A320neo,
„new engine option“. Diese wird mit einem Triebwerk
ausgestattet, mit dem eine Energieeinsparung von
15 Prozent erreicht wird. Das ist in der Luftfahrt schon
eine ganze Menge. Die Entwicklung - es handelt sich
um ein Geared Turbofan-Triebwerk - ist ganz wesentlich auch aus Deutschland vorangebracht worden. Das
Triebwerk wird von Pratt & Whitney zusammen mit
MTU hergestellt. Hier sind, was MTU angeht, LuFoFördermittel eingesetzt worden.
Ich weiß genau: Als diese Entwicklung begann, habe
ich von einem anderen großen Triebwerkhersteller gehört, das sei ein absoluter Holzweg. - Wir haben gesagt:
Wir konzentrieren die Mittel auf diese Entwicklung. Der
Holzweg hat sich als wirklicher Highway erwiesen, was
jetzt zu der höchsten Zahl von Bestellungen geführt hat,
die es in der zivilen Luftfahrt jemals gegeben hat.
Wir konzentrieren den Einsatz unserer Mittel. Aber
wir haben auch gesagt: In wirtschaftlich schweren Zeiten, in denen die Budgets knapp sind, wollen wir gerade
in diesem Bereich weiterhin investieren. Das ist ein Erfolg. Ich bin mir sicher: Auch der neue LuFo-Call wird
zu einem Erfolg in der Sache.
Danke schön. - Gibt es Fragen zu anderen Themen
der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall.
Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen an die Bundesregierung? Kollege Liebich hat eine Frage angemeldet.
Ich habe eine Frage zu dem Thema, das der Finanzstaatssekretär vorhin durch einen Zwischenruf angerissen hat, nämlich zum Flughafen Berlin Brandenburg
International. Entgegen der rechtsverbindlichen Schließung, die für den Flughafen Berlin-Tegel vorgesehen
war, betreibt die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH,
in der die Bundesregierung Gesellschafter ist, den Flughafen auf unbestimmte Zeit weiter. Mich interessiert,
welche Vorschläge die Aufsichtsratsvertreter der Bundesregierung vom Vorstand zur Entschädigung der betroffenen Bürgerinnen und Bürger in den Berliner Bezirken Pankow, Reinickendorf und Spandau erwarten.
Wer kann sich dazu äußern? - Bitte schön, Herr
Staatssekretär Mücke.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter, das Thema ist
heute nicht Gegenstand der Kabinettssitzung gewesen
und ist deshalb dort auch nicht besprochen worden. Es
ist zu früh, darüber zu spekulieren, welche zusätzlichen
Kosten durch die Verzögerung der Inbetriebnahme des
Flughafens BER in Schönefeld eintreten werden.
({0})
Es ist die Aufgabe der Geschäftsführung, dafür zu sorgen, dass ein entsprechender Schadensersatz da geleistet
werden kann, wo Schäden eingetreten sind. Die Aufsichtsratsmitglieder des Bundes werden darauf dringen,
dass die Geschäftsführung eine solche Konzeption vorlegt, wenn klar ist, welche Schäden tatsächlich eingetreten sind.
Kollege Beck hat noch eine weitere Frage.
Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt: Das war heute
nicht Gegenstand der Kabinettssitzung. - Wann war der
Flughafen Berlin Brandenburg das letzte Mal Gegenstand der Kabinettssitzung und mit welchem Inhalt?
Das kann ich Ihnen jetzt nicht mit letzter Sicherheit
sagen. Ich nehme stark an, dass es das letzte Mal im
März 2010 Thema gewesen ist, als die Aufsichtsratsumbesetzung durch das Kabinett beschlossen wurde.
({0})
Können Sie das gegebenenfalls für die Bundesregierung schriftlich nachreichen, Herr von Klaeden, wann
die letzten Behandlungen dieses Themas im Kabinett
waren? Wir sind immerhin Mitgesellschafter.
({0})
Das werden wir nachreichen.
Kollege Liebich möchte noch einmal nachfragen.
Diese Auskunft ist angesichts der dramatischen Diskussion, die über den Flughafen stattfindet, natürlich
ziemlich überraschend. Ich habe deshalb noch eine konkrete Frage. Heute fand die Aufsichtsratssitzung statt.
Die Bundesregierung ist in diesem Aufsichtsrat vertreten. Wir konnten vorher von Vertretern von Bundesministerien erfahren, dass sie den Vorschlag, dass der
brandenburgische Ministerpräsident Aufsichtsratsvorsitzender werden soll, nicht sinnvoll finden. Nun ist er das
geworden, und zwar, wie ich gelesen habe, einstimmig.
Darüber muss doch vorher geredet worden sein. Wo ist
darüber gesprochen worden, wie man mit den Vorschlägen der Ministerien, dass er das nicht werden soll, umgeht?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, die Abstimmung der beiden zuständigen Ressorts BMF und BMVBS findet laufend statt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Fragen
mehr. Dann beende ich die Befragung.
Da sowohl Fragende wie Antwortende anwesend
sind, leite ich gleich über und rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/12041, 17/12049 Zunächst der Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung: Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt bereit.
Ich rufe zunächst die dringliche Frage 1 der Kollegin
Inge Höger auf:
Welche personellen, logistischen oder sonstigen Unterstützungsleistungen für die derzeit stattfindende französische
Militäroperation in Mali plant die Bundesregierung vor dem
Hintergrund von entsprechenden Zusagen des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, gegenüber der
französischen Regierung vom 14. Januar 2013 und von Aussagen des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Thomas de
Maizière, gegenüber dem Deutschlandfunk am 13. Januar 2013, und welche Unterstützung, etwa in Militärstäben,
findet bereits heute statt?
Vielen Dank, Frau Kollegin. Ihre Frage kann ich so
beantworten, dass eine personelle oder logistische Unterstützung des französischen Militäreinsatzes in Mali
durch Deutschland derzeit nicht stattfindet. Gleiches gilt
für eine deutsche Unterstützung in Militärstäben.
Sie mögen in den letzten Stunden nach einer Verlautbarung und Bekanntgabe der beiden Ressorts, des Auswärtigen Amtes bzw. des Bundesaußenministers und des
Bundesverteidigungsministers, über die Perspektive und
die getroffene Entscheidung schon informiert sein. Die
Obleute wurden nach meiner Kenntnis auch unterrichtet,
dass eine Unterstützung logistischer Art durch den
Transport in Form von zwei Militärtransportflugzeugen
der Transall C-160 durch die Bundeswehr, zum Transport von Soldaten und Material, das im Rahmen der
ECOWAS-Mission - der Mission, die durch die Vereinten Nationen mandatiert und von den Nachbarstaaten
Malis durchgeführt werden soll - für Mali vorgesehen
ist - allerdings nicht ins Kampfgebiet, sondern in die
Hauptstadt und dort in die jeweiligen Sammelpunkte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Schmidt. - Wir sind
heute Morgen im Ausschuss über einiges, aber noch
nicht über alles informiert worden. Sie haben immer
wieder Unterstützung durch Transportflugzeuge angekündigt; sie wird noch geprüft. Die Frage ist aber: Gibt
es schon eine Zusammenarbeit in den NATO-Stäben
oder in den Stäben der Europäischen Union, bzw. gibt es
schon Transporte im Rahmen des Europäischen Luftfahrttransportkommandos aus Eindhoven?
Eine solche Zusammenarbeit im Rahmen der NATO
gibt es nicht. Die NATO als kollektives Bündnis der Sicherheit ist nicht einbezogen. Sie wissen, dass die französische Regierung auf eine Bitte der malischen Regierung bzw. des malischen Präsidenten entschieden hat,
diese Nothilfeoperation durchzuführen, basierend auf
der Resolution 2085 des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen und der entsprechenden Revozierung dieser bilateralen bzw. unilateralen Aktion, die dieses Gremium,
glaube ich, vorgestern unter ausdrücklicher Bestätigung
der Subsummierung der Aktion der Franzosen vorgenommen hat.
Die Anfragen und Gespräche haben sich rein präventiv auch auf andere Möglichkeiten bezogen. So wurde
im Europäischen Lufttransportkommando, einer multilateralen Organisation in Eindhoven, die von fünf Staaten
- Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien
und Luxemburg - getragen wird, über diese Fragen
nachgedacht. Eine Anforderung hat nicht stattgefunden,
genauso wenig wie eine Operation oder Nutzung.
Eine weitere Nachfrage.
Ich habe eine weitere Nachfrage. Sie haben eben gesagt, das Angebot an Transportkapazitäten beziehe sich
auf die ECOWAS-Truppen. Ich habe sowohl die heutigen Äußerungen im Ausschuss als auch die Presseinformationen und Verlautbarungen von Herrn Westerwelle
und Herrn de Maizière so verstanden, dass auch Transportkapazitäten für die französische Armee für die aktuell stattfindenden Kämpfe zur Verfügung gestellt werden. Bis die ECOWAS-Truppen aufgestellt sind, wird es
noch einige Monate dauern.
Frau Kollegin Höger, das gibt mir die Möglichkeit
- wenn Sie gestatten -, den Text Ihrer Frage etwas zu
korrigieren. Eine Zusage ist weder durch Außenminister
Westerwelle noch durch den Bundesverteidigungsminister de Maizière gegeben worden, wohl aber eine Prüfzusage. Diese Prüfzusage hat dazu geführt, dass aufgrund
des Angebots anderer europäischer Nationen - namentlich des Vereinigten Königreichs mit der Zurverfügungstellung von Transportraum in Form von C-17-Maschinen - strategische Lufttransportmöglichkeiten für
Frankreich geschaffen worden sind. Nach meinen Informationen haben sich hier Belgien, Dänemark und
wohl auch Kanada zur Verfügung gestellt. Die Notwendigkeit, den zahlenmäßig weitaus größeren Bedarf der
ECOWAS-Mission, die nun relativ schnell auf den Weg
gebracht werden soll, zu decken, hat dazu geführt, dass
wir einvernehmlich mit den Bündnispartnern die Priori26658
tät auf die ECOWAS-Mission und deren Unterstützung
gesetzt haben.
Die Entwicklung orientiert sich allerdings an dem,
was wir gegenwärtig in Mali erleben. Das alles ist sehr
schnell gekommen. Wir sind kaum eine Woche in dieser
Situation und Mission. Frankreich hat erfolgreich den
Vormarsch der militanten Islamisten gestoppt, die bis
vor kurzem noch zugesagt hatten, Gespräche über eine
gemeinsame Entwicklung in Mali zu führen. Dem haben
sie sich entzogen. Deswegen war eine schnelle Reaktion
erforderlich. Wir mussten aufgrund der Notwendigkeit
der Anforderungen und des Bedarfs sehr flexibel entscheiden. Das ist heute passiert.
Eine Nachfrage dazu vom Kollegen Mützenich.
Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal Bezug
auf das in der dringlichen Frage der Kollegin angesprochene Thema nehmen. Heute Morgen ist die Öffentlichkeit informiert worden. Sie haben gerade nachgeholt,
den Deutschen Bundestag über die Unterstützung der
ECOWAS-Truppen zu informieren. Wenn ich mich recht
entsinne, wird morgen der französische Verteidigungsminister offensichtlich mit dem deutschen Verteidigungsminister unter Umständen über Weiterungen sprechen. Könnten Sie hier gegenüber der Öffentlichkeit
kundtun, was in diesem Zusammenhang im Hinblick auf
die Unterstützung der derzeit stattfindenden französischen Militäroperation eventuell von deutscher Seite geleistet werden könnte?
Herr Kollege Mützenich, die Informationen sind sehr
schnell weiterzugeben gewesen. Ich vermute, dass ich
der Erste bin, der sie dem Parlament in förmlicher Weise
überbringen kann. Sie beruhen auf Maßnahmen, die in
der Tat erst am späten Vormittag getroffen worden sind.
Der Präsident der Elfenbeinküste ist in seiner Funktion als Präsident der Staatengemeinschaft ECOWAS zur
Stunde in Berlin. Diese Thematik wurde seitens der
Bundeskanzlerin in einem Gespräch mit ihm angesprochen. Wie Sie richtig bemerkt haben, wird der französische Verteidigungsminister Le Drian morgen hier in Berlin sein. Seine Anwesenheit hat allerdings vor allem mit
der Vorbereitung der in der nächsten Woche stattfindenden Feierlichkeiten, der gemeinsamen Sitzung von Deutschem Bundestag und Französischer Nationalversammlung und beider Kabinette anlässlich des 50. Jahrestages
der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages zu tun. Allerdings gehe ich davon aus, dass die weitere Entwicklung
der Situation in Mali und die französische Operation dort
natürlich eine Rolle spielen werden.
In dieser Frage sind keine Vorbereitungen für weitere
Transportleistungsvereinbarungen getroffen worden. Ich
will ergänzend darauf hinweisen - ich bitte die Kollegin
aus dem Auswärtigen Amt, meine Äußerungen gegebenenfalls zu konkretisieren -, dass am morgigen Vormittag eine Sondersitzung des Außenministerrates der Europäischen Union stattfinden wird, der sich sowohl mit
EUTM, der europäischen Ausbildungsmission für Mali,
als auch mit der Frage der weiteren Entwicklung der
französischen Mission, die wir im Augenblick erleben,
beschäftigen wird. Über deren Ausgang lässt sich noch
nichts vorhersagen. Ich will das nur der Vollständigkeit
halber berichten.
Wir kommen zur dringlichen Frage 2 des Kollegen
Niema Movassat:
Welche genauen politischen und militärischen Ziele verfolgt die Bundesregierung mit ihrer politischen und am 14. Januar 2013 auf eine ausschließlich informelle Information des
französischen Verteidigungsministers Jean-Yves Le Drian hin
spontan zugesagten militärischen Unterstützung der Militärintervention Frankreichs in Mali, und welchen Umfang - Truppenstärke, Einsatzgebiet, Dauer, Operationsbasis, projektierte
Funktionen der Angehörigen der Bundeswehr, etwaige direkte
Beteiligung an Kampfhandlungen - sieht die Bundesregierung für ein deutsches Engagement vor?
Lieber Kollege Movassat, ich will zu dieser Frage unter Einbeziehung meiner Antwort auf die vorhergehende
dringliche Frage der Kollegin Höger antworten. Gestatten Sie einen Hinweis. In der Frage ist von einer „ausschließlich informellen Information des französischen
Verteidigungsministers“ und einer „spontan zugesagten
militärischen Unterstützung“ die Rede. Ich weiß nicht,
worin der Unterschied zwischen informeller und formeller Information von Ministern besteht. Falls man davon
ausgeht, dass der Botschafter in Diplomatenuniform,
von berittenen Flügeladjutanten begleitet, in das Ministerium geritten ist, kann ich sagen: Die Information muss
informell gewesen sein. Stattgefunden haben aber sehr
substanzielle Telefongespräche. Auch der Außenminister hat mit seinem Amtskollegen entsprechenden Kontakt gehabt.
Die Substanz dieser guten Zusammenarbeit, auch der
politischen Unterstützung der französischen Maßnahmen durch die Bundesregierung ist öffentlich mehrfach
betont worden. Die Bundesregierung hat großes Verständnis und begrüßt die Aktivität, die Frankreich zur
Verhinderung des Durchbruchs von islamistischen Terrorgruppen im Süden Malis wahrgenommen hat.
Wir sind uns darüber im Klaren - nicht nur nach Information von französischer Seite -, dass es ein Hilfeersuchen der malischen Regierung gegeben hat, dass der
Vormarsch inzwischen erfolgreich gestoppt werden
konnte. Das lässt sich feststellen, auch wenn natürlich
noch nicht alle Gefährdungen beseitigt sind.
Der Einsatz findet, wie ich schon vorhin betont habe,
im Einklang mit dem Völkerrecht statt. Der Bezug ist die
Sicherheitsratsresolution 2085 und die Bitte der malischen Regierung, die ihrerseits Bezug auf das Recht auf
kollektive Selbstverteidigung nimmt, da es sich um einen Konflikt handele, der bereits die Ebene eines internationalen Konflikts erreicht habe. Das will ich nur ad
notam sagen, nicht als geklärte Position darstellen. Die
Resolution 2085, die wir sehr unterstützt haben, ist die
eigentliche Grundlage für uns.
Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten steht ausdrücklich nicht zur Debatte. Wir haben die Pläne konkretisiert.
Ich muss ergänzend dazu sagen, dass unsere Bereitschaft, uns auch an der europäischen Trainingsmission
zu beteiligen, nicht konsumiert wird durch die Positionen, die wir jetzt im Hinblick auf die französische Mission und auf die ECOWAS-Mission nach der Resolution
2085 eingenommen haben.
Herr Staatssekretär, Sie müssen sich nach unseren Regeln kürzer fassen.
Ja. - Also, wir machen das, was ich schon gesagt
habe, Herr Kollege. Wir werden das auch noch schneller
machen. Insofern ist es ganz gut, wenn ich auch schneller antworte - vielen Dank, Herr Präsident - und sage,
dass wir die Mission nicht erst im Herbst oder irgendwann durchführen; wir werden vielmehr zeitnah verfahren und morgen auf europäischer Ebene darüber reden,
wann diese Trainingsmission beginnen wird.
Der Kollege Niema Movassat hat eine erste Nachfrage.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, Sie verwiesen in Ihrer Antwort gerade auch auf das Hilfeersuchen der malischen Regierung. Nun ist es ja so, dass die
malische Regierung, auf die Sie verweisen, im Prinzip
durch zwei Putsche an die Macht gekommen ist. Sie ist
abhängig vom malischen Militär. Das malische Militär
hat erst vor wenigen Wochen gezeigt, dass es auch bereit
ist, innerhalb der Regierung Auswechslungen vorzunehmen. Letztlich sind die Regierungsmitglieder von dem
abhängig, was das Militär möchte.
Deshalb hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Entwicklungszusammenarbeit mit der malischen Regierung eingestellt. Es gibt weiterhin Entwicklungszusammenarbeit
auf Basisebene etc., aber mit der malischen Regierung
gibt es nach meinem Kenntnisstand zurzeit keine Zusammenarbeit im entwicklungspolitischen Bereich mit
dem Argument, dass man, solange es nicht eine gewählte, legitime Regierung gebe, nicht zusammenarbeiten könne. Auf der anderen Seite aber ist man politisch
und militärisch bereit, dem Ruf der malischen Regierung
zu folgen. Sie haben gerade zwei Transall-Maschinen
etc. in Aussicht gestellt, und zwar mit dem Argument
des Hilfeersuchens der malischen Regierung.
Ich frage Sie: Sehen Sie einen Widerspruch in der
Politik der Bundesregierung? Wenn Sie diesen Widerspruch nicht sehen: Wie erklären Sie sich dann diese
zwei divergierenden Tatsachen?
Herr Staatssekretär.
Ich bitte Sie, Folgendes auseinanderzuhalten: Die
Mission der Wirtschaftsorganisation ECOWAS, der
Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, und der sie
tragenden Staaten, die eine durch den Sicherheitsratsbeschluss 2085 völkerrechtlich legitimierte Operation ist,
hat mit der Frage, ob die Regierung in Mali eine demokratische Legitimität besitzt, unmittelbar nichts zu tun.
Das Zweite betrifft Ihre Frage hinsichtlich der malischen Regierung und des Präsidenten. Es ist in der Tat
richtig, dass wir einen Putsch unter Hauptmann Sanogo
hatten, der eine Rolle, aber nicht die alleinige Rolle
spielt. Der Präsident und der Ministerpräsident sind Teil
eines Staatsgefüges, das den Weg hin zur Demokratie
wiederfinden muss. Es mag dahingestellt sein, ob die
Gespräche, die auch mit den islamistischen Gruppen initiiert wurden, und der Versuch, einen demokratischen
Konsens zu finden, soweit das mit islamistischen Terrorgruppen möglich ist, sinnvoll sind. Immerhin haben die
Bemühungen zu Gesprächen zwischen den einzelnen
Gruppen innerhalb der malischen Staatsstrukturen geführt. Das zeigt, wie notwendig, aber auch wie schwierig
die Aufgabe ist.
Nur, wenn die Situation so ist, dass durch eine Aggression terroristischer, islamistischer Gruppen das Land
besetzt ist, dann ist die Frage, die wir uns jetzt stellen
und die auch Sie gestellt haben, nicht mehr zu beantworten, weil die Möglichkeit für politische Handlungen gar
nicht mehr da ist. Deswegen ist es mehr als folgerichtig,
dass Frankreich nun sozusagen - wenn Sie den Ausdruck gestatten - die Notbremse gezogen hat und den
Weg für weitere Verhandlungen und für die Rückkehr zu
demokratischen Strukturen in Mali, soweit sie verlassen
wurden, offenhält.
Vielen Dank. - Kollege Niema Movassat, Sie stellen
jetzt die zweite Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade gesagt, wenn
ich das richtig verstanden habe, dass die Verhandlungen
im Prinzip erst durch den französischen Einsatz ermöglicht werden. Ich finde es von der Logik her ein bisschen
schwer nachvollziehbar, dass man sagt: Erst wenn man
einen Kriegseinsatz durchführt, sind Verhandlungen
möglich.
Aber was mich interessieren würde - Stichwort „Verhandlungen“ -: Welche Verhandlungen hat es gegeben?
Welche Verhandlungsoptionen hat man erwogen? Meines Wissens wurden Verhandlungen in Burkina Faso und
in Algerien terminiert. Haben diese Termine stattgefunden? Wurden sie wahrgenommen? Inwiefern hat die
Bundesregierung diese Verhandlungen unterstützt und
ihre Möglichkeiten für eine diplomatische Lösung des
Konflikts ausgelotet?
Die Sachlage ist schon so, dass, seit ECOWAS involviert ist und seit es sozusagen die Drohung einer militärischen Intervention gibt, die Rebellen das Gebiet im
Norden zum Teil verminen, dass es massivste Flüchtlingsbewegungen gibt, dass viele Menschen Sorge vor
dieser Intervention in der Region haben. Gerade Verhandlungen würden an dieser Stelle die Möglichkeit bieten, eine Befriedung zu erreichen.
Deshalb eben die Frage: Welche Verhandlungen hat
es gegeben? Welche Verhandlungen wird es in nächster
Zukunft geben? Wie hat die Bundesregierung das unterstützt?
Jetzt schauen wir einmal, wie lang die Antwort ist,
nachdem auch die Frage ein bisschen länger war. - Bitte
schön, Herr Staatssekretär.
Wenn Sie gestatten, möchte ich zunächst zur Frage
zurückkehren. Dazu muss ich einen Punkt schon noch
nennen. Sie unterstellen in Ihrer Frage der französischen
Regierung, dem Präsidenten und dem Verteidigungsminister, sich gegenüber der französischen Öffentlichkeit
und der französischen Nationalversammlung äußerst intransparent verhalten zu haben. Ich würde Ihnen, Herr
Kollege, empfehlen, die Gelegenheit zu ergreifen, mit
den Kollegen der Assemblée nationale, die nächste Woche hier sein werden, über Ihre Meinung und Ihre Einschätzung der innerfranzösischen Meinungsbildung zu
diskutieren.
({0})
Das wäre sicherlich lehrreich, möglicherweise sogar für
Sie.
Zur Frage, die Sie jetzt gestellt haben: Es sind Verhandlungen, die mit sehr starker diplomatischer Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland stattfinden
sollten mit dem Ziel, einen politischen Dialog mit dem
Norden zu beginnen. Es war auch durchaus davon auszugehen, dass diese in der nächsten Zeit stattfinden können.
Unser Ziel ist, dass der politische Prozess in Mali perspektivisch in eine sogenannte Roadmap mündet, also in
einen Fahrplan, der konkrete und realistische Schritte
zur Durchführung von demokratischen Wahlen beinhaltet und der von allen politischen Lagern in Mali mitgetragen wird. Das soll Gegenstand dieser Gespräche und
der hoffentlich darauf fußenden Vereinbarungen sein.
Es gibt keinen logischen Widerspruch in meiner Darlegung. Das Vorgehen der Franzosen an der Linie, die
den Norden und den Süden Malis voneinander trennt
- das ist ein Flaschenhals von wenigen Hundert Kilometern Breite; dort ist das Ufer des Niger -, war unabdingbar. Durch diese militärische Aktion der französischen
Armee wurde verhindert, dass es nichts mehr gibt, über
das politische Dialoge und Verhandlungen geführt werden können. Zu befürchten war nämlich, dass die Islamisten, die die Scharia im ganzen Norden bereits eingeführt haben - da wird gesteinigt, da werden Hände
abgehackt -, das gesamte Territorium des Staates Mali
unter Kontrolle bekommen.
Herr Staatssekretär, ich räume ein, dass das Thema
wahnsinnig kompliziert ist.
Ich bin auch schon am Ende.
Aber wir müssen gemeinsam den Versuch unternehmen, die Beantwortung im richtigen Zeitfenster zu halten.
Kollege Andrej Hunko, Sie haben eine weitere Nachfrage.
Herr Präsident, ich werde mich mit meiner Frage
kurzfassen. - Herr Staatssekretär, wir feiern den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Heute
Morgen fand dazu eine Debatte statt. Nächsten Dienstag
wird die Assemblée nationale hier sein. Im Élysée-Vertrag steht, dass beide Regierungen einander vor wichtigen außenpolitischen Entscheidungen konsultieren.
Meine Frage ist: Wann haben diese Konsultationen stattgefunden? Was wurde dort besprochen? Wie hat sich die
deutsche Regierung positioniert? - Vielen Dank.
Die Bundesregierung ist im Umfeld der Konkretisierung der Maßnahmen unmittelbar informiert worden. Es
gab mehrere Telefongespräche. Es gab auch Unterrichtungen über das Vorgehen. Diese Vorgehensweise ist von
der Bundesregierung ausdrücklich begrüßt worden.
Vielen Dank. - Jetzt rufe ich die dringliche Frage 3
unseres Kollegen Niema Movassat auf:
Im Rahmen welchen Bündnisses und Mandats wird sich
die Bundeswehr in Mali engagieren, und teilt die Bundesregierung Aussagen aus Kreisen der Bundeswehr ({0}), dass jede Art von Militäreinsatz gleich
welcher Art, also auch logistische Unterstützung, eine Beteiligung am Krieg bedeuten würde und ein Bundestagsmandat erforderlich mache?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Zunächst zur Frage, im Rahmen welchen Bündnisses
sich die Bundeswehr engagieren wird. Die Europäische
Union wird sich mit diesen Fragen wohl gemeinschaftParl. Staatssekretär Christian Schmidt
lich beschäftigen. Die europäische Trainingsmission ist,
wie der Name schon sagt, eine europäische Mission.
Deswegen ist die erste Antwort auf Ihre Frage: die Europäische Union.
Ein Mandat wird dann notwendig, wenn die Schwelle
zu einem Einsatz überschritten wird. Wir haben sowohl
im Parlamentsbeteiligungsgesetz als auch in der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klare Regeln und Hinweise, die seitens der Bundesregierung beachtet werden. Das heißt, auch die
Informationsrechte des Parlaments werden natürlich
berücksichtigt. Würde sich das Engagement zu einem
Einsatz entwickeln, dann würde auch ein Mandat des
Deutschen Bundestages seitens der Bundesregierung beantragt.
Die heute im Raum stehende Zurverfügungstellung
von Raum für den Transport von anderen Ländern Westafrikas nach Bamako ist nach unserer Ansicht noch
keine Überschreitung dieser Schwelle, weil sie weder
geografisch noch unmittelbar mit dem Einsatz verbunden ist. Wenn sich die Dinge weiterentwickeln - dies
wird einer jeweiligen Prüfung unterzogen -, werden wir
selbstverständlich den Deutschen Bundestag nicht nur
informieren, sondern auch die konstitutive Zustimmung
des Deutschen Bundestages für ein Mandat einholen. Ich
sage aber ausdrücklich - Herr Präsident, gestatten Sie
mir diesen notwendigen Satz -: So weit sind wir nicht.
Gegenwärtig sieht es so aus, dass wir eine reine Transportleistung zur Verfügung stellen, die mit einem Einsatz
nicht in Verbindung gebracht werden kann.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Unser Kollege
Niema Movassat hat die erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben einen Teil meiner
Frage gerade wiedergegeben. Sie haben aber einen kleinen Teil der Frage weggelassen, der nicht irrelevant ist,
nämlich ob die Bundesregierung die Aussage teilt, dass
jede Art von Militäreinsatz gleich welcher Art, also auch
logistische Unterstützung, eine Beteiligung am Krieg bedeuten würde und ein Bundestagsmandat erforderlich
mache. Diese Aussage stammt nicht von der Linksfraktion - auch wenn ich sie durchaus teile -, sondern vom
Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes,
Ulrich Kirsch. Insofern stammt dieser Satz aus Bundeswehrkreisen. Das zur Korrektur.
Was mich im Zusammenhang mit der Frage nach dem
Bundestagsmandat interessieren würde: Die malische
Regierung hat ja den Ausnahmezustand verhängt, auch
in Bamako, wohin die Transall-Maschinen fliegen sollen. Die Verhängung des Ausnahmezustands bedeutet
unter anderem die Aufhebung des Rechts der Versammlungs- und der Meinungsfreiheit. Das impliziert, dass es
sich bei Mali um eine Konfliktregion handelt. Das sagt
die malische Regierung. Fließt das in die Überlegungen
der Bundesregierung zur Einholung eines Bundestagsmandats ein? Wie bewertet die Bundesregierung diese
Verhängung des Ausnahmezustands?
Herr Kollege, ich bin ein Verehrer von Oberst Ulrich
Kirsch als Vorsitzendem des Deutschen BundeswehrVerbandes und schätze seinen Rat außerordentlich.
Sie gestatten allerdings, dass die Bundesregierung bei
der Bewertung der verfassungsrechtlichen Frage, ob es
sich um einen Einsatz handelt oder nicht, doch lieber das
Bundesverfassungsgericht und die Gesetzgebung zurate
zieht. Falls sich Diskrepanzen zwischen den öffentlich
geäußerten Meinungen ergeben, ist das anregend, aber
nicht unbedingt zielführend.
Ich wiederhole, dass natürlich dann, wenn eine Gefährdung in diesem Einsatz zu erwarten ist - das ist eines
der Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht im
zweiten Urteil über den AWACS-Einsatz festgelegt hat;
im ersten hat es die Grundlagen festgelegt -, dies als
Maßstab zur Prüfung anlegt werden muss. Das werden
wir tun.
Wir werden auch die Frage zu prüfen haben, welches
Bündnis nach Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes die
Grundlage für den Einsatz bildet. Es bleibt dabei, dass
wir uns hier parlamentsfreundlich verhalten und die Bewertung auf den Grundlagen der Rechtsprechung durchführen werden.
Herr Staatssekretär, Sie geben dem Kollegen auch
noch die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage?
Wenn es etwas Neues ist.
Das, Herr Staatssekretär, wird der Fragesteller selbst
zu beurteilen haben. Bitte schön.
({0})
Es wäre für Sie deutlich einfacher, wenn ich eine
Frage lediglich wiederholen würde. Dann könnten Sie
dasselbe noch einmal sagen. Aber keine Sorge, ich stelle
eine ganz neue Frage, aber durchaus auf Mali bezogen.
Herr Staatssekretär, es geht um die Frage, welche
Ziele mit einem solchen Kriegseinsatz verbunden sind.
Was möchte man da eigentlich? Nun wird artikuliert,
man wolle die Islamisten bekämpfen. Es gibt aber auch
Meldungen, sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in denen es um die Frage der Rohstoffe in Mali
geht.
Nordmali ist eine der rohstoffreichsten Regionen dieser Welt. Es gibt dort Erdöl, Erdgas, Uran, Phosphat,
Bauxit, Gold und andere Edelmetalle. Viele Gebiete im
Norden sind bereits mit Explorationsrechten versehen.
Es gibt den Vorwurf der Gesellschaft für bedrohte Völ26662
ker, der besagt, dass es Frankreich in erster Linie um
Uraninteressen gehe. Diese Meldung liest man immer
wieder. Frankreich ist weitgehend von Uran abhängig;
dort gibt es viele Atomkraftwerke. Insoweit ist dieser
Gedanke nicht ganz irrelevant.
Deshalb meine Frage an Sie: Wie ist Ihre Einschätzung der französischen Interessen bei diesem Kriegseinsatz?
Herr Kollege, mit Rücksicht auf meine begrenzte Zeit
will ich nicht noch das Thema der langfristigen entwicklungspolitischen Perspektive ansprechen. Ich will lediglich darauf hinweisen, dass das eine Frage ist, die im
vernetzten Denken natürlich eine Rolle spielen muss.
Mali ist nicht erst in den letzten Tagen zu einer schwierigen Gegend geworden, gefördert auch dadurch, dass
Waffen in das Land gekommen sind, die aus der Konkursmasse von Muammar al-Gaddafi stammen und die
das Land im Norden leider destabilisieren.
Das Land befindet sich gegenwärtig in einer Situation, in der es Hunderttausende von Flüchtlingen gibt
- Binnenflüchtlinge und Flüchtlinge in andere Länder und in der Menschen gewaltsam zu Tode kommen. In
einer solchen Situation helfen Überlegungen der mittelund langfristigen Art, wer welchen ökonomischen Nutzen von was hätte, überhaupt nicht weiter. Bei den Diskussionen wird ziemlich schnell klar: Die Menschen in
Mali wollen, dass Frieden einkehrt und dass sie über
Verhandlungen das Schicksal ihres Landes selbst demokratisch bestimmen können.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Nach den dringlichen Fragen rufe ich gleich eine
Frage aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes
auf, die zum selben Fragenkreis gehört und nach den
Richtlinien für die Fragestunde vorgezogen wird. Für die
Beantwortung steht die Staatsministerin im Auswärtigen
Amt, unsere Kollegin Cornelia Pieper, zur Verfügung.
Ich rufe nun die Frage 31 unseres Kollegen Dr. Rolf
Mützenich auf:
Wann beabsichtigt die Bundesregierung den Deutschen
Bundestag mit dem Bundeswehrmandat zum Einsatz in Mali
zu befassen, und welche Vereinbarungen gibt es in der Bundesregierung zur Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Mali?
Bitte schön, Frau Staatsministerin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Abgeordneter
Mützenich, natürlich bezieht sich das schon vorher Gesagte auch auf das, wonach Sie fragen. Ich gebe zu, dass
mein Kollege, Staatssekretär Schmidt, bereits sehr ausführlich auf den Sachverhalt eingegangen ist. Nichtsdestotrotz möchte ich die Beantwortung Ihrer Frage, die Sie
zu Recht stellen, nicht umgehen.
Zum ersten Teil Ihrer Frage, Herr Abgeordneter. Ich
kann es nur wiederholen: Die Bundesregierung prüft
derzeit Möglichkeiten zur Unterstützung der militärischen Operation der französischen Partner in der Republik Mali. Wenn sich diese Pläne konkretisieren, werden
wir die rechtlichen Voraussetzungen prüfen. Sie können
davon ausgehen, dass es dabei eine enge Einbindung des
Deutschen Bundestages geben wird; das ist für das Auswärtige Amt selbstverständlich. Sie sind heute schon im
Auswärtigen Ausschuss unterrichtet worden.
Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten - das möchte
ich betonen - steht für uns ausdrücklich nicht zur Debatte. Die Bundesregierung prüft eine mögliche Beteiligung an einer militärischen GSVP-Ausbildungsmission
der Europäischen Union in Mali. Unser möglicher Beitrag hierzu ist natürlich von der weiteren Lageentwicklung und den weiteren Planungen in Brüssel abhängig.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Abgeordneter. Für
eine schrittweise Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Mali gibt es klare Kriterien, die auch
international abgestimmt sind. Dazu gehören die Vorlage
einer substanziierten Roadmap für die Rückkehr zur verfassungsgemäßen Ordnung durch die malische Regierung und die glaubwürdige Umsetzung darin formulierter Zwischenschritte. Die Erfüllung der Kriterien ist
Voraussetzung für erste Lockerungen der Suspendierung
der Entwicklungszusammenarbeit. Die Vorlage einer
derartigen Roadmap durch die malische Regierung steht
allerdings derzeit noch aus; das wissen Sie.
Wir haben uns in Reaktion auf den Putsch vom
22. März 2012 zur Suspendierung der Entwicklungszusammenarbeit veranlasst gesehen. Wir setzen aber weiterhin Vorhaben durch, die bevölkerungsnah und regierungsfern umgesetzt werden können und die unmittelbar
der Sicherung der Ernährung der Bevölkerung dienen.
Damit trägt die Bundesregierung den strukturellen Ursachen der angespannten humanitären Lage in Mali Rechnung.
Vielen Dank. - Die erste Nachfrage des Kollegen
Dr. Rolf Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatsministerin,
wir haben in den letzten Tagen oder auch Wochen immer
wieder gehört, was die Bundesregierung im Hinblick auf
Mali alles ausschließt. Aber in den letzten Stunden haben wir lernen müssen, dass unter Umständen bereits ab
morgen - wenn ich es heute Morgen richtig verstanden
habe - Transportkapazitäten zur Unterstützung der
ECOWAS-Truppen zur Verfügung stehen, die Bundesregierung aber zu der Überzeugung gekommen ist, diese
Maßnahme durchzuführen, ohne dafür ein Mandat des
Parlaments einzuholen, auch nicht im Nachhinein. Vielleicht könnten Sie dem Deutschen Bundestag erklären,
warum man bei dieser Frage von der bisherigen Praxis
abweicht und insbesondere die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsheer nicht beachten will. Ich glaube, für meine Fraktion
sagen zu dürfen, dass wir durchaus bereit wären, eine
solche Mandatierung auch im Nachhinein mit Ihnen zu
diskutieren.
Herr Mützenich, gehen Sie davon aus, dass die Bundesregierung sehr sorgfältig die rechtlichen Voraussetzungen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von
Gerät für die ECOWAS-Operation in Mali prüft.
Sie haben insbesondere die zwei Transall-Transportflugzeuge angesprochen. Heute wurde vom Verteidigungsminister und vom Außenminister angekündigt, dass
sie für ECOWAS-Truppen in Mali zur Verfügung gestellt
werden. Rechtlich hat sich ergeben, dass dafür kein Bundestagsmandat erforderlich ist; denn der Einsatz der zwei
Transall-Flugzeuge liegt unterhalb der vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen Einsatzschwelle. Wenn
sich weitere Veränderungen ergeben, dann werden wir
den Deutschen Bundestag natürlich damit befassen. Das
ist selbstverständlich, das hatte ich in meiner Erklärung
eingangs schon formuliert.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Dr. Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatsministerin,
wir haben eben aus den Antworten auf die dringlichen
Fragen lernen können, dass die Bundesregierung - im
Gegensatz zu den Aussagen der letzten Tage - weitere
Hilfsmaßnahmen, die die Unterstützung der französischen Mission betreffen, sowohl in Bezug auf die weitere Logistik als auch auf die medizinischen Kapazitäten, nicht mehr ausschließt. Ich gehe - auch in Bezug auf
die Ausbildungsmission - davon aus, dass der Deutsche
Bundestag damit befasst wird. Wäre es aus Ihrer Sicht
nicht sinnvoll, diese beiden Aspekte - die Unterstützung
der ECOWAS-Truppen durch die Bundesregierung und
das, was dem französischen Partner in Aussicht gestellt
wird - in einem Mandat zusammenzuführen?
Ich will noch einmal daran erinnern, worauf Staatssekretär Schmidt zu Recht hingewiesen hat: Die Obleute
wurden heute darüber informiert, welches Gerät die
Bundesregierung der ECOWAS in Mali zur Verfügung
stellt und dass wegen der fehlenden rechtlichen Voraussetzungen ein Bundestagsmandat für den Einsatz nicht
notwendig ist.
Wir prüfen derzeit, wie wir Frankreich unterstützen
können. Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten - ich sage
das noch einmal ganz deutlich - steht ausdrücklich nicht
zur Debatte, doch wir können den Einsatz logistisch und
sanitätsdienstlich unterstützen. Wir prüfen gemeinsam
mit den europäischen Partnern - morgen findet die
Sondersitzung des EU-Außenrates statt; der Bundesaußenminister hat als Erster eine Beschleunigung des
Prozesses, ein sehr schnelles Zusammenkommen des
Außenrates gefordert - die Entsendung der gemeinsamen EU-Ausbildungsmission zur Schulung der malischen Streitkräfte. Wir werden Sie darüber natürlich auf
dem Laufenden halten, auch was die Mandatierung anbelangt.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. - Ich habe keine
weiteren Nachfragen, sodass ich nun die übrigen Fragen
auf Drucksache 17/12041 aufrufe, und zwar in der entsprechenden Reihenfolge.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 unserer Kollegin Frau Rita
Schwarzelühr-Sutter auf:
Waren die Berichte über Sicherheitsbedenken seitens des
schweizerischen Bundesamtes für Zivilluftfahrt hinsichtlich
der Ab- und Anflugkonzepte des Flughafens Zürich bei den
bisherigen Verhandlungen zum Staatsvertrag mit der Schweiz
der Bundesregierung bereits bekannt, und hatte es politische
Gründe, dass keine anderen Betriebskonzepte in die Verhandlungen mit der Schweiz einbezogen wurden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident, Frau Kollegin, diese Frage möchte ich
wie folgt beantworten: Berichte über Sicherheitsbedenken des schweizerischen Bundesamtes für Zivilluftfahrt
hinsichtlich der An- und Abflugkonzepte des Flughafens
Zürich sind der Bundesregierung nicht bekannt. Inhalt
der Staatsvertragsverhandlungen waren die Auswirkungen des Betriebs des Flughafens Zürich auf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland. Daher wurden
in den Staatsvertragsverhandlungen ausschließlich die
Betriebskonzepte mit den entsprechenden Auswirkungen berücksichtigt.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, wenn Sicherheitsbedenken durch das schweizerische Bundesamt bekannt
sind, werden diese Bedenken im Zuge der zugesagten
Nachverhandlungen des Bundesverkehrsministers mit
der Schweiz in den Staatsvertrag einfließen? Das spielt
ja doch eine bedeutende Rolle. Ich denke, Sicherheit
muss oberste Priorität haben.
Wir wissen nicht, ob seitens der Schweizer Regierung
solche Bedenken tatsächlich vorliegen. Deshalb ist es
völlig spekulativ, darüber nachzudenken, ob diese
Bedenken möglicherweise in Gespräche einfließen
könnten. Wir kennen solche Sicherheitsbedenken nicht.
Deshalb macht es auch keinen Sinn, sich dazu zu äußern.
Sie haben die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage.
Sie kennen die Bedenken nicht, aber selbst der Direktor des BAZL, Herr Müller, hat darüber ausführlich in
der Schweizer Presse, die die Bundesregierung bzw. das
Verkehrsministerium durchaus wahrnehmen, referiert.
Ich gehe also davon aus, dass das bis Berlin bzw. Bonn
gedrungen ist.
Bis wann ist denn mit den Nachverhandlungen zu
rechnen, die der Herr Minister am 26. November 2012
zugesagt hat?
Frau Kollegin, ich muss Sie korrigieren. Der Minister
hat keine Nachverhandlungen angekündigt. Er hat vielmehr gesagt, dass es um Präzisierungen in den Begründungen geht. Auf Schweizer Seite heißt das Vernehmlassungen; bei uns heißt das ein bisschen anders. Es geht
also ausschließlich darum, die Begründungen zum
Staatsvertrag zu präzisieren und Missverständnisse, die
offensichtlich entstanden sind, auszuräumen. Es geht
ausdrücklich nicht darum, den Staatsvertrag nachzuverhandeln.
Was den Kollegen Müller vom BAZL angeht, kann
ich nur so viel sagen: Er ist Mitglied der Schweizer Verhandlungsdelegation gewesen. Mir ist deshalb völlig
schleierhaft, wie plötzlich irgendwelche Sicherheitsbedenken aufkommen können. Wenn es diese Bedenken
gegeben hätte, hätte die Schweizer Seite diese sicher bei
den Staatsvertragsverhandlungen selber eingebracht.
Das hat sie aber nicht getan. Sie hat diesen Staatsvertrag
in Kenntnis des gesamten Sachverhalts mit uns ausverhandelt. Es geht jetzt darum, die entstandenen Irritationen zu beseitigen. Es geht nicht darum, den Staatsvertrag
nachzuverhandeln.
Vielen Dank. - Frau Kollegin Ute Kumpf hat eine
Nachfrage.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie waren ja von
Ihren eigenen Verhandlungen sehr begeistert und haben
uns im Verkehrsausschuss geschildert, wie toll dieser
ausgehandelte Staatsvertrag ist. Jetzt sind Fragen aufgetaucht, auch Sicherheitsbedenken geäußert worden. Sind
Sie im Interesse der deutschen Seite bereit, die Schleier
zu lüften und eventuell bei zukünftigen Gesprächen mit
der Schweizer Seite Fragen zu stellen - einige Fragen
haben wir ja gerade formuliert -, damit wir ein bisschen
Licht ins Dunkel bekommen?
Wir bewegen uns im Raum des Spekulativen, Frau
Kollegin. Im Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung kennen wir keine Sicherheitsbedenken
der Schweizer Seite.
({0})
Deshalb macht es keinen Sinn, darüber zu spekulieren,
({1})
wie die Bundesregierung damit umgehen würde, wenn
solche Bedenken auftauchen sollten.
Suggestiv- und Spekulativfragen können wir schlecht
beantworten.
Vielen Dank. - Ich rufe die zweite Frage unserer Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, Frage 2, auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Zwischenfälle
im An- und Abflugverkehr zum und vom Flughafen Zürich in
den vergangenen fünf Jahren gemeldet wurden, und, falls ja,
welche?
Herr Staatssekretär, ich darf Sie bitten, die Frage zu
beantworten.
Diese Frage von Frau Schwarzelühr-Sutter möchte
ich wie folgt beantworten: Der Bundesregierung liegen
regelmäßig keine Informationen über im Ausland stattgefundene Zwischenfälle im Flugverkehr vor.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, die Schweizer Flugsicherung
übernimmt auch über deutschem Hoheitsgebiet diese
Aufgabe. Wir alle können uns an den Zusammenstoß bei
Überlingen erinnern, der wirklich tragische Folgen hatte.
Das Verfahren ist immer noch anhängig. Und da haben
Sie kein Bedürfnis, Informationen zu bekommen, was
die Schweizer Flugsicherung über unseren Köpfen abwickelt?
Ich will zur Presse zurückkommen: Im letzten Jahr
gab es einen Beinaheunfall zwischen einer Passagiermaschine und einem Segelflugzeug in Grenznähe über
deutschem Gebiet. Das wurde nicht an unsere
Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung gemeldet. Das
heißt, keiner kümmert sich darum, was sich in dem funktionalen Luftraumblock tatsächlich abspielt? Sie wissen
also gar nichts?
({0})
Frau Kollegin, Ihre Frage ist dann nicht präzise genug
formuliert gewesen. Sie haben nach den An- und Abflügen auf dem Flughafen Zürich gefragt. Der Flughafen
Zürich befindet sich bekanntermaßen nicht auf deutParl. Staatssekretär Jan Mücke
schem Staatsgebiet. Nichtsdestotrotz wäre es hilfreich,
wenn der süddeutsche Luftraum, über den teilweise Anflüge auf den Flughafen Zürich stattfinden, gemeinsam
von Skyguide und der Deutschen Flugsicherung kontrolliert werden würde. Das ist im Übrigen auch der Grund
gewesen, weshalb wir diesen Staatsvertrag mit der
Schweiz verhandelt haben. Ich wäre außerordentlich
glücklich gewesen, wenn die SPD-Bundestagsfraktion
- vielleicht auch Sie persönlich - sich in der Lage gesehen hätte, diesen Staatsvertrag öffentlich mit zu unterstützen; denn das hätte dazu geführt, dass die Deutsche
Flugsicherung gemeinsam mit Skyguide - anders als das
heute der Fall ist - den süddeutschen Luftraum kontrolliert.
Ich kann Sie aber beruhigen: Es ist keineswegs so,
dass wir kein Interesse daran haben, sondern es gibt
dafür eine Behörde, nämlich das Bundesaufsichtsamt für
Flugsicherung in Langen. Diese Behörde erhebt alle
Daten, die das deutsche Hoheitsgebiet betreffen, von
Skyguide. Ich kann diese Daten, wenn Sie das wünschen, Ihnen gerne schriftlich nachreichen.
({0})
Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben eine zweite
Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, „zum und vom
Flughafen Zürich“ sei unpräzise formuliert. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung, wenn sie einen
Staatsvertrag abschließt, weiß, dass 75 Prozent der Anflüge auf Zürich über deutschem Gebiet stattfinden, und
dass sie, wenn sie einen Staatsvertrag zu funktionalen
Luftraumblöcken ratifiziert, auch weiß, dass man es mit
einer Flugsicherung zu tun hat. Wenn Sie es gewollt hätten, hätte man in diesen auch die Formulierung aufnehmen können, dass eine gemeinsame Flugüberwachung
installiert wird. Ich glaube, dass hier die rechte Hand
nichts von der linken Hand weiß. Ich bitte Sie aber doch,
sich die Informationen über Beinaheunfälle und Flugvorfälle zu beschaffen. Angeblich liegen die ja nicht vor.
Ich bitte Sie, das sehr zeitnah zu erledigen.
Frau Kollegin, ich kann mich nur wiederholen. Wenn
Sie Ihre Frage anders formuliert hätten,
({0})
hätten wir beim Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung
in Auftrag geben können, eine Übersicht zu erstellen,
wie viele Vorfälle es über deutschem Hoheitsgebiet
gegeben hat. Ihre Frage hat diese Präzision aber nicht
gehabt. Weil Sie nicht präzise gefragt haben, ist es ein
wenig schwer gewesen, darauf eine präzise Antwort zu
geben.
({1})
Das wird jetzt die Frau Kollegin Ute Kumpf machen,
die eine weitere Nachfrage hat. Bitte schön.
Ob ich das schaffe, wird sich herausstellen; denn Herr
Kollege Staatssekretär Mücke ist da ziemlich hartherzig.
({0})
Herr Mücke, Sie haben jetzt mitbekommen, dass es
doch etliche Irritationen gibt, was diesen Staatsvertrag
anbelangt, dass es Widerstand gibt und dass es auch
nicht die Bereitschaft gibt, diesen Staatsvertrag zu unterzeichnen. Es gibt auch eine große Irritation, was unsere
Verhandlungsführung anbelangt, in Bezug darauf, dass
Sie mehr der Schweizer Seite bzw. dem Charme der Verkehrsministerin erlegen sind, als unsere eigenen Interessen vertreten zu haben. Deswegen frage ich noch einmal
nach: Werden Sie bei den jetzt anstehenden Gesprächen
- wir nennen es einmal nicht „Verhandlungen“ - die
Irritationen, die jetzt aufgetaucht sind, ansprechen? Werden Sie bei diesen Gesprächen - nicht Verhandlungen auch unsere Fragen, die wir noch einmal präzisieren und
Ihnen schriftlich nachreichen können, stellen? Wir sind
ja keine Bittsteller, so glaube ich schon, dass wir schlicht
und einfach die Schweiz danach fragen dürfen.
Wir sind offen dafür. Wenn Sie uns zweckdienliche
Fragen stellen, werden wir diese selbstverständlich mitnehmen und sie in diesem Gespräch mit dem zuständigen Abteilungsleiter in der Schweiz gern ansprechen.
Ich kann aber nicht ahnen, welche Fragen Sie haben. Es
sind sehr viele unterschiedliche Beurteilungen und
Mutmaßungen zu diesem Staatsvertrag in der Öffentlichkeit unterwegs. Die wenigsten davon entsprechen der
Realität.
({0})
Ich bin immer noch der Auffassung, dass der ausgehandelte Staatsvertrag, der im Übrigen schon unterschrieben, nur noch nicht ratifiziert ist, eine gute Grundlage dafür ist, dass wir Flugsicherung gerade im
südbadischen Raum künftig anders organisieren können,
und zwar so, dass weniger Menschen von Flugverkehr
betroffen sind. Ich erinnere Sie daran, dass wir beispielsweise in diesem Staatsvertrag ausgedehntere Ruhezeiten
verhandelt haben. Das würde dazu beitragen, dass die
südbadische Bevölkerung schon heute um mehrere Stunden Flugverkehr in der Woche entlastet worden wäre. Es
ist bedauerlich, dass das in dieser öffentlichen Diskussion manchmal unter den Tisch fällt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir bleiben im
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung.
Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Dr. Ilja Seifert werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zur Frage 5, die unsere Kollegin
Cornelia Behm gestellt hat:
Welche neuen Erkenntnisse sind zwischen dem 18. Dezember 2012 und dem 4. Januar 2013 entstanden, die zu der
Einschätzung geführt haben, dass der Eröffnungstermin für
den Flughafen Berlin Brandenburg, BER, am 27. Oktober
2013 nicht mehr gehalten werden kann und die Probleme so
„gravierend, fast grauenhaft“ sind, wie es Horst Amann am
8. Januar 2013 gegenüber hr-info erklärte, dass noch nicht
einmal absehbar ist, wann ein neuer Eröffnungstermin genannt werden kann?
In dieser und in den weiteren Fragen geht es um die
Gründe und Auswirkungen der Verschiebung der Eröffnung des Flughafens Berlin Brandenburg.
Herr Staatssekretär, ich darf Sie bitten, die Frage 5 der
Kollegin Cornelia Behm zu beantworten.
Herr Präsident! Frau Kollegin Behm, meine Antwort
auf Ihre Frage möchte ich Ihnen mitteilen. Die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH, FBB, hat dem
BMVBS hierzu als Projektträgerin mitgeteilt: Am 4., 5.
und 6. Dezember, am 12., 13. und 14. Dezember sowie
am 17. und 18. Dezember 2012 fand die jüngste Serie
von Heißgasrauchversuchen im Terminal des Flughafens
BER statt. Die abschließende Auswertung der Versuche
erfolgte jeweils im Nachgang und fand ihren Abschluss
am 21. Dezember 2012. Die Auswertung der Ergebnisse
zeigte unmittelbar erheblichen Handlungsbedarf hinsichtlich der Anpassung und Veränderung der Entrauchungsszenarien, um die Chance auf Genehmigung
aufrechtzuerhalten. Im Lichte dieser Erkenntnisse wurden zwischen Weihnachten 2012 und Neujahr sowie in
den ersten Tagen des Jahres 2013 die daraus resultierenden Konsequenzen für Planung und Bau sowie die damit
zusammenhängenden zeitlichen Auswirkungen erfasst,
und zwar mit dem Ergebnis, dass die unausweichlichen
Maßnahmen nicht mehr im Zeitrahmen für eine Inbetriebnahme im Oktober 2013 darstellbar sind.
Ihre erste Nachfrage. Bitte schön, Frau Kollegin.
Ich würde gerne wissen, welche Informationen zur
möglichen Verschiebung des Eröffnungstermins des
Berliner Flughafens Herr Horst Amann dem Bundesminister Herrn Dr. Ramsauer und dem Staatssekretär
Rainer Bomba in ihrem gemeinsamen Gespräch am
19. Dezember 2012 mitgeteilt hat und inwieweit zum Inhalt dieses Gesprächs ein Protokoll existiert.
Den ersten Teil Ihrer Frage kann ich klar mit „keine“
beantworten.
({0})
- Darf ich bitte antworten?
({1})
Zum zweiten Teil der Frage: Es handelte sich bei dem
Treffen zwischen Herrn Amann und Herrn Bundesminister Ramsauer nicht um einen Termin, der vorher geplant
gewesen ist und deshalb in irgendeiner Art und Weise
protokolliert worden ist.
({2})
Vielmehr handelte es sich um ein kurzes Kennenlernen
in seinem Büro.
({3})
Ihre zweite Nachfrage.
Das ist immerhin interessant: Man lernt sich kennen,
schaut sich in die Augen, wechselt dann aber über das
Projekt, das einen verbindet, keine Worte, was man dann
vorsorglich auch nicht notiert. Gut.
({0})
Meine zweite Nachfrage. In einem Interview in der
Welt vom 27. Dezember 2012 - das war also kurz nach
Weihnachten - wird der Minister wie folgt zitiert:
Der Miteigentümer Bund sieht Anzeichen dafür,
dass der Eröffnungstermin am 27. Oktober 2013
möglicherweise nicht gehalten werden kann.
Inwieweit stützt sich diese Aussage auf Erkenntnisse
aus dem Gespräch mit Herrn Amann, also aus diesem
Kennenlerngespräch, das laut Spiegel Online vom
15. Januar 2013 am 19. Dezember 2012 geführt wurde?
Frau Kollegin Behm, wie ich Ihnen gerade erläutert
habe, hat dieses Gespräch nicht stattgefunden, um eine
mögliche Terminverschiebung anzukündigen, entgegenzunehmen oder irgendwie zur Kenntnis zu nehmen. Dieses Gespräch, das vielleicht nach Ihrer Vorstellung so
stattgefunden haben mag, hat es nicht gegeben.
Dazu etwas sagen konnte Herr Amann auch gar nicht;
denn, wie ich vorhin in einer meiner Antworten schon
ausgeführt habe, sind die Rauchgasversuche, die man am
BER unternommen hat, noch bis zum 21. Dezember
2012 ausgewertet worden. Die Ergebnisse sind zwischen
den Jahren, also zwischen Weihnachten und Neujahr, bewertet worden. Dann hat Herr Amann am 4. Januar 2013
einen Brief geschrieben und in diesem Brief mitgeteilt,
dass sich eine Verzögerung der Inbetriebnahme einstellen wird. Deshalb konnte er in dem Gespräch am 19. Dezember 2012 keine derartige Mitteilung an Bundesminister Peter Ramsauer gegeben haben.
({0})
Mir liegt jetzt noch eine Reihe einzelner Nachfragen
vor. Als Erster: Kollege Volker Beck.
Herr Kollege, da wir jetzt wissen, was alles nicht Inhalt des Gespräches am 19. Dezember 2012 war, versuche ich es einmal mit der umgekehrten Methode - vielleicht wäre es besser, wenn Herr Ramsauer hier wäre,
um diese Frage zu beantworten -: Was war Gegenstand
des Gespräches zwischen Herrn Ramsauer und Herrn
Amann am 19. Dezember 2012? Welche Themen wurden im Einzelnen erörtert? Oder ging es nur um gemeinsame Urlaubspläne und dergleichen?
Ich bin bei diesem Gespräch nicht dabei gewesen;
deshalb kann ich Ihnen dazu schlecht Auskunft geben.
Aber sicher ist, dass es nicht darum ging, dass in irgendeiner Art und Weise eine Verzögerung beim Termin der
Inbetriebnahme angekündigt oder mitgeteilt werden
sollte. Man hat sich lediglich darüber unterhalten, wie
der gegenwärtige Stand am BER ist; dass er schwierig
ist, war uns klar. Es ist in diesem Gespräch nicht mitgeteilt worden, dass es zu einer Verzögerung bei der Inbetriebnahme kommen wird. Diese Mitteilung konnte auch
nicht erfolgen - ich habe das schon ausgeführt -, weil
die Ergebnisse der Rauchgasversuche erst bewertet werden mussten. Die Ergebnisse dieser Bewertung sind uns
am 4. Januar 2013 mitgeteilt worden.
Kollege Volker Beck stellt einen Geschäftsordnungsantrag.
Ich hatte Herrn Ramsauer gestern brieflich gebeten,
dem Parlament in dieser Fragestunde Rede und Antwort
zu stehen. Sie sagten jetzt, dass Sie den Inhalt eines Gespräches, das Grundlage dieser Frage ist, nicht wiedergeben können, weil Sie nicht dabei waren. Wenn Sie nicht
dabei waren, kann man Ihnen das gar nicht vorwerfen.
Aber es ist unser konstitutionelles Recht als Parlament,
Antworten auf unsere Fragen zu bekommen. Deshalb
beantrage ich, den Bundesminister Peter Ramsauer herbeizuzitieren. Ich bitte den Präsidenten, darüber abstimmen zu lassen, ob der Minister herbeizitiert wird. - Soweit ich sehe, hat die Opposition die Mehrheit.
Herr Kollege Manfred Grund hat die Möglichkeit zur
Gegenrede.
Herr Kollege Beck, die Mehrheit stellt das Präsidium
- einvernehmlich oder nicht einvernehmlich - fest.
({0})
Was Ihren Antrag anbetrifft: Der Bundesminister hat
sich bereitgehalten. Da wir aber nicht absehen konnten,
zu welchem Zeitpunkt es in der heutigen Fragestunde
um dieses Thema geht, konnte er in diesem Augenblick
nicht hier im Plenum sein. Aber in einer Aktuellen
Stunde, die Sie vermutlich aus Ihren Fragen ableiten
werden, wird er hier anwesend sein.
({1})
Das Präsidium ist sich über die Mehrheitsverhältnisse
nicht einig.
({0})
- Es besteht, wenn ich es richtig sehe, keine Einigkeit.
({1})
Wie lautet der Antrag des Kollegen Volker Beck?
Ich beantrage, jetzt die Abstimmung darüber durchzuführen, ob der Minister herbeizitiert wird. Dann sehen
wir weiter.
Gut. - Nachdem keine Einigkeit über die Mehrheitsverhältnisse da ist, müssen wir die entsprechende Prozedur durchführen.
({0})
- Wir müssen zuerst abstimmen.
Ich lasse abstimmen über den Geschäftsordnungsantrag auf Herbeirufung von Bundesminister Peter
Ramsauer. Wer für diesen Antrag des Kollegen Volker
Beck ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Im Präsidium kann keine Einigkeit über die
Mehrheitsverhältnisse festgestellt werden.
Ich unterbreche jetzt die Sitzung und bitte die Geschäftsführer, auch der Oppositionsfraktionen, zu mir.
({1})
Wir kommen damit zu der nach unserer Geschäftsordnung vorgesehenen Abstimmung in Form eines Hammelsprungs.
Ich bitte jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, aus dem
Plenarsaal zu gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Abstimmung. Jetzt können alle den Saal durch die entsprechenden Türen betreten.
Darf ich einmal um ein Signal bitten, inwieweit alle
Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit hatten, an
der Abstimmung teilzunehmen? - Mir wird signalisiert,
dass sich keine Kolleginnen und Kollegen mehr vor den
Abstimmungstüren befinden und dass sich offensichtlich
auch niemand gehindert sieht, an dieser Abstimmung
teilzunehmen.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen.
Ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung bekannt, das mir die Schriftführerinnen und Schriftführer
mitgeteilt haben: 241 Kolleginnen und Kollegen haben
mit Nein gestimmt, 170 Kolleginnen und Kollegen mit
Ja, kein Kollege hat sich enthalten. Damit ist der Antrag
auf Herbeizitierung des Herrn Ministers abgelehnt.
({0})
Gleichwohl hat der Herr Minister auf der Regierungsbank Platz genommen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, die
notwendige Aufmerksamkeit herzustellen, damit wir mit
der Befragung fortfahren können. Die nächste Nachfrage
stellt der Kollege Liebich. Ich bitte den Herrn Minister
und den Herrn Staatssekretär, mir nach der Frage zu signalisieren, wer jeweils die Antwort gibt.
Kollege Liebich hat das Wort.
Schön, Herr Minister, dass Sie noch kommen konnten. Noch schöner wäre es gewesen, wenn Sie gleich da
gewesen wären. Wir brauchten Sie deshalb für die Befragung, weil Ihr Staatssekretär in der Beantwortung einer
Frage zuvor darüber Auskunft gegeben hat, dass er - Herr Minister! - Frau Wöhrl, Sie können den Minister
nicht ablenken. Ich stelle ihm gerade eine Frage.
Herr Minister, wir müssen die Frage deshalb an Sie
persönlich richten, weil Ihr Staatssekretär gerade sagte,
dass Sie in dem Gespräch zum Kennenlernen, das Sie
und Herr Amann am 19. Dezember geführt haben, nicht
miteinander über die mehrfach verschobene Flughafeneröffnung gesprochen haben. Was uns allerdings interessiert, ist: Worüber haben Sie eigentlich gesprochen?
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mit einer Vorbemerkung beginnen. Eine derartige Situation habe ich in über 22 Jahren Mitgliedschaft in diesem Hohen Hause noch nie erlebt.
({0})
Wie kann man bei einer solch absolut banalen Frage
- warum es sich um eine banale Frage handelt, werde ich
gleich näher erläutern -,
({1})
angesichts einer solchen Banalität - damit wende ich
mich an den Antragsteller Beck - die Geschäftsordnung
des Hohen Hauses derartig missbrauchen!
({2})
Jetzt komme ich zur Banalität. Die Banalität beinhaltet zwei Aspekte. Ich habe übrigens in meinem Büro gesessen und hier alles verfolgt.
({3})
- Man hat als Bundesminister manchmal lange Listen
von Telefongesprächen abzuarbeiten und Gespräche zu
führen usw.
({4})
Alle Fragen, die hier gestellt worden sind, habe ich
unter anderem gestern im zeitlichen und örtlichen Umfeld der Sondersitzung des Haushaltsausschusses vor
Mitgliedern des Haushaltsausschusses und vor allen
Dingen vor einer großen Zahl von Journalistinnen und
Journalisten
({5})
in aller Ausführlichkeit beantwortet.
({6})
Darüber ist ausführlich in vielen Agenturberichten und
auch heute in elektronischen Medien und Printmedien
berichtet worden. Wenn Sie das Geschehen so verfolgt
hätten, wie es Ihnen eigentlich aufgrund Ihres hier vorgetäuschten Interesses angemessen wäre,
({7})
dann würden Sie solche Fragen nicht stellen; denn dann
hätten Sie alle Antworten von vornherein bekommen.
Ich unterstelle aber nicht, dass Sie das Geschehen und
die Berichte der Agenturen sowie in Printmedien und
elektronischen Medien nicht verfolgt haben.
({8})
Sie kennen sehr wohl alle meine Antworten. Deshalb
sage ich: Was Sie hier aufführen, ist nichts anderes als
ein Missbrauch der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages.
({9})
Ich habe gestern in aller Ausführlichkeit darüber gesprochen.
({10})
Ich bin aber bereit, noch einmal darüber zu sprechen.
({11})
Der Dezember letzten Jahres weist in diesem Zusammenhang eine lange Chronologie auf.
({12})
Ich habe vor dem 19. Dezember x-mal in Interviews und
öffentlichen Äußerungen gesagt - ebenso wie der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit -, dass
es Anzeichen dafür gibt, dass möglicherweise der ins
Auge gefasste Eröffnungstermin 27. Oktober 2013 nicht
gehalten werden kann.
({13})
Es gab solche Anzeichen; darauf haben wir hingewiesen.
Es gab allerdings keinerlei Gewissheit, ob es zu einer
Verschiebung kommen muss.
Ich komme nun sofort zum 19. Dezember.
({14})
Ich wusste durch eine Mitteilung meines Staatssekretärs
Bomba vom Vortag, dass Herr Amann am 19. Dezember
in meinem Hause zu einem allfälligen Routinegespräch
mit Staatssekretär Bomba sein würde. Daraufhin habe
ich gesagt: Wenn Herr Amann schon im Hause ist, dann
möge er doch bei der Gelegenheit bei mir im Büro vorbeischauen - ich habe gesagt, wann ich auch im Hause
bin -, damit wir kurz miteinander reden können.
({15})
So viel zur Banalität. Wenn es umgekehrt gewesen wäre,
wenn Sie also in Erfahrung gebracht hätten - das traue
ich Ihnen glatt zu -, dass er wegen anderer Dinge im
Hause gewesen wäre und ich nicht die Gelegenheit genutzt hätte, mit ihm zu sprechen,
({16})
dann würden Sie mir das vorhalten.
Ich habe also gesagt: Wenn er schon da ist, möge er
zu mir ins Büro kommen.
({17})
Wir sind uns bei dieser Gelegenheit das erste Mal persönlich begegnet; wir haben uns kennengelernt. Insofern
ist die Aussage des Kollegen Staatssekretär Jan Mücke
korrekt. Wie Herr Amann selbst auf Befragen durch die
Presse bereits gestern oder vorgestern gesagt hat, haben
wir natürlich auch - stellen Sie sich vor! - über das
Thema Flughafen gesprochen.
({18})
- Über was denn sonst? Wir haben natürlich darüber gesprochen.
Herr Amann hat mir dargelegt - auch das hat Staatssekretär Mücke bereits angesprochen -, wie die Gefechtslage im Augenblick ist. Daraufhin war meine zentrale Frage: Kann man heute fest davon ausgehen, dass
es bei diesem Termin bleibt, oder gibt es Zweifel daran?
Muss er vielleicht verschoben werden? Die Aussage von
Herrn Amann war exakt die gleiche, die er schon Tage
und Wochen vorher getroffen hat und die er, wie mir berichtet worden ist, im Übrigen auch gegenüber Mitgliedern dieses Hauses aus anderen Fraktionen getroffen hat:
dass weitere Untersuchungen durchgeführt werden müssen - auch das hat Staatssekretär Mücke hier richtig festgestellt - und dass man über die Haltbarkeit oder die
Verschiebung dieses Termins erst Anfang Januar definitiv Auskunft geben kann.
({19})
Am Ende dieses Gesprächs, das 15 bis 20 Minuten
gedauert hat, war ich also genauso schlau wie vorher,
was die Frage „Kann man den Termin halten oder
nicht?“ betrifft. Ich bin Herrn Amann dankbar, dass er
hier nicht vollmundig irgendetwas verheißt, was dann
nicht gehalten werden kann, sondern die Dinge nennt,
wie sie faktisch sind.
Vorhin hat eine Kollegin nach dem Welt-Interview gefragt, das am 27. Dezember des vergangenen Jahres erschienen ist. Dieses Interview ist vor meinem Gespräch
mit Herrn Amann am 19. Dezember geführt worden. Ich
habe in diesem Interview das gesagt, was ich vorher
schon x-mal gesagt habe: dass es Zweifel an der Haltbarkeit des Termins gibt. Ich habe das beispielsweise am
14. Dezember in einem Pressehintergrundgespräch gesagt. Ich habe es am Sonntag, dem 16. Dezember, im
Bericht aus Berlin gesagt. Ich habe es am Mittwoch,
dem 19. Dezember, im Morgenmagazin wieder so formuliert. Der Verdacht, der mir gegenüber vom SPD-Vorsitzenden geäußert worden ist, ich hätte am 19. Dezember irgendeine revolutionäre Neuigkeit erfahren und
diese verschwiegen, ist also an den Haaren herbeigezogen. Ich habe mich gegen diese Unterstellung auch gewehrt.
Im Übrigen: Selbst wenn es so wäre,
({20})
dass so etwas mitgeteilt worden ist - was so nicht der
Fall war -: Für die weiteren Dinge, die heute beispielsweise im Aufsichtsrat erörtert werden, wäre es nicht relevant gewesen.
Aber, wie gesagt, dieses Gespräch war von einer Natur und einer Charakteristik, wie ich sie gerade dargelegt
habe. Über solche Gespräche werden auch keine Protokolle geführt. Dieses Gespräch hat unter sechs Augen
stattgefunden. Sechsaugengespräche dieser Art - das
möchte ich hier auch einmal sagen - müssen in einer
Vertraulichkeit möglich sein, für die Sie seitens der Opposition nicht unbedingt jede Publizität einfordern können.
({21})
Jetzt habe ich Sie, glaube ich, hinreichend eingeweiht.
Erst einmal ein geschäftsleitender Hinweis, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben noch 44 Minuten für
die Fragestunde. Ich bitte sowohl die Fragenden wie natürlich auch die Vertreter der Bundesregierung, nach den
ausführlichen Antworten, die ich aufgrund der Situation,
in der wir uns hier befinden, zugelassen habe, zu den
verabredeten Regeln zurückzukommen, was die Frageund Antwortzeit betrifft.
Die nächste Nachfrage zur Frage 5 stellt der Kollege
Jarzombek.
Herr Bundesminister, ich bin jetzt in der Verlegenheit,
Sie angesichts dessen befragen zu müssen,
({0})
dass der bisherige Aufsichtsratsvorsitzende Wowereit
dreimal der Einladung in den Verkehrsausschuss des
Bundestages nicht nachgekommen ist und uns bisher
keine Frage beantworten konnte. Das, was uns alle natürlich brennend interessiert - ({1})
- Frau Präsidentin, vielleicht können Sie hier die Arbeitsfähigkeit herstellen.
({2})
Herr Bundesminister, die Frage, die uns interessiert,
ist, ob der Aufsichtsratsvorsitzende in der gleichen Zeit,
über die hier gerade geredet wird, ebenfalls Gespräche
mit Herrn Geschäftsführer Amann geführt hat, um vielleicht selbst in der Sache Erkenntnisse über den Fortschritt des Projektes und eine realistische Zielvorgabe
bezüglich der Zeit zu bekommen. Während Sie mit
Herrn Amman gesprochen haben, hatten Sie da den Eindruck, dass eine entsprechende Kommunikation stattfindet und auch Herr Wowereit sich darüber informiert hat,
was bei diesem Flughafen Sache ist?
({3})
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege
Jarzombek! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Ich gehe davon aus, dass sich der damalige Vorsitzende
des Aufsichtsrats, der Kollege Wowereit, ebenfalls laufend über die jeweiligen Gegebenheiten und über den jeweiligen Status quo informiert hat. Darüber, wann solche
Gespräche und in welcher Form die Informationsgewinnung stattgefunden haben, kann ich leider Gottes nichts
berichten, weil es sich schlicht und einfach meiner
Kenntnis entzieht. Ich frage nicht täglich bei Wowereit
nach: Mit wem haben Sie heute gesprochen? Worüber
haben Sie gesprochen? In welcher Weise haben Sie gesprochen? Was waren die Antworten? - Jeder geht seinen eigenen Pflichten nach.
Die nächste Frage stellt der Kollege Kahrs.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, Sie
hatten eben den Mitgliedern des Bundestages Missbrauch der Geschäftsordnung vorgeworfen, weil Sie ihnen bereits gestern im Haushaltsausschuss Rede und
Antwort gestanden hätten. Da ich gestern zufällig im
Haushaltsausschuss dabei war, kann ich mitteilen, dass
ich im Haushaltsausschuss keine einzige Wortmeldung
von Ihnen gehört habe. Sie haben zwar vor und nach der
Sitzung des Haushaltsausschusses länglich mit der
Presse geredet, haben aber im Haushaltsausschuss keine
einzige Frage beantwortet, weil Ihre Koalition das mit
Mehrheit so beschlossen hat, weshalb das nicht möglich
war. Das heißt, die Möglichkeit, mit Ihnen zu reden, erschließt sich den Abgeordneten jetzt zum ersten Mal.
({0})
Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege Kahrs! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich konnte in Ihrer Wortmeldung zwar keine Fragestellung erkennen, aber ich
möchte dennoch etwas dazu sagen. In der Sondersitzung
des Haushaltsausschusses gestern um 11 Uhr war ich
wunschgemäß zugegen. Der Kollege Schindler hat bis
11 Uhr behauptet, ich käme nicht. Und plötzlich war ich
selbstverständlich da.
({0})
- Ja, selbstverständlich war ich da. Das kam Ihnen etwas
in die Quere, aber ich war da. Das hat einigen offensichtlich nicht gepasst.
Ich habe dann in der Ausschusssitzung festgestellt,
dass ich da bin und auch bereit bin, über alle Dinge zu
sprechen. Allerdings war Geschäftsgrundlage des Geschehens im Haushaltsausschuss, dass nicht nur ich da
bin, sondern auch weitere geladene Gäste. Weitere geladene Gäste sind aber nicht erschienen; dafür sind auch
Gründe angeführt worden. Dann war es Auffassung der
Mehrheit des Ausschusses, dass man vor diesem Hintergrund eine Sinnhaftigkeit in der Fortführung der Haushaltsausschusssitzung nicht erkennen könne. Deshalb ist
die Sitzung um Punkt 12 Uhr beendet worden.
({1})
Aber ich nehme an, dass dem Protokoll des Haushaltsausschusses zu entnehmen sein wird, dass ich im
Haushaltsausschuss das Wort ergriffen habe. Den Zeitzeugen ist auch sicher nicht entgangen, dass ich sowohl
vor der Ausschusssitzung - sowohl zeitlich als auch im
räumlichen Sinne - als auch danach ohne jede zeitliche
Restriktion Fragen entgegengenommen und Antworten
gegeben habe gegenüber einer großen Zahl von Medienvertretern und auch gegenüber allen Kolleginnen und
Kollegen. Lieber Kollege Kahrs, ich glaube, da auch Sie
da waren, können Sie das, was ich gerade dargelegt
habe, sicher nur bestätigen.
({2})
Gestatten Sie den Hinweis, Kollege Kahrs, dass Sie
zu dieser Frage nur eine Nachfrage stellen können! Das
heißt, wenn Sie sich noch einmal melden wollen, müssen
Sie warten, bis ich irgendwann die Frage 6 aufrufe und
die Frage 6 beantwortet ist.
({0})
- Das kann ich leider nicht ändern. Das sind die Regeln,
die wir uns selbst gegeben haben.
Ich mache auch darauf aufmerksam, dass wir im Moment noch in der Phase der Nachfragen zur Antwort auf
die Frage 5 sind. Unsere Verabredung lautet, dass diese
Nachfragen jeweils eine Minute maximal dauern sollen;
im Übrigen die Antworten auf die Nachfragen ebenfalls.
Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Hofreiter.
Ich möchte, weil ich der Ausschussvorsitzende bin,
an die Kollegin Haßelmann weitergeben.
In Ordnung. Dann hat die Kollegin Haßelmann das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Ramsauer, eingangs ganz kurz Folgendes:
Punkt eins. Es ist eine Unverschämtheit, dass Sie als
Minister hier zum Ausdruck bringen, dass wir eine überflüssige Geschäftsordnung haben. So geht das hier nicht.
({0})
Ich finde, gerade Ihre Einlassungen zeigen, wie notwendig die Geschäftsordnung für das Parlament ist, wenn es
darum geht, dass wir unsere Rechte wahrnehmen.
Punkt zwei. Ich finde, dass Sie sich hier reichlich aufblasen angesichts dessen, dass der Bund eine Beteiligung von 26 Prozent hat und dieser ganze Bereich des
Flughafendesasters auf der Bundesebene in Ihrer Personalverantwortung steht.
Jetzt zum Inhalt. Ich bin gespannt, was das Plenarprotokoll und das Protokoll der Haushaltsausschusssitzung
ausweisen werden. Sie haben hier vorhin gesagt, Sie hätten umfangreiche Fragen der Haushaltsausschussmitglieder beantwortet. Anlässlich der Frage des Kollegen
Kahrs haben Sie deutlich gemacht, dass Sie da ein bisschen geredet haben.
Ich finde, Sie sind verpflichtet, hier die Wahrheit zu
sagen. Deswegen werde ich mir Ihre Antwort auf meine
Frage genau angucken. Meine Frage lautet: Welche Probleme hat Herr Amann mit Ihnen ganz konkret in dem
Gespräch am 19. Dezember besprochen? Von welchen
Problemen am BER hat er gesprochen, und welche Risiken hat er wie eingeschätzt?
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. Damit sich da ja nichts Falsches verfestigt: Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, Frau
Kollegin Haßelmann: Ich habe nicht gesagt, dass wir - ({0})
- Wem ist das „Doch!“ gerade entfahren?
({1})
- Dann wundert es mich nicht. - Ich habe nicht von einer überflüssigen Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gesprochen.
({2})
Bitte nehmen Sie das nicht nur zur Kenntnis, sondern
nehmen Sie diese Behauptung bitte zurück!
({3})
Zweitens. Zu Ihrer Nachfrage zu umfangreichen Antworten, die ich gestern gegeben habe: Ich habe während
der offiziellen Dauer der Ausschusssitzung, soweit der
Ausschuss offiziell getagt hat - er war unterbrochen -,
das Wort im Ausschuss ergriffen, und ich habe in der Sitzungsunterbrechung gegenüber den Koalitionsmitgliedern im Haushaltsausschuss - das können viele, die jetzt
hier sind, bestätigen; Kollege Koppelin nickt gerade ausführlich Fragen beantwortet.
({4})
Ich habe beispielsweise am Rande des Plenums und gestern danach am Rande auch Kollegen von der Opposition gesprochen.
({5})
Beispielsweise dem Kollegen Danckert, den ich jetzt gerade nicht sehe,
({6})
habe ich ausführliche Antworten auf Fragen gegeben,
die ich beantworten kann. Warum bitte nehmen Sie es
mir übel,
({7})
wenn ich ohne Ansehen der Fraktionszugehörigkeit Fragen beantworte? Ich finde, das kann ein Mitglied des
Hohen Hauses - ohne Ansehen der Fraktionszugehörigkeit - vom Minister erwarten, soweit es dem Minister
gestattet ist, eine Antwort zu geben.
({8})
So viel zum Thema Wahrheit.
Jetzt noch einmal zu der Frage: Was ist besprochen
worden? 15 bis 20 Minuten hat dieses Gespräch gedauert.
({9})
Es wurde von Herrn Amann dargelegt, wo die einzelnen
Schwierigkeiten liegen. Das alles war aber ausschließlich eine Schilderung dessen, was ich bereits wusste, was
Sie x-mal in den Medien nachlesen können, beispielsweise die Schwierigkeiten bei der Entrauchungsanlage,
dass es weiterer Tests und Prüfungen bedarf, ob aufgrund beispielsweise der physikalischen Gegebenheiten
eine Entrauchung in diesem Umfang funktionieren kann
oder nicht, ob und, wenn ja, in welchem Umfang Umplanungen und Umbauten erforderlich werden können, dass
dies alles offene Fragen sind, deren Prüfung noch Zeit in
Anspruch nimmt, über Weihnachten hinaus, und dass
Antworten erst am 5. oder am 8. Januar gegeben werden
können. Darum hat es sich bei diesem Gespräch gehandelt. Die Conclusio aus dem Gespräch war, dass weder
die Haltbarkeit des Termins 27. Oktober bestätigt werden kann noch dass verkündet werden könnte, dass eine
Verschiebung erforderlich ist. Mehr kann ich Ihnen zum
Inhalt dieses Gesprächs nicht mitteilen.
Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Herzog.
Herr Bundesminister, Sie sind seit 1990 im Deutschen
Bundestag. Offenbar ist Ihnen auf der Strecke abhanden
gekommen, dass es für Abgeordnete keine Verpflichtung
gibt, den Gesprächen des Ministers mit Journalisten zu
folgen, dass es aber sehr wohl eine Verpflichtung des
Ministers gibt, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen.
({0})
Sie können sich nicht auf das berufen, was Sie irgendwo
vor der Tür mit irgendwem gesprochen haben.
Ich will Ihnen eine kurze Frage stellen: Sie haben gesagt, das Gespräch mit Herrn Amann habe unter sechs
Augen stattgefunden. Ich vermute, das war wörtlich gemeint. Daher interessiert mich, wer die dritte Person war,
die bei diesem Gespräch dabei war. Oder gab es noch
weitere Personen?
Herr Kollege, ich nehme an, Sie sind gerade erst gekommen.
({0})
- Dann ist es Ihnen offensichtlich entgangen, was ich
vor etwa fünf oder zehn Minuten dargelegt habe. Ich
habe erläutert, dass außer Herrn Amann und mir der
Staatssekretär Rainer Bomba zugegen war. Ich habe vorhin erläutert,
({1})
dass sich Herr Amann zu einem allfälligen Gespräch mit
Herrn Staatssekretär Bomba in meinem Ministerium befunden hat. Anlässlich dieser Tatsache habe ich darum
ersucht, dass Herr Bomba mit Herrn Amann kurz zu mir
ins Ministerbüro kommen möge. Also: Es waren drei
Personen. Die Namen sind jetzt genannt worden.
Noch einmal: Ich halte es in einem solchen Fall für
eine Selbstverständlichkeit, dass man die Gelegenheit eines solchen Gesprächs ergreift. Wenn man es nicht täte,
würde man eine Gelegenheit verpassen.
({2})
Ich halte es für richtig, dass ich dies so gemacht habe.
Ich würde es in einer analogen Situation selbstverständlich wieder genauso machen.
({3})
Wenn es mir möglich ist, empfange ich Gäste und spreche mit ihnen. Wenn Sie daran etwas Negatives sehen,
dann habe ich eine andere Auffassung dazu.
({4})
Im Übrigen: Was heißt „Verpflichtung“? Sie haben
natürlich keine Verpflichtung, Zeitung zu lesen. Es passt
aber nicht zusammen, auf der einen Seite solche Fragen
zu stellen und auf der anderen Seite so zu tun, als hätte
man gestern und heute von den zahlreichen Medienverlautbarungen zu diesem Themenkomplex nichts mitbekommen.
({5})
Zur Richtigstellung, Herr Minister: Im Unterschied zu
Ihnen war ich schon zu Beginn der Fragestunde hier und
die ganze Zeit anwesend.
Wir kommen trotzdem zu den hier registrierten Nachfragen. Ich mache darauf aufmerksam: Wir sind immer
noch bei Frage 5. Der Kollege Bartol stellt seine Nachfrage.
({0})
- Dann hat die Kollegin Rawert das Wort. - Auch das
hat sich erledigt. Dann kommt die Kollegin Kotting-Uhl.
Herr Minister Ramsauer, ich muss sagen: Als Abgeordnete, die nicht Mitglied des Haushaltsausschusses
und des Verkehrsausschusses ist, strapaziert mich dieses
Frage-Antwort-Spiel schon sehr.
({0})
Ich habe den Eindruck, dass Sie unheimlich viel Zeit haben müssen. Es ist erstaunlich, dass Sie und Ihr Staatssekretär sich mit jemandem treffen - also zwei sehr hochrangige Funktionen: der Minister und der Staatssekretär
- und in dem Gespräch als Ergebnis nur das herauskommt, was Sie schon wussten. Sie und Ihr Staatssekretär investieren 15 bis 20 Minuten, und es kommt dabei
nichts Neues heraus.
({1})
Demgegenüber haben Sie gerade eben gesagt, Sie hätten eine Gelegenheit verpasst, wenn Sie das Gespräch
nicht geführt hätten. Ich frage Sie jetzt: Wenn Sie das
Gespräch als Gelegenheit wahrgenommen haben, dann
haben Sie offensichtlich auch Erwartungen gehabt.
Wenn wir jetzt schon nicht hören können, was das Gespräch ergeben hat - nichts hören wir -, dann sagen Sie
uns doch bitte, was Sie denn von dem Gespräch erwartet
haben.
({2})
Frau Kollegin Kotting-Uhl, zunächst tut es mir leid,
wenn Sie sich durch Ihre parlamentarische Tätigkeit in
dieser Weise strapaziert fühlen.
({0})
Parlamentarische Tätigkeit ist manchmal strapaziös,
aber ich stelle mich dieser Strapaze seit über 22 Jahren,
und zwar mit ungebremster Freude.
({1})
Wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, werfen Sie
mir vor, dass ich als Minister mit 15 bis 20 Minuten zu
viel Zeit in dieses Gespräch investiert habe. Gestern
habe ich einen gegenteiligen Vorwurf vernommen. Der
lautete, warum ich mir nicht mehr Zeit genommen hätte,
um ein solches Gespräch zu führen. Der Vorwurf kam
auch aus der Opposition. Die einen sehen es so, die anderen so. Ich bin überzeugt, dass ich richtig gehandelt
habe, und würde genau so wieder verfahren.
Jetzt sagen Sie: Bei diesem Gespräch kam nichts heraus, warum haben Sie es dann geführt? Sie kennen solche Lebenssituationen sicher auch; ich bringe es auf den
Punkt: Man muss sich eben ständig gewisser Dinge vergewissern. Im ständigen Bemühen um Vergewisserung
kommt manchmal weniger und manchmal mehr heraus.
Ich habe dem Gespräch entnommen, dass weder definitiv eine Verschiebung des Termins verkündet noch das
Einhalten des Termins bestätigt werden kann. Ich bin
froh, dass ich vom entscheidenden Mann in der Geschäftsführung darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass
weitere Tests erforderlich sind. Insofern war ich wieder
auf dem Laufenden. Alleine dieser Vergewisserung wegen hat sich dieser Zeitaufwand bereits gelohnt.
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Cornelia Behm auf:
Warum hat Bundesminister Dr. Peter Ramsauer einen Abwahlantrag gegen Professor Dr. Rainer Schwarz angekündigt,
obwohl in der letzten Aufsichtsratssitzung einstimmig und auf
Vorschlag des Bundes beschlossen wurde, dass zunächst eine
haftungsrechtliche Prüfung durchgeführt werden soll, und ist
mittlerweile eine Rechtsanwaltskanzlei bzw. eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit dieser Prüfung beauftragt worden?
({0})
- Kollege Beck, Sie haben schon vor der Unterbrechung
eine Nachfrage gestellt, deshalb können Sie jetzt keine
weitere Nachfrage stellen, sondern müssen erst die Beantwortung dieser Frage abwarten.
Ich mache darauf aufmerksam, dass wir uns darauf
geeinigt haben, dass wir für die erste Frage und die erste
Antwort zwei Minuten einplanen und dass die nachfolgenden Fragen bitte innerhalb einer Minute gestellt und
durch die Bundesregierung beantwortet werden.
Ich sehe, der Staatssekretär steht zur Beantwortung
der Frage 6 bereit. Sie haben das Wort.
Frau Kollegin Behm, die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage lautet:
Die vom Aufsichtsrat beschlossene haftungsrechtliche Prüfung dient der Ermittlung der Erfolgsaussichten
der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen
vormalige sowie tätige Geschäftsführer und Aufsichtsräte. Das Verfahren zur Auswahl einer Rechtsanwaltskanzlei bzw. Wirtschaftsprüfungsgesellschaft läuft noch.
Es liegt im Ermessen des Aufsichtsrates, sich bereits vor
Abschluss der haftungsrechtlichen Prüfung mit einer
Abberufung von Herrn Professor Dr. Rainer Schwarz als
Geschäftsführer zu befassen.
({0})
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. Ich würde gerne wissen, wer aus dem
Aufsichtsrat für die Suche nach einem Nachfolger bzw.
einer Nachfolgerin von Herrn Schwarz zuständig ist und
seit wann nach dieser Person gesucht wird. Wann soll
diese Person dann die Aufgaben von Herrn Schwarz
übernehmen, von dem wir ja nun alle gehört haben, dass
er abberufen wird?
({0})
Frau Kollegin Behm, es ist die Aufgabe des gesamten
Aufsichtsrates, einen Nachfolger zu bestellen. In der
Praxis ist es so, dass der Präsidialausschuss und, soweit
vorhanden, der Personalausschuss, der mit entsprechenden Fragen befasst ist, diese Entscheidung vorbereiten.
Da die Entscheidung zur Abberufung von Herrn Professor Schwarz als Geschäftsführer gerade eben erst getroffen wurde, ist eine Aussage dazu, wann und durch wen
eine Nachbesetzung erfolgt, heute naturgemäß nicht
möglich.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Da hat man sich also noch nicht auf ein Zeitfenster
geeinigt?
({0})
Ich möchte gerne wissen, ob es zutrifft, dass die Beauftragung der Rechtsanwaltskanzlei und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die die haftungsrechtliche Prüfung, von der wir eben gesprochen haben, vornehmen
sollen, durch die Geschäftsführung der Flughafen Berlin
Brandenburg GmbH erfolgt und nicht durch das Bundesverkehrs- und -bauministerium. Wenn das stimmt, warum ist das so?
Das ist sehr einfach, Frau Kollegin Behm: Das Bundesverkehrsministerium ist kein Organ der FBB; in diesem Verfahren können nur Organe der FBB tätig werden, in diesem Fall der Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat
beauftragt eine Anwaltskanzlei oder eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Wie ich Ihnen aber gerade gesagt
habe, ist das Verfahren der Suche nach einer passenden
Kanzlei noch nicht abgeschlossen. Deshalb ist eine Aussage dazu, wann und durch wen die Prüfung erfolgt, jetzt
nicht möglich.
Eine Nachfrage stellt nun die Kollegin Gottschalck.
({0})
- Hat sich erledigt. Dann hat der Kollege Burkert das
Wort.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Meine Frage lautet:
Sehen Sie in der heutigen Abwahl des Herrn Schwarz
durch den Aufsichtsrat eine Beeinträchtigung des operativen Geschäfts in einer schwierigen Phase am Flughafen Berlin-Tegel? Wie wollen Sie sicherstellen, dass die
schwierige Situation, die sich durch die weitere Verschiebung der Eröffnung des neuen Flughafens ergibt,
gemeistert wird?
Das ist keine Frage, die das Bundesverkehrsministerium zu beantworten hat. Vielmehr ist es eine Frage, die
die nunmehr verbliebene Geschäftsführung zu beantworten hat. Der Aufsichtsrat führt die Aufsicht über die GeParl. Staatssekretär Jan Mücke
schäftsführung. Wir gehen davon aus, dass das Personal
in Tegel, das jeden Tag fleißig seine Arbeit macht, die
Situation in der Übergangszeit bewältigen kann, auch
ohne dass Herr Professor Schwarz die Aufsicht führt.
Kollege Beck, Sie haben das Wort.
Vor dem Hintergrund, dass es jetzt auch um Personalfragen geht, frage ich den Bundesverkehrsminister: Gab
es tatsächlich bei dem Gespräch am 19. Dezember kein
anderes Thema bezüglich des Flughafens als die von Ihnen vorhin in der Antwort angeführte Entrauchungsanlage und die entsprechenden Entrauchungsversuche, die
vor dem Gespräch stattgefunden hatten?
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Beck, das Gespräch war geprägt von Fragen rund um den Flughafen und von den Problemen, die
es dort gibt. Ich schließe nicht aus, dass ganz am Rande,
beispielsweise beim Verabschieden, noch das eine oder
andere freundliche Wort darüber gefallen ist,
({0})
was denn die bevorstehende Weihnachtszeit unabhängig
vom Flughafen so bringt.
({1})
Sie können noch so lange herumbohren; ich finde es
langsam wirklich müßig, dass Sie in einer im Grunde genommen alltäglichen Begebenheit herumstochern.
({2})
Das ist etwas, was auch Ihre Fraktionskollegin strapaziert. Hiermit stelle ich fest: Ich bin der Meinung, dass
ich über diesen Vorgang erschöpfend und hinreichend
Auskunft gegeben habe.
({3})
Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Ströbele.
Herr Minister, mich überzeugt das nicht. Ganz Berlin
und die halbe Republik sprechen und rätseln darüber,
auch schon am 19. Dezember vergangenen Jahres: Wann
können wir weg aus Tegel, wann können wir vom und
zum Flughafen „Willy Brandt“ in Schönefeld fliegen?
Sie treffen nun den Mann, der wahrscheinlich die meisten Fachkenntnisse darüber hat, was noch zu tun ist. Sie
haben ihm gegenüber offenbar eines der Probleme angesprochen. Nun wollen Sie sagen, dass Sie mit keiner
Silbe darüber geredet haben, wie lange die Arbeiten
noch dauern könnten und wann damit zu rechnen sei,
dass man es verantworten kann, Passagiere auf den Flughafen zu lassen. Das wollen Sie allen Ernstes weiterhin
so behaupten?
({0})
Sie haben das Wort, Herr Minister.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Ströbele, zunächst zur Äußerung des Kollegen Beck nach der Beantwortung seiner Frage. Wahrscheinlich steht sie als Zwischenruf im Protokoll. Ich
habe ihn sinngemäß so verstanden: „Wer so antwortet,
hat etwas zu verbergen!“ Für den Fall, dass sich das im
Protokoll wiederfindet, möchte ich mich ausdrücklich
und entschieden dagegen verwahren, Herr Kollege Beck,
dass ich etwas zu verbergen habe.
({0})
Ich habe nichts zu verbergen, und ich wünsche mir hier
öfter die Art an Transparenz, wie ich sie an den Tag lege.
({1})
Ein weiterer Punkt. Herr Ströbele, Sie werden schwer
von etwas zu überzeugen sein. Sie haben die Frage gestellt - ich fasse Ihre Frage zusammen -: Wann wird ein
neuer Eröffnungstermin genannt? Wann kann der neue
Flughafen in Betrieb genommen werden? Übrigens stellen mir viele Mitglieder dieses Hauses die umgekehrte
Frage: Wie lange können wir noch ab Tegel fliegen?
({2})
Auch das ist eine interessante Fragestellung.
({3})
Die Betriebsgenehmigung für Tegel erlischt nach Inbetriebnahme des neuen Flughafens in Schönefeld.
({4})
Auf Ihre Frage, wann ein neuer Termin genannt werden kann, kann ich nur antworten, wie es sinngemäß die
Kollegen Wowereit und Platzeck in den letzten Tagen
auch getan haben, nämlich: Ein neuer Termin kann erst
genannt werden, wenn alle technischen und planerischen
Fragen so weit geklärt sind, dass verlässlich prognostiziert werden kann, wann der Bau fertiggestellt werden
kann. Dann schließt sich der mehrmonatige Probebetrieb
an. Erst dann kann der neue Zeitpunkt der Inbetriebnahme ermittelt werden.
Wann der neue Termin genannt werden kann - ob das
im Frühjahr ist, im Sommer oder möglicherweise nach
dem Sommer -, vermag ich Ihnen heute von dieser
Stelle aus genauso wenig zu sagen wie irgendjemand
sonst in verantwortlicher Position rund um den Flughafen.
Ich rufe Frage 7 des Kollegen Stephan Kühn auf.
({0})
- Entschuldigung, Kollege Kühn, können Sie bitte noch
einen kleinen Moment Ihr Informationsbedürfnis zurückstellen? Wir haben den Kollegen Liebich übersehen.
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir zunächst die Vorbemerkung, dass es mich schon erstaunt, wie das Fragerecht von Abgeordneten durch Vertreter der Bundesregierung bewertet und infrage gestellt wird. Das kenne
ich aus der Arbeit im Abgeordnetenhaus von Berlin
nicht. Ich hoffe nicht, dass das hier im Deutschen Bundestag üblich ist.
Zu meiner Frage, Herr Ramsauer - um von dem Gespräch wegzukommen, über das sie nicht so viel reden
wollen -: Das Gespräch fand am 19. Dezember statt.
Vorhin hat Herr Staatssekretär Mücke gesagt, dass am
21. Dezember die Experimente mit der Rauchgasanlage
abgeschlossen waren. Am 4. Januar ist den Referenten
der Mehrheitsgesellschafter in einem Brief per Bote die
Information zugegangen, dass der Eröffnungstermin erneut verschoben wird. Mich interessiert Ihre Bewertung
der Dauer und der Art und Weise der Informationsübermittlung.
Sie haben das Wort, Herr Minister.
Herr Kollege Liebich! Sehr verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle das Fragerecht nicht infrage. Ich bin selbst lang genug Parlamentarier und lang genug in parlamentarischen Führungspositionen und habe immer darauf beharrt. Dass dies
eine ausführliche Debatte ist, zeigt sich im Übrigen allein daran, dass die Dauer der Debatte über dieses eine
Gespräch schon jetzt die Dauer meines Gesprächs am
19. Dezember 2012 mit Herrn Amann um ein Mehrfaches übersteigt.
({0})
Stärker kann man das Ganze nicht zerlegen und atomisieren.
({1})
Noch einmal zum Ablauf - darüber habe ich in einer
Berliner Zeitung heute schlicht und einfach Unsinn gelesen; darum bin ich sehr dankbar für diese Frage -: Nach
meiner Kenntnis - Sie haben das korrekt dargestellt wurde die Feststellung von Herrn Amann, wenn ich das
richtig in Erinnerung habe, am 4. Januar 2013 - das war
ein Freitag - im Laufe des Nachmittags an bestimmte
Adressaten überstellt - in einem verschlossenen Umschlag, soweit ich informiert bin. Die Dienstzeit war
möglicherweise vorbei. Was ich jetzt sage, ist gestern
x-mal vor Medienvertretern öffentlich verlautbart und
breitgetreten worden; aber ich wiederhole es gerne und
geduldig weiter.
({2})
- Ich weise ja nur darauf hin; nicht dass jemand sagt,
ich würde mich wiederholen, und mir das zum Vorwurf
macht. Natürlich kann ich hier nur wiederholen, was
gestern x-mal gesagt worden ist,
({3})
auch von mir.
Staatssekretär Bomba ist, was nicht gewöhnlich ist,
am Sonntag ins Ministerium gekommen.
({4})
Das ist nicht gerade eine übliche Dienstzeit. Er hat diesen Brief geöffnet und mir den Inhalt dieses Briefes
sinngemäß am Sonntagabend, am 6., mitgeteilt, sodass
im Laufe des 7. - Montag -, ab früh morgens gesprochen
werden konnte. Die Zeitung Der Tagesspiegel hat heute
geschrieben, das sei am 8. und nicht am 6. gewesen. Damit hier nicht noch eine Nachfrage kommt, sage ich: Das
ist inzwischen auch korrigiert. Wie das mit dem 8. zustande kam, kann ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls habe
ich nie „8.“ gesagt, sondern, so wie jetzt: am 6., am
Sonntag, geöffnet und mir dann mitgeteilt. - Alles Weitere, das, was am Montag, den 7., stattgefunden hat, kennen Sie.
Jetzt rufe ich die Frage 7 des Kollegen Stephan Kühn
auf:
Wie kam das BMVBS nach dem Expertentreffen zum geplanten Berliner Flughafen BER am 18. Dezember 2012 gegenüber der Berliner Zeitung ({0}) zu der Einschätzung, es gebe „keine Aspekte, die eine
Zeitverschiebung nötig machen“?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Aussage kommen;
denn das BMVBS hat eine solche Aussage nicht getroffen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Wir haben in dieser Fragestunde eine intensive Presseschau betrieben. Darum habe auch ich mir erlaubt, aus
der Zeitung zu zitieren. Dort stand das nämlich.
Zur ersten Nachfrage. Inwieweit hat Staatssekretär
Bomba beim besagten Treffen mit Herrn Amann am
18. Dezember 2012 thematisiert, dass die Bautätigkeit
nicht im November 2012 wieder aufgenommen worden
war, was ja Bedingung für die Einhaltung des angestrebten Eröffnungstermins am 27. Oktober 2013 war?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Zunächst einmal möchte ich das nicht so stehen lassen. Sie haben falsch aus der Berliner Zeitung zitiert. Sie
haben unterstellt, dass das BMVBS behauptet hat, dass
es keine Aspekte gibt, die eine Zeitverschiebung nötig
machen würden. Genau das hat das BMVBS zu keiner
Zeit behauptet. Hier ist zwar von einem unbekannten
Teilnehmer die Rede; aber das BMVBS hat eine solche
Aussage nicht getroffen. Eine solche Aussage konnten
wir auch nicht machen, weil, wie Sie wissen, die Auswertung der Rauchgasversuche bis zum 21. Dezember
2012 gedauert hat und uns die Mitteilung über die Verschiebung der Inbetriebnahme des Flughafens am 4. Januar 2013 zugeschickt worden ist. Das hat der Bundesminister gerade erläutert.
Zur Frage, was Herr Kollege Bomba bei dem Gespräch am 18. Dezember 2012 gefragt oder auch nicht
gefragt hat, kann ich Ihnen nur so viel sagen: Dieses Gespräch hat auf Einladung der Geschäftsführung der
FBB GmbH stattgefunden. Bei diesem Gespräch ging es
ausschließlich um technische Details der Rauchgasversuche und der Brandschutzanlage.
Mir liegen keine Erkenntnisse vor, dass darüber hinausgehend irgendwelche Fragen von Herrn Kollegen
Bomba gestellt worden sind. Klar ist jedenfalls, dass
Aussagen zu einer Verschiebung der Inbetriebnahme
nicht getroffen worden sind und auch nicht getroffen
werden konnten, weil die Auswertung der Ergebnisse
noch angedauert hat.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Wir bleiben bei dem Thema und machen wieder ein
wenig „Presseschau“. In der Welt vom 27. Dezember
wird der Minister - ich glaube, wir sind uns einig, dass
das in der Zeitung stand - mit der Aussage zitiert:
Der Miteigentümer Bund sieht Anzeichen dafür,
dass der Eröffnungstermin am 27. Oktober 2013
möglicherweise nicht gehalten werden kann.
Herr Minister, ich frage Sie: Bezieht sich diese Einschätzung auf die Ergebnisse der Rauchgasversuche?
Das kann sich nicht darauf beziehen, weil die Ergebnisse da noch nicht vorgelegen haben.
Ich hatte den Minister gefragt.
Für die Bundesregierung antwortet immer -
Die Bundesregierung entscheidet, wer antwortet, und
Sie entscheiden, wie zufrieden oder unzufrieden Sie gegebenenfalls mit dieser Entscheidung sind. - Ich mache darauf aufmerksam, dass die Fragestunde noch fünf Minuten
andauert, und rufe die Frage 8 des Kollegen Kühn auf:
Wann und mit welchem Ergebnis ist zwischen dem
BMVBS und dem Bundesministerium der Finanzen abgestimmt worden, ob der Bund die Kandidatur von Ministerpräsident Matthias Platzeck für den Aufsichtsratsvorsitz der
Flughafen Berlin Brandenburg GmbH, FBB, unterstützt oder
ob der Bund gegebenenfalls einen alternativen Kandidaten
vorschlägt?
Herr Kollege Kühn, dazu lautet die Antwort der Bundesregierung: Nach dem Gesellschaftsvertrag der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH wählt der Aufsichtsrat
den Aufsichtsratsvorsitzenden mit einfacher Mehrheit
der abgegebenen Stimmen aus seiner Mitte. Die Entscheidungsfindung findet im Aufsichtsrat statt. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
und das Bundesministerium der Finanzen stimmen sich
hierzu laufend ab.
Bevor wir im Prozedere weiter fortfahren, hat sich der
Kollege Volker Beck zur Geschäftsordnung gemeldet.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aufgrund der Antworten, die wir nicht bekommen haben, halte ich es für erforderlich, dass hier im Deutschen
Bundestag in einer Aktuellen Stunde über die Verantwortung aller drei Eigner der Flughafengesellschaft debattiert wird. Ich beantrage dies hiermit im Namen meiner Fraktion, bitte aber, jetzt dennoch mit der
Fragestunde bis zum Ende der Zeit fortzufahren.
Sie haben es alle gehört: Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen hat zur Antwort der Bundesregierung auf die
Frage 8 eine Aktuelle Stunde verlangt. Das entspricht
Nr. 1 b der Richtlinien für Aktuelle Stunden. Die Aussprache findet im Anschluss an die Fragestunde statt.
Diese Fragestunde endet in drei Minuten und 24 Sekunden.
Wir kommen jetzt zur nächsten Nachfrage des Kollegen Kühn.
In der Zwischenzeit wissen wir, wie die Wahl zum
neuen Vorsitzenden des Gremiums ausgegangen ist. Darum erlaube ich mir folgende Nachfrage: Warum hat der
Bund bzw. haben die Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat nicht auf einen unabhängigen Experten als Aufsichtsratsvorsitzenden gedrungen, so wie es ursprünglich auch
die Position von Bundesfinanzminister Schäuble gewesen ist?
Herr Kollege Kühn, es ist gute Übung, dass sich die
Gesellschafter auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Der Bundesregierung ist es wichtig gewesen, dass
wir aus unserer Position als Minderheitengesellschafter
heraus darauf hingewirkt haben, dass der Aufsichtsrat
durch Fachleute ergänzt wird. Insofern ist das, was heute
mit der Wahl von Herrn Ministerpräsident Platzeck stattgefunden hat, das Ergebnis einer Paketlösung.
Wir akzeptieren Herrn Platzeck als Vorsitzenden des
Aufsichtsrates, bestehen aber darauf, dass der Aufsichtsrat durch unabhängige Fachleute ergänzt wird, die den
Aufsichtsrat bei seiner Tätigkeit unterstützen und damit
mit dazu beitragen, dass der Flughafen endlich in ruhiges Fahrwasser kommt. Es war immer die Aufgabe der
Bundesregierung - deshalb haben wir bei uns im Hause,
im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, auch eine Sonderkommission eingerichtet -,
darauf zu dringen, dass dieses leidige Problem endlich
erledigt wird. Ich glaube, dass wir mit den getroffenen
und noch zu treffenden Entscheidungen in personeller
Hinsicht die Weichen richtig gestellt haben, damit der
Flughafen endlich fertig gebaut werden kann.
Auf die zweite Nachfrage wird verzichtet. - Wir haben noch eine Minute und 16 Sekunden, und es gibt
noch eine Nachfrage des Kollegen Stefan Liebich. Auch Sie verzichten.
Will jemand den Antrag stellen, dass wir die Fragestunde noch eine Minute fortführen?
({0})
Niemand? Selbst Kollege Lindner nicht. Prima.
Dann beenden wir die Fragestunde und kommen zu
der bereits hier angekündigten Aktuellen Stunde, die
nach Schluss der Fragestunde, den wir gerade gemeinsam festgestellt haben, durchgeführt wird.
Ich rufe also Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b
GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Frage 8 auf Drucksache 17/12041
Im Augenblick wird die Rednerliste erstellt, aber der
erste Redner ist mir schon gemeldet. Es ist unser Kollege
Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Bitte schön, Kollege Stephan Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer geriert sich beim
Thema Flughafen Berlin Brandenburg gern in der Rolle
des vermeintlichen Chefaufklärers.
({0})
So hat er im Mai 2012 eine Sonderkommission eingerichtet. Ich muss sagen: Die Bilanz von Herrn Ramsauer
als Chaosbeseitiger beim Flughafen BER ist die gleiche
wie seine Bilanz als Verkehrsminister, nämlich gleich
null.
({1})
Die Befragung des Ministers gestern im Haushaltsausschuss - wir haben es bereits gehört - ist abgebrochen worden.
({2})
Die Koalition hat ganz offensichtlich gute Gründe, warum sie beim Verkehrsminister lieber nicht genauer
nachfragen will. Warum das so ist, davon hat man gerade
in der Fragestunde einen Eindruck gewinnen können.
Sie, Herr Minister, haben uns mit Nichtaussagen die Zeit
gestohlen,
({3})
und Sie pflegen eine Informationspolitik und einen Informationsstil, die diesem Hause aus meiner Sicht nicht
angemessen sind.
({4})
Sie haben die Sonderkommission BER offensichtlich
nicht darauf angesetzt, sich ein ehrliches Bild vom Ausmaß der Schlampereien auf dem Hauptstadtflughafen zu
machen. Wie kommt es sonst, dass der Bund auch danach einen dritten und dann einen vierten Eröffnungstermin einstimmig mit den anderen Gesellschaftern festgelegt hat? Es gibt ja seitens des Bundes „Experten“ in
diesem Gremium: Ingenieur Bomba und Finanzfachmann Gatzer. Man fragt sich, warum es nach der zweiten
Verschiebung noch Zustimmung zum neuen Zeitplan der
Planungsgesellschaft, pg bbi, gab, der man eine Woche
später aufgrund fehlenden Vertrauens und Nichterfüllung ihrer Aufgaben gekündigt hat.
Wie kommt es, dass ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums am 18. Dezember 2012 nach einer
Begehung des Flughafens erklären ließ, dass es keine
Aspekte gebe, die eine Zeitverschiebung nötig machen,
und man nur zwei Wochen später im neuen Jahr die AusStephan Kühn
sagen des neuen Technikchefs Amann hört, der die Zustände am Flughafen als „fast grauenhaft“ bezeichnet
und überhaupt keinen Eröffnungstermin mehr nennen
will oder kann.
Fast grauenhaft ist das Bild, das bereits am 13. Dezember 2012 im Sachstandsbericht zum Flughafen BER
gezeichnet wurde. Man muss den Eindruck gewinnen,
dass eigentlich fast keine technische Anlage im Flughafen funktionsbereit oder funktionsfähig ist. Ich zitiere
aus dem Sachstandsbericht: „Insbesondere bei den
Schwerpunktthemen Entrauchung, Sprinklerung,
Schließanlage und LAN sind noch grundlegende Klärungen herbeizuführen …“. Dort heißt es auch, dass es
Mängel an den Kabeltrassen, Über- und Fehlbelegungen,
gibt. Ferner heißt es: „Im Bereich der Niederspannungshauptverteilung wurden Verstöße gegen die Verlegungsrichtlinie festgestellt.“ Infolge von Planungsmängeln
seien Nachbesserungen der Regelungstechnik des Kälteversorgungssystems erforderlich.
Der aktualisierte Sachstandsbericht vom 8. Januar
dieses Jahres zeichnet ein noch viel düstereres Bild. So
sind umfangreiche Umplanungen und Umprogrammierungen der Steuerung und Umbaumaßnahmen, auch an
den Entrauchungsanlagen, unumgänglich. Da heißt es
sogar: Zu prüfen ist, ob „ein vollständiger Umbau auf
den Genehmigungsstand unumgänglich ist.“ Es wurde
also schlicht an der Baugenehmigung vorbei gebaut.
({5})
Das ist, wie die zuständige Behörde gesagt hat, nicht genehmigungsfähig. Es handelt sich also um einen klaren
Fall von Schwarzbau.
({6})
Apropos Schwarz: Der Bund hat es hingenommen,
dass Geschäftsführer Schwarz auch nach drei Verschiebungen immer noch weitermachen durfte.
({7})
Nun, nach der vierten Verschiebung, ist er heute von seinen Aufgaben entbunden worden. Das alles hätten wir
schon im November letzten Jahres haben können. Sie erinnern sich: Wir haben damals einen Antrag in den Verkehrsausschuss und in den Haushaltsausschuss eingebracht, in dem wir die Auflösung des Vertrages und die
Entlassung von Herrn Schwarz gefordert haben. Damals
mussten die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD
mit Tagesordnungstricks eine Vertagung herbeiführen.
Damals hieß es noch, man wolle zunächst haftungsrechtliche Prüfungen durchführen, bevor man entscheidet.
Das ist mittlerweile offensichtlich Geschichte.
({8})
Wir fragen uns: Wieso braucht es vier Verschiebungen, um zu einer neuen Struktur der Flughafengesellschaft zu kommen? Wieso gibt es keine Personalvorschläge für einen kompetenten Geschäftsführer aus dem
Hause Ramsauer? Heute wurde zwar jemand entlassen;
aber ein Nachfolger wurde nicht benannt.
Verkehrsminister Peter Ramsauer hat aus dem ganzen
Schlamassel immer noch nicht gelernt. Er hat seine Zustimmung zu einer - ich nenne es jetzt einmal so - russischen Rochade gegeben, nämlich zum Austausch an der
Spitze des Aufsichtsrates, also zum Wechsel von
Wowereit zu Platzeck, anstatt einen unabhängigen Experten zu benennen. Wir fordern: Besetzen Sie den Aufsichtsrat komplett neu und vor allen Dingen zügig mit
Experten!
({9})
Wir fragen uns, da das Ganze immer teurer wird: Wo
hat der Bund klare Bedingungen genannt, an die die Vergabe weiterer Mittel gebunden ist? Ramsauer hat bisher
ein Rundum-sorglos-Paket abgesegnet. Den beiden anderen Anteilseignern wurden keine Bedingungen dafür
genannt, dass weiter Geld fließt. Herr Ramsauer, Sie stehen in der Verantwortung. Nehmen Sie diese endlich
wahr! Kümmern Sie sich um eine zeitnahe Eröffnung
und die Begrenzung der Zusatzkosten! Bisher haben Sie
dazu nichts, aber auch gar nichts geliefert.
({10})
Das war Kollege Stephan Kühn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. - Nächster Redner ist für die
Fraktion der CDU/CSU Kollege Peter Wichtel. Bitte
schön, Kollege Peter Wichtel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das neue Jahr beginnt im Plenum des Bundestages,
wie das alte geendet hat: mit einer Debatte zu unserem
Hauptstadtflughafen. Bedauerlicherweise reißen die Hiobsbotschaften, wie schon im vergangenen Jahr, auch in
diesem Jahr nicht ab. Wir haben nun Gewissheit, dass
der Eröffnungstermin nicht gehalten werden kann. Wenn
man sich die heutige Diskussion, die Fragestunde und
die entsprechenden Presseerklärungen vor Augen führt,
wird deutlich, dass hier Verteidigungskämpfe stattfinden
bzw. Stellvertreterkriege geführt werden.
Die Situation ist beschämend genug. Deswegen bedauern die CDU/CSU-Fraktion und ich, dass die verantwortlichen Landesregierungen und die Opposition im
Deutschen Bundestag nicht davon ablassen, von ihrer
Verantwortung abzulenken, sondern versuchen, die
Schuld auf andere abzuwälzen.
({0})
Insofern befinden Sie von der SPD sich mit Ihrem Parteivorsitzenden offenbar im Einklang, der ja versucht,
durch Presseerklärungen den Eindruck zu erwecken, als
wäre der Bund der Mehrheitsaktionär und als hätte der
Bund bzw. der Bundesverkehrsminister das Sagen, um
alle erforderlichen Maßnahmen durchzusetzen.
Fehlanzeige sind bei Ihnen von der SPD und von den
anderen Parteien aber auch Aussagen zur Rolle des Regierenden Bürgermeisters, der noch bis heute Aufsichtsratsvorsitzender war und nun endlich zurückgetreten ist.
({1})
Er lässt das Nachtreten auch nicht. Er kommt nicht mit
dem Geständnis „Mea culpa - ich habe Fehler gemacht“:
Ich habe sogar den Geschäftsführer Schwarz gegenüber
dem Aufsichtsrat bis zur letzten Minute verteidigt. Kein Wort des Bedauerns über das Flughafendebakel
kommt aus seinem Mund.
Für die Krisenbewältigung bei diesem Hauptstadtprojekt brauchen wir Fachkompetenz und ein ausreichendes
Zeitbudget. Ich selbst würde mir wünschen, dass endlich
einmal ein Fach- und Sachkonzept vorgelegt wird, wie
die bestehenden Mängel tatsächlich behoben werden
können, was behoben werden muss, wie es behoben werden soll, wer es beheben soll und was es kostet, damit
wir einen Zeitplan haben und endlich wissen, wann die
gravierenden Fehler behoben werden.
In der Anteilseignergesellschaft einigt man sich natürlich auf eine Struktur. Da gibt es Dinge, die man durchsetzen kann, und Dinge, die man nicht durchsetzen kann.
Ich sage ganz offen: Ich bedaure, dass Herr Platzeck
jetzt zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates gewählt worden ist. Er hat an den Fehlern in der Vergangenheit genauso wie Herr Wowereit federführend mitgewirkt und
trägt dafür Verantwortung. Deswegen hätte er meine
Stimme im Aufsichtsrat nicht erhalten.
({2})
Ich denke, das ist eine klassische Fehlbesetzung. Ich will
das auch begründen:
({3})
Wenn jetzt auf einmal eine Taskforce mit einem Staatssekretär und zig Leuten eingebunden wird, dann frage
ich mich, warum Herr Platzeck diese Taskforce nicht
schon letztes Jahr eingesetzt hat.
({4})
Das wäre eine Chance gewesen, schneller voranzukommen und ein bisschen weg von der Politik zu kommen.
Durch etwas mehr Fach- und Sachkompetenz wäre die
Arbeit besser geworden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es muss
jetzt weitergehen. Deswegen hoffe ich, dass diejenigen,
die im Aufsichtsrat sitzen bzw. jetzt neu bestellt werden,
sich die Strukturen noch einmal anschauen. Ich glaube,
es ist jedem klar, dass der Betrieb in Schönefeld und der
Betrieb in Tegel weitergeführt werden müssen. Es ist
durchaus möglich, dass in Tegel optimiert werden muss,
({5})
damit die Zahl der Passagiere, die in Berlin - Gott sei
Dank - regelmäßig weiter steigt, tatsächlich abgewickelt
werden kann. Deswegen sollte auch darüber nachgedacht werden, wie in der Geschäftsführung selbst die
Verantwortung für den Neubau bzw. für den Teil, der abgearbeitet werden muss, einerseits und die laufenden
Geschäfte besonders in Tegel andererseits aufgeteilt
werden kann. Ich glaube, dass die Geschäftsführung gut
beraten ist, wenn sie entsprechende Struktur- und Organisationsvorschläge in den Aufsichtsrat einbringt, sodass
diese dort diskutiert werden können. Ich denke, dass das
Großprojekt BER nur dann tatsächlich zu Ende geführt
werden kann, wenn jetzt mit Sach- und Fachverstand an
die Sache gegangen wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke und da bin ich derselben Meinung wie die CDU/CSUund FDP-Mitglieder des Haushaltsausschusses -, dass
weitere Gelder erst dann fließen können, wenn schlüssige Konzepte vorliegen.
({6})
Alles andere wäre der Bevölkerung nicht zuzumuten und
ließe sich auch nicht erklären.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Kollege Peter Wichtel. - Als Nächster
für die Fraktion der Sozialdemokraten: unser Kollege
Sören Bartol. Bitte schön, Kollege Sören Bartol.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben beim
Flughafen BER ein Desaster, das bei allen Beteiligten,
auch bei uns, viele Fragen aufwirft. Zu Recht fragen
viele Bürgerinnen und Bürger danach, wer bei diesem
Projekt welche Verantwortung hat und ob wir überhaupt
in der Lage sind, den Bau eines neuen Flughafens zu beaufsichtigen.
Wir alle, lieber Kollege Wichtel, müssen partei- und
fraktionsübergreifend unsere Lehren ziehen, um in Zukunft nicht die gleichen Fehler noch einmal zu machen.
({0})
Dazu braucht es Haltung, dazu gehört, dass Politiker
auch zu ihrer Verantwortung stehen. Klaus Wowereit
und Matthias Platzeck haben das getan.
({1})
Sie haben sich einem Vertrauensvotum ihrer Parlamente
gestellt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Bundesverkehrsminister Ramsauer zeigt im Gegensatz dazu überhaupt null Haltung.
({3})
Er versteckt sich hinter seinem Staatssekretär Rainer
Bomba und verweist darauf, dass der Bund bei BER lediglich Minderheitsgesellschafter ist. Von Bundesverkehrsminister Ramsauer habe ich bisher kein einziges
Wort der Selbstkritik gehört. Das spricht doch für sich,
vor allem sein Verhalten eben in der Fragestunde.
({4})
Wir haben in der Fragestunde erlebt, wie die Bundesregierung und die schwarz-gelbe Koalition mit der aktuellen Situation beim Bau des neuen Flughafens umgehen. Sie schlagen sich immer gerne in die Büsche,
({5})
wenn es darauf ankommt, und versuchen noch, die Situation rein parteipolitisch auszuschlachten.
Die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP messen bei der Aufklärung mit zweierlei Maß. Im
Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat die
Koalition erst eine Sondersitzung zum Thema BER beantragt, dann wurde sie von der Teilnahme ihres eigenen
Bundesverkehrsministers überrascht und erteilte Herrn
Ramsauer ein Redeverbot, indem sie die Sitzung einfach
ohne Debatte wieder beendete.
({6})
Damit verhinderten die Koalitionsfraktionen, dass sich
der Minister zu den Vorwürfen, dass er bereits im Dezember 2012 von einer Verschiebung des Termins
wusste, entsprechenden Nachfragen stellen musste.
Wenn es gegen die beiden Ministerpräsidenten
Wowereit und Platzeck geht, sind Sie sehr schnell dabei,
aufklären zu wollen. Wenn Ihre eigenen Minister in der
Kritik stehen, dann verhindern Sie, dass überhaupt nur
darüber gesprochen wird.
Sehr geehrte Damen und Herren, Flughäfen von der
Größe des neuen Flughafens BER sind von nationaler
Bedeutung. Ich erwarte daher, dass sich der Bundesverkehrsminister aktiv um den Bau des neuen Flughafens
BER kümmert.
Die Länder Berlin und Brandenburg können sich jedoch nicht auf die Unterstützung der Bundesregierung
verlassen. In der Öffentlichkeit wird falsch gespielt: Interne Unterlagen aus dem Aufsichtsrat werden „durchgestochen“, aus internen, vertraulichen Sitzungen wird an
Journalisten berichtet, und es wird, wie wir heute in der
Fragestunde gehört haben, ohnehin nur mit Journalisten
geredet.
Als der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus
Wowereit am 7. Januar 2013 im Kreise der Gesellschafter seinen Rücktritt als Vorsitzender des Aufsichtsrates
anbot, verweigerte die Bundesregierung, Verantwortung
zu übernehmen, und wies das angebotene Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden zurück. Umso schäbiger ist es,
dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die
Kompetenz von Ministerpräsident Matthias Platzeck am
folgenden Tag infrage stellte.
({7})
Auch Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer signalisierte in Wildbad Kreuth zunächst Unterstützung für
Ministerpräsident Platzeck. Inzwischen verweist er bei
dieser Frage auf den geringen Einfluss, den er als Minderheitsgesellschafter bei der Wahl des neuen Aufsichtsratsvorsitzenden habe.
Ich persönlich halte die Debatte über die Besetzung
von Aufsichtsräten bei Unternehmen im Besitz der öffentlichen Hand für hochgefährlich.
({8})
Unabhängig von einigen unflätigen Angriffen von einzelnen Koalitionsabgeordneten, die gestandene Ministerpräsidenten als „Pfeifen“ bezeichnen - ich finde, hierfür fehlt immer noch eine Entschuldigung -, stelle ich
die Frage: Welche Fachleute sind denn eigentlich gemeint?
({9})
Geht es um die Vertreter der Wirtschaft, wie zum Beispiel das Unternehmen Hochtief, das bei der Hamburger
Elbphilharmonie gezeigt hat, wie „groß“ die Fachkompetenz ist, oder geht es um die Vertreter von Banken und
Finanzinstituten, deren Aufsichtsräte das große Gezocke
mit dem Geld der kleinen Sparerinnen und Sparer überhaupt erst zugelassen haben?
({10})
Ich empfinde es in einer Demokratie als eine Selbstverständlichkeit, dass demokratisch legitimierte Vertreter einer Regierung bei Unternehmen, die sich im öffentlichen Besitz befinden, die demokratische Kontrolle
wahrnehmen.
({11})
Die Kompetenz dafür ist ihnen von den Wählerinnen
und Wählern auch zugesprochen worden.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss und zitiere:
Der Flughafen soll schnellstmöglich fertiggestellt
und eröffnet werden. Alle dazu erforderlichen Entscheidungen im Aufsichtsrat sollen einvernehmlich
getroffen werden. Es ist im gesamtstaatlichen Interesse, das Flughafenprojekt erfolgreich zu Ende zu
bringen.
Das ist der Wortlaut der gemeinsamen Erklärung der Gesellschafter des Flughafens BER, die auch Minister
Ramsauer und Minister Schäuble am 9. Januar 2013 veröffentlicht haben.
Lieber Herr Bundesminister, nach Ihrem heutigen
Auftritt hoffe ich, dass Sie sich in Zukunft daran erinnern werden, das dauernde Über-Bande-Spielen beenden
und sich endlich Ihrer Aufgabe als Bundesverkehrsminister stellen, dieses Großprojekt zu einem guten Ende
zu bringen.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Kollege Sören Bartol. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Dr. Martin
Lindner. Bitte schön, Kollege Dr. Martin Lindner.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Gestatten Sie mir, in dieser Debatte zwei einleitende Bemerkungen zu machen:
Erstens. Ich glaube, wir alle - das meine ich parteiübergreifend - müssen uns einmal genau über das
Thema „Bauen der öffentlichen Hand“ unterhalten,
({0})
weil hier ständig, konsekutiv, immer wieder dieselben
Fehler auftreten, die immer wieder auf ähnliche Weise
virulent werden:
({1})
Der erste Fehler ist, dass die Dinge heruntergerechnet
werden, damit man sie durch den jeweiligen Gemeinderat, den Hauptausschuss und den Haushaltsausschuss
bringen und die Öffentlichkeit davon überzeugen kann.
Dann kommt der zweite Fehler: Um einigermaßen da
zu landen, wo man es zunächst falsch projiziert hatte,
wird billigst vergeben. Nicht der Beste, nicht der Qualifizierte, sondern der Billigste wird genommen, und dann
kommen die Folgefehler. Der eine oder andere schafft es
nicht, das zu halten. Dann müssen Nachaufträge vergeben werden, und wir landen immer in so einem elenden
Desaster, was für unser internationales Ansehen mittlerweile verheerend ist.
Hier hatten wir speziell die Frage der EU-weiten Ausschreibung. Ich sage nicht, dass eine Ausschreibung eines Generalunternehmers immer zwingend ist. Es kann
in Unternehmen Bauexpertise vorhanden sein, beispielsweise bei Wohnungsbaugesellschaften, bei großen Energieversorgungsunternehmen, die laufend Kraftwerke
bauen. Aber eine Flughafengesellschaft - wie oft baut
die denn einen Flughafen? Alle hundert Jahre vielleicht
einmal. Deswegen wäre es zwingend gewesen, hier beispielsweise einen Generalunternehmer zu beauftragen.
({2})
- An der Stelle der SPD würde ich hier ein bisschen herunterflammen. Aber dazu komme ich gleich.
({3})
Meine zweite Bemerkung: Politiker im Aufsichtsrat.
Ich glaube, hier dürfen wir in der Tat - das war eines der
wenigen Dinge, die mein Vorredner richtig analysiert
hat - nicht grundsätzlich sagen, dass Politiker nicht geeignete Aufsichtsräte sind. Ich glaube, dass es an der
einen oder anderen Stelle eine strukturelle Interessenkollision geben kann, weil man als Aufsichtsrat die mikroökonomischen Belange des Unternehmens zu beachten
hat, aber als Minister oder Senator die Belange der Allgemeinheit. Das kann beispielsweise bei Verkehrsgesellschaften zu einer Kollision führen. Aber hier hatten wir
diese Kollision nicht. Hier hatten wir ein gleichgerichtetes Interesse des Senators, des Ministers, des Regierenden Bürgermeisters und der Flughafengesellschaft an zügiger, pünktlicher und ordnungsgemäßer Realisierung
dieses Bauvorhabens.
Da kommt der Aufsichtsratsvorsitzende ins Spiel, und
der hat an der Stelle jämmerlich und kläglich versagt.
({4})
Das hatte nichts mit Kollision zu tun, das hatte auch
nichts mit einem Vorfeld zu tun. Das wird aus einem
Schreiben vom 18. Dezember, das er an mich richten
ließ, überdeutlich. Ich hatte ihm geschrieben, er soll einmal zur Umsetzung des brandenburgischen CorporateGovernance-Kodex Stellung nehmen. Da lässt er mir
wie folgt antworten - ich zitiere aus dem Schreiben des
Regierenden Bürgermeisters vom 18. Dezember -:
So wurde
- schreibt er der Aufsichtsratsvorsitzende von der Geschäftsführung auch über die Notwendigkeit sogenannter
Endspurtmaßnahmen zur Realisierung des Eröffnungstermins am 03.06.2012 informiert, die vom
Aufsichtsrat in seiner Sitzung am 20.04.2012 beschlossen wurden.
Zur Eröffnung des Berliner Flughafens habe ich am
4. April 2012 eine Einladung bekommen, und jetzt
schreibt mir der Regierende Bürgermeister, dass am
20.04. Endspurtmaßnahmen beschlossen wurden,
Dr. Martin Lindner ({5})
({6})
die in den gerade einmal zwei Wochen vor der Eröffnung - zwei Wochen! - realisiert werden sollten. Das ist
so, als wenn ein Marathonläufer, der schon 42 Kilometer
hinter sich hat, erklären würde, er hätte irgendwie zweieinhalb Meter vor dem Einlaufen den Endspurt eingeleitet. Leute, das ist doch das Versagen! Vor einem Jahr
- wenn in dem Schreiben „2011“ stünde - wäre der Zeitpunkt für Endspurtmaßnahmen, für Nachfragen und so
weiter gewesen. Aber er schickt erst einmal Hochglanzeinladungen und redet dann von Endspurtmaßnahmen.
({7})
Das ist ein absolutes Versagen des Vorsitzenden dieses
Aufsichtsrats, absolut.
({8})
Das nächste Versagen war es, neue Termine anzusetzen - ohne Fundament.
({9})
Damit hat er nicht nur diesen Flughafen und diese Stadt,
sondern dieses ganze Land der Lächerlichkeit preisgegeben. Das ist vor allen Dingen sein Versagen.
({10})
Es ist natürlich der Aufsichtsratsvorsitzende, der da gefragt ist. Er ist derjenige, der die Sitzungen einberuft. Er
ist derjenige, der auch spezielle Maßnahmen ergreifen
könnte.
({11})
Darauf mit einer Rochade nach Moskauer Art zu antworten, ist doch lächerlich.
({12})
Er muss als Regierender Bürgermeister zurücktreten,
wenn er Verantwortung übernimmt. Das ist die entscheidende Frage.
({13})
Es geht doch hier nicht um so ein komisches
Medwedew/Putin-Getue. Der einzige Unterschied ist,
dass die zwei wenigstens Treiber waren; die anderen
zwei, Platzeck und Wowereit, sind Getriebene.
({14})
Und Sie wollen das Land regieren!
({15})
Ich stelle sie einmal in folgende Reihe: Ude kriegt die
dritte Startbahn nicht hin, Beck hat beim Nürburgring
versagt, der Scholz mit der Elbphilharmonie.
({16})
Sie können es nicht; Sie können es so gar nicht. Sie können auch das ganze Land nicht regieren.
({17})
Das ist doch das Entscheidende. Dann stellen Sie sich
hier hin und blasen die Backen auf. Nach diesem Desaster versuchen Sie jetzt, den Bundesverkehrsminister anzugreifen.
({18})
An Ihrer Stelle würde ich einmal ganz still vor der eigenen Tür kehren und überlegen, warum Sie es auf keiner
Ebene schaffen.
({19})
Deswegen werden Sie zu Recht am Sonntag nicht gewählt werden. Deswegen werden Sie auch zu Recht in
diesem Land keine Regierungsverantwortung übernehmen können.
({20})
Eine Partei, die es einfach nicht schafft und auf allen
Ebenen versagt, die sollte sich erst einmal überlegen,
wie man auf lokaler Ebene wichtige Projekte hinbekommt.
Kollege Lindner, beachten Sie das Leuchten, das das
Ende Ihrer Redezeit anzeigt.
Eine solche Partei sollte sich das gut überlegen, bevor
sie Ansprüche auf mehr erhebt.
({0})
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke unser
Kollege Stefan Liebich. Bitte schön, Kollege Stefan
Liebich.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
finde, wir müssen mit diesem Spiel langsam aufhören.
({0})
CDU/CSU gegen SPD und umgekehrt: Das hatten wir
gestern im Haushaltsausschuss, das hatten wir vorhin in
der Fragestunde, das haben wir jetzt in der Aktuellen
Stunde. Ehrlich gesagt, diese Debatte interessiert außer
uns hier niemanden.
({1})
Gesellschafter des Unglücksflughafens Berlin Brandenburg sind beide Länder, Berlin und Brandenburg, und
der Bund gemeinsam. Alle Parteien, wie sie hier sitzen
- das sage ich ganz deutlich -, verbinden mit Schönefeld
ihre Geschichte. Ehe der Zwischenruf kommt:
({2})
Natürlich wir auch! Wir waren gegen den Standort
Schönefeld und haben jetzt zwei Minister im Aufsichtsrat.
Die CDU - der Herr Wichtel weiß das nicht; vielleicht wird ihm das Kai Wegner sagen, wenn er gleich
spricht - ist Regierungspartei im Land Berlin und war
Regierungspartei im Land Brandenburg. Die CSU steht
mit Herrn Ramsauer in vorderster Verantwortung, die
SPD mit Wowereit, Platzeck, Stolpe und Tiefensee sowieso. Auch Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben als
Koalitionspartner in diversen Bundesregierungen keine
weiße Weste.
({3})
Wissen Sie was? Es geht überhaupt nicht um die
Frage, wer hier mehr und wer hier weniger schuld ist,
({4})
sondern letztlich geht es um die Frage, wer die Leidtragenden dieses Desasters sind. Zu denen will ich etwas
sagen.
({5})
Dabei geht es zuerst um die Unternehmerinnen und
Unternehmer, die auf unsere politischen Entscheidungen
vertraut haben und die nun die bitteren Konsequenzen
tragen müssen. Eine Bauunternehmerin aus Brandenburg
hat am Sonntag in der Talkshow Günther Jauch gesagt,
dass das Sterben ihrer Firma 17 Arbeitsplätze vernichtet
hat. Dass diese 17 Familien und viele weitere nun einer
unsicheren Zukunft entgegensehen, das ist der Skandal.
Herr Lindner, es geht um Tausende Berlinerinnen und
Berliner in Pankow, in Reinickendorf und in Spandau,
die nicht nur noch länger, sondern auch noch intensiver
unter Fluglärm zu leiden haben. Sie haben ja dort einmal
kandidiert; das haben Sie sicher vergessen. Vor dreieinhalb Jahren war Herr Lindner erfolgloser Kandidat im
Bezirk Pankow von Berlin. Dort sind jetzt die Lasten zu
tragen.
Es ist hier schon mehrfach angeklungen - ich kenne
das auch aus vielen Gesprächen mit Ihnen -: Viele von
Ihnen mögen den Flughafen Tegel. Der Flughafen Tegel
ist so schön dicht am Bundestag, und man ist eins, zwei,
drei hier. Manch einer findet ihn auch ganz schick. Aber
wer in seiner Einflugschneise wohnt, der hat nichts zu
lachen. Wissen Sie, was dort bis in den späten Abend
und am frühen Morgen los ist? Allein im letzten Jahr hat
der Flugverkehr um 10 Prozent zugenommen, und zwar
wegen der Verschiebung. Das wird beim neuen Flughafen nicht besser; denn ein guter Kompromiss zwischen
den Interessen der Anwohner und der Wirtschaftlichkeit
ist auch hier noch nicht gefunden.
Hunderttausende in Berlin und Brandenburg haben
sich bei einem Volksbegehren für eine Ausweitung des
Nachtflugverbots ausgesprochen. Tausende warten auf
die Bewilligung ihrer Lärmschutzmaßnahmen. Aber darüber wurde hier bisher überhaupt nicht gesprochen.
Dass der Nachtschlaf der Menschen in Brandenburg und
Berlin den Profiten der Fluggesellschaften geopfert
wird, ist ein Skandal.
({6})
Schließlich geht es auch um die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler, die die Kosten zu tragen haben.
1,7 Milliarden Euro sollte der Flughafen einmal kosten.
Inzwischen sind wir bei 4,3 Milliarden Euro. Auch diese
werden nicht reichen. Jeder Monat Verzug kostet 15 Millionen Euro. Davon könnten 25 000 Kitaplätze finanziert
werden. Dort wäre das Geld besser angelegt.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte jetzt an der
Zeit für einen wirklichen Neuanfang sein: offen, transparent, selbstkritisch. Ich stimme Herrn Bartol und überraschenderweise ein kleines bisschen auch Herrn Lindner
zu: Nichts wird besser, wenn sich der Staat zurückzieht
und die berühmten Experten aus der Wirtschaft alles in
die Hand nehmen. - Ich war ein wenig über die Position
von Bündnis 90/Die Grünen überrascht. Vielleicht kann
Herr Hofreiter noch etwas dazu sagen. Ich habe nichts
gegen Experten, aber es sollen doch hoffentlich keine
Experten sein, die niemandem verantwortlich und durch
keine Wahl legitimiert sind. Wir sollten nicht den Bock
zum Gärtner machen.
({8})
Verantwortung hat man nicht nur, wenn es Erfolge zu
feiern gibt, sondern auch dann, wenn etwas gewaltig
schiefgeht, so wie jetzt. Dieser Verantwortung müssen
wir uns alle stellen und nun aber auch gemeinsam im
Aufsichtsrat einen Neuanfang wagen. Dann sollte man
auch damit aufhören, darüber zu debattieren, wer dort
aus welcher Partei kommt.
Danke schön.
({9})
Vielen Dank, Kollege Stefan Liebich. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Kai Wegner. Bitte schön,
Kollege Kai Wegner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Bartol, ich finde es gut, dass wir heute
diese Debatte führen. Ich finde es richtig, dass wir im
Deutschen Bundestag an dem Tag, an dem der Aufsichtsrat wichtige Entscheidungen getroffen hat, über die
Lage am künftigen Flughafen BER sprechen. Aber, Herr
Bartol, ich fand die Art und Weise Ihrer Rede völlig daneben.
({0})
Wer mit dem Finger auf andere zeigt, muss sich nicht
wundern, wenn viele Finger auf ihn zurückzeigen. Der
Bund übernimmt Verantwortung für den Großflughafen.
Der Bund hat heute durchgesetzt - das will ich an dieser
Stelle deutlich sagen -, dass der völlig überforderte Geschäftsführer Schwarz endlich in die Wüste geschickt
wurde, Herr Bartol.
({1})
Wenn der Bund das nicht gemacht hätte, und wenn
auch der Koalitionspartner in Berlin das nicht gefordert
hätte, bin ich mir nicht sicher, ob das heute passiert wäre.
Diese Entscheidung kommt viel zu spät, Herr Bartol,
und das liegt, mit Verlaub, nicht am Bund.
({2})
Ja, die Lage am Großflughafen Schönefeld ist alles
andere als gut. Ich will nichts beschönigen, und ich
finde, man kann auch nichts beschönigen. Ja, es sind in
den letzten Jahren schwere Fehler begangen worden.
Aber, meine Damen und Herren, das haben wir hier im
Hause häufig diskutiert, und wir waren uns, glaube ich,
fast immer alle einig: Wer wirklich überfordert war und
das immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, war der
Geschäftsführer.
({3})
Deshalb ist es richtig, dass heute diese Entscheidung getroffen wurde.
Herr Liebich, über Ihre Rede bin ich erfreut. Das will
ich gerne sagen. Ich hatte gedacht, Sie wollen sich Ihrer
Verantwortung entziehen, obwohl Sie zehn Jahre in Berlin mit Ihrem Wirtschaftssenator im Aufsichtsrat Mitverantwortung getragen haben. Das haben Sie nicht getan.
Das finde ich ausgesprochen gut. In der Tat, Sie haben
recht: Wir sind in Berlin in der Regierung, und wir haben
auch einen Sitz im Aufsichtsrat. Aber seien Sie sich sicher, dass wir nicht so handeln werden, wie Sie es über
zehn Jahre gemacht haben, sodass Sie dieses Planungsdesaster mit zu verantworten haben.
({4})
Vielmehr werden wir jetzt alles daransetzen,
({5})
gemeinsam mit dem Gesellschafter Bund aufzuräumen,
wo vieles schiefgelaufen ist, und dieses Projekt zum Erfolg führen.
({6})
Dass die Linke im Gegensatz zu Ihnen, Herr Liebich,
der jetzt Mitverantwortung übernommen und das auch
gesagt hat, die Verantwortung scheut und sich vor der
Verantwortung drückt, zeigt heute Ihr Genosse
Christoffers. Er ist vom Vorsitz des Projektausschusses
zurückgetreten. Das ist zu begrüßen, wenn Sie mich fragen, weil es noch einmal den Beleg bringt, dass die Bundesregierung Verantwortung für dieses Projekt übernimmt. Denn Staatssekretär Bomba wird den Vorsitz
übernehmen, und er wird es allemal besser machen,
meine Damen und Herren. Vielen Dank, lieber Herr
Minister und auch Herr Staatsekretär.
({7})
Worum geht es jetzt? Es geht in der Tat darum, aufzuräumen. Es geht darum, nichts zu beschönigen, Fehler zu
benennen, wo sie in den letzten Monaten, ja Jahren passiert sind, und aufzuklären und dann das Projekt endlich
zum Erfolg zu führen. Das geht nicht ohne personelle
Konsequenzen. Das kann auch nicht nur bei Herrn
Schwarz enden. Die Geschäftsführung muss weiter mit
Fachverstand besetzt werden. Im Übrigen würde angesichts der Kontrollfunktion des Aufsichtsrats auch im
Aufsichtsrat ein bisschen Expertise sicherlich nicht schaden. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass endlich eine
transparente und ehrliche Informationspolitik betrieben
wird, die es in den letzten Jahren unter Herrn Schwarz
leider auch nicht gab.
({8})
Ich hoffe übrigens sehr, dass das, was von den Koalitionsfraktionen im Bund beschlossen wurde, umgesetzt
wird. Ich hoffe auch, dass wir alles daransetzen werden,
dass eine Abfindungszahlung für Herrn Schwarz nicht
zustande kommt.
({9})
Es versteht kein Mensch auf den Straßen, wenn dieser
Mann, der viele Fehler gemacht hat und der das Desaster
zu verantworten hat, noch mit einer Millionenabfindung
belohnt wird. Dieses Geld sollten wir lieber den Geschädigten geben, den kleinen Unternehmen, den Mittelständlern, die jetzt in eine prekäre Situation kommen
und die teilweise kurz vor der Insolvenz stehen,
({10})
weil sie sich auf etwas verlassen haben, was jetzt nicht
eingehalten wird. Deswegen steht Herrn Schwarz keine
Abfindung zu.
({11})
Auch zu den Grünen will ich noch einen Satz sagen.
Wenn es um Infrastrukturprojekte geht, wäre ich bei den
Grünen ein bisschen vorsichtig. Ich kann mich noch gut
erinnern, dass Frau Künast im Wahlkampf durch die
Stadt Berlin gerannt ist und gesagt hat: Wir brauchen eigentlich gar keinen Großflughafen und erst recht kein
Drehkreuz. Ein Regionalflughafen tut es auch.
({12})
Ich sage Ihnen: Die Grünen stehen nicht zwingend für
große Infrastrukturprojekte. Sie stehen eher für Verkehrsinfrastrukturverhinderungspolitik.
({13})
Deswegen ist es besser, wenn Sie sich bei diesen Themen ein Stück weit zurückhalten.
Lassen Sie uns gemeinsam die Fehler der letzten
Jahre aufklären! Lassen Sie uns die Fehler benennen!
Lassen Sie uns aufräumen, wo es in den letzten Jahren
nicht funktioniert hat!
({14})
Lassen Sie uns dafür sorgen, dass diese traurige Geschichte, dass dieses Planungsdesaster im Zusammenhang mit dem Großflughafen Berlin nicht im Nachhinein
- ich erinnere an die Kapazitätszahlen - noch zu einem
Betriebsdesaster führt!
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Lassen Sie uns dafür sorgen, dass dieses Projekt eine
Erfolgsgeschichte wird, eine verspätete Erfolgsgeschichte für Berlin, eine Erfolgsgeschichte für die
Hauptstadtregion, aber auch eine Erfolgsgeschichte für
unser Land.
Ich bin sehr dankbar, Herr Verkehrsminister, dass Sie
klar Position zugunsten dieses Flughafens beziehen.
Grundvoraussetzung für eine Erfolgsgeschichte ist, dass
sich alle drei Gesellschafter zu diesem Projekt bekennen.
Sie tun das. Bitte machen Sie weiter so, auch bei der
Aufklärung.
Herzlichen Dank.
({0})
Das war ein schöner Schlusssatz. - Nächste Rednerin
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin Frau Kirsten Lühmann.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen!
Verkehrsminister Ramsauer hat ein erstaunliches
Talent dafür, sich bei unangenehmen Dingen für
unzuständig zu erklären. Dabei sind die Fakten eindeutig: Neben den jeweils 37 Prozent, die Berlin
und Brandenburg an der Flughafengesellschaft halten, gibt es noch die 26 Prozent des Bundes. Das ist
natürlich keine Mehrheit, man kann damit auch
nicht im Alleingang die große Linie bestimmen.
Aber es ist auch deutlich zu viel, um „Herrn Ahnungslos“ und die Unschuld aus Bayern spielen zu
können.
Das haben heute die Nürnberger Nachrichten auf die
Antworten zu sagen, die Herr Ramsauer gestern der
Presse gegeben hat und aus denen wir - das hat er uns
eben in der Fragestunde deutlich gemacht - unsere Informationen hätten ziehen sollen. Herr Ahnungslos und die
Unschuld aus Bayern! Gestern Abend fragte Markus
Lanz einen Gast aus der Regierungskoalition: Ich habe
mich die ganze Zeit gefragt, wie ihr von der CDU/CSU
es schafft, den Ramsauer herauszuhalten. - Ich kann es
Ihnen sagen, Herr Lanz: Wenn man seine gesamte Energie dafür verwendet, mediale Nebelkerzen zu werfen,
anstatt sich der Lösung des Problems zuzuwenden, ist
das ganz einfach.
Dabei hätte diese Regierung jede Menge Möglichkeiten gehabt, sich der Lösung des Problems zu widmen.
Sie selbst haben dafür eine Sonderkommission eingerichtet. Wenn wir uns aber anschauen, was diese Sonderkommission in den letzten Monaten getan hat, stellen
wir fest: Sie hat sich über den Fortgang der Bauarbeiten
und die Kapazitäten in Tegel berichten lassen. Nach jeder Sitzung hat sie festgestellt: Es läuft. - Danke schön!
Wir hätten mehr erwartet. Wir hätten erwartet, dass sie
sich aktiv an der Bewältigung der Probleme beteiligt. Eines der Probleme ist - darüber wurde heute noch gar
nicht geredet; das ist ein Problem, dessen Lösung in alleiniger Verantwortung der Bundesregierung liegt - der
Regierungsflughafen. Hier ist man deutlich im Verzug,
und auch hier gibt es massive Probleme, die wir noch gar
nicht besprochen haben.
Herr Minister, hören Sie mit den Ablenkungsfütterungen und damit auf, den Eindruck zu erzeugen, dass wir
nicht handeln. Wir sollten uns vielmehr gemeinsam wieder den Problemen zuwenden. Matthias Platzeck hat damit begonnen; er hat nämlich keinen neuen Termin für
die Eröffnung gesetzt. Er hat den politischen Druck herausgenommen. Er hat gesagt: Lasst uns erst einmal planen! Lasst uns das angucken! Dann werden wir in Ruhe
weitersehen.
Über die Verantwortlichkeit für Fehler der Vergangenheit wurde heute schon sehr viel geredet. Zu der Verantwortlichkeit für Fehler der Vergangenheit gibt es erste
Gerichtsverfahren, meine Herren und Damen. Die können wir erst einmal abwarten. Es ist nicht hilfreich, wenn
wir andauernd Ausschusssitzungen haben, in denen uns
die Regierung gebetsmühlenartig erzählt: Alle anderen
sind schuld, nur wir nicht. - Es hilft auch nicht, wenn in
diesen Sitzungen eine Beratungsgesellschaft vortragen
und uns bei der Aufklärung helfen soll, die gleichzeitig
die Flughafengesellschaft und damit ja wohl auch uns
selber verklagt.
({0})
Was soll mir jemand, der gegen mich klagt, bei der Aufklärung irgendeines Sachverhaltes helfen? Das leuchtet
mir nicht ein, und das scheint deutlich widersinnig zu
sein.
Aber, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, lassen Sie
uns einmal über einen Flughafen reden, der in Betrieb
ist, wo Hunderte von Menschen arbeiten, nämlich über
den Flughafen Tegel; er ist heute schon einmal angesprochen worden. Auf eine entsprechende Frage in der Fragestunde hat der Staatssekretär Mücke ganz locker gesagt: Na ja, Geschäftsführer hin oder her, die machen
alle ihre Arbeit; Tegel läuft schon. - Herr Staatssekretär,
ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, wie die Situation
der Beschäftigten und der Passagiere in Tegel inzwischen ist: Seit 2010 wird jegliche bauliche Maßnahme
zur Verbesserung der Arbeitssituation der Beschäftigten
dort nicht angegangen mit der Begründung: Na ja, in
sechs Monaten seid ihr hier sowieso weg.
({1})
Wir haben inzwischen die Situation, dass die Passagierzahlen im letzten Jahr überproportional um 8 Prozent auf 18 Millionen gesteigert worden sind. Die Fluglinien sagen: Die Technik funktioniere nicht. Die
Anwohner werden von zusätzlichem Lärm belästigt. Die
Beschäftigten sagen: Wir haben keine vernünftigen Arbeitsplätze. Die Anlagen für die Kontrolle des Gepäcks
funktionieren nicht mehr. Das Sicherheitspersonal kann
seine Arbeit nicht mehr machen. Ich denke, hierum sollten wir uns einmal kümmern. Das erwarten die Menschen von uns. Es kommen zusätzliche Probleme auf uns
zu. Ab März wird die Luftfahrtkontrolle verändert sein.
Ab 2014 wird es Flüssigkeitskontrollen geben. Das sind
Probleme, die wir jetzt angehen müssen. Das erwarten
die Leute von uns.
Fazit ist: Großprojekte brauchen Offenheit. Wenn wir
etwas aus der Flughafenfrage gelernt haben, dann ist es
dieses: Wir sollten uns darum kümmern, neue Regeln für
Großprojekte zu schaffen.
({2})
Die SPD hat das in einem Antrag getan. Dieser Antrag
wurde heute im Fachausschuss beraten. Die Regierung
hat sich verweigert, sich dieses Problems anzunehmen.
Das gilt auch für das Problem der Flugrouten; ich verweise auf die Diskussion mit der EU-Kommission. Wir
haben schon im März letzten Jahres dafür Lösungen gehabt. Sie verweigern sich diesen Lösungen. Das ist nicht
das, was die Menschen von uns erwarten. Die Menschen
erwarten von uns, dass wir ihre Probleme lösen. Lassen
Sie uns endlich damit anfangen.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kirsten Lühmann. Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Oliver Luksic. Bitte
schön, Kollege Oliver Luksic.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Hauptstadtflughafen entwickelt sich zu einem Fass ohne Boden. Wir brauchen jetzt ein fachkundiges Management, einen kompetenten Aufsichtsrat. Wir
müssen jetzt über die Ursachen reden, über das Problem
der kollektiven Verantwortungslosigkeit, damit die Weichen neu gestellt werden können. Wir haben es mit eklatanten Planungsfehlern, Planungslücken, Überschreitung
der Bauzeit und der Baukosten zu tun.
Der frühere Architekt hat Bilanz gezogen und gesagt,
ständige Umbauwünsche hätten den Bauablauf regelrecht zerschossen. Auf Drängen der Politik gab es knapp
300 Planänderungsanträge, eine fortdauernde Behinderung der eigenen Baustelle. Man habe mit Halbwahrheiten und unrealistischen Vorgaben gearbeitet. Lieber Kollege Bartol, beide betroffenen Länder waren SPDregiert, als diese Planänderungen ausgeführt wurden. Im
Bund war Herr Tiefensee der zuständige Verkehrsminister. Er hat immer die Rückendeckung von Wowereit gehabt. Hören Sie also auf, sich ständig aus der Verantwortung herauszureden.
({0})
Das Credo lautete nämlich: Man baut einen Flughafen,
koste es, was es wolle. - Jetzt haben wir schon die fünfte
Verschiebung des Eröffnungsdatums in zwei Jahren.
Das Kernproblem ist - wir haben es eben in der Fragestunde noch einmal gehört - die Entrauchungsanlage.
Auch die wurde damals noch unter der Verantwortung
von zwei SPD-regierten Ländern und von einem Verkehrsminister Tiefensee gebaut. Das Problem ist, dass da
Ästhetik vor Funktionalität kam. Wie kann man denn auf
die Idee kommen, eine Brandschutzanlage zu bauen, bei
der der Rauch nach unten abgesogen werden soll? Man
muss wirklich kein Ingenieur sein, um zu verstehen, dass
das nicht geht. Aber diese Entscheidungen sind damals
unter einer anderen Regie gefallen. Deswegen sind all
Ihre Versuche, die Verantwortung immer zu Minister
Ramsauer zu schieben, völlig fehl am Platze.
({1})
Daran war auch noch Herr Tiefensee beteiligt, der übrigens auch in der damaligen Regierung unter Beteiligung
von Rot-Grün saß, Frau Künast.
({2})
Damals war auch die SPD im Bund im Aufsichtsrat.
Ein weiterer Fehler war leider auch ein nicht vorhandener Generalunternehmer; denn es hat an Kontrolle und
an Kommunikation auf der Baustelle gemangelt. Es gab
kollektive Verantwortungslosigkeit. Das wurde jahrelang gedeckt durch die Herren Wowereit, Platzeck und
Schwarz. Selbst die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung diskutiert ja nun darüber, den Namen „Brandt“
nicht mit dem Flughafen in Verbindung zu bringen. Ich
glaube, dies sollte der SPD wirklich zu denken geben.
Ich glaube, ein solches Denkmal hat Willy Brandt nun
wirklich nicht verdient.
({3})
Ich glaube, die nicht endende Verantwortungslosigkeit ist nicht länger hinnehmbar. Auch die Rochade im
Aufsichtsrat können wir als FDP-Fraktion nicht gutheißen, weil hier der Bock zum Gärtner gemacht wurde.
Gerade Ministerpräsident Platzeck und seine brandenburgischen Genehmigungsbehörden haben sich auch
nicht mit Ruhm bekleckert.
({4})
Deswegen meinen wir, die Spitze des Aufsichtsrates
sollte mit einem unabhängigen Experten aus der Wirtschaft besetzt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
habe von Ihnen nichts gehört zu der Frage, warum Herr
Wowereit und Herr Platzeck gestern nicht zur Sitzung
des Haushaltsausschusses erschienen sind. Übrigens
sind die Vertreter der entsprechenden Länder auf der
Bundesratsbank bei solchen Themen auch nur selten präsent. Herr Platzeck will am nächsten Tag zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats gewählt werden, auch vom Bund,
und kommt nicht in den zuständigen Ausschuss.
({5})
Herr Wowereit hat dreimal die Einladung von Toni
Hofreiter ausgeschlagen, in den Verkehrsausschuss zu
kommen. Er hat auch die letzte Einladung wieder ausgeschlagen. Das ist der eigentliche Skandal. Also hören Sie
mal damit auf, hier immer wieder den Bundesverkehrsminister anzusprechen.
({6})
Katastrophale Informationspolitik, ständiges Verschieben von Terminen, falsche Fakten! Dafür muss der
Regierende Bürgermeister die Verantwortung tragen.
Außerdem gilt: Wer nicht Aufsichtsratschef sein kann,
der kann auch keine Millionenmetropole regieren. Das
ist unsere feste Überzeugung. Immerhin - da gebe ich
Ihnen recht - hat Herr Platzeck den Mut gehabt, sich den
öffentlichen Fragen zu stellen. Das war gut und richtig.
Allerdings bin ich der festen Überzeugung: Wir brauchen jemanden, der das Fulltime machen kann, und nicht
einen Regierungschef, der sich damit so nebenbei beschäftigt.
Zum Thema Geschäftsführung: Es trifft zu, dass es
der Bund war und nicht die SPD-regierten Länder Berlin
und Brandenburg, die immer wieder darauf gepocht haben, dass Herr Schwarz entlassen werden muss. Peter
Ramsauer ist dieses Thema immer wieder angegangen.
Das war dringend notwendig; denn es kann nicht sein,
dass zahlreiche kleine Unternehmen in Insolvenz gehen,
({7})
in eine Existenzkrise geraten, während andere jetzt noch
den goldenen Handschlag bekommen. Das ist für unsere
Fraktion wirklich nicht hinnehmbar.
({8})
Das Parlament weiß bis heute nicht, wie der aktuelle
Stand aussieht. Deshalb erwarte ich, dass jetzt eine abschließende und möglichst umfassende Mängelliste vorgelegt wird. Ein Weiter-so kann es auch in der Informationspolitik nicht geben. Wir brauchen ein fachkundiges
Management und vor allem endlich auch einen kompetenten Aufsichtsrat. Das ist die Erwartung, die wir haben, damit es endlich vorangeht beim Flughafen Berlin
Brandenburg.
({9})
Vielen Dank, Kollege Oliver Luksic. - Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Dr. Anton Hofreiter. Bitte schön, Kollege
Dr. Anton Hofreiter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Rede von unserem Kollegen Wegner aus
Berlin hat das Problem zum Teil deutlich gemacht. Er
hat gefordert, dass sich alle Beteiligten zum Projekt bekennen müssen, und hat es als Verhinderungstaktik dargestellt, wenn man kritische Nachfragen stellt. Das ist
letztendlich das zentrale Problem. Ein Großprojekt wird
nicht dadurch gebaut, dass man sagt: „Ich will es haben“,
sondern dadurch, dass man es richtig managt, sich darum
kümmert, vernünftige Zeitpläne aufstellt und vernünftige Finanzpläne aufstellt. Dazu gehört eben auch kritisches Nachfragen und nicht einfach nur die Aussage:
„Ich bekenne mich dazu.“
({0})
Es ist zu simpel, zu einfach, und es ist die Art und
Weise, wie Sie immer wieder Großprojekte durchsetzen.
Das hier ist ja nicht das einzige, das scheitert.
Was ist hier alles schiefgegangen? Der erste Problemkomplex ist: Man hat sich ein extrem kompliziertes Terminal mit hohen ästhetischen Standards gewünscht. Das
heißt, alle Rohre sollten unterflur sein; man sollte unterflur entrauchen. Dann hat man Unmengen Umplanungen
durchgeführt, während das Ganze schon im Bau war,
gleichzeitig aber den Zeitplan nicht angepasst. Das
musste ins Desaster führen.
Der nächste Problemkomplex ist, wie man mit kritischen Nachfragen und mit der Öffentlichkeit umgegangen ist. Noch in der Aufsichtsratssitzung im April, kurz
vor der geplanten Eröffnung, hat man Endspurtmaßnahmen beschlossen; das ist richtig dargestellt worden. Das
Problem ist nur: Es ist von einem Vertreter der Regierungskoalition anklagend dargestellt worden, obwohl die
Bundesregierung voll und ganz mit dabei war.
({1})
Neben dieser katastrophalen Kommunikationsstrategie hat man, als dann im Mai alles abgesagt war, am
16. Mai einvernehmlich entschieden: Wir schmeißen die
Planer raus. - Irgendwer musste ja der Sündenbock sein.
Man hat so getan - alle drei wieder einvernehmlich -, als
wenn man das Ganze im Griff hätte, und man wollte Tatkraft zeigen. Nach allem, was ich inzwischen weiß,
dachte man: Man schmeißt den technischen Leiter des
Flughafens und auch ein paar Architekten raus.
Dieser glorreiche Aufsichtsrat, in völliger Unkenntnis
dessen, was er treibt, hat den Vertrag mit der pg bbi gekündigt. Was war die Folge davon? Die Folge davon
war: Alle Planer, bis zum kleinsten Fachplaner, waren
von einem Tag auf den anderen ihren Job los.
({2})
Was bedeutet das? Man hat von einem Tag auf den anderen auf einer Baustelle, die falsch gemanagt war, die
große Terminprobleme hatte und die aufgrund des von
der Politik - wieder von allen drei Beteiligten - künstlich erzeugten Zeitdrucks unter riesigen Schlampereien
gelitten hat, das gesamte Wissen über diese Baustelle
- im Einvernehmen zwischen Bund und beiden Ländern vernichtet.
({3})
Man kann zugespitzt sagen: Aus einer Baustelle mit Terminproblemen hat dieser tolle Aufsichtsrat eine Bauruine gemacht.
({4})
Das ist es im Moment; seit einem Dreivierteljahr geht da
sozusagen nichts voran.
Jetzt haben wir hier wunderschön erlebt, wie sich die
Beteiligten gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Wenn man sich einmal anschaut, was jeweils entschieden worden ist, stellt man fest: Die schwarz-gelbe
Bundesregierung und die beiden Landesregierungen haben immer alles einvernehmlich entschieden. Das Verkehrsministerium hat so getan, als wenn es keine Anteile
hätte. Als dann das ganze Desaster offensichtlich war,
ging es dem Ministerium und dem zuständigen Minister
nicht darum: Wie kann ich das Problem lösen? Wie kann
ich das Projekt retten? Man stellte sich die Frage: „Wie
kann ich daraus politisches Kapital schlagen,
({5})
und wie kann ich mich selber in ein gutes Licht rücken?“, anstatt zu sagen, was ein verantwortlicher
Minister sagen würde: Okay, wir haben da gemeinsam
Mist gemacht, und das müssen wir jetzt auszubaden versuchen. - Das ist der Skandal, der da auf Bundesseite
letztendlich vorhanden ist.
({6})
Was wäre jetzt notwendig? Notwendig wäre Folgendes - wenn man ehrlich ist, müsste man das sagen -:
Man müsste sich zusammensetzen und überlegen: Wo ist
denn überall Wissen über diese Baustelle vorhanden?
Man müsste letztendlich eine Art Planungsgruppe gründen, in die man einen Teil der alten Planer hineinnimmt,
in die man die neuen Planer hineinnimmt - die wissen
nämlich seit August Bescheid -, in der man mit der Genehmigungsbehörde in einem ständigen Austausch ist
und in der man mit den Firmen zusammenarbeitet.
Wenn man mit Beteiligten spricht und fragt: „Wie ist
denn die Lage?“, erfährt man etwas. Die Vertreter vom
Hotel Steigenberger waren wöchentlich im Austausch
mit der Genehmigungsbehörde, um die Probleme vielleicht gelöst zu bekommen. Die Genehmigungsbehörde
sagt: Vom Flughafen hat sich bei uns in der Regel niemand gemeldet. - Das ist eine spannende Sache. Vielleicht sollten wir einmal mit den Herren von der Genehmigungsbehörde reden, und zwar intensiv reden,
nämlich darüber: Wie bekommt man denn das Problem
mit der Brandschutzanlage gelöst?
Das Nächste: ein neuer Eröffnungstermin. Einen
neuen Eröffnungstermin sollte man wirklich erst dann
benennen, wenn man sich darüber im Klaren ist, wie das
Ganze weitergeht. Bis dahin sehe ich noch eine gewisse
Zeit ins Land gehen. Aber die Methode des Bundesverkehrsministeriums, die Schuld nur von sich wegzuschieben und so zu tun, als wenn man der Aufklärer wäre,
zerstört jegliches Vertrauen im Aufsichtsrat und führt
dazu, dass sich die einzelnen Beteiligten gegenseitig bekämpfen. Das muss dringend beendet werden, damit dieses Projekt vielleicht doch noch irgendwann zum Abschluss kommt.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Dr. Toni Hofreiter. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Jens Koeppen. Bitte schön, Kollege Jens Koeppen.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Desaster um den Hauptstadtflughafen ist eine Blamage, eine Schande für ganz Deutschland. Man muss sich, insbesondere als Brandenburger,
Techniker und jahrelanger Geschäftsführer, für eine solche Schlamperei schämen. Die Master of Desaster, insbesondere Wowereit, Platzeck und der ehemalige
Geschäftsführer Schwarz, „bemühen“ sich jetzt um Aufklärung und waschen die Hände in Unschuld. Ich halte
das, gelinde gesagt, für eine Schweinerei.
Jetzt gibt es ein Bäumchen-wechsel-dich-Spiel, eine
Rochade an der Aufsichtsratsspitze, sozusagen von
Wowereit in die Traufe. Als Brandenburger will ich
meine Einschätzung dazu abgeben. Diese lässt sich kurz
zusammenfassen: Gelinde gesagt bin ich übermäßig
skeptisch, dass Ministerpräsident Platzeck an der Spitze
des Aufsichtsrates irgendetwas verändern kann.
({0})
Ich bin übermäßig skeptisch, dass Matthias Platzeck
seine Verantwortung als Regierungschef und als Aufsichtsratsvorsitzender unter einen Hut bringen kann.
({1})
Damals, als Regierungschef und Vorsitzender der Bundes-SPD, hat Matthias Platzeck einige Wochen nach seinem Rücktritt gesagt: Es ist nicht unter einen Hut zu
bringen. Körperlich ist es nicht zu schaffen, und auch arbeitsmäßig nicht.
({2})
Jetzt will er ein Milliardenprojekt mit offenen Fragen
und Dutzenden Problemen „ganz nebenbei“ handhaben.
({3})
Herr Liebich, ich bin auch deshalb übermäßig skeptisch, weil in den letzten 20 Jahren der Brandenburger
Regierungschef und die Brandenburger SPD bei vielen
Großprojekten in Brandenburg keine Führungsstärke,
keine Diagnose- und Abwägungskompetenz gezeigt haben.
({4})
Ich nenne einige Beispiele, die in den märkischen Sand
gesetzt wurden: Es wurden unzählige Millionen an Fehlinvestitionen in die Chipfabrik Frankfurt/Oder gesteckt.
Matthias Platzeck war Ministerpräsident; er ist es noch
immer.
({5})
Der Cargolifter, eine riesengroße Halle, war ein riesengroßes Projekt. Auch hier gab es viele Millionen an
Fehlinvestitionen. Heute ist dort ein Freizeit- und Erholungsbad, und es wird immer noch gefördert - von
Matthias Platzeck und der Brandenburger SPD.
({6})
Der Lausitzring: Es wurde groß verkündet, dort werde
die Formel 1 fahren. Jetzt ist es eine Hobbyrennstrecke Matthias Platzeck und die SPD. Dann wurde die Brandenburgische Boden Gesellschaft an einen guten Freund
des sehr guten Freundes des Ministerpräsidenten unter
Wert verkauft.
({7})
Diese dubiosen Geschäfte sind jetzt Gegenstand eines
Untersuchungsausschusses in Brandenburg. Wie will
dieser Mann, wie will diese Partei ein solches Projekt
schaffen?
({8})
Ich bin auch deswegen übermäßig skeptisch, weil die
neue Wunderwaffe von Matthias Platzeck, die er in die
Staatskanzlei holt, Staatssekretär Bretschneider, für die
Taskforce verantwortlich gemacht wird. Dieser Staatssekretär Bretschneider hat das Planfeststellungsverfahren für den BER durchgeführt. Dieser Staatssekretär
Bretschneider hat die alten Flugrouten genannt und ist
für die heutigen Verwerfungen durch die neuen Flugrouten in der Region verantwortlich. Er ist vor allen Dingen
dafür verantwortlich, dass in der Region Ungemach
herrscht durch die „nette Art und Weise“, mit der er auftritt. Er hat immer noch die obere Bauaufsicht im brandenburgischen Verkehrsministerium. Er hätte natürlich
Ministerpräsident Platzeck und den Aufsichtsratsvorsitzenden Wowereit darüber informieren können, dass im
Juni 2012 nicht eröffnet werden kann. Was hat er gemacht? Bis zum Schluss, noch wenige Tage zuvor, hat er
den Eröffnungstermin vehement verteidigt und jede Anmerkung dazu auf seine nette Art und Weise aufs
Schärfste zurückgewiesen. Das hätte nicht sein müssen.
Er hätte auch Platzeck und Wowereit die entsprechenden
Fragen aufschreiben können; er hätte auch mit der Bauaufsicht reden können. Das hat er nicht gemacht. Ich
stelle mir die Frage, warum Matthias Platzeck mit dieJens Koeppen
sem vorbelasteten Staatssekretär Bretschneider die Aufgabe ernster nehmen sollte. Vielleicht holen sie sich den
geschassten Geschäftsführer Schwarz in die Staatskanzlei. Vielleicht wird so etwas daraus.
Platzeck hat gesagt: „Entweder das Ding fliegt, oder
ich fliege“. Das hört sich verdammt ehrlich an. Es ist
aber eine Aussage ohne Benchmarks. Natürlich hat keiner Zweifel daran, dass der Flughafen irgendwann fertig
sein wird. Eine solche Aussage ist aber völlig inhaltsleer,
wenn nicht darüber gesprochen wird, welche Kosten entstehen, wann der Flughafen tatsächlich eröffnet wird
oder wie es um den Erweiterungsbedarf des Flughafens
bestellt ist. Es muss auch darüber gesprochen werden,
dass eine erfolgreiche Infrastruktureinbettung zu erfolgen hat. Die Freiwillige Feuerwehr von Schönefeld soll
den Brandschutz übernehmen. Die Stellen für die Flughafenärzte sollen gestrichen werden, und das bei voraussichtlich 70 000 Fluggästen am Tag. Das ist absolut
unverantwortlich. Hierüber wird jedoch kein Wort verloren.
Ob der Aufsichtsratsvorsitzende Platzeck im Gegensatz zu seiner bisherigen Tätigkeit als Aufsichtsratsvize
tatsächlich für Transparenz, Klarheit und Wahrheit sorgen kann, wage ich zu bezweifeln. Es handelt sich hierbei um mehr als nur ein Oder-Hochwasser, bei dem man
sich ein Paar Gummistiefel anzieht und dann vom Hubschrauber aus winkt. Hier sind Managerqualitäten,
Durchsetzungsvermögen und Sachverstand gefordert.
Das alles sehe ich bei Matthias Platzeck nicht, meine
Damen und Herren.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Jens Koeppen. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Mechthild
Rawert. Bitte schön, Frau Kollegin Rawert.
({0})
Das Jahr 2012 endete mit einer Aktuellen Stunde
Wozu? Zum „Flughafen Berlin Brandenburg“. Dort
wurden meinerseits schon viele Fragen an die Bundesregierung gestellt. Ja, diese Flughafenkrise ist ganz unbestritten ein Debakel. Sie ist kein Ruhmesblatt für Regierende, für Experten und Expertinnen, egal ob auf
Bundes- oder Länderebene, und egal welche großen Unternehmen - Bosch, Siemens und andere - daran beteiligt gewesen sind.
Fakt ist aber auch: Es handelt sich um das größte ostdeutsche Infrastrukturprojekt. Hier erwarte ich, dass wir
alle aus gesamtstaatlichem Interesse dahinterstehen;
Sören Bartol hat es schon gesagt. Ich bin dankbar dafür,
dass viele Arbeitsplätze in der Region Berlin und Brandenburg unabhängig von der Couleur der jeweiligen Regierung gehalten worden sind. In diesem Zusammenhang könnte ich Ihnen differenzierte Zahlenangaben
machen. Nur so viel: 60 Prozent des Auftragsvolumens
von 2,1 Milliarden Euro sind an hiesige Unternehmen in
der Region geflossen; von den 600 Ausschreibungen haben diese 430 Unternehmen aus der Region gewonnen.
Lassen Sie mich sagen: Ich danke Klaus Wowereit
und ich danke Matthias Platzeck dafür, dass sie ihre Aufsichtsratsposten weiter wahrnehmen.
({0})
Denn es gehören Mut und Verantwortung dazu, zu dem
zu stehen, was gesamtstaatliches Interesse ausmacht.
({1})
Fragen Sie sich von der FDP, der CDU und der CSU
doch einmal, ob Sie Ihre Bundesregierung in ausreichender Form unterstützen, wenn Sie keine ausreichenden
Mittel bewilligen
({2})
oder wenn Sie im Haushaltsausschuss keine Möglichkeit
zur Befragung des Ministers Ramsauer bieten. Sie sind
die Verhinderer des Flughafens, und nicht die Regierungen in Berlin und Brandenburg.
({3})
Herr Lindner, gut, dass Sie gerade so schreien; ich
will auf ein Stichwort von Ihnen eingehen. Sie haben die
Frage gestellt, inwieweit die öffentliche Hand ein geeigneter Bauherr ist.
({4})
Ich sage: Ja, sie ist es. Lassen Sie mich ein Beispiel herausgreifen; dann komme ich auf den Flughafen zurück.
Die Avus wurde zehn Monate vor dem ursprünglich genannten Termin fertiggestellt, und zwar mit 20 Prozent
weniger Kosten als geplant. Für uns als Bürgerinnen und
Bürger ist im Zusammenhang mit dem Gerede, dass die
öffentliche Hand kein Bauherr sein sollte, entscheidend:
Der Flughafen Willy Brandt - und er wird stolz darauf
sein ({5})
ist ein Beleg dafür, dass die öffentliche Hand Bauherr
sein sollte. Ich nenne Ihnen die Gründe.
Erstens. Es gibt keine Public-private-Partnership
- viele andere wollen das gerne -, keine versteckten Gelder, keine verdeckten Schulden. Es gibt einen transparenten Haushalt, auf den die Bürger und Bürgerinnen
Zugriff haben.
({6})
Die Politiker nehmen ihre Verantwortung wahr. Hessen,
München - kein Flughafen ist in der vorgesehenen Zeit
fertiggeworden.
({7})
Ich will nicht mit dem Finger auf die zeigen, die dort die
Verantwortung getragen haben.
Zweitens sind die Parlamente, egal ob in Brandenburg
oder in Berlin, ihrer Verantwortung nachgekommen und
haben die finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt.
({8})
Berlin hat das Notifizierungsverfahren erfolgreich bestanden; das war eine große Herausforderung bei der Bewältigung der Finanzierung des Flughafens.
Ich komme schnell zum dritten Punkt; denn ich muss
aufhören. Die Bürger und Bürgerinnen werden die Verantwortungsverschieberei, die hier vorgenommen worden ist, nicht verstehen.
({9})
Sie werden nicht verstehen, wie Sie sich hier aus der
Verantwortung herausstehlen.
({10})
Sie werden nicht verstehen, dass Sie plötzlich so tun
- vorhin sind Namen genannt worden; ich will sie nicht
wiederholen -, als hätten Sie in bestimmten Phasen
keine Verantwortung getragen. Das heißt, dass Sie keine
politische Verantwortung übernehmen wollen. Denn wer
politische Verantwortung tragen will, der muss auch zu
ihr stehen und den entsprechenden Mut aufbringen.
({11})
Diesen Mut haben Klaus Wowereit und Matthias
Platzeck, und dafür sage ich Danke.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster und auch
letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Arnold Vaatz.
Bitte schön, Kollege Arnold Vaatz.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Rawert, das, was Sie hier vorgetragen haben, macht
der Faschingszeit alle Ehre.
({0})
Es gehört schon eine gewisse Dreistigkeit dazu, die
Schuldzuweisungen so konsequent in die gewollte Richtung zu lenken, wie Sie es hier getan haben.
({1})
Ich glaube, jeder objektive Beobachter fasst sich an den
Kopf, wenn er hört, was wir hier zum Teil diskutieren.
Ich glaube, wir alle im Haus sind uns darin einig, dass
die bisherige Geschichte des Flughafens eine Kette von
Fehlleistungen war, die uns im Land enorm zurückwirft
und uns auch internationales Ansehen kosten wird. Denn
dieser Flughafen hat - egal, was wir im Einzelnen darüber denken - internationale Bedeutung; das gilt im
Positiven wie im Negativen.
Meine Damen und Herren, es ist sicher richtig, wenn
Herr Liebich und Herr Hofreiter darauf hinweisen, dass
der Misserfolg viele Väter hat und es nicht unbedingt
richtig ist, immer nur auf den anderen zu zeigen. Aber
ein paar Dinge sollte man wenigstens zur Kenntnis nehmen.
Dazu zählt erstens die Tatsache, dass ein Vorsitzender
eines Aufsichtsrats ungleich mehr Macht hat als die Mitglieder des Aufsichtsrates.
({2})
Jeder Realist in dieser Runde muss einräumen, dass es so
ist.
({3})
Zweitens müssen wir feststellen, liebe Freunde von
der sozialdemokratischen Seite: Ihre Ministerpräsidenten Wowereit und Platzeck waren von Anfang an dabei.
Die Kollegen Gatzer und Bomba sind im Jahre 2010 dazugekommen, als im Wesentlichen vollendete Tatsachen
geschaffen waren.
({4})
Man kann nicht verlangen, dass sich die neu hinzugekommenen Kollegen hinstellen und die Fehlentwicklungen nach kürzester Zeit beheben. Ich muss Ihnen sagen:
Herr Amann ist jetzt etwa ein halbes Jahr dabei - noch
nicht ganz -, und er hat, obwohl er hauptamtlich und
ausschließlich damit befasst war, dieses knappe halbe
Jahr gebraucht, um erst einmal den Iststand festzustellen.
So weit war dieses Projekt schon verdorben, von Anfang
an. Das muss man doch einmal einräumen. Man muss
fragen: Wer hat die Geschichte von Anfang an angeführt?
Ich bin nicht der Meinung, dass der Flughafen Berlin
Brandenburg ein Beweis dafür ist, dass die öffentliche
Hand als Bauherr versagt hat. Selbstverständlich ist auch
die öffentliche Hand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland oftmals ein guter und effizienter Bauherr gewesen.
({5})
Aber, Frau Rawert, Sie können doch nicht wirklich
ernsthaft behaupten, dass der Flughafen ein Beweis für
die Qualität der öffentlichen Hand als Bauherr ist.
({6})
Die Öffentlichkeit erwartet von uns zu Recht, dass
wir uns jetzt nicht in Details festkrallen, wie das am Anfang dieser Debatte geschehen ist. Was der Herr Minister
mit Herrn Amann im Privatissimum besprochen hat, ist
so uninteressant, wie eine Sache in diesem Zusammenhang überhaupt sein kann. Das Entscheidende, was die
Öffentlichkeit von uns erwartet, ist, dass wir uns folgende Fragen stellen: Wie ist der Sachstand? Wie kann
es weitergehen? Wie stellen wir uns organisatorisch den
Weg zum Erfolg vor?
({7})
Das erwartet die Öffentlichkeit, und über diese Fragen
ist in dieser Debatte meines Erachtens noch nicht entschieden worden.
Zunächst einmal brauchen wir eine Diagnose in Bezug auf den Istzustand. Dann ist es notwendig, den
genauen Bauumfang und den genauen Planungsumfang
zu erkunden, der jetzt erforderlich ist, um aus dieser bisher missglückten Prozedur doch noch eine Erfolgsgeschichte zu machen. Danach müssen wir eine neue
Wirtschaftlichkeitsbetrachtung vornehmen. Wir müssen
eine neue Genehmigungssituation schaffen. Wir müssen
Genehmigungskonformität herstellen. Schließlich und
endlich müssen wir uns auch die Kosten-, Haftungs- und
die Schuldfrage - also die Frage: „Wie konnte das geschehen?“ - stellen, damit uns Derartiges nicht wieder
passiert.
Das sind meines Erachtens die Erfordernisse der Vernunft. Darauf sollten wir abzielen. Wenn wir das nicht
machen, dann wird dieser Flughafen enden wie ein vorangegangenes großes Beispiel Brandenburger Staatskunst, nämlich Tropical Islands.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollege Arnold Vaatz. Kollege Arnold
Vaatz war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Schauen wir einmal, wann wir uns wieder gemeinsam hier im Plenum
mit diesem Thema zu beschäftigen haben.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2011 ({1})
- Drucksachen 17/8400, 17/11215 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({2})
Karin Evers-Meyer
Rainer Erdel
Omid Nouripour
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Es sind
alle damit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Bevor ich dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus, das Wort gebe, darf ich ihn herzlich willkommen heißen zusammen mit all seinen Mitarbeitern,
denen ich für ihre Arbeit vom Präsidium aus herzlich
danke. - Der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus hat
das Wort. Bitte schön.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend den Jahresbericht 2011. Die
große Zahl der anwesenden Führungskräfte aus meinem
Amt zeigt Ihnen, wie sehr uns an der Rückmeldung aus
dem Parlament zu dem, was wir über die Jahre hinweg
erarbeitet und ausgearbeitet haben, gelegen ist. Deshalb
sind die Führungskräfte alle hier, und darüber freue ich
mich.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen bereits im
September des vergangenen Jahres in der ersten Beratung die Aussagen und Schwerpunkte des Berichts vorgestellt. Erlauben Sie mir bitte, dass ich heute an dieser
Stelle nur einige der dort behandelten Themen aufgreife;
denn ich möchte dem Jahresbericht 2012, der zurzeit im
Druck ist und am 29. Januar übergeben wird, nicht vorgreifen.
Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist in der Regel vor allem ein Mängelbericht. Deshalb freut es mich
besonders, dass ich diesmal auch positive Entwicklungen herausstellen kann. Das meiner Ansicht nach Wichtigste sei vorangestellt: Seit dem 2. Juni 2011 hat die
Bundeswehr keine Gefallenen mehr zu beklagen, und
wir haben auch deutlich weniger verwundete und verletzte deutsche Soldaten. Ich glaube, das ist ein Grund
zur Freude. Das ist nicht zuletzt den auch von Ihnen, den
Abgeordneten des Deutschen Bundestages, veranlassten
Verbesserungen bei der Ausrüstung und der Ausstattung
der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz geschuldet.
({3})
Aber das ist es natürlich nicht allein. Auch die Gefahr
durch die sogenannten Innentäter hat uns sehr beschäftigt. Darauf hat die Bundeswehr angemessen reagiert.
Meine Anerkennung gilt deshalb vor allem den Kommandeuren vor Ort. Sie haben die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der ihnen unterstellten Soldatinnen und
Soldaten in den Feldlagern und außerhalb vor weiteren
derartigen Anschlägen und Attentaten ergriffen.
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
Im Februar 2011 - Sie erinnern sich - sind bei dem
Angriff eines Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte auf deutsche Soldaten im OP North drei
unserer Soldaten gefallen. Ich habe zwei von ihnen persönlich gekannt. Ich habe sie noch wenige Tage vor dem
Anschlag getroffen und mit ihnen gesprochen. Deshalb
ging mir das natürlich besonders nahe. Ich kenne auch
ihre Hinterbliebenen. Ich weiß, welches Leid die Hinterbliebenen, ihre Angehörigen - darunter ein Kleinkind -,
noch immer ertragen müssen. Ihnen, aber natürlich auch
allen anderen Hinterbliebenen gilt meine besondere
Zuwendung. Ich freue mich, dass auch Sie, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dem Wohl der Hinterbliebenen stets Ihr besonderes Augenmerk gewidmet haben. Dafür möchte ich Ihnen ausdrücklich meinen
besonderen Dank aussprechen.
Leider, trotz aller Verbesserungen, die ich durchaus
anerkenne, gibt es weiterhin Ausrüstungsdefizite, die
ausgeglichen werden müssen. Ich freue mich, dass auch
insoweit das Parlament immer wieder die Initiative ergreift und ganz konkrete Maßnahmen einfordert. So hat
der Verteidigungsausschuss das Bundesministerium der
Verteidigung aufgefordert, die Beschaffung moderner
Wärmebildgeräte für alle im Einsatz befindlichen Schützenpanzer Marder zu veranlassen, um die festgestellten
Schwächen im Bereich der Nahkampffähigkeit zu beheben. Das ist eine wichtige Fürsorgemaßnahme, weil die
Soldaten nur dadurch in die Lage versetzt werden, die
anerkannten Regeln im Gefecht einzuhalten, ohne sich
selbst in Gefahr zu bringen, und das ist, glaube ich,
wichtig.
Ebenso hat der Ausschuss die Beschaffung eines
schnellen, beweglichen, kleinen Hubschraubers für den
Einsatz der Spezialkräfte gefordert. Auch das ist etwas,
was der Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten dient.
Das Bundesministerium der Verteidigung hat den Bedarf
auch eingeräumt, die Beschaffung aber nicht vor dem
Jahr 2016 in Aussicht gestellt. Das ist angesichts des
dringenden Bedarfs, der hier besteht, meiner Meinung
nach nicht vertretbar, zumal solche Geräte am Markt
verfügbar sind und von anderen Streitkräften beschafft
wurden.
Zu Recht beklagen Sie in den Debatten über die Jahresberichte immer wieder, dass viele der angesprochenen
Themen geradezu zu jahrelangen Dauerbrennern werden. Auch ich wünschte mir, dass die Zeit zwischen der
Feststellung eines Problems und seiner Abstellung deutlich verkürzt würde. Ein Beispiel hierfür - das ist ein
ganz aktuelles Thema - ist die Schaffung von bundeswehreigenen Plätzen zur Kinderbetreuung. In der Tat
wusste das BMVg in den letzten Jahren von einigen
Grundsteinlegungen zu berichten; der Herr Staatssekretär hat das hier immer wieder vorgetragen. Ich würde
mich aber freuen, wenn ich endlich einmal die Inbetriebnahme einer solchen Einrichtung erleben könnte, und
zwar noch während meiner Amtszeit.
({4})
Im Berichtsjahr 2011 hat uns alle der Tod einer Seekadettin im Rahmen einer Ausbildungsfahrt des Segelschulschiffs „Gorch Fock“ beschäftigt. Die Umstände,
die zu diesem tragischen Unfall geführt haben, sind inzwischen ausführlich untersucht worden. Dabei - das
kann ich an der Stelle vielleicht anmerken, weil das auch
hier immer wieder Thema war - haben sich nahezu alle
von mir angesprochenen Defizite bestätigt. Auch die
Marine räumt das inzwischen ein. Die vom Vorsitzenden
des Beirates Innere Führung, Herrn Professor Pommerin,
geleitete Kommission, die sich mit der Frage beschäftigt,
wie dieses Schiff weiter betrieben werden kann und soll,
hat alle meine Anregungen zur Verbesserung der Ausbildung und Sicherheitstechnik auf der „Gorch Fock“
aufgegriffen und in konkrete Vorschläge gefasst. Die
Marine hat sie auch aufgenommen. Das freut mich sehr.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass ich das hier
sagen kann: Ich wünsche der Besatzung und allen künftig dort Dienst tuenden Kadetten allzeit gute Fahrt und
stets eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Ich glaube,
das haben sie verdient.
({5})
Fragen der Ausrüstung und Ausbildung sind fester
Bestandteil eines jeden Jahresberichts. Daneben aber
gibt es immer auch Fragen des Grundrechtsschutzes der
Soldatinnen und Soldaten in ihrem privaten Umfeld. Das
gilt auch ganz aktuell für den folgenden Fall, den ich Ihnen gerne beispielhaft vorstellen und bei dem ich Sie
möglicherweise auch zur Aktion veranlassen möchte:
Vor wenigen Tagen erreichte mich die Eingabe eines
Soldaten aus Termes. Er beklagte sich darüber, dass er
wegen seines Auslandseinsatzes nicht an dem derzeit
laufenden Volksbegehren im Freistaat Bayern teilnehmen könne. Dazu müsste er nämlich seine persönliche
Unterschrift im Rathaus zu Hause leisten. Das kann er
nicht, weil er im Einsatz ist. - Das ist natürlich eine
Frage, die geklärt werden muss; denn es geht hier um
den grundlegenden Anspruch eines jeden Staatsbürgers
- auch in Uniform -, dass er sich an einer solchen Abstimmung beteiligen kann. Die Eingabe befindet sich
noch bei mir in der Überprüfung. Ich kann Ihnen auch
noch kein Ergebnis vortragen. Es zeigt sich aber doch
immer wieder, dass sich die Grundrechtsfragen, die Fragen auch der Teilhabe am demokratischen Leben, immer
wieder von neuem in unterschiedlichsten Facetten darstellen.
Das gilt übrigens auch - wenn ich das noch an dieser
Stelle in Erinnerung rufen darf - im Zusammenhang mit
dem vom Bundestag im Sommer verabschiedeten neuen
Meldegesetz, das sich derzeit noch im Vermittlungsverfahren befindet. Wenn es bei der jetzt diskutierten
Fassung des Grundgesetzentwurfs bleibt, müssen sich
unverheiratete Soldatinnen und Soldaten auch weiterhin
mit ihrem ersten Wohnsitz am Dienstort anmelden. Das
ist, nebenbei bemerkt, in einigen Bundesländern, wo bisher Landesrecht galt, sicherlich keine Verschlechterung,
aber eben auch nicht die angesprochene und - übrigens
auch vom Parlament - gewünschte Verbesserung. Es ist
eine negative Sonderverpflichtung ausschließlich für
Soldaten. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf
steuer- und versicherungsrechtliche Fragen, vor allem
aber auch auf das aktive und passive Wahlrecht der Betroffenen, jedenfalls im Bereich des KommunalwahlWehrbeauftragter Hellmut Königshaus
rechts in einigen Bundesländern. Es würde mich freuen,
meine Damen und Herren Abgeordneten, wenn dieser
Gesichtspunkt bei der weiteren Beratung des Gesetzentwurfes noch einmal bewertet und abgewogen werden
könnte.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
Ihnen, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages,
für die vielfältige Unterstützung meiner Arbeit danken,
natürlich auch für manche kritische Begleitung. Ebenso
danke ich dem Bundesministerium der Verteidigung, namentlich dem Minister, seinen Staatssekretären und der
militärischen Führungsebene für ihre Unterstützung und
die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit meinem Amt.
Mein ganz besonderer Dank gilt natürlich den Soldatinnen und Soldaten, insbesondere denen im Einsatz,
aber auch denen, die zu Hause sind, sowie ihren Angehörigen. Ich bitte die Soldaten und auch Oberst Kirsch
vom BundeswehrVerband, die heute auf der Tribüne zuhören, dies zu vermitteln. Ich denke, das werden Sie zum
Ausdruck bringen.
({6})
Nicht zuletzt danke ich meinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, ohne die ich meine Arbeit im Interesse der
Soldatinnen und Soldaten, aber auch des Deutschen
Bundestages, meines Auftraggebers, nicht so hätte leisten können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank dem Wehrbeauftragten unseres Parlamentes, Herrn Hellmut Königshaus.
Nun kommen wir zur Aussprache. Als Erster hat das
Wort für die Bundesregierung der Parlamentarische
Staatssekretär, Kollege Thomas Kossendey. Bitte schön,
Herr Staatssekretär Thomas Kossendey.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich zunächst einmal dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern - nicht nur den leitenden, sondern allen - ein ganz herzliches Dankeschön
für das große Engagement sagen, mit denen sie unsere
Arbeit begleitet und zum Wohle der Soldatinnen und
Soldaten in der letzten Zeit Anregungen gegeben haben.
Auch aufgrund Ihrer Anregungen, Herr Königshaus,
konnte mit der Unterstützung des Verteidigungsausschusses in den letzten Jahren für die Soldatinnen und
Soldaten eine ganze Menge erreicht werden.
Sie haben in Ihrem Bericht, der das Berichtsjahr 2011
umfasst, drei Schwerpunktthemen: die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Attraktivität des Dienstes und
die Personalfragen, insbesondere vor dem Hintergrund
der Strukturreformen, die wir im Augenblick umsetzen.
Das sind, ehrlich gesagt, Herr Königshaus, genau die
zentralen Handlungsfelder, die wir von der Leitung unseres Hauses für unsere Arbeit identifiziert haben.
Lassen Sie mich bei den Personalfragen beginnen.
Diese tiefgreifenden Veränderungen, die wir den Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Bundeswehr in diesen Jahren zumuten, werden jeden Angehörigen unserer Bundeswehr
betreffen. Da wird es keine Ausnahme geben. Obwohl
wir insgesamt eine breite Akzeptanz im Hinblick auf die
Reform haben, gibt es natürlich, wenn ich an den Einzelnen denke, immer wieder besondere Herausforderungen
und Unwägbarkeiten, die durchaus zu Verunsicherung
führen. Deswegen können wir verstehen, dass sich Mitarbeiter der Bundeswehr mit ihren Sorgen auch an den
Wehrbeauftragten wenden.
Wir haben verschiedene Informationsveranstaltungen
durchgeführt. Wir haben uns bemüht, Probleme aufzugreifen, zu erörtern und zu klären. Wir haben versucht,
die Belastungen, die sich durch die Umsetzung der Reform ergeben, so gering wie möglich zu halten. Wir haben mit dem Reformbegleitprogramm und mit dem
Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität Mittel
zur Verfügung gestellt, um die Umsetzung zu erleichtern, die Härten abzufedern und den Übergang in die
neuen Strukturen gut zu realisieren.
Aber - auch das muss ich deutlich sagen; die Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss wissen das nicht alles, was wünschenswert ist, kann kurzfristig finanziert werden. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir
deutlich machen, dass die Stimmung in der Truppe, die
innere Lage und die Motivation der Soldaten nicht nachhaltig darunter leiden. Nach meinen Beobachtungen und
nach den Beobachtungen des Ministers ist die Motivation in der Truppe, mit den Herausforderungen fertigzuwerden, ungeheuer hoch. Das stellen wir insbesondere
bei den Soldatinnen und Soldaten, aber auch bei den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fest, die in den
Einsatzgebieten arbeiten. Ich finde, die Leistungen, die
unter den schwierigen Umständen im Einsatz, aber natürlich auch die Leistungen, die zu Hause erbracht werden, sind beeindruckend. Das verdient unser aller Anerkennung und Würdigung.
({0})
Diese Feststellung kann letztendlich auch nicht dadurch getrübt werden, dass im ersten Jahr nach dem
Aussetzen der verpflichtenden Einberufung zum Grundwehrdienst, also nach dem Aussetzen der Wehrpflicht,
die Abbrecherquote bei den freiwillig Wehrdienstleistenden hoch war. Wir können damit nicht zufrieden sein.
Die Gründe dafür liegen jedoch durchaus auch im privaten Bereich derer, die sich bei uns beworben haben und
die angenommen worden sind. Es liegt auch daran - das
haben wir durch Befragungen festgestellt -, dass man
vielfach Bewerbungen geschrieben hatte und man sich
nach Antritt des Dienstes bei der Bundeswehr auf einmal
für etwas anderes entschieden hat.
Ein ganz wichtiges Thema, das der Wehrbeauftragte
in seinem Bericht angesprochen hat, ist die Kinderbetreuung. Natürlich ist es nicht vorrangige Aufgabe der
Bundeswehr oder des Verteidigungsministeriums, flächendeckend Kinderbetreuungsplätze für die Bundeswehr einzurichten, aber da, wo ein besonderer bundeswehrspezifischer Bedarf besteht, wo unser ureigenes
Interesse deutlich wird, dass die Menschen, die bei uns
arbeiten, gute Kinderbetreuungsmöglichkeiten bekommen, sind wir dabei, in Zusammenarbeit mit den Kommunen und übrigens auch mit unserem Finanzminister
Kinderbetreuungsplätze einzurichten, natürlich unter
Einhaltung der vielfältigen rechtlichen Vorgaben, die für
die Einrichtung einer Kinderbetreuung notwendig sind.
Wer mit unseren Behörden und dem Finanzminister jemals gekämpft hat, der weiß, dass die Umsetzung mitunter sehr zeitaufwendig sein kann. Aber der Aufbau dieser
Kinderbetreuungsplätze schreitet kontinuierlich voran.
Wir werden im April dieses Jahres den ersten Spatenstich für einen Betriebskindergarten der BundeswehrUni in München machen. Die Bundeswehrkrankenhäuser Koblenz und Ulm werden dieses Jahr folgen. Wir haben in enger Kooperation mit den Kommunen an verschiedenen Standorten Belegrechte zur Abdeckung des
besonderen Bedarfs der Bundeswehr erworben. Ich erinnere an die Standorte Westerstede und Seedorf. Aber
auch in Rostock sind wir so weit, dass wir Tagespflegemaßnahmen für die Soldatinnen und Soldaten in Angriff
genommen haben bzw. bereits umgesetzt haben.
Ich will auch daran erinnern, dass wir die Familien
unterstützen, die durch den Dienst bei der Bundeswehr
häufig besondere Belastungen haben. Wir erstatten Kinderbetreuungskosten, zum Beispiel bei Maßnahmen der
Aus-, Fort- und Weiterbildung. Ich denke, auch das Kinderbetreuungsportal, das wir ins Werk gesetzt haben, ist
eine ganz wichtige Maßnahme.
Lassen Sie mich erwähnen, dass wir uns in den letzten
zwei Jahren sehr intensiv engagiert haben, um die Betreuung der an der Seele verwundeten Soldatinnen und
Soldaten intensiver in den Fokus unserer Bemühungen
zu stellen. Wir werden zukünftig bereits vor dem Einsatz
den Grad der psychischen Fitness von Soldatinnen und
Soldaten testen, damit wir genau die Situation vermeiden, die Sie, Herr Wehrbeauftragter, uns hier ein paarmal
sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben haben. Wir
wollen verhindern, dass wir psychisch vorbelastete Soldaten in den Einsatz schicken und sich deren Probleme
durch den Einsatz verstärken.
Lassen Sie mich zum Schluss Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen im
Verteidigungsausschuss, dafür danken, dass Sie unsere
Arbeit so konstruktiv begleitet haben. Herr Wehrbeauftragter, ich bedanke mich auch dafür, dass Sie in Ihrem
Bericht, der eigentlich ein Mängelbericht ist, durchaus
auch einige positive Ansätze bei uns erkannt haben. Das
ist eine neue Nachricht. Dafür ein herzliches Dankeschön!
({1})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Hellmich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue
mich, dass ich heute zum zweiten Mal zum Bericht des
Wehrbeauftragten sprechen darf. Eingangs muss ich sagen: Ich habe von Ihnen, Herr Kossendey, vorhin mit
großer Verwunderung gehört, die Zufriedenheit in der
Truppe sei sehr groß. Bei meinen Besuchen vieler Standorte im Laufe der letzten Wochen und Monate stellte ich
genau dies nicht fest. Ich stellte fest, dass es in der
Truppe eher Unzufriedenheiten und viele Kritikpunkte
als Zufriedenheit gibt. Von daher, glaube ich, müssen Sie
Ihren Eindruck von der Situation etwas korrigieren.
Für die klaren Worte und die Deutlichkeit, mit der
Sie, Herr Königshaus, im 53. Jahresbericht auf Unzulänglichkeiten eingehen und bestehende Probleme benennen, ist Ihnen der Dank der SPD-Bundestagsfraktion
sicher. Dies ist ein guter Beleg dafür, dass die Bundeswehr und ihre Angehörigen als Parlamentsarmee gut
aufgehoben sind. Das soll auch dann so bleiben, wenn es
um andere Fragen geht.
Mit Nachdruck möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass es ein Unding ist, jetzt noch über einen Bericht
von 2011 zu sprechen. Demzufolge bitte ich um Nachsicht, wenn ich dies zum Anlass nehme, an dieser Stelle
aktuelle Punkte anzusprechen.
Sehr geehrter Herr Königshaus, liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber muss enorm verbessert werden, will sie angesichts der Konkurrenz um Nachwuchs und qualifizierte
Kräfte in den nächsten Jahren bestehen. Der vorliegende
Jahresbericht ist ein Auftrag, Dinge nicht mehr auf die
lange Bank zu schieben, sondern Abhilfe zu schaffen.
Die Frist, über die umgesetzten Maßnahmen zu berichten, läuft laut Beschluss am 23. Januar 2013 ab.
Dieser Bericht ist ein Auftrag, für eine verbesserte
Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu sorgen. Was
viele moderne Unternehmen vormachen, ist auch bei der
Bundeswehr möglich. Ich denke da beispielsweise - einige Punkte sind angesprochen worden - an den Ausbau
der Betreuungsplätze für Kinder und vor allem an die
bessere Anpassung des Kinderbetreuungsangebotes an
die Dienstzeiten; dieses Problem kennen wir auch aus
der kommunalpolitischen Diskussion, und zwar an jedem Ort, an dem es um die Kinderbetreuung geht. Dieser
Frage muss sich auch die Bundeswehr intensiver stellen.
Der Frauenanteil in der Bundeswehr steigt stetig; das
ist gut so, und das wollen wir auch. Aber diese Entwicklung führt zu einem Problem - das kommt auch im Bericht zum Ausdruck -: Es gibt kaum Dienstposten als Ersatz für die Frauen, die aufgrund ihrer Schwangerschaft
vorübergehend aus dem Dienst ausscheiden. Eine Folge
ist leider, dass schwangere Frauen oftmals von Diskriminierung am jeweiligen Standort berichten; auch dies ist
im Bericht angesprochen worden. Der Grund dafür ist
ganz klar: Trotz eines solch freudigen Ereignisses wie
einer anstehenden Geburt ist niemand glücklich darüber
- das kennen wir auch aus anderen Bereichen -, wenn er
oder sie für einen anderen die Arbeit mit erledigen muss
und nicht für Ersatz gesorgt wird. Hier müssen wir ansetzen und zu einer Lösung kommen. Ein Stellenpool,
der schwangerschaftsbedingtes Ausscheiden personell
abfedert, könnte hier Abhilfe schaffen.
Wir von der SPD wollen, dass an dieser Stelle umgehend Prozesse eingeleitet werden, die die Bundeswehr
zu einem Arbeitgeber machen, der in puncto Attraktivität mit modernen Unternehmen mithalten kann. Das ist
umso notwendiger, wenn wir auch in Zukunft eine ausreichende Zahl von freiwillig Wehrdienstleistenden und
Zeitsoldaten gewinnen wollen. Familienfreundlichkeit
ist ein Wert für sich und darf nicht als Belastung des Unternehmens gesehen werden. Dies gilt gleichermaßen für
die Bundeswehr.
({0})
Zu einem anderen Thema. Die Zahlen, die in den letzten Tagen durch die öffentliche Berichterstattung gingen,
belegen, dass für die Personalentwicklung der Bundeswehr klare, zukunftsorientierte Konzepte gebraucht werden. Die Abbrecherquote der freiwillig Wehrdienstleistenden liegt bei 30,4 Prozent, Tendenz steigend. Dass
dies, wie es uns der Bundesverteidigungsminister leider
weismachen will, nur an falschen Vorstellungen der jungen Leute liegen soll, halte ich für eine gewagte These.
Die Kommandeure vor Ort - das merkt man auch bei
Besuchen der einzelnen Standorte - berichten etwas völlig anderes. Wenn dem so wäre, dass die Abbrecherquote
einfach nur an falschen Erwartungshaltungen liegt,
schlage ich vor, die Werbekampagnen für die Bundeswehr realistischer zu gestalten; dann wäre dieses Problem geregelt.
({1})
Dem ist aber nicht so. Auch hier gilt: Wenn die Werbung
Dinge verspricht, die das Produkt nicht halten kann, gibt
es Reklamationen. Sagen Sie den jungen Menschen doch
einfach vorher, was sie bei der Bundeswehr erwartet,
und beugen Sie falschen Vorstellungen vor.
Nehmen Sie bitte auch die Lebensrealität junger Menschen in den Blick! Wenn Sie dann zum Beispiel noch
die Unterbringung verbessern und eine WLAN-Nutzung
ermöglichen, statt die Truppenbetreuung abzubauen,
werden wir uns sicherlich bald über eine niedrigere Abbrecherquote freuen können. Wenn Sie all dieses nicht
tun, werden die Lebensrealität junger Menschen und die
Bundeswehr schlichtweg nicht zueinander passen. Da
entsteht ein Delta, das wir mit den bis jetzt genutzten Instrumenten im Zweifelsfall nicht schließen können.
Das gesamte Konzept der freiwillig Wehrdienstleistenden muss auf den Prüfstand, inklusive der Ausbildung und der Möglichkeiten der Verwendung. Machen
Sie - das gilt für die gesamte Bundeswehrreform - eine
Reform für die Soldatinnen und Soldaten! Beteiligung
heißt hier das Zauberwort.
Meine Damen und Herren, der Wehrbeauftragte des
Deutschen Bundestages ist Anwalt der Soldatinnen und
Soldaten und zugleich ein Hilfsorgan des Parlamentes
bei der Kontrolle der Streitkräfte. Jede Soldatin und jeder Soldat hat das Recht, sich unmittelbar an den Wehrbeauftragten zu wenden; das schafft Sicherheit und Vertrauen. Sicherheit im Inland, aber vor allem im Einsatz
sollen auch die Vertrauenspersonen vermitteln. Vertrauenspersonen stellen für die Soldatinnen und Soldaten einen ersten Ansprechpartner dar, der ihnen bei Dienstproblemen gegebenenfalls weiterhelfen kann. Aus diesem
Grunde weise ich auf eine Petition hin, mit der sich ein
Personalrat des Landeskommandos Niedersachen an den
Deutschen Bundestag wendet und ein Zeugnisverweigerungsrecht für Vertrauenspersonen fordert. Der Hintergrund für diese Petition ist, dass nach einem Urteil des
Bundesverwaltungsgerichtes vom Juni 2012 Vertrauenspersonen von Soldaten kein solches Zeugnisverweigerungsrecht haben. Dies bedeutet: Die jeweilige Vertrauensperson kann in einem Disziplinarverfahren die
Zeugenaussage nicht verweigern, obwohl die betroffenen Soldatinnen und Soldaten davon ausgegangen sind,
mit ihrer Vertrauensperson unter dem Siegel der Verschwiegenheit sprechen zu können. Diese Petition kann
noch bis Ende Januar gezeichnet werden. Machen Sie
mit! Der BundeswehrVerband unterstützt diese Petition,
und dem schließe ich mich an.
({2})
Meine Damen und Herren, die Debatte über bereits
stattfindende und zukünftige Auslandseinsätze unserer
Bundeswehr ist momentan wieder voll entbrannt. Bei allen Entscheidungen müssen wir zuallererst an unsere
Soldatinnen und Soldaten denken. Sie unterliegen besonderen Belastungen und speziellen Herausforderungen. An dieser Stelle schließe ich mich dem Dank an
diejenigen an, die diese Herausforderungen in besonderer Weise tragen. Aber auch für alle anderen Soldatinnen
und Soldaten gilt das Bekenntnis zur umfassenden Betreuung vor, während und nach dem Einsatz. Aus diesem
Grunde sind das Amt des Beauftragten des Verteidigungsministeriums für einsatzbedingte posttraumatische
Belastungsstörungen, PTBS, sowie die Ansprechstelle
für Hinterbliebene zwei notwendige Einrichtungen. Ich
möchte dies zum Anlass nehmen, heute hier an dieser
Stelle dem ehemaligen PTBS-Beauftragten, Brigadegeneral Christof Munzlinger, auch im Namen meiner Fraktion für seine hervorragende Arbeit ganz herzlich zu
danken und ihm in seiner neuen Verwendung viel Erfolg
wünschen.
({3})
Daran anschließend darf ich Brigadegeneral Klaus von
Heimendahl beglückwünschen und ihm für sein neues
Amt als PTBS-Beauftragter des Verteidigungsministeriums alles Gute wünschen. Unserer Unterstützung für
seine Arbeit kann er sich sicher sein. Sie wird sehr intensiv sein, und sie wird auch dringend nötig sein.
Die in Angriff genommenen Verbesserungen bei der
Einsatzvorbereitung, zum Beispiel durch einen ganzheitlichen Gesundheitscheck oder durch eine individuelle
Betreuung und Begleitung nach dem Einsatz, weisen den
richtigen Weg. Wir haben dieses lange eingefordert und
lange darüber gesprochen. Ich denke, da sind gute
Schritte eingeleitet worden.
Als Vorletztes möchte ich die Debatte zum Rechtsextremismus in der Bundeswehr ansprechen. Rechtsextremismus ist in der Bundeswehr wie auch in allen anderen Teilbereichen der Gesellschaft sehr wohl ein
Problem. In sämtlichen Fällen, in denen der Verdacht eines Vorkommnisses mit rassistischem, antisemitischem
oder ähnlichem Hintergrund entsteht, sind Konsequenzen notwendig - direkt und unmittelbar. Mit allen Instrumenten, die dem Staat zur Verfügung stehen, muss gegen
Rechtsextremismus in der Bundeswehr vorgegangen
werden.
Es ist hier allerdings nicht hilfreich, wenn einerseits
gesagt wird, es gebe kein größeres Problem als woanders
auch, während andererseits die Presse über steigende
Fallzahlen berichtet. Wir dürfen nicht den Eindruck zulassen, als würde dieses Problem an irgendeiner Stelle
heruntergespielt, weil es nicht in unser Bild passt.
Für das Jahr 2012 wurden bis Mitte Dezember
66 Vorfälle mit Verdacht auf einen rechtsextremen Hintergrund festgestellt und geprüft. 21 der Verdachtsfälle
wurden bestätigt, die anderen werden noch geprüft. Ich
glaube, vorbeugend hilft es, wenn die Bekämpfung des
Rechtsextremismus ein wichtiger Ausbildungs- und Diskussionspunkt ist und bleibt. An die Staatsbürger in Uniform sind hier nämlich ganz besondere Anforderungen
zu stellen. Deshalb ist es an dieser Stelle auch wichtig,
das Thema öffentlich zu benennen und nichts zu verschweigen.
({4})
Meine Damen und Herren, abschließend und im
Nachgang zu meiner letzten Rede möchte ich Sie, sehr
geehrter Herr Königshaus, an Ihre Zusage erinnern. All
die Soldaten, die vor dem 1. Dezember 2002 in den
IFOR-, SFOR- und KFOR-Einsätzen geschädigt wurden, erhalten keine Entschädigungszahlung. Darüber
habe ich hier gesprochen. Dies betrifft eine Gruppe von
circa 40 Soldaten. Sie sicherten mir zu, sich um diese
Ungerechtigkeit zu kümmern. Ich vertraue Ihnen, dass
Sie noch in dieser Legislaturperiode eine Initiative starten, um diese nicht nachvollziehbare Ungleichbehandlung zu beenden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
({5})
Der Kollege Christoph Schnurr hat für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der 53. Jahresbericht des Wehrbeauftragten beschäftigt
sich mit mehreren Themenfeldern: unter anderem mit
dem Führungsverhalten von Vorgesetzten, den Auslandseinsätzen, der einsatzvorbereitenden Ausbildung,
der persönlichen Ausstattung und Ausrüstung und der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Schwerpunkt
des 53. Jahresberichts lag auf der Neuausrichtung der
Bundeswehr.
Ich bin gespannt, welche Themen und Schwerpunkte
den nächsten Jahresbericht prägen werden. Wir werden
den Jahresbericht 2012 zum Glück ja bald in den Händen
halten und uns im Ausschuss, aber auch im Deutschen
Bundestag dann hoffentlich zeitnah mit diesem befassen;
der Kollege Hellmich hat das bereits angesprochen.
Ich glaube, es ist unglücklich, dass wir die Debatte
über den Jahresbericht 2011 Anfang des Jahres 2013
führen. Daran sind wir alle nicht unbeteiligt. In Zukunft
müssen wir schauen, dass wir sowohl den Jahresbericht
des Wehrbeauftragten als auch die Kommentierung des
Ministeriums, wenn sie vorliegen, zeitnäher im Deutschen Bundestag debattieren.
({0})
Lieber Herr Wehrbeauftragter, Herr Königshaus, ich
möchte mich bei Ihnen und Ihrem Haus nicht nur für den
Bericht, sondern auch für Ihre Arbeit recht herzlich bedanken.
Wenn wir uns mit dem Themenkomplex „Ausrüstung,
Ausstattung und Ausbildung“ beschäftigen, dann sehen
wir, wie oft der Wehrbeauftragte hier den Finger in die
offene Wunde gelegt hat. Die Ausrüstung wurde kontinuierlich verbessert, und die Fahrzeuglage im Einsatz
und für die so wichtige Ausbildung in Deutschland hat
sich wesentlich entspannt. Der UH Tiger ist bereits in
Afghanistan; der NH90 folgt bald. Somit können wir unseren Partnern und uns selbst eine eigenständige und geschützte MedEvac-Komponente anbieten. Das ist äußerst begrüßenswert.
Die Ausrüstung und die Ausbildung werden ganz sicher auch Themenfelder der nächsten Jahresberichte
werden. Es wird immer Probleme geben, und es gab
auch in der Vergangenheit immer Herausforderungen.
Das liegt in der Natur der Sache. Insgesamt - das ist
ganz wichtig - sind unsere Soldatinnen und Soldaten für
die schwierigen Aufgaben in den Auslandseinsätzen
aber gut ausgebildet und gut ausgerüstet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Berichtszeitraum dieses 53. Jahresberichtes wurde auch das Stationierungskonzept der Bundeswehr beschlossen. Es ist
ganz klar, dass hier sehr viele Unsicherheiten herrühren
und dass sich viele Soldaten Gedanken über ihre berufliche Zukunft gemacht haben. Diese Verunsicherungen
sind verständlich, und die Sorgen der Soldaten müssen
wir auch hier im Bundestag sehr ernst nehmen.
Herr Staatssekretär, Sie hatten das angesprochen und
auch angekündigt: Es ist gut, dass das Ministerium inChristoph Schnurr
nerhalb der Truppe vermehrt kommuniziert und das
Konzept auf allen Ebenen vorstellt; denn das Entscheidende auch bei der Stationierungsentscheidung ist, dass
wir die Soldatinnen und Soldaten in diesem Reformprozess mitnehmen und die Reform nicht gegen die Interessen der Soldaten gestalten.
Ebenfalls im Berichtszeitraum wurde das „Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes
in der Bundeswehr“ eingebracht. Es ist doch ein gutes
Zeichen, dass bereits ein Drittel der Maßnahmen umgesetzt oder eben auch auf den Weg gebracht wurde.
({1})
Die Herausforderungen bleiben jedoch weiterhin vielfältig. Wir sind angehalten, die Vereinbarkeit von Dienst
und Familie weiter zu verbessern. Die bereits eingerichteten Eltern-Kind-Zimmer sind ein Anfang. Die Bundeswehr muss aber darüber hinaus für eine vernünftige Kinderbetreuung sorgen. Deshalb begrüße ich es, dass in
diesem Jahr weitere Betriebskindergärten gebaut und
Belegungsrechte bei den Kommunen erworben werden.
({2})
Meine Damen und Herren, der Jahresbericht beschäftigt sich auch mit dem freiwilligen Wehrdienst. Die Zahlen sprechen für sich: Zum Jahresbeginn haben rund
3 500 junge Menschen ihren Dienst bei der Bundeswehr
begonnen. Im letzten Jahr konnte der Bedarf an freiwillig Wehrdienstleistenden und an Zeitsoldaten gedeckt
werden. Das zeigt doch eben, dass der Arbeitgeber Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen
wird und dass die Bundeswehr in der Lage ist, den bestehenden Wettbewerb um Nachwuchskräfte mit der freien
Wirtschaft und mit anderen Behörden aufzunehmen.
Allerdings finden wir hier eine Quote vor, an die sich
ein Spitzenarbeitgeber nicht gewöhnen darf. Das ist die
30-prozentige Abbrecherquote der freiwillig Wehrdienstleistenden. Diese 30 Prozent sind meiner Ansicht
nach per se noch keine Tragödie. In Berlin liegt beispielsweise die Quote der Abbrecher bei Lehrberufen
auch bei circa 30 Prozent. Dennoch sollten wir die Beweggründe dieser jungen Menschen aufmerksam betrachten, warum sie ihren Dienst bei der Bundeswehr
frühzeitig quittieren, um dann auch entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.
Auch hier hat der Kollege Hellmich vorgeschlagen,
die Werbekampagnen zu überarbeiten. Ich glaube, das
Problem liegt nicht an Werbekampagnen, die ja immer
auf zugespitzte Aussagen konzentriert sind; denn diejenigen, die sich freiwillig zum Dienst bei der Bundeswehr
melden, haben vorher entsprechende Beratungsgespräche, können sich intensiv mit der Bundeswehr, mit dem
Arbeitgeber, auseinandersetzen. Ich lade Sie von der Sozialdemokratie und insbesondere Sie, Herr Abgeordneter
Hellmich, herzlich ein: Setzen wir uns gemeinsam dafür
ein, dass wir Wehrdienstberatern endlich wieder Zugang
zu öffentlichen Schulen gewähren,
({3})
damit sie auch hier wieder nicht nur für die Bundeswehr
werben können, sondern mit den jungen Menschen auch
kritisch diskutieren können wie beispielsweise die Jugendoffiziere.
Da bin ich schon bei meinem letzten Stichwort. Ich
glaube, wir sind gut beraten, wenn wir in die Diskussion
auch wieder die Frage der gesellschaftlichen Anerkennung unserer Soldatinnen und Soldaten aufnehmen.
Dazu gehört eben, dass Jugendoffiziere an Schulen nicht
diskriminiert werden. Es gehört aber auch dazu, dass wir
dafür Sorge tragen, dass Gelöbnisse auf öffentlichen
Marktplätzen stattfinden und nicht hinter verschlossenen
Kasernentoren.
({4})
Und es gehört vor allem dazu, dass wir am 20. Juli das
öffentliche Gelöbnis wieder hier auf dem Platz vor dem
Reichstagsgebäude stattfinden lassen, weil damit auch
deutlich wird, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist.
In diesem Sinne bedanke ich mich vielmals bei Ihnen
allen und bedanke mich ganz besonders bei den Soldatinnen und Soldaten, bei den zivilen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Bundeswehr, bei den Reservisten,
aber auch bei den Familien für ihre Arbeit.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Harald Koch hat nun für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Königshaus! Als wir im
September des letzten Jahres zuletzt über den Bericht
des Wehrbeauftragten debattierten, haben Sie, Herr
Königshaus, gesagt, es gebe zu viele Baustellen und zu
wenige Lösungen. Dem kann ich ohne Wenn und Aber
zustimmen.
Ich möchte dem aber noch etwas hinzufügen: Es gibt
nicht nur zu viele Baustellen, sondern diese sind auch
schon seit Jahren bekannt und immer dieselben. Und es
gibt auch nicht nur zu wenige Lösungen, sondern auch
zu wenig Lösungswillen vonseiten des Bundesministeriums der Verteidigung und der Bundesregierung.
Wenn ich mir die Stellungnahme des BMVg zum Bericht anschaue, dann kann ich darin nicht wirklich feststellen, dass die äußerst berechtigten Anmerkungen des
Wehrbeauftragten ernst genommen und angegangen
werden. Da wird vielmehr von „bedauerlichen Einzelfällen“ oder „Sonderfällen“ gesprochen. Da werden die
Einwände damit abgetan, dass es dafür „keine Anhaltspunkte“ gebe, oder man flüchtet sich in dehnbare Formulierungen wie, man sei „fortwährend bemüht“ oder
Konsequenzen seien nur „schwer möglich“.
Ich frage mich doch ernsthaft, wie sich an den jährlich
gleichen Problemen und Missständen oder der Unzufriedenheit der Soldatinnen und Soldaten irgendwann ein26700
mal etwas deutlich ändern soll. Ich meine, dass die Kritik der Linken nicht interessiert, kennen wir schon. Aber
nehmen Sie doch bitte wenigstens den Wehrbeauftragten
und seine Einschätzung der Lage ernst. Nehmen Sie vor
allem die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten endlich ernst, und ändern Sie etwas, anstatt alle Probleme
immer weiter nur abzutun und zu ignorieren.
({0})
Ich möchte dabei noch einmal auf zwei Probleme
gesondert eingehen. Zum einen ist dies die Situation
derjenigen Soldatinnen und Soldaten, die schwer traumatisiert bzw. mit einer posttraumatischen Belastungsstörung aus einem Auslandseinsatz zurückkommen, und
zum anderen ist dies die Situation der sogenannten Radargeschädigten.
Nach wie vor steigen Jahr für Jahr die Fallzahlen von
PTBS-Erkrankungen. Nach wie vor wird damit abgewiegelt, dass die Erkrankungsrate der deutschen Soldatinnen und Soldaten niedriger sei als die anderer Armeen.
Das ist doch aber kein Grund, die Betroffenen im Regen
stehen zu lassen.
({1})
Natürlich wurde in den letzten Jahren geforscht und auch
einiges getan, um die Betroffenen besser abzusichern.
Aber dennoch sind die Defizite enorm. Bei der Einbeziehung der Familien in die Therapie mangelt es noch an allen Ecken und Enden. Vor allem die Betreuung bereits
aus der Bundeswehr ausgeschiedener Soldatinnen und
Soldaten lässt extrem zu wünschen übrig. Hier wird nach
wie vor nach dem Prinzip „Aus den Augen, aus dem
Sinn“ gehandelt, und die Betroffenen sind weitestgehend
auf sich selbst gestellt.
Was ich aber besonders schlimm finde, ist - wir können uns alle daran erinnern, wie das im Ausschuss gelaufen ist - die kürzlich vonseiten der Bundesregierung aufgestellte Behauptung, dass die meisten der Soldatinnen
und Soldaten, welche traumatisiert aus einem Auslandseinsatz zurückkamen, schon im Vorfeld eine manifeste
psychische Störung gehabt hätten. Da frage ich mich
doch ernsthaft, wie es sein kann, dass das bei einer solch
großen Anzahl von Fällen nicht aufgefallen ist, wenn
doch alle Soldatinnen und Soldaten vor einem Einsatz
angeblich mehrfach psychologisch begutachtet werden.
Für mich ist dies eine plumpe Ausrede und ein Schlag
ins Gesicht eines jeden Betroffenen. So darf man mit
Menschen nicht umgehen.
({2})
Kommen wir zu den Radargeschädigten. Auch hier ist
mit der Gründung der Härtefallstiftung längst nicht alles
gut, auch wenn das gern so verkauft wird. Zum einen ist
das bereitgestellte Kapital von 7 Millionen Euro viel zu
gering, um auch nur einen Teil der Geschädigten wirklich und angemessen zu entschädigen. Zum anderen
wurde hier ein Konstrukt geschaffen, mit dem die Geschädigten billig und nicht rechtsverbindlich abgespeist
werden können.
Zudem stellt sich noch immer die Frage, ob bei der
Berechnung der Strahlendosis alles mit rechten Dingen
zugegangen ist, da es hier nach wie vor zu viele Ungereimtheiten gibt. Auch hier muss dringend nachgebessert
werden. Es kann nicht sein, dass ehemalige Soldaten, die
unwissentlich durch die Ausübung ihrer Arbeit schwer
erkrankt sind, einfach alleingelassen werden bzw. das
Problem einfach ausgesessen wird.
Abschließend betrachtet hat der Wehrbeauftragte
wohl auch in den nächsten Jahren noch eine Menge Arbeit vor sich. Ich danke ihm und seinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern noch einmal für den Bericht. Gestatten
Sie mir die kleine Bemerkung: Wir sprechen hier von
Reformen in der Verwaltung und von einer Frauenquote.
Ich wünsche mir, die eine oder andere Frau in Ihrer
Riege sitzen zu sehen.
({3})
Es gibt viel zu tun für die Bundesregierung, dass die aufgezeigten Mängel zukünftig ernsthaft angenommen, angegangen und beseitigt werden.
Danke schön.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Katja Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal möchte ich Ihnen, Herr
Wehrbeauftragter, genau wie meine Vorredner für den
von Ihnen vorgelegten Bericht für das Jahr 2011 danken.
Auch dass der Bericht von Ihnen bereits im Januar 2012
vorgelegt wurde, hat neue Maßstäbe gesetzt.
({0})
Leider wird er trotzdem jetzt erst, 2013, beraten. In
Zukunft sollten wir dafür sorgen, dass der Bericht eher
auf die Tagesordnung kommt.
({1})
Ich möchte mich aber auch bei den vielen Soldatinnen
und Soldaten bedanken, die sich mit ihren Anliegen an
den Wehrbeauftragten gewandt haben. Gemessen an der
Gesamtstärke der Streitkräfte steigt die Zahl der Eingaben seit Jahren prozentual leicht. Das ist aber gut so;
denn wir als Bundestag wollen wissen, wie es um unsere
Streitkräfte bestellt ist. Wir brauchen mutige Soldatinnen
und Soldaten, die uns auf bestehende Defizite hinweisen.
So stelle ich mir im Übrigen einen Staatsbürger in
Uniform vor.
({2})
Nun möchte ich die knappe Redezeit nutzen, vier
Themen anzusprechen. Sorgen bereitet uns unter anderem die hohe Dunkelziffer bei sexueller Belästigung. Zu
häufig werden solche Vorfälle weder dem Vorgesetzten
noch dem Wehrbeauftragten gemeldet. Die Betroffenen
wollen oft nicht als zimperlich gelten. Sexuelle Belästigung ist übrigens nicht nur ein Problem von Frauen;
auch Männer leiden darunter, auch in den Streitkräften.
Anstatt das Thema aber offensiv anzugehen, streicht
der ehemalige Inspekteur der Streitkräftebasis Kühn im
Fragenkatalog einer Studie zu diesem Thema unliebsame Passagen heraus. Die offizielle Begründung war,
dass das Thema sexuelle Belästigung überrepräsentiert
sei. So geht das nicht.
({3})
Wir als Parlament haben ein ausgeprägtes Interesse daran, zu wissen, wie es um die Streitkräfte bestellt ist. Wir
wollen unabhängige und keine gefälligen Studien vorgelegt bekommen.
Beim Thema „Frauen in den Streitkräften“ kann ich
Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, Kritik nicht gänzlich ersparen. In Ihrem Bericht findet sich dazu gerade einmal
eine einzige Seite, und das, obwohl die Bundeswehr ihr
selbst gestecktes und nicht gerade ambitioniertes Ziel
von 15 Prozent Frauen seit Jahren weit verfehlt. Der Anteil liegt momentan bei gerade einmal 6 bis 7 Prozent,
und das bei fast hälftigem Anteil im Bereich der Sanität.
Selbst dort ist die Generalität weiterhin eine reine Männerdomäne. Das ist zu wenig.
({4})
Das muss man klar kritisieren. Dazu würde ich in Ihrem
nächsten Bericht gerne mehr lesen, und vielleicht bei der
Gelegenheit auch etwas über die ambitionierten Ziele im
Büro des Wehrbeauftragten.
({5})
Frauen sind seit neuestem auch in der KSK ausdrücklich erwünscht. Erstmals haben neun Frauen die sechsmonatige Vorausbildung bei der KSK durchlaufen und
erfolgreich abgeschlossen. Wer die entsprechenden
Fernsehdokumentationen gesehen hat, weiß, dass diese
Ausbildung kein Erholungsurlaub ist. Es kann doch
nicht sein, dass man einer Absolventin erst im Nachhinein erklärt, man habe leider übersehen, dass man sie in
ihrer bisherigen Verwendung nicht entbehren könne. Die
Tatsache, dass in der Bundeswehr vier verschiedene
Streitkräfte miteinander um die besten Kräfte konkurrieren, darf nicht zulasten der Soldatinnen und Soldaten
gehen. Die Verantwortung als Arbeitgeberin trifft die
Bundeswehr im Ganzen.
Das Thema „Frauen in der Bundeswehr“ wird übrigens gerne verwechselt mit dem Thema „Vereinbarkeit
von Dienst und Familie“. In Ihrem Bericht haben Sie
diesen Fehler nicht gemacht. Das will ich positiv hervorheben. Sie benennen die Mängel bei der Vereinbarkeit
deutlich und schreiben - Zitat -:
Umso bedauerlicher ist es, dass die Bundeswehr im
Berichtsjahr über die Einrichtung von Eltern-KindZimmern hinaus keine weiteren wesentlichen Fortschritte auf diesem Gebiet vorweisen kann.
Das BMVg gelobte in seiner Stellungnahme dann auch
Besserung. Es müssten nur erst einmal die Reformen abgeschlossen sein und die neuen Strukturen richtig wirken. Dann würde man auch vermehrt Betriebskindergärten einrichten.
Nun wissen wir aber aus Erfahrung, dass eine
Bundeswehrreform niemals wirklich abgeschlossen ist.
Der Bedarf ist aber nicht erst seit heute da, und die Bundeswehr muss sich als Arbeitgeberin auf dem Markt
behaupten.
Das vierte und letzte Thema, das ich heute ansprechen
will, kommt mir in Ihrem Bericht ein bisschen zu harmlos daher: das Problem des Rechtsextremismus. Die
Morde des rechtsextremen NSU haben uns alle schockiert. Sie selbst berichten, dass Sie Verbindungen dieser
Szene zur Bundeswehr geprüft und verneint haben. Was
Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten, weil
das Verteidigungsministerium es Ihnen nicht gesagt
hatte, war die Existenz der Akte Uwe Mundlos. Aus
dieser Akte ging hervor, dass Mundlos in seiner Bundeswehrzeit wegen rechtsextremer Äußerungen aufgefallen
und deshalb vom MAD vernommen worden war. Trotzdem wurde er zweimal befördert - entgegen den Dienstvorschriften.
Auch wenn dies alles lange her ist, kann man daraus
immerhin noch zweierlei schließen: zum einen die Überflüssigkeit des MAD.
({6})
Zum anderen hat das BMVg noch im Juni in der Stellungnahme zum Bericht des Wehrbeauftragten so getan,
als ob es zu dem Thema nichts zu sagen gäbe, obwohl
die Akte dort inzwischen aufgefallen sein dürfte.
Damit wurde die Chance verpasst, zu beweisen, dass
man das Thema ernst nimmt und unverzüglich alle Erkenntnisse auf den Tisch zu legen bereit ist. Nicht nur
wir Parlamentarier, auch die Bevölkerung muss sich
darauf verlassen können, dass das Thema „Rechtsextremismus in den Streitkräften“ nicht kleingeredet wird.
({7})
Der Wehrbeauftragte verspricht uns, auch künftig darauf
zu achten, und das begrüßen wir. Wir sind schon auf den
nächsten Bericht gespannt, den er sicherlich so gut wie
fertig hat.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Anita Schäfer hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Das
gerade abgelaufene Jahr 2012 war ein gutes Jahr für die
Bundeswehr. Trotz fortlaufender gefährlicher Einsätze
und trotz der Umstellungen, die die laufende Strukturreform mit sich bringt, ist mir bei diesem Urteil eines besonders wichtig: Erstmals seit längerer Zeit hatten wir in
diesem Jahr keine gefallenen deutschen Soldaten in den
Einsatzgebieten der Bundeswehr zu beklagen. Das liegt
sicherlich daran, dass die ISAF-Truppen in Afghanistan
bei der Operationsführung zunehmend gegenüber den
einheimischen Sicherheitskräften in den Hintergrund
treten.
Aber hier zeigt sich auch die Verbesserung bei Schutz
und Ausrüstung der Soldaten, die der Wehrbeauftragte
immer wieder angemahnt hat, die der Bundestag in weitgehender Einmütigkeit verfolgt hat und die die Bundesregierung über Jahre hinweg umgesetzt hat. Ausrüstung
ist zwar nicht alles, und vollständigen Schutz wird es nie
geben. Wir haben gesehen, dass selbst schwer gepanzerte Fahrzeuge zerstört werden können. Aber die Situation für die Truppe hat sich im Laufe unseres Engagements in Afghanistan insgesamt erheblich verbessert,
nicht nur im Einsatz selbst, sondern auch bei der Bewältigung der Einsatzfolgen einschließlich physischer und
psychischer Verwundungen. Auch dabei wird es nie
einen idealen Zustand geben. Wir werden weiter aufmerksam bleiben, wo es noch Verbesserungsbedarf gibt.
Ich möchte an dieser Stelle einmal allen hier im Haus
und außerhalb danken, die die bisherigen Verbesserungen bewirkt haben, und besonders die gute Zusammenarbeit des Wehrbeauftragten mit dem Parlament und der
Regierung würdigen.
Dennoch ist jeder bisherige und künftige Verwundete
und Gefallene einer zu viel. Mit der geplanten Übergabe
der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung bis 2014 zeichnet sich zwar eine weiter abnehmende Intensität der ISAF-Mission ab. Wir werden die
afghanische Regierung auch danach in geringerem Umfang weiterhin unterstützen, sofern die völkerrechtlichen
Grundlagen dafür geschaffen werden. Unsere Rolle in
Afghanistan wird also kleiner. Doch das heißt nicht, dass
wir in unseren Bemühungen um Verbesserungen für unsere Soldaten nachlassen können; denn neue Einsätze
werden kommen.
Gegenwärtig läuft die Mission zur Verstärkung der integrierten NATO-Luftabwehr in der Türkei an. Durch
den Schutz auch deutscher Patriot-Raketen wird dieser
Partner, der den syrischen Bürgerkrieg vor der Haustür
hat, in die defensive Haltung des Bündnisses eingebunden. Dies ist nicht das erste Mal, dass deutsche Truppen
im Rahmen der NATO in die Türkei verlegt werden.
Schon während des Kalten Kriegs waren wir nicht nur
Empfänger der Unterstützung unserer Partner, sondern
standen diesen gegenüber selbst in der Pflicht, zur gemeinsamen Sicherheit in der NATO beizutragen. Dieser
Pflicht kommen wir mit dem Einsatz in der Türkei nach,
nicht um in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen,
sondern um ein Übergreifen auf das Bündnisgebiet und
damit auch auf Europa zu verhindern. Ich wünsche unseren Soldaten, die in diesen Einsatz gehen, alles Gute.
({0})
Ihr Auftrag dort ist nicht weniger wichtig und nicht weniger wert als der in Afghanistan, im Kosovo oder am
Horn von Afrika. Wir werden auch diesen genau verfolgen und handeln, wenn es objektiven Verbesserungsbedarf gibt. Ich erinnere beispielsweise an die kürzlich
vom Deutschen BundeswehrVerband geäußerten Bedenken hinsichtlich der ABC-Abwehrfähigkeiten.
Besorgt blicken wir auch nach Mali, wo die Entwicklung die Pläne für eine Ausbildungsmission der EU zu
überholen droht. Unsere französischen Freunde haben
- erst heute Vormittag haben wir den Abschluss des
Élysée-Vertrags vor 50 Jahren gewürdigt - gerade noch
verhindert, dass die Islamisten vom Norden des Landes
aus auf die Hauptstadt vorstoßen konnten. Heute Mittag
haben die Minister de Maizière und Westerwelle erklärt,
dass wir den Aufbau der westafrikanischen ECOWASMission mit zwei Transall-Maschinen unterstützen werden. Das ist gut so; denn es ist in unserem gemeinsamen
Interesse, dass in Mali kein weiterer gescheiterter Staat
entsteht, den international agierende Terroristen als Operationsbasis auch gegen Europa nutzen können.
Nach wie vor steht aber auch eine deutsche Beteiligung an der Ausbildungsmission im Raum, über die die
EU-Außenminister morgen entscheiden wollen. Unabhängig davon, wie der Gesamtumfang unseres Engagements ausfällt, wird die Belastung der Bundeswehr dadurch wieder steigen. Wir müssen uns stets klar darüber
sein, dass dies neben der ideellen und materiellen Attraktivität sowie der Vereinbarkeit von Familie und
Dienst wesentlich zur Stimmung in der Truppe und auch
zu ihrem Bild in der Öffentlichkeit beiträgt, was nicht
zuletzt die Nachwuchslage mitbestimmt.
Meine Damen und Herren, vor kurzem wurde zwar
noch die Meldung aufgebauscht, dass etwa 30 Prozent
der neuen freiwillig Wehrdienstleistenden den Dienst in
der sechsmonatigen Probezeit verlassen. Das ist aber
kein wesentlicher Unterschied zu der Meldung vom vergangenen Herbst, wonach die Abbrecherquote 27 Prozent in den ersten zwei Monaten betrage. Das bleibt
zwar unbefriedigend, entspricht aber weiterhin den Erfahrungen aus der Wirtschaft, und es bleiben auch nicht,
wie es hieß, Tausende Stellen unbesetzt, sondern die
5 000 vorgesehenen Dienstposten für freiwillig Wehrdienstleistende können problemlos abgedeckt werden.
Bei den Zeitsoldaten bestehen in dieser Hinsicht ohnehin
keine größeren Probleme.
Bei dieser Feststellung wollen wir es aber nicht belassen, sondern wir wollen mit einer Vielzahl von Maßnahmen die Attraktivität des Dienstes bei der Bundeswehr
weiter steigern. Insbesondere das Thema „Vereinbarkeit
von Familie und Dienst“, Stichpunkte „Pendler“ und
„Kinderbetreuung“, erfordert weiterhin unsere Aufmerksamkeit.
({1})
Anita Schäfer ({2})
Ich hoffe, dass sich auch der freiwillige Wehrdienst zu
einem Erfolgsmodell wie der zivile Bundesfreiwilligendienst entwickelt. Daran sollten wir alle gemeinsam
arbeiten.
Frau Präsidentin, zum Schluss darf ich noch dem
Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern ganz herzlich für ihr großes Engagement
danken, das sie zum Wohle der Sicherheit unserer Soldaten gezeigt haben. Herzlichen Dank noch einmal!
({3})
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl spricht nun ebenfalls für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr
verehrten Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Unsere Verantwortung als Parlament für
die Armee zeigt sich nicht nur in der Mandatierung der
Einsätze - Frau Kollegin Schäfer hat einige angesprochen - und nicht nur darin, dass wir einen Haushalt aufstellen, in dem auch Organisation und Größe der
Bundeswehr festgelegt sind, sondern auch darin, dass
wir einen Wehrbeauftragten wählen als zentralen Ansprechpartner für die Soldaten und als Ausdruck von
Kontrolle und Verantwortung für das Innenleben der
Bundeswehr.
({0})
In einer Zeit, in der die Bundeswehr von Grund auf
neu ausgerichtet wird, ist das Innenleben der Bundeswehr natürlich in Aufruhr. Ich möchte mich ganz
herzlich bei Ihnen, Herr Königshaus, dafür bedanken,
dass Sie diese Neuausrichtung der Bundeswehr so konstruktiv begleiten und auf diese Weise dazu beitragen,
dass Härten und Ungerechtigkeiten erkannt und in vielen
Fällen auch ausgemerzt werden können.
Herr Wehrbeauftragter, Ihre Rede hat deutlich gemacht: Sie legen den Finger auch dann in die Wunde,
wenn der Auftrag, den wir hier erteilen, nicht zur
Ausrüstung und zur Ausbildung der Soldaten passt. Da
haben Sie recht; denn wir schulden unseren Soldaten die
bestmögliche Ausbildung, den bestmöglichen Schutz
und das bestmögliche Einsatzgerät. Ich nenne nur Stichworte aus Ihrem Bericht: geschützte Fahrzeuge, Handwaffen, Munition, Schießausbildung, Nachtsichtgeräte,
Hubschrauber, Route Clearance, Drohnen. Wenn wir
2012 keinen Gefallenen zu beklagen hatten - das ist hier
mehrfach angesprochen worden -, dann hat das auch
damit zu tun, dass wir bei der Ausrüstung und bei der
Ausbildung besser geworden sind. Das ist mit ein Verdienst des Wehrbeauftragten.
({1})
Natürlich werden wir bei der Ausbildung und vor allem
bei der Ausrüstung nie einen perfekten Stand erreichen,
weil sich Auftrag und Einsatzbedingungen der Soldaten
immer wieder dynamisch ändern. Diese ändern sich
schneller, als die Beschaffung darauf reagieren kann. Ich
hoffe aber, dass wir mit dem neuen Rüstungsprozess, ein
zentraler Baustein in der Neuausrichtung, die zeitliche
Lücke zwischen Bedarf und Deckung des Bedarfs weiter
verkürzen können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was heute schon
des Öfteren angesprochen worden ist und was mich persönlich auch besonders freut, ist, dass der Zustrom zur
Bundeswehr weiterhin ungebrochen ist. Wir denken immer nur an die freiwillig Wehrdienstleistenden. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass im Januar dieses Jahres
3 500 junge Männer und Frauen ihren Dienst als Zeitsoldaten bei der Bundeswehr begonnen haben. Wir haben für das Jahr 2013 insgesamt einen Bedarf von
16 150 Zeitsoldaten. Das heißt, der Bedarf für 2013 ist
bereits heute schon zu fast 25 Prozent gedeckt - und das
trotz rückgängiger Jahrgangsstärken, trotz guter Alternativen auf dem Arbeitsmarkt, trotz der Schwierigkeiten
bei der Neuausrichtung und trotz der Tatsache, dass der
Soldatenberuf natürlich ein gefährlicher Beruf ist. Diese
Zahl ist für mich ein guter Indikator für das Ansehen und
den Stellenwert der Bundeswehr in der Gesellschaft.
({2})
Aber täuschen wir uns nicht. Der Wettbewerb um die
besten Köpfe wird schon aufgrund der Demografie immer härter werden. Im Dezember wurden die neuen Karrierecenter der Bundeswehr in allen Bundesländern in
Dienst gestellt. Auch das ist ein wichtiger Bestandteil
der Neuausrichtung, und auch das ist ein Punkt, auf den
wir große Hoffnungen setzen. Es muss gerade für uns als
Parlament das Ziel sein, die Besten für die Bundeswehr
zu gewinnen; denn wir stellen - das ist in den Reden der
Kolleginnen und Kollegen auch immer wieder deutlich
geworden - hohe ethische und moralische Ansprüche an
unsere Soldaten.
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist für uns ein
wichtiger Seismograf dafür, wie diese große Truppe von
200 000 jungen Männern und Frauen diesen Anforderungen gerecht wird. Herr Königshaus, wenn ich Ihren
Bericht lese, dann muss ich feststellen, dass unsere
Truppe, die Bundeswehr, diesen hohen Anforderungen
zum großen Teil auch gerecht wird. Darauf können wir
stolz sein.
Herr Königshaus, ich danke Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihre Arbeit, und ich danke Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2011 des
Wehrbeauftragten. Das sind die Drucksachen 17/8400
und 17/11215. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
Vizepräsidentin Petra Pau
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Lösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus Heil
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Künftige Wirtschaftkrisen erfolgreich meistern - Kurzarbeitergeld unter erleichterten
Bedingungen wieder einführen
- Drucksache 17/12055 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen
und, sofern uns sonst noch jemand zuschaut, meine Damen und Herren! Selten wurde eine politische Maßnahme so einhellig gelobt und war messbar so erfolgreich wie das konjunkturelle Kurzarbeitergeld. Die
Minister Scholz und Steinbrück - ich erinnere daran
gerne - hatten es in der Finanz- und Wirtschaftskrise
2009 eingeführt.
Herr Weise, der Chef der BA - ich habe das im Handelsblatt vom 12. Januar gelesen -, hat daran erinnert: In
Spitzenzeiten dieser Krise, so sagt er, waren 1,7 Millionen deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im
Bezug dieses konjunkturellen Kurzarbeitergeldes. Das
waren 1,7 Millionen Menschen, die weiter in Lohn und
Brot bleiben konnten. Aber es war nicht nur gut für die
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, es zahlte sich
auch aus für die Unternehmen; denn Tausende - es sind
mehr als 13 000 Unternehmen seinerzeit gewesen konnten die Krisenzeit so abpuffern und ihre Fachkräfte
halten - ein wichtiges Thema, das in den nächsten Jahren immer wichtiger werden wird; zumindest an der
Stelle mögen wir uns einig sein.
Der große Vorteil war: Beim Aufschwung, der dann ja
auch kam, hatten die Unternehmen sofort wieder ihr
Know-how und konnten durchstarten. Das ist einer der
Gründe, warum wir so stabil aus dieser Krise herausgekommen sind.
({0})
Ich will nur sagen: Dieses Kug - so kürzen wir das ja
ab - hat seinen Praxistest glänzend bestanden.
Aber leider hatte es Schwarz-Gelb eilig, dieses Instrument wieder zurückzuführen. Sogar vorzeitig, drei Monate früher, als ursprünglich vereinbart, hieß es: Wir
nehmen das wieder zurück. - Das halte ich und das hält
meine Fraktion mit mir für einen gravierenden Fehler.
({1})
Wir haben ihn schon damals kritisiert und haben Verstetigung beantragt. Damals, 2011, fanden wir kein Gehör
bei Mehrheit und Regierung; im Gegenteil - ich sagte
es -: Sie haben die Sonderregelung verkürzt.
Jetzt ist die Frage: Wie sieht es heute aus? Etwas
dazugelernt? Ich hoffe, ja; denn wir wollen mit unserem
Antrag „Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreich meistern - Kurzarbeitergeld unter erleichterten Bedingungen
wieder einführen“ einen Impuls geben, dem alle hier folgen sollten, weil es um eine ganz wichtige politische
Botschaft geht.
Ich gebe zu: Erleichterte Kurzarbeit ist SPD-Politik in
Reinform.
({2})
Warum sage ich das so? Es ist eine Beschäftigungsbrücke im Konjunkturabschwung. Es gibt kein Argument
dagegen. Es geht um die Sicherung von Arbeitsplätzen,
und es geht um einen Weg, die auftragsarme Zeit für
Weiterbildung zu nutzen und aus der Beschäftigungsbrücke, die Kurzarbeit ganz sicher ist, auch eine Qualifizierungsbrücke zu machen.
({3})
Weil der eine oder andere Einwand kommen mag,
will ich sagen: Dass das noch nicht so rund gelaufen ist,
wundert mich persönlich nicht. Wir haben das erstmals
ausprobiert: eine Verquickung von Qualifizierungsangeboten und Kurzarbeitergeld. Ich finde, das ist etwas, auf
das wir unser Augenmerk auch zukünftig richten sollten;
denn das treibt den nächsten Aufschwung an und hilft,
Facharbeiterinnen und Facharbeiter in den Unternehmen
zu halten, weil wir sie morgen ja so dringend brauchen.
Das heißt im Blick zurück: Die konjunkturelle Kurzarbeit hat in den Krisenjahren starke Einbrüche am Arbeitsmarkt verhindert und dazu beigetragen, dass wir die
besten Arbeitsmarktzahlen der letzten Jahrzehnte verzeichnen konnten.
Ich will Ihnen noch etwas sagen, meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit mir nicht
untergeschoben wird, ich neigte zum Schwarzmalen; das
ist überhaupt nicht meine Art. Wir werden morgen hier
den Jahreswirtschaftsbericht diskutieren. Ich brauche
keine Kristallkugel, um sagen zu können: Da wird es um
schlechtere Perspektiven und Prognosen gehen. Sie werden nicht mehr das Wachstum zeigen, das wir in den
letzten Monaten und Jahren hatten.
Deutschland - das wissen viele - befindet sich in einer prekären Stagnation, weil die Rezession im EuroRaum auch unsere Volkswirtschaft herunterzieht. Deshalb ist Vorsorge angesagt, die darin besteht, dass wir
uns wappnen und wieder eine bessere Kurzarbeitssituation schaffen. Die SPD sagt sogar: Es wäre klug, wir
würden das, was wir bei der konjunkturellen Kurzarbeit
als Vorteile hatten, verstetigen, damit wir nicht ein Auf
und Ab in den Rahmenbedingungen für Kurzarbeit haGabriele Lösekrug-Möller
ben, sondern den Arbeitgebern und Unternehmen eine
ganz klare Grundlage liefern, sodass sie wissen: Auch in
konjunkturell schwierigen Zeiten haben wir die staatliche Regelung zur Unterstützung an unserer Seite.
Wir wissen: Das Problem des Missbrauchs ist entgegen manchem Unken sehr gering. Ich erinnere daran:
Die Remanenzkosten bleiben bei den Unternehmen. Das
sind fast ein Viertel der Ausgaben. Das sorgt dafür, dass
Unternehmen nicht leichtfertig sagen: Wir schicken unsere Leute in Kurzarbeit.
Gerade in den letzten Tagen mussten wir hören, dass
MAN Kurzarbeit angemeldet hat. Wir reden also nicht
etwas herbei, sondern sagen: Wir als Gesetzgeber müssen jetzt handeln, damit wir eine gute Grundlage haben.
- Ein Einwand, der vermutlich von meinen nachfolgenden Rednern von den Regierungsfraktionen kommt, ist:
Das haben wir alles schon im Dezember erledigt. - Nein,
das haben Sie eben nicht. § 109 SGB III erlaubt, dass
man per Verordnung die Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld verlängern kann. Ja, das haben Sie gemacht. Aber
die qualitativen Kriterien, von denen wir sagen, dass sie
die Beschäftigungs- und Qualifizierungsbrücke bringen,
haben Sie gar nicht aufgegriffen. Da sagen wir: Bitte
mehr Mut! Unsere Wirtschaft braucht das. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hoffen darauf. Unternehmen brauchen einen sicheren Planungshorizont.
Deshalb, meine Damen und Herren, freue ich mich
auf die Diskussion, die wir zu unserem Antrag haben
werden. Ich kann Ihnen versichern: Sollten Sie ihm zustimmen, zumindest in weiten Teilen, so freuen wir uns.
Das steht dem Parlamentarismus in Deutschland gut zu
Gesicht. Peter Struck, der heute Morgen ob seiner Qualitäten als Parlamentarier gewürdigt wurde, hat viel Wert
darauf gelegt, dass Parlamentarier Mut haben, zu sagen,
dass auch gute Vorschläge durch die Bearbeitung im Parlament besser werden können. Darauf setze ich. Ich
hoffe, dass wir einen guten Weg gehen. Wir werden ihn
für einen weiterhin stabilen Arbeitsmarkt und eine gute
wirtschaftliche Lage in Deutschland brauchen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Kollegen von der Sozialdemokratie! Sehr geehrte Frau Kollegin Lösekrug-Möller, Sie haben vielleicht etwas irritiert reagiert, als ich während Ihrer Rede spontan klatschen musste, weil ich feststellte:
Jawohl, die Dame hat recht. Das erste Drittel Ihrer Rede
konnte ich voll und ganz unterschreiben. Dann haben
aber leider die Qualität und Seriosität Ihrer Rede ein
bisschen nachgelassen.
({0})
- Sie hätten sich Redezeit geben lassen können, Frau
Kramme.
Frau Lösekrug-Möller, Sie haben recht: Wir können
von Glück reden, dass wir zu Beginn der letzten Krise
engagiert und dynamisch - zugegeben auch mit einem
gewissen Verdienst des damaligen Arbeitsministers Olaf
Scholz - die Kurzarbeiterregelung von zunächst 6 auf
18 Monate und dann auf 24 Monate verlängert haben.
Damit hatten wir während der Krise das richtige Mittel,
qualifizierte Arbeitsplätze in den Unternehmen zu halten. Diese Maßnahme schuf Vertrauen sowohl für die
Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer, die ihren Job
zwar behalten konnten und weniger verdient haben, aber
trotzdem gewusst haben: Ich bin noch integriert. Ich bin
noch im Unternehmen. - Das war richtig. Ich wünschte
mir, dass ähnliche Modelle von anderen Ländern in Europa, die auf dem Arbeitsmarkt noch viel mehr Probleme
haben als wir, ausprobiert würden. Es müsste geprüft
werden, ob es für Spanien, Portugal, für Griechenland
vielleicht infrage käme, ähnliche Methoden anzuwenden.
Liebe Frau Lösekrug-Möller, Sie hätten ehrlicherweise dazusagen müssen, dass Olaf Scholz in der letzten
Legislaturperiode - wir haben es beide hautnah erlebt bei der ersten Verlängerung des Bezugs des Kurzarbeitergeldes vorgeschlagen hat, Qualifizierung zur Voraussetzung für die vom Kurzarbeitergeldbezug betroffenen
Mitarbeiter zu machen. Diesen Vorschlag haben wir
nicht aufgegriffen, weil er nicht praktikabel war. Der
Wirtschaftseinbruch war in der Krise mit 5,1 Prozent so
heftig, dass wir nicht noch einige Monate hätten qualifizieren können. Wir mussten es ad hoc gewähren. Eines
ist auch richtig: Wir haben damals sehr schnell reagiert.
Ein großes Kompliment an alle an der Entscheidungsfindung beteiligten Parteien des Bundestages. Innerhalb einer Woche haben wir die erste Lesung, die Ausschussanhörung, die zweite Lesung und dann das endgültige
Gesetz durch den Bundestag gebracht. Das heißt, wir
sind kampagnenfähig. Wir sind in der Lage, auf eine
Verschlechterung schnell zu reagieren.
({1})
Deshalb hat der Antrag der SPD völlig zu Recht die
Überschrift: „Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreich
meistern - Kurzarbeitergeld unter erleichterten Bedingungen wieder einführen“. Es heißt aber: „Künftige
Wirtschaftskrisen“. Wir müssen erst einmal schauen, wie
sich das Ganze tatsächlich entwickelt.
Außerdem darf ich Sie daran erinnern - Sie haben das
Bonmot selbst vorweggenommen -, dass die unionsgeführte Bundesregierung durch die Verordnung über die
Bezugsdauer für das Kurzarbeitergeld mit Wirkung zum
14. Dezember 2012 - lange vor Ihrem Antrag vom
14. Januar - die gesetzlich auf sechs Monate begrenzte
Bezugsdauer für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
deren Anspruch auf Kurzarbeitergeld bis zum 21. De26706
zember 2013 entsteht, bereits auf zwölf Monate verlängert hat.
Durch die Möglichkeit einer bis zu zwölfmonatigen
Bezugsdauer wird den Arbeitgebern die eingangs besprochene Planungssicherheit sowie die Möglichkeit gegeben, kurzzeitige konjunkturelle Einbrüche zu überbrücken, ohne Mitarbeiter entlassen zu müssen. Die
Verlängerung stellt eine Vorsichtsmaßnahme dar, um einem möglichen wirtschaftlichen Abschwung wirksam
entgegenzutreten.
Das heißt aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass es um die konjunkturelle Lage in Deutschland so
schlecht steht, wie Sie versuchen, es hier darzustellen.
({2})
Die schwarzen Wolken, die einige Kollegen der SPD
- auch Sie, Frau Krellmann - hier an den Himmel projizieren wollen, kann ich bisher beim besten Willen nicht
erkennen. Im Gegenteil! Deutschland hat so wenig Arbeitslose wie seit über 20 Jahren nicht mehr, zum großen
Teil dank der christlich-liberalen Regierung, die dieses
Land in den letzten drei Jahren genießen durfte.
({3})
Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war 2012 mit 41,5 Millionen Menschen so hoch wie
nie zuvor.
({4})
Das haben wir auch in der Großen Koalition nicht geschafft, Frau Lösekrug-Möller. Mit 2,897 Millionen Arbeitslosen im Jahr 2012 ist das niedrige Niveau des
Boomjahres 2011 sogar um 79 000 unterschritten worden. Die Arbeitslosenquote sank um 0,3 Prozentpunkte
auf 6,8 Prozent. Bayern lag hierbei mit einer durchschnittlichen Quote von 3,7 Prozent an der Spitze. Am
liebsten verweise ich auf meinen Wahlkreis: Im Landkreis Würzburg haben wir eine Arbeitslosenquote von
2,6 Prozent. Da kann man schon so langsam von Vollbeschäftigung sprechen.
Selbstverständlich gehört es auch dazu, zu sagen, dass
die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt gegen Ende des vergangenen Jahres abgenommen hat und erste Spuren einer Konjunktureintrübung sichtbar werden. Das hängt
teilweise mit den internationalen Exportchancen gerade
in Krisenländer im südlichen Europa zusammen. So haben sich die infolge der Staatsschuldenkrise in Europa
sowie aufgrund der schlechteren konjunkturellen Prognose anhaltende Verunsicherung und Zurückhaltung bei
den Unternehmen vermehrt auf dem hiesigen Arbeitsmarkt bemerkbar gemacht.
Allerdings warne ich davor, jetzt in Hysterie auszubrechen; denn der Arbeitsmarkt stellt sich trotz der nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik nach wie vor äußerst robust dar und rechtfertigt in keiner Weise - Frau
Kollegin Lösekrug-Möller, hören Sie mir zu! - diese Art
von Alarmstimmung, die Sie hier zu verbreiten versuchen. Auch die Aussichten sind für Deutschland noch
bei weitem besser als für viele andere Staaten in Europa.
Für das Jahr 2013 ist nicht mit einem gravierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Trendwende zum
Schlechteren zu rechnen. Die vorliegenden Daten deuten
darauf hin, dass der Arbeitsmarkt auch weiterhin robust
reagiert und wir die Lage am Arbeitsmarkt sehr stabil
halten können.
Die Zahl der Kurzarbeiter liegt trotz einer geringen
Zunahme noch im normalen Bereich, sodass es auch hier
keine Indikatoren gibt, die auf eine krisenhafte Entwicklung hindeuten. Im Jahr 2011 lag die Zahl der Kurzarbeiter bei durchschnittlich 102 000, 2012 bei unter 100 000.
Laut Prognose der Bundesagentur für Arbeit wird für
2013 mit 180 000 Kurzarbeitern gerechnet. Nur zur Erinnerung: Zur Zeit der Wirtschaftskrise lag diese Zahl
bei etwa 1,5 Millionen; das nur, um Ihnen die Relationen
ein wenig vor Augen zu führen. Das Bruttoinlandsprodukt ist damals um 5 Prozentpunkte eingebrochen. Zurzeit wird darüber diskutiert, ob es um 0,2 oder um
0,3 Prozentpunkte sinkt. In der Zeit der Weltwirtschaftskrise lag dieser Wert bei 5,1 Prozent. Auch hier sollten
Sie sich die Relationen klarmachen.
Die Präsidentin bittet mich, so langsam ans Ende zu
denken. Ich glaube, das vor uns liegende Jahr wird für
die deutschen Arbeitnehmer und Arbeitgeber von Segen
geprägt sein, insbesondere wenn im September die
christlich-liberale Koalition in die Verlängerung geht.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine schöne Zeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Lehrieder und andere vergessen immer die wichtigsten Akteure in diesem Zusammenhang:
({0})
die Betriebsräte und die Vertrauensleute im Betrieb. Sie
sind diejenigen, die die Probleme aufgreifen und die die
Kurzarbeit und all die anderen Instrumente umsetzen,
die hier diskutiert wurden. Sie sind in Krisenzeiten mit
die ersten auf der Matte, die etwas unternehmen können.
Ihre Aufgabe ist es, Arbeits- und Ausbildungsbedingungen im Betrieb zu sichern. Sie brauchen dazu eine
Werkzeugkiste, mit der sie sicher und zuverlässig arbeiten können. Wichtigstes Werkzeug ist in dem Zusammenhang der Umgang mit Arbeitszeit. Arbeitszeitkonten, Verkürzung und Verlängerung von Arbeitszeit
stehen im Zentrum jeder betrieblichen Auseinandersetzung. Kurzarbeit ist dabei ein Kernwerkzeug der Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wie erfolgreich dieses Instrument war, konnte man in
der letzten Krise sehen. Daher ist es unverständlich,
wieso man die erweiterte Kurzarbeitergesetzgebung aus
der Krise 2009 nicht zu einer Dauereinrichtung macht.
Unter diesem Gesichtspunkt finde ich den Antrag der
SPD gut und richtig. Was ich aber in dem Antrag nicht
gefunden habe, ist der Vorschlag bzw. die Forderung,
auch Leiharbeitern den Bezug von Kurzarbeitergeld zu
ermöglichen. Haben Sie das übersehen? Haben Sie das
vergessen? Oder soll das gar nicht geregelt werden? Es
ist das ureigenste Unternehmerrisiko der Leiharbeitsfirmen, Arbeitsausfall aufzufangen. Leider können sie das
Risiko problemlos an ihre Beschäftigten weitergeben:
Sie werden einfach entlassen. Die Linke fordert deshalb:
Kurzarbeitergeld auch für Leiharbeitsbeschäftigte.
({2})
Die Kurzarbeit ist ein Instrument zur schnellen Reaktion beim Eintritt einer Krise; es geht aber nicht an die
Ursachen. Die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit
nimmt seit der Krise 2009 zum ersten Mal wieder zu.
Der Grund liegt nicht zuletzt in der Europapolitik der
Kanzlerin. Der Fiskalpakt und die den Krisenländern
Europas verordnete radikale Sparpolitik haben zu einem
dauerhaften Einbruch des Wachstums und der Nachfrage
in diesen Staaten geführt; die staatliche Schuldenkrise
haben sie damit nicht gelöst. Für diese Politik stimmten
leider auch die SPD und die Grünen. Die Linke hat als
einzige Partei diesen Kurs konsequent abgelehnt.
Deutschland exportiert 60 Prozent seiner Produkte in
Länder der EU. Jetzt wundern sich alle, wenn exportorientierte Firmen in Deutschland in die Krise geraten.
Ihre Politik ist verantwortlich dafür.
({3})
Momentan freuen sich nur Banken über Ihre Politik; sie
machen weiter leichtes Geld mit der Krise der Staatsfinanzen. Das muss ein Ende haben. Die Linke will die Finanzmärkte strikt regulieren und Millionäre zur Kasse
bitten.
({4})
Die Linke fordert ein Ende der brutalen Sparpolitik im
Euro-Raum und einen Marshallplan für Südeuropa. Nur
so kommt die Wirtschaft wieder auf die Beine, sodass
wichtige Investitionen getätigt werden können.
({5})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung verschärft mit ihrer Politik die Krise, anstatt sie zu lösen.
Die Verlängerung der Kurzarbeit ist absolut nötig. So erhalten die Beschäftigten und ihre Betriebe Planungssicherheit. Nur die Linke hat ein wirkliches Antikrisenprogramm: Wir spannen einen Rettungsschirm nicht nur für
die Banken, sondern für die Menschen in Deutschland
und Europa. Wir wollen die Profiteure und Spekulanten
zur Verantwortung ziehen. Wir machen Politik für die
Menschen.
({6})
Der Kollege Pascal Kober hat nun für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die derzeitige Arbeitsmarktsituation in Deutschland ist
sehr gut: Wir haben die höchste Erwerbstätigenzahl in
der Geschichte der Bundesrepublik und die geringste
Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Das ist in
erster Linie der Erfolg der vielen fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber. Aber es ist auch recht, dass wir vonseiten
der Regierungskoalition einmal darauf hinweisen, dass
das auch Ergebnis einer richtigen Politik ist.
({0})
Es wäre schön, wenn auch die Opposition das einmal
eingestehen könnte.
Frau Krellmann, Sie sagen, dass Sie Politik für die
Menschen machen wollen. Dann müssen Sie doch einmal anerkennen, dass diese Regierung eine so erfolgreiche Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
- auch das sind Menschen - gemacht hat wie noch keine
in der Geschichte der Bundesrepublik.
({1})
Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage oder eine Bemerkung der Kollegin Lösekrug-Möller?
Ja, gerne.
({0})
Sehr geehrter Kollege Kober, Sie haben gerade die
Erfolge Ihrer Politik auf dem Arbeitsmarkt hervorgehoben. Ich habe im Handelsblatt vom 12. Januar gelesen,
dass Herr Weise schwere Bedenken hinsichtlich der Mittelausstattung der BA hat, sofern sich die Krise verschärft oder unsere Wirtschaft in Schwierigkeiten
kommt. Unter anderem sagt er - von Ihnen möchte ich
wissen, ob Sie das auch so sehen -, dass er ein schweres
Jahr erwartet. Ich zitiere aus dem Handelsblatt:
Im Jahresdurchschnitt dürfte die Arbeitslosigkeit
aber nicht über die Drei-Millionen-Marke steigen.
Ein wichtiger Grund dafür sei die schrumpfende
Bevölkerungszahl.
Ist das Ihr politischer Erfolg? Habe ich das richtig verstanden?
({0})
Frau Lösekrug-Möller, die schrumpfende Zahl der
Menschen in unserem Land ist nicht das Ergebnis der
Politik dieser Regierung. Ganz im Gegenteil: Diese Regierung und die Koalitionsfraktionen machen viel für
Familien mit Kindern und für die Kinderbetreuung, gerade um diesem Trend entgegenzuwirken.
({0})
Auch in anderen Bereichen ist diese Regierung so erfolgreich wie keine vor ihr. Deshalb, liebe Frau
Lösekrug-Möller: Wir sehen unsere Verantwortung und
gehen die Herausforderungen entschieden an. - Vielen
Dank.
({1})
Diese Regierung hat eine wachstumsfreundliche Politik gemacht: gleich zu Beginn der Legislaturperiode
beispielsweise durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, zuletzt jetzt am 1. Januar 2013 durch die Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge. Damit haben wir
jeweils entscheidende Akzente gesetzt und Impulse gegeben, damit die Wirtschaft auf Wachstumskurs kommt
und bleiben kann. Das ist gute Politik im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist gut, viel besser
als es in den Nachbarländern bedauerlicherweise festzustellen ist. Deutschland ist gut durch die Krisenjahre gekommen. Es hat besser die Folgen der Wirtschafts- und
Finanzkrise verkraftet als vergleichbare Länder um uns
herum. Das Wachstum, das wir hier zu verzeichnen haben, ist alles andere als selbstverständlich.
({2})
Ein wesentlicher Grund dafür ist in der Tat das Instrument der Kurzarbeit, so wie wir es in der Wirtschaftsund Finanzkrise in Deutschland angewendet haben.
Nicht umsonst schauen unsere europäischen Nachbarn
und auch andere Länder weltweit auf dieses Erfolgsmodell und wollen es nun auch nachahmen.
({3})
Vor allem die Arbeitnehmer haben in der Krise Opfer
gebracht. Sie haben auf Gehalt verzichtet, um ihre Arbeitsplätze zu sichern. Aber auch für die Unternehmerinnen und Unternehmer ist die Kurzarbeit nicht kostenfrei.
Insofern ist es eine gemeinsame Anstrengung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - auch wenn sie
gewerkschaftlich organisiert sind -, Arbeitgeberinnen
und Arbeitgebern und der Politik, dass das gemeinsam
gelungen ist.
Ich habe bereits auf die Erfolge des Arbeitsmarktes
hingewiesen, aber uns allen ist klar, dass das die momentane Situation ist. Jetzt komme ich auf das zurück, was
Frau Lösekrug-Möller gesagt hat: Die Erwartungen für
dieses Jahr signalisieren uns zwar weiterhin Wachstum,
aber es gibt in der Tat auch Anzeichen, dass die angespannte Lage bei unseren europäischen Nachbarn auch
bei uns zu Veränderungen führen könnte.
Die Bundesagentur für Arbeit - Frau LösekrugMöller, darauf haben Sie sich in Ihrer Frage ja bezogen geht davon aus, dass die Zahl der Kurzarbeiter in diesem
Jahr bei circa 200 000 Menschen liegen dürfte.
({4})
Das wären dann aber bei weitem noch nicht so viele wie
beim Höhepunkt im Mai 2009, als es 1,4 Millionen
Menschen waren. Zudem sind dieses Jahr regionale und
branchenspezifische Unterschiede zu erwarten. So wird
der Schwerpunkt der Kurzarbeit voraussichtlich im verarbeitenden Gewerbe liegen, und sie wird besonders in
Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland eingesetzt werden. Kurzarbeit wird kein deutschlandweites Massenphänomen sein. Daher sehen wir auch
keinen akuten gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Die
bestehenden Gesetze und der Handlungsspielraum der
Bundesagentur für Arbeit sind derzeit ausreichend.
Auf die Anzeichen, dass wir in diesem Jahr mit mehr
Kurzarbeit zu rechnen haben, hat diese Bundesregierung
schnell und unkompliziert reagiert. Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler und Bundesarbeitsministerin
Ursula von der Leyen haben sich Anfang Dezember
2012 darauf verständigt, dass das Kurzarbeitergeld statt
wie bisher sechs Monate künftig zwölf Monate ausbezahlt werden kann. Das zeigt einmal mehr: Die Bundesregierung kann handeln, wenn es nötig ist. Sie tut es und
hat die Grundlage dafür gelegt, dass in Zukunft flexibel
und schnell gehandelt werden kann, wenn die Situation
auf dem Arbeitsmarkt dies erfordert. Weitergehende Forderungen, wie sie auch der Antrag der SPD beinhaltet,
halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für eindeutig verfrüht.
Wir sollten mögliche Probleme oder eine Krise nicht
herbeireden, Frau Lösekrug-Möller.
({5})
Da im Bereich Wirtschaft vieles Psychologie ist, sollten wir die notwendigen Schritte dann ergreifen, wenn
der Zeitpunkt dafür gekommen ist, und nicht voreilig
über möglicherweise in der Zukunft auftretende Probleme reden, die wir jetzt noch nicht haben und die nach
der derzeitigen Lage auch nicht wahrscheinlich sind.
Jetzt zitiere ich Frank-Jürgen Weise, den Chef der Bundesagentur für Arbeit. Er sagte:
Die gefühlten Risiken auf dem Arbeitsmarkt sind
größer als die tatsächlichen.
Ich glaube, an diesen Satz sollten wir uns halten. Diesen
Satz sollten wir uns immer wieder bewusst machen und
im Kopf behalten, wenn wir hier und heute über VeränPascal Kober
derungen im Bereich der Kurzarbeit sprechen. Politik
sollte weniger von Gefühlen geleitet sein, sondern mehr
von der Realität und den Fakten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie können
sich darauf verlassen, dass wir das Thema Kurzarbeit
und Kurzarbeitergeld auf dem Schirm haben. Die Vorschläge, die Sie in Ihrem Antrag machen, haben wir
durch Regierungshandeln zum Teil bereits erledigt.
({6})
Ich glaube, wir sind in der Lage, kurzfristig auf Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zu reagieren. Wie immer
werden wir die Probleme der Menschen angehen und das
Gute und das Richtige für sie entscheiden.
({7})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Die Kollegin Brigitte Pothmer hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kober, Sie haben es schon vorsichtig angedeutet: Die
Lage auf dem Arbeitsmarkt trübt sich ein; die Wirtschaftsleistung schrumpft; Sie haben ja heute sogar Ihre
eigene Wachstumsprognose von 1 Prozent auf 0,4 Prozent nach unten korrigiert.
Natürlich ist es so, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften zurückgegangen ist. Daraus resultierend ist die
Arbeitslosigkeit gestiegen, und die Unternehmen melden
zunehmend Kurzarbeit an. Mit anderen Worten: Die fetten Jahre sind vorbei. Ich will das hier gar nicht dramatisieren.
({0})
Ich will der Regierung auch gar nicht die alleinige
Schuld dafür zuweisen. Was ich Ihnen allerdings vorwerfe, ist, dass Sie diese guten Zeiten nicht genutzt haben, um Vorsorge für schlechtere Zeiten, die absehbar
waren, zu treffen.
({1})
Sie haben sich nicht nur auf der guten Arbeitsmarktlage
ausgeruht,
({2})
sondern Sie haben in dieser Zeit auch die Kassen der BA
wirklich gnadenlos geplündert.
({3})
Ende 2010 wurde die Rücklage aus der Insolvenzgeldumlage einfach einkassiert. Für die BA bedeutete
das ein Minus von 1 Milliarde Euro. Dann wurden die
Kosten für die Grundsicherung im Alter einfach der
Bundesagentur übertragen: für das Jahr 2012 1,2 Milliarden Euro, für das Jahr 2013 2,6 Milliarden Euro. Und
jetzt wird die Beteiligung des Bundes an den Kosten der
Arbeitsförderung gänzlich gestrichen. Ich gebe zu: Im
Gegenzug wird auch der Eingliederungsbeitrag zurückgenommen. Es bleibt aber ein Minus für die Bundesagentur für Arbeit in Höhe von 2 Milliarden Euro.
Meine Damen und Herren, Frau Lösekrug-Möller, das
ist das eigentliche Problem:
({4})
Wir sind schlecht vorbereitet auf die Ausweitung von
Kurzarbeit. Sollte die Kurzarbeit ausgeweitet werden
müssen - das ist absehbar -,
({5})
wird das auf Pump geschehen. Herr Kober, genau das
hat uns Herr Weise im Ausschuss noch einmal deutlich
gesagt. Die Bundesagentur für Arbeit wäre nicht in der
Lage, eine Ausweitung von Kurzarbeit zu finanzieren.
Dass wir in diesem Haus gemeinsam für die Kurzarbeiterregelung sind, haben die Wortbeiträge deutlich gemacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, es gibt in diesem Zusammenhang aber
ein Alleinstellungsmerkmal: Hier liegt ein Antrag der
SPD vor, der Ihnen als Regierung die Möglichkeit eröffnen will, eigenständig zu entscheiden, wie Sie mit der
Kurzarbeit umgehen wollen.
({6})
Wir übertragen Ihnen Kompetenzen. Sie müssen sie
nicht nutzen. Wie sie es ausgestaltet, ist dann allein Sache der Regierung. Sie erschrecken sich zu Tode
({7})
und sagen: Auf gar keinen Fall, wir wollen diese Kompetenzen nicht haben. - Meine Damen und Herren, das
ist schon ein Kuriosum, das Ihnen, glaube ich, so schnell
keiner nachmacht.
({8})
Allerdings will ich Ihnen sagen, dass ich den Antrag
der SPD-Fraktion gerade in dieser Situation für notwendig und richtig halte: Erstens, weil sich die Wirtschaftskrise verschärfen und sich die Arbeitsmarktlage ziemlich
schnell verändern kann. Das lässt sich im Moment nicht
wirklich kalkulieren. Der zweite Grund ist, dass wir in
diesem Jahr Neuwahlen haben und das neugewählte Parlament erst im Herbst zusammentreten wird. Deswegen
macht es Sinn, dass wir jetzt diese Möglichkeit eröffnen.
({9})
Wir übertragen Ihnen Kompetenzen, wir wollen diese
Möglichkeit schaffen. Ich finde es bedauerlich, dass Sie
die Verantwortung nicht übernehmen wollen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestern
Abend kam der Antrag, den wir heute auf der Tagesordnung haben und debattieren. Normalerweise bin ich sehr
für Just-in-time-Produktionen, aber da hätte mir ein wenig Vorlauf schon sehr gut gefallen.
({0})
Also habe ich gestern Abend den Antrag gelesen und bin
schon am Anfang etwas stutzig geworden. Dort steht:
„Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreich meistern“. Da
reibt sich der Beobachter verwundert die Augen und
fragt: Welche Krise? Wir haben keine Krise, und es ist
auch keine Krise in Sicht. Im Gegenteil, wir haben hervorragende Wirtschaftsdaten.
({1})
Meine Damen und Herren, als Opposition würde ich
da auch nervös werden. Die Wirtschaftsdaten sind positiv, sind robust. Im nächsten halben Jahr wird nach Einschätzung vieler Beobachter die Euro-Zone auch wieder
aus der Krise herauskommen; so jedenfalls die Weltbank
und die Ratingagentur Fitch. Das kommt uns entgegen,
das hilft uns zusätzlich, was die Exporte angeht. Es gibt
für 2013 gute Aussichten. Sie hingegen schwadronieren
über eine mögliche Krise. Das ist ein wenig so, als ob
Sie in den Sommerurlaub nach Mallorca eine Skiausrüstung mitnehmen: Es könnte ja schneien.
({2})
Kommen wir zum inhaltlichen Kern: Kurzarbeit ist
ein geeignetes arbeitsmarktpolitisches Instrument, um
exzessive Entlassungen bei temporärer Konjunkturschwäche zu überbrücken. Das haben wir in der Großen
Koalition getan, und es war richtig. Es war aber auch
richtig, das Programm auslaufen zu lassen. Wirtschaft
besteht - Herr Kollege Kober hat darauf hingewiesen zu einem hohen Anteil aus Psychologie. Wir haben
durch die Beendigung des Programms das Zeichen gegeben: Die Krise ist beendet. Deswegen wäre es auch
falsch gewesen, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, hier einer Verstetigung das Wort zu reden.
({3})
Kurzarbeit kann und darf stets nur eine Brücke für einen vorübergehenden Arbeitsausfall sein. Sie ist ein Instrument unter vielen. Frau Kollegin Krellmann hat einen Instrumentenkasten erwähnt. Bei ihrer Rede hatte
man den Eindruck, sie habe nur den Hammer als Instrument übrig. Die Sichel ist Ihnen ja abhanden gekommen.
({4})
Für jemanden, der nur einen Hammer hat - das hat Ihre
Rede gezeigt, Frau Kollegin Krellmann -, sehen in der
Tat alle Probleme wie Nägel aus.
({5})
Meine Damen und Herren, die Vorschläge für das erneute Aufgreifen von Sonderregelungen in der Kurzarbeit würden zu einer Verschiebung der Kostenlast bei
Kurzarbeit von der Arbeitgeberseite auf die Versicherten- und Beitragsgemeinschaft führen. Die bestehende
Risikoabgrenzung bei normalen Konjunkturverläufen
hat sich über Jahrzehnte bewährt. Sie sollte nur im Krisenfall maßgeschneidert auf die dann vorliegenden Verhältnisse angepasst werden.
Es war also richtig, das Kurzarbeitergeld wieder auf
sechs Monate zurückzunehmen, um Vertrauen zu schaffen und zu bestätigen. Mittlerweile haben wir es mit einem sehr stabilen Arbeitsmarkt zu tun. Der Kollege
Lehrieder hat dazu ja eine ganze Reihe von Zahlen genannt.
({6})
Nein, Frau Lösekrug-Möller, Ihrem Antrag merkt
man an, dass Wahlen bevorstehen. Ich hatte eben gesagt:
Wirtschaft besteht zu einem großen Teil aus Psychologie. Das bedeutet aber auch, dass wir die psychologischen Auswirkungen dessen bedenken müssen, was wir
hier tun.
Verehrte Frau Pothmer, die fetten Jahre sind nicht
vorbei. Sie versuchen, eine Krise herbeizureden, die es
nicht gibt. Das mag Wasser auf Ihre dürstenden Wahlkampfmühlen sein, aber es ist unverantwortlich und
sachlich falsch.
({7})
Sie versuchen, das schlechtzureden, was Arbeitgeber
und Arbeitnehmer mit Unterstützung der christlich-liberalen Koalition in den letzten Jahren erreicht haben.
Es gibt eigentlich nur eine Entschuldigung für den
Unfug, den Sie mit Ihrem Antrag präsentieren. Sie scheinen allen Ernstes davon auszugehen, am Ende des Jahres
2013 tatsächlich die Regierung stellen zu können. Dann
allerdings wäre das, was Sie vorschlagen, tatsächlich
notwendig. Davon überzeugt schon ein kurzer Blick in
Ihre Forderungen zur Wahl.
Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Krellmann?
Nein, ich führe meine Rede jetzt zu Ende. Danke.
({0})
Sie haben ein formidables Wachstumsvernichtungsprogramm, ein mutiges Programm zur Reduzierung von
Arbeitsplätzen. Zumindest insofern sind Sie ehrlich: Sie
bemühen sich, für die Folgen Ihrer Politikplanung schon
jetzt prophylaktisch das Gegenmittel bereitzustellen, das
Heftpflaster für die Wunden, die Sie der deutschen Wirtschaft schlagen wollen.
({1})
Insofern können wir dankbar für Ihren Antrag sein. Er
zeigt uns, wie nahe etwas, das furchtbar einfach daherkommt, letztlich einfach furchtbar ist.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12055 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
- Drucksache 17/11670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
- Drucksache 17/8721 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Marcus Weinberg für die Unionsfraktion.
Auch wenn einige dieser spannenden Debatte nicht
mehr folgen können, bitte ich doch trotzdem, die notwendige Aufmerksamkeit zu gewährleisten. - Bitte,
Kollege Weinberg.
Frau Präsidentin, vielen Dank. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es
in diesem Plenum Kolleginnen und Kollegen gibt, die
dieser wichtigen Debatte nicht lauschen wollen, zumal
wir jetzt nach der Schärfe in der Debatte zum Kurzarbeitergeld zu einem wichtigen Einvernehmen kommen,
nämlich zu einem kleinen Geburtstag: dem 10. Geburtstag der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland.
Mit dem Fortschrittsbericht 2012 hat die Bundesregierung jetzt zum dritten Mal diese nationale Nachhaltigkeitsstrategie fortgeschrieben. Dabei ist, glaube ich,
eines von entscheidender Bedeutung: Nachhaltigkeit lebt
von Kontinuität. Deswegen ist es für uns im Beirat immer wichtig gewesen, dass wir über den Tellerrand
schauen, dass wir von der Farbenlehre wegkommen und
uns Gedanken machen, wie wir in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten, auch mit Blick auf 2050, die Nachhaltigkeitsstrategie im Sinne der kommenden Generationen
entwickeln.
Ich möchte aus meiner Sicht drei, vier wesentliche
Punkte, Änderungen und Kommentierungen des Beirates darstellen.
Änderungen ergeben sich dort, wo es gilt, neue thematische Schwerpunkte zu setzen oder die Schärfe der
Nachhaltigkeitsstrategie durch Veränderung der Zielvorgaben nachzujustieren. Einige Änderungen der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sind durchaus gelungen, bei
anderen sind wir, um es vorsichtig zu formulieren, in der
Phase der Überprüfung; denn wir müssen uns immer fragen, inwieweit eine Änderung tatsächlich einen Fortschritt darstellt.
Ich komme zu den Änderungen mit Verbesserung der
Zielschärfe. Gelungen ist zum Beispiel die Änderung bei
Marcus Weinberg ({0})
einem Indikator, der uns allen sehr bekannt ist, beim berühmten - für einige berüchtigten - Indikator 15, nämlich Kriminalität. Hier wurden unser Flehen und Bitten
erhöhrt, nicht vom lieben Herrgott, aber von der Bundesregierung - das hat in weiten Teilen ja eine gewisse Ähnlichkeit. Wir als Beirat haben jedenfalls in Stellungnahmen immer wieder gefordert, diesen Indikator neu zu
justieren. Mit der Ausrichtung auf Straftaten insgesamt
wird der Fokus des Indikators erheblich vergrößert, ohne
aber - auch das ist von elementarer Bedeutung - dass die
speziellen Aspekte aus den Augen verloren werden.
({1})
Die Änderung des Indikators 15, über die lange diskutiert wurde, ist also ein Beispiel für eine gute und sinnvolle Verbesserung. Hier erwartet der Parlamentarische
Beirat für nachhaltige Entwicklung bei der Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zum
Jahr 2016 auch bei anderen Indikatoren eine sinnvolle
Optimierung, beispielsweise bei der Darstellung frühkindlicher Kompetenzen; das ist gerade für junge Eltern,
für junge Mütter und Väter, von großer Bedeutung.
Schwierigkeiten bei der vertikalen Integration sind dabei
nicht zwingend als Hinderungsgrund ersichtlich. Unabhängig von der Frage nach einer Änderung der Indikatoren enthält die nationale Nachhaltigkeitsstrategie bereits
jetzt Indikatoren, für die der Bund nicht zuständig ist,
weshalb er auf die Unterstützung der Länder angewiesen
ist. Ich glaube, das ist eine Grundproblematik, der wir
uns stellen müssen. Der Bund übernimmt seine Verantwortung.
Ich will jetzt keine Länderschelte betreiben. Aber hier
und da hat man den Eindruck, dass das eine oder andere
Bundesland beim Thema Nachhaltigkeit und bei der Beteiligung der Parlamente noch etwas ambitionierter sein
könnte. Ich glaube, hier müssen wir noch auf die Länder
einwirken.
Ich komme zu den Änderungen mit Ausweitung des
Ziel- und Zeithorizontes. Gelungen ist die Weiterentwicklung der Zielvorgaben für einzelne Indikatoren, so
zum Beispiel beim Indikator 1, der Ressourcenschonung. Damit setzt die Bundesregierung eine Forderung
aus dem im Jahr 2009 durchgeführten Peer Review der
deutschen Nachhaltigkeitsstrategie um. Die Ausweitung
des Zeithorizonts auf 2050 muss mit der Vorlage des
Fortschrittsberichts 2016 konsequent fortgesetzt werden;
denn letztendlich müssen die Weichen zur Zielerreichung bereits viel früher gestellt werden. Je eher die
Zielvorgaben für das Jahr 2050 bekannt sind, umso eher
kann die Zielerreichung angegangen werden. Es gibt aus
unserer Sicht also viel Lob; aber wir sehen auch Ziele,
die noch zu erreichen sind, und teilweise nicht gelungene Zieländerungen.
Weniger hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass
bei zwei Indikatoren die Zielvorgaben aus dem
Jahre 2010 einfach auf das Jahr 2020 gestreckt worden
sind. Dies betrifft die privaten und öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung ebenso wie die Zahl
der 18- bis 24-Jährigen ohne Abschluss.
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung bedauert, dass im Fortschrittsbericht 2012 die ursprünglichen Ziele für das Jahr 2010 in das Jahr 2020
verschoben worden sind.
({2})
- Punktueller Applaus unterstützt diese Aussage. - Da
hilft es aus unserer Sicht wenig, dass wir uns bemühen,
hier die Strategie „Europa 2020“ heranzuziehen. Gerade
diese beiden Indikatoren sind, was den Bildungsbereich
angeht, aus unserer Sicht von elementarer Bedeutung.
An dieser Stelle möchte ich ein kleines Lob, das sich
auf ein anderes Politikfeld bezieht, aussprechen. Wenn
man im Bereich Bildung und Forschung so erfolgreich
ist wie diese Bundesregierung, dann muss man auch die
Konsequenzen ziehen. Das heißt, dass wir die Ziele der
Nachhaltigkeit auch im Bildungsbereich verändern müssen. Wir haben 12 Milliarden Euro mehr für Bildung und
Forschung ausgegeben. Solche Veränderungen müssen
sich im Bildungsbereich deutlich widerspiegeln. Insofern kann man, wie ich glaube, auch etwas mehr verlangen.
Lassen Sie mich abschließend auf einen Indikator eingehen, der uns sicherlich auch in den kommenden Jahren
intensiv beschäftigen wird: auf die Flächeninanspruchnahme bzw. den - so heißt der Indikator - „Anstieg der
Siedlungs- und Verkehrsflächen“. Der Zuwachs an Siedlungs- und Verkehrsflächen lag im Jahr 2010 bei
87 Hektar pro Tag; der Trend hat sich also erkennbar abgeschwächt. Aber ich erinnere daran: Das angestrebte
Ziel war ursprünglich ein Zuwachs um 30 Hektar pro
Tag. Daran muss weiterhin ambitioniert gearbeitet werden. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert, die
Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, stärker
zu nutzen.
({3})
Zum Schluss des kleinen Geburtstages bzw. des zehnjährigen Bestehens der Nachhaltigkeitsstrategie möchte
ich einen Dank an die Kolleginnen und Kollegen aussprechen. Wir haben es in mehreren doch sehr diskussionswürdigen Runden gemeinsam geschafft, das zu formulieren, was uns wichtig ist. Die Kolleginnen und
Kollegen haben über den Tellerrand hinaus geschaut und
die Farbenlehre außer Acht gelassen, um die Nachhaltigkeitsstrategie langfristig weiterzuentwickeln.
({4})
Dieser Dank gilt nicht nur den Kolleginnen und Kollegen, sondern auch - ich möchte an dieser Stelle betonen,
dass viel Vorarbeit geleistet wurde - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Außerdem - auch das erfreut
uns - gibt es kein einziges Sondervotum. Auch das bestärkt uns in dem Bemühen, weiterhin gemeinsam in diesem Beirat zu arbeiten.
Herzlichen Dank.
({5})
Die Kollegin Ulrike Gottschalck hat nun für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dem, was Herr Weinberg ausgeführt hat, kann
ich mich in vielen Bereichen anschließen.
Aber ich frage mich immer wieder - wahrscheinlich
geht es Ihnen ähnlich -: Fortschritt und nachhaltiges
Handeln, nehmen wir das eigentlich ernst genug?
({0})
Ich habe den Eindruck, dass Nachhaltigkeit mittlerweile
eine reine Worthülse ist und als inhaltsarmes Schlagwort
benutzt wird.
Unter einem Fortschrittsbericht kann sich der und die
Einzelne dementsprechend ziemlich viel oder eben
ziemlich wenig vorstellen. Positiv ist festzustellen, dass
wir seit rund zehn Jahren überhaupt eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie haben und diese regelmäßig fortschreiben. Positiv ist auch, dass das wichtige Thema
Nachhaltigkeit - mit all seinen Facetten: von Generationengerechtigkeit über Umwelt und Lebensqualität bis
hin zum sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft - heute auf der Tagesordnung steht. Gut ist so ein
Bericht auch, weil wir immer wieder kritisch hinterfragen müssen, welche Fortschritte es in der nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie gibt oder welche es nicht gibt.
Ein Zurücklehnen darf es nicht geben - das sind wir
schon den zukünftigen Generationen schuldig.
({1})
Dank des Statistischen Bundesamtes können wir Erfolge
oder - leider auch - Versagen der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie anhand von Indikatoren, die sehr plakativ,
nämlich durch Wettersymbole, dargestellt werden, messen und bewerten.
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat den Bericht rund ein halbes Jahr gründlich geprüft. Herr Weinberg hat es eben schon gesagt: Die Berichterstatterinnen und Berichterstatter haben teilweise
Stunden um einzelne Worte gerungen, um einen parteiübergreifenden Konsens zu erzielen.
Auch von meiner Seite geht deshalb ein großer Dank
an die Kolleginnen und Kollegen, aber auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; denn das war schon ein
Stückchen Arbeit. Wir haben das sehr ernst genommen,
und ich denke, der Bericht ist uns gut gelungen.
({2})
Mit unserer Unterrichtung geben wir der Bundesregierung wertvolle Hinweise. Wir erwarten, dass auf Regierungsseite nicht nur schöne Worte, sondern auch Taten folgen.
({3})
Aus unserer Sicht ist es beispielsweise wenig nachhaltig, Zielwerte für Indikatoren nach unten zu korrigieren. Auch da gebe ich meinem Vorredner recht: Wir
brauchen für Deutschland ambitionierte Ziele.
({4})
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich insbesondere um diejenigen Bereiche zu kümmern, bei denen
nachweislich Gewitterstimmung herrscht. Als Beispiele
seien hier die Artenvielfalt, die Landschaftsqualität, die
Intensität des Gütertransports und der Verdienstabstand
zwischen Männern und Frauen in unserem Land genannt. Es ist ein Skandal, dass Frauen immer noch
23 Prozent weniger Lohn erhalten. Das können wir uns
zukünftig nicht mehr erlauben.
({5})
Weiterhin erwarten wir - da besteht überparteilich
Einstimmigkeit -, dass das Megathema „demografischer
Wandel“, das uns in der Zukunft sehr beschäftigen wird,
im nächsten Fortschrittsbericht mehr Beachtung findet.
Des Weiteren wünschen wir uns und erwarten wir,
dass alle Ministerien ihre Gesetzesinitiativen ernsthaft
auf Nachhaltigkeit prüfen. Der Vorsitzende unseres Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung
schreibt die Ministerien regelmäßig an und reklamiert
auch einmal. Er wird mir sicherlich recht geben, dass es
in einigen Ministerien, vorsichtig formuliert, durchaus
noch Optimierungsmöglichkeiten gibt.
({6})
Überparteilich ist es uns außerdem ein großes Anliegen, dass es beim Thema Nachhaltigkeit endlich zu einer
besseren Verzahnung zwischen Bund und Ländern
kommt.
Der Beirat richtet sein Augenmerk aber auch auf die
Zivilgesellschaft und die Unternehmen. So sollen die
Verbraucherinnen und Verbraucher immer wissen, wie
es mit der Nachhaltigkeit in den Produktions- und Lieferketten ihres Wunschartikels aussieht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Fortschritt
und Nachhaltigkeit dürfen nicht zu schönen Worthülsen
verkommen. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass
zukünftig noch mehr Trends in Richtung Sonne zeigen.
Dazu muss die Bundesregierung den Fortschrittsbericht
ernst nehmen. Vielleicht müsste er auch hier etwas besser auf der Tagesordnung platziert werden - wobei das
immer schwierig ist; das wissen wir alle.
Wir alle müssen jenseits von Allgemeinplätzen überparteilich an einer zukunftsfesten Ausgestaltung nachhaltiger Politik für die Menschen in Deutschland arbeiten.
({7})
Das erhoffe und wünsche ich mir, und ich gehe davon
aus, dass wir in diesem Punkt jedenfalls in dieser Runde,
die heute Abend hier vertreten ist, auch einen Konsens
haben.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael
Kauch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
gab es in der Presse eine positive Nachricht: Zum ersten
Mal seit 2007 gab es im letzten Jahr wieder einen Überschuss in den öffentlichen Kassen in Deutschland. Das
zeigt, dass der Indikator, der in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie noch mit Wolken dargestellt wurde, aufgrund der sehr positiven Wirtschafts- und Finanzpolitik
dieser Bundesregierung inzwischen auf einem richtigen
und guten Weg ist.
({0})
Durch die Überschüsse in den Sozialversicherungen
wurde die Mangelverwaltung abgelöst. Die Pflegeversicherung wurde durch die private Vorsorge zukunftsfähiger gemacht. Und die Energiewende ist auf einem guten
Weg. Der Fortschrittsbericht weist für die erneuerbaren
Energien noch einen Anteil von 17 Prozent an der
Stromerzeugung aus; inzwischen sind wir bei etwa einem Viertel Ökostrom. Bei der Energiewende kommen
wir ebenso voran wie beim Klimaschutz, wo wir im Jahr
2010 die in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie gesetzten Ziele übertroffen haben.
Das sind positive Beispiele für die nachhaltige Entwicklung in Deutschland in dieser Wahlperiode.
({1})
Es gibt aber eben auch negative Punkte, denen wir
uns in nächster Zeit verstärkt widmen müssen.
Ein Thema ist die schon angesprochene Flächeninanspruchnahme. Wir diskutieren seit Jahren darüber, eigentlich seitdem es diese Nachhaltigkeitsstrategie gibt.
Bewegt hat sich aber eigentlich nichts; das muss man
ganz deutlich sagen.
({2})
Es gibt Schwankungen, aber die sind nur konjunkturell
bedingt.
Das hängt auch damit zusammen, dass wir uns bisher
parteiübergreifend gescheut haben, hier über die Grenzen der staatlichen Ebenen hinweg - Kommunen, Länder und Bund - wirklich ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Bei der Flächeninanspruchnahme werden wir aber
nur dann erfolgreich sein, wenn Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten und es eben nicht einen Wettbewerb der einen Kommune mit der nächsten um noch
ein Gewerbegebiet gibt, das brachliegt, nachdem alles
planiert worden ist. Dieser Entwicklung müssen wir uns
in der nächsten Wahlperiode widmen.
({3})
Ein weiteres Thema, bei dem ich große Sorgen habe,
ist die Entwicklung des Indikators zur Artenvielfalt. Das
betrifft sowohl die weltweite Entwicklung als auch die
Entwicklung in Europa und in Deutschland. Wir haben
in den vergangenen Jahren für erste Ansatzpunkte gesorgt, indem wir das Bundesprogramm „Biologische
Vielfalt“ aufgelegt und das Bundesprogramm zur Wiedervernetzung von Lebensräumen gestartet haben, um
die Zerschneidung von Lebensräumen zu verringern.
({4})
Das ist aber offenkundig noch nicht genug. Deshalb
müssen wir auf diesem Weg weitermachen - genauso
wie in der Fischereipolitik. Für die Reform in diesem
Bereich hat der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend ein sehr positives Inputpapier in Europa geliefert.
Das ist aber noch lange nicht das Ende der Fahnenstange
in diesem Politikbereich.
({5})
Ebenfalls verbesserungsfähig ist der Bereich Gesundheitsprävention. Das erkennt man, wenn man sich den
Indikator in Bezug auf Menschen mit Fettleibigkeit ansieht. Fortschritte gibt es dagegen beim Indikator, der die
Raucherquote abbildet. In den Bereichen Ernährung und
Bewegung haben wir die Trendwende zu einem längeren
gesunden Leben aber offensichtlich noch nicht geschafft.
({6})
Generell positiv ist - hier möchte ich die Bundesregierung ausdrücklich loben -, dass diese Bundesregierung nach zweimaligem Anmahnen des Indikators endlich dem Drängen des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung nachgekommen ist, indem der
Indikator für die Kriminalität so umgestaltet wurde, dass
er jetzt tatsächlich nicht mehr nur die Eigentumsdelikte,
sondern eine größere Palette von Straftaten abbildet. Ich
glaube, so ist es eher ein Indikator für wirklichen gesellschaftlichen Zusammenhalt im Bereich der inneren Sicherheit.
({7})
Ich möchte eine deutliche Kritik auch an diesem Haus
selbst äußern.
({8})
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir eine
Generationenbilanzierung in die Nachhaltigkeitsprüfung für die jeweilige Gesetzesfolgenabschätzung einführen wollen. Dies ist bisher zwar vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung unterstützt
worden, aber es gibt dafür bisher noch keine Mehrheit
im Deutschen Bundestag. Ich glaube, es ist an der Zeit,
die noch verbleibenden Monate dieser Wahlperiode zu
nutzen, um dieses Projekt endlich in die Praxis umzusetzen. Ja, es kostet etwas Geld für Personal hier im Parlament; ja, es kann das eine oder andere Vorhaben etwas
verzögern; aber wir gewinnen erheblich an Transparenz
bei den Dingen, über die wir hier entscheiden, wenn wir
dieses Instrument für die Fragen der Finanz- und Sozialpolitik endlich einführen würden. Das wäre ein Fortschritt, den wir uns auch etwas kosten lassen sollten.
({9})
Meine Damen und Herren, die Nachhaltigkeitsprüfung durch die Bundesregierung, aber auch durch den
Bundestag ist oft doch sehr formalistisch. Wir schauen,
ob das Ministerium etwas zur Nachhaltigkeit gesagt hat;
aber es gibt einige Häuser, bei denen man den Eindruck
hat, dass dort immer die gleichen Textbausteine in die
Gesetzesfolgenabschätzung hineingeschrieben werden
und man sich nicht wirklich damit beschäftigt hat.
Ich glaube, wir sollten in der nächsten Wahlperiode
dazu kommen, dass wir im Parlament nicht nur die formelle Nachhaltigkeitsprüfung diskutieren, sondern auch
die Inhalte,
({10})
und dass sich die Fachausschüsse auch mehr mit den Ergebnissen dieser Nachhaltigkeitsprüfung beschäftigen.
Abschließend möchte ich aber auch einige positive
Beispiele im Bereich der Nachhaltigkeitsprüfung hervorheben. Das Bundesumweltministerium ist inzwischen,
glaube ich, bei fast allen Vorhaben mit der Nachhaltigkeitsprüfung so umgegangen, dass wir hier auch substanziell etwas erkennen können. Die Bundesjustizministerin hat jetzt auf unsere Kritik hin im Haus eine
abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe eingesetzt, um
auch in einem Politikfeld, das vermeintlich nicht so nah
an der Nachhaltigkeitspolitik ist, die Nachhaltigkeitsprüfung zu verbessern. Das sollte auch für alle anderen Ressorts Ansporn sein.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Heidrun Dittrich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der heute zu beratende Fortschrittsbericht zur Nachhaltigkeitsstrategie kommt genau richtig, denn das Jahr
2013 ist das Jahr der Gebrüder Grimm: 200 Jahre Märchen.
({0})
Die Lektüre dieses Berichts ist zwar nicht so spannend wie die Märchen der Gebrüder Grimm; aber kaum
weniger märchenhaft ist doch die Zauberformel von der
Nachhaltigkeit. Wir leben in einer heilen Welt, möchte
man bei der Lektüre meinen.
({1})
Es geht um blumige Begriffe wie Generationengerechtigkeit, sozialer Zusammenhalt und internationale Verantwortung. Alles zusammengenommen sei das Ganze
dann Nachhaltigkeit, ein Verkaufsschlager für große Firmen auf internationalen Finanzmärkten.
So, wie Rotkäppchen durch den Wald ging, um auf
den bösen Wolf zu treffen, lassen Sie mich am Beispiel
des Waldes den Begriff erklären, der der SPD doch nicht
so klar war:
Nachhaltigkeit ist seit dem 18. Jh. als eine Regel
der Forstwirtschaft aufgekommen und bedeutet
hier, dass auf einer bestimmten Forstfläche dem
Wald in einem bestimmten Zeitraum nicht mehr
Holz entnommen werden darf, als gleichzeitig
nachwächst. … Seit dem Bericht der BrundtlandKommission der UN von 1987 wird der Begriff
Nachhaltigkeit zur Kennzeichnung einer gesellschaftlichen Entwicklung gebraucht,
- das ist auch die Grundlage dieses Berichtes in der - weltweit - den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generationen Rechnung getragen wird, ohne
die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden,
ihren eigenen Bedürfnissen zu entsprechen.
Das können Sie bei Professor Karl Hermann Tjaden,
Ökonomieprofessor in Kassel, nachlesen.
Die Bundesregierung feiert den Höchststand der Beschäftigung mit 41,5 Millionen Menschen - das haben
wir gerade gehört - als nachhaltige Teilhabe. Aber die
prekär Beschäftigten sind trotz Arbeit arm. Das ist nicht
die Nachhaltigkeit, die wir meinen.
({2})
Oder nehmen wir den Maßstab der internationalen
Verantwortung in dem Bericht. Dafür, dass die Unternehmen in Deutschland mit Dumpinglöhnen und Exportüberschuss die Wirtschaft schwächerer Länder in den
Ruin treiben, brauchen wir nicht nach Afrika zu schauen.
Dafür reicht ein kurzer Blick nach Griechenland und
Spanien.
Wer hat die Agenda 2010 erfunden? SPD und Grüne.
Wer setzt sie nachhaltig fort? CDU/CSU und FDP.
({3})
Nachhaltigkeit ist in diesem Wirtschaftssystem mit immer mehr Profit und mit immer mehr Waren in kurzer
Zeit nicht möglich.
({4})
Die Zwecke der Produktion sind vom Gewinnstreben einer kleinen uneinsichtigen Minderheit, den Kapitaleignern, gesetzt.
({5})
Die großen Unternehmen diktieren mit den Finanzhaien,
was, wie viel und für wen hergestellt wird. Oberstes Ziel
- das ist nicht zu vergessen - ist mehr Gewinn. Das Wissen der Umweltinitiativen und aktiven Bürger geht nur
über Proteste in die Köpfe, aber die Anerkennung in der
Gesellschaft hat nicht zu einer vernünftigen Umsetzung
geführt. Der Mensch existiert als belebter Teil der Natur,
und die Erde ist endlich. Wird mit dieser Produktionsweise die Umwelt zerstört, so zerstören die Kapitalbesitzer damit auch die Grundlagen des Lebens für Menschen
und Tiere.
({6})
Eine Form der nachhaltigen Entwicklung, nämlich
Frieden, ist in diesem Bericht von 250 Seiten in wenigen
Sätzen zusammengefasst: Die Bundesregierung erkennt
an, dass Entwicklung nur in Frieden möglich ist. Sie garantiert globale Sicherheit. - In wessen Interesse sichert
eigentlich die Bundeswehr globale Sicherheit in Afghanistan?
({7})
Im Krieg werden Menschen getötet, unwiderruflich,
Häuser und Denkmäler zerstört, Wasserleitungen beschädigt. Gasleitungen explodieren, Epidemien brechen
aus, und die Kinder- und Müttersterblichkeit wächst.
Das ist das schlimmste Ergebnis dieser Wirtschaftsweise, die sowohl an Rüstung als auch am Kriegseinsatz
verdient.
Atomkraftwerke wurden zur Herstellung von Atomwaffen entwickelt. Es liegt im öffentlichen Interesse, die
Stilllegung der Atomkraftwerke zu betreiben, ihren
Rückbau einzuleiten und jetzt die jahrtausendelange
rückholbare Lagerung unter der Kontrolle der Bevölkerung zu beginnen. Dieses Beispiel soll zeigen, wie viel
Altlasten Sie zukünftigen Generationen aufbürden. Das
ist nicht nachhaltig.
Wenn es die Bundesregierung ernst meint, kann sie es
beweisen: Geben Sie Gorleben als Endlagerstandort in
Niedersachsen auf! Bezahlen sollen die Lagerung von
Atommüll die Profiteure der Atomenergie und nicht die
Allgemeinheit.
({8})
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Also, auf diese Rede muss ich erst einmal einen Schluck
Wasser nehmen.
({0})
Es ist doch schon erstaunlich, welche Schlüsse man ziehen kann, wenn man in den ganzen Debatten nicht dabei
war.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mit einer Frage beginnen - über die Details des Berichtes haben ja die Vorrednerinnen und Vorredner schon eine
ganze Menge gesagt -: Sind Wachstum und Nachhaltigkeit ein Widerspruch? Ob ja oder nein, damit befasst sich
seit zwei Jahren eine Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag. Erst am Montag wurde dort das Ergebnis der entsprechenden Projektgruppe vorgestellt, besser
gesagt: zwei unterschiedliche Ergebnisse. Koalition und
Opposition konnten sich nicht einigen und legten jeweils
eigene Berichte vor. Beide sind sich immerhin einig,
dass Wachstum kein Ziel ist, sondern bestenfalls ein
Mittel zum Zweck. Das ist in dieser Enquete-Kommission erreicht worden.
({2})
Beim Zweck aber scheiden sich die Geister. Die Koalitionsfraktionen setzen auf Innovationen, um ein angemessenes Wirtschaftswachstum beizubehalten. Vor allem das müsse man im Fokus behalten, anderenfalls
würde der materielle Wohlstand leiden. Für andere
- dazu gehört meine Fraktion - steht im Vordergrund,
wie man beim Wirtschaften die Grenzen der Erde respektieren und alle am Wohlstandskuchen teilhaben lassen kann.
Für manchen von Ihnen hört sich das ähnlich an. Aber
dahinter verbergen sich riesengroße Unterschiede. Der
materielle Wohlstand ist zwar eine wichtige Säule der
Menschheit, aber er ist nicht alles, gerade wenn wir damit unsere Lebensgrundlagen zerstören. Das kapieren
mittlerweile immer mehr Menschen, und das nicht nur in
den entwickelten Ländern. Ein Blick nach China diese
Woche reicht, um den Wachstumswahn anhand des katastrophalen Smogs in Peking greifen zu können.
Deshalb - lassen Sie mich zu meiner Eingangsfrage
zurückkehren - sollten wir den Schwerpunkt nicht mehr
allein auf das Wachsen legen, sondern auf das Thema
Nachhaltigkeit. Warum?
({3})
Erstens. Es ist kein Gewinn für die Gesellschaft,
wenn sie auf Kosten der Umwelt und menschlichen Integrität wächst. Die Beseitigung der Schäden kurbelt zwar
die Konjunktur an, aber das mehrt nicht den Wohlstand,
sondern es hilft maximal, ihn wiederherzustellen.
Zweitens. Materieller Wohlstand ist nicht alles. Wer
mehr als einen Vollzeitjob benötigt, um überleben zu
können, hat keine Zeit mehr für die Pflege sozialer Beziehungen. Wieder andere fallen aus dem System heraus,
weil sie mit dem beschleunigten Rhythmus nicht mehr
mithalten können.
Man könnte hier noch lange fortfahren, und am Ende
stellt sich durchaus die Systemfrage. Diese lässt sich
meiner Ansicht nach nur mit einer nachhaltigen Lebensund Wirtschaftsweise - und zwar durch jeden einzelnen
Erdenbürger, durch jeden von uns - beantworten.
Damit sind wir bei der Nachhaltigkeitsstrategie angelangt, die jetzt zehn Jahre alt ist. Sie enthält konkrete
Ziele, zum Beispiel die Ressourceneffizienz bis 2020 zu
verdoppeln, die Treibhausgase bis 2050 um 80 bis
95 Prozent zu senken und die Artenvielfalt zu stärken,
aber auch Ziele im sozialen Bereich wie in den Bereichen Bildung, Beschäftigung und Gesundheit, im ökonomischen Bereich die Senkung der Staatsschulden und im
internationalen Bereich die Entwicklungszusammenarbeit.
Darauf will ich heute nicht im Einzelnen eingehen.
Die Ziele können Sie im Fortschrittsbericht 2012 nachlesen, und sie sind auch schon von Kolleginnen und Kollegen angesprochen worden. Lesen Sie dann bitte auch die
Kritik dazu, die wir im Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung gemeinschaftlich erarbeitet haben! Beide Dokumente sind heute Gegenstand der Debatte.
Vielmehr will ich daran erinnern, dass die Nachhaltigkeitsziele ihren Ursprung im Erdgipfel von Rio 1992 haben. Sie sind weltweit Konsens, wenn auch weltweit
konkrete zahlenmäßige Ziele noch nicht festgelegt sind.
Dazu hat der Jubiläumsgipfel im vergangenen Jahr endlich seinen Mitgliedstaaten einen konkreten Auftrag erteilt.
Werte Zuhörerinnen und Zuhörer, wo stehen wir denn
heute in Deutschland wirklich? Wir sind gut gestartet
mit lokalen Agenda-21-Gruppen und der Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes im Jahr 2002. Und wo sind wir
gelandet?
Wie gerade der Streit in der Enquete-Kommission gezeigt hat, ist die Einsicht noch nicht bei allen Handelnden in der Politik angekommen. Darum helfen Sie uns
durch Ihr Handeln, auf die richtige Bahn zu gelangen:
Setzen Sie sich für eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise ein! Denken Sie bei Ihrem Konsum an die
Grenzen der Erde! Brauche ich jetzt schon wieder ein
neues Handy, nur weil der Vertrag abgelaufen ist? Oder
leiste ich mir stattdessen gesunde Lebensmittel?
Kollegin Wilms, achten Sie darauf, dass die Zeitressourcen erschöpft sind?
({0})
Herzlichen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin.
Ich war gerade beim letzten Satz. Sie haben es haargenau abgepasst. - In diesem Sinne würde ich mich freuen,
wenn wir weiter in diese Richtung gehen können.
Vielen Dank, dass Sie mir die Aufmerksamkeit geschenkt haben.
({0})
Der Kollege Andreas Jung hat für die Unionsfraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Rede der Kollegin Dittrich, die, wie ich im Übrigen
finde, Frau Kollegin, nicht nur, weil Sie die Gebrüder
Grimm zitiert haben, etwas sehr grimmig ausgefallen ist,
sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung über
alle Fraktionen hinweg ein sehr gutes Einvernehmen haben.
({0})
Im Übrigen, Frau Kollegin, hat auch Ihre Fraktion unserer gemeinsamen Stellungnahme zugestimmt. Sie ist
mit den Stimmen aller Kolleginnen und Kollegen aller
Fraktionen verabschiedet worden. Ich finde, dass sich
das im Ergebnis und in der Arbeitsweise wohltuend von
dem unterscheidet, wie sonst sehr häufig in diesem
Haus, auch in den Ausschüssen, in der Aufspaltung zwischen Regierung und Opposition gearbeitet wird.
({1})
Ich finde, das ist etwas, worauf wir gemeinsam stolz sein
können. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen Kolleginnen und Kollegen für die Zusammenarbeit und die
investierte Arbeit zu danken. Ich möchte dabei
ausdrücklich unsere Referenten und Mitarbeiter einbeziehen.
({2})
Die vorliegende Unterrichtung ist vor allen Dingen
- sonst hätten wir kein Einvernehmen erzielt - weit entfernt von Schönfärberei. Zur Wahrheit gehört: Ja, es gibt
Bereiche, in denen wir gut vorankommen und es Licht
gibt. Aber es gibt auch Bereiche, in denen es noch zu
viel Schatten gibt. Ich will zunächst auf das eingehen,
was aus unserer Sicht gut ist. Fortschritt bedeutet laut
Andreas Jung ({3})
Duden die positiv bewertete Entwicklung einer Sache. In
weiten Teilen gibt es eine solche Entwicklung im Bereich der Nachhaltigkeit, insbesondere was Strukturfragen, Nachhaltigkeitsmanagement, die Ansiedlung der
Nachhaltigkeitspolitik im Bundeskanzleramt und deren
Behandlung im Bundeskanzleramt, die Einbeziehung
unabhängigen Sachverstands durch den Rat für nachhaltige Entwicklung sowie nicht zuletzt den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung selbst betrifft.
Dieses Gremium ist aus dem Gefüge des Parlaments
nicht mehr wegzudenken. Wir sind als Aufpasser für
Nachhaltigkeit in unserer Wachhundfunktion in der Gesetzgebung gestärkt. Jetzt muss endlich die Konsequenz
daraus gezogen werden. Der Parlamentarische Beirat für
nachhaltige Entwicklung muss in der Geschäftsordnung
des Deutschen Bundestages verankert werden.
({4})
Damit muss der Notwendigkeit langfristigen Denkens
und Handelns, auch was die Behandlung der Nachhaltigkeit im Parlament angeht, Rechnung getragen werden.
Der Bundestag muss zeigen: Nachhaltigkeit ist kein
Modethema, sondern ist Daueraufgabe für eine verantwortungsvolle Politik.
({5})
Es gibt manche Bereiche, in denen es besser werden
muss. Die Frau Kollegin Gottschalck und der Kollege
Michael Kauch haben darauf hingewiesen, dass es bei
der Nachhaltigkeitsprüfung der Bundesregierung in der
Gesetzesfolgenabschätzung Unterschiede zwischen den
Ministerien gibt. In einigen Ministerien wie dem
Bundesumweltministerium funktioniert sie schon sehr
gut. Aber es gibt andere, die noch besser werden können.
Wir arbeiten hartnäckig daran. Politik bedeutet auch hier
das Bohren dicker Bretter. Wir stellen allerdings fest,
dass sich unsere Arbeit schon ausgezahlt hat, dass die
Ministerien sehr viel besser und verantwortungsvoller
mit dieser Aufgabe umgehen. Wir werden hier - Frau
Dr. Wilms hat das gerade plastisch geschildert - weiter
bohren und dranbleiben.
Ein weiterer Punkt, der schon thematisiert wurde, ist
die Verzahnung der Nachhaltigkeitspolitik über verschiedene Ebenen - Europäische Union sowie Bund,
Länder und Kommunen - hinweg. Hier gibt es noch viel
zu tun. Wir stellen fest, dass hier Nachholbedarf besteht
und es Kritikpunkte gibt. Wir haben in unserer auswärtigen Sitzung in Brüssel gegenüber der EU-Kommission
gemeinsam deutlich gemacht, dass es so, wie es geplant
ist, nicht umgesetzt werden kann. Nachhaltigkeit soll
nämlich nicht - entgegen unserem gemeinsamen Verständnis - das Fundament sein, auf dem alle anderen
Fachpolitikbereiche fußen, sondern nur noch ein kleiner
Ableger der Strategie 2020 sein. Das kann nicht richtig
sein. Wir sind froh, dass uns die Bundesregierung unterstützt. Wir hoffen, gemeinsam in Europa zu verhindern,
dass hier Rückschritte gemacht werden. Wir brauchen
Fortschritte. Da ist auch die EU in der Pflicht.
({6})
Auch die Zusammenarbeit mit den Ländern muss verbessert werden. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf
andere zu zeigen. Aber die Abstimmung muss verbessert
werden; sonst erreichen wir nicht eine Nachhaltigkeitspolitik aus einem Guss. Es ist notwendig, dass Indikatoren abgestimmt werden und dass vergleichbare Gremien
als Ansprechpartner geschaffen werden. Man muss in
den wichtigen Bereichen zusammenkommen. Angesichts der mir verbleibenden Redezeit will ich nur die
nachhaltige Mobilität als Beispiel nennen. Wir alle sind
uns einig, dass hier etwas passieren muss. Wir haben im
Bundestag ein Gesetz zur Förderung der Elektromobilität beschlossen, das eine Befreiung von der Kfz-Steuer
und eine Besserstellung von Dienstwagen vorsieht,
wenn sie ökologisch und nachhaltig sind. Dieses Gesetz
halten wir alle eigentlich für richtig. Es wird in der
Sache auch nicht von den Ländern kritisiert. Aber es
wird jetzt aus anderen Motiven blockiert, die nichts damit zu tun haben. Mit Blick auf dieses Beispiel sage ich:
Da müssen wir alle besser zusammenarbeiten. Da sind
auch die Länder in der Verantwortung. Wir nehmen
diese Verantwortung gemeinsam im Parlamentarischen
Beirat für nachhaltige Entwicklung wahr, und wir
werden weiterhin gemeinsam dafür eintreten. Das Einvernehmen, die Gemeinsamkeit über Fraktionsgrenzen
hinweg, die wir hier haben, machen ein Stück weit
unsere Stärke aus. Insofern können wir immer wieder
Wichtiges bewegen. Ich freue mich auf die weitere
Arbeit.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/11670 und 17/8721 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Privat Versicherte solidarisch versichern Private Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen
- Drucksache 17/10119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zuhörerinnen und Zuhörer sind leider keine mehr da. ({0})
Kein vergleichbares Land auf der Welt hat ein so unsinniges Nebeneinander von gesetzlicher und privater
Krankenversicherung wie Deutschland.
({1})
Bei uns werden die Menschen in die beiden unterschiedlichen Systeme mehr oder minder aufgrund des beruflichen Status eingeteilt; historisch ist das weitgehend
überholt. Wer selbstständig ist, Beamter, gut verdienender Angestellter oder Berufspolitiker, zudem noch jung
und gesund, der kommt in die private Krankenversicherung, alle anderen müssen in die gesetzliche. Dieses
Nebeneinander ist ein Ärgernis. Es ist ein Symbol für die
Zweiklassenmedizin in Deutschland, die wir nicht
wollen.
({2})
Damit stehen wir allerdings schon lange nicht mehr
allein. Der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse hat vor kurzem umstandslos festgestellt:
Die PKV passt nicht in unser System. Wir sollten
sie abschaffen.
({3})
Sogar der Kollege Jens Spahn hält die Trennung für
„nicht mehr zeitgemäß“ und stellt laut Presse die Systemfrage.
({4})
Welchen Grund gibt es, von Menschen mit gleichem
Einkommen unterschiedliche Beiträge zu verlangen?
Welchen Grund gibt es, Menschen mit der gleichen
Krankheit, mit der gleichen Diagnose, die beim selben
Arzt in Behandlung sind, verschieden zu behandeln? Ich
rede hier nicht von schlechter oder besser. Die Annahme,
die auch in der Bevölkerung weit verbreitet ist, als Privatpatient werde man automatisch besser behandelt, ist
zumindest sehr zweifelhaft. Richtig ist: Man bekommt
schneller einen Termin beim Facharzt. Richtig ist: Man
hat womöglich eigene Wartezonen. Richtig ist: Man
bekommt vielleicht einen Kaffee. Aber man wird zweifellos häufiger und teurer behandelt, weil mehr Geld zu
verdienen ist. Das ist nicht nur schädlich für das Portemonnaie, das kann auch durchaus der Gesundheit
abträglich sein, weil letztlich auch Fragwürdiges abgerechnet werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Privatversicherter kann seinen Versicherungsvertrag in allen Einzelheiten verstehen. Häufig tun das noch nicht einmal
diejenigen, die diese Verträge vermitteln: die Versicherungsmakler.
({5})
Die Konstruktionen und Kalkulationen der Tarife werden auch nicht offengelegt. Es gibt Unbekannte in der
Kalkulation, zum Beispiel die Zinsentwicklung. Warum
ist das wichtig? Einen Teil der Beiträge junger Versicherter nutzt das Versicherungsunternehmen, um Rückstellungen zu bilden, wenn die Versicherten alt sind. Die
Zinserträge hieraus entscheiden auch über die Höhe der
Beiträge. Bei einem dauerhaft niedrigen Zinssatz, wie
wir ihn derzeit haben, ist die direkte Folge: Die Beiträge
steigen. Selbst wenn die Zinsen über die gesamte
Vertragslaufzeit hoch genug wären: Weder steigende
Gesundheitskosten noch die Inflation sind ausreichend
in diese Berechnungen eingepreist.
({6})
Die Folge: Die Beiträge, vor allen Dingen für ältere
Privatversicherte, gehen „durch die Decke“.
Dann zeigt sich, dass „Hier die gesetzliche Krankenversicherung, die als bürokratische Staatsmedizin daherkommt, und dort die private Krankenversicherung als innovative wettbewerbsorientierte Alternative“ schlicht
ein Märchen ist.
({7})
Versuchen Sie als Privatversicherter so ab 50 doch einmal, die Wettbewerbsfähigkeit zu testen und zu einer
anderen Versicherung zu wechseln. Welch böses Erwachen! Die Versicherungen verlangen eine Gesundheitsprüfung, und bei ehrlicher Beantwortung der Fragen
lehnen einige der Versicherungsunternehmen wegen
Vorerkrankung einfach die Versicherungsmöglichkeit ab,
andere wollen entsprechende Leistungsausschlüsse, und
wieder andere wollen Risikozuschläge erheben, die den
Beitragssatz noch weiter in die Höhe treiben. Oder es
wird angeboten, den Beitragssatz durch deutliche Erhöhung der Selbstbehalte stabil zu halten. Hier ist weit und
breit kein Wettbewerb. Es gibt nur einen Wettbewerb um
die Jungen und Gesunden. Wer schon länger dabei ist,
kann so gut wie nicht mehr wechseln und ist auf Gedeih
und Verderb einer Versicherung ausgeliefert. Das soll innovativer Wettbewerb sein? Für mich ist das eine Bankrotterklärung der privaten Krankenversicherung.
({8})
Jetzt wird wieder behauptet, die Linke mache eine
Politik gegen die Privatversicherten. Das ist falsch. Wir
wollen die bestmögliche gesundheitliche Versorgung für
alle Menschen in Deutschland. Das ist mit der Privatversicherung nicht möglich, dazu brauchen wir die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, in die alle Menschen
einbezogen sind.
({9})
Dann wird noch der Vorwurf kommen, das gehe verfassungsrechtlich nicht. Das haben die Konservativen in
der USA auch zu Obamas Gesundheitsreform gesagt.
Letztendlich hat dort der Oberste Gerichtshof Obama
aber zugestimmt. Es kommt also auf den Versuch an, den
die Linke wagen will.
({10})
Denn man kann mit Kurt Marti nur sagen:
Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir
hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir
kämen, wenn wir gingen!
Vielen Dank.
({11})
Die Kollegin Karin Maag hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Weinberg!
({0})
- Persönliche Wertschätzung ist vorhanden.
An der gesetzlichen Einheitsversicherung für alle haben sich schon die Kollegen der Grünen und der SPD
abgearbeitet. Schon deren Herangehensweise, lieber
Herr Weinberg, war juristisch bedenklich. Das sagen
nicht Sie oder ich, sondern das sagte bereits der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr
Papier, der darauf hingewiesen hat, dass genau diese
Modelle die Bürger in ihrer verfassungsrechtlich garantierten Handlungsfreiheit und die Versicherungsunternehmen in ihrer Berufsfreiheit einschränken.
({1})
- Aber, lieber Herr Weinberg, wir unterhalten uns jetzt
nicht juristisch, sondern wir gehen zu Ihrem Antrag.
Das, was Sie hier abgeliefert haben, ist dünn, ist schlecht
gemacht. Mit der Feinarbeit wollen Sie sich in Ihrem
Drang, jetzt umzuverteilen, auch gar nicht aufhalten. Sie
wollen die PKV als Vollversicherung schlicht sofort und
unmittelbar ganz abschaffen. Übergangsregelungen, die
die Kollegen der Grünen und der SPD als zentrales
Thema erkannt haben, brauchen Sie nicht. Die Beitragsbemessungsgrenze stört Sie; also muss sie weg. Vom
Äquivalenzprinzip haben Sie noch nie gehört oder das ist
Ihnen egal. Dann wollen Sie selbstverständlich alle Arten von Einkommen zum Beitrag heranziehen. Das war
auf jeden Fall schon für die Grünen und für die SPD ein
Thema. Das sieht man an den Volten, die sie geschlagen
haben. Spätestens da hätten Sie doch merken müssen,
dass es so platt nun einfach auch nicht geht.
Bei der SPD hat man zumindest den hohen Verwaltungsaufwand bei der Verbeitragung aller Einkommensarten und den vergleichsweisen geringen Ertrag daraus
erkannt. Die Grünen, jedenfalls soweit mir deren letztes
Modell bekannt ist, wollen wenigstens die Freibeträge
einräumen.
Bei der Beitragsbemessungsgrenze hat man ja dann
auch bemerkt - Sie wahrscheinlich nicht, Herr
Weinberg -, dass diese die Bezieher mittlerer Einkommen schützt und dass diese auch schützenswert sind,
weil sie die Hauptlast des Staates bereits tragen.
({2})
Die Grünen wollen deshalb nur in Grenzen erhöhen und
die Beiträge für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen verteuern. Die SPD sagt dann: „Okay, wir
verteuern nur für die Arbeitgeber.“ Da muss man sich
dann fragen, ob Sie von der SPD noch ernsthaft daran
glauben, dass dann irgendein Arbeitgeber auch nur noch
einen zusätzlichen Arbeitsplatz schafft; denn das würde
denen schlicht zu teuer werden.
Aber jetzt zurück zu Ihnen. 170 Milliarden Euro
Altersrückstellungen sind verfassungsrechtlich auch
über Art. 14 Grundgesetz geschützt. Das interessiert Sie
schlicht nicht. Das kann man aber nur dann verstehen,
wenn man Ihrem Verweis auf Ihren Antrag „Gesundheit
und Pflege solidarisch finanzieren“ folgt. Dort wird formuliert - das zitiere ich jetzt -:
Die Idee, heute für spätere Leistungen Geld zurückzulegen, führt in die Irre und hat nichts mit Generationengerechtigkeit zu tun.
({3})
Der demografische Wandel und die Diskussion der
letzten Jahre ist spurlos an Ihnen vorbeigegangen.
({4})
Da frage ich mich nur noch: Wo leben Sie denn eigentlich?
({5})
In Deutschland ist die Lebenswirklichkeit eine völlig
andere. Unser System ist nach wie vor eines der besten
der Welt. Das können wir uns von Ihnen nicht kaputtreden lassen. Wirklich jeder, der im Ausland einen Unfall erleidet oder krank wird, hat nur ein Interesse: Er
möchte zurück nach Deutschland, um sich behandeln zu
lassen.
({6})
Neun von zehn Versicherten sind mit den Wartezeiten
auf einen Arzttermin zufrieden. 90 Prozent der Menschen sind von der Freundlichkeit des Personals und der
Atmosphäre in der Praxis begeistert. Das sage übrigens
nicht ich, sondern das sagt das Wissenschaftliche Institut
der von Ihnen zitierten Techniker Krankenkasse.
Noch eines: Selbstverständlich, auch das System der
PKV - das haben wir erkannt; wir sind ja nicht blöd,
Herr Weinberg - hat Schwächen, und daran arbeiten wir.
({7})
Es ist doch sinnvoll, diese Schwächen aufzuarbeiten, das
heißt, das System zu stärken. Das ist unsere Aufgabe.
({8})
Wir bringen heute zum Beispiel Innovationen auch
schneller in die GKV. Ich nenne da die §§ 137 c und e
SGB V. Genau das, den schnellen Zugang zu Innovationen, stellt die PKV seit langem sicher, natürlich dann
auch für die Versicherten der GKV. Diese Innovationen
nützen allen.
Dann müssen Sie noch an Folgendes denken: 11 Prozent privat Versicherte sorgen im Durchschnitt für 25
Prozent der Honorare in einer Arztpraxis. Auch im niedergelassenen Bereich kommt das den gesetzlich Versicherten zugute.
Gerade die Länder mit einem Einheitssystem sind in
den letzten Jahren leider Gottes zur Rationierung übergegangen. Schon das wäre für mich ein Grund, das Einheitssystem abzulehnen. Ich erinnere Sie an Großbritannien.
({9})
Auch das Modell des einheitlichen Marktes in den Niederlanden - darüber haben wir ebenfalls schon gesprochen - krankt heute. Lesen Sie, was Fritz Beske in dieser
Woche geschrieben hat! Da sind die Themen deutlich
benannt.
Sie haben die schwarzen Schafe bei der PKV angeführt. Klar, es gibt solche PKVen, die die Tarife nicht
auskömmlich kalkulieren, die Provisionen jenseits des
Tolerierbaren gezahlt haben. Genau dort haben wir gehandelt.
({10})
Wir haben die Provisionen begrenzt.
({11})
Wir haben die PKVen daran erinnert, dass sie ihre Versicherungsnehmer darüber informieren müssen, dass die
Tarife gewechselt werden können. Wir haben den Ausgabenanstieg auch dort und nicht nur in der GKV begrenzt, etwa mit dem Privatklinikausgründungsverbot.
Darüber haben wir uns in diesem Hohen Hause wirklich
ausgiebig unterhalten.
Fazit aus meiner Sicht also: Der GKV die Konkurrenz
vom Leib zu halten, ist keine Lösung. Das macht das
System auf Dauer nicht tragfähig. Wenn Sie sich das
nächste Mal damit befassen, wäre ich Ihnen dankbar,
wenn Sie sich bei Ihren Anträgen etwas mehr Mühe geben würden.
Danke schön.
({12})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Karl
Lauterbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal: An der Diagnose des Systemfehlers, vorgetragen von Herrn Weinberg für die Linkspartei, ist nichts auszusetzen; sie ist im Prinzip richtig.
Das ist mittlerweile auch in der allgemeinen Bevölkerung, selbst bei einem großen Teil Ihrer Wähler, zunehmend die einhellige Meinung. Das wird für die Unionswähler wie für uns alle mittelfristig ein großes Problem
werden. Es ist ganz klar: Das System funktioniert in der
jetzigen Form nicht.
Wir haben eine ausgesprochene Zweiklassenmedizin.
Dies wird von kaum jemandem mehr bestritten. Es gibt
kaum jemanden, der mir ernsthaft bestreitet, dass wir
eine Zweiklassenmedizin haben. Es wird mittlerweile
auch kaum mehr bestritten, dass sie beiden Gruppen,
nämlich den gesetzlich Versicherten und den privat Versicherten, schadet. Es ist nicht so, dass die privat Versicherten allein gewinnen und die gesetzlich Versicherten
allein verlieren, sondern jeder verliert auf seine Art. Jeder verliert auf seine Weise, wenn man so will: Die gesetzlich Versicherten haben oft keinen Zugang zu Fachärzten, müssen warten und werden als Patienten zweiter
Klasse gesehen, empfinden sich auch so.
Die Patienten, die privat versichert sind, sind oft die
Versuchskaninchen des Systems. Sie werden mit Medikamenten behandelt, die noch nicht wissenschaftlich
ausreichend erprobt sind. Sie waren mehr vom VioxxProblem betroffen als die gesetzlich Versicherten. In der
Onkologie gibt es zahlreiche Antikörpertherapien, die
nicht evidenzbasiert sind, die bevorzugt bei privat Versicherten eingesetzt werden. Unilaterale Kniegelenksprothesen, die in der Regel nur fünf Jahre halten, werden bei
privat Versicherten bevorzugt eingesetzt. Das Gleiche
gilt für die sogenannte Überkronung des Hüftgelenkes,
ein Eingriff, der für denjenigen sozusagen lukrativ ist,
der ihn vornimmt, dessen Erfolg aber wissenschaftlich
überhaupt nicht gesichert ist. Die Protonentherapie wird
bei Privatpatienten vornehmlich genutzt, obwohl neuere
Studien keinen Vorteil zeigen. Jeder leidet für sich allein.
Beide Gruppen - privat wie gesetzlich Versicherte - sind
betroffen. Viele ältere Privatversicherte müssen ihre
Ansprüche zurückschrauben, weil sie mit dem Geld
nicht mehr klarkommen. Rentner zahlen 800, 900 Euro
Krankenversicherung, haben aber nur eine Rente von
1 500 Euro. Oft ist dabei die Armutsgrenze fast erreicht.
Das betrifft auch Geschiedene von Beamten sehr häufig.
Gesetzlich Versicherte dagegen sind besser geschützt. Es
gibt also eine Vielzahl von Problemen. Zu all dem hat
die FDP, wie wir gerade von Frau Maag gehört haben,
nichts beizutragen. Ich habe keinen einzigen Lösungsvorschlag gehört.
({0})
Damit werden Sie nicht durchkommen. Die Kritik an
den Vorschlägen der Linkspartei mag in dem ein oder
anderen Punkt berechtigt sein, aber Sie haben nichts anzubieten. Sind wir doch ehrlich. Im Bereich der privaten
Assekuranz sind Sie nichts anderes als eine kleine Klientelpartei, was man Ihnen immer vorwirft. Mehr ist von
der liberalen Tradition im Gesundheitssystem nicht
übrig geblieben.
({1})
- Diesen Kritikpunkt räume ich ein. Das ist in der Tat
richtig.
Die Lösung der Linkspartei, die vorgetragen wurde,
ist ebenfalls nicht allumfassend. Das muss man sagen.
Viele Dinge sind schlicht übergangen worden. So ist
zum Beispiel dem Antrag nicht zu entnehmen, ob die Altersrückstellungen überführt werden sollen oder nicht.
Das steht nicht im Antrag. Ich rate auch davon ab, dies
in den Antrag zu schreiben; denn diese Art der Enteignung ist verfassungsmäßig auf der Grundlage der uns
vorliegenden Gutachten schlicht und ergreifend nicht gedeckt. Ebenfalls ist es unklar, ob eine solche Überführung des Personals gedeckt ist. Es ist auch nicht klar, ob
in das Versicherungsfeld der Bürgerversicherung, wenn
sie eingeführt werden sollte, was wir verfolgen, die privaten Krankenversicherungen einen entsprechenden Zugang haben sollten. Ich halte die von der Linkspartei
vorgenommene Diagnose des Problems im Großen und
Ganzen für richtig. Mit dem Antrag springen Sie aber zu
kurz. Es fehlt ein Vorschlag, wie die Vergütung sein soll.
Was machen wir mit den Beamten? In Ihrem Antrag
steht nichts über die Beamten. Wie stellen Sie sich das
vor? Ist es verfassungskonform, auch die Beamten - ich
sage einmal - zwangszuüberführen? Wenn Sie das denken, hätte es im Antrag stehen müssen. Wir halten es für
nicht machbar. Es fehlt vieles. Somit glaube ich, dass das
ursprüngliche Modell, das Originalmodell der SPD nach
wie vor das einfachste und unbürokratischste Modell ist.
Es werden wieder paritätische Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern erhoben. Damit das System
demografisch abgefedert ist, wird der Steuerzuschuss
systematisch erhöht. Die Bürgerversicherung in einem
System, wo gleiche Honorare von gesetzlich wie privat
Versicherten bezahlt werden, beseitigt die Zweiklassenmedizin. Dann kann man den privat Versicherten den
Übergang in einem Jahr freiwillig erlauben. Wenn sie
wollen, wechseln sie in das Bürgerversicherungssystem,
sonst bleiben sie im privaten System. Wo liegt der Fehler, wenn sich jeder in einem Übergangsjahr selbst entscheiden kann, wenn es keine Zweiklassenmedizin mehr
gibt? Das ist viel unbürokratischer und gerechter, als
wenn das private System - ich sage einmal - in die Knie
gezwungen wird. Wieso soll ich diesen Arbeitgebern
nicht die Möglichkeit geben, die Bürgerversicherung
selbst anzubieten?
(Zuruf der Abg. Stefanie Vogelsang ({2})
Ein solches System hätte darüber hinaus auch den
Vorteil, dass es in der Bevölkerung anerkannt ist. In der
Bevölkerung wird zwar eine Lösung des Systemproblems gewünscht, aber kein Zwang. Jeder kann sich
innerhalb eines Jahres entscheiden. Die Neumitglieder
gehen alle in das neue Versicherungssystem der Bürgerversicherung. Die Altmitglieder können sich entscheiden, ob sie in der Bürgerversicherung zu Hause sind
oder ob sie in der PKV verbleiben. Ich sage Ihnen voraus: Die allermeisten werden sich für den Wechsel in
die Bürgerversicherung entscheiden. Diejenigen, die das
nicht tun, treffen diese Wahl in freier Entscheidung.
Die Altersrückstellungen - das hören wir von der
FDP immer wieder ({3})
sind auskömmlich. Von daher wird das als Substanz reichen. Niemand soll zu seinem Glück in einer Bürgerversicherung gezwungen werden, die ein unbürokratisches
System darstellt, das gerecht ist, ohne Zweiklassenmedizin, bei gleichen Honoraren für alle Beteiligten, das begleitet wird durch eine Strukturreform, die ihren Namen
auch verdient, mit mehr Vorbeugemedizin und einer Öffnung der Sektorengrenzen.
In einem System für alle sind auch Reformen möglich, die bisher nicht möglich waren. Denn oft scheitern
Reformen daran, dass überlegt wird, was gut ist für die
Privatversicherten und was gut ist für die gesetzlich Versicherten. Sitzen alle in einem Boot, lässt sich eine Reform aufbauen, die für die Bevölkerung gut ist und nicht
für Einzelne in unserer Gesellschaft.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Aschenberg-Dugnus für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Weinberg, kein vergleichbares Land hat ein so gutes Gesundheitssystem wie wir. Unser deutsches Gesundheitssystem gehört zu den besten der Welt. Diesen
Satz habe ich von Ihnen heute leider nicht gehört.
({0})
Statt sich um eine konkrete Weiterentwicklung unseres
wirklich guten Gesundheitssystems zu bemühen, zetteln
Sie hier eine ideologische Debatte an. Sie fordern eine
wie auch immer geartete Bürgerversicherung und damit
natürlich die Abschaffung der privaten Krankenversicherung.
Diese Versprechen von vermeintlich mehr Solidarität
und mehr Gerechtigkeit hören sich immer toll an. Schaut
man jedoch hinter die Kulissen Ihres Antrages, dann
wird sehr schnell klar: Ihnen geht es gar nicht um irgendwelche Leistungsverbesserungen oder mehr Qualität und
Effizienz im Gesundheitswesen oder in der Versorgung
der Versicherten.
Ihnen geht es einzig und allein um das Erschließen
neuer Geldquellen. Sie glauben, mit mehr Geld werde
schon alles besser. Sie behaupten, die PKV entziehe der
GKV besser verdienende und gesündere Versicherte. Sie
wollen die Beiträge der PKV-Mitglieder, die dann als
Zwangskunden in die Bürgerversicherung einzahlen
müssen. Ich kann Ihnen nur sagen: Nicht mit uns!
({1})
Sie vergessen dabei, dass nur 13 Prozent der PKVVersicherten Arbeitnehmer oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze sind, die in der GKV den Höchstbetrag bezahlen würden. Außerdem vergessen Sie die Kinder und
die erwerbslosen Ehepartner, die in der PKV selbstverständlich Beiträge leisten. Das müssten sie in der GKV
nicht, hätten aber einen vollen Leistungsanspruch.
Wir wissen: Sie als Linke streben eine Ausweitung
der Beitragsbasis an. Sie wollen auch noch solche Einkommensarten wie Kapital-, Zins- oder Mieteinkommen
vereinnahmen. Ihr Ziel ist die Umwandlung des für unsere Begriffe ohnehin schon überregulierten Krankenversicherungssystems in ein planwirtschaftliches System.
Hier ist nach Ihrer Ideologie natürlich kein Platz mehr
für die PKV. In Ihrem System sehen Sie eine ausnahmslose Zwangsmitgliedschaft aller Bürger in einer Einheitsversicherung vor. Das ist wirklich klasse! Dabei
können Sie auf unsere Hilfe nicht hoffen. Damit nehmen
Sie nämlich den Menschen ihre Wahlfreiheit. Diese
Wahlfreiheit erachte ich als besonders wichtig.
({2})
Dafür haben sich in Deutschland 9 Millionen Versicherte
aktiv und eigenverantwortlich entschieden.
({3})
Sie wollen diese Menschen entmündigen, weil die PKV
einfach nicht in Ihre Ideologie und Ihr System passt.
Meine Damen und Herren, die Linke schreibt in ihrem Antrag, das Nebeneinander einer gesetzlichen und
einer privaten Krankenversicherung führe zu einer Zweiklassenmedizin. Sie sagen also: Nur der PKV-Versicherte ist erster Klasse versichert. Schon im nächsten
Absatz - ich finde Ihren Antrag wirklich sehr putzig beklagen Sie dann den bedauernswerten Zustand der
PKV-Versicherten, beklagen einen Leistungskatalog im
Basistarif mit Vergütungen von Ärzten unter GKV-Niveau. Ja, was denn nun? Ist es eine Versicherung erster
Klasse, oder ist es die Holzklasse? Ich habe das Ihrem
Antrag nicht richtig entnehmen können.
({4})
Als Mittel gegen diese vermeintlichen Ungerechtigkeiten wird von Ihnen die Bürgerversicherung angepriesen. Aber was steckt eigentlich dahinter? Führt eine Einheitskrankenkasse wirklich dazu, dass alles besser und
solidarischer wird? Nein, auf gar keinen Fall, meine Damen und Herren. De facto führt gerade das Konzept der
Bürgerversicherung zu einer echten Zweiklassenmedizin. Sie können etwa am Beispiel Großbritanniens sehr
gut sehen,
({5})
wie ein einheitliches, planwirtschaftlich organisiertes
staatliches System zu langen Wartezeiten, zu Rationierung, zu Mangel und zu eingeschränkten Leistungen
führt.
({6})
Das wollen wir hier bei uns nicht haben.
({7})
Denn die überwiegende Mehrheit bekommt in Großbritannien eine Minimalversorgung auf niedrigem Niveau.
Wer es sich leisten kann, der nimmt natürlich bessere
Leistungen gegen bar in Anspruch oder fährt ins Ausland, am besten zu uns nach Deutschland, wo es eine
gute medizinische Versorgung gibt. Das ist die wahre
Zweiklassenmedizin, und die wollen wir hier nicht haben.
({8})
Es gibt weitere Argumente dafür, die PKV nicht abzuschaffen. Ich nenne hier insbesondere die Altersrückstellungen in der PKV. Denn damit ist die PKV dem Umlagesystem der GKV deutlich überlegen.
({9})
Die PKV punktet beim Stichpunkt Demografie, meine
Damen und Herren; das können Sie nicht einfach wegargumentieren. Wir gleiten doch in Zukunft in eine Situation, in der immer weniger Beitragszahler immer größere Kostenlasten tragen müssen. Eine Ausweitung des
Umlagesystems auf 100 Prozent der Bevölkerung verschärft dieses Problem nur. Denn mit den neuen Mitgliedern - ich habe das am Anfang schon ausgeführt - werden auch deren Kosten erworben. Für diesen
zweifelhaften Effekt wollen Sie also das gute System der
Altersrückstellungen abschaffen; das ist mit uns nicht zu
machen. In der PKV wird eine generationengerechte Lösung praktiziert.
({10})
Doch Sie gehen sogar so weit, dass Sie in der Bürgerversicherung Rücklagenbildungen untersagen wollen. Das
ist nicht vorausschauend; so schafft man kein Gesundheitssystem, das zukunftsfest ist.
Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die Weiterentwicklung unseres wirklich ausgezeichneten Systems ist es viel zielführender, über weitere Reformen in
der GKV und in der PKV nachzudenken. Das ist doch
die Lösung. Wir dürfen doch nicht das duale System auf
dem Altar einer sogenannten Bürgerversicherung opfern,
bei der wirklich nur der Name gut ist. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, den bewährten Dualismus zu
optimieren, indem wir die jeweiligen Vorteile beider
Systeme stärken und miteinander kombinieren. Darin
liegt die Zukunft des Gesundheitssystems, nicht in der
Entmündigung von Millionen PKV-Versicherten.
Danke schön.
({11})
Die Kollegin Birgitt Bender hat nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Kollegin Aschenberg-Dugnus, wenn man Sie so hört,
dann ist man schon froh, dass die FDP in Umfragen bei
nur 2 Prozent steht.
({0})
Jetzt reden wir einmal über die PKV. Diese Regierung
hat in den letzten drei Jahren immer ihre schützende
Hand über die PKV gehalten. Einige Beispiele gefällig?
Erst einmal hat sie die Frist, die gesetzlich Versicherte
einhalten müssen, bis sie in die PKV wechseln können,
von drei Jahren auf ein Jahr verkürzt.
({1})
Mit der Pflegereform wurde der privaten Versicherungsbranche der sogenannte Pflege-Bahr geschenkt. Er wird
dem Großteil der Pflegebedürftigen nichts nützen, eröffnet der privaten Krankenversicherung aber ein neues Geschäftsfeld - sonst eben nichts.
({2})
Die Auswirkungen des vorerst letzten Akts dieser
Klientelpolitik erleben wir in diesen Tagen. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Versicherer für Frauen und Männer keine unterschiedlichen
Preise mehr verlangen dürfen. Beflissen hat die Bundesregierung dafür gesorgt, die Auswirkungen dieses Urteils auf die PKV abzupuffern; denn geschlechtsneutrale
Tarife soll es nur für Neukundinnen und -kunden geben,
für Bestandsversicherte bleibt dank dieser Koalition alles beim Alten.
({3})
- Werter Kollege, die Vereinbarkeit dieser Regelung mit
dem Europarecht ist mehr als fraglich.
({4})
Das wird sich spätestens dann zeigen, wenn die erste
Altversicherte vor den EuGH zieht. Doch für die Branche ist es natürlich erst einmal bequemer: Das erspart
den Ärger mit den männlichen Altversicherten, und nur
das zählt für die Bundesregierung.
Aber die PKV setzt noch einen drauf. Die Beiträge für
neu eintretende Männer sind gestiegen. Aber glauben
Sie etwa, die für die Frauen seien gesunken? Ganz im
Gegenteil! Tatsächlich haben diese Tarife bei diversen
Unternehmen sogar zugelegt. Da der PKV die Ausgaben
davonlaufen, braucht sie nämlich jeden Cent, und da
passen Beitragssenkungen eben nicht ins Konzept. Hier
zeigt sich wieder einmal: Die Doppelstruktur von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ist nicht nur ungerecht, weil sie Gutverdienenden ermöglicht, sich vom
Solidarausgleich zu verabschieden. Die PKV als solche
ist eine Fehlkonstruktion, nichts anderes.
({5})
Man sieht es doch: Obwohl sie weit weniger chronisch Kranke, Behinderte und Alte versichert, liegen ihre
Ausgabensteigerungen deutlich über denen der GKV.
({6})
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer
Abschaffung der PKV als eigenständiges Versicherungssystem neben der GVK absolut richtig. Wir brauchen
eine Bürgerversicherung, die auch die bisher PKV-Versicherten am Solidarausgleich beteiligt
({7})
und so - hören Sie gut zu, werter Herr Kollege - den solidarischen Krankenversicherungsschutz demografiefest
macht; auch das ist die PKV nämlich nicht.
({8})
Allerdings - das sage ich jetzt Ihnen, Herr Kollege
Weinberg - schießen die Kollegen und Kolleginnen von
der Linken dann doch über das Ziel hinaus; denn sie
wollen den privaten Krankenversicherungsunternehmen
das Vollversicherungsgeschäft verbieten. Sie sollen nur
noch Zusatzversicherungen anbieten können. Damit
würde man sich völlig überflüssigerweise verfassungsrechtliche Probleme aufhalsen. Warum eigentlich - so
frage ich Sie - soll man den privaten Krankenversicherungen nicht zumuten, mit den gesetzlichen Krankenversicherungen in einen Wettbewerb nach gleichen Spielregeln im Rahmen der Bürgerversicherung einzutreten?
({9})
Einen solchen Wettbewerb, in dem für alle die gleichen
Spielregeln gelten, würden die gesetzlichen Kassen nicht
fürchten müssen. Das genau ist unser Weg in die Bürgerversicherung.
Danke schön.
({10})
Der Kollege Rudolf Henke hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren auf den
Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns von
CDU und CSU ist jeder Mensch von gleichem Wert. In
Bezug auf die Substanz medizinischer Hilfe für Patienten lehnen wir eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Versichertengruppen ab. Ärztliche Hilfe darf nicht
vom Geldbeutel und auch nicht vom Versicherungsstatus
abhängen. Ob jemand zur gesetzlichen Krankenversicherung gehört, ob er privat versichert ist, ob er Beihilfe bezieht oder von der Stütze lebt - das alles soll keinen Unterschied bei der ärztlichen Behandlung machen.
({0})
Beim Hotelkomfort mag es Unterschiede geben; in der
Medizin muss die Behandlung eines jeden Patienten
fachlich immer auf der Höhe der Zeit erfolgen. Genau
das sind die Normen, die im Sozialgesetzbuch festgelegt
sind, und es sind die Normen, die Ärzte und andere Behandelnde den Patientinnen und Patienten in der privaten
Krankenversicherung schulden.
Wenn man sich die Frage stellt: „Was ist denn das
Kernargument des Antrags, den Sie als Linke hier eingebracht haben?“, muss man sich vergegenwärtigen, wie
die Lage wirklich ist. Wir Deutschen werden - das ist
schon gesagt worden - weltweit beneidet um den sehr,
sehr guten Zugang zu medizinischer Versorgung in unserem Land.
({1})
In kaum einem Land der Welt sind die Wartezeiten auf
einen Termin für eine notwendige Operation so kurz wie
bei uns. In kaum einem Land der Welt ist es so leicht, einen Arzt, Hausarzt oder Facharzt, aufzusuchen, wie bei
uns. Ja, es mag Wartezeiten geben; aber wenn es darauf
ankommt, wird es immer möglich sein, rasch einen Termin zu bekommen, und sei es, weil der Hausarzt sich darum kümmert.
({2})
In kaum einem Land der Welt ist die Eigenbeteiligung
desjenigen, der medizinische Hilfe braucht, niedriger als
hier. Erst Ende 2012 haben wir die Kassengebühr für den
Besuch einer Praxis aufgehoben. Das lassen wir uns
2 Milliarden Euro pro Jahr kosten. In kaum einem Land
der Welt ist auch die Versorgung der Kranken, die auf
der Schattenseite der Gesellschaft leben, so zuverlässig
wie in Deutschland.
Wenn Kritik an unserer gesundheitlichen Versorgung
geübt wird, dann bezieht sie sich eher auf ein Zuviel als
auf ein Zuwenig. In vielen Fällen verlassen wir uns so
sehr auf die Qualität der Versorgung, dass wir glauben,
wir könnten es uns leisten, uns wenig um Gesundheitsförderung und Prävention zu kümmern. Wir denken,
dass die Versorgung all das, was wir im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung versäumen, ausgleicht.
CDU/CSU und FDP werden in den kommenden Wochen
eine nachhaltige Initiative starten, um den Bereich Prävention und Gesundheitsförderung zu stärken.
({3})
Bei Krankheit gibt es oft so viele Hilfen in unserem
Land, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten.
In einer solchen Situation, in der sich sicher etliches
Kritische zur Versorgung sagen lässt, legen Sie von der
Fraktion Die Linke uns einen Antrag vor, in dem das Nebeneinander von gesetzlicher Krankenkasse und privater
Krankenversicherung als Hauptgrund aller Mängel im
Gesundheitswesen benannt wird. Damit führen Sie die
Menschen in Deutschland hinter die Fichte. Sie bewegen
sich weit weg von der Realität.
({4})
Sie haben Jens Spahn angesprochen und ihn gewissermaßen zum Kronzeugen gemacht. Ich will einmal aus
seinen zehn Thesen zu den Anforderungen an eine Krankenversicherung der Zukunft zitieren:
({5})
Die Debatte zum Verhältnis von Gesetzlicher und
Privater Krankenversicherung darf nicht als linke
Neiddebatte geführt werden.
In genau dieser Art führen Sie aber die Debatte.
({6})
Dieser Neid wird gleich auf zwei Ebenen geschürt:
SPD, Linke und Grüne erwecken in der politischen
Diskussion zum einen den Eindruck, man könnte
die Finanzprobleme der GKV am besten lösen, indem man die „unsolidarischen Besserverdiener“ zu
Beitragszahlern machte, und zum Zweiten wird die
angeblich bessere Versorgung von Privatpatienten
angeprangert, beispielhaft regelmäßig illustriert an
den kürzeren Wartezeiten auf einen Arzttermin.
Beide Neidargumente
- so Jens Spahn greifen deutlich zu kurz, sie klingen im ersten Moment gut und eingängig, aber sie treffen einfach
nicht zu.
Recht hat Jens Spahn.
({7})
Deswegen, verehrter Kollege Lauterbach, sage ich
auf Ihre Frage, wo die Vorschläge sind: Ja, wir müssen
beide Systeme reformieren. Das ist eine Daueraufgabe.
Bezogen auf die PKV gehört dazu: ein Ende der Billigtarife, eine überarbeitete Systematik zur Kalkulation der
Tarife, ein einheitlich definierter Mindestversicherungsschutz, eine stärkere Versorgungs- und eine geringere
Vertriebsorientierung bei den Versicherungen. Das sind
alles Punkte, über die wir diskutieren und reden können,
über die wir bereits sprechen. Aber was Sie machen, ist,
Neid schüren und eine anschließende Räuberei vorbereiten. Sie wollen eigentlich nichts anderes, als die Privatversicherten um 170 Milliarden Euro Rücklagen bringen
und dieses Geld verteilen. Dieser Betrag ist in der PKV
angesammelt worden und fällt unter das Eigentumsrecht.
({8})
Das ist letzten Endes eine klassenkämpferisch motivierte, wahrscheinlich kommunistisch durchdachte Politik,
({9})
mit der Sie letztlich nichts anderes erreichen, als Unfrieden in der Gesellschaft zu schüren.
Kollege Henke, achten Sie bitte auf die Zeitanzeige.
Absolut, ja.
Dort sehen Sie ein Minus.
Ich komme zum Schluss. - Das heutige Versorgungsniveau ist durch ein Miteinander von GKV und PKV
entstanden. Wenn Sie das aufgeben, bedeutet das, dass
Sie die Nivellierung der Versorgung in einer Einheitskrankenkasse für alle vorbereiten. Das wollen CDU/
CSU und, wie ich sicher bin, auch die FDP nicht.
({0})
Deswegen widersprechen wir Ihrem Antrag und werden
ihn ablehnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Wir haben jetzt alle eine Ahnung davon, wie die weitere Behandlung in den Ausschüssen zu einem entsprechenden Meinungsaustausch führen wird. Für heute
schließe ich aber die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10119 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 17. Januar 2013,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.