Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/16/2013

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte einen Au- genblick Platz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich zur ersten Plenarsitzung des Deutschen Bundes- tages in diesem Jahr, verbunden noch einmal mit allen guten Wünschen für Sie persönlich und für unsere ge- meinsame Arbeit. Gleichzeitig möchte ich Sie bitten, damit einverstan- den zu sein, dass, wie interfraktionell vereinbart, der Ta- gesordnungspunkt 1 b von der heutigen Tagesordnung abgesetzt werden soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Bevor wir nun in die vereinbarte Tagesordnung ein- treten, bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kurz vor Weihnach- ten erreichte uns eine Nachricht, die uns alle tief bestürzt hat. Mit großer Betroffenheit erfuhren wir vom plötzli- chen Tod unseres Kollegen Peter Struck. Er starb am 19. Dezember 2012 im Alter von 69 Jahren in Berlin. Peter Struck war eine parlamentarische Instanz. Er hat die bundesdeutsche Politik über drei Jahrzehnte maßgeb- lich mitgestaltet. Peter Struck kam 1980 erstmals ins Parlament und gehörte dem Hohen Haus als Mitglied der SPD-Fraktion bis 2009 an. Eigentlich wollte Peter Struck nach dem Studium der Jurisprudenz und der Pro- motion irgendwann einmal Bürgermeister oder Stadtdi- rektor seiner Heimatstadt Göttingen werden. Er hätte das zweifellos gekonnt und gut gemacht. Glücklicherweise ist es anders gekommen. Nach sei- ner ersten erfolgreichen Kandidatur im Wahlkreis Celle- Uelzen für den Deutschen Bundestag hat Peter Struck acht Legislaturperioden mit wichtigen Aufgaben und wachsendem Einfluss absolviert. Peter Struck haben die meisten von uns als einen feinen Kerl und einen verlässlichen Kollegen kennengelernt. Er war über viele Jahre eine der Stützen der Fußballmann- schaft des Deutschen Bundestages, deren Bedeutung für das kollegiale Klima über die Fraktionen hinweg nicht zu unterschätzen ist. Peter Struck wusste, dass es in der Poli- tik wie im Sport nicht nur Siege, sondern auch Niederla- gen gibt - und er hatte die Gabe, bei Siegen nicht das Maß zu verlieren und bei Niederlagen nicht das Selbstbewusst- sein. Um Ämter und Aufgaben hat er sich nicht beworben, aber er hat sich auch nicht verweigert, wenn sie ihm - manchmal überraschend und gegen seine eigenen Präferenzen - angetragen wurden: Er war Obmann im sogenannten Flick-Untersuchungsausschuss Mitte der 1980er-Jahre, er war Parlamentarischer Geschäftsführer, Fraktionsvorsitzender der SPD-Fraktion von 1998 bis 2002 und in der Großen Koalition wieder von 2005 bis 2009, und er war Bundesminister der Verteidigung von 2002 bis 2005. In diesen unterschiedlichen Ämtern hat er sich den Respekt seiner Kolleginnen und Kollegen und der Öf- fentlichkeit und die besondere Zuneigung der Soldaten erworben. Das hohe Regierungsamt des Inhabers der Verteidigungs- und Kommandogewalt war ihm zunächst alles andere als nahe, eher fremd. Am Ende, rückbli- ckend, war es ihm von allen Ämtern vielleicht das liebste, nicht aber das wichtigste. Das Größte, hat Peter Struck mehr als einmal erklärt, sei, Mitglied des Deut- schen Bundestages zu sein. Peter Struck hatte eine klare Vorstellung von der Ord- nung der Staatsgewalt, und er wusste zwischen der Be- deutung von Ämtern und ihrer Prominenz in der öffentli- chen Wahrnehmung zu unterscheiden. Das sogenannte Struck’sche Gesetz, nach dem Gesetzentwürfe in aller Regel das Parlament nicht so verlassen, wie sie einge- bracht worden sind, hat er nicht erfunden, aber er hat es praktiziert, und zwar nicht in Oppositionszeiten, sondern als Vorsitzender einer Regierungsfraktion. 2009 schied Peter Struck aus eigener Entscheidung aus dem Parlament aus. Damals glaubten nur wenige sei- ner Ankündigung, sich als Politikruheständler vor allem dem geliebten Motorrad widmen zu wollen. Tatsächlich blieb Peter Struck der Politik verbunden. Er übernahm schwierige Schlichtungsaufgaben und wurde 2010 Vor- sitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Nur wenige Tage Präsident Dr. Norbert Lammert vor seinem Tod war er in diesem Amt einstimmig bestä- tigt worden. In der nächsten Woche wäre er 70 Jahre alt geworden. Viele von uns hatten sich auf das Wiedersehen gefreut - er auch. Viele von uns verlieren einen geschätzten Kolle- gen und guten Freund. Peter Struck hat sich um unser Land große Verdienste erworben. Seiner Frau und seiner Familie spreche ich im Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus. Alle dieje- nigen, die das Privileg hatten, mit ihm zusammenarbei- ten zu können, werden ihn gewiss nicht vergessen. Ich danke Ihnen. Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 a auf: a) Vereinbarte Debatte 50 Jahre Élysée-Vertrag - Zusammenarbeit und gemeinsame Verantwortung für die Zukunft Europas Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich möchte zu Beginn darauf hinweisen, dass wir uns in den vergangenen Wochen über die Fraktionen mit den französischen Kolleginnen und Kollegen auf einen Text verständigt haben, den wir am nächsten Dienstag nach der gemeinsamen Sitzung mit den Mitgliedern der Assemblée nationale per Akklamation hier im Reichstagsgebäude am Schluss der Veranstaltung annehmen wollen. Insofern besteht Gelegenheit, in der Debatte darauf Bezug zu nehmen, Hinweise zu machen und vielleicht auch den einen oder anderen Akzent zu setzen, weil sich in einem solchen gemeinsamen Text naturgemäß nicht jede einzelne Präferenz in gleicher Weise und vor allen Dingen mit der vielleicht gewünschten Deutlichkeit wiederfindet. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Andreas Schockenhoff für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Monaten ist viel Kritisches über den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen gesagt worden, manches zu Recht, vieles aber auch aufgrund zu kurzsichtiger Betrachtung zu Unrecht. So ist es gut, dass wir aus Anlass des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages ausführlich über die Bedeutung der deutsch-französischen Zusammenarbeit sprechen. Denn bei allem notwendigen Streit über die besten Wege zur Überwindung der Schuldenkrise sollten wir immer die historische Leistung der deutsch-französischen Zusammenarbeit und die daraus erwachsende Verantwortung für die Entwicklung Europas im Auge behalten. In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union sagte der Vorsitzende des norwegischen Nobelpreiskomitees - ich zitiere -: Die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland ist wahrscheinlich das überzeugendste Beispiel dafür, dass Krieg und Konflikte rasch in Frieden und Zusammenarbeit verwandelt werden können. Diese Worte würdigen die Leistung der Männer und Frauen, die nach drei fürchterlichen Kriegen den Neuanfang und die Aussöhnung wagten und damit die Voraussetzungen für den europäischen Einigungsprozess und die Überwindung der Teilung Europas schufen. Das Nobelpreiskomitee würdigt aber auch den besonderen politischen Mut von Außenminister Robert Schuman. Mit seinem Plan zur Montanunion hatte er den Franzosen bereits fünf Jahre nach Kriegsende zugetraut, eine gleichberechtigte Partnerschaft mit der jungen, machtlosen Bundesrepublik einzugehen, und er hat damit den Grundstein gelegt zu der Freundschaft, die nunmehr unsere beiden Länder so eng miteinander verbindet. Der dadurch gelungene Aufbruch in eine neue, gemeinsame und vor allem bessere Zukunft ist, so denke ich, auch heute noch Grund zur Dankbarkeit. ({0}) Für die Aussöhnung, Freundschaft und Zusammenarbeit von Franzosen und Deutschen steht symbolisch der Élysée-Vertrag. Er hat viel bewirkt. Ich möchte nur zwei Beispiele nennen. Es sind zwei Beispiele, die sich seit der ersten gemeinsamen Plenarsitzung unserer beiden Parlamente vor zehn Jahren in Versailles besonders gut entwickelt haben. Ich nenne zum einen das Deutsch-Französische Jugendwerk. Nach zwei Evaluierungen, die auf Anregung des Bundestages und der Assemblée nationale 2004 durchgeführt wurden, konnte seine Effizienz deutlich gesteigert werden. Heute ist es wieder eine Erfolgsgeschichte. In den letzten zwei Jahren lag die Anzahl der Teilnehmer deutlich über 200 000, und es ist gut, dass der Etat des Jugendwerkes - übrigens zum ersten Mal seit 1963 - angehoben wurde. Aber es könnten noch deutlich mehr junge Menschen am Austausch teilnehmen, wenn auf beiden Seiten mehr Finanzmittel zur Verfügung stünden. Hier sollten wir nicht wieder 50 Jahre bis zur nächsten Erhöhung warten. Es ist doch ein gutes Zeichen für die gemeinsame Zukunft, wenn die deutschfranzösischen Beziehungen gerade auch bei der jungen Generation über hohe Anziehungskraft verfügen. Ich nenne zum anderen das deutsch-französische Geschichtsbuch für die Oberstufe. Beide Regierungen haben am 22. Januar 2003 dafür die Anregung des deutschfranzösischen Jugendparlamentes aufgenommen. Inzwischen sind drei Bände des Lehrbuches erschienen, das nicht nur den Lehrplänen beider Länder gerecht wird; es sind weltweit die ersten in zwei Staaten inhaltlich identischen Schulbücher, die von der griechischen Demokratie bis hin zur Gegenwart auch die Sicht des jeweils anderen zum Ausdruck bringen. Wer weiß, wie sensibel Fragen der Geschichte - insbesondere der eigenen - sind, kann sich angesichts der schwierigen Vergangenheit unserer Länder vorstellen, welch wichtiger Beitrag mit diesem gemeinsamen Geschichtsbuch für eine dauerhafte Aussöhnung geleistet wird. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz dieser und vieler anderer Erfolge in den deutsch-französischen Beziehungen bleibt noch viel zu tun. Deshalb verstehe ich die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU nicht nur als eine Würdigung ihrer bisherigen Leistungen und der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland; sie ist zugleich der Auftrag, insbesondere an unsere beiden Länder, ihrer besonderen Verantwortung für den weiteren Integrationsprozess und für die Selbstbehauptung Europas in der globalisierten Welt gerecht zu werden. Deshalb begrüße ich sehr, dass es in der gemeinsamen Erklärung von Bundestag und Assemblée nationale heißt, dass unsere Länder als starke Wirtschaftsnationen besondere Möglichkeiten haben, die weitere Gestaltung der EU voranzubringen, und dass sie gemeinsame Verantwortung für den Erfolg des europäischen Modells im globalen Wettbewerb übernehmen müssen. Will Europa Subjekt im globalen Wettbewerb bleiben und nicht zum Objekt werden und in die Bedeutungslosigkeit abrutschen, muss es seine Schuldenkrise, vor allem die Ursachen dafür, überwinden. Hier sind wir bereits ein wichtiges Stück vorangekommen; aber dieser Prozess muss weitergehen, so schmerzhaft er für einige Länder auch ist - dazu zähle ich auch Frankreich. Stabilität und Wachstum, Disziplin und Verantwortung, das Ökonomische und das Soziale sind gleichermaßen nötig, um die Krise nachhaltig zu bewältigen. Das wird nur gelingen, wenn es hinsichtlich der in der EU unterschiedlichen Auffassungen im Wirtschaftsdenken zu einer Annäherung kommt mit dem Ziel eines modernen, global wettbewerbsfähigen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Gerade wegen seiner noch sehr unterschiedlichen Auffassungen in wesentlichen wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen steht das deutsch-französische Paar diesbezüglich vor einer besonderen Bewährungsprobe. Deutschland und Frankreich müssen bei diesen Fragen noch näher zusammenkommen, um Europa zusammenzuhalten. Aber auch bei anderen Herausforderungen, vor denen die EU steht, müssen wir bei der Suche nach Lösungen enger zusammenkommen. Ich nenne nur die Stichworte Energiesicherheit, Fragen der Arbeitsmigration, Gewährleistung hoher Umweltstandards und die Gestaltung unserer Nachbarschaft im Osten, vor allem aber ganz aktuell auch im Süden. Gerade dieses letzte Beispiel zeigt: Auch die deutsch-französische sicherheitspolitische Zusammenarbeit muss für die Verbesserung der europäischen Fähigkeiten in der GSVP weiter vertieft werden. Auch hier stellen sich schwierige grundlegende Fragen; denn wir müssen feststellen, dass es in der EU durchaus unterschiedliche Prioritätensetzungen gibt: Frankreich fokussiert sich strategisch eher auf Nordafrika, während die Mittel- und Osteuropäer eher nach Osten und unsere nordischen Partner zunehmend in Richtung Arktis blicken. Deshalb brauchen wir in der EU, vor allem aber zwischen unseren beiden Ländern, eine strategische Diskussion über die Frage, was die EU mit ihren zivilen und militärischen Missionen erreichen will und auf welche geografischen Herausforderungen sie sich besonders ausrichten sollte. ({2}) Das ist übrigens auch eine Voraussetzung dafür, dass wir mit Pooling und Sharing von militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten zu wirklich substanziellen Kooperationen kommen. Solange Frankreich und Deutschland hier nicht am gleichen Strang ziehen, werden wir die notwendige Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht voranbringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der französische Ministerpräsident Ayrault hat gesagt: Wir müssen noch mehr miteinander sprechen. - Ich denke, das gilt auch für das Gespräch zwischen uns Abgeordneten. Auch wenn unsere Zusammenarbeit in der deutsch-französischen Parlamentariergruppe so intensiv wie in keiner anderen Parlamentariergruppe ist, reicht das noch nicht aus. Angesichts der Herausforderungen, die ich vorhin angesprochen habe, müssen wir auch die Zusammenarbeit unserer Parlamente auf eine qualitativ neue Stufe stellen. Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass mit unserer Gemeinsamen Erklärung, die wir nächsten Dienstag annehmen, diese Zusammenarbeit vertieft werden soll. Schon heute gibt es konkrete Fragen, bei denen wir uns enger abstimmen sollten. Ich nenne beispielsweise die Subsidiaritätsprüfung. Im Zusammenhang mit der Stärkung der Wirtschaftsund Währungsunion und der parlamentarischen Begleitung des Europäischen Semesters wird es voraussichtlich zweimal jährlich interparlamentarische Konferenzen geben. Gerade angesichts der in Frankreich und Deutschland durchaus unterschiedlichen wirtschafts- und finanzpolitischen Auffassungen halte ich es für sinnvoll, dass wir uns unmittelbar vor solchen Tagungen erst einmal mit unseren französischen Kollegen beraten. Die zwischen dem Bundestag und der Assemblée nationale bestehenden Unterschiede sind bekannt. Die Assemblée nationale hat ein sehr eingeschränktes Initiativrecht. In europapolitischen Fragen hat der Bundestag mit dem EUZBBG oder bei Bundeswehreinsätzen mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz eine sehr viel stärkere Stellung in unserer Verfassung als die Assemblée nationale in der französischen Verfassung. Dennoch wollen und müssen wir uns so eng wie möglich abstimmen und unsere Politik so weit wie möglich koordinieren. Wenn die Abgeordneten aus Deutschland und Frankreich dies in den wichtigen und vor allem schwierigen Fragen der europäischen Politik regelmäßig tun, dann wird dies tiefer gehen und ein besseres Verständnis für die Position der anderen Seite schaffen, als wenn dies allein von den Regierungen geleistet werden muss. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es auch weit mehr als ein Symbol, wenn wir nächste Woche in diesem Raum als Plenarversammlung mit der Assemblée nationale gemeinsam tagen und gegenüber unseren Völkern den gemeinsamen Willen zur Gestaltung des bi26616 lateralen Verhältnisses und zur Behauptung der Stellung Europas in der Welt zum Ausdruck bringen. Ich bedanke mich ganz herzlich und freue mich mit Ihnen gemeinsam auf den nächsten Dienstag. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Günter Gloser ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Élysée-Vertrag ist eine einmalige historische Leistung. Er hat der Aussöhnung Deutschlands und Frankreichs einen institutionellen Rahmen gegeben. Dieser prägt bis heute die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Deshalb ist es auch richtig, dieses Jubiläum feierlich zu begehen. Seinen Wegbereitern Adenauer und de Gaulle gilt darüber hinaus große Anerkennung für dieses Dokument der Annäherung. Auch für alle SPD-geführten Bundesregierungen war der Vertrag die Basis ihrer FrankreichPolitik. Aber nun wird gegenwärtig in beiden Staaten die Frage gestellt: Sind denn 50 Jahre Élysée-Vertrag angesichts von Streitpunkten, mühsamen Kompromissen und auch angesichts gelegentlich auftretenden Misstrauens ein Grund zum Feiern? Ich sage Ja; denn ich beurteile diesen Vertrag eben nicht nur aus der Perspektive der letzten Wochen und Monate oder bestimmter Abschnitte während der letzten 50 Jahre, sondern aus der historischen Perspektive entlang der gesamten letzten 50 Jahre. ({0}) Es geht heute eben nicht nur um 50 Jahre freundliches Nebeneinander, sondern um ein Miteinander, da die Beziehung beider Länder in dieser Zeit, wie ich finde, eine weltweit einzigartige Vertiefung erfahren hat. Manche Nörgler, die diese Feier kritisieren, blenden die enormen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leistungen aus, für die der Élysée-Vertrag die Grundlage war. Die Kritiker sollten einfach einmal vom Jahr 1963 50 Jahre zurückgehen, um sich zu erinnern, was auf unserem Kontinent zwischen unseren beiden Ländern geschehen ist und was Deutsche Franzosen angetan haben. Das sei an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich erwähnt. Die deutsch-französischen Beziehungen sind aber mehr als nur das „Couple“, das Tandem der Staats- und Regierungschefs, oder aber auch, wie es Kollege Schockenhoff ausgedrückt hat, die Beziehungen zwischen den beiden Parlamenten, auch wenn die in der letzten Zeit eine bedeutende Rolle spielen. Der Élysée-Vertrag hat dazu beigetragen, dass sich ein einzigartiges Netz der Beziehungen zwischen unseren Ländern entwickelt hat. Ich will dafür einige Beispiele nennen. Wo auf diesem Erdball gibt es so zahlreiche Partnerschaften zwischen Gemeinden, Städten, Kreisen und Regionen? Allein über 2 000 kommunale Partnerschaften existieren. ({1}) Wo sonst auf dieser Welt gibt es so viele Menschen, die sich aktiv in Partnerschaftsvereinen und Freundschaftsgesellschaften engagieren? Diese Menschen sind die wahren Brückenbauer in den deutsch-französischen Beziehungen. ({2}) Wo sonst gibt es bilaterale Einrichtungen und Publikationen wie die Deutsch-Französische Hochschule, die Deutsch-Französische Industrie- und Handelskammer oder aber das erwähnte deutsch-französische Geschichtsbuch? Hier hätte ich mir allerdings eine intensivere Verbreitung in den Schulen gewünscht. Da kann das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern nicht das große Hindernis sein. Auch unsere Parteien und politischen Stiftungen, die Gewerkschaften und die Kirchen haben in den letzten fünf Jahrzehnten viel für den politischen und gesellschaftlichen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland getan. Eine weitere Erfolgsgeschichte ist das DeutschFranzösische Jugendwerk. Wir wissen, dass dieses Jugendwerk zum Vorbild für die Beziehungen auch mit anderen Ländern geworden ist. Ich erinnere nur an die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Ich hege den Wunsch, dass der Kulturaustausch zwischen unseren Ländern noch weiter ausgebaut wird. Wir Parlamentarier haben eine wichtige Rolle, was die Zukunftsfähigkeit von Goethe-Instituten und Auslandsschulen anbelangt; denn angesichts der aktuellen Herausforderungen und auch der gelegentlich auftretenden Missverständnisse brauchen wir diese Kulturmittler. ({3}) Wer sich diesem Vertrag verpflichtet fühlt, muss sich auf Augenhöhe begegnen. Häme, wie ich sie kürzlich in Beiträgen im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation Frankreichs gelesen habe, ist unangebracht und geschichtslos. ({4}) Es gab auch Zeiten, da waren die wirtschaftlichen Daten in Frankreich viel positiver als die in Deutschland. Dass Deutschland in der guten wirtschaftlichen Lage von heute ist, hat auch mit den guten deutsch-französischen Beziehungen zu tun; denn etwa 30 Prozent unseres Exports in die Euro-Zone gehen nach Frankreich. Das wird hier allzu oft vergessen. Wir feiern den Vertrag am nächsten Dienstag zusammen mit der Assemblée nationale im Deutschen Bundestag. Es wird eine Feier, die dem Ereignis und den deutsch-französischen Beziehungen angemessen ist. Es wird keine Sause und es wird auch keinen Pomp geben, aber - das sage ich ausdrücklich - wir dürfen dieses Jubiläum nicht verstecken. ({5}) Für mich bedeuten die Feierlichkeiten vor allem, dass wir, die Politikerinnen und Politiker, aber auch die Bürgerinnen und Bürger beider Länder, weiterhin Interesse aneinander haben, Neugierde für das jeweils andere Land und gegenseitiges Verständnis entwickeln. Zum Schluss noch zu einem Dauerthema in unseren Beziehungen. Es geht um den Spracherwerb in beiden Ländern. Ich habe im letzten Jahr einen Artikel zu dieser Thematik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entdeckt. Dort las ich einen Beitrag der Präsidentin des Frankoromanistenverbandes. Sie beschreibt, dass 1956 in einer Abiturprüfung in Deutschland eine Passage aus dem Roman Jean-Christophe von Romain Rolland zu übersetzen war. Eine Passage lautete: „Nous avons besoin de vous et vous avez besoin de nous.“ 1956 übersetzte ein gestresster deutscher Abiturient diesen Satz folgendermaßen ins Deutsche: „Wir haben genug von euch, und ihr habt genug von uns.“ ({6}) Ohne Abiturstress übersetzt lautet der Satz richtig - ich weiß, dass Sie alle das verstehen -: „Wir brauchen euch, und ihr braucht uns.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Satz Romain Rollands, 1913 formuliert, klingt bis heute wie ein Weckruf für die Zukunft. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung erteile ich das Wort nun dem Staatsminister Michael Link. ({0})

Not found (Gast)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Élysée-Vertrag haben Frankreich und Deutschland nach zwei Weltkriegen ihre Versöhnung besiegelt und eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen eingeleitet. Sie haben das aber nie nur mit Blick auf sich gemacht, sondern von Anfang an immer mit Blick auf die gemeinsame europäische Verantwortung. Tiefe und Intensität der deutsch-französischen Freundschaft sind einzigartig. Das gilt für den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich. Das gilt vor allem aber auch für das beispielhaft enge Netzwerk zwischen den Bürgerinnen und Bürgern. Die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben völlig zu Recht genau darauf hingewiesen. Wenn wir die letzten 50 Jahre betrachten, sehen wir, dass sich eine tief in der Gesellschaft verwurzelte, echte Freundschaft entwickelt hat. Das ist es, was die deutschfranzösische Freundschaft einzigartig macht: ihre Dichte und die gelebte Nähe zwischen den Bürgerinnen und Bürgern. Die erste der heute 2 200 Städtepartnerschaften wurde schon 1950 geschlossen. Allein über 8 Millionen Jugendliche haben seit der Gründung des DeutschFranzösischen Jugendwerks - auf seine Verdienste ist zu Recht hingewiesen worden - an einem Austauschprogramm teilgenommen. In wirtschaftlicher Hinsicht sind Deutschland und Frankreich - man muss es immer wieder betonen, weil es sonst manchmal in Vergessenheit gerät - füreinander immer noch die wichtigsten Exportmärkte. Dabei sollte uns allen klar sein: Die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss in jeder Generation von den Bürgerinnen und Bürgern und vor allem auch von uns politisch Verantwortlichen in beiden Ländern neu mit Leben gefüllt werden. Sie speist sich, außer aus gemeinsamen Werten, vor allem aus zwei Hauptquellen: gemeinsam erlebter Geschichte und gelebter Nähe. Weil die gelebte Nähe so wichtig ist und viele Kolleginnen und Kollegen der Bundesregierung Anregungen gegeben haben, was bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit besser werden muss - ein Punkt, der, wie ich weiß, über die Fraktionsgrenzen hinweg viele umtreibt -, wollen wir bei diesem Jubiläum einen besonderen Schwerpunkt auf die Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit legen, bei der in der Tat noch einiges unterstützt und besser gemacht werden müsste. Vorbilder für diese Zusammenarbeit haben wir. Ich nenne beispielhaft den Eurodistrikt; ich könnte noch viele andere Bereiche nennen. Hier muss aber wirklich noch einiges konkret vorangebracht werden. Genau daran arbeitet auch die Bundesregierung. ({0}) Das Ziel des deutsch-französischen Jubiläumsjahres ist das gegenseitige Verständnis. Das geht, Kollege Gloser, natürlich bis in die Sprache hinein; denn da geht Verstehen los. Wir wollen das gegenseitige Verständnis steigern und junge Menschen für das Projekt begeistern. Lassen Sie mich, auch mit Blick auf die vielen Schülerinnen und Schüler, sei es, dass sie uns heute zuhören oder diese Debatte nachlesen, sagen: Es muss einfach auch wieder cool werden, die Sprache des Nachbarn zu sprechen und einen Teil der eigenen Ausbildung im Nachbarland zu absolvieren. Im deutsch-französischen Jubiläumsjahr werden wir deshalb nicht nur das in der Vergangenheit Erreichte feiern, sondern uns auch auf unsere gemeinsame Zukunft und Verantwortung für Europa ausrichten. Der ÉlyséeVertrag hatte immer eine europäische Dimension. Deutschland und Frankreich haben Europa bisher ge26618 meinsam vorangebracht. Für die nächsten Jahrzehnte gilt, dass unsere beiden Länder die zukünftigen Herausforderungen nur im Rahmen eines einigen und starken Europa werden bewältigen können. Wir als Bundesregierung haben immer wieder gesagt - das ist in vielen Debatten, gerade im letzten Jahr, als wir über die Stabilisierung der Euro-Zone diskutiert haben, deutlich geworden -: Die Europäische Union ist unsere Antwort auf die Fragen, die die Globalisierung an uns stellt. Das europäische Projekt steht vor ganz entscheidenden Herausforderungen. Viele Krisen sind beileibe noch nicht gelöst, im Gegenteil: Ich nenne die Schuldenkrise, den Verlust von Wettbewerbsfähigkeit, die Bedrohungen unserer inneren und äußeren Sicherheit und den Auftritt neuer Kraftzentren. Wir sind mitten drin, Antworten auf diese Herausforderungen zu gestalten. Dazu können Deutschland und Frankreich mit ihrem Vorbild und unserem europäischen Modell einer offenen, sozialen und toleranten Gesellschaft vieles beitragen. Das haben wir nicht so gemacht - ich habe es gesagt -, dass wir nur aufeinander geblickt oder versucht haben, andere zu dominieren. Vielmehr haben wir es von Anfang an so gemacht, dass wir versuchten, die deutschfranzösische Freundschaft im Dienste einer Öffnung nach außen zu wenden. Wir haben die deutsch-französische Freundschaft im Rahmen des Weimarer Dreiecks exemplarisch um Polen erweitert. Das Weimarer Dreieck - ich möchte es ganz ausdrücklich hervorheben - steht ebenfalls für gelebte Nähe und gelebte Nachbarschaft aufgrund gemeinsam erlebter Geschichte. Es ist zur nicht mehr wegdenkbaren Ergänzung der deutsch-französischen Freundschaft geworden; das sei auch mit Blick auf unsere polnischen Freunde und Nachbarn ausdrücklich erwähnt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Schuldenkrise, die uns aktuell trifft, zu überwinden, muss sich die EU hin zu einer wirklichen wirtschaftlichen und politischen Union entwickeln. Deutschland und Frankreich haben die Aufgabe - ich bin davon überzeugt: auch den Mut -, die hierzu notwendigen Maßnahmen zu treffen. Bei unserer Zusammenarbeit müssen wir jedoch ein Missverständnis vermeiden: Die Ziele und Interessen Deutschlands und Frankreichs sind natürlich nicht immer und automatisch deckungsgleich. Deutschland und Frankreich bleiben, bei allen Gemeinsamkeiten, zwei Länder mit vielen Unterschieden im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich. Kontroversen gehören in der EU wie auch in der deutsch-französischen Partnerschaft dazu; sonst wären wir ein Museum. Um Fortschritte und Kompromisse wurde in der Vergangenheit und wird auch jetzt stets hart gerungen. Wenn aber erst einmal eine Einigung gefunden war - das ist das, was Deutschland und Frankreich so besonders auszeichnet -, dann stand sie, und dann war dieser Kompromiss meist auch das Vorbild für eine Einigung in der gesamten EU. Für mich bestehen deshalb die Aufgabe und der Beitrag des deutsch-französischen Motors vor allem darin, europäische Entscheidungen vorzustrukturieren und sie dadurch oft überhaupt erst zu ermöglichen. Unsere Fähigkeit zum Kompromiss, trotz aller unterschiedlichen Auffassungen und Herangehensweisen, ist es, was das deutsch-französische Verhältnis so einmalig macht und auszeichnet. Deshalb stellt sich die Bundesregierung, wenn sie eine europapolitische Position formuliert, von Anfang an, vom ersten Moment an, die Frage: Wo steht Frankreich in dieser Angelegenheit? Diesen deutsch-französischen Reflex, wenn ich es einmal so nennen darf, kann man gar nicht hoch genug schätzen. So etwas lässt sich nicht vertraglich anordnen, das wächst über Jahrzehnte. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Deutschland und Frankreich können viel voneinander lernen. Deutschland kann, um ein Beispiel zu nennen, bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf außerordentlich viel von Frankreich lernen. In diesem Bereich gibt es viele Impulse, die wir mit Interesse studieren. Umgekehrt ist, wie wir an den vielen Fragen unserer französischen Freunde - über alle Parteigrenzen hinweg - merken, die duale berufliche Ausbildung in Deutschland für Frankreich wie für viele unserer Nachbarn von großem Interesse. Die gegenseitige Wertschätzung spiegelt sich auch in dem Bild wider, das die Bürger vom jeweiligen Partnerland haben. Aus einer ganz aktuellen Umfrage geht hervor, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich zwischen 80 und 90 Prozent der Bürger die deutsch-französische Freundschaft positiv sehen und sie für wichtig und entscheidend für Europa halten. Meine Damen und Herren, beim Aufbau unseres zukünftigen Europas und bei der Wahrung unseres Wohlstandes und des europäischen Gesellschaftsmodells ist Frankreich unser unverzichtbarer Partner. In diesem Sinne wollen wir den 22. Januar begehen - nicht versteckt, sondern feierlich, festlich und selbstbewusst. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsch-französische Freundschaft, sie ist keine Nostalgie und auch keine Rhetorik; sie ist eine hochaktuelle Strategie, um unsere Europäische Union Schritt für Schritt voranzubringen. Ich danke Ihnen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wolfgang Gehrcke ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt einen Jahrhundertroman für Deutsche und Franzosen: Das ist Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. Ich will Ihnen wenige Zeilen aus diesem Roman vorlesen; denn dort begründet sich die gemeinsame Verantwortung, die wir haben. Remarque schreibt: Es wird von einer Offensive gemunkelt. Wir gehen zwei Tage früher an die Front. Auf dem Wege passieren wir eine zerschossene Schule. An ihrer Längsseite aufgestapelt steht eine doppelte, hohe Mauer von ganz neuen, hellen, unpolierten Särgen. Sie riechen noch nach Harz und Kiefern und Wald. Diese Särge warteten auf die Soldaten, auf die Franzosen und auf die Deutschen. Ich möchte, dass von unserem Parlament eine deutliche Botschaft ausgeht: „Nie wieder!“ Für dieses „Nie wieder!“ muss man aktiv zusammenarbeiten. ({0}) Eingegraben in mein Gedächtnis haben sich auch Gespräche mit meinem jüdischen deutsch-französischen Freund, dem Kommunisten Peter Gingold. Von den Nazis verfolgt, nach Frankreich geflohen, kämpfte er in der Résistance gegen die deutsche Besatzung und somit für Deutschland. Peter Gingold hat in Frankreich eine hohe Auszeichnung erhalten, seine Tochter in Deutschland Berufsverbot. Auch das ist Teil der deutsch-französischen Geschichte, über die wir gemeinsam nachdenken müssen. Geschichte wird oft dargestellt als eine Geschichte großer Männer, seltener großer Frauen - warum eigentlich? Wir können de Gaulle und Adenauer für den ÉlyséeVertrag loben; doch zur Geschichte gemacht haben ihn Jugendliche, die Schlagbäume und Grenzpfähle einrissen, die sich ernsthaft mit der Vergangenheit auseinandersetzten oder offen für ihre Nachbarn waren. Die Menschen haben den Weg zur deutsch-französischen Freundschaft geebnet, und die Politik ist ihnen gefolgt. Ich finde das gut so. ({1}) Wie lebendig können wir von sozialen Bewegungen und Arbeiterkämpfen in Frankreich lernen, von ihrem Geist des Widerspruchs und des Spotts über Autoritäten! Als Jugendlichen hat mich 1968 mitten im brodelnden Paris der Aufstand der jungen Generation, der Arbeiter und Intellektuellen mitgerissen. Er kam dann über den Rhein zu uns. Die ersten Anstöße für eine multikulturelle Gesellschaft kamen aus Frankreich, bevor sie auch uns einholte. Gelöst haben wir beide diese Aufgabe nicht. Ich hätte in der Erklärung, die wir annehmen werden, gerne die Sätze gesehen: Es gilt, Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus konsequent entgegenzutreten. Eine nachhaltige Kultur des Friedens, der Demokratie und der sozialen Sicherheit liegt im Interesse der Bevölkerungen Frankreichs und Deutschlands. - Auch wenn diese Sätze nicht in der Erklärung stehen, sollten beide Parlamente doch in diesem Geiste zusammenarbeiten. Wenn wir uns die Realität ansehen, dann erkennen wir, dass eine solche Verpflichtung angesichts der rechtsextremen Mordserie bei uns bitter notwendig ist. Zusammen mit meinen kurdischen und französischen Freundinnen und Freunden trauere ich über den bestialischen Mord an den drei kurdischen Politikerinnen in Paris. Auch diese gemeinsame Trauer muss zu unserer Geschichte gehören. ({2}) Deutschland und Frankreich haben jeweils eine koloniale Geschichte. So etwas prägt die Kolonialmächte genauso wie die Unterdrückten. Noch immer berühren mich die wundervollen Gedichte, die Ho Chi Minh über Frankreich geschrieben hat, gegen das er doch kämpfte. Wie viele Französinnen und Franzosen, wie viele Deutsche waren solidarisch mit den Befreiungskämpfen in Algerien, Marokko, in Tunesien und Vietnam! Auch das ist etwas, was uns verbindet. Umso betrüblicher ist es für mich und meine Fraktion - ich sage das in voller Übereinstimmung mit der französischen Friedensbewegung und der französischen Linken -, dass sich die französische Regierung zur Militärintervention in Frankreichs ehemaliger Kolonie Mali entschlossen hat. Deutschland und Frankreich können viel gemeinsam leisten, aber bitte sehr zivil und mit immer weniger Waffen in dieser Welt. ({3}) Ich habe mit Erich Maria Remarque begonnen und möchte Ihnen zum Schluss noch einen anderen für mich großen Deutsch-Franzosen zitieren. Karl Marx hat 1844 geschrieben, der deutsche Auferstehungstag werde durch das Schmettern des gallischen Hahnes verkündet. Vielleicht könnten wir Karl Marx heute in Gedanken sagen, dass der gallische Hahn zu der Wiederauferstehung des europäischen Gedankens, einer Europäischen Union des Friedens, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit, schmettern wird: Ein anderes Europa ist möglich! Ein solches anderes Europa wollen wir gemeinsam mit Frankreich erreichen. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich Ihnen, Herr Präsident, einmal danken. Dass wir heute vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Erklärung der Französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages zur Unterzeichnung des Élysée-Vertrages vor 50 Jahren debattieren, ist auch ganz wesentlich Ihrem Einsatz zu verdanken. Das ist ein gutes Symbol für das europäische Zusammenwachsen unserer beiden Länder. ({0}) Ich finde es besonders wichtig, dass wir uns mitten in einer tiefen europäischen Krise vergewissern, welche entscheidende Bedeutung die deutsch-französischen Beziehungen haben. Dass wir nach einer langen Geschichte von Rivalität und Kriegen, von deutscher Aggression und von den Verbrechen der Nationalsozialisten nicht nur Partner, sondern europäische Freunde werden konnten, ist das politische Wunder am Rhein im 20. Jahrhundert - nicht weniger als das. ({1}) Dafür gebührt vor allem den Französinnen und Franzosen Dank. Es war Frankreich, das nach den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, nach den Gräueltaten von Deutschen in Frankreich, bereit war, einen Neuanfang in den deutsch-französischen Beziehungen anzugehen. Westdeutschland wurde als europäischer Partner akzeptiert. Das war eine große politische Geste. Es war auch eine strategische Entscheidung, die den Weg zur Europäischen Union geebnet hat. Am Anfang stand 1950 der Schuman-Plan, der 1952 zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion, geführt hat. 1957 kamen dann die Römischen Verträge über eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Aber erst der Élysée-Vertrag hat mit der deutsch-französischen Aussöhnung den Durchbruch für eine neue Qualität des europäischen Zusammenwachsens gebracht. ({2}) Ich sage: Diese politische Weitsicht de Gaulles hat eine entscheidende Grundlage für Frieden und Integration in Europa geschaffen, und das werden wir nicht vergessen. Ich finde es sinnvoll, hier einmal kurz zu erwähnen, welche Auswirkungen der Élysée-Vertrag auf mich ganz persönlich hatte. Meine Jugend fand im alten Westdeutschland statt. In der zweiten Hälfte der 60er-Jahre haben wir in der Schule Theaterstücke und Texte von Jean-Paul Sartre und Albert Camus gelesen. Dass die in die Lehrpläne gekommen sind, war eine Konsequenz des Élysée-Vertrages. Die große Politik hatte unten ganz praktische Wirkung gezeigt. Da wurden eine Sicht auf die Welt und ein Lebensgefühl vermittelt, die es so in Deutschland - zumindest in meiner Wahrnehmung - damals kaum gab. „Existenzialismus“ war das schillernde Zauberwort, das eine ganze Welt der Kultur und auch der politischen Kultur neu eröffnet hat. Dann gab es ein Austauschprogramm zwischen meinem Gymnasium und einem französischen Gymnasium in der Normandie. - Auch eine Auswirkung des ÉlyséeVertrages. 14 Tage fuhr eine deutsche Gruppe nach Frankreich, 14 Tage kam eine französische Gruppe nach Deutschland - 14 Tage, die für uns die Welt verändert haben. Seitdem habe ich auf die Frage nach einer möglichen zweiten Heimat immer spontan „Frankreich“ geantwortet. Deswegen bin ich zutiefst davon überzeugt, dass Partnerschafts- und Austauschprogramme, und zwar nicht nur für Studentinnen und Studenten, sondern für alle Jugendlichen, ganz zentral sind. ({3}) Wir müssen sie ausbauen und verbreitern. Da gibt es eine Menge zu tun. Nun möchte ich noch einige Bemerkungen zur Bedeutung von Frankreich und Deutschland in der europäischen Familie machen. Frankreich und Deutschland verfügen zusammen über mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes der Europäischen Union. Das gibt uns objektiv gemeinsam eine besondere Verantwortung. Wirkungsvolle Entwicklung und Fortschritt gibt es vor diesem Hintergrund nämlich nur, wenn Franzosen und Deutsche an einem Strang ziehen. Das geht nur gemeinsam mit allen anderen Partnern, aber es geht nicht ohne die beiden zusammen. Allerdings dürfen sie nicht der Gefahr erliegen, ein Direktorium zu bilden. ({4}) Deswegen kommt der gemeinsamen Kooperation mit allen Partnerländern, gerade auch mit den wirtschaftlich kleineren Partnerländern, eine besondere Bedeutung zu. Wenn das nicht beherzigt wird, dann ist das kontraproduktiv. Dafür gibt es in der jüngeren Vergangenheit durchaus Beispiele. ({5}) Die Verteidigung wichtiger politischer, sozialer und ökologischer Errungenschaften Europas ist eine entscheidende Herausforderung in der Globalisierung. Daher gibt es objektiv ein überragendes Eigeninteresse der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sich gemeinsam weiterzuentwickeln und die Union zu vertiefen. Deutschland und Frankreich markieren dabei ganz unterschiedliche Ausprägungen der Demokratie. Das heißt nicht etwa besser oder schlechter, sondern eben anders. Manche Experten bezeichnen das Modell in Frankreich als eine Exekutivdemokratie oder Präsidialdemokratie und das in Deutschland als eine parlamentarische Demokratie. Das führt in der Praxis zu ganz unterschiedlichen Diskursen über Entscheidungsprozesse, ihr Tempo, ihre Kontrolle, ihre Umsetzung, und das führt gelegentlich auch zu Missverständnissen. Ich glaube, dass keines der beiden Modelle eine Lösung für die Vertiefung der Demokratie in der Europäischen Union darstellt. Vielleicht muss es ein Kompromiss aus beiden Modellen sein, der Europa den Weg weist. Vielleicht ist das ja die zeitgemäße Form der Fortschreibung des Élysée-Vertrages im 21. Jahrhundert. Das wäre ein großes Thema für die weitere Diskussion zwischen den beiden Parlamenten und Regierungen über die Vertiefung der Europäischen Union. Diese Union braucht eine Vertiefung, wenn sie sich in der Globalisierung auf lange Sicht selbst behaupten will. Danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass der Élysée-Vertrag eine so fundamentale Bedeutung für die europäische Integration erlangen würde, war bei der Unterzeichnung am 22. Januar 1963 in Paris nicht absehbar. Im Gegenteil! Dieser Vertrag war gerade in Deutschland heftig umstritten. Die Atlantiker haben im Gegensatz zu den Gaullisten befürchtet, dass ein bilateraler Vertrag mit Frankreich zulasten der transatlantischen Partnerschaft gehen könnte. Eine Besorgnis, die sich nicht bewahrheitet hat. Dieser Vertrag hat aber nicht nur den bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich einen Rahmen gegeben. Vor allem ist es damit gelungen, auf nur fünf Seiten die Grundlagen für Versöhnung, für Zusammenarbeit, für Frieden in Europa zu schaffen. Dieser Vertrag prägt die Entwicklungslinien der gesamten europäischen Integration bis heute. Das war und bleibt das maßgebliche Verdienst von zwei großen Staatsmännern, des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Es gibt auf der Welt kaum zwei Staaten, die so enge Beziehungen pflegen wie Deutschland und Frankreich. Das ist das Ergebnis einer in der Geschichte bisher einmaligen Aussöhnung ehemaliger Erbfeinde, wobei ich zu denen gehöre, die das Wort „Erbfeinde“ nur in Anführungszeichen verwenden; denn die Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen beweist: Feindschaft ist nicht erblich. ({0}) Feindschaft sitzt nicht in den Genen, sondern in den Köpfen. Feinde können Freunde werden, wenn sie es denn wirklich wollen. Feindschaft kann also überwunden werden. Wir, Deutsche und Franzosen, haben sie überwunden. Das ist die zentrale und bis heute aktuelle Botschaft des Élysée-Vertrags für Europa und die Welt. Aber Freundschaft ist auch nicht vererbbar. Freundschaft muss gepflegt werden. Freundschaft muss ständig erneuert werden. Deswegen geht es darum, die Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen Jahr für Jahr lebendig zu erhalten und von Generation zu Generation weiterzuentwickeln. Das ist unser gemeinsamer Auftrag aus 50 Jahren Élysée-Vertrag. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben nicht nur auf der Ebene der Regierungen ein eng geknüpftes Netz zwischen Deutschland und Frankreich, sondern wir haben auch in vielen Kommunen, in den Ländern im Bereich der Kultur, der Wissenschaft und bei der Sprachförderung eine enge Kooperation. Circa 300 deutsch-französische Vereinigungen, regionale Partnerschaften, kommunale Partnerschaften: All das bildet ein starkes Wurzelgeflecht zwischen unseren Bürgern. Wir haben uns auch seitens des Deutschen Bundestages und der Assemblée nationale im Februar 2010 eine gemeinsame deutsch-französische Agenda 2020 gegeben, mit der wir 80 neue Projekte der Zusammenarbeit bis zum Jahr 2020 umsetzen wollen. Dass die Jugendarbeit einen besonderen Stellenwert in unseren Beziehungen hat, ist von nahezu allen Vorrednern zu Recht betont worden. In diesem Zusammenhang kann die Leistung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes nicht genug gewürdigt werden. Seit 1963 haben die Programme des Deutsch-Französischen Jugendwerkes mehr als 8 Millionen Teilnehmer erreicht. Dieser Austausch zwischen deutschen und französischen Jugendlichen bleibt eine wesentliche Voraussetzung für eine gute Entwicklung unserer künftigen bilateralen Beziehungen und für die Entwicklung der europäischen Integration. Deswegen will ich den jungen Leuten zurufen: Bewahrt euch eure Neugier aufeinander, und bewahrt euch das Interesse füreinander! ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die enge Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland ist umso höher einzuschätzen, als wir aus teilweise sehr unterschiedlichen Traditionen kommen, beispielsweise was unsere Auffassungen von Wirtschaftspolitik betrifft, die Ausgestaltung des politischen Systems, der Parteienlandschaft, den Stellenwert von Religion, das Bildungssystem und viele andere Dinge mehr. Aber genau weil unsere Ausgangsvoraussetzungen so unterschiedlich sind, hat unsere Zusammenarbeit, hat unsere Verständigung einen so hohen Stellenwert, nicht nur für die bilateralen Beziehungen, sondern auch für die europäische Integration insgesamt. Das ist der Grund, weshalb Deutschland und Frankreich zu Pionieren und zur Triebfeder der europäischen Integration geworden sind. Ob Binnenmarkt, Schengen-Abkommen, Wirtschafts- und Währungsunion, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: Alle wegweisenden europäischen Initiativen der letzten Jahre und Jahrzehnte wären ohne den engen Schulterschluss zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar gewesen. Wir wissen freilich auch, dass eine Einigung zwischen unseren beiden Ländern alleine die Kompromissfindung auf europäischer Ebene noch nicht ersetzt, sondern dass sie dafür eher ein Ausgangspunkt ist. Deswegen müssen wir betonen: Die deutsch-französische Kooperation im Rahmen der Europäischen Union war nie als Bevormundung zu verstehen, sondern es war immer eine Einladung zur Zusammenarbeit an alle. Ich würde es deswegen begrüßen, wenn wir unsere Beziehungen auch zu anderen Partnern der Europäischen Union wie Italien oder Polen vertiefen, die ihrerseits eine integrierende Wirkung in ihrem regionalen Umfeld entfalten können. Wir haben mit dem Weimarer Dreieck dafür ein Format, das sich zwischen Deutschland, Frankreich und Polen etabliert hat. Das ist das Zeugnis eines gelungenen Aussöhnungsprozesses zwischen Deutschland und unseren beiden größten europäischen Nachbarn im Westen und im Osten. Meine Damen und Herren, es fehlt nicht an Themen für die künftige Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich: die Weiterentwicklung der Wirtschaftsund Währungsunion, die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die Energiepolitik und die Luft- und Raumfahrtindustrie. Bei all diesen Themen gilt es, im Geiste des Élysée-Vertrages unsere Partnerschaft immer wieder mit Leben zu erfüllen. Dieses Signal sollten wir in der nächsten Woche bei der gemeinsamen Sitzung der Assemblée nationale mit dem Deutschen Bundestag hier in Berlin geben. Ich freue mich darauf. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Axel Schäfer für die SPD-Fraktion. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in diesem Parlament geteilt, nämlich in fünf verschiedene Fraktionen, richtigerweise; wir sind aber auch vereint in vielen gemeinsamen Überzeugungen. Gerade heute sollte Anlass sein, dieses deutlich zu machen. Dass wir alle miteinander die deutsch-französische Verständigung, besser gesagt die deutsch-französische Freundschaft, als unverrückbare Grundlage unserer eigenen Politik verstehen, ist einer der ganz großen Erfolge der Politik der letzten 50 Jahre. Dann gehört es sich auch für einen Sozialdemokraten, einen Christdemokraten wie Konrad Adenauer ausdrücklich zu loben. Auch das sollte in diesem Hause selbstverständlich sein. ({0}) Da wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind, kommt es gerade auch heute darauf an, auf wichtige parlamentarische Entwicklungen, die etwas mit Deutschland, Frankreich und Europa zu tun haben, noch einmal ausdrücklich hinzuweisen. Erstens. Wir, das heißt unsere Vorgängerinnen und Vorgänger, haben es nach vielen Debatten im Deutschen Bundestag - und das war sicherlich auch unter den Kolleginnen und Kollegen der Assemblée nationale streitig - auf Basis einer Initiative des sozialdemokratischen Kanzlers Helmut Schmidt und des französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing hinbekommen, dass erstmals ein Parlament über Ländergrenzen hinaus direkt gewählt wird, nämlich 1979 das Europäische Parlament. ({1}) Das war eine Jahrhundertentscheidung für die parlamentarische Demokratie, und die hat etwas mit dieser sehr intensiven, vertrauensvollen Zusammenarbeit - auch auf parlamentarischer Ebene - mit Deutschland und Frankreich zu tun. Das sollten wir gerade an diesem Tag noch einmal unterstreichen. ({2}) Wir sollten auf ein Zweites hinweisen, weil auch das zu oft vergessen wird: Die Realisierung der deutschen Vereinigung - das heißt, der rechtliche Akt, wie die DDR der Bundesrepublik beigetreten ist - war nur möglich, weil in Europa ein kluger und solidarischer Kommissionspräsident, der französische Sozialist Jacques Delors, zusammen mit dem Europäischen Parlament ein Verfahren gewählt hat - es war eine dänische Kollegin, die das dann organisiert hat -, das keine jahrelangen Beitrittsverhandlungen über die Integration voraussetzte, die wir sonst hätten führen müssen und die uns ungeheure rechtliche Schwierigkeiten bereitet hätte. Dadurch ist die Wiedervereinigung auf sehr sanfte, vor allen Dingen auf sehr zügige und sehr auf Gemeinschaft angelegte Weise möglich geworden. Das war für die deutsche Wiedervereinigung 1990 eine ganz wichtige Voraussetzung. Gleichzeitig war es eine ganz wichtige Aussage, dass auch Kolleginnen und Kollegen aus der früheren DDR, vom Bundestag entsandt, ins Europäische Parlament kamen. Das war ein Novum in der parlamentarischen Demokratie und auch ein Ausdruck der deutsch-französischen Zusammenarbeit zwischen den Ländern und im Parlament. ({3}) Drittens. Wir müssen uns jetzt, wo die staatliche und die institutionelle Zusammenarbeit außer Frage steht, selbstkritisch fragen, wie wir die parlamentarische und auch die parteipolitische Zusammenarbeit verbessern können, weil das das Fundament ist, auf das wir die nächsten Jahrzehnte gründen. Wir haben gelernt, dass es gut ist, sich auf deutsch-französischer Ebene zu verständigen. Christdemokraten haben gelernt, sich mit den jeweiligen Parteiformationen zusammen- und auseinanderzusetzen. Das gilt für die Liberalen in Frankreich sicherlich genauso. Ich fand es gut, dass die Grünen in Person von Daniel Cohn-Bendit ausprobiert haben, wie es ist, wenn man sowohl in Deutschland als auch in Frankreich kandidiert; das war ganz wichtig. Ich fand es auch wichtig, dass die Linkspartei bei einer Reihe von Problemen Resolutionen gemeinsam mit ihren französischen Bruder- und Schwesterorganisationen vorgelegt hat. Natürlich können Sie nicht erwarten, dass ich diesen immer zustimme. Axel Schäfer ({4}) ({5}) Aber es ist wichtig, dass man so etwas praktiziert. Ich erinnere daran, dass wahrscheinlich das erste gemeinsame parlamentarische Gesetzgebungsprojekt in Europa hier im Deutschen Bundestag 2011 gestartet worden ist. Das war die Gesetzgebungsinitiative der SPD zur Finanztransaktionsteuer, die am selben Tag von der Parti socialiste in der Assemblée nationale gestartet wurde. Ich bin froh, dass wir nach dieser Initiative und dem Regierungswechsel in Frankreich das auch praktisch vorangebracht haben. Das zeigt die deutsch-französischen und auch die europäischen Gemeinsamkeiten. ({6}) Viertens. Unabhängig von meiner parteipolitischen Präferenz wünsche ich mir, dass alle hier im Saal die Möglichkeiten nutzen, die Beziehungen zu Frankreich über Städtepartnerschaften hinaus auszubauen. Für mich war es eine außergewöhnliche Erfahrung, im letzten Jahr im Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich aufzutreten. Man ist dann auch gezwungen, seine Französischkenntnisse zu aktivieren und einiges neu zu erlernen; das war wichtig. Das haben Frank Steinmeier, Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel, Martin Schulz und andere Abgeordnete der SPD ebenfalls gemacht. Ich appelliere an die anderen Parteien und Fraktionen, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Denn das macht deutlich: Ja, wir sind Deutsche und Franzosen, aber wir gehören in Europa zu verschiedenen Parteifamilien. - Das führt zur Festigung des Fundaments, oder, wie es der bedeutende Franzose Jean Monnet gesagt hat: Es geht immer um die Solidarität der Tat. - Das sollten wir jeden Tag aufs Neue praktizieren. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Oliver Luksic für die FDP-Fraktion. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was würden wir heute der Jugend sagen? General de Gaulle hat seine Vision zu Deutschland, Frankreich und Europa in Ludwigsburg grandios dargelegt. Ich bin der festen Überzeugung: Wir brauchen jetzt eine neue Erzählung, eine neue Vision für Europa. Der ÉlyséeVertrag ist das Fundament der deutsch-französischen Erfolgsgeschichte, die uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat. Wir müssen sie jetzt ergänzen um neue, konkrete deutsch-französische Projekte. Adenauer und de Gaulle hatten eine klare Vision von Europa. Nach Ende des Krieges und der Rivalitäten war der Vertrag ein historischer Schritt hin zu einer neuen, friedlichen Zukunft. Heute sind aber die Erinnerungen an Konflikte und Kriege nicht mehr so präsent. Der Ruf nach Frieden und Sicherheit ist nicht mehr allzu laut. Dementsprechend muss sich auch die Botschaft der deutsch-französischen Freundschaft in unserer Zeit ein Stück weit wandeln. Im Europa der 27 mit stärkeren supranationalen Institutionen haben die deutsch-französischen Beziehungen am Anfang ein Stück weit an Bedeutung verloren. Aber gerade die Euro-Krise hat gezeigt: Die Zusammenarbeit beider Länder wurde wieder gestärkt. Eine starke Freundschaft ist und bleibt wichtig. Europa braucht gerade jetzt mitten in der EuroKrise einen starken deutsch-französischen Motor. ({0}) Nach dem von Europa geprägten 19. und dem eher von Amerika geprägten 20. Jahrhundert wird nun Asien eine wichtige Rolle spielen. Da Europa bald nur noch 7 Prozent der Weltbevölkerung repräsentiert, brauchen wir ein wirtschaftlich und politisch starkes, vereintes Europa. In Deutschland haben wir es mit wachsender Euro-Skepsis zu tun; das hat man auch in Frankreich, Stichwort „Ablehnung der EU-Verfassung“. Wir sehen, dass gerade unter jungen Menschen ein Stück weit Misstrauen gegenüber Europa herrscht. Dagegen muss man angehen; denn wie de Gaulle richtig erkannt hat, brauchen wir gerade die jungen Generationen, um eine stabile Zukunft zu schaffen. In diesen Generationen muss auch der europäische Patriotismusgedanke eine stärkere Rolle spielen; denn Europa hat seinen Preis. Wir müssen aber auch stärker seinen Wert erkennen. Wer ein vereintes Europa will, der muss auch Bewusstsein für die Werte schaffen, die uns hier in Europa von allen anderen Regionen der Welt unterscheiden. Ich glaube, auf die europäische Erfolgsgeschichte können wir hier im Deutschen Bundestag wirklich stolz sein. ({1}) Wir müssen dringend Projekte stärker fördern, die eine deutsch-französische Zusammenarbeit direkt erfahrbar machen, gerade in den Grenzregionen. Hier funktioniert das „deutsch-französische Labor“ am besten. Projekte zwischen weit entfernten Regionen machen wenig Sinn. Deswegen müssen wir uns hier auf die Grenzregionen fokussieren, und wir müssen das Verständnis der Länder füreinander stärker fördern. Gerade die neueste Umfrage des SR in Zusammenarbeit mit ARD, Arte, Deutschlandfunk und Radio France hat gezeigt, wie sich das Deutschland- und das Frankreichbild auf beiden Seiten des Rheins geändert hat. Verständnis für beide Seiten kommt nicht nur durch parlamentarische Treffen, durch Regierungszusammenarbeit zustande, sondern vor allem dann, wenn unsere Gesellschaften zusammenkommen. Verständnis kommt durch mehr gemeinsame konkrete Projekte zustande. Insbesondere im Bereich Bildung/Kultur haben wir einige Erfolge vorzuweisen, an die wir anknüpfen müssen: die deutsch-französischen Gymnasien - ich durfte sie besuchen -, die Deutsch-Französische Hochschule in Saarbrücken, Austauschprogramme des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, „Erasmus“-, „Sokrates“-Programme. Diese Programme laufen gut und müssen jetzt durch Alumninetzwerke ergänzt werden. Aber wir haben noch viel Verbesserungsbedarf. Schauen wir uns einmal den Arbeitsmarkt an. Wir haben bei uns in Deutschland in vielen Regionen Fachkräftemangel. Gerade im deutsch-französischen Grenzbereich, in Frankreich ist die Jugendarbeitslosigkeit hoch. Gleichzeitig nehmen die Sprachkompetenzen - es wurde eben zu Recht angesprochen - eher ab als zu. Deswegen müssen wir Schritte hin zu einem deutsch-französischen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gehen. Die Abschlüsse müssen gegenseitig besser anerkannt werden. Der Spracherwerb muss gestärkt werden. Das wären konkrete Vorteile, die gerade junge Menschen, deutsche und französische Jugendliche, am eigenen Leib erfahren würden. ({2}) Ein anderes Thema ist die grenzüberschreitende medizinische Versorgung, die in der Praxis immer noch nicht funktioniert. Wenn man auf der französischen Seite einen Herzinfarkt hat und sich in Deutschland behandeln lassen will, funktioniert das eben immer noch nicht im Hinblick auf Krankenkassen und andere Institutionen. Das muss sich ändern, wenn wir Europa wirklich erfahrbar machen wollen. Wir brauchen mehr Leuchtturmprojekte im Bereich Forschung und Entwicklung. Frankreich ist und bleibt unser wichtigster Handelspartner. Unsere Basis für Wohlstand auf beiden Seiten des Rheins sind Forschung und Entwicklung. Da müssen wir neue Leuchtturmprojekte schaffen. Das ist wichtig für das Europa von morgen. ({3}) Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Die deutschfranzösischen Beziehungen haben immer Höhen und Tiefen gehabt. Im Europa der 27 brauchen wir in der Tat noch stärker das Weimarer Dreieck. Wir brauchen jetzt aber vor allem einen deutsch-französischen Motor, der Impulse liefert, weil Europa eben nicht das Problem ist, sondern die Lösung. Wir müssen stärker neue Chancen schaffen für junge Menschen. Wir brauchen Projekte mit Mehrwert für beide Seiten des Landes, gemeinsame Ausbildungen, einen gemeinsamen Arbeitsmarkt, Leuchtturmprojekte in Forschung und Entwicklung, konkrete Projekte in den Grenzregionen. Denn nur wenn wir neue Wege einschlagen, können wir Frieden, Freiheit und Wohlstand für die junge Generation in Deutschland, Frankreich und Europa auch in den nächsten 50 Jahren schaffen und erhalten. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Andrej Hunko. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die Linke bezieht sich positiv auf die deutsch-französische Aussöhnung. Sie erkennt auch die Bedeutung der Élysée-Verträge, die vor 50 Jahren geschlossen worden sind. Wir beziehen uns maßgeblich - auch positiv - auf die zivilgesellschaftlichen Komponenten. Ich selbst war als Jugendlicher mit elf, zwölf Jahren als Mitglied der C-Jugend einer Fußballmannschaft Teil eines Austauschprogrammes. Ich erinnere mich sehr gut an die Atmosphäre in der französischen Gastfamilie, die uns aufgenommen hat. Ich habe gespürt, welche Bedeutung dieser Austausch für sie hatte und welche Überwindung dahinter stand angesichts der drei Kriege, die vorangegangen waren. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Möglichkeit hatte. Für uns Linke hat die deutsch-französische Kooperation allerdings eine längere Geschichte. Ich will erinnern an die Französische Revolution 1789, an die Ideen, die überhaupt die Grundlage auch für eine moderne Linke gebildet haben, an die utopischen Sozialisten Anfang des 19. Jahrhunderts, die die Arbeiterbewegung und die Linke in Deutschland im 19. Jahrhundert stark beeinflusst haben. Ich will erinnern an die Pariser Commune mit ihrer Praxis der direkten Demokratie, und ich will erinnern an die antimilitaristischen Traditionen insbesondere im Ersten Weltkrieg und an die Résistance im Zweiten Weltkrieg. All das waren Vorgänge, Ideen, die starken Einfluss auf linke Bewegungen in Deutschland hatten. ({0}) Aber auch in der jüngeren Geschichte hat es aus linker Perspektive Wechselwirkungen gegeben. Die Gründung der globalisierungskritischen Organisation Attac ist in Frankreich vollzogen worden. Das linke Nein zum Verfassungsvertrag 2005, die gute Zusammenarbeit der Linken in den Comités du NON haben starken Einfluss gehabt auf die Gründung unserer Partei in Deutschland, auf das Projekt einer pluralen Linken. Umgekehrt hat diese Gründung Einfluss gehabt auf die Gründung der Front de gauche in Frankreich. Das sind wichtige Bezugspunkte für uns, und an derlei werden wir auch in Zukunft sehr stark arbeiten. Aktuell werden Frankreich und der französische Präsident von den internationalen Finanzmärkten sehr stark unter Druck gesetzt. Davon betroffen sind die höher entwickelte französische Sozialstaatlichkeit, der Mindestlohn von 9,40 Euro, der in Frankreich existiert, das höher entwickelte Sozialsystem. Diesem Druck müsste sich eine deutsch-französische Solidarität entgeAndrej Hunko genstellen, statt dass man sich gemeinsam in militärische Abenteuer stürzt. ({1}) Ich freue mich, dass wir in der nächsten Woche hier auch die Kolleginnen und Kollegen der Front de gauche begrüßen können. Für uns ist die deutsch-französische Zusammenarbeit von links sehr wichtig; Axel Schäfer hat es eben erwähnt. Wir haben eine Reihe von gemeinsamen Anträgen gestellt, und wir werden das in Zukunft weiter intensivieren; denn wir sind zutiefst davon überzeugt, dass wir einen deutsch-französischen Motor von links brauchen für eine andere Entwicklung in Europa, für ein anderes, ein soziales und friedliches Europa. Daran werden wir in Zukunft sehr intensiv arbeiten. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum für die CDU/CSU-Fraktion.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Schockenhoff hat vorhin schon einiges Richtige zum Friedensnobelpreis gesagt, über den wir uns alle freuen können und dessen Kernelemente die deutschfranzösische Aussöhnung und damit natürlich der Élysée-Vertrag von 1963 sind. Aber ebenso wie der Friedensnobelpreis hatte auch der Élysée-Vertrag seine Vorgeschichte. Es war 1950, als der Schuman-Plan präsentiert wurde, ein mutiger und zugleich genialer Plan; denn es sollte fortan das unter eine gemeinsame Verantwortung mit einer gemeinsamen Behörde gestellt werden, was jahre-, jahrzehnte-, vielleicht sogar jahrhundertelang die Ursache militärischer Konflikte und Kriege war. Es gab unter anderem eine gemeinsame Verantwortung für Rohstoffe. Man muss auch hier die Vorgeschichte bedenken: Es waren damals mutige Männer wie Präsident de Gaulle und Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler, die sich über den Trümmerbergen von Europa die Hände reichten. Deswegen ist es in gewisser Weise, wenn man so möchte, posthum auch ihr Friedensnobelpreis. Auch damals gab es natürlich Schwierigkeiten, etwa was die Präambel anging; Kollege Silberhorn hat darauf hingewiesen. Deutschland wollte die neue deutsch-französische Achse haben, wie sie danach vielfach bezeichnet wurde, aber nicht unter Preisgabe der Beziehungen zu Großbritannien und den USA. Präsident de Gaulle sprach in Ansehung der Präambel sogar von einer Entwertung des Vertrages. Die Geschichte sollte aber anderes lehren. Die drei Kernelemente waren: regelmäßige Konsultationen der Regierungschefs, Aufbau eines deutschfranzösischen Jugendwerks und natürlich gemeinsame Zielsetzungen im Bereich der Außenpolitik und der Sicherheitspolitik. Gerade Letzteres zeigt, dass der ÉlyséeVertrag auch 50 Jahre nach seiner Unterzeichnung noch eine Menge an Potenzial hat. Ja, es ist viel passiert. Viele erinnern sich vermutlich noch daran, dass es hieß: Die Schlagbäume müssen brennen zwischen Frankreich und Deutschland. - Es wurde die Abschaffung der Grenzkontrollen gefordert. Und siehe da: Jahre später konnten wir mit der Realisierung des Schengen-Raums tatsächlich den Wegfall der Grenzkontrollen feiern - eine der ganz großen europäischen Errungenschaften, weil es unsere Bürgerinnen und Bürger zusammenbringt. ({0}) Ich darf auch daran erinnern, dass es unter den damaligen Staatsministern Hoyer und Lellouche ein 80Punkte-Programm gab, das noch abgearbeitet werden muss. Aber auch wir selbst als Parlament müssen eine engere deutsch-französische Zusammenarbeit suchen. Der Europaausschuss des Deutschen Bundestages und die Kollegen der Assemblée nationale haben im Januar 2011 eine gemeinsame Delegation gebildet und sind nach Kroatien gereist. Wir werden das im April wiederholen; Ziel ist diesmal Serbien. Vielleicht können wir ja das, was zwischen Deutschland und Frankreich mit dem Élysée-Vertrag gelungen ist, was der Kern des Friedensnobelpreises war, auch in eine Region des sogenannten westlichen Balkans hineintragen, sodass es dort genauso friedenstiftend wirken kann. Genau das macht unsere Europäische Union aus. Die deutsch-französische Zusammenarbeit wurde oftmals als Motor bezeichnet: der Motor Europas, der Motor der europäischen Integration. Aber ein Auto fährt nicht mit einem Motor allein. Wir brauchen einander, so wie man auch bei einem Auto alles braucht. Mit Blick auf andere Länder der Europäischen Union darf man deswegen auch an einem solchen Tag sagen: Man sollte nicht vom vierten Gang in den Rückwärtsgang zurückschalten, weil man sonst Gefahr läuft, dass einem das Getriebe um die Ohren fliegt. Der kommende Dienstag, an dem wir, exakt 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, zusammen hier in Berlin feiern dürfen, ist ein Tag der Freude, ein Geschenk der Geschichte und - man darf auch sagen - ein Rendezvous des Glücks. Lassen Sie uns in diesem Sinne weiter an einer Vertiefung der deutschfranzösischen Zusammenarbeit arbeiten! Europa braucht uns und schaut auf uns. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin DrobinskiWeiß das Wort. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, Herr Kollege Krichbaum, Sie haben recht: Der Élysée-Vertrag hat noch Potenzial, auch weibliches. Die Zukunft, die Zukunft unserer beiden Völker, der Grundstein, auf welchem die Einheit Europas gebaut werden kann und muss, der höchste Trumpf für die freie Welt, bleiben die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk. ({0}) Diese Worte richtete 1962 der französische Präsident an die deutsche Jugend. Mit einem historischen Freundschaftsvertrag setzten de Gaulle und Adenauer 1963 dann einen Schlussstrich unter eine Erbfeindschaft, die jahrhundertelang Krieg und Zerstörung verursachte. In der Region meines Wahlkreises, in Baden, in der Nachbarschaft zum Elsass, haben diese Worte eine ganz besondere Bedeutung. Immer wieder aufs Neue entlud sich an den Menschen am Oberrhein der nationalistische Wahn dieser Erbfeindschaft. Das hinterlässt Narben. Nach langjähriger grenzüberschreitender Zusammenarbeit haben etwa Straßburg und ihre deutsche Nachbarstadt Kehl erst knapp 60 Jahre nach dem Krieg begonnen, sich mit baulichen Projekten sichtbar und spürbar näher zu kommen. Erst jetzt soll die grenzüberschreitende Straßenbahnverbindung erneut entstehen, die es schon vor 100 Jahren gab, die aber wegen des Ersten Weltkrieges ein frühzeitiges Ende fand. Erst jetzt wendet sich Straßburg auch geografisch seiner deutschen Nachbarin zu und bebaut das Niemandsland, das sie bisher trennte. Diese Baustellen zeugen davon, dass wir uns bei den deutsch-französischen Beziehungen längst noch nicht in einem Stadium der Denkmalspflege befinden, sondern mitten im Aufbau. Das gilt auch für den Lebensalltag der Menschen. Der Rhein wandelt sich von einer Grenze zu einem Element, das verbindet. Wo einst Menschen aufeinander geschossen haben, kommen heute Menschen zusammen und erleben einen Alltag, der ganz selbstverständlich grenzüberschreitend ist. In diesem Alltag stoßen die Menschen auch noch auf Barrieren. Wer im Nachbarland einkauft, wohnt, studiert, arbeitet oder Familie hat - wer diese Freiheiten im geeinten Europa wahrnimmt -, bekommt oft Schwierigkeiten. Beim Steuerrecht oder bei der Gesundheit können das existenzielle Fragen sein. Aber auch banale Dinge können im deutsch-französischen Alltag Ärger bereiten. So hat zum Beispiel das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz in Kehl jährlich Zehntausende von Anfragen, Reklamationen und Rechtsfälle aus ganz Frankreich und ganz Deutschland zu bearbeiten. Im Bereich der Verbraucherpolitik hat sich einiges getan. Doch es bleibt noch mehr zu tun. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Mobilität von Patientinnen und Patienten, stehen wir erst am Anfang. Nach 50 Jahren Freundschaft in einem vereinten Europa besteht zu Recht der Anspruch, dass solche Hürden im Leben der Menschen verschwinden. Wenn wir uns wünschen, dass Deutsche und Franzosen wieder neugieriger aufeinander werden und sich mehr Menschen mit der Kultur des Nachbarlandes bekannt machen und auch persönliche Beziehungen knüpfen, dann müssen wir diese Hürden abbauen. ({1}) Ich glaube, wir sind in Deutschland nach wie vor neugierig auf unsere Nachbarn. Das zeigen nicht nur die Erfolge von französischen Filmen wie „Ziemlich beste Freunde“ oder „Willkommen bei den Sch’tis“. Seit 1963 - das ist schon mehrfach genannt worden - hat das Deutsch-Französische Jugendwerk fast 8 Millionen jungen Deutschen und Franzosen die Teilnahme an Austauschprogrammen ermöglicht. Ich selbst bin eine von ihnen und konnte auf diesem Weg meine Brieffreundin in Nantes persönlich kennenlernen und mich dabei und auch später mit der französischen Kultur und der Sprache vertraut machen. Ich bedaure, dass inzwischen immer weniger Menschen die Sprache des Nachbarn tatsächlich erlernen wollen. Das ist besonders schade, weil gerade heute, im Gegensatz zu 1963, der Aufwand minimal ist, mit interessanten Menschen im Nachbarland in Kontakt zu kommen, zum Beispiel über Internetdienste wie Twitter. Immer wieder wurden seit 1963 neue Impulse in der deutsch-französischen Beziehung gesetzt. Zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages wünsche ich mir besonders im Bereich der Sprache und Verständigung neue Vorstöße. Sehr geehrte Damen und Herren, was bei uns recht nüchtern deutsch-französischer Motor heißt, das nennen unsere Nachbarinnen und Nachbarn etwas romantischer das deutsch-französische Paar - le couple franco-allemand. Ein Paar, das schon 50 Jahre zusammen ist, muss sich immer wieder neu kennenlernen. „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer“, hat Willy Brandt treffend gesagt. Das gilt auch für die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Diese Werte müssen wir stets aufs Neue vermitteln und dabei neue Impulse setzen. Nur so schaffen wir eine Art Erbfreundschaft, deren erste 50 Jahre nur der Anfang waren. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Andreas Mattfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.

Andreas Mattfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Élysée-Vertrag hat - wir haben es heute gehört - die Politik und die Beziehungen zwiAndreas Mattfeldt schen Frankreich und Deutschland auf eine Weise verändert, wie es nie zuvor der Fall war. Ohne die deutschfranzösische Freundschaft, die eben nicht selbstverständlich ist, hätte sich auch Europa ganz anders entwickelt. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass neben den politischen und wirtschaftlichen Fakten ein Aspekt im Umgang zwischen Staaten eine besondere Rolle spielt, und das ist der Faktor „Vertrauen“. Aussöhnung können wir in schriftlichen Verträgen wie dem Élysée-Vertrag beschreiben; gelebt wird sie durch gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Achtung. Gerade dieses Vertrauen zwischen beiden Ländern haben die seinerzeitigen Staatschefs de Gaulle und Adenauer gelebt und - ich möchte fast sagen - zementiert. Sie haben es so zementiert, dass alle nachfolgenden Spitzen beider Länder sich mit großer Hingabe dem Erbe Adenauers und de Gaulles nicht nur verpflichtet fühlten, sondern alle in ihrer ganz persönlichen Art dieses aufgebaute Vertrauen gefestigt und fortentwickelt haben. Meine Damen und Herren, große Politik hat immer auch Auswirkungen auf den ganz persönlichen Bereich der Menschen. Gestatten Sie mir daher einen Schwenk in den privaten Bereich, um zu verdeutlichen, welche positiven Auswirkungen der Élysée-Vertrag für uns Bürger hat. Ich persönlich kann sagen, dass es mich ohne die deutsch-französische Freundschaft aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geben würde. Denn durch die im ÉlyséeVertrag vereinbarten Städtepartnerschaften haben sich meine Eltern 1968 kennengelernt. Leider war aufgrund der Jugend meiner Eltern mein Vater bereits wieder in Frankreich, als ich in Deutschland geboren wurde. Und es sollte 35 Jahre dauern, bis ich meine französische Familie kennenlernen durfte. Ein besonderes Geschenk war für mich, dass ich bei meinem ersten Familienbesuch auch noch meine französischen Großeltern persönlich kennenlernen durfte. Dabei war die größte Überraschung, dass mein Opa sofort in einem ausgezeichneten Deutsch mit mir sprach. Alle waren erstaunt, denn niemand, auch nicht in meiner französischen Familie, wusste, dass er die deutsche Sprache so gut beherrschte; hiervon hatte er nie erzählt. Natürlich fragten wir alle, warum er so gut Deutsch könne, und er erzählte zum ersten Mal von seiner Verschleppung durch Nazideutschland in den ersten Kriegstagen. Vier Jahre lang musste er in Thüringen in den unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Betrieben unter - wie wir uns alle vorstellen können - zum Teil erbärmlichsten Umständen arbeiten. Diese Zeit wollte er verdrängen, und ich hatte Angst, dass er seine schlimmen Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen auch auf mich übertragen würde. Doch diese Angst war unbegründet; denn er erzählte immer wieder, dass durch die Freundschaft von de Gaulle und Adenauer auch Freundschaft zwischen den Menschen in Deutschland und Frankreich entstanden sei. Man müsse verzeihen können, so seine Worte. Dies war für die Generation meiner französischen Großeltern sicherlich nicht selbstverständlich. Verschweigen möchte ich nicht, dass mein Opa mir Erlebnisse geschildert hat, die zumindest jemanden aus meiner Generation sehr nachdenklich machen. Er hat aber auch von Begebenheiten erzählt, die Hoffnung machten - Hoffnung, dass eben nicht alle Deutschen seinerzeit die Zwangsarbeiter als reine Sklavenarbeiter sahen, sondern einige anders dachten. Meinem Großvater wurde, wenn auch verbotenerweise, Familienanschluss geboten. Dennoch ist er nie wieder nach Deutschland gekommen. Meine Damen und Herren, für mich waren diese Gespräche natürlich hochinteressant. Denn persönliche Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg kannte ich bis dato nur aus Schilderungen meiner deutschen Familienmitglieder, von denen einige an der französischen Front eingesetzt waren. Allein der Gedanke, dass sich mein deutscher und mein französischer Großvater theoretisch im Krieg hätten töten können, hat schon etwas Unwirkliches. Meine Damen und Herren, ich glaube, diese persönliche Erfahrung macht sehr deutlich, dass gute politische Verträge wie der Élysée-Vertrag und daraus resultierende Freundschaften sehr viel Positives für die Menschen bewirken können. Ganz persönlich freue ich mich, dass ich als Mitglied dieses Hauses und als Mitglied des Haushaltsausschusses, der auch für das Deutsch-Französische Jugendwerk zuständig ist, dazu beitragen konnte, dass das DFJW erstmals seit seiner Gründung zusätzliche finanzielle Mittel aus Deutschland und - das war für die Franzosen nicht einfach - auch aus Frankreich erhält. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam die deutsch-französische Freundschaft weiter leben, im Interesse eines vereinten Europas, im Interesse nachfolgender Generationen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/12056 und 17/11879 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf mich insbesondere für die liebenswürdigen Hinweise auf die Resolution bedanken; einige der Redner haben sie ausdrücklich angesprochen. Nach dem Verlauf der Debatte habe ich den Eindruck, dass wir morgen im Ältestenrat einvernehmlich feststellen können, dass dies der gemeinsame Text ist, den wir hier in der nächsten Woche mit den französischen Kollegen beschließen wollen. ({0}) Präsident Dr. Norbert Lammert - Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann halte ich das so ausdrücklich fest. Ich mache Sie zweitens darauf aufmerksam, dass Sie morgen in Ihren Fächern die Unterlagen zum Programm- ablauf und zu den einzelnen Veranstaltungen sowie die Zeitpläne finden werden. Ebenso erhalten Sie eine Re- produktion der Originalausfertigung des Élysée-Vertra- ges - er hat heute in dieser Debatte aus guten Gründen eine zentrale Rolle gespielt -, die dieses historische Er- eignis bei jedem von Ihnen gewissermaßen in dauerhaf- ter Erinnerung hält. Schließlich erlaube ich mir den technischen Hinweis - möglicherweise hat es da bei dem einen oder anderen Missverständnisse gegeben -, dass wir in der nächsten Woche zwar keine Sitzungswoche haben, die gemein- same Sitzung mit der Assemblée nationale aber selbst- verständlich ein Sitzungstag des Deutschen Bundestages ist. Dann können wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen. - Ich werde gerade darauf aufmerksam ge- macht, dass sich die von mir soeben aufgerufenen Über- weisungen von Vorlagen auf den Tagesordnungspunkt beziehen, den wir nun erst behandeln wollen. Ich ver- mute, dass das an der nachher zu wiederholenden Be- schlussfassung in der Sache nichts ändern wird. Zu dem Tagesordnungspunkt, den wir gerade abgeschlossen ha- ben, gab es keine ausdrücklichen Vorlagen. Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 2 a bis 2 e: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine neue Haltung - Artgerecht statt massenhaft - Drucksache 17/12056 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Bettina Herlitzius, Dorothea Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dörfer vor Agrarfabriken schützen - Planungs- und Immissionsrecht verschärfen - Drucksache 17/11879 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung senken und eine wirksame Reduktionsstrategie um- setzen - Drucksachen 17/8157, 17/8611 - Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Landwirtschaftliche Nutztierhaltung tierschutz- gerecht, sozial und ökologisch gestalten - Drucksachen 17/10694, 17/11817 - Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Heinz Paula Alexander Süßmair e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltungsbedingungen für Puten verbessern - Drucksachen 17/11667, 17/12048 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Heinz Paula Alexander Süßmair Für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung eineinviertel Stunden vorgesehen. Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch, sodass wir so verfahren können. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Woche beginnt die Internationale Grüne Woche. Das zeichnet die Situation aus: Auf der Internationalen Grünen Woche - das ist sozusagen die Leistungsschau der Landwirtschaft - wird wahrscheinlich wieder gezeigt, wie eine Kuh dazu gebracht werden kann, pro Jahr weit mehr als 10 000 Liter Milch zu geben. Zeitgleich wird hier ganz in der Nähe eine Demonstration unter dem Motto „Wir haben es satt!“ stattfinden. Denn es gibt in diesem Land immer mehr Menschen, die sagen: Wir akzeptieren nicht mehr, dass mit Tieren so umgegangen wird, dass Tiere nicht mehr artgerecht gehalten werden, sondern nur noch auf Masse gesetzt wird. - In unserem Land gibt es mittlerweile über 200 Bürgerinitiativen, davon allein 80 im Land Niedersachsen, die sagen: Schluss mit den Megaställen, den Megaschlachthöfen, Schluss mit der Massentierhaltung! ({0}) Diese Woche findet noch etwas anderes statt. Frau Aigner tut immer so, als sei gar nichts zu verändern, weil alles so gut ist. Der niedersächsische Landwirtschaftsminister ließ sich neulich sogar zu der Behauptung herab, in der Landwirtschaft gebe es gar keinen Veränderungsbedarf. Ich sage Ihnen aber: Der Druck ist groß. Der Druck ist auch bei Ihnen groß, weil Sie merken, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher und auch die bäuerliche Landwirtschaft Ihr Zugehen auf die Agrarindustrie nicht mehr akzeptieren wollen. Warum sonst sollte sich Frau Aigner selbst einladen, um heute beim Tierschutzbund die „Initiative Tierwohl-Label“ vorzustellen? Sie hat an dieser Stelle gar nichts vorzuweisen, nur die aufgedrängte Bereicherung durch Anwesenheit einer Ministerin. ({1}) Noch putziger - ich weiß gar nicht, wann es das jemals gab -: Der Druck, wegen der Tierhaltung auf dem Lande die Wahl am Sonntag zu verlieren, ist in der Union so hoch, dass sogar die Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Freitag zur Eröffnung der Internationalen Grünen Woche erscheint. ({2}) Glaubwürdig sind Sie mit Ihrer Politik trotzdem nicht. ({3}) Davon kann gar nicht die Rede sein. Ein kleiner Rundgang ändert das nicht. Letztes Jahr hat Frau Aigner auf der Internationalen Grünen Woche eine Charta für die Landwirtschaft vorgestellt. ({4}) Das ist aber nur schöner Schein auf Hochglanzpapier, sonst nichts. Wahr ist: Die Union, CDU und CSU, ist immer noch Erfüllungsgehilfe der Agrarindustrie, der Großmastanlagen und der Megaschlachthöfe. ({5}) Bei Ihnen heißt es immer noch: Massenware, Dumpingpreise und Weltmarktorientierung. Bei Ihnen heißt es immer noch: Investitionshilfen vor allem für jene Betriebe, die expandieren wollen, statt für jene, die auf Qualität setzen. Es geht bei Ihnen sogar so weit, dass Sie Hermesbürgschaften für Hühnerknäste vergeben, nicht nur in der Ukraine, sondern sogar in Weißrussland. Damit machen Sie den hiesigen Bauern durch deutsche Steuergelder Konkurrenz. ({6}) Das ist garantiert nicht die Partei, die für die Bauern in Deutschland steht. Unter Ihrer Regierung hat sich seit 2007 die Zahl der Masthühner pro Betrieb mehr als verdoppelt. Dieses wachstumsgetriebene Agrarmodell befindet sich nicht nur in einer Krise, es treibt die Landwirtschaft immer weiter in die Krise hinein. Immer weniger Bauern können ein angemessenes Einkommen erwirtschaften. In der Massentierhaltung herrschen verheerende Zustände: durch systematische Tierquälerei bei Zucht und Haltung und durch den missbräuchlichen Einsatz von Antibiotika. Die Auswirkungen dieses Missbrauchs können mittlerweile im Schweinemett festgestellt werden. Die Qualität des Grundwassers ist wegen der hohen Nitratbelastung vielerorts beängstigend. Schauen Sie sich an, wie viele Böden allein in Niedersachsen überbelastet sind. Sie hingegen verbreiten den Eindruck, als würden wir all das schöne Fleisch produzieren, um die Ernährung in der Welt zu sichern, dabei ist es umgekehrt. Die grausame Wahrheit ist: Der Anbau von Tierfutter im Ausland, zum Beispiel in Brasilien und Argentinien, der für unsere Massentierhaltung notwendig ist, macht uns vor allen Dingen zum Nahrungsmittelkonkurrenten für arme Menschen, das heißt, wir produzieren Hunger in Brasilien und Argentinien. Das ist die Wahrheit! ({7}) - Herr Schweickert ruft: „vollkommener Blödsinn“, Herr Schindler winkt gleich ab. Ich weiß nicht, ob das Ihr Verständnis von Parlamentarismus ist. Fahren Sie hin, lesen Sie ein gutes Buch darüber, dann wissen Sie, wie massiv der Anbau in den Regionen vor Ort ist. Sie haben mit Ihrer Art der Förderung die Öffentlichkeit getäuscht. Bei Ihnen steht nicht „bäuerliche Landwirtschaft“ und „Tierwohl“ drauf. ({8}) Mit Ihrem Tierschutzpaket, das eine totale Pleite ist, verhindern Sie eine Neuausrichtung der Landwirtschaft. Sie sind verantwortlich für die quälerische Haltung von Tieren und für einen regelmäßigen Antibiotikaeinsatz. ({9}) Kein Wunder, dass die Ministerin letztes Jahr zum „Dinosaurier des Jahres“ gekürt worden ist. Eines ist klar: Es gibt eine wachsende Bürgerbewegung, die sich das nicht bieten lässt. Die Verbraucher lassen sich diesen Mangel an Information nicht bieten. Wir haben es satt! Deshalb gehen auch wir zur Demonstration. Die Menschen haben ein Recht, sich ein Stück Heimat zu erhalten, statt den Großinvestoren den Boden zu überlassen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Bauern haben das Recht, Klasse statt Masse zu produzieren. Die Bauern haben das Recht, dass wir die öffentlichen Gelder für sie und nicht für irgendwelche Agrarinvestoren auf dieser Welt ausgeben. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun für die Bundesregierung die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. - Bitte schön. ({0})

Ilse Aigner (Minister:in)

Politiker ID: 11003028

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig: In dieser Woche haben wir wieder die Freude, die Grüne Woche zu eröffnen, und unsere Bundeskanzlerin wird die Grüne Woche, eine beeindruckende Leistungsschau, mit eröffnen, weil sie ihre Wertschätzung für diese Branche zeigen möchte, die qualitativ hochwertige Lebensmittel zu bezahlbaren Preisen produziert. Das verdient nach wie vor große Anerkennung. ({0}) Nur Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, versuchen jedes Jahr wieder, unsere Landwirte und die gesamte Branche schlechtzureden. ({1}) Ich bin dankbar, dass wir heute diese Debatte führen. Das ist eine gute Gelegenheit, mit den von Ihnen immer wieder in den Raum gestellten Falschbehauptungen aufzuräumen. Ich habe es satt, von Ihnen immer wieder dieselben falschen Behauptungen zu hören. ({2}) Das bedeutet nicht, dass ich bestehende Probleme oder Fehlentwicklungen hier klein- oder wegreden will. Ja, wir werden beim Thema Antibiotika etwas machen. Wir wissen auch, dass es Diskussionen über die Viehdichten gibt. Deshalb habe ich den Charta-Prozess eingeleitet, in dem die Verbraucherverbände mit den Vertretern der Landwirtschaft zusammengebracht werden. ({3}) Sie hingegen bedienen Vorurteile, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie führen Studien durch, die keine Neuigkeiten bringen und deren Seriosität zu bezweifeln ist. ({4}) Ihre Stimmungsmache sehe ich in der Tat mit großer Sorge. Tatsache ist, dass viele Menschen heutzutage keinen persönlichen Bezug mehr zur Landwirtschaft haben. Diese Menschen dürfen keinen falschen Eindruck bekommen. Deshalb werden wir als christlich-liberale Koalition Ihre Kampagne nicht unerwidert lassen. Wir arbeiten nicht mit Abschreckung, sondern wir arbeiten an der Herstellung einer neuen Nähe zwischen Landwirtschaft und Verbrauchern. ({5}) Vier Punkte will ich nennen: Erste Falschbehauptung: Unsere Agrarpolitik fördert die Massenproduktion und dient nicht dem Umweltschutz. - Tatsache ist: Wir in Deutschland haben im Gegensatz zu fast allen europäischen Nachbarn Prämien, die nicht mehr an die Produktion gekoppelt sind. ({6}) Die Butterberge sind abgebaut, und die Milchseen sind ausgetrocknet. Die Zeiten der Überproduktion sind vorbei. Wir fördern nur noch die Bewirtschaftung der Flächen und eben nicht mehr die Produktionsmenge von Fleisch, Milch oder Getreide. ({7}) - Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie sollten es am allerbesten wissen. ({8}) Trotzdem kämpfen Sie gegen die Direktzahlungen. Sie unterstützen uns nicht einmal in der Bestrebung, die anderen Länder so weit zu bringen, wie Deutschland ist. Sie sollten uns lieber unterstützen. ({9}) Damit das etwas plastischer wirkt, rechne ich es Ihnen persönlich noch einmal vor. Nehmen wir einen Betrieb in Nordrhein-Westfalen. Von mir aus stehen dort auch viele Tiere im Stall, sagen wir 1 500 Mastkälber. Der Betrieb bewirtschaftet nur wenig Fläche, nur 10 Hektar. Dieser Betrieb bekommt in diesem Jahr 3 600 Euro Direktzahlungen. Nehmen wir einen anderen Betrieb in Nordrhein-Westfalen mit einer größeren Fläche, mit 100 Hektar, der 100 Kühe im Stall stehen hat. Dieser Betrieb erhält 33 000 Euro Direktzahlungen pro Jahr. Wenn dieser Betrieb ökologisch bewirtschaftet wird, dann bekommt er 50 000 Euro pro Jahr. ({10}) Das ist der Unterschied. Das leugnen Sie. Allein in meiner Amtszeit sind zwei Steigerungen der Fördersätze für den ökologischen Landbau im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik zu verzeichnen. Das Greening unterstützen wir, aber - und das ist der Unterschied - wir wollen keine Flächenstilllegungen. Wir wollen, dass es nicht nur Bürokratie gibt. Weiter wollen wir, dass die Leistungen, die unsere Landwirte erbringen, auch anerkannt werden. ({11}) Auf rund einem Viertel der gesamten deutschen Agrarflächen finden heute bereits Agrarumweltmaßnahmen statt, die für mehr Biodiversität und ein attraktives Landschaftsbild sorgen. Wir setzen eben auf eine effektive und gleichzeitig nachhaltige Landwirtschaft. ({12}) Zweite Falschbehauptung: Moderne Tierhaltung geht zulasten des Tierwohls. - Sie von den Grünen romantisieren die Vergangenheit, als wäre früher alles besser gewesen. ({13}) Jeder neue Stallbau wird verdammt. Tatsache ist: Es ist schlicht und ergreifend falsch, dass Tiere in größeren Haltungen grundsätzlich weniger Platz haben. Es ist auch falsch, dass es den Tieren in größeren Haltungen generell weniger gut geht. ({14}) Glauben Sie wirklich, dass die dunklen und feuchten Ställe von früher Vorbild sein können? Das ist, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man sie mit den modernen und hygienischen Ställen von heute vergleicht, wohl nicht der Fall. ({15}) Ausschlaggebend ist die Arbeit des Landwirts oder der Landwirtin. Sie haben sich an verbindliche europäische Regeln zugunsten des Tierwohls zu halten. Hinzu kommt noch die Qualität von Stallanlagen und Haltungsverfahren. Deshalb sage ich: Jeder neugebaute Stall ist grundsätzlich ein Fortschritt für das Tierwohl. ({16}) Meine Damen und Herren, die übergroße Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher kann Ihren Alarmismus nicht mehr hören. 81 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher haben - trotz so mancher Anfeindungen von Ihrer Seite - großes bzw. sehr großes Vertrauen gegenüber unseren Landwirten. Dritte Falschbehauptung: Die Bundesregierung tut zu wenig für den Tierschutz. Tatsache ist: Diese christlichliberale Koalition hat mehr für den Tierschutz getan als jede andere Bundesregierung. ({17}) Wir regieren aber nicht nach dem Bauchgefühl, ({18}) sondern nach dem neuesten Stand der Forschung. Deshalb stellen wir 62 Millionen Euro für Forschungs- und Innovationsprojekte sowie für Modell- und Demonstrationsvorhaben in der Nutztierhaltung bereit. Bei der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ haben wir für besonders tierfreundliche und ressourcenschonende Haltungs- und Produktionsverfahren ebenfalls nachgesteuert. Was heißt das? Das heißt, bis zu 40 Prozent der Investitionskosten werden künftig übernommen, wenn ein besonders tiergerechter Stall gebaut wird. Das ist ein deutliches Plus und eine Investition in das Tierwohl. ({19}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen noch eines sagen: Sie sollten sich vielleicht grundsätzlich gut überlegen, was Sie mit manchen Forderungen anrichten können. Die Bedingungen, die Sie manchmal formulieren, können große Betriebe vielleicht noch ganz gut erfüllen. ({20}) Kleine Betriebe aber müssen oft zumachen, weil sie sie nicht mehr stemmen können. Die von Ihnen geforderten Maßnahmen würden den Strukturwandel beschleunigen. Ich weiß nicht, ob Sie das wollen. Ich will es nicht. ({21}) Meine Damen und Herren, die christlich-liberale Koalition hat einen klaren Standpunkt: Wir schreiben den Verbrauchern eben nicht vor, wie sie sich zu ernähren haben. ({22}) Das unterscheidet unsere Vorstellungen von Ihren. Wir setzen auf Transparenz und die Macht des Verbrauchers. Deshalb habe ich das Tierwohl-Label, sehr geehrte Frau Künast - zu der Präsentation habe ich mich nicht eingeladen, sondern ich wurde von Herrn Schröder eingeladen -, auch mit 1 Million Euro gefördert. ({23}) - Ja, natürlich. - Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist, glaube ich, selbstverständlich, dass ich heute zu dieser Veranstaltung gehe. Die ersten Produkte kommen in diesen Tagen in den Handel. Künftig können Verbraucher erkennen, wie die Tiere gehalten werden. Sie können vor allem entscheiden, ob sie bereit sind, für die Produkte mehr zu zahlen; denn höhere Standards kosten mehr Geld. Wir trauen unseren Verbrauchern - offensichtlich im Gegensatz zu Ihnen - diese Entscheidung zu. Vierte, aber leider nicht letzte Ihrer Falschbehauptungen: Gegen den übermäßigen Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung wird nichts unternommen. - Tatsache ist: Die Abgabe von Antibiotika zur Wachstumsförderung und zur Prävention ist bereits heute verboten. ({24}) Zugleich haben wir aber das Problem erkannt und deshalb ein Paket geschnürt, um den Einsatz von Antibiotika zu minimieren. Die Novelle des Arzneimittelgesetzes gibt den Ländern mehr Möglichkeiten und noch bessere Instrumente. Die Überwachung ist allerdings in der Zuständigkeit der Länder. Kollege Remmel zeigt mit dem Finger gern auf andere, aber vier Finger zeigen dabei auf ihn als Teil der Überwachungsbehörde zurück. So schaut es aus. ({25}) Leider fehlt mir die Zeit, noch weitere Punkte richtigzustellen. Die christlich-liberale Regierung steht allen Landwirten zur Seite, und sie will die Landwirte und die Verbraucher näher zusammenbringen, auch in Spannungsfeldern. Wir tun dies mit Fachkenntnis, ohne Aufgeregtheit und aus großer Überzeugung. Herzlichen Dank. ({26})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Matthias Miersch ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundesministerin, als ich hier eben Ihre Worte gehört habe, habe ich mich gefragt, wo Sie eigentlich die letzten Monate und Jahre gewesen sind. Nur unter dieser Kuppel kann es nicht gewesen sein. Als Niedersachse ({0}) kann ich Ihnen sagen: Ich lade Sie gerne einmal ein, sich anzuhören, was Ihre Kommunalpolitiker zu den Entwicklungen sagen, die wir tagtäglich in Niedersachsen beobachten können. Dort fällt nämlich auf, dass Sie zwar schön reden, aber nichts machen. ({1}) - Ich werde zum Thema kommen. Wenn Sie sich die Entwicklung ansehen, dann stellen Sie fest, dass eben nicht Qualität gefördert wird. Vielmehr erleben wir in Niedersachsen tagtäglich - deswegen schließen sich viele Menschen zu Bürgerinitiativen zusammen, deswegen gehen die Menschen am Samstag unter dem Motto „Wir haben es satt!“ auf die Straße -, dass Massentierhaltungsanlagen aus dem Boden gestampft werden, ohne dass die Kommunalpolitik irgendwelche Handhabungen hat, diesem Vorgehen Einhalt zu gebieten. ({2}) Es sind auch Ihre Kommunalpolitiker, Herr Schweickert - fragen Sie die einmal -, es sind CDU-Landräte, die darum flehen, dass § 35 des Baugesetzbuchs endlich geändert wird, sodass wie bei einem Industriebetrieb oder einem Gewerbebetrieb auch bei einer Massentierhaltungsanlage eine Steuerungsmöglichkeit gegeben wird. ({3}) Liebe Frau Bundesministerin, Sie können hier sagen, dass der Verbraucher entscheiden soll, aber es ist doch eine Frage von politischer Steuerung und von gesetzlichen Grundlagen, ob man Wettbewerb zulässt oder ihn nach dem Motto „Immer größer, immer weiter“ einseitig regelt. Das ist Ihre Agrarpolitik. Die Kleinen lassen Sie im Stich. ({4}) Als Sozialdemokratie sagen wir, dass Ernährung ein elementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge ist. ({5}) Ernährung, Energie- und Wasserversorgung, lieber Herr Kollege, brauchen wir alle. Was stellen wir fest? Wir stellen fest, dass auch Sie erkannt haben, dass man im Energiebereich umsteuern muss, dass es nicht darum geht, die großen Einheiten zu fördern, sondern die Dezentralität. Im Bereich der Ernährung, lieber Kollege, stellen wir fest, dass durch Ihre Politik genau das Gegenteil passiert, dass auch konventionelle Landwirte in existenzielle Notlagen geraten, weil es in der Agrarpolitik die Tendenz hin zu Agrarfabriken, also immer größer zu werden, gibt. Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: In dieDr. Matthias Miersch sem Bereich machen Sie genau das Gegenteil von zukunftsgerichteter Agrarpolitik. ({6}) Es geht dabei nicht nur um ökologische, sondern auch um ökonomische und soziale Aspekte. Es geht um die Frage, wer sich künftig qualitativ gute Lebensmittel leisten kann. Es geht auch um die Frage, wie in diesen Betrieben gearbeitet wird. Ich sage Ihnen auch als Niedersachse: Ihre verfehlte Politik führt augenblicklich dazu, dass vielerorts die Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen, in diesen Betrieben unter aller Würde sind. Auch da sind gesetzliche Rahmenbedingungen dringend notwendig. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dr. Miersch, vielen Dank für das Zulassen einer Zwischenfrage. Sie haben uns vorgeworfen, dass wir nichts für die Kleinen tun. Nehmen Sie bitte, was die Biogasanlagen angeht, zur Kenntnis, dass es diese christlich-liberale Koalition war, die die 75-kWAnlagen durchgekämpft und zugelassen hat und dass es die Umweltpolitiker waren - das sage ich jetzt an Sie gerichtet, Herr Miersch -, die das eigentlich gar nicht wollten. Können Sie also bitte bestätigen, dass wir sehr wohl in dieser Richtung tätig sind und dafür sorgen, dass insbesondere die Kleinen gestärkt werden? ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Schweickert, ich mache mit Ihnen gerne einen Diskurs in Sachen Biogas. Das ist ein gutes Beispiel; denn hier geht es um landwirtschaftliche und Ernährungsbetriebe. Ich sage Ihnen: Am Beispiel Biogas wird deutlich, dass teilweise durch Fehlanreize im Gesetz Fehlentwicklungen in Gang gesetzt worden sind. ({0}) Insofern sage ich Ihnen wieder: Wir brauchen gesetzliche Rahmenbedingungen. Diese sind bisher falsch gesetzt geworden. Wenn Sie mit Landwirten und Vertretern konventioneller Betriebe sprechen, werden sie Ihnen sagen: Wir müssen uns überlegen, ob wir, wenn wir weiterhin auf das Prinzip „Immer größer, immer weiter“ setzen, überleben können. Die Förderpolitik dieser Regierung und der Europäischen Union geht nämlich in genau die falsche Richtung. ({1}) Insofern wird die Qualität von Ihnen gerade nicht gefördert, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang geht es um Steuerungsmöglichkeiten. Sie können mir dazu gerne Fragen stellen und andere Meinungen einholen. Nur, letztlich sind Sie seit drei Jahren an der Regierung. Wir haben beispielsweise zu § 35 des Baugesetzbuches schon vor anderthalb Jahren einen Antrag eingebracht, der eiskalt abserviert wurde. ({3}) Sie haben damals gesagt: Es besteht kein Handlungsbedarf. - Ich sage Ihnen: Hier sind Sie in der Pflicht. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, der Kommunalpolitik bei dieser zentralen Frage einen Steuerungshebel an die Hand zu geben. Aber bis zum heutigen Tag haben wir dazu nichts von Ihnen gehört. Wir haben bis zum heutigen Tag keine Lösung, um die Arbeitsbedingungen vor Ort zu verbessern, was Mindestlöhne etc. angeht. Unser Vorwurf an diese Bundesministerin lautet, dass sie mit ihrer Politik genau das Gegenteil macht, weil sie die falschen Rahmenbedingungen setzt. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Entscheidend wird sein - insofern ist Ihre Frage an dieser Stelle durchaus berechtigt, Herr Schweickert -, die Landwirtschaft endlich als eine vernetzte, interdisziplinäre Aufgabe zu begreifen. Es geht nämlich nicht nur um die Landwirtschaft, sondern auch um die Umweltpolitik, die Sozialpolitik und die Verzahnung der politischen Ebenen, von der Kommunalpolitik bis zur europäischen Ebene. ({4}) Ich halte es für richtig, dass Stephan Weil gesagt hat: Wir brauchen ein Agrarministerium, das mit der europäischen Ebene verbunden ist. ({5}) Denn dort geht es darum, die Gemeinsame Agrarpolitik so zu formulieren, dass wir endlich Qualität und nicht nur Masse fördern; denn Masse ist nicht gleich Klasse. Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, lässt sich am Beispiel der Agrarpolitik gut deutlich machen: Auf diesem Politikfeld verfolgen wir ganz unterschiedliche Politikansätze, ebenso wie bei der Bildungspolitik, in Sachen Steuergerechtigkeit und Arbeitsbedingungen. Am Sonntag stehen auch hier zwei unterschiedliche Politikansätze zur Wahl, der von Rot-Grün und der von Schwarz-Gelb. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Christel HappachKasan für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für diesen Einblick in den Wahlkampf in Niedersachsen. Ich komme jetzt allerdings auf das Thema Tierhaltung zurück. Ich finde es gut, dass wir uns vor der Eröffnung der Grünen Woche über ein für die Landwirtschaft in Deutschland so essenzielles Thema unterhalten. Die landwirtschaftliche Tierhaltung trägt nämlich zu 60 Prozent zum Einkommen der Landwirte in Deutschland bei. Da ist es schon bemerkenswert, welche Angriffe die Grünen auf diesem Feld fahren und dass sie ihren Wahlkampf in Niedersachsen auf dem Rücken der landwirtschaftlichen Betriebe austragen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nicht gut. ({1}) Eine Anregung an die Kollegin Künast und den Kollegen Dr. Miersch: Gehen Sie doch einmal in einen landwirtschaftlichen Betrieb! Da lernt man nämlich etwas, und dann ist man ein bisschen klüger. Da ich vermute, dass Sie das nicht tun werden, empfehle ich Ihnen, sich wenigstens die Bilder der Webcam von Herrn Schwarz auf der Internetseite des Bauernverbandes SchleswigHolstein anzusehen. Alle 20 Sekunden wird ein neues Bild aus seinem Schweinestall gezeigt. Dann können Sie selbst beurteilen, wie es in einem solchen Schweinestall aussieht. Transparenz ist ein wichtiges Ziel, und das wird dort exemplarisch vorgelebt. ({2}) Wir regieren jetzt drei Jahre; das ist gut so. Ihr habt zehn Jahre regiert. Das war nicht so gut; das sieht man an den Fehlern bei bestimmten Entwicklungen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt in einem Punkt durchaus eine Einigkeit in diesem Haus: Wir wollen eine bessere landwirtschaftliche Nutztierhaltung. Das Bessere ist der Feind des Guten. Wir wollen eine Minderung des Antibiotikaeinsatzes. Wir sind der Überzeugung, dass auch in der landwirtschaftlichen Tierhaltung mehr gesundheitsfördernde Maßnahmen und damit weniger Antibiotika gebraucht werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurf haben wir vorgelegt. Die Grünen sind an dieser Thematik erkennbar nicht interessiert. Für die Grünen gibt es nur zwei Stichworte: „Agrarfabrik“ und „Massentierhaltung“; mehr haben sie nicht auf dem Zettel. Das heißt natürlich auch, dass Frau Künast mit ihrer Rede nicht den Bundestag adressiert hat, sondern diejenigen, die am Samstag in Berlin demonstrieren wollen. An dieser Stelle sollten wir eines festhalten: Die Internationale Grüne Woche besuchen 500 000 Menschen, an Ihrer Demonstration nehmen vielleicht gerade einmal 5 000 teil. Das sind 1 Prozent, das ist eine Aussage. ({3}) Wir als Freie Demokraten, wir als Liberale orientieren uns im Bereich des Tierschutzes insbesondere an den fünf Freiheiten: ({4}) Freisein von Hunger und Durst - Freisein zum Zuhören, Frau Künast, wäre auch nicht schlecht -; Freisein von Unbehagen; Freisein von Schmerz, Verletzung, Krankheit; Freisein zum Ausleben der normalen Verhaltensweisen - Frau Künast, Sie sollten schon einmal zuhören, das würde helfen -; Freiheit von Angst und Leiden. Deswegen haben wir - darauf sollten Sie einmal eingehen in § 11 Tierschutzgesetz festgelegt, dass wir betriebliche Eigenkontrollen wollen; denn nicht Verordnungen, sondern der Blick in den Tierstall ist das beste Mittel, um sicherzustellen, dass es den Tieren gut geht. Wir wollen, dass dies anhand von tierbezogenen Merkmalen beurteilt wird, anhand von Tierschutzindikatoren, zum Beispiel der Mortalität, der Klauen- und Fußballengesundheit und der Betrachtung der auf dem Schlachthof erhobenen Befunde. Diese drei Tierschutzindikatoren sind entscheidend, um zu beurteilen, ob sich ein Tier wohlfühlt oder nicht. Die Qualität der Tierhaltung hängt nicht von der Größe des Betriebes oder von der Größe des Stalls ab; sie hängt vielmehr von der Fähigkeit des Betriebsinhabers ab, das Ganze zu managen. Das ist ein entscheidendes Kriterium, nicht die Größe des Betriebes. Man sollte auch eines hinzufügen: Moderne Ställe sind für Tiere allemal besser als alte Ställe. ({5}) Gehen Sie einmal in einen Kuhstall, und Sie werden feststellen: Die Kühe sind größer geworden. Alte Ställe können dem nicht in der Weise genügen wie neue Ställe. Im Hinblick auf eine Verbesserung des Tierschutzes brauchen wir mehrere Maßnahmen: Zum einen brauchen wir verstärkte Forschung über Tierhaltung. Deswegen haben wir als christlich-liberale Koalition für die nächsten drei Jahre 19 Millionen Euro für Modellvorhaben im Bereich der Tierhaltung eingeplant. Wir nehmen das Thema Tierschutz ernst. Deswegen geben wir den eigenen Forschungseinrichtungen einen anderen Maßstab vor und sagen: Wir brauchen in Mariensee eine Umstellung von der Anbindehaltung auf eine Laufstallhaltung. Wir brauchen weiterhin Initiativen im Bereich der Tierzucht. Die Tierzüchter sind viel weiter als Ihr von Rot und Grün: Im Bereich der Tierzucht findet schon lange eine Umorientierung statt. ({6}) - Die Parteifreunde in Niedersachsen sind mit mir absolut einer Meinung, dass es gut ist, dass es im Bereich der Tierzucht inzwischen Initiativen gibt, die nicht mehr nur auf die Leistung setzen, sondern das gesamte Tier in den Blick nehmen. ({7}) Vor 15 Jahren war allein die Milchleistung bei Kühen ein Kriterium. Heute spielen weitere Kriterien eine Rolle, die dazu führen, dass die Tiere gesünder sind. Wir brauchen höhere Standards in der Tierhaltung. Wir müssen den Menschen aber auch sagen: Das kostet mehr Geld. - Deswegen finde ich es gut, dass der Deutsche Tierschutzbund ein Tierwohl-Label geschaffen hat, an dem sich die Menschen orientieren können. So können sie selbst einen Beitrag leisten für einen höheren Standard im Stall. Die Menschen wissen dann aber auch: Sie müssen dafür bezahlen. Im letzten Jahr gab es - das sollte man auch einmal sagen - im Bereich der Fleischprodukte Kostensteigerungen von 5,4 Prozent, und die Preise werden weiter ansteigen. Ich lade die Grünen ein, dieses dann bitte auch zu kommunizieren. Ein Tierwohl-Label, das sich an den Tierschutzindikatoren orientiert, ist ein echter Fortschritt. Eine bessere Tiergesundheit ist Voraussetzung dafür, dass wir den Einsatz von Antibiotika mindern können. Wir als christlich-liberale Koalition haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich setze mich persönlich sehr dafür ein, dass dieser auch umgesetzt wird. Wir müssen sagen: Wir brauchen nicht mehr Verbote, sondern wir brauchen eine bessere Praxis in den Tierställen. Dazu brauchen wir die Länder. Wir setzen darauf, dass wir mit ihnen gemeinsam einen solchen Gesetzentwurf umsetzen können, um etwas für bessere Tiergesundheit in den Ställen und damit für bessere Lebensmittel zu tun. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Alexander Süßmair für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Süßmair (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004172, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Deutschland hat sich die Nutztierhaltung in den letzten 20 Jahren sehr stark verändert. Deutschland ist in der EU der größte Schweinefleischproduzent. 1995 betrug die Ausfuhr von Schweinefleisch 230 000 Tonnen. 2011 waren es 2,3 Millionen Tonnen. Das heißt, von 1995 bis 2011 hat sich die Ausfuhr von Schweinefleisch verzehnfacht, während die Einfuhr auf einem Niveau von etwa 1,1 Millionen Tonnen gleich geblieben ist. Beim Geflügel war der Verlauf ähnlich. Diese Steigerung der Ausfuhr blieb natürlich nicht ohne Folgen. Die Nutztierhaltung in Deutschland hat sich immer stärker konzentriert, ist intensiver und industrieller geworden. Diese Intensivierung und diese Konzentration betreffen aber nicht nur die Ställe, in denen die Tiere gehalten werden, sondern sie führten auch zu einer sehr ungleichen Verteilung der Tierbestände in Deutschland. Ein Vergleich: In Niedersachsen gibt es derzeit 9 Millionen Schweine, in Nordrhein-Westfalen 6,7 Millionen, in ganz Ostdeutschland zusammen 4,2 Millionen, und in Bayern, dem größten Flächenland Deutschlands, nur 3,5 Millionen. Diese höchst ungleiche Verteilung und auch die Menge an Tieren vor Ort führen zu sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Konflikten. ({0}) In der öffentlichen Debatte rückt der Begriff der sogenannten Massentierhaltung dabei immer mehr in den Fokus. Die FAO, also die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, hat 1995 „intensive Tierhaltung“ als Systeme definiert, in denen weniger als 10 Prozent der Futtermittel dem eigenen Betrieb entstammen und die Besatzdichte zehn Großvieheinheiten pro Hektar übersteigt. Für die Öffentlichkeit in Deutschland beginnt Massentierhaltung aber viel früher. Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gibt die Zeitschrift Berichte über Landwirtschaft heraus. In der Dezemberausgabe vom vergangenen Jahr, also 2012, waren die Ergebnisse der Studie „Die Wahrnehmung des Begriffs ,Massentierhaltung‘ aus Sicht der Gesellschaft“ zu lesen. Ich nenne hier zwei Ergebnisse: Die Befragten assoziieren den Begriff „Massentierhaltung“ vor allem mit Grausamkeit, Geflügel, Krankheiten und Enge. Massentierhaltung beginnt für 90 Prozent der Befragten ab etwa 500 Rindern, 1 000 Schweinen und 5 000 Hähnchen. In der Realität liegen die Betriebe aber häufig über diesen Zahlen; das gilt gerade auch beim Geflügel. Vonseiten des Deutschen Bauernverbandes und auch vonseiten der Koalitionsparteien kommt häufig der Vorwurf, die Verbraucher hätten einfach ein zu romantisches Bild von der Landwirtschaft - Frau Ministerin hat das auch angesprochen -, das mit der modernen Tierhaltung nichts zu tun habe. Das mag schon sein, aber ist es nicht auch so, dass gerade die Nahrungsmittelindustrie diese Vorstellungen mit ihrer irreführenden Werbung selbst produziert? ({1}) Es stellt sich eine ganz andere Frage: Ist es romantisch oder gar rückwärtsgewandt, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher wollen, dass Tiere möglichst wenig leiden und tiergerecht gehalten werden? ({2}) Wir sagen: Nein! Die Verbraucherinnen und Verbraucher beachten nicht nur die ökonomischen Kriterien, also den reinen Preis, sondern sie haben auch Anspruch auf die Einhaltung von ökologischen, sozialen und ethischen Faktoren. Diese müssen wir berücksichtigen. ({3}) Wenn Sie diese gesellschaftlichen Anforderungen wieder nicht berücksichtigen, dann entstehen die Konflikte vor Ort, die die Bäuerinnen und Bauern und auch die Agrarlobby lautstark beklagen, und sie sagen daraufhin, dass keine Stallbauten mehr möglich seien und man eine Art Hetzjagd gegen sie veranstalte. Wir haben einen eigenen Antrag zur Nutztierhaltung gestellt. Wir wollen dabei vor allem ökonomische und soziale Aspekte, aber auch ethische Aspekte berücksichtigen. Uns geht es darum, dass Grausamkeit, Krankheiten und Enge in der Tierhaltung vermieden werden, dass es sie nicht gibt. Deshalb fordern wir, dass sich die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in der Tierhaltung verbessern müssen - auch in den Schlachthöfen -, dass bessere Löhne gezahlt werden und der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wird. ({4}) Die Tierhaltungssysteme müssen verbessert werden, die Qualzucht muss verhindert werden, die schmerzhaften Eingriffe wie Schwänzekneifen und Schnäbelkneifen müssen verboten werden. Die Tiere dürfen nicht an die Systeme angepasst werden, sondern die Systeme müssen an die Tiere angepasst werden. ({5}) Wir möchten auch, dass sich die Politik noch viel konsequenter für eine Ökologisierung der gesamten Agrarwirtschaft einsetzt, und wir stellen die Forderung an die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass solche Regelungen und Ziele auch EU-weit eingeführt werden. Und das geht auch, nämlich gerade jetzt, wenn die Verhandlungen über die neue Förderperiode in der EU für 2014 anstehen. Dort könnten Sie sich genau dafür einsetzen - auch Sie, Frau Ministerin. ({6}) Wir müssen auch daran arbeiten, dass unsere Haltungssysteme und unsere gesamte Tierproduktion so verändert werden, dass wir den Antibiotika-Einsatz deutlich reduzieren können. Wir hatten dazu bereits einen Antrag vorgelegt und hatten eine ausführliche Debatte. Aber es trifft auch zu - es ist angesprochen worden -, dass die Intensivtierhaltung, wie wir sie in Deutschland und in Europa haben, nicht nur negative Auswirkungen innerhalb Deutschlands hat, sondern auch in anderen Ländern, gerade im globalen Süden. Dort führt der Anbau von Futtermitteln zu schweren ökologischen und sozialen Schäden. Deshalb ist es wichtig, dass wir selbst wieder mehr Futtermittel produzieren, ({7}) dass wir hier regionale Kreisläufe ökologisch und ökonomisch nachhaltig gestalten, und zwar ohne gigantische Futtermittelimporte und Fleischexporte. Diese Importe sind nämlich die Voraussetzung dafür, dass wir hier so produzieren können. Einig sind wir uns auch - das ist auch angesprochen worden -, dass die Konzentration von Stallanlagen in bestimmten Regionen viel zu groß ist, dass die negativen ökologischen, kulturellen und sozialen Auswirkungen so stark sind. Deshalb brauchen wir Änderungen im Baurecht und im Immissionsrecht, damit solche Anlagen kritischer geprüft werden und es vor Ort für die Kommunalpolitik mehr Einflussmöglichkeiten gibt. Auch hierfür treten wir ein. ({8}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ja, diese Woche beginnt die IGW, ja, am Wochenende findet hier eine große Demonstration statt. Die Menschen wollen, dass sich in der Landwirtschaft einiges grundsätzlich verändert. Auch dafür werden wir von der Linken uns einsetzen. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Johannes Röring für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute verschiedene Anträge, die alle mit Tierhaltung zu tun haben. Ein Weiteres haben alle diese Anträge gemein: Sie unternehmen den Versuch, die Landwirte in Deutschland, die Bauernfamilien, von denen übrigens ein Großteil moderne Tierhaltung betreibt, massiv anzugreifen. ({0}) Sie bezeichnen die Bauern nämlich als verantwortungslose, profitgierige organisierte Tierquäler, die Tiere mit Antibiotika vollstopfen, die die Landschaft zerstören. Ein solches Bild malt die Opposition von modernen Tierhaltungsbetrieben. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Diejenigen, die uns täglich satt machen, haben dieses einfach satt. ({1}) Moderne Tierhaltung bedeutet nämlich Verantwortung für Tier und Verbraucher. Landwirte und Tierhalter haben selbst das größte Interesse daran, dass die ihnen anvertrauten Tiere gesund sind. Bauern haben Interesse an hochwertigen, verantwortungsvoll erzeugten und auch bezahlbaren Lebensmitteln. Ich sage dabei bewusst „bezahlbar“ und nicht „billig“. ({2}) Tierschutz ist für uns Bauern eine Selbstverständlichkeit. ({3}) Deswegen ist die Tierhaltung in den vergangenen 60 Jahren von Bauern zusammen mit Wissenschaftlern, Beratern und auch Unternehmen kontinuierlich weiterentwickelt worden. Wirkungsvoller Tierschutz benötigt die Erfahrungen und Kenntnisse derjenigen, die täglich mit Tieren umgehen. Deswegen setzt die christlichliberale Koalition vor allen Dingen auf Eigenverantwortung und auf Vertrauen in die Menschen, die den Umgang mit Tieren gelernt haben. ({4}) Wir setzen - das sage ich Ihnen deutlich - auf den bäuerlichen Mittelstand und auf Tierschutz durch Vertrauen. Die Anträge der Opposition dagegen sind von Misstrauen und Anschuldigungen durchsetzt. ({5}) Moderne Tierhaltung bedeutet für mich hohe Verantwortung von Menschen für Tiere, den Einsatz von Medizin, wenn nötig, Vermeidung von Medikation, wenn möglich. Kranke Tiere müssen aber weiterhin behandelt werden können. ({6}) Wir haben bereits seit über zehn Jahren die Verpflichtung für jeden Tierhalter, jede einzelne Arzneimittelanwendung bei Tieren bis ins kleinste Detail zu dokumentieren. Diese Dokumentation wird von den Veterinärbehörden - sie haben übrigens jederzeit darauf Zugriff - auch strengstens kontrolliert. Wir wollen eine Novelle des Arzneimittelgesetzes, mit der eine effektivere Überwachung des Einsatzes ermöglicht wird. Wir stehen zu dem Ziel, die Zahl der Antibiotika-Resistenzen einzudämmen. Wir haben aber ebenso den Anspruch, dass auch andere, die bei ihrer Arbeit von der Frage der Resistenzen in erheblichem Maße betroffen sind, zum Beispiel Humanmediziner, Krankenhäuser, diejenigen, die sich um Hygiene kümmern, konsequent ihren Job machen. Wir wollen, dass unsere Branche ihren Job machen kann. ({7}) Moderne Tierhaltung heißt aber auch, dass es angemessene Entwicklungsmöglichkeiten für den bäuerlichen Mittelstand geben muss, und zwar ausdrücklich in Zusammenarbeit mit den Kommunen. In Deutschland gelten diesbezüglich sehr hohe Standards. Die Kommunen haben schon jetzt beim Bau von Ställen Steuerungsmöglichkeiten, die wir aber durch eine Novelle des Baugesetzbuches noch deutlich verbessern wollen. Die Akzeptanz der Menschen vor Ort und in den Kommunen ist den Bauernfamilien - das weiß ich genau - sehr wichtig. Ich stelle an dieser Stelle fest, dass die Branche in dieser Beziehung sehr stark engagiert ist. ({8}) Wir wollen hier ganz klar keine Fremdbestimmung und keinen ungezügelten Wildwuchs. Tierhaltung ist für mich Bauernsache. Die 216 000 Tierhalter in Deutschland haben im europäischen Vergleich immer noch relativ kleine Bestände. Diese Struktur wollen wir erhalten. ({9}) Deswegen muss ich noch einmal feststellen: Mit Ihren Anträgen malen Sie das Zerrbild eines bösen und verantwortungslosen Tierhalters. Fakt ist aber: Die Branche braucht sich nicht zu verstecken. Die christlich-liberale Koalition wird die vorhandenen Instrumentarien noch deutlich verbessern. Ich kann Ihnen sagen: Die Charta von Frau Aigner zu Transparenz in der Tierhaltung zeigt Wirkung, sei es beim Tierschutz, sei es beim Einsatz der Tiermedizin, sei es bei der Verbesserung der vorhandenen Steuerungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Stallbauten. ({10}) Die Anträge der Opposition sind nicht zielführend. Sie sind von Misstrauen, von mehr Bürokratie und Verboten durchtränkt. ({11}) Genau das ist der Unterschied: Wir setzen auf die Branche. Wir setzen auf wettbewerbsfähige landwirtschaftliche Familienbetriebe. ({12}) Durch Ihr Vorgehen verdrängen Sie unseren landwirtschaftlichen Mittelstand und befördern somit eine Verlagerung der Produktion in Länder mit schlechteren Standards. Das wollen wir eindeutig nicht! ({13}) Abschließend kann ich über Ihre Anträge nur sagen: Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr. - Wir stehen kurz vor der Eröffnung der Internationalen Grünen Woche. Zu diesem Zeitpunkt erleben wir von Ihnen öfters solche Anträge. Die deutsche Landwirtschaft präsentiert auf einem Erlebnisbauernhof die Tierhaltung und zeigt ein realistisches Bild ihrer Arbeit und ihrer Leistung. Ich kann Ihnen wirklich nur ans Herz legen und Ihnen empfehlen, sich das einmal anzuschauen und an diesen Tagen mit Landwirten ins Gespräch zu kommen. Das Misstrauen haben die Landwirte und ihre Familien, die für unser Land wirklich wertvoll sind, satt. Wir müssen hier zu anderen Ufern kommen. ({14}) Meine Damen und Herren, aus diesem Grund und wegen der Zusammenhänge, die Sie leider nicht in allen Einzelheiten verstehen oder verstehen wollen, lehnen wir als Unionsfraktion Ihre sämtlichen Anträge ab. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gabriele Groneberg für die SPDFraktion. ({0})

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Röring, wenn Sie sprechen, habe ich automatisch das Gefühl: Sie sind in einem schalldichten Raum. Sie machen eine Politik, die ausschließlich den großen Agrariern nutzt. Denn der bäuerliche Mittelstand, von dem gerade die Rede war, geht bei Ihrer Politik über Bord. ({0}) Ich brauche auch keinen Erlebnisbauernhof. Denn ich komme aus einer Region, wo Bauernhof tatsächlich Alltag ist und wo ich jeden Tag zu Kollegen und Freunden auf den Bauernhof gehen und mir ansehen kann, was dort passiert. Das ist in der Tat sehr differenziert: der bäuerliche Mittelstand oder eben die Großagrarier. ({1}) Ich komme aus einer Region in Niedersachsen, dem Oldenburger Münsterland, in der wir die positiven wie aber natürlich auch die negativen Auswirkungen zu spüren bekommen. Sicherlich gibt es die positive Seite - die wollen wir nicht verleugnen -: Das ist die absolut boomende wirtschaftliche Entwicklung einer ehemals eher dem Armenhaus zuzurechnenden Region. Es ist schön dort. Ich kann sie jedem empfehlen. Ich bin selber vor über 30 Jahren aus dem Ruhrgebiet dorthin gezogen, weil es dort so schön ist. Es ist ländlich geprägt. Es ist mit überaus gepflegten Städten und Dörfern gesegnet. Die Leute sind liebenswert. Es sind Menschen, die anpacken und arbeiten können, frei nach dem Motto „Von nix kommt nix“. ({2}) Wenn man weiß, dass von den bundesweit rund 24 Millionen Schweinen etwa 8,3 Millionen in Niedersachsen aufgezogen werden - die meisten davon im Bezirk Weser-Ems, und zwar vor allem in den Landkreisen Cloppenburg, Emsland und Vechta -, dann kann man die Dimensionen erahnen, um die es dort geht. Wie gesagt, die Wertschöpfung ist enorm. Viele Unternehmen sind Zulieferer oder Abnehmer der dort gezüchteten Tiere. So weit, so gut. Das ist die positive Seite. Aber wie sieht die negative Seite aus? Keime und Stäube bleiben nicht im Stall. Sie geraten auf die eine oder andere Art und Weise in die Umwelt und verbreiten sich - mit Auswirkungen auf die Gesundheit von Tier und Mensch. Die Folge: Immer mehr Menschen wehren sich gegen die Ansiedlung von Großstallanlagen. Städte und Gemeinden gerade im ländlichen Raum, die sich im Bereich Wohnen und Gewerbe entwickeln wollen und auch müssen, wenn sie attraktiv bleiben wollen, werden durch den massiven Zubau der Stallanlagen drastisch in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Schlimmer noch: Sie haben nicht einmal die Möglichkeit, sich im Bereich ihrer Planungshoheit wirksam gegen Entwicklungen, die sie nicht wollen, zu wehren. Der Kollege Miersch hat es ausgeführt. Eine dringend erforderliche Novellierung des BauGB scheitert seit Monaten an dem Streit zwischen dem Minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und seiner Kollegin aus dem Landwirtschaftsministerium. Das sind wir von Ihnen gewohnt. Das kennen wir schon fast nicht mehr anders. Warum bauen zunehmend niederländische Investoren Ställe im grenznahen Gebiet auf der deutschen Seite? Weil in den Niederlanden strengere Bedingungen für die Ansiedlung von Stallneubauten gelten. Ist das denn richtig? Das kann doch nicht sein. Da kommen die Menschen aus den Niederlanden zur Anhörung ins Kreishaus im Emsland und beschweren sich darüber, dass im grenznahen Raum in Deutschland die großen Stallanlagen gebaut werden. Das ist doch nicht richtig. ({3}) Zu welchem Preis wird dieses Wachstum erkauft? Wo sind die Grenzen des Booms? Ist der Preis, dass sich eine Gemeinde nicht mehr entwickeln kann und Wohnen und Gewerbe im nichtlandwirtschaftlichen Bereich teilweise drastisch einschränken muss, nicht viel zu hoch für eine derartige massive Entwicklung? Die Kommunen - wohlgemerkt: alle bis auf eine bei uns im Oldenburger Münsterland CDU-regiert ({4}) haben sich - das weißt du sehr gut, mein lieber Kollege Holzenkamp - schon vor längerer Zeit mit der Bitte um Abhilfe an uns Abgeordnete gewandt. Was ist passiert? Nichts. Ihr seid untätig. ({5}) Der Oldenburgisch-Ostfriesische Wasserverband weist nachdrücklich auf die zunehmende Belastung des Trinkwassers mit Nitraten hin - von Ihnen keine Reaktion, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU und der FDP. Wollen wir die drohenden Auswirkungen auf unsere Wasserversorgung wirklich hinnehmen? Nein, wir jedenfalls wollen das nicht. Die SPD hat in etlichen Anträgen ihre Position dazu deutlich dargestellt. Alle Möglichkeiten des Handelns, die wir aufgezeigt haben, sind von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, abgelehnt worden. Ich muss für mich feststellen: Offensichtlich sind Sie entgegen Ihren Aussagen nicht am dauerhaften und lebenswerten Bestand der ländlichen Räume interessiert. Anders kann ich die Untätigkeit nicht deuten. ({6}) Was passiert im nachgelagerten Bereich? Die harten Branchenbedingungen und der hohe Preisdruck auf dem Fleischmarkt sorgen für einen ruinösen Wettbewerb. Dieser setzt sich bei der Schlachtung der Tiere fort. Menschen vor allem aus Osteuropa werden per Werkverträge in den Schlachthöfen für einen Hungerlohn beschäftigt. Ihre Wohnbedingungen sind vollkommen inakzeptabel. ({7}) Wir werden morgen an dieser Stelle gegen 14 Uhr ausführlich darüber reden. Ich lade Sie ein, sich dann noch einmal hier einzufinden. Was hier passiert, ist eindeutig ein Werteverfall. Die Menschen in der betreffenden Region wehren sich mittlerweile massiv dagegen. An ihrer Seite steht - man glaubt es kaum - massiv die katholische Kirche, speziell ein herausragender Vertreter. Dieser hat den Mut, die Missstände offen anzusprechen. Er spricht deutlich aus, was hier für ein Schindluder getrieben wird. Er steht an der Seite der Menschen, die sich dagegen wehren. ({8}) Aber was ist ihm passiert? Ihm wurde nach Mafiamethode als Drohung ein abgezogenes Kaninchen vor die Haustür gelegt. „Wo sind wir denn hier?“, frag ich mich. ({9}) Ich hoffe, dass er sich nicht einschüchtern lässt. Er hat unsere uneingeschränkte Solidarität verdient. ({10}) Wir werden uns also morgen noch einmal ausführlich mit diesem Bereich befassen. Ich kann bislang zu dieser Debatte feststellen - das enttäuscht mich -: Alle Fraktionen - bis auf die Regierungsfraktionen - haben sich mit diesem Thema intensiv auseinandergesetzt. Alle haben Anträge dazu vorgelegt, wir in anderen Debatten, die Kollegen von den Grünen und der Linken heute. Aber von Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, kommen dazu nur Beteuerungen und ein „Weiter so“. Ich finde das nicht okay. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will an Ihren letzten Satz anknüpfen, liebe Frau Groneberg. Alle Fraktionen haben sich damit intensiv auseinandergesetzt. Aber nur die Regierungsfraktionen bieten Lösungen an. ({0}) Was Sie hier machen, ist im Grunde genommen das Beschreiben von Situationen bzw. das Überzeichnen von Situationen, die mit der Lebensrealität nichts zu tun haben. Ich vermisse sehr, dass Sie nicht ganz klar Position beziehen. Die Fälle in Südoldenburg, die Sie eben beschrieben haben, sind Ihnen bekannt. Wo sind die parlamentarischen Initiativen Ihrer Vertreter im Kreistag geblieben? Wo sind Ihre kommunalen Initiativen geblieben? ({1}) Sie wissen um die betreffenden Fälle in Südoldenburg - das ist kein neues Thema - und haben auf das Emsland verwiesen. ({2}) Ich hätte mir gewünscht, dass sich Ihre Fraktionskollegen im Kreistag deutlich dazu äußern, dass im Emsland und auch in anderen Regionen Ställe angezündet worden sind. Die Einzigen, die gesagt haben, dass es sich hier um Straftaten handelt, die nicht hinzunehmen sind, waren die FDP-Vertreter. Von Ihrer Seite ist nichts gekommen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Priesmeier?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Goldmann, auf einer meiner Besuchstouren durch das Emsland hatte ich die Gelegenheit, mit dem ehemaligen Landrat Bröring zu sprechen, der Ihnen wohl bekannt sein dürfte.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin ja Mitglied des Kreistags.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Teilen Sie die Einschätzung des ehemaligen Landrats Bröring, dass im Hinblick auf das Baugesetzbuch, die Privilegierung und andere Tatbestände dringender Handlungsbedarf besteht? Der Landrat hat damals ein eigenständiges Gutachten angefordert. Er hat mich inständig gebeten, Initiativen in Berlin zu starten, die zum Ziel haben, den Kommunen und insbesondere seinem Landkreis Handlungsoptionen zu geben, die es ermöglichen, dem Ausbau bestimmter Anlagen - nicht nur von Ställen, hauptsächlich von Geflügelställen, sondern auch von Biogasanlagen - Einhalt zu gebieten.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Priesmeier, ich bin seit 30 Jahren Mitglied des Kreistags. Mir sind die Aktivitäten von Herrn Bröring bestens bekannt. ({0}) - Hören Sie zu! Es soll ja eine Debatte sein. Jetzt darf ich auch einmal etwas sagen. ({1}) Der Landkreis Emsland hat dem Agrarstrukturwandel Tür und Tor geöffnet. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Weil es sich hier um ein wild-morastiges Fehn handelte, wo die Menschen kein Geld und nichts zu essen hatten. Dann hat man festgestellt, dass man angesichts der Bodenstruktur - es handelt sich um sandige Böden, mit denen sich nicht viel anfangen lässt - und der relativ geringen Besiedlungsdichte im Bereich der intensiven Haltungsformen Geld verdienen kann. Das haben wir gemacht. Ich bestreite ja überhaupt nicht, dass wir das an der einen oder anderen Stelle übertrieben haben. Aber ich sage Ihnen auch: Es ist eine gute Lösung. Frau Kollegin Groneberg kann durchaus sagen, dass man in Südoldenburg bestimmte Modelle auf der Basis des bestehenden Baugesetzbuches entwickelt hat. ({2}) - Frau Groneberg, Sie wissen durch die Geschehnisse in Bösel und Garrel, was ich meine. Sie wissen ganz genau, dass das da anders geworden ist. In der Gemeinde Lathen im Emsland - jetzt beschäftigen wir uns ein bisschen mit der regionalen Geschichte hat man alle Bauern zusammengeholt und gefragt: Welcher Bauer will eine Perspektive haben? Welcher Bauer hat einen Nachfolger? Dann hat man sich auf Entwicklungen vor Ort verständigt. Es soll mir kein Mensch erzählen, dass das jetzige Baugesetzbuch bei kluger kommunaler Planung nicht jede Menge Möglichkeiten bietet. ({3}) - Lieber Friedrich Ostendorff, die Kommunen haben keine klugen Flächennutzungspläne aufgestellt. Die Kommunen haben ihre Räume nicht geordnet. ({4}) Insbesondere deswegen ist diese Problematik entstanden. Jetzt gehen wir weiter. Ich sage ganz klar: Wir werden das Baugesetzbuch ändern. Nur, liebe Freunde, lasst uns bloß nicht glauben, dass diese Regelung zum Nachteil der gewerblichen Betriebe ist. Die gewerblichen Betriebe werden sich in Sondergebieten und möglicherweise auch in Gewerbegebieten ansiedeln. Das Ganze trifft vor allen Dingen die Kleinen, die auf dem Weg zu mehr Marktteilhabe sind, etwa Bauernfamilien. ({5}) Das gilt in besonderer Weise für das Osnabrücker Land. ({6}) Liebe Kollegen, wir sollten uns selbst fragen: Wie ist die Situation im Bereich der Haltungsformen? In diesem Zusammenhang ist der Begriff „artgerechte Tierhaltung“ interessant. Ich möchte erst einmal von „tiergerechter Tierhaltung“ reden; denn die Tierart spielt in der heutigen Nutztierhaltung keine allzu große Rolle. Wir müssen uns fragen: Sind wir im Tierschutz gut, oder sind wir im Tierschutz schlecht? Sie wollen doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass die Bundesrepublik Deutschland im Tierschutz nicht führend in der Welt ist. ({7}) Sind wir bei der Bekämpfung des Antibiotikaeinsatzes mit der Planung eines neuen Tierarzneimittelgesetzes auf dem richtigen Weg? Sind wir! Sind wir im Bereich Umweltverträglichkeitsprüfung - Bundes-Immissionsschutzgesetz als Grundlage für das Miteinander zwischen landwirtschaftlichem Tun und anderen Dingen im ländlichen Raum - auf einem guten Weg? Ja! Deswegen sage ich: Wir sind gut; aber wir können noch besser werden. Wir werden allerdings nicht besser, wenn wir so tun, Friedrich Ostendorff und Kollegen von den Grünen, als ob wir das Ruder zurückwerfen könnten. Das wollen wir nicht. ({8}) - Liebe Freunde, ich bin mit meinem Vater, der Tierarzt war - ich bin ebenfalls Tierarzt -, zu Zeiten durchs Emsland gefahren, da die Kühe angekettet waren und deswegen eine große haarlose Stelle um den Hals hatten. Weil es dunkel war, hatte mein Vater eine Taschenlampe im Mund, um die Nummer auf der Ohrmarke abzulesen. Die Hinterbeine der Tiere standen im Dreck, und wenn man ihnen zu nahe kam, hauten sie einen mit einem vollgeschissenen Schwanz durchs Gesicht. So waren die Haltungsbedingungen. Es gab jede Menge Rotlauf, weil die Schweine nicht vernünftig Luft bekamen. ({9}) Wir haben das geändert, und wir werden weitere Änderungen vornehmen. Deswegen sollten wir endlich einmal gemeinsam sagen: Wir sind auf einem guten Weg. ({10}) Wir müssen weitere Verbesserungen erreichen; das ist überhaupt keine Frage. Wenn Sie, Herr Kollege Dr. Matthias Miersch aus Laatzen, sagen, dass wir Probleme in den Schlachtbetrieben haben, entgegne ich: Völlig unstrittig. Das war ein großes Thema. Es hat mich als Katholik aus dem Emsland beschämt - das sage ich Ihnen ganz ehrlich -, dass Menschen in Sögel „Eimermenschen“ genannt worden sind. Ich muss allerdings auch sagen: Ich habe eine Ausbildung zum Berufsschullehrer für Fleischer, Bäcker, Hotel- und Gaststättengewerbler gemacht. Man hat doch keine Lehrlinge bekommen. ({11}) Die ganze Branche war verarmt. Deswegen gibt es hier einen gespaltenen Markt - das wissen Sie genauso gut wie ich -: Es gibt Werksverträge, und es gibt andere Verträge.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Groneberg?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. Das erschöpft mich zwar, aber ich erlaube noch eine.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Frau Groneberg.

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Goldmann, ist Ihnen bekannt, dass der Schlachtbetrieb VION Emstek gerade jetzt 60 festangestellte Mitarbeiter, die zum Teil auch eine Fachausbildung haben, entlässt, um über Werkverträge Schlachtkolonnen aus dem Ostblock zu beschäftigen, und das zu Löhnen, die unter aller Würde sind? Das muss man einmal deutlich sagen.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mir ist bekannt, dass so etwas passiert. Wir haben das auch bei einem Unternehmen im Emsland erlebt. Wir müssen zwischen den Werksverträgen, die es in sehr vielen Betrieben gibt - nicht nur im Ernährungsgewerbe; sie gibt es auch in anderen Betrieben, liebe Freunde; ({0}) darüber können wir gerne einmal diskutieren -, und den anderen Verträgen unterscheiden. Dazu kann ich Ihnen nur Folgendes sagen: Bei uns im Emsland gibt es nicht viele, die auf diesem Markt tätig sind. Die Firma Rothkötter, die in Wietze am Pranger steht, bezahlt bestens. Die hat mit Werksverträgen überhaupt nichts zu tun. Die hat Kindertagesstätten eingerichtet, weil sie sehr viele Frauen beschäftigt. Diese Firma zahlt zwischen 8 und 11 Euro als Regelbezahlung. Es ist einfach Schwachsinn, wenn heute jemand behauptet, dass in diesem Bereich bei einer vernünftigen Marktorientierung kein Geld verdient wird und dieses Geld den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht zugute kommt. Das Problem ist - liebe Frau Groneberg, das wissen Sie auch -, dass der deutsche Arbeiter nicht in die Fleischereien gehen wollte. ({1}) Das Problem ist nicht die Bezahlung in den Betrieben, sondern - seien wir doch ehrlich miteinander - das Problem ist, dass man in der Region vier Menschen in einen Raum hineingepfercht hat und man von diesen Menschen 19 bis 21 Euro pro Übernachtung abkassiert hat. ({2}) Das ist nicht ein Problem in den Betrieben, sondern das ist ein Problem im Bereich der Akzeptanz und des Umgangs einiger in dieser Region mit den Menschen. Das, liebe Frau Groneberg, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir ändern. ({3}) Deswegen haben der Landrecht Vechta, der Landkreis Cloppenburg und der Landkreis Emsland hohe Anerkennung verdient für den Beschluss, diese Dinge abzustellen. ({4}) Ich behaupte an keiner einzigen Stelle, dass wir in diesem Bereich nicht vor Herausforderungen stehen. Aber ich behaupte ganz entschieden, dass wir sehr wohl in der Lage sind, uns vor dem Hintergrund der leistungsfähigen Struktur und der sicheren Produktion von Lebensmitteln, die wir haben, auf einen Weg zu machen, der Zukunft bedeutet für Landwirtschaft, für Ernährungswirtschaft und für kluge Verbraucherpolitik. Ich bitte Sie um nichts anderes: Lassen Sie ab von dieser sogenannten Wende, die da kommen muss! Lassen Sie uns vielmehr darauf hinarbeiten, die Dinge miteinander positiv weiterzuentwickeln. Meiner Meinung nach ist dies auch meine Aufgabe als Vorsitzender des Ausschusses. ({5}) Trotzdem lehne ich die von Ihnen eingebrachten Anträge wegen Diskriminierung der Bauern und wegen Diskriminierung der Ernährungswirtschaft ab. ({6}) Aber wir werden uns weiterhin mit dem Thema beschäftigen. Ich freue mich, wenn Sie demnächst unserem Vorschlag zum Arzneimittelgesetz und unserem Vorschlag zum Baugesetzbuch zustimmen werden. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dorothée Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die unhaltbaren Zustände in der Massentierhaltung, ({0}) von denen wir hier heute reden, sind in Niedersachsen besonders gut zu studieren. Das wurde bereits angesprochen. ({1}) Etwa jedes fünfte Rind, jede dritte Legehenne und jedes dritte Schwein in Deutschland verbringt sein Leben in Niedersachsen. Eine Schlüsselrolle spielt die Geflügelzucht. Rund 36,5 Millionen Tiere, Schlacht- und Mastgeflügel, leben bei uns; das ist deutlich mehr als die Hälfte des gesamtdeutschen Bestandes. Die intensive Putenhaltung ist in Niedersachsen ein Wachstumsbereich. Dadurch kommen die Haltungsbedingungen auch zunehmend mehr Menschen ins Bewusstsein und werden in der Öffentlichkeit diskutiert. Die Tatsache, dass Puten nicht in der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufgeführt sind, hat zu skandalösen Zucht- und Haltungsbedingungen geführt. Vielleicht erinnern Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, noch an den Rücktritt der niedersächsischen Agrarministerin Grotelüschen vor zwei Jahren aus ebendiesem Grunde, aber auch daran, dass die Vorsitzende des Niedersächsischen Tierschutzbundes im Dezember aus der CDU ausgetreten ist. Auslöser war, dass die CDU/FDP-Landesregierung bis heute nicht bereit ist, für artgerechte Tierhaltung, insbesondere auch bei Puten, zu sorgen. Herr Lindemann, Frau Grotelüschens Nachfolger im Ministeramt, betreibt nichts weiter als eine Beschwichtigungspolitik. Das brutale Schnäbelkürzen bei Puten will er bis 2018 weiterhin erlauben. So lange also sollen weiterhin drei bis zu 20 Kilogramm schwere Puten zusammengepfercht auf 1 Quadratmeter leben? Weniger Platz bedeutet auch - wir haben es hier schon gehört - mehr Antibiotika. Ich finde, das ist eine Schande für eine Partei, die von sich behauptet, der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet zu sein. ({2}) In Wahrheit geht es um die Bewahrung des Profits für Agrarkonzerne, die in Deutschland die Nutztierhaltung in eine verhängnisvolle Sackgasse getrieben haben. Freiwillig - das zeigen die Erfahrungen - werden diese Konzerne bei der Profitmaximierung auf keinen Cent verzichten. Also ist Politik gefordert, Rahmenbedingungen zu setzen und dieser Fehlentwicklung Einhalt zu gebieten. ({3}) Wenn Politik nicht in der Lage oder nicht willens ist, dies zu tun, dann gehört sie abgewählt. ({4}) Solch ein Wechsel ist auch in Niedersachsen, in der niedersächsischen Agrarpolitik dringend notwendig; ({5}) denn die Verbraucher wollen diese Art von Haltungsbedingungen, bei denen einem nur der Appetit vergehen kann, nicht. Jetzt erzählen Sie mir bitte nicht, dass die Leute nicht bereit wären, einige Cent mehr pro Kilo zu zahlen! Die Krux ist vielmehr, dass viele sich das nicht leisten können. Wir müssen uns wirklich einmal fragen, wie wir das verändern wollen. Die Krux ist eine Politik von Lohnraub und Sozialdumping, die die Menschen nicht in die Lage versetzt, faire Preise für gute und gesunde Lebensmittel und artgerecht erzeugtes Fleisch zu zahlen. ({6}) Nicht zuletzt deswegen fordert die Linke einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde. ({7}) Abschließend: Der Antrag der Grünen zu den Haltungsbedingungen für Puten geht in die richtige Richtung. Die sechs Punkte, die vorgeschlagen werden, halten wir für richtig, und Sie haben unsere Unterstützung, auch wenn man Konsequenzen aus unserer Sicht noch deutlicher formulieren müsste.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir brauchen unbedingt eine verlässliche Haltungsverordnung für Puten und andere Nutztiere, für die es bisher keine solche Verordnung gibt; sonst bleibt das ein Abarbeiten an Symptomen. Das Problem der industriellen Massentierhaltung muss aber generell auf den Prüfstand. Dafür stehen wir. Ich finde, Niedersachsen sollte damit anfangen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Für eine neue Haltung - Artgerecht statt massenhaft“ ist der Titel eines unserer Anträge. Wer von Ihnen je einen Blick in eine Tierfabrik werfen konnte, wer je mit den Menschen in den von der Agrarindustrie betroffenen Dörfern gesprochen hat, der weiß, dass wir eine neue, bessere, artgerechte, unserer Zivilisation angemessene und unserem Grundgesetz entsprechende Haltung unserer Tiere dringend brauchen. ({0}) Es kann nicht sein, dass überall die Menschen gegen Tierfabriken auf die Straße gehen und es gleichzeitig in Ihrer Regierungszeit eine exorbitante Zunahme der Massentierhaltung gibt: viele Millionen neue Hühnchenplätze in Niedersachsen, allein 3 Millionen im Kreis Vechta. Aber zu einer neuen Haltung gehört auch eine neue Haltung in der Agrarpolitik. ({1}) Es kann nicht sein, dass die Volksparteien CDU und CSU sich bei einem so wichtigen Thema wie der Landwirtschaft vollständig dem Deutschen Bauernverband ausliefern. ({2}) Egal ob Tierschutz-Label, Tierschutzgesetz oder Agrarreform - es gilt doch immer noch der eine Satz, den Ministerin Aigner zu Beginn ihrer Amtszeit geprägt hat: Wir machen nichts, was der Bauernverband nicht will. Wie ehrlich! ({3}) - So ist es. Meine Damen und Herren, mit dieser Haltung machen Sie die bäuerlichen Betriebe in Deutschland kaputt. 35 Bauernhöfe am Tag machen zu. Sie wollen, dass weiterhin 80 Prozent der EU-Gelder an 20 Prozent der Großbetriebe gehen und die Masse der bäuerlichen Betriebe entsprechend benachteiligt wird. Sie verweigern den Bäuerinnen und Bauern die Honorierung ihrer Umweltleistungen. Sie hängen einer aberwitzigen Billigfleischexport-Ideologie an und treiben damit die Tierhaltung immer tiefer in die Sackgasse der Massentierhaltung. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns gerade in einer entscheidenden Phase, was die nächsten sieben Jahre Gemeinsamer Agrarpolitik in der EU angeht. Die Menschen draußen wollen eine echte grüne Reform und sind bereit, dafür weiterhin Steuergeld zu geben. „Öffentliche Gelder für öffentliche Leistungen“, das ist das Grundprinzip der GAP. Wir brauchen jetzt ein wirksames und verbindliches Greening. Wir brauchen jetzt eine Stärkung der zweiten Säule. Wir brauchen eine gerechtere Verteilung der Gelder. ({5}) Frau Aigner aber ist bei dieser Reform leider ein Totalausfall. Wir fordern daher die Bundeskanzlerin auf: Frau Merkel, hören Sie auf die Menschen, die am Samstag wieder unter dem Motto „Wir haben Agrarindustrie satt!“ bei Ihnen vor dem Kanzleramt demonstrieren werden! Setzen Sie die Forderungen der Menschen und die Forderungen der Imker, die diese Ihnen heute mitgegeben haben, beim EU-Gipfel im Februar um. Sie haben die Richtlinienkompetenz und tragen die Verantwortung für eine echte Reform, für eine bessere Agrarpolitik und für die bäuerliche Landwirtschaft. Das erwartet die Gesellschaft von Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf der Tribüne! Herr Ostendorff, wenn man über andere Personen etwas behauptet - Sie haben sich zu Frau Aigner geäußert -, dann sollte es der Wahrheit entsprechen, gerade wenn es um das Thema Gemeinsame Agrarpolitik geht. Das will ich an dieser Stelle deutlich sagen. ({0}) Ich bin unserer Ministerin Ilse Aigner sehr dankbar, ({1}) dass sie gemeinsam mit Frau Merkel bei den GAP-Verhandlungen alles tut, um deutsche Interessen zu wahren. Bei Ihren Anmerkungen hat man immer wieder den Eindruck, dass Ihnen deutsche Interessen abhandengekommen sind. Das wird bei Ihren Äußerungen offensichtlich. ({2}) In Ihren Anträgen beschreiben Sie skandalöse Zustände. Der eigentliche Skandal ist das, was Sie uns in Ihren Anträgen inhaltlich zumuten: pauschale Verunglimpfung und Diffamierung unserer deutschen Landwirtschaft. Das ist so. Lesen Sie es nach: Verbote, Bevormundung, Gängelung. Ich frage mich, was das für eine Geisteshaltung ist. Trauen Sie den Menschen in Deutschland überhaupt nichts mehr zu? Welches Gesellschaftsbild haben Sie? Ich sage Ihnen deutlich - Frau Aigner hat es richtig festgestellt -: Mit Ihren detaillierten Forderungen in Ihren Anträgen legen Sie die Axt an die deutsche Landwirtschaft. ({3}) Und zwar schaden Sie den kleinen Betrieben in Deutschland, nicht den großen. Das, was Sie einfordern, ist fatal. ({4}) Ich sage deutlich: Wir haben es satt, dass Sie jedes Jahr zur Internationalen Grünen Woche versuchen, gemeinsam mit Ihnen nahestehenden Lobbyorganisationen einen Skandal zu inszenieren, um daraus politisches Kapital zu schlagen. ({5}) Offensichtlich hat sich das bei Ihnen zu einem Geschäftsmodell entwickelt. Ich persönlich finde es unanständig. Die Leute werden es merken. Es ist viel zu durchsichtig. Mein Appell ist: Lassen Sie uns mehr an der Sache arbeiten. Wir haben es auch satt, dass Sie mit absurden Fantasien und Utopien heute Wahlkampf machen. Herr Miersch hat deutlich gesagt: Heute ist Wahlkampf. Das war seine Äußerung vor wenigen Minuten. Ich finde, damit werden Sie der Ernsthaftigkeit dieses Parlamentes nicht gerecht und erst recht nicht der Belange der deutschen Bauern. ({6}) Es gibt über 300 000 landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland. Davon beschäftigen sich über 200 000 Betriebe mit Tierhaltung, und das 365 Tage im Jahr, Tag für Tag. Dann kommen einige daher und meinen, sie wissen vom Sofa aus alles besser. Wo kommen wir da hin? Das kann doch wohl nicht wahr sein. ({7}) Ich würde mir wünschen, dass auch Sie die großartigen Leistungen der landwirtschaftlich tätigen Familien in Deutschland endlich einmal anerkennen und ihnen Respekt entgegenbringen. ({8}) Unsere Bauern haben das verdient. ({9}) Sie sichern in Deutschland mit 5 Millionen Arbeitskräften nicht nur jeden achten Arbeitsplatz, sondern bringen auch einen großen sozialen Beitrag. Ich erziele als Bauer auch lieber höhere Preise. Aber - da Sie immer wieder von sozialer Verantwortung sprechen -: Sagen Sie den Menschen zu den Forderungen in Ihren Anträgen offen und ehrlich, dass Sie eine Vervielfachung der Preise wollen. ({10}) Wo bleibt da bitte schön Ihre soziale Verantwortung, die Sie für die Menschen haben sollten? Sie fordern mehr Tierschutz, allerdings mit Verboten und Bevormundungen - anders kennt man das nicht -, ohne jedoch tatsächliche Lösungen beispielsweise für Tierhaltungen oder bei Tiertransportzeiten zu bieten. Soll der Bauer in Schleswig-Holstein seine Tiere denn nur noch an einen Abnehmer verkaufen können? Ist dies wirklich eine Lösung für kleinere Betriebe? Ich will noch einmal im Namen unserer Bauern klarstellen: In Deutschland haben wir im Bereich der Tierhaltung die höchsten Standards, und zwar weltweit. Dennoch wollen auch wir mehr Tierschutz. Der ChartaProzess ist angesprochen worden. Wir suchen den offenen Dialog mit unserer Gesellschaft. Wir wollen unsere Spitzenposition weiter ausbauen. ({11}) Der Unterschied ist jedoch: Sie wollen Verbote, wir hingegen bieten Lösungen. Wir entwickeln tatsächliche Lösungen, und zwar zusammen mit der betroffenen Landwirtschaft und mit der Forschung. Der Haushalt ist gerade verabschiedet worden; darin sind für die nächsten Jahre 21 Millionen Euro mehr für Tierschutzforschung eingestellt. Daran sehen Sie: Sie reden, wir handeln. ({12}) Würden Sie mit Ihren Vorstellungen durchkommen, meine Damen und Herren, dann befeuerten Sie den Strukturwandel in einer Art und Weise, die gerade für kleinere Betriebe nicht auszuhalten wäre. Das wollen wir jedenfalls nicht. Sie nehmen auch keine Rücksicht auf europäische Standards. Vielmehr nehmen Sie billigend in Kauf, dass die Tierhaltung in andere Länder verlagert wird. ({13}) Im Übrigen erweisen Sie dem Tierschutz damit einen Bärendienst, ({14}) und Sie fügen unserer Volkswirtschaft einen riesengroßen Schaden zu. Sie haben offensichtlich kein Problem mit einem Ausverkauf der deutschen Landwirtschaft. Im Gegensatz zu Ihnen entwickeln wir den Tierschutz gemeinsam mit der Forschung, mit der Wissenschaft, aber auch mit den Landwirten. Sie behaupten, Intensivtierhaltung fördere den Klimawandel. Eines habe ich in der Grundschule gelernt: Wenn zwei Kühe je 5 000 Liter Milch im Jahr geben, dann erzeugen sie mehr Methanemissionen als eine Kuh, die 10 000 Liter gibt. ({15}) Ich will gar nicht behaupten, dass 10 000 Liter der richtige Wert ist. Wenn wir jedoch über Ressourceneffizienz sprechen, dann muss man hierüber doch vernünftig und sachlich diskutieren dürfen - auch mit Ihnen, wie ich hoffe. Sie wollen Stallbauten ab einer bestimmten Größenordnung verbieten, bzw. Sie wollen den berühmten § 201 BauGB ändern, und zwar dahin gehend, dass die Flächen tatsächlich bewirtschaftet werden müssen und nicht nur theoretisch, so wie es die Gesetzeslage heute ermöglicht und wie es von den Landwirten in Kooperation mit den Berufskollegen gemacht wird. Begreifen Sie eigentlich nicht, dass dies das Aus gerade kleinerer Betriebe bedeuten würde? Frau Aigner hat Beispiele von Betrieben mit einer Größe von 10, 30 oder 40 Hektar genannt. Diese Betriebe sind auf eine solche Kooperation angewiesen. ({16}) Was bedeutet das denn? Sie reden immer von der Förderung kleinerer Betriebe, mit Ihren Vorschlägen jedoch bewirken Sie das genaue Gegenteil. Ich finde das heuchlerisch. Wohin führt das denn? Damit würden wir ja zum Großgrundbesitzertum zurückkehren. Das wollen wir als christlich-liberale Koalition garantiert nicht. ({17}) Dann sprechen Sie von der Steuerung. Michael Goldmann hat es richtig ausgeführt: Steuerung ist bereits heute möglich. Gabi, du kennst diese Beispiele auch.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich komme zum Ende, Herr Präsident. ({0}) Es gibt positive Beispiele, die zeigen, dass es bereits funktioniert. Auch wir wollen mehr kommunale Steuerung. ({1}) Der Kabinettsbeschluss existiert, die erste Lesung hat stattgefunden, der parlamentarische Prozess ist in Gang. Also tun Sie doch bitte schön nicht so, als würde gar nichts passieren.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege!

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihre Anträge sind gerade zum Beginn der Grünen Woche so zu erwarten gewesen. Sie sind eine Zumutung für die deutsche Landwirtschaft. Lassen Sie uns die Grabenkämpfe beilegen und zu einem stärkeren Miteinander finden. Ein herzliches Dankeschön und eine schöne Grüne Woche. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier für die SPDFraktion. ({0})

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier eine Zumutung für wen ist, mögen die Zuhörer entscheiden. ({0}) Heute haben hier seitens der CDU/CSU-Fraktion zwei hochkarätige Funktionäre des Bauernverbandes gesprochen. ({1}) Unter den Vertretern der CDU/CSU, die hier heute Mittag neben der Ministerin geredet haben, waren der Präsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes und der Vizepräsident des niedersächsischen Landesbauernverbandes. ({2}) - Das ist mit Sicherheit nicht unbedingt schlimm. Aber man muss überlegen, welches Politikfeld man sich sucht. Jedem ist klar, dass der Deutsche Bauernverband ein Interessenverband ist; er muss Interessen vertreten. Können Sie als Kollege die Argumentation, die Sie im Präsidium Ihres Verbandes vortragen, von dem unterscheiden, was Sie hier im Bundestag vortragen, von dem, was Sie als Abgeordneter an sich zu entscheiden haben? ({3}) Wenn die Debatte hier schon eskalieren soll, dann setze ich in der Beziehung noch einen drauf, unabhängig von den persönlichen Dingen. Ich achte natürlich Ihre Argumentation und auch Ihren Sachverstand. Aber ich glaube, dass man da zwei Dinge auseinanderhalten muss: Das eine ist die politische Aufgabe und Funktion, die man wahrnimmt, das andere ist die Interessensvertretung in Verbänden. Das muss man einfach auseinanderhalten. ({4}) In diesem Zusammenhang ist sicherlich die Kompetenz gefragt; ich gebe das zu bedenken, da die Diskussion schon so erregt ist. Ich glaube, diese Auseinandersetzung, diese Debatte wird zwangsläufig immer vor der Grünen Woche geführt. Ich bin als Niedersachse natürlich stolz auf das, was niedersächsische Landwirte leisten. ({5}) Es nützt niemandem, jemanden in die Ecke zu stellen und ihm etwas zu unterstellen. ({6}) - Nein. Es geht konkret darum, dass die Politik im Dialog zwischen Gesellschaft und Landwirtschaft - es geht um das Dreieck aus Landwirtschaft, Politik und Gesellschaft - gehalten ist, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen, ({7}) damit es zu einem Ausgleich zwischen den Interessen der Bürger vor Ort und der Landwirte kommt. Diese Interessen sind nicht immer identisch; das wissen auch Sie, meine Damen und Herren. Das ist eben der Grund dafür, dass man gesetzliche Regelungen braucht und man Gesetze novellieren muss. Es darf nicht alles so bleiben, wie es ist. Aber Sie tragen vor: Es muss im Regelfalle fast alles so bleiben, wie es ist. ({8}) Heute Abend sitzen wieder alle beim Bundesverband Vieh und Fleisch. Da sitzen wir dann wieder vielleicht mit den Herren zusammen, die in Deutschland im Bereich der Fleischbranche den Ton angeben: die Vertreter von VION, von Tönnies usw. usf. Das hat schon etwas. Aber die Herren hören offensichtlich nicht auf das, was man ihnen vorträgt. Ich beobachte in dem Sektor eine Oligopolisierung. Das kann nicht im Interesse der Landwirte sein.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Holzenkamp?

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich. ({0})

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Priesmeier, Sie haben eben ausgeführt, dass wir gesagt hätten, es solle, was die Entwicklung angeht, alles so bleiben, wie es war; das haben Sie eben so formuliert. ({0}) - Das haben Sie eben so formuliert. - Nehmen Sie zur Kenntnis, was meine Kollegen und auch ich persönlich zum Tierschutz gesagt haben? Wir haben festgestellt, dass wir in Deutschland hohe Standards haben - das ist richtig, das stimmt -, aber diese Standards weiterentwickeln wollen. ({1}) Wir wollen unsere Spitzenposition in der Welt und in Europa weiter ausbauen. Wir haben deshalb die Forschungsmittel wesentlich erhöht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir den Tierschutz weiterentwickeln wollen ({2}) und hier die Forschung ganz stark mit einbeziehen!

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Holzenkamp, wenn Sie schon meiner Rede zuhören, möchte ich Sie doch bitten, genau zuzuhören. Ich habe gesagt: „fast“. Der Begriff macht einen Unterschied. ({0}) Ich finde es hervorragend, dass die Ansätze für die Forschung erhöht worden sind. Aber die Anträge zum Haushalt, die wir eingebracht haben, hätten dazu geführt, dass die Forschungsansätze wesentlich höher ausgefallen wären. Insofern glaube ich, dass wir auch da den fortschrittlicheren Ansatz hatten; das müssen Sie mir doch zugestehen. ({1}) Herr Kollege, das, was sich an den Strukturen im vorund nachgelagerten Bereich verändert, hat natürlich Auswirkungen auf die Strukturen der Landwirtschaft selber. Ich will im landwirtschaftlichen Bereich keine Investoren von irgendwo; die SPD will das nicht. ({2}) Wir wollen bäuerliche Betriebe, und wir wollen bäuerliches Kapital. Wir wollen kein Kapital aus Fonds, wir wollen keine KTG und keine AGs. Das alles wollen wir nicht. ({3}) Herr Kollege Holzenkamp, können Sie denn ausschließen, dass der Stall an der nächsten Ecke keinem anderen gehört als dem, auf dessen Grund er steht und der damit wirtschaftet? Das wissen auch Sie nicht. In diesem Sektor findet eine rasante Entwicklung statt. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Diese Strukturen muss man nicht unbedingt befördern, schon gar nicht mit Bezahlung aus öffentlichen Kassen und mit Subventionen. ({4}) Wir können stolz darauf sein, dass der Agrarsektor im letzten Jahr eine Wertschöpfung von etwa 55 Milliarden Euro erreicht hat, die Hälfte davon bedingt durch Tierhaltung und Veredelung. Da kann sich Deutschland wirklich sehen lassen. Aber wir haben von den Vorrednern schon gehört, welche Probleme es in den verschiedenen Regionen gibt. Davor kann man die Augen doch nicht verschließen. ({5}) Unterhalten Sie sich doch einmal mit den Vertretern des Wasserverbandes und der Wasserbeschaffungsverbände in einer bestimmten Region. ({6}) - Nein, gerade bei euch. Guck dir mal die Messergebnisse des Wassers aus den Brunnen in den Wassergewinnungsgebieten an. ({7}) Ich kann sie dir geben. Ich habe sie dabei; die bekommst du von mir. Du brauchst gar nicht fragen. ({8}) Die Ergebnisse zeigen, wie stark die Nitratwerte in bestimmten Bereichen mittlerweile angestiegen sind. Der Grundwasserkörper verdaut einiges; aber wenn wir so weitermachen, dann können wir in bestimmten Bereichen in 20 bis 30 Jahren in der Tiefe kein Wasser mehr gewinnen. Das ist einfach so.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Goldmann?

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Na gut. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Wilhelm Priesmeier, lieber Kollege, es geht ganz schnell. Das Wasser aus unserer Region ist Hümmling-Wasser - das ist dir wahrscheinlich bekannt -; damit wird die Stadt Bremen versorgt. Ist dir bekannt, dass das Hümmling-Wasser das beste Wasser ist, das es auf dem deutschen Markt gibt? ({0}) - Absolut; ihr habt die Zahlen bekommen. Ich habe die Bilanz verteilt; darin steht: Hümmling-Wasser ist das beste Wasser, das es gibt.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Kollege, ich schätze das heimische Wasser und Ihres ganz besonders. Wenn ich das nächste Mal in Ihrer Region bin, werde ich garantiert davon trinken. ({0}) - Die Frage ist gestellt; ich beantworte sie jetzt. - Es gibt natürlich noch andere Wassergewinnungsgebiete, die nicht im Hümmling liegen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie in Zukunft erhebliche Probleme bekommen werden, ganz abgesehen von den Bereichen, in denen Stickstoff eingetragen wird und die überhaupt nicht kontrolliert werden. Niemand weiß, was dort unten passiert. Das gebe ich zu bedenken. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Der Wasserverbandstag Bremen, Niedersachsen und SachsenAnhalt hat das bereits angemeldet. Grund dafür war eine entsprechende Initiative der niedersächsischen Landesregierung, die das Problem erkannt hat. Wir müssen uns aber auch auf Bundesebene diesen Problemen stellen und darüber nachdenken, was überhaupt noch eingetragen werden darf und ob nicht baugesetzlich geprüft werden muss, ob die Flächen, die für neue Investitionen ausgewiesen sind, noch geeignet sind, die Stickstoff- und Nitratfrachten aufzunehmen. Das sind sie nämlich nicht mehr. ({1}) Das muss man gewärtigen, wenn man ökologische Verträglichkeit in einer landwirtschaftlich so schönen Region wie dem Oldenburger Münsterland gewährleisten will. ({2}) Wir wollen in diesen Sektoren keine Strukturen, wie wir sie aus anderen Ländern kennen. Der große amerikanische Konzern Smithfield ist ein Beispiel dafür, wie man agrarische Produktion organisieren kann, nämlich nicht horizontal mit vielen Betrieben, sondern im Regelfall vertikal. Da wird jemand zum Vertragsmäster, bindet sich für eine bestimmte Zeit und schluckt das, was er kriegt. ({3}) In den Bereichen der Geflügelwirtschaft und Geflügelmast ist es häufig nicht viel anders. Bislang ist auf einem Markt produziert worden, der aufgenommen hat. Die Nachfrage war nicht gedeckt, und wir hatten in Bezug auf die Eigenversorgung einen gewissen Nachholbedarf. Das ist aber schon lange nicht mehr so. Die Marktbedingungen ändern sich zunehmend; die Marktsituation wird schwieriger. Jeder, der heute in diesem Bereich investiert, sollte sich genau überlegen, was er tut. Ein weiteres Problem ist der Einsatz von Antibiotika, der zu erheblichen Debatten geführt hat. Wir brauchen eine dezidierte Regelung, ein Antibiotika-Minimierungskonzept, ({4}) das sicherstellt, dass durch resistente Keime aus Betrieben keine Gesundheitsgefahren für die Gesellschaft bestehen, indem kontaminierte Lebensmittel gegessen oder Keime verschleppt werden. Dafür brauchen wir - das ist mir besonders wichtig - eine bundeseinheitliche Datenbank. ({5}) Das ist die wichtigste Voraussetzung für die Kontrolle. Sie muss beim Bund, beim BMVEL, angesiedelt sein. Sie muss unter Bundesverantwortung stehen, damit man sich nicht in den föderalen Strukturen bewegen muss, damit nicht jeder einem anderen die Verantwortung für Dinge zuschieben kann, die er selber nicht kontrollieren will. Damit muss Schluss sein. Das müssen wir umsetzen. ({6}) Ich habe dazu ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes angefordert. Dieses belegt, dass der Bund diesbezüglich durchaus die Gesetzgebungskompetenz hat. Wir fordern das jetzt ein. Wir werden im Rahmen der weiteren Beratung des AMG entsprechende Änderungsanträge einbringen. Dann werden wir sehen, welchen Wert Ihr Bekenntnis, für eine bessere Gesundheit und weniger Antibiotika-Einsatz sorgen zu wollen, hat. Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen viel Kraft für die Grüne Woche. Uns steht einiges bevor. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans-Georg von der Marwitz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Georg Marwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Alle Jahre wieder, pünktlich zur Eröffnung der Grünen Woche, kommt - das ist so sicher wie das Amen in der Kirche - ein Lebensmittelskandal: Dioxin-Eier, Antibiotika im Geflügelfleisch, Keime im Schweinemett etc. Die Berichte sind aufgemacht mit eindrücklichen Bildern und Horrormeldungen, die von Ihnen, von der Opposition, gerne aufgenommen werden, um uns, den Regierungsparteien, schuldhaftes Handeln zu unterstellen. Aber diese Themen taugen nicht, um sich politisch zu profilieren. ({0}) Auch in Ihrer Regierungszeit kamen regelmäßig Skandale an die Öffentlichkeit - ich darf Sie daran erinnern -: BSE-Krise, Nitrofen-Skandal, Hygienemängel und Umetikettierung bei Frischfleisch. Frau Künast, Ihre Antwort war die Schwerpunktlegung auf den Verbraucherschutz. ({1}) Die Frage drängt sich auf: Vor wem wollten Sie die Verbraucher schützen? Waren die Landwirte Ihr Feindbild? Ihre heutigen Anträge sind teilweise interessant. Nur wundere ich mich, dass Sie in sieben Jahren Regierungszeit keine Möglichkeit sahen, die schon damals bekannten Entwicklungen zu beeinflussen. ({2}) Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Ein typisches Beispiel ist die Einführung des Biosiegels, das dazu führte, dass die hochwertigen Standards der Anbauverbände wie Demeter, Bioland und Naturland unterlaufen wurden. Wirklich gefördert haben Sie in Ihrer Amtszeit, liebe Frau Künast, vor allem die Polarisierung zwischen uns Landwirten und den Verbrauchern. ({3}) Auch wir, die Regierungsfraktionen, sind alles andere als glücklich über viele Entwicklungen in der europäischen Landwirtschaft. ({4}) Darüber müssen wir uns sicher auch in unseren eigenen Reihen Gedanken machen. Viele von uns sehen mit Sorge den zunehmenden Einsatz von Antibiotika in der Geflügel- und Schweinemast, die immer größeren Masteinheiten und den Strukturwandel weg vom bäuerlichen Familienbetrieb hin zu anonymen Agrargesellschaften. Liebe Freunde, dieses Argument habt ihr nicht gepachtet. Das ist tatsächlich und gerade für mich, der ich aus dem ostdeutschen Raum stamme, ein massives Problem. Die heute diskutierten Themen wie Antibiotika-Reduktion, artgerechte Tierhaltung oder Erhaltung mittelständischer Produktionsstrukturen werden von der Bundesregierung bereits ausdrücklich und aktiv angegangen, auch bezogen auf das Arzneimittelgesetz und den Tierschutz. Gerade die Entwicklung bei uns in Ostdeutschland ist spannend. Ein kurzer Einblick: Neulich wurde mir im Supermarkt ein Hähnchen für 3,79 Euro angeboten. ({5}) Was ist bei diesem Preis vom Erzeuger noch zu erwarten, wenn die Brütereien, die Futtermittelhersteller, die Tierärzte, die Arbeitskräfte, die Schlachtereien, der Großhandel, der Einzelhandel und nicht zuletzt die Banken ihre Kosten und Gewinnmargen in Rechnung stellen? ({6}) Diese Frage müssen wir genauso wie viele andere stellen. Eine Antwort, die bedenklich ist, lautet: größere, saubere und rationeller zu bewirtschaftende Masteinheiten. Das ist bei uns in Ostdeutschland eine ganz andere Thematik als bei Ihnen in Niedersachsen oder Westfalen. ({7}) Diese Masteinheiten sollen so groß sein, dass selbst uns Landwirten schwindelig wird. In den neuen Bundesländern, besonders in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, vollzieht sich ein in Deutschland noch nie dagewesener Strukturwandel in der Landwirtschaft. ({8}) Agrargesellschaften, aber auch Einzelunternehmen mit mehreren Tausend Hektar bzw. riesigen Tierhaltungsanlagen schießen wie Pilze aus dem Boden. Diesen Betrieben wird mit herkömmlichen Steuerungsmechanismen wie GVE-Besatz - § 35 BauGB, Bauen im Außenbereich - oder BImSchV nicht mehr beizukommen sein. Insofern besteht dort Handlungsbedarf. In meiner Nachbarschaft laufen derzeit zwei Genehmigungsverfahren für insgesamt 860 000 Hähnchenmastplätze. Das entspricht einer Jahresproduktion von mindestens 8 Millionen Hähnchen. Sie können davon ausgehen, dass in diesen Anlagen der Einsatz von Antibiotika eher geringer sein wird als in kleinen und alten Mastanlagen. Moderne Luftreinigung, Klimasteuerung und keimabweisende Baumaterialien sorgen für einen ziemlich reibungslosen Mastverlauf. Mit massivem Widerstand aus der Bevölkerung müssen Investoren in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands kaum rechnen, zumal sie alle Auflagen erfüllen werden. Meine Damen und Herren, ich will diesen Anlagen in keiner Weise das Wort reden, ganz im Gegenteil. Ich komme aber an den Tatsachen nicht vorbei. Diese Megabetriebe werden deine Forderung, Friedrich Ostendorff - übrigens noch einmal herzlichen Glückwunsch zu deinem 60. Geburtstag -, ({9}) die Bestandsdichten zu reduzieren, viel leichter umsetzen können als die vielen bäuerlichen Betriebe, ganz einfach deshalb, weil unsere Strukturen das zulassen. ({10}) Überhaupt sind Ihre Antworten, meine Damen und Herren der Opposition, auf die drängenden Fragen dieser Entwicklungen ausgesprochen dünn. Sie beschränken sich darauf, einen Keil in die Landwirtschaftsbranche zu treiben und sie in „Öko-gut“ und „Konventionell-böse“ zu unterteilen. ({11}) Ihr Verhalten ist alles andere als zielführend. Wir brauchen die Kräfte aller Akteure in der Landwirtschaft, um den Strukturwandel zu begrenzen und die Rahmenbedingungen zu verbessern, zumal die Unterscheidungskriterien nicht wirklich nachvollziehbar sind. Gibt es nicht auch im Ökolandbau längst Massentierhaltung? ({12}) Was ist tatsächlich artgerecht? Selbst die Haltung meiner 3 000 Biohühner im Allgäu war zwar den Auflagen des Naturland-Verbandes konform, aber eben nicht artgerecht. Auch ich kam nicht umhin, erkrankte Bestände zu behandeln und Aggressivität durch Lichtmanipulation zu dämpfen. Nein, meine Damen und Herren, die Vorstellung der Verbraucher über die - nie dagewesene - bäuerliche Idylle gehört in die Welt der Fabeln und Märchen ({13}) oder in die so farbenfrohen Magazine, die die Sehnsüchte der Verbraucher, vollkommen an der Realität vorbei, bedienen. Solange die Wunschvorstellungen und das Handeln der Verbraucher im krassen Gegensatz steht, wird es weiterhin bei vielen Lippenbekenntnissen bleiben. Ich komme nicht umhin, auch an Ihre Verantwortung, verehrte Verbraucherinnen und Verbraucher, zu appellieren: Wer sich beim Einkauf gedankenlos verhält, darf sich nicht über Massentierhaltung oder nicht artgerechte Haltung beschweren. Wenn wir tatsächlich andere als sich jetzt entwickelnde Agrarstrukturen wünschen, dann hätten wir in diesem Jahr die besten Möglichkeiten, zu handeln. ({14}) Die GAP-Reform ist ein zentrales Steuerungsinstrument, das uns in der Politik noch bleibt. ({15}) Meine Forderungen gehen, wie Sie wissen, mittlerweile recht weit. Wenn wir wieder die fachliche Kompetenz der Landwirte in den Mittelpunkt stellen, bürokratische Monster abbauen und subventionsoptimiertes Wirtschaften vor allem bei uns unterbinden wollen, muss es erlaubt sein, über den mittelfristigen Ausstieg oder die Umstrukturierung der ersten Säule bis 2020 nachzudenken. ({16}) Natürlich können wir in der Zeit frei werdende Mittel in die Förderung von Existenzgründungen stecken oder auch über Haltungsmethoden nachdenken. Allerdings geht das nur im Zusammenspiel mit Brüssel. Ein Alleingang Deutschlands würde - das wissen Sie genau - nur zur Verlagerung der Mastanlagen ins Ausland führen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Hans Georg Marwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. Vielen Dank. Meine Damen und Herren, entscheidend ist, erstens alle möglichen Folgen potenzieller Maßnahmen im Blick zu haben und zweitens die Praktikabilität der Forderungen zu überprüfen. Die ausführliche Diskussion zum Tierschutzgesetz hat es bereits deutlich gemacht: Reiner Aktionismus ist nicht hinnehmbar. ({0}) Ich bin überzeugt, dass familiengeführte Landwirtschaftsbetriebe ein existenzielles Bedürfnis haben, dem Tierwohl und dem Verbraucherschutz gleichermaßen gerecht zu werden. Insofern sollten diese Betriebe im Mittelpunkt der Diskussion um ein landwirtschaftliches Leitbild stehen. Die Grüne Woche bietet die Gelegenheit, das Thema „Landwirtschaft“ öffentlichkeitswirksam, vor allem aber konstruktiv zu diskutieren. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Über die Überweisung der Vorlagen auf den Druck- sachen 17/12056 und 17/11879 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse haben wir vorhin schon abgestimmt.1) Damit kommen wir zu den weiteren Abstimmungen, und zwar zunächst zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak- tion der SPD mit dem Titel „Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung senken und eine wirksame Reduktionsstrate- gie umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8611, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8157 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppo- sitionsfraktionen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak- 1) siehe Seite 26627 D Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse tion Die Linke mit dem Titel „Landwirtschaftliche Nutztierhaltung tierschutzgerecht, sozial und ökologisch gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11817, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10694 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Haltungsbedingungen für Puten verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12048, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11667 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Luftfahrtstrategie der Bundesregierung. Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und Koordinator der Bundesregierung für Luft- und Raumfahrt, Peter Hintze. Bitte schön, Kollege Hintze.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Weltluftfahrt wächst kontinuierlich. Darin liegt eine große Chance für Hersteller, Zulieferer und Wartungsdienstleister sowie für den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt, an diesem Hochtechnologiebereich wirtschaftlich und technisch zu partizipieren. Darin liegt auch eine große Chance für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf zukunftssichere und qualifizierte Arbeitsplätze in allen Bundesländern, aber insbesondere in Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Bayern, wo die Schwerpunkte der Hersteller und Zulieferer im Bereich der Luftfahrt liegen; viele kleine und mittlere Unternehmen befinden sich aber auch in den anderen Ländern. Eine Chance bietet sich auch dadurch, dass der Luftverkehr hinsichtlich des Klimaschutzes global einen großen Beitrag leisten möchte und leisten muss. Eine Herausforderung besteht bei der Entwicklung neuer Flugzeuge im Hinblick auf die Energieeffizienz und den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid. Die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation hat sich als Ziel gesetzt, den gesamten CO2-Ausstoß der zivilen Weltluftfahrt bis zum Jahre 2050 im Vergleich zu 2005 zu halbieren, also 50 Prozent weniger CO2-Ausstoß trotz wachsenden Luftverkehrs. Sie hat sich weiterhin zum Ziel gesetzt, das weitere Wachstum des Weltluftverkehrs ab 2020 CO2-neutral zu gestalten. Das sind mächtige Herausforderungen; aber darin liegen natürlich auch Chancen für die Hersteller von Flugzeugen, Systemen und Subsystemen, die diese Ergebnisse ermöglichen sollen. Das Ziel der Luftfahrtstrategie der Bundesregierung ist also, dass der Luftfahrtstandort Deutschland mit seinem Weltkonzern Airbus, der hier ein wichtiges Standbein hat, und mit seiner tief gestaffelten Zulieferindustrie einen Beitrag für die Entwicklung sicherer, energieeffizienter, umweltfreundlicher und leiserer Flugzeuge leistet. Das Ganze geschieht im Kontext einer großen technologischen Revolution. Wir sind beim Flugzeugbau dabei, den Sprung vom Metall- ins Kunststoffzeitalter zu schaffen. Kohlefaserverstärkte Kunststoffe, die Flugzeuge leichter machen und sie energieeffizienter fliegen lassen, werden beim Flugzeugbau eingesetzt. Bei der Boeing 787, dem Dreamliner, ist das schon der Fall, beim Airbus A350 wird es folgen. Ab und zu liest man in der Zeitung oder, wie heute, im Internet, dass bei dem neuen Flugzeug, das Boeing auf den Weltmarkt gebracht hat, das eine oder andere Problem identifiziert wurde. Wenn Sie sich die Geschichte der Luftfahrt anschauen, stellen Sie fest, dass es am Anfang bei allen großen Neuentwicklungen, ob damals bei der Boeing 747 oder bei anderen Flugzeugen, immer die eine oder andere Anlaufschwierigkeit gab; das war auch beim Airbus A380 der Fall. Das gehört bei großen Neuentwicklungen dazu, zumal diese Entwicklungen immer komplexer werden. Dennoch glaube ich, dass dieser Weg insgesamt erfolgreich sein wird. Ich werde gleich noch darauf zu sprechen kommen, dass die Entwicklung zum Leichtbau im Luftverkehr auch positive Auswirkungen hat, zum Beispiel im Hinblick auf die Energieeffizienz und unsere CO2-Reduktionsziele etwa im Straßenverkehr, also bei Pkw. Die Bayerischen Motoren Werke haben bereits im vergangenen Jahr als erstes Unternehmen damit angefangen, ein Fahrzeug ganz auf CFK-Basis zu produzieren; in diesem Jahr soll es auf den Markt gebracht werden. Auch wenn Kollege Riesenhuber mich immer ermahnt, nicht zu sehr auf die Spill-over-Effekte zu schauen, muss ich sagen: Im Bereich der Materialentwicklung ist ein mächtiger Spill-over-Effekt zu verzeichnen, was den Einsatz von CFK-Werkstoffen im Automobilbereich betrifft. Was bedeutet die Luftfahrtstrategie konkret für Deutschland? Es geht darum, dass wir uns im Hinblick auf den nächsten Technologiesprung, der in der Luftfahrtindustrie ansteht, positionieren; es geht um die neue Flugzeuggeneration. Die Flugzeuge, mit denen wir heutzutage fliegen - der Airbus A320 bzw. die 200er-Serie -, hatten ihren Erstflug 1987, und sie werden, wie ich denke, bis 2025 fliegen. Das sind fast vier Jahrzehnte. Das, was heute entwickelt wird, hat also für fast ein halbes Jahrhundert Bedeutung. Das betrifft nicht nur die Entwicklung, sondern auch die spätere Produktion. Für die OEMs, also die Flugzeughersteller, wie für die Zulieferer bedeutet es für mehrere Jahrzehnte Geschäft, wenn die Weichen heute richtig gestellt werden. Wir wollen eine tief gestaffelte Wertschöpfungskette in Deutschland erhalten, und wir wollen - das ist ganz wichtig - den Zusammenhang zwischen Forschung, Entwicklung und industrieller Produktion betonen. Manchmal erleben Sie vielleicht, dass ich im lebendigen Austausch mit den Herstellern bin. Dabei wird immer wieder deutlich: Produktion ist wichtig, aber Forschung und Entwicklung sind sehr wichtig; denn davon hängt ab, ob Deutschland in Zukunft ein Hightechstandort bleibt und ob wir sicherstellen können, dass der Zusammenhang zwischen Forschung, Entwicklung und industrieller Produktion auf Dauer beachtet wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, die fünf Minuten sind abgelaufen.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Ich habe es befürchtet, Herr Präsident.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Vielleicht können Sie in Ihren Antworten stückweise mitteilen, was Sie sich notiert haben.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Ich habe im Wesentlichen noch nicht damit angefangen. ({0}) Ich bin aber sicher, Herr Präsident, dass so viele kluge und sachverständige Fragen gestellt werden, dass ich die wichtigsten Inhalte noch werde ansprechen können. Diese Materie ist komplex. Von Albert Einstein - Herr Präsident, wenn Sie diese Bemerkung noch gestatten - stammt ja der Satz: Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher. - Das ist in fünf Minuten manchmal schwierig.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ja, aber wir haben uns diese strengen Regeln gegeben, und sie gelten auch für die Antworten. Sie sollten immer eine Minute Redezeit einhalten, auch wenn das schwierig ist.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Ich bemühe mich, Herr Präsident.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Jetzt kommen wir zu den Fragen zu dem Themenbereich, der gerade angesprochen worden ist. Ich bitte Sie, kurze Fragen zu stellen. Zunächst Kollegin Schwarzelühr-Sutter, dann Kollege Lindner.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Ihr Wort in Gottes Ohr! Der Luftverkehrswirtschaft haben Sie in Ihrem Papier zur Luftfahrtstrategie, wenn überhaupt, nur ein kleines Kapitelchen gewidmet. Sie konzentrieren sich auf die Luftfahrtindustrie, aber nicht auf die Luftverkehrswirtschaft. Diese braucht allerdings besondere Unterstützung, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Ich möchte nachfragen: Welchen Stellenwert hat für Sie die Luftverkehrswirtschaft, haben unsere Carrier, die international erfolgreich bleiben müssen, um auch in Zukunft Maschinen kaufen und investieren zu können? Das kommt mir in Ihrer Beschreibung viel zu kurz. Das, was Sie sagten, waren eher Lippenbekenntnisse zur Luftverkehrswirtschaft; es war aber eigentlich keine Strategie.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Frau Kollegin, die Analyse war korrekt, die Bewertung lieblos und inkorrekt. Ich will mit einer Kritik an der Bundesregierung beginnen: Es müsste vielleicht in der Tat heißen: „Luftfahrzeugherstellerstrategie“ - mit all dem, was dazugehört. Es geht hier um die Industrie, die Luftverkehrsflugzeuge herstellt, die Zulieferindustrie, die Maintenance-Dienstleister. Es geht nicht um die Luftverkehrswirtschaft, also um die Fluggesellschaften und die Flughäfen. Zu diesem Bereich wird der Bundesverkehrsminister - er ist im Rahmen der Geschäftsverteilung innerhalb der Bundesregierung dafür zuständig - eine eigene Strategie vorlegen. - Ich gebe Ihnen recht: Auch die Luftverkehrswirtschaft ist bedeutend und wichtig; aber sie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht Gegenstand der Beschlussfassung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Lindner, bitte.

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrem Beitrag die Themen Emissionen, Lärm und Verbrauch erwähnt. Es wundert mich deshalb etwas, dass es mir nicht gelungen ist, diese Begriffe in der Pressemitteilung des BMWi vom heutigen Tage zu finden. Ich möchte Sie deshalb zum einen fragen, durch welche Maßnahmen Sie im Rahmen Ihrer Strategie auf der Herstellerseite - im Bereich Forschung, Entwicklung, Herstellung - Anreize setzen wollen bzw. ob Sie regulatorische Schritte gehen wollen, um Lärm, Verbrauch und Schadstoffe zu mindern, und zum anderen, inwieweit Sie sicherstellen wollen, dass solche Luftfahrzeuge von den Luftfahrtunternehmen auch nachgefragt werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Staatssekretär.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Die Reduktion von Emissionen, die Erhöhung der Energieeffizienz und die Umweltfreundlichkeit der Flugzeuge sind überhaupt die Voraussetzungen dafür, dass eine neue Generation von Luftfahrzeugen entsteht; denn wenn die neue Generation das nicht leistet, wäre sie überflüssig. Sie fragen, was für Anreize die Bundesregierung geben will. Wir wollen wie schon in dem jetzigen Aufruf auch in dem neuen Aufruf des Luftfahrtforschungsprogramms bei diesen Themen einen Schwerpunkt setzen. Ich weiß aus meinen Gesprächen mit der Industrie, dass auch die Planung der Industrie genau darauf abzielt. Ich bitte das Haus um Nachsicht, dass dieser wichtige Punkt, den ich, um seine Bedeutung hervorzuheben, ganz am Anfang meiner Ausführungen gebracht habe, in der Presseerklärung des BMWi nicht auftaucht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Tiefensee.

Wolfgang Tiefensee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich noch einmal auf die Luftverkehrswirtschaft. In Ihrem Bericht taucht das Stichwort „Luftverkehrsabgabe“ auf. Nach dem, was man hört, gibt der Bundesverkehrsminister auf einschlägigen Veranstaltungen zu, dass er die Luftverkehrsabgabe nicht mag. Er heftet sie dem Finanzminister ans Revers. Nun steht in Ihrem Bericht, dass Sie für wettbewerbsneutrale Bedingungen sorgen wollen. Meine Frage ist: Wie beurteilen Sie die Luftverkehrsabgabe vor diesem Hintergrund? Die ADV, die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen, prognostiziert für 2013 nicht zuletzt wegen dieser Abgabe einen deutlichen Einbruch des Luftverkehrsgeschäftes. Wir sehen diesen Einbruch aktuell schon. Beurteilen Sie das ähnlich wie die ADV? Was wollen Sie dagegen tun?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Ich möchte jetzt nicht darauf eingehen, was mein Kollege Kampeter, der Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, mir gerade zugerufen hat. ({0}) - Der Herr Staatssekretär aus dem Finanzministerium war der Meinung, dass die Probleme des Berliner Flughafens nicht durch die Luftverkehrsabgabe hervorgerufen wurden. - Das nur zur Herstellung der kommunikativen Offenheit hier im Plenum. Erstens. Auch wenn wir diesen kleinen Hinweis gegeben haben, den wir im Hinblick auf unsere Hersteller wichtig finden, beschäftigen wir uns in diesem Bericht nicht mit der steuerlichen Behandlung des Luftverkehrs. Ich bitte darum, diese Diskussion mit dem Bundesfinanzminister oder mit dem Bundesverkehrsminister zu führen. Richtig ist, dass die Bundesregierung von der Grundidee gleicher Wettbewerbsbedingungen ausgeht. Ich kenne dieses Thema, wie Sie wissen, aus unseren vielen Diskussionen aus dem Effeff. Wir könnten hier noch einmal alle Argumente zu Pro oder Kontra austauschen; ich denke aber, das führt am heutigen Thema vorbei.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun Stephan Kühn.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben angesprochen, dass die Bundesregierung mit Forschungsmitteln unterstützen möchte, dass künftig lärmärmere Flugzeuge auf den Markt kommen. Die Frage ist immer, was sich auf dem Markt durchsetzt; das hat etwas mit Standards zu tun. Halten Sie die internationalen Standards, die für Emissionen gelten und mit denen die Hersteller operieren müssen, für ausreichend, um dieses Ziel zu erreichen, oder brauchen wir höhere Standards, damit die innovativen Hersteller, die lärmgeminderte Flugzeuge herstellen, tatsächlich einen Wettbewerb vorfinden, in dem sich diese dann auch entsprechend verkaufen lassen?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Herr Kollege, ich möchte Ihre Frage empirisch beantworten: Wenn wir uns die letzten vier Jahrzehnte im Flugzeugbau anschauen, dann sehen wir, dass es eine dramatisch erfolgreiche Lärmreduzierung gegeben hat. Wenn ich das einmal kurz optisch beurteilen darf: Ich bin geringfügig lebensälter als Sie. ({0}) - Zutreffend, ja. - Die Lärmreduzierung war dramatisch, und auch die Industrie sagt, sie sei heute ein entscheidendes Verkaufsargument, weil überall auf der Welt die Menschen zu Recht einfordern, dass die Lärmemissionen gering gehalten werden. Das ist also ein wirtschaftlicher Wert, der sich auch verkaufen lässt. Es gibt aber ein technisches Dilemma in Bezug auf die bisherigen Antriebskonzepte. Deswegen wollen wir Geld investieren, wir wollen dieses Dilemma lösen. Bisherige Antriebskonzepte - Open-Rotor-Konzepte - arbeiten wesentlich ressourceneffizienter, sind im Hinblick auf Lärmemissionen aber schlechter. Hier gibt es also ein Dilemma zwischen CO2-Emissionen und Lärmemissionen. Deswegen wollen wir unsere klugen Ingenieure, unsere Wissenschaftler, das Deutsche Zentrum für Luftund Raumfahrt, die Fraunhofer-Institute und die Universitäten mit gutem deutschen LuFo-Geld ausstatten, damit sie es schaffen, die Quadratur des Kreises hinzubekommen, also sowohl die Lärmemissionen als auch die Kohlenstoffdioxidemissionen zu senken. Wenn ein Wettbewerber das auf den Markt bringen kann, dann hat er ein Hauptverkaufsargument.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Rita Schwarzelühr-Sutter.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich komme auf faire Wettbewerbsbedingungen zurück. Die Bundesregierung beabsichtigt ein weltweites Abkommen, um fairen Wettbewerb zu ermöglichen und den staatlichen Einfluss möglichst zu reduzieren. Was verstehen Sie hier unter staatlichem Einfluss, vor allem im Zusammenhang damit, dass Sie eine stärkere Führungsrolle der Bundesregierung bei Airbus selber einfordern? Wie kommt das zusammen und bei den Verhandlungspartnern an? Gibt es hierzu bereits Verhandlungen? Sind hier entsprechende Termine festgelegt? Wie sehen und beurteilen Sie das vor dem Hintergrund der schwierigen multilateralen Verhandlungen auch mit der WTO und insbesondere mit den USA in der Vergangenheit? Wie betrachten Sie vor einem realistischen Hintergrund überhaupt die Erfolgschancen?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Herr Präsident, das ist jetzt eine Herausforderung: Wenn ich richtig mitgezählt habe, waren das sechs Fragen, die ich in 60 Sekunden beantworten soll. Ich versuche das einmal ganz kurz. Sie haben zum Schluss tatsächlich den Ausgangspunkt genannt: Es gibt zwei WTO-Verfahren. Das eine führt die Europäische Union gegen die USA, das andere führt die USA gegen die Europäische Union. Beide Male geht es um die WTO-Kompatibilität oder -Nichtkompatibilität von Förderprogrammen, in dem einen Fall für Boeing, in dem anderen Fall für Airbus. Die Passage in der Luftfahrtstrategie, die sich ja auch in den Zeitungen wiederfindet, bezieht sich darauf, dass wir hier versuchen müssen, international eine Vereinbarung zu erreichen. Sie haben nach der Schrittabfolge gefragt. Die erste Schrittabfolge wird in der Tat sein, dass wir versuchen müssen, zwischen den USA und der Europäischen Union einen Level Playing Ground, eine gemeinsame Grundlage, zu erreichen, sodass es hier keinen Wettbewerb „staatliches Geld kontra private wirtschaftliche Tätigkeit“ gibt, sondern die Förderung auf einem Niveau stattfindet, dass sie WTO-kompatibel ist. Das wollen wir auch für die anderen Wettbewerber tun. Weil das den Regeln entspricht, durfte ich nur fünf Minuten lang sprechen. Wenn ich länger hätte sprechen dürfen, dann hätte ich noch darauf hingewiesen, dass sich die Wettbewerbssituation auf der Welt stark verändert. Gerade bei den Flugzeugen im Kurz- und Mittelstreckenbereich kommen neue Wettbewerber an den Markt. Ich bin darüber nicht nur mit der IG Metall, sondern beispielsweise auch mit dem Ersten Bürgermeister von Hamburg und anderen Verantwortlichen in einem positiven und regelmäßigen Gespräch. Sie unterstützen die Bundesregierung parteiübergreifend darin - das kann ich sagen -, dass wir in den Bereichen, in denen unsere Stärken liegen - bei den Kurz- und Mittelstreckenflugzeugen -, auch in Zukunft die Kompetenzen, die Arbeitsplätze, die Entwicklungskapazitäten und die Forschung bei uns behalten wollen. Die Bundesrepublik Deutschland hat hier im Laufe der Jahre unter unterschiedlichen Regierungen mehrere Milliarden Euro investiert, und wir wollen nun für unsere Arbeitnehmer, für unsere Unternehmer, für unseren Mittelstand, für die Zulieferer auch die Früchte ernten. Ich habe mich damit auch ein bisschen öffentlich auseinandergesetzt und darf noch ein kritisches Wort sagen: Ich fände es nicht gut, wenn alle Entwicklungszuständigkeiten bei einem europäischen Konzern außerhalb unseres schönes Landes zentralisiert würden. Ich meine, die Stärken, die wir haben, sollten auch bei uns weiterentwickelt und gehalten werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Danke schön. - Jetzt hat noch einmal Tobias Lindner das Wort.

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Staatssekretär, ich möchte Ihnen in dieser Minute nur eine einzige Frage stellen. Wir kennen ja beide sehr gut den Einzelplan Ihres Hauses und wissen, dass die Luft- und Raumfahrt darin doch einen signifikanten Anteil hat. Mich würde interessieren, welche Gelder die Bundesregierung beabsichtigt, in den kommenden Jahren für die Luftfahrtstrategie bereitzustellen, die heute beschlossen wurde.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Wenn wir über Gelder in dem Bereich sprechen, haben wir zwei verschiedene Dinge. Das eine ist die Luftfahrtforschung. Da habe ich jetzt die konkrete Summe für den Zeitraum 2007 bis 2016 nur so ungefähr parat, weil sich die Luftfahrtforschungsaufträge immer über mehrere Jahre überlappen. Das sind für diesen Zeitraum von knapp zehn Jahren etwa 1 Milliarde Euro in diesem Bereich. Daneben stehen die Zahlungen, die wir als Darlehen für die Entwicklung von neuen Flugzeugtypen geben. Die Summen hängen davon ab, wann entsprechende Entwicklungen einsetzen, welche Anteile wir bekommen. Auch da gibt es ja - das konnten Sie in den Zeitungen lesen - die eine oder andere unterschiedliche Sicht der Dinge. Wir sagen jedenfalls: Wenn wir Entwicklung finanzieren wollen, wollen wir auch, dass die in dem entsprechenden Maße bei uns stattfindet. Ich hoffe, dass das vom ganzen Haus so unterstützt wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wolfgang Tiefensee noch einmal.

Wolfgang Tiefensee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, meine Frage richtet sich noch einmal auf das Thema EADS. Wir werden in der nächsten Woche unter anderem mit einem langen Bankett die deutsch-französische, die französisch-deutsche Freundschaft feiern, Sektgläser erheben. Mir scheint eines der Großprojekte, nämlich EADS - zumindest was die Abstimmung zwischen Deutschland, Frankreich, Großbritannien, zwischen der Bundesregierung und der Vorstandsetage von EADS anbetrifft -, eher in Richtung Scherbenhaufen zu gehen, wenn ich bedenke, wie die Abwicklung einer möglichen Fusion mit BAE gelaufen ist. Hier ist deutlich geworden, dass die Bundesregierung und die französische und die britische Regierung durchaus große Differenzen haben, dass die Information nicht fließt. Meine Fragen sind: Geben Sie mir erstens recht, dass EADS ein Musterbeispiel, eine Blaupause für europäische Zusammenarbeit sein muss und demzufolge viel mehr in diese Richtung investiert werden muss? Und zum Zweiten - es klang bereits an -: Wie wollen Sie bei einem zurückgehenden Bestellvolumen innerhalb der Europäischen Union dafür Sorge tragen, dass die für uns existenziellen Arbeitsplätze, die für die Regionen existenziellen Arbeitsplätze erhalten bleiben und möglichst noch ausgebaut werden in Bezug auf EADS und die Produktionen in den entsprechenden Firmen?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Ich hatte vor Weihnachten das Vergnügen, Redner auf einer SPD-Veranstaltung in Hamburg zu sein. Kollege Kahrs hatte mich eingeladen. Da war zwar nicht der versammelte Betriebsrat, aber die Spitze des Betriebsrats von Airbus Hamburg - größter deutscher Standort auch anwesend. Ich habe dort den Eindruck gewinnen dürfen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie auch ihre Gewerkschaft sehr einverstanden damit waren, dass wir gesagt haben, wir wollen das Unternehmen so, wie die Gründungsidee war, so wie es gestaltet ist, in einer fairen deutsch-französischen Balance weiterführen. Dass dort die Unterstützung dafür groß war, fand ich erfreulich. Ich wollte Ihnen das einfach einmal zur Kenntnis geben. Das Zweite ist: Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ist auch sehr gut. Die Zusammenarbeit mit England ist auch eine sehr gute, aber da gibt es in der Tat einen kleinen Interessenunterschied. Mit der Fusion mit BAE Systems wäre der weltgrößte Rüstungskonzern entstanden. Sie können das in der Wirtschaftspresse nachlesen oder mit der IG Metall sprechen, wie auch immer. Ob die damit verbundenen wirtschaftlichen Wirkungen für alle drei Beteiligten gleich gut gewesen wären, weiß ich nicht. Ich glaube jedenfalls, dass das Unternehmen so, wie es jetzt aufgestellt ist, doch besser aufgestellt ist, dass es größere wirtschaftliche Chancen hat. Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, dass ja, als die Fusionswünsche oder Fusionspläne bekannt gegeben wurden, der EADS-Kurs einstürzte, der BAEKurs hochstieg und dass, als die Fusion dann für beendet erklärt wurde, der EADS-Kurs sich wieder sehr stark erholt hat. Im Übrigen haben wir das zwischen den drei Regierungen eng besprochen. Ihre Befürchtung, es gäbe kein gutes Gesprächsklima, kann ich widerlegen, und zwar unter anderem auch mit dem Hinweis, dass ich seit vielen Jahren der deutsche Vertreter in den Airbus-Ministerräten bin, wo wir uns regelmäßig in Le Bourget, in Farnborough, hier in Berlin am Rand der ILA treffen. Bei jeder Luftfahrtmesse gibt es eine solche Konferenz. Dort haben wir zwischen den drei Staaten und auch mit Spanien, das auch mit dabei ist, ein sehr gutes Gesprächsklima, ein gutes Verhältnis. Ich denke, das Unternehmen fühlt sich von uns auch gut behandelt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Jetzt noch einmal Kollege Stephan Kühn.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, ich wollte noch einmal auf das Thema der gleichen Wettbewerbsbedingungen in der Welt zu sprechen kommen; Sie hatten das schon angesprochen. Versteht die Bundesregierung perspektivisch darunter die Rücknahme der Luftverkehrsteuer und das langfristige Aussetzen des Emissionshandels?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Wie ich eben schon auf die Frage eines Kollegen geantwortet habe, ist das nicht Gegenstand der Strategie, bei der es um die Industrie geht, in der Luftfahrzeuge entwickelt und gebaut werden. Alle anderen Fragen, denke ich, werden dann im Rahmen der Strategie, die der Bundesverkehrsminister vorlegen wird, zu besprechen sein.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Noch einmal Kollegin Schwarzelühr-Sutter.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wenn man die Herausforderungen in der Industrie betrachtet, dann spielt dabei Forschung die zentrale Rolle. Aber die Ausgaben für Forschung sind auf gleichem Niveau geblieben. Sie haben zwar vor, einen Projektebeirat bei dem DLR einzurichten und eine Roadmap zu definieren. Wenn es aber um einen erleichterten Marktzugang für die deutsche Industrie gehen soll, dann gibt es nur Darlehen. Da frage ich mich schon: Woher kommt der Impuls, den man braucht, um diese Herausforderungen wirklich annehmen zu können, wenn sich das nicht finanziell abbildet?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

In Ägypten gibt es ein schönes Sprichwort: Eine Palme wächst nicht schneller, wenn man an ihr zieht. Das heißt, die Idee, doppelt so viel Geld einzusetzen, um eine doppelt so hohe Leistung zu erhalten, ist zwar sympathisch, aber falsch. ({0}) Die Mittel für die Luftfahrtforschung sind erstens sehr umfänglich, und zweitens ist ihr Einsatz erfolgsträchtig. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Airbus entwickelt jetzt als Zwischenschritt zur neuen Familie, die dann ab Mitte des nächsten Jahrzehnts auf den Markt kommt, eine Weiterentwicklung des A320. Sie heißt A320neo, „new engine option“. Diese wird mit einem Triebwerk ausgestattet, mit dem eine Energieeinsparung von 15 Prozent erreicht wird. Das ist in der Luftfahrt schon eine ganze Menge. Die Entwicklung - es handelt sich um ein Geared Turbofan-Triebwerk - ist ganz wesentlich auch aus Deutschland vorangebracht worden. Das Triebwerk wird von Pratt & Whitney zusammen mit MTU hergestellt. Hier sind, was MTU angeht, LuFoFördermittel eingesetzt worden. Ich weiß genau: Als diese Entwicklung begann, habe ich von einem anderen großen Triebwerkhersteller gehört, das sei ein absoluter Holzweg. - Wir haben gesagt: Wir konzentrieren die Mittel auf diese Entwicklung. Der Holzweg hat sich als wirklicher Highway erwiesen, was jetzt zu der höchsten Zahl von Bestellungen geführt hat, die es in der zivilen Luftfahrt jemals gegeben hat. Wir konzentrieren den Einsatz unserer Mittel. Aber wir haben auch gesagt: In wirtschaftlich schweren Zeiten, in denen die Budgets knapp sind, wollen wir gerade in diesem Bereich weiterhin investieren. Das ist ein Erfolg. Ich bin mir sicher: Auch der neue LuFo-Call wird zu einem Erfolg in der Sache.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Danke schön. - Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen an die Bundesregierung? Kollege Liebich hat eine Frage angemeldet.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe eine Frage zu dem Thema, das der Finanzstaatssekretär vorhin durch einen Zwischenruf angerissen hat, nämlich zum Flughafen Berlin Brandenburg International. Entgegen der rechtsverbindlichen Schließung, die für den Flughafen Berlin-Tegel vorgesehen war, betreibt die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH, in der die Bundesregierung Gesellschafter ist, den Flughafen auf unbestimmte Zeit weiter. Mich interessiert, welche Vorschläge die Aufsichtsratsvertreter der Bundesregierung vom Vorstand zur Entschädigung der betroffenen Bürgerinnen und Bürger in den Berliner Bezirken Pankow, Reinickendorf und Spandau erwarten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wer kann sich dazu äußern? - Bitte schön, Herr Staatssekretär Mücke.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Herr Präsident! Herr Abgeordneter, das Thema ist heute nicht Gegenstand der Kabinettssitzung gewesen und ist deshalb dort auch nicht besprochen worden. Es ist zu früh, darüber zu spekulieren, welche zusätzlichen Kosten durch die Verzögerung der Inbetriebnahme des Flughafens BER in Schönefeld eintreten werden. ({0}) Es ist die Aufgabe der Geschäftsführung, dafür zu sorgen, dass ein entsprechender Schadensersatz da geleistet werden kann, wo Schäden eingetreten sind. Die Aufsichtsratsmitglieder des Bundes werden darauf dringen, dass die Geschäftsführung eine solche Konzeption vorlegt, wenn klar ist, welche Schäden tatsächlich eingetreten sind.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck hat noch eine weitere Frage.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt: Das war heute nicht Gegenstand der Kabinettssitzung. - Wann war der Flughafen Berlin Brandenburg das letzte Mal Gegenstand der Kabinettssitzung und mit welchem Inhalt?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Das kann ich Ihnen jetzt nicht mit letzter Sicherheit sagen. Ich nehme stark an, dass es das letzte Mal im März 2010 Thema gewesen ist, als die Aufsichtsratsumbesetzung durch das Kabinett beschlossen wurde. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Können Sie das gegebenenfalls für die Bundesregierung schriftlich nachreichen, Herr von Klaeden, wann die letzten Behandlungen dieses Themas im Kabinett waren? Wir sind immerhin Mitgesellschafter. ({0})

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Das werden wir nachreichen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Liebich möchte noch einmal nachfragen.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Diese Auskunft ist angesichts der dramatischen Diskussion, die über den Flughafen stattfindet, natürlich ziemlich überraschend. Ich habe deshalb noch eine konkrete Frage. Heute fand die Aufsichtsratssitzung statt. Die Bundesregierung ist in diesem Aufsichtsrat vertreten. Wir konnten vorher von Vertretern von Bundesministerien erfahren, dass sie den Vorschlag, dass der brandenburgische Ministerpräsident Aufsichtsratsvorsitzender werden soll, nicht sinnvoll finden. Nun ist er das geworden, und zwar, wie ich gelesen habe, einstimmig. Darüber muss doch vorher geredet worden sein. Wo ist darüber gesprochen worden, wie man mit den Vorschlägen der Ministerien, dass er das nicht werden soll, umgeht?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte, Herr Staatssekretär.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Herr Kollege, die Abstimmung der beiden zuständigen Ressorts BMF und BMVBS findet laufend statt. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Fragen mehr. Dann beende ich die Befragung. Da sowohl Fragende wie Antwortende anwesend sind, leite ich gleich über und rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Fragestunde - Drucksachen 17/12041, 17/12049 Zunächst der Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung: Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt bereit. Ich rufe zunächst die dringliche Frage 1 der Kollegin Inge Höger auf: Welche personellen, logistischen oder sonstigen Unterstützungsleistungen für die derzeit stattfindende französische Militäroperation in Mali plant die Bundesregierung vor dem Hintergrund von entsprechenden Zusagen des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, gegenüber der französischen Regierung vom 14. Januar 2013 und von Aussagen des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière, gegenüber dem Deutschlandfunk am 13. Januar 2013, und welche Unterstützung, etwa in Militärstäben, findet bereits heute statt?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Vielen Dank, Frau Kollegin. Ihre Frage kann ich so beantworten, dass eine personelle oder logistische Unterstützung des französischen Militäreinsatzes in Mali durch Deutschland derzeit nicht stattfindet. Gleiches gilt für eine deutsche Unterstützung in Militärstäben. Sie mögen in den letzten Stunden nach einer Verlautbarung und Bekanntgabe der beiden Ressorts, des Auswärtigen Amtes bzw. des Bundesaußenministers und des Bundesverteidigungsministers, über die Perspektive und die getroffene Entscheidung schon informiert sein. Die Obleute wurden nach meiner Kenntnis auch unterrichtet, dass eine Unterstützung logistischer Art durch den Transport in Form von zwei Militärtransportflugzeugen der Transall C-160 durch die Bundeswehr, zum Transport von Soldaten und Material, das im Rahmen der ECOWAS-Mission - der Mission, die durch die Vereinten Nationen mandatiert und von den Nachbarstaaten Malis durchgeführt werden soll - für Mali vorgesehen ist - allerdings nicht ins Kampfgebiet, sondern in die Hauptstadt und dort in die jeweiligen Sammelpunkte.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Staatssekretär Schmidt. - Wir sind heute Morgen im Ausschuss über einiges, aber noch nicht über alles informiert worden. Sie haben immer wieder Unterstützung durch Transportflugzeuge angekündigt; sie wird noch geprüft. Die Frage ist aber: Gibt es schon eine Zusammenarbeit in den NATO-Stäben oder in den Stäben der Europäischen Union, bzw. gibt es schon Transporte im Rahmen des Europäischen Luftfahrttransportkommandos aus Eindhoven?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Eine solche Zusammenarbeit im Rahmen der NATO gibt es nicht. Die NATO als kollektives Bündnis der Sicherheit ist nicht einbezogen. Sie wissen, dass die französische Regierung auf eine Bitte der malischen Regierung bzw. des malischen Präsidenten entschieden hat, diese Nothilfeoperation durchzuführen, basierend auf der Resolution 2085 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und der entsprechenden Revozierung dieser bilateralen bzw. unilateralen Aktion, die dieses Gremium, glaube ich, vorgestern unter ausdrücklicher Bestätigung der Subsummierung der Aktion der Franzosen vorgenommen hat. Die Anfragen und Gespräche haben sich rein präventiv auch auf andere Möglichkeiten bezogen. So wurde im Europäischen Lufttransportkommando, einer multilateralen Organisation in Eindhoven, die von fünf Staaten - Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg - getragen wird, über diese Fragen nachgedacht. Eine Anforderung hat nicht stattgefunden, genauso wenig wie eine Operation oder Nutzung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Eine weitere Nachfrage.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe eine weitere Nachfrage. Sie haben eben gesagt, das Angebot an Transportkapazitäten beziehe sich auf die ECOWAS-Truppen. Ich habe sowohl die heutigen Äußerungen im Ausschuss als auch die Presseinformationen und Verlautbarungen von Herrn Westerwelle und Herrn de Maizière so verstanden, dass auch Transportkapazitäten für die französische Armee für die aktuell stattfindenden Kämpfe zur Verfügung gestellt werden. Bis die ECOWAS-Truppen aufgestellt sind, wird es noch einige Monate dauern.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Frau Kollegin Höger, das gibt mir die Möglichkeit - wenn Sie gestatten -, den Text Ihrer Frage etwas zu korrigieren. Eine Zusage ist weder durch Außenminister Westerwelle noch durch den Bundesverteidigungsminister de Maizière gegeben worden, wohl aber eine Prüfzusage. Diese Prüfzusage hat dazu geführt, dass aufgrund des Angebots anderer europäischer Nationen - namentlich des Vereinigten Königreichs mit der Zurverfügungstellung von Transportraum in Form von C-17-Maschinen - strategische Lufttransportmöglichkeiten für Frankreich geschaffen worden sind. Nach meinen Informationen haben sich hier Belgien, Dänemark und wohl auch Kanada zur Verfügung gestellt. Die Notwendigkeit, den zahlenmäßig weitaus größeren Bedarf der ECOWAS-Mission, die nun relativ schnell auf den Weg gebracht werden soll, zu decken, hat dazu geführt, dass wir einvernehmlich mit den Bündnispartnern die Priori26658 tät auf die ECOWAS-Mission und deren Unterstützung gesetzt haben. Die Entwicklung orientiert sich allerdings an dem, was wir gegenwärtig in Mali erleben. Das alles ist sehr schnell gekommen. Wir sind kaum eine Woche in dieser Situation und Mission. Frankreich hat erfolgreich den Vormarsch der militanten Islamisten gestoppt, die bis vor kurzem noch zugesagt hatten, Gespräche über eine gemeinsame Entwicklung in Mali zu führen. Dem haben sie sich entzogen. Deswegen war eine schnelle Reaktion erforderlich. Wir mussten aufgrund der Notwendigkeit der Anforderungen und des Bedarfs sehr flexibel entscheiden. Das ist heute passiert.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Eine Nachfrage dazu vom Kollegen Mützenich.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal Bezug auf das in der dringlichen Frage der Kollegin angesprochene Thema nehmen. Heute Morgen ist die Öffentlichkeit informiert worden. Sie haben gerade nachgeholt, den Deutschen Bundestag über die Unterstützung der ECOWAS-Truppen zu informieren. Wenn ich mich recht entsinne, wird morgen der französische Verteidigungsminister offensichtlich mit dem deutschen Verteidigungsminister unter Umständen über Weiterungen sprechen. Könnten Sie hier gegenüber der Öffentlichkeit kundtun, was in diesem Zusammenhang im Hinblick auf die Unterstützung der derzeit stattfindenden französischen Militäroperation eventuell von deutscher Seite geleistet werden könnte?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Herr Kollege Mützenich, die Informationen sind sehr schnell weiterzugeben gewesen. Ich vermute, dass ich der Erste bin, der sie dem Parlament in förmlicher Weise überbringen kann. Sie beruhen auf Maßnahmen, die in der Tat erst am späten Vormittag getroffen worden sind. Der Präsident der Elfenbeinküste ist in seiner Funktion als Präsident der Staatengemeinschaft ECOWAS zur Stunde in Berlin. Diese Thematik wurde seitens der Bundeskanzlerin in einem Gespräch mit ihm angesprochen. Wie Sie richtig bemerkt haben, wird der französische Verteidigungsminister Le Drian morgen hier in Berlin sein. Seine Anwesenheit hat allerdings vor allem mit der Vorbereitung der in der nächsten Woche stattfindenden Feierlichkeiten, der gemeinsamen Sitzung von Deutschem Bundestag und Französischer Nationalversammlung und beider Kabinette anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages zu tun. Allerdings gehe ich davon aus, dass die weitere Entwicklung der Situation in Mali und die französische Operation dort natürlich eine Rolle spielen werden. In dieser Frage sind keine Vorbereitungen für weitere Transportleistungsvereinbarungen getroffen worden. Ich will ergänzend darauf hinweisen - ich bitte die Kollegin aus dem Auswärtigen Amt, meine Äußerungen gegebenenfalls zu konkretisieren -, dass am morgigen Vormittag eine Sondersitzung des Außenministerrates der Europäischen Union stattfinden wird, der sich sowohl mit EUTM, der europäischen Ausbildungsmission für Mali, als auch mit der Frage der weiteren Entwicklung der französischen Mission, die wir im Augenblick erleben, beschäftigen wird. Über deren Ausgang lässt sich noch nichts vorhersagen. Ich will das nur der Vollständigkeit halber berichten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur dringlichen Frage 2 des Kollegen Niema Movassat: Welche genauen politischen und militärischen Ziele verfolgt die Bundesregierung mit ihrer politischen und am 14. Januar 2013 auf eine ausschließlich informelle Information des französischen Verteidigungsministers Jean-Yves Le Drian hin spontan zugesagten militärischen Unterstützung der Militärintervention Frankreichs in Mali, und welchen Umfang - Truppenstärke, Einsatzgebiet, Dauer, Operationsbasis, projektierte Funktionen der Angehörigen der Bundeswehr, etwaige direkte Beteiligung an Kampfhandlungen - sieht die Bundesregierung für ein deutsches Engagement vor?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Lieber Kollege Movassat, ich will zu dieser Frage unter Einbeziehung meiner Antwort auf die vorhergehende dringliche Frage der Kollegin Höger antworten. Gestatten Sie einen Hinweis. In der Frage ist von einer „ausschließlich informellen Information des französischen Verteidigungsministers“ und einer „spontan zugesagten militärischen Unterstützung“ die Rede. Ich weiß nicht, worin der Unterschied zwischen informeller und formeller Information von Ministern besteht. Falls man davon ausgeht, dass der Botschafter in Diplomatenuniform, von berittenen Flügeladjutanten begleitet, in das Ministerium geritten ist, kann ich sagen: Die Information muss informell gewesen sein. Stattgefunden haben aber sehr substanzielle Telefongespräche. Auch der Außenminister hat mit seinem Amtskollegen entsprechenden Kontakt gehabt. Die Substanz dieser guten Zusammenarbeit, auch der politischen Unterstützung der französischen Maßnahmen durch die Bundesregierung ist öffentlich mehrfach betont worden. Die Bundesregierung hat großes Verständnis und begrüßt die Aktivität, die Frankreich zur Verhinderung des Durchbruchs von islamistischen Terrorgruppen im Süden Malis wahrgenommen hat. Wir sind uns darüber im Klaren - nicht nur nach Information von französischer Seite -, dass es ein Hilfeersuchen der malischen Regierung gegeben hat, dass der Vormarsch inzwischen erfolgreich gestoppt werden konnte. Das lässt sich feststellen, auch wenn natürlich noch nicht alle Gefährdungen beseitigt sind. Der Einsatz findet, wie ich schon vorhin betont habe, im Einklang mit dem Völkerrecht statt. Der Bezug ist die Sicherheitsratsresolution 2085 und die Bitte der malischen Regierung, die ihrerseits Bezug auf das Recht auf kollektive Selbstverteidigung nimmt, da es sich um einen Konflikt handele, der bereits die Ebene eines internationalen Konflikts erreicht habe. Das will ich nur ad notam sagen, nicht als geklärte Position darstellen. Die Resolution 2085, die wir sehr unterstützt haben, ist die eigentliche Grundlage für uns. Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten steht ausdrücklich nicht zur Debatte. Wir haben die Pläne konkretisiert. Ich muss ergänzend dazu sagen, dass unsere Bereitschaft, uns auch an der europäischen Trainingsmission zu beteiligen, nicht konsumiert wird durch die Positionen, die wir jetzt im Hinblick auf die französische Mission und auf die ECOWAS-Mission nach der Resolution 2085 eingenommen haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Staatssekretär, Sie müssen sich nach unseren Regeln kürzer fassen.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Ja. - Also, wir machen das, was ich schon gesagt habe, Herr Kollege. Wir werden das auch noch schneller machen. Insofern ist es ganz gut, wenn ich auch schneller antworte - vielen Dank, Herr Präsident - und sage, dass wir die Mission nicht erst im Herbst oder irgendwann durchführen; wir werden vielmehr zeitnah verfahren und morgen auf europäischer Ebene darüber reden, wann diese Trainingsmission beginnen wird.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Der Kollege Niema Movassat hat eine erste Nachfrage.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, Sie verwiesen in Ihrer Antwort gerade auch auf das Hilfeersuchen der malischen Regierung. Nun ist es ja so, dass die malische Regierung, auf die Sie verweisen, im Prinzip durch zwei Putsche an die Macht gekommen ist. Sie ist abhängig vom malischen Militär. Das malische Militär hat erst vor wenigen Wochen gezeigt, dass es auch bereit ist, innerhalb der Regierung Auswechslungen vorzunehmen. Letztlich sind die Regierungsmitglieder von dem abhängig, was das Militär möchte. Deshalb hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Entwicklungszusammenarbeit mit der malischen Regierung eingestellt. Es gibt weiterhin Entwicklungszusammenarbeit auf Basisebene etc., aber mit der malischen Regierung gibt es nach meinem Kenntnisstand zurzeit keine Zusammenarbeit im entwicklungspolitischen Bereich mit dem Argument, dass man, solange es nicht eine gewählte, legitime Regierung gebe, nicht zusammenarbeiten könne. Auf der anderen Seite aber ist man politisch und militärisch bereit, dem Ruf der malischen Regierung zu folgen. Sie haben gerade zwei Transall-Maschinen etc. in Aussicht gestellt, und zwar mit dem Argument des Hilfeersuchens der malischen Regierung. Ich frage Sie: Sehen Sie einen Widerspruch in der Politik der Bundesregierung? Wenn Sie diesen Widerspruch nicht sehen: Wie erklären Sie sich dann diese zwei divergierenden Tatsachen?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Staatssekretär.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Ich bitte Sie, Folgendes auseinanderzuhalten: Die Mission der Wirtschaftsorganisation ECOWAS, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, und der sie tragenden Staaten, die eine durch den Sicherheitsratsbeschluss 2085 völkerrechtlich legitimierte Operation ist, hat mit der Frage, ob die Regierung in Mali eine demokratische Legitimität besitzt, unmittelbar nichts zu tun. Das Zweite betrifft Ihre Frage hinsichtlich der malischen Regierung und des Präsidenten. Es ist in der Tat richtig, dass wir einen Putsch unter Hauptmann Sanogo hatten, der eine Rolle, aber nicht die alleinige Rolle spielt. Der Präsident und der Ministerpräsident sind Teil eines Staatsgefüges, das den Weg hin zur Demokratie wiederfinden muss. Es mag dahingestellt sein, ob die Gespräche, die auch mit den islamistischen Gruppen initiiert wurden, und der Versuch, einen demokratischen Konsens zu finden, soweit das mit islamistischen Terrorgruppen möglich ist, sinnvoll sind. Immerhin haben die Bemühungen zu Gesprächen zwischen den einzelnen Gruppen innerhalb der malischen Staatsstrukturen geführt. Das zeigt, wie notwendig, aber auch wie schwierig die Aufgabe ist. Nur, wenn die Situation so ist, dass durch eine Aggression terroristischer, islamistischer Gruppen das Land besetzt ist, dann ist die Frage, die wir uns jetzt stellen und die auch Sie gestellt haben, nicht mehr zu beantworten, weil die Möglichkeit für politische Handlungen gar nicht mehr da ist. Deswegen ist es mehr als folgerichtig, dass Frankreich nun sozusagen - wenn Sie den Ausdruck gestatten - die Notbremse gezogen hat und den Weg für weitere Verhandlungen und für die Rückkehr zu demokratischen Strukturen in Mali, soweit sie verlassen wurden, offenhält.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. - Kollege Niema Movassat, Sie stellen jetzt die zweite Nachfrage.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, Sie haben gerade gesagt, wenn ich das richtig verstanden habe, dass die Verhandlungen im Prinzip erst durch den französischen Einsatz ermöglicht werden. Ich finde es von der Logik her ein bisschen schwer nachvollziehbar, dass man sagt: Erst wenn man einen Kriegseinsatz durchführt, sind Verhandlungen möglich. Aber was mich interessieren würde - Stichwort „Verhandlungen“ -: Welche Verhandlungen hat es gegeben? Welche Verhandlungsoptionen hat man erwogen? Meines Wissens wurden Verhandlungen in Burkina Faso und in Algerien terminiert. Haben diese Termine stattgefunden? Wurden sie wahrgenommen? Inwiefern hat die Bundesregierung diese Verhandlungen unterstützt und ihre Möglichkeiten für eine diplomatische Lösung des Konflikts ausgelotet? Die Sachlage ist schon so, dass, seit ECOWAS involviert ist und seit es sozusagen die Drohung einer militärischen Intervention gibt, die Rebellen das Gebiet im Norden zum Teil verminen, dass es massivste Flüchtlingsbewegungen gibt, dass viele Menschen Sorge vor dieser Intervention in der Region haben. Gerade Verhandlungen würden an dieser Stelle die Möglichkeit bieten, eine Befriedung zu erreichen. Deshalb eben die Frage: Welche Verhandlungen hat es gegeben? Welche Verhandlungen wird es in nächster Zukunft geben? Wie hat die Bundesregierung das unterstützt?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Jetzt schauen wir einmal, wie lang die Antwort ist, nachdem auch die Frage ein bisschen länger war. - Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Wenn Sie gestatten, möchte ich zunächst zur Frage zurückkehren. Dazu muss ich einen Punkt schon noch nennen. Sie unterstellen in Ihrer Frage der französischen Regierung, dem Präsidenten und dem Verteidigungsminister, sich gegenüber der französischen Öffentlichkeit und der französischen Nationalversammlung äußerst intransparent verhalten zu haben. Ich würde Ihnen, Herr Kollege, empfehlen, die Gelegenheit zu ergreifen, mit den Kollegen der Assemblée nationale, die nächste Woche hier sein werden, über Ihre Meinung und Ihre Einschätzung der innerfranzösischen Meinungsbildung zu diskutieren. ({0}) Das wäre sicherlich lehrreich, möglicherweise sogar für Sie. Zur Frage, die Sie jetzt gestellt haben: Es sind Verhandlungen, die mit sehr starker diplomatischer Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland stattfinden sollten mit dem Ziel, einen politischen Dialog mit dem Norden zu beginnen. Es war auch durchaus davon auszugehen, dass diese in der nächsten Zeit stattfinden können. Unser Ziel ist, dass der politische Prozess in Mali perspektivisch in eine sogenannte Roadmap mündet, also in einen Fahrplan, der konkrete und realistische Schritte zur Durchführung von demokratischen Wahlen beinhaltet und der von allen politischen Lagern in Mali mitgetragen wird. Das soll Gegenstand dieser Gespräche und der hoffentlich darauf fußenden Vereinbarungen sein. Es gibt keinen logischen Widerspruch in meiner Darlegung. Das Vorgehen der Franzosen an der Linie, die den Norden und den Süden Malis voneinander trennt - das ist ein Flaschenhals von wenigen Hundert Kilometern Breite; dort ist das Ufer des Niger -, war unabdingbar. Durch diese militärische Aktion der französischen Armee wurde verhindert, dass es nichts mehr gibt, über das politische Dialoge und Verhandlungen geführt werden können. Zu befürchten war nämlich, dass die Islamisten, die die Scharia im ganzen Norden bereits eingeführt haben - da wird gesteinigt, da werden Hände abgehackt -, das gesamte Territorium des Staates Mali unter Kontrolle bekommen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Staatssekretär, ich räume ein, dass das Thema wahnsinnig kompliziert ist.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Ich bin auch schon am Ende.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Aber wir müssen gemeinsam den Versuch unternehmen, die Beantwortung im richtigen Zeitfenster zu halten. Kollege Andrej Hunko, Sie haben eine weitere Nachfrage.

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, ich werde mich mit meiner Frage kurzfassen. - Herr Staatssekretär, wir feiern den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Heute Morgen fand dazu eine Debatte statt. Nächsten Dienstag wird die Assemblée nationale hier sein. Im Élysée-Vertrag steht, dass beide Regierungen einander vor wichtigen außenpolitischen Entscheidungen konsultieren. Meine Frage ist: Wann haben diese Konsultationen stattgefunden? Was wurde dort besprochen? Wie hat sich die deutsche Regierung positioniert? - Vielen Dank.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Die Bundesregierung ist im Umfeld der Konkretisierung der Maßnahmen unmittelbar informiert worden. Es gab mehrere Telefongespräche. Es gab auch Unterrichtungen über das Vorgehen. Diese Vorgehensweise ist von der Bundesregierung ausdrücklich begrüßt worden.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. - Jetzt rufe ich die dringliche Frage 3 unseres Kollegen Niema Movassat auf: Im Rahmen welchen Bündnisses und Mandats wird sich die Bundeswehr in Mali engagieren, und teilt die Bundesregierung Aussagen aus Kreisen der Bundeswehr ({0}), dass jede Art von Militäreinsatz gleich welcher Art, also auch logistische Unterstützung, eine Beteiligung am Krieg bedeuten würde und ein Bundestagsmandat erforderlich mache? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Zunächst zur Frage, im Rahmen welchen Bündnisses sich die Bundeswehr engagieren wird. Die Europäische Union wird sich mit diesen Fragen wohl gemeinschaftParl. Staatssekretär Christian Schmidt lich beschäftigen. Die europäische Trainingsmission ist, wie der Name schon sagt, eine europäische Mission. Deswegen ist die erste Antwort auf Ihre Frage: die Europäische Union. Ein Mandat wird dann notwendig, wenn die Schwelle zu einem Einsatz überschritten wird. Wir haben sowohl im Parlamentsbeteiligungsgesetz als auch in der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klare Regeln und Hinweise, die seitens der Bundesregierung beachtet werden. Das heißt, auch die Informationsrechte des Parlaments werden natürlich berücksichtigt. Würde sich das Engagement zu einem Einsatz entwickeln, dann würde auch ein Mandat des Deutschen Bundestages seitens der Bundesregierung beantragt. Die heute im Raum stehende Zurverfügungstellung von Raum für den Transport von anderen Ländern Westafrikas nach Bamako ist nach unserer Ansicht noch keine Überschreitung dieser Schwelle, weil sie weder geografisch noch unmittelbar mit dem Einsatz verbunden ist. Wenn sich die Dinge weiterentwickeln - dies wird einer jeweiligen Prüfung unterzogen -, werden wir selbstverständlich den Deutschen Bundestag nicht nur informieren, sondern auch die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages für ein Mandat einholen. Ich sage aber ausdrücklich - Herr Präsident, gestatten Sie mir diesen notwendigen Satz -: So weit sind wir nicht. Gegenwärtig sieht es so aus, dass wir eine reine Transportleistung zur Verfügung stellen, die mit einem Einsatz nicht in Verbindung gebracht werden kann.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Unser Kollege Niema Movassat hat die erste Nachfrage.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, Sie haben einen Teil meiner Frage gerade wiedergegeben. Sie haben aber einen kleinen Teil der Frage weggelassen, der nicht irrelevant ist, nämlich ob die Bundesregierung die Aussage teilt, dass jede Art von Militäreinsatz gleich welcher Art, also auch logistische Unterstützung, eine Beteiligung am Krieg bedeuten würde und ein Bundestagsmandat erforderlich mache. Diese Aussage stammt nicht von der Linksfraktion - auch wenn ich sie durchaus teile -, sondern vom Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes, Ulrich Kirsch. Insofern stammt dieser Satz aus Bundeswehrkreisen. Das zur Korrektur. Was mich im Zusammenhang mit der Frage nach dem Bundestagsmandat interessieren würde: Die malische Regierung hat ja den Ausnahmezustand verhängt, auch in Bamako, wohin die Transall-Maschinen fliegen sollen. Die Verhängung des Ausnahmezustands bedeutet unter anderem die Aufhebung des Rechts der Versammlungs- und der Meinungsfreiheit. Das impliziert, dass es sich bei Mali um eine Konfliktregion handelt. Das sagt die malische Regierung. Fließt das in die Überlegungen der Bundesregierung zur Einholung eines Bundestagsmandats ein? Wie bewertet die Bundesregierung diese Verhängung des Ausnahmezustands?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Herr Kollege, ich bin ein Verehrer von Oberst Ulrich Kirsch als Vorsitzendem des Deutschen BundeswehrVerbandes und schätze seinen Rat außerordentlich. Sie gestatten allerdings, dass die Bundesregierung bei der Bewertung der verfassungsrechtlichen Frage, ob es sich um einen Einsatz handelt oder nicht, doch lieber das Bundesverfassungsgericht und die Gesetzgebung zurate zieht. Falls sich Diskrepanzen zwischen den öffentlich geäußerten Meinungen ergeben, ist das anregend, aber nicht unbedingt zielführend. Ich wiederhole, dass natürlich dann, wenn eine Gefährdung in diesem Einsatz zu erwarten ist - das ist eines der Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht im zweiten Urteil über den AWACS-Einsatz festgelegt hat; im ersten hat es die Grundlagen festgelegt -, dies als Maßstab zur Prüfung anlegt werden muss. Das werden wir tun. Wir werden auch die Frage zu prüfen haben, welches Bündnis nach Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes die Grundlage für den Einsatz bildet. Es bleibt dabei, dass wir uns hier parlamentsfreundlich verhalten und die Bewertung auf den Grundlagen der Rechtsprechung durchführen werden.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Staatssekretär, Sie geben dem Kollegen auch noch die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Wenn es etwas Neues ist.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das, Herr Staatssekretär, wird der Fragesteller selbst zu beurteilen haben. Bitte schön. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es wäre für Sie deutlich einfacher, wenn ich eine Frage lediglich wiederholen würde. Dann könnten Sie dasselbe noch einmal sagen. Aber keine Sorge, ich stelle eine ganz neue Frage, aber durchaus auf Mali bezogen. Herr Staatssekretär, es geht um die Frage, welche Ziele mit einem solchen Kriegseinsatz verbunden sind. Was möchte man da eigentlich? Nun wird artikuliert, man wolle die Islamisten bekämpfen. Es gibt aber auch Meldungen, sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in denen es um die Frage der Rohstoffe in Mali geht. Nordmali ist eine der rohstoffreichsten Regionen dieser Welt. Es gibt dort Erdöl, Erdgas, Uran, Phosphat, Bauxit, Gold und andere Edelmetalle. Viele Gebiete im Norden sind bereits mit Explorationsrechten versehen. Es gibt den Vorwurf der Gesellschaft für bedrohte Völ26662 ker, der besagt, dass es Frankreich in erster Linie um Uraninteressen gehe. Diese Meldung liest man immer wieder. Frankreich ist weitgehend von Uran abhängig; dort gibt es viele Atomkraftwerke. Insoweit ist dieser Gedanke nicht ganz irrelevant. Deshalb meine Frage an Sie: Wie ist Ihre Einschätzung der französischen Interessen bei diesem Kriegseinsatz?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Herr Kollege, mit Rücksicht auf meine begrenzte Zeit will ich nicht noch das Thema der langfristigen entwicklungspolitischen Perspektive ansprechen. Ich will lediglich darauf hinweisen, dass das eine Frage ist, die im vernetzten Denken natürlich eine Rolle spielen muss. Mali ist nicht erst in den letzten Tagen zu einer schwierigen Gegend geworden, gefördert auch dadurch, dass Waffen in das Land gekommen sind, die aus der Konkursmasse von Muammar al-Gaddafi stammen und die das Land im Norden leider destabilisieren. Das Land befindet sich gegenwärtig in einer Situation, in der es Hunderttausende von Flüchtlingen gibt - Binnenflüchtlinge und Flüchtlinge in andere Länder und in der Menschen gewaltsam zu Tode kommen. In einer solchen Situation helfen Überlegungen der mittelund langfristigen Art, wer welchen ökonomischen Nutzen von was hätte, überhaupt nicht weiter. Bei den Diskussionen wird ziemlich schnell klar: Die Menschen in Mali wollen, dass Frieden einkehrt und dass sie über Verhandlungen das Schicksal ihres Landes selbst demokratisch bestimmen können.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Nach den dringlichen Fragen rufe ich gleich eine Frage aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf, die zum selben Fragenkreis gehört und nach den Richtlinien für die Fragestunde vorgezogen wird. Für die Beantwortung steht die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, unsere Kollegin Cornelia Pieper, zur Verfügung. Ich rufe nun die Frage 31 unseres Kollegen Dr. Rolf Mützenich auf: Wann beabsichtigt die Bundesregierung den Deutschen Bundestag mit dem Bundeswehrmandat zum Einsatz in Mali zu befassen, und welche Vereinbarungen gibt es in der Bundesregierung zur Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Mali? Bitte schön, Frau Staatsministerin.

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Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Abgeordneter Mützenich, natürlich bezieht sich das schon vorher Gesagte auch auf das, wonach Sie fragen. Ich gebe zu, dass mein Kollege, Staatssekretär Schmidt, bereits sehr ausführlich auf den Sachverhalt eingegangen ist. Nichtsdestotrotz möchte ich die Beantwortung Ihrer Frage, die Sie zu Recht stellen, nicht umgehen. Zum ersten Teil Ihrer Frage, Herr Abgeordneter. Ich kann es nur wiederholen: Die Bundesregierung prüft derzeit Möglichkeiten zur Unterstützung der militärischen Operation der französischen Partner in der Republik Mali. Wenn sich diese Pläne konkretisieren, werden wir die rechtlichen Voraussetzungen prüfen. Sie können davon ausgehen, dass es dabei eine enge Einbindung des Deutschen Bundestages geben wird; das ist für das Auswärtige Amt selbstverständlich. Sie sind heute schon im Auswärtigen Ausschuss unterrichtet worden. Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten - das möchte ich betonen - steht für uns ausdrücklich nicht zur Debatte. Die Bundesregierung prüft eine mögliche Beteiligung an einer militärischen GSVP-Ausbildungsmission der Europäischen Union in Mali. Unser möglicher Beitrag hierzu ist natürlich von der weiteren Lageentwicklung und den weiteren Planungen in Brüssel abhängig. Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Abgeordneter. Für eine schrittweise Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Mali gibt es klare Kriterien, die auch international abgestimmt sind. Dazu gehören die Vorlage einer substanziierten Roadmap für die Rückkehr zur verfassungsgemäßen Ordnung durch die malische Regierung und die glaubwürdige Umsetzung darin formulierter Zwischenschritte. Die Erfüllung der Kriterien ist Voraussetzung für erste Lockerungen der Suspendierung der Entwicklungszusammenarbeit. Die Vorlage einer derartigen Roadmap durch die malische Regierung steht allerdings derzeit noch aus; das wissen Sie. Wir haben uns in Reaktion auf den Putsch vom 22. März 2012 zur Suspendierung der Entwicklungszusammenarbeit veranlasst gesehen. Wir setzen aber weiterhin Vorhaben durch, die bevölkerungsnah und regierungsfern umgesetzt werden können und die unmittelbar der Sicherung der Ernährung der Bevölkerung dienen. Damit trägt die Bundesregierung den strukturellen Ursachen der angespannten humanitären Lage in Mali Rechnung.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. - Die erste Nachfrage des Kollegen Dr. Rolf Mützenich.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatsministerin, wir haben in den letzten Tagen oder auch Wochen immer wieder gehört, was die Bundesregierung im Hinblick auf Mali alles ausschließt. Aber in den letzten Stunden haben wir lernen müssen, dass unter Umständen bereits ab morgen - wenn ich es heute Morgen richtig verstanden habe - Transportkapazitäten zur Unterstützung der ECOWAS-Truppen zur Verfügung stehen, die Bundesregierung aber zu der Überzeugung gekommen ist, diese Maßnahme durchzuführen, ohne dafür ein Mandat des Parlaments einzuholen, auch nicht im Nachhinein. Vielleicht könnten Sie dem Deutschen Bundestag erklären, warum man bei dieser Frage von der bisherigen Praxis abweicht und insbesondere die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsheer nicht beachten will. Ich glaube, für meine Fraktion sagen zu dürfen, dass wir durchaus bereit wären, eine solche Mandatierung auch im Nachhinein mit Ihnen zu diskutieren.

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Herr Mützenich, gehen Sie davon aus, dass die Bundesregierung sehr sorgfältig die rechtlichen Voraussetzungen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Gerät für die ECOWAS-Operation in Mali prüft. Sie haben insbesondere die zwei Transall-Transportflugzeuge angesprochen. Heute wurde vom Verteidigungsminister und vom Außenminister angekündigt, dass sie für ECOWAS-Truppen in Mali zur Verfügung gestellt werden. Rechtlich hat sich ergeben, dass dafür kein Bundestagsmandat erforderlich ist; denn der Einsatz der zwei Transall-Flugzeuge liegt unterhalb der vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen Einsatzschwelle. Wenn sich weitere Veränderungen ergeben, dann werden wir den Deutschen Bundestag natürlich damit befassen. Das ist selbstverständlich, das hatte ich in meiner Erklärung eingangs schon formuliert.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ihre zweite Nachfrage, Kollege Dr. Mützenich.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatsministerin, wir haben eben aus den Antworten auf die dringlichen Fragen lernen können, dass die Bundesregierung - im Gegensatz zu den Aussagen der letzten Tage - weitere Hilfsmaßnahmen, die die Unterstützung der französischen Mission betreffen, sowohl in Bezug auf die weitere Logistik als auch auf die medizinischen Kapazitäten, nicht mehr ausschließt. Ich gehe - auch in Bezug auf die Ausbildungsmission - davon aus, dass der Deutsche Bundestag damit befasst wird. Wäre es aus Ihrer Sicht nicht sinnvoll, diese beiden Aspekte - die Unterstützung der ECOWAS-Truppen durch die Bundesregierung und das, was dem französischen Partner in Aussicht gestellt wird - in einem Mandat zusammenzuführen?

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Ich will noch einmal daran erinnern, worauf Staatssekretär Schmidt zu Recht hingewiesen hat: Die Obleute wurden heute darüber informiert, welches Gerät die Bundesregierung der ECOWAS in Mali zur Verfügung stellt und dass wegen der fehlenden rechtlichen Voraussetzungen ein Bundestagsmandat für den Einsatz nicht notwendig ist. Wir prüfen derzeit, wie wir Frankreich unterstützen können. Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten - ich sage das noch einmal ganz deutlich - steht ausdrücklich nicht zur Debatte, doch wir können den Einsatz logistisch und sanitätsdienstlich unterstützen. Wir prüfen gemeinsam mit den europäischen Partnern - morgen findet die Sondersitzung des EU-Außenrates statt; der Bundesaußenminister hat als Erster eine Beschleunigung des Prozesses, ein sehr schnelles Zusammenkommen des Außenrates gefordert - die Entsendung der gemeinsamen EU-Ausbildungsmission zur Schulung der malischen Streitkräfte. Wir werden Sie darüber natürlich auf dem Laufenden halten, auch was die Mandatierung anbelangt.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. - Ich habe keine weiteren Nachfragen, sodass ich nun die übrigen Fragen auf Drucksache 17/12041 aufrufe, und zwar in der entsprechenden Reihenfolge. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung. Ich rufe die Frage 1 unserer Kollegin Frau Rita Schwarzelühr-Sutter auf: Waren die Berichte über Sicherheitsbedenken seitens des schweizerischen Bundesamtes für Zivilluftfahrt hinsichtlich der Ab- und Anflugkonzepte des Flughafens Zürich bei den bisherigen Verhandlungen zum Staatsvertrag mit der Schweiz der Bundesregierung bereits bekannt, und hatte es politische Gründe, dass keine anderen Betriebskonzepte in die Verhandlungen mit der Schweiz einbezogen wurden? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Herr Präsident, Frau Kollegin, diese Frage möchte ich wie folgt beantworten: Berichte über Sicherheitsbedenken des schweizerischen Bundesamtes für Zivilluftfahrt hinsichtlich der An- und Abflugkonzepte des Flughafens Zürich sind der Bundesregierung nicht bekannt. Inhalt der Staatsvertragsverhandlungen waren die Auswirkungen des Betriebs des Flughafens Zürich auf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland. Daher wurden in den Staatsvertragsverhandlungen ausschließlich die Betriebskonzepte mit den entsprechenden Auswirkungen berücksichtigt.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, wenn Sicherheitsbedenken durch das schweizerische Bundesamt bekannt sind, werden diese Bedenken im Zuge der zugesagten Nachverhandlungen des Bundesverkehrsministers mit der Schweiz in den Staatsvertrag einfließen? Das spielt ja doch eine bedeutende Rolle. Ich denke, Sicherheit muss oberste Priorität haben.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Wir wissen nicht, ob seitens der Schweizer Regierung solche Bedenken tatsächlich vorliegen. Deshalb ist es völlig spekulativ, darüber nachzudenken, ob diese Bedenken möglicherweise in Gespräche einfließen könnten. Wir kennen solche Sicherheitsbedenken nicht. Deshalb macht es auch keinen Sinn, sich dazu zu äußern.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie haben die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie kennen die Bedenken nicht, aber selbst der Direktor des BAZL, Herr Müller, hat darüber ausführlich in der Schweizer Presse, die die Bundesregierung bzw. das Verkehrsministerium durchaus wahrnehmen, referiert. Ich gehe also davon aus, dass das bis Berlin bzw. Bonn gedrungen ist. Bis wann ist denn mit den Nachverhandlungen zu rechnen, die der Herr Minister am 26. November 2012 zugesagt hat?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Frau Kollegin, ich muss Sie korrigieren. Der Minister hat keine Nachverhandlungen angekündigt. Er hat vielmehr gesagt, dass es um Präzisierungen in den Begründungen geht. Auf Schweizer Seite heißt das Vernehmlassungen; bei uns heißt das ein bisschen anders. Es geht also ausschließlich darum, die Begründungen zum Staatsvertrag zu präzisieren und Missverständnisse, die offensichtlich entstanden sind, auszuräumen. Es geht ausdrücklich nicht darum, den Staatsvertrag nachzuverhandeln. Was den Kollegen Müller vom BAZL angeht, kann ich nur so viel sagen: Er ist Mitglied der Schweizer Verhandlungsdelegation gewesen. Mir ist deshalb völlig schleierhaft, wie plötzlich irgendwelche Sicherheitsbedenken aufkommen können. Wenn es diese Bedenken gegeben hätte, hätte die Schweizer Seite diese sicher bei den Staatsvertragsverhandlungen selber eingebracht. Das hat sie aber nicht getan. Sie hat diesen Staatsvertrag in Kenntnis des gesamten Sachverhalts mit uns ausverhandelt. Es geht jetzt darum, die entstandenen Irritationen zu beseitigen. Es geht nicht darum, den Staatsvertrag nachzuverhandeln.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. - Frau Kollegin Ute Kumpf hat eine Nachfrage.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie waren ja von Ihren eigenen Verhandlungen sehr begeistert und haben uns im Verkehrsausschuss geschildert, wie toll dieser ausgehandelte Staatsvertrag ist. Jetzt sind Fragen aufgetaucht, auch Sicherheitsbedenken geäußert worden. Sind Sie im Interesse der deutschen Seite bereit, die Schleier zu lüften und eventuell bei zukünftigen Gesprächen mit der Schweizer Seite Fragen zu stellen - einige Fragen haben wir ja gerade formuliert -, damit wir ein bisschen Licht ins Dunkel bekommen?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Wir bewegen uns im Raum des Spekulativen, Frau Kollegin. Im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung kennen wir keine Sicherheitsbedenken der Schweizer Seite. ({0}) Deshalb macht es keinen Sinn, darüber zu spekulieren, ({1}) wie die Bundesregierung damit umgehen würde, wenn solche Bedenken auftauchen sollten. Suggestiv- und Spekulativfragen können wir schlecht beantworten.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. - Ich rufe die zweite Frage unserer Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, Frage 2, auf: Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Zwischenfälle im An- und Abflugverkehr zum und vom Flughafen Zürich in den vergangenen fünf Jahren gemeldet wurden, und, falls ja, welche? Herr Staatssekretär, ich darf Sie bitten, die Frage zu beantworten.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Diese Frage von Frau Schwarzelühr-Sutter möchte ich wie folgt beantworten: Der Bundesregierung liegen regelmäßig keine Informationen über im Ausland stattgefundene Zwischenfälle im Flugverkehr vor.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, die Schweizer Flugsicherung übernimmt auch über deutschem Hoheitsgebiet diese Aufgabe. Wir alle können uns an den Zusammenstoß bei Überlingen erinnern, der wirklich tragische Folgen hatte. Das Verfahren ist immer noch anhängig. Und da haben Sie kein Bedürfnis, Informationen zu bekommen, was die Schweizer Flugsicherung über unseren Köpfen abwickelt? Ich will zur Presse zurückkommen: Im letzten Jahr gab es einen Beinaheunfall zwischen einer Passagiermaschine und einem Segelflugzeug in Grenznähe über deutschem Gebiet. Das wurde nicht an unsere Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung gemeldet. Das heißt, keiner kümmert sich darum, was sich in dem funktionalen Luftraumblock tatsächlich abspielt? Sie wissen also gar nichts? ({0})

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Frau Kollegin, Ihre Frage ist dann nicht präzise genug formuliert gewesen. Sie haben nach den An- und Abflügen auf dem Flughafen Zürich gefragt. Der Flughafen Zürich befindet sich bekanntermaßen nicht auf deutParl. Staatssekretär Jan Mücke schem Staatsgebiet. Nichtsdestotrotz wäre es hilfreich, wenn der süddeutsche Luftraum, über den teilweise Anflüge auf den Flughafen Zürich stattfinden, gemeinsam von Skyguide und der Deutschen Flugsicherung kontrolliert werden würde. Das ist im Übrigen auch der Grund gewesen, weshalb wir diesen Staatsvertrag mit der Schweiz verhandelt haben. Ich wäre außerordentlich glücklich gewesen, wenn die SPD-Bundestagsfraktion - vielleicht auch Sie persönlich - sich in der Lage gesehen hätte, diesen Staatsvertrag öffentlich mit zu unterstützen; denn das hätte dazu geführt, dass die Deutsche Flugsicherung gemeinsam mit Skyguide - anders als das heute der Fall ist - den süddeutschen Luftraum kontrolliert. Ich kann Sie aber beruhigen: Es ist keineswegs so, dass wir kein Interesse daran haben, sondern es gibt dafür eine Behörde, nämlich das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung in Langen. Diese Behörde erhebt alle Daten, die das deutsche Hoheitsgebiet betreffen, von Skyguide. Ich kann diese Daten, wenn Sie das wünschen, Ihnen gerne schriftlich nachreichen. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben eine zweite Nachfrage.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, „zum und vom Flughafen Zürich“ sei unpräzise formuliert. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung, wenn sie einen Staatsvertrag abschließt, weiß, dass 75 Prozent der Anflüge auf Zürich über deutschem Gebiet stattfinden, und dass sie, wenn sie einen Staatsvertrag zu funktionalen Luftraumblöcken ratifiziert, auch weiß, dass man es mit einer Flugsicherung zu tun hat. Wenn Sie es gewollt hätten, hätte man in diesen auch die Formulierung aufnehmen können, dass eine gemeinsame Flugüberwachung installiert wird. Ich glaube, dass hier die rechte Hand nichts von der linken Hand weiß. Ich bitte Sie aber doch, sich die Informationen über Beinaheunfälle und Flugvorfälle zu beschaffen. Angeblich liegen die ja nicht vor. Ich bitte Sie, das sehr zeitnah zu erledigen.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Frau Kollegin, ich kann mich nur wiederholen. Wenn Sie Ihre Frage anders formuliert hätten, ({0}) hätten wir beim Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung in Auftrag geben können, eine Übersicht zu erstellen, wie viele Vorfälle es über deutschem Hoheitsgebiet gegeben hat. Ihre Frage hat diese Präzision aber nicht gehabt. Weil Sie nicht präzise gefragt haben, ist es ein wenig schwer gewesen, darauf eine präzise Antwort zu geben. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das wird jetzt die Frau Kollegin Ute Kumpf machen, die eine weitere Nachfrage hat. Bitte schön.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ob ich das schaffe, wird sich herausstellen; denn Herr Kollege Staatssekretär Mücke ist da ziemlich hartherzig. ({0}) Herr Mücke, Sie haben jetzt mitbekommen, dass es doch etliche Irritationen gibt, was diesen Staatsvertrag anbelangt, dass es Widerstand gibt und dass es auch nicht die Bereitschaft gibt, diesen Staatsvertrag zu unterzeichnen. Es gibt auch eine große Irritation, was unsere Verhandlungsführung anbelangt, in Bezug darauf, dass Sie mehr der Schweizer Seite bzw. dem Charme der Verkehrsministerin erlegen sind, als unsere eigenen Interessen vertreten zu haben. Deswegen frage ich noch einmal nach: Werden Sie bei den jetzt anstehenden Gesprächen - wir nennen es einmal nicht „Verhandlungen“ - die Irritationen, die jetzt aufgetaucht sind, ansprechen? Werden Sie bei diesen Gesprächen - nicht Verhandlungen auch unsere Fragen, die wir noch einmal präzisieren und Ihnen schriftlich nachreichen können, stellen? Wir sind ja keine Bittsteller, so glaube ich schon, dass wir schlicht und einfach die Schweiz danach fragen dürfen.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Wir sind offen dafür. Wenn Sie uns zweckdienliche Fragen stellen, werden wir diese selbstverständlich mitnehmen und sie in diesem Gespräch mit dem zuständigen Abteilungsleiter in der Schweiz gern ansprechen. Ich kann aber nicht ahnen, welche Fragen Sie haben. Es sind sehr viele unterschiedliche Beurteilungen und Mutmaßungen zu diesem Staatsvertrag in der Öffentlichkeit unterwegs. Die wenigsten davon entsprechen der Realität. ({0}) Ich bin immer noch der Auffassung, dass der ausgehandelte Staatsvertrag, der im Übrigen schon unterschrieben, nur noch nicht ratifiziert ist, eine gute Grundlage dafür ist, dass wir Flugsicherung gerade im südbadischen Raum künftig anders organisieren können, und zwar so, dass weniger Menschen von Flugverkehr betroffen sind. Ich erinnere Sie daran, dass wir beispielsweise in diesem Staatsvertrag ausgedehntere Ruhezeiten verhandelt haben. Das würde dazu beitragen, dass die südbadische Bevölkerung schon heute um mehrere Stunden Flugverkehr in der Woche entlastet worden wäre. Es ist bedauerlich, dass das in dieser öffentlichen Diskussion manchmal unter den Tisch fällt.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir bleiben im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Dr. Ilja Seifert werden schriftlich beantwortet. Wir kommen nun zur Frage 5, die unsere Kollegin Cornelia Behm gestellt hat: Welche neuen Erkenntnisse sind zwischen dem 18. Dezember 2012 und dem 4. Januar 2013 entstanden, die zu der Einschätzung geführt haben, dass der Eröffnungstermin für den Flughafen Berlin Brandenburg, BER, am 27. Oktober 2013 nicht mehr gehalten werden kann und die Probleme so „gravierend, fast grauenhaft“ sind, wie es Horst Amann am 8. Januar 2013 gegenüber hr-info erklärte, dass noch nicht einmal absehbar ist, wann ein neuer Eröffnungstermin genannt werden kann? In dieser und in den weiteren Fragen geht es um die Gründe und Auswirkungen der Verschiebung der Eröffnung des Flughafens Berlin Brandenburg. Herr Staatssekretär, ich darf Sie bitten, die Frage 5 der Kollegin Cornelia Behm zu beantworten.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Herr Präsident! Frau Kollegin Behm, meine Antwort auf Ihre Frage möchte ich Ihnen mitteilen. Die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH, FBB, hat dem BMVBS hierzu als Projektträgerin mitgeteilt: Am 4., 5. und 6. Dezember, am 12., 13. und 14. Dezember sowie am 17. und 18. Dezember 2012 fand die jüngste Serie von Heißgasrauchversuchen im Terminal des Flughafens BER statt. Die abschließende Auswertung der Versuche erfolgte jeweils im Nachgang und fand ihren Abschluss am 21. Dezember 2012. Die Auswertung der Ergebnisse zeigte unmittelbar erheblichen Handlungsbedarf hinsichtlich der Anpassung und Veränderung der Entrauchungsszenarien, um die Chance auf Genehmigung aufrechtzuerhalten. Im Lichte dieser Erkenntnisse wurden zwischen Weihnachten 2012 und Neujahr sowie in den ersten Tagen des Jahres 2013 die daraus resultierenden Konsequenzen für Planung und Bau sowie die damit zusammenhängenden zeitlichen Auswirkungen erfasst, und zwar mit dem Ergebnis, dass die unausweichlichen Maßnahmen nicht mehr im Zeitrahmen für eine Inbetriebnahme im Oktober 2013 darstellbar sind.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ihre erste Nachfrage. Bitte schön, Frau Kollegin.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde gerne wissen, welche Informationen zur möglichen Verschiebung des Eröffnungstermins des Berliner Flughafens Herr Horst Amann dem Bundesminister Herrn Dr. Ramsauer und dem Staatssekretär Rainer Bomba in ihrem gemeinsamen Gespräch am 19. Dezember 2012 mitgeteilt hat und inwieweit zum Inhalt dieses Gesprächs ein Protokoll existiert.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Den ersten Teil Ihrer Frage kann ich klar mit „keine“ beantworten. ({0}) - Darf ich bitte antworten? ({1}) Zum zweiten Teil der Frage: Es handelte sich bei dem Treffen zwischen Herrn Amann und Herrn Bundesminister Ramsauer nicht um einen Termin, der vorher geplant gewesen ist und deshalb in irgendeiner Art und Weise protokolliert worden ist. ({2}) Vielmehr handelte es sich um ein kurzes Kennenlernen in seinem Büro. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ihre zweite Nachfrage.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist immerhin interessant: Man lernt sich kennen, schaut sich in die Augen, wechselt dann aber über das Projekt, das einen verbindet, keine Worte, was man dann vorsorglich auch nicht notiert. Gut. ({0}) Meine zweite Nachfrage. In einem Interview in der Welt vom 27. Dezember 2012 - das war also kurz nach Weihnachten - wird der Minister wie folgt zitiert: Der Miteigentümer Bund sieht Anzeichen dafür, dass der Eröffnungstermin am 27. Oktober 2013 möglicherweise nicht gehalten werden kann. Inwieweit stützt sich diese Aussage auf Erkenntnisse aus dem Gespräch mit Herrn Amann, also aus diesem Kennenlerngespräch, das laut Spiegel Online vom 15. Januar 2013 am 19. Dezember 2012 geführt wurde?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Frau Kollegin Behm, wie ich Ihnen gerade erläutert habe, hat dieses Gespräch nicht stattgefunden, um eine mögliche Terminverschiebung anzukündigen, entgegenzunehmen oder irgendwie zur Kenntnis zu nehmen. Dieses Gespräch, das vielleicht nach Ihrer Vorstellung so stattgefunden haben mag, hat es nicht gegeben. Dazu etwas sagen konnte Herr Amann auch gar nicht; denn, wie ich vorhin in einer meiner Antworten schon ausgeführt habe, sind die Rauchgasversuche, die man am BER unternommen hat, noch bis zum 21. Dezember 2012 ausgewertet worden. Die Ergebnisse sind zwischen den Jahren, also zwischen Weihnachten und Neujahr, bewertet worden. Dann hat Herr Amann am 4. Januar 2013 einen Brief geschrieben und in diesem Brief mitgeteilt, dass sich eine Verzögerung der Inbetriebnahme einstellen wird. Deshalb konnte er in dem Gespräch am 19. Dezember 2012 keine derartige Mitteilung an Bundesminister Peter Ramsauer gegeben haben. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Mir liegt jetzt noch eine Reihe einzelner Nachfragen vor. Als Erster: Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, da wir jetzt wissen, was alles nicht Inhalt des Gespräches am 19. Dezember 2012 war, versuche ich es einmal mit der umgekehrten Methode - vielleicht wäre es besser, wenn Herr Ramsauer hier wäre, um diese Frage zu beantworten -: Was war Gegenstand des Gespräches zwischen Herrn Ramsauer und Herrn Amann am 19. Dezember 2012? Welche Themen wurden im Einzelnen erörtert? Oder ging es nur um gemeinsame Urlaubspläne und dergleichen?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Ich bin bei diesem Gespräch nicht dabei gewesen; deshalb kann ich Ihnen dazu schlecht Auskunft geben. Aber sicher ist, dass es nicht darum ging, dass in irgendeiner Art und Weise eine Verzögerung beim Termin der Inbetriebnahme angekündigt oder mitgeteilt werden sollte. Man hat sich lediglich darüber unterhalten, wie der gegenwärtige Stand am BER ist; dass er schwierig ist, war uns klar. Es ist in diesem Gespräch nicht mitgeteilt worden, dass es zu einer Verzögerung bei der Inbetriebnahme kommen wird. Diese Mitteilung konnte auch nicht erfolgen - ich habe das schon ausgeführt -, weil die Ergebnisse der Rauchgasversuche erst bewertet werden mussten. Die Ergebnisse dieser Bewertung sind uns am 4. Januar 2013 mitgeteilt worden.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Volker Beck stellt einen Geschäftsordnungsantrag.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hatte Herrn Ramsauer gestern brieflich gebeten, dem Parlament in dieser Fragestunde Rede und Antwort zu stehen. Sie sagten jetzt, dass Sie den Inhalt eines Gespräches, das Grundlage dieser Frage ist, nicht wiedergeben können, weil Sie nicht dabei waren. Wenn Sie nicht dabei waren, kann man Ihnen das gar nicht vorwerfen. Aber es ist unser konstitutionelles Recht als Parlament, Antworten auf unsere Fragen zu bekommen. Deshalb beantrage ich, den Bundesminister Peter Ramsauer herbeizuzitieren. Ich bitte den Präsidenten, darüber abstimmen zu lassen, ob der Minister herbeizitiert wird. - Soweit ich sehe, hat die Opposition die Mehrheit.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Manfred Grund hat die Möglichkeit zur Gegenrede.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, die Mehrheit stellt das Präsidium - einvernehmlich oder nicht einvernehmlich - fest. ({0}) Was Ihren Antrag anbetrifft: Der Bundesminister hat sich bereitgehalten. Da wir aber nicht absehen konnten, zu welchem Zeitpunkt es in der heutigen Fragestunde um dieses Thema geht, konnte er in diesem Augenblick nicht hier im Plenum sein. Aber in einer Aktuellen Stunde, die Sie vermutlich aus Ihren Fragen ableiten werden, wird er hier anwesend sein. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das Präsidium ist sich über die Mehrheitsverhältnisse nicht einig. ({0}) - Es besteht, wenn ich es richtig sehe, keine Einigkeit. ({1}) Wie lautet der Antrag des Kollegen Volker Beck?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich beantrage, jetzt die Abstimmung darüber durchzuführen, ob der Minister herbeizitiert wird. Dann sehen wir weiter.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Gut. - Nachdem keine Einigkeit über die Mehrheitsverhältnisse da ist, müssen wir die entsprechende Prozedur durchführen. ({0}) - Wir müssen zuerst abstimmen. Ich lasse abstimmen über den Geschäftsordnungsantrag auf Herbeirufung von Bundesminister Peter Ramsauer. Wer für diesen Antrag des Kollegen Volker Beck ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Im Präsidium kann keine Einigkeit über die Mehrheitsverhältnisse festgestellt werden. Ich unterbreche jetzt die Sitzung und bitte die Geschäftsführer, auch der Oppositionsfraktionen, zu mir. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen damit zu der nach unserer Geschäftsordnung vorgesehenen Abstimmung in Form eines Hammelsprungs. Ich bitte jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, aus dem Plenarsaal zu gehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Abstimmung. Jetzt können alle den Saal durch die entsprechenden Türen betreten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Darf ich einmal um ein Signal bitten, inwieweit alle Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit hatten, an der Abstimmung teilzunehmen? - Mir wird signalisiert, dass sich keine Kolleginnen und Kollegen mehr vor den Abstimmungstüren befinden und dass sich offensichtlich auch niemand gehindert sieht, an dieser Abstimmung teilzunehmen. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen. Ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung bekannt, das mir die Schriftführerinnen und Schriftführer mitgeteilt haben: 241 Kolleginnen und Kollegen haben mit Nein gestimmt, 170 Kolleginnen und Kollegen mit Ja, kein Kollege hat sich enthalten. Damit ist der Antrag auf Herbeizitierung des Herrn Ministers abgelehnt. ({0}) Gleichwohl hat der Herr Minister auf der Regierungsbank Platz genommen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen, damit wir mit der Befragung fortfahren können. Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Liebich. Ich bitte den Herrn Minister und den Herrn Staatssekretär, mir nach der Frage zu signalisieren, wer jeweils die Antwort gibt. Kollege Liebich hat das Wort.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Schön, Herr Minister, dass Sie noch kommen konnten. Noch schöner wäre es gewesen, wenn Sie gleich da gewesen wären. Wir brauchten Sie deshalb für die Befragung, weil Ihr Staatssekretär in der Beantwortung einer Frage zuvor darüber Auskunft gegeben hat, dass er - Herr Minister! - Frau Wöhrl, Sie können den Minister nicht ablenken. Ich stelle ihm gerade eine Frage. Herr Minister, wir müssen die Frage deshalb an Sie persönlich richten, weil Ihr Staatssekretär gerade sagte, dass Sie in dem Gespräch zum Kennenlernen, das Sie und Herr Amann am 19. Dezember geführt haben, nicht miteinander über die mehrfach verschobene Flughafeneröffnung gesprochen haben. Was uns allerdings interessiert, ist: Worüber haben Sie eigentlich gesprochen? ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einer Vorbemerkung beginnen. Eine derartige Situation habe ich in über 22 Jahren Mitgliedschaft in diesem Hohen Hause noch nie erlebt. ({0}) Wie kann man bei einer solch absolut banalen Frage - warum es sich um eine banale Frage handelt, werde ich gleich näher erläutern -, ({1}) angesichts einer solchen Banalität - damit wende ich mich an den Antragsteller Beck - die Geschäftsordnung des Hohen Hauses derartig missbrauchen! ({2}) Jetzt komme ich zur Banalität. Die Banalität beinhaltet zwei Aspekte. Ich habe übrigens in meinem Büro gesessen und hier alles verfolgt. ({3}) - Man hat als Bundesminister manchmal lange Listen von Telefongesprächen abzuarbeiten und Gespräche zu führen usw. ({4}) Alle Fragen, die hier gestellt worden sind, habe ich unter anderem gestern im zeitlichen und örtlichen Umfeld der Sondersitzung des Haushaltsausschusses vor Mitgliedern des Haushaltsausschusses und vor allen Dingen vor einer großen Zahl von Journalistinnen und Journalisten ({5}) in aller Ausführlichkeit beantwortet. ({6}) Darüber ist ausführlich in vielen Agenturberichten und auch heute in elektronischen Medien und Printmedien berichtet worden. Wenn Sie das Geschehen so verfolgt hätten, wie es Ihnen eigentlich aufgrund Ihres hier vorgetäuschten Interesses angemessen wäre, ({7}) dann würden Sie solche Fragen nicht stellen; denn dann hätten Sie alle Antworten von vornherein bekommen. Ich unterstelle aber nicht, dass Sie das Geschehen und die Berichte der Agenturen sowie in Printmedien und elektronischen Medien nicht verfolgt haben. ({8}) Sie kennen sehr wohl alle meine Antworten. Deshalb sage ich: Was Sie hier aufführen, ist nichts anderes als ein Missbrauch der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. ({9}) Ich habe gestern in aller Ausführlichkeit darüber gesprochen. ({10}) Ich bin aber bereit, noch einmal darüber zu sprechen. ({11}) Der Dezember letzten Jahres weist in diesem Zusammenhang eine lange Chronologie auf. ({12}) Ich habe vor dem 19. Dezember x-mal in Interviews und öffentlichen Äußerungen gesagt - ebenso wie der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit -, dass es Anzeichen dafür gibt, dass möglicherweise der ins Auge gefasste Eröffnungstermin 27. Oktober 2013 nicht gehalten werden kann. ({13}) Es gab solche Anzeichen; darauf haben wir hingewiesen. Es gab allerdings keinerlei Gewissheit, ob es zu einer Verschiebung kommen muss. Ich komme nun sofort zum 19. Dezember. ({14}) Ich wusste durch eine Mitteilung meines Staatssekretärs Bomba vom Vortag, dass Herr Amann am 19. Dezember in meinem Hause zu einem allfälligen Routinegespräch mit Staatssekretär Bomba sein würde. Daraufhin habe ich gesagt: Wenn Herr Amann schon im Hause ist, dann möge er doch bei der Gelegenheit bei mir im Büro vorbeischauen - ich habe gesagt, wann ich auch im Hause bin -, damit wir kurz miteinander reden können. ({15}) So viel zur Banalität. Wenn es umgekehrt gewesen wäre, wenn Sie also in Erfahrung gebracht hätten - das traue ich Ihnen glatt zu -, dass er wegen anderer Dinge im Hause gewesen wäre und ich nicht die Gelegenheit genutzt hätte, mit ihm zu sprechen, ({16}) dann würden Sie mir das vorhalten. Ich habe also gesagt: Wenn er schon da ist, möge er zu mir ins Büro kommen. ({17}) Wir sind uns bei dieser Gelegenheit das erste Mal persönlich begegnet; wir haben uns kennengelernt. Insofern ist die Aussage des Kollegen Staatssekretär Jan Mücke korrekt. Wie Herr Amann selbst auf Befragen durch die Presse bereits gestern oder vorgestern gesagt hat, haben wir natürlich auch - stellen Sie sich vor! - über das Thema Flughafen gesprochen. ({18}) - Über was denn sonst? Wir haben natürlich darüber gesprochen. Herr Amann hat mir dargelegt - auch das hat Staatssekretär Mücke bereits angesprochen -, wie die Gefechtslage im Augenblick ist. Daraufhin war meine zentrale Frage: Kann man heute fest davon ausgehen, dass es bei diesem Termin bleibt, oder gibt es Zweifel daran? Muss er vielleicht verschoben werden? Die Aussage von Herrn Amann war exakt die gleiche, die er schon Tage und Wochen vorher getroffen hat und die er, wie mir berichtet worden ist, im Übrigen auch gegenüber Mitgliedern dieses Hauses aus anderen Fraktionen getroffen hat: dass weitere Untersuchungen durchgeführt werden müssen - auch das hat Staatssekretär Mücke hier richtig festgestellt - und dass man über die Haltbarkeit oder die Verschiebung dieses Termins erst Anfang Januar definitiv Auskunft geben kann. ({19}) Am Ende dieses Gesprächs, das 15 bis 20 Minuten gedauert hat, war ich also genauso schlau wie vorher, was die Frage „Kann man den Termin halten oder nicht?“ betrifft. Ich bin Herrn Amann dankbar, dass er hier nicht vollmundig irgendetwas verheißt, was dann nicht gehalten werden kann, sondern die Dinge nennt, wie sie faktisch sind. Vorhin hat eine Kollegin nach dem Welt-Interview gefragt, das am 27. Dezember des vergangenen Jahres erschienen ist. Dieses Interview ist vor meinem Gespräch mit Herrn Amann am 19. Dezember geführt worden. Ich habe in diesem Interview das gesagt, was ich vorher schon x-mal gesagt habe: dass es Zweifel an der Haltbarkeit des Termins gibt. Ich habe das beispielsweise am 14. Dezember in einem Pressehintergrundgespräch gesagt. Ich habe es am Sonntag, dem 16. Dezember, im Bericht aus Berlin gesagt. Ich habe es am Mittwoch, dem 19. Dezember, im Morgenmagazin wieder so formuliert. Der Verdacht, der mir gegenüber vom SPD-Vorsitzenden geäußert worden ist, ich hätte am 19. Dezember irgendeine revolutionäre Neuigkeit erfahren und diese verschwiegen, ist also an den Haaren herbeigezogen. Ich habe mich gegen diese Unterstellung auch gewehrt. Im Übrigen: Selbst wenn es so wäre, ({20}) dass so etwas mitgeteilt worden ist - was so nicht der Fall war -: Für die weiteren Dinge, die heute beispielsweise im Aufsichtsrat erörtert werden, wäre es nicht relevant gewesen. Aber, wie gesagt, dieses Gespräch war von einer Natur und einer Charakteristik, wie ich sie gerade dargelegt habe. Über solche Gespräche werden auch keine Protokolle geführt. Dieses Gespräch hat unter sechs Augen stattgefunden. Sechsaugengespräche dieser Art - das möchte ich hier auch einmal sagen - müssen in einer Vertraulichkeit möglich sein, für die Sie seitens der Opposition nicht unbedingt jede Publizität einfordern können. ({21}) Jetzt habe ich Sie, glaube ich, hinreichend eingeweiht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Erst einmal ein geschäftsleitender Hinweis, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben noch 44 Minuten für die Fragestunde. Ich bitte sowohl die Fragenden wie natürlich auch die Vertreter der Bundesregierung, nach den ausführlichen Antworten, die ich aufgrund der Situation, in der wir uns hier befinden, zugelassen habe, zu den verabredeten Regeln zurückzukommen, was die Frageund Antwortzeit betrifft. Die nächste Nachfrage zur Frage 5 stellt der Kollege Jarzombek.

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, ich bin jetzt in der Verlegenheit, Sie angesichts dessen befragen zu müssen, ({0}) dass der bisherige Aufsichtsratsvorsitzende Wowereit dreimal der Einladung in den Verkehrsausschuss des Bundestages nicht nachgekommen ist und uns bisher keine Frage beantworten konnte. Das, was uns alle natürlich brennend interessiert - ({1}) - Frau Präsidentin, vielleicht können Sie hier die Arbeitsfähigkeit herstellen. ({2}) Herr Bundesminister, die Frage, die uns interessiert, ist, ob der Aufsichtsratsvorsitzende in der gleichen Zeit, über die hier gerade geredet wird, ebenfalls Gespräche mit Herrn Geschäftsführer Amann geführt hat, um vielleicht selbst in der Sache Erkenntnisse über den Fortschritt des Projektes und eine realistische Zielvorgabe bezüglich der Zeit zu bekommen. Während Sie mit Herrn Amman gesprochen haben, hatten Sie da den Eindruck, dass eine entsprechende Kommunikation stattfindet und auch Herr Wowereit sich darüber informiert hat, was bei diesem Flughafen Sache ist? ({3})

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Jarzombek! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich gehe davon aus, dass sich der damalige Vorsitzende des Aufsichtsrats, der Kollege Wowereit, ebenfalls laufend über die jeweiligen Gegebenheiten und über den jeweiligen Status quo informiert hat. Darüber, wann solche Gespräche und in welcher Form die Informationsgewinnung stattgefunden haben, kann ich leider Gottes nichts berichten, weil es sich schlicht und einfach meiner Kenntnis entzieht. Ich frage nicht täglich bei Wowereit nach: Mit wem haben Sie heute gesprochen? Worüber haben Sie gesprochen? In welcher Weise haben Sie gesprochen? Was waren die Antworten? - Jeder geht seinen eigenen Pflichten nach.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Kollege Kahrs.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, Sie hatten eben den Mitgliedern des Bundestages Missbrauch der Geschäftsordnung vorgeworfen, weil Sie ihnen bereits gestern im Haushaltsausschuss Rede und Antwort gestanden hätten. Da ich gestern zufällig im Haushaltsausschuss dabei war, kann ich mitteilen, dass ich im Haushaltsausschuss keine einzige Wortmeldung von Ihnen gehört habe. Sie haben zwar vor und nach der Sitzung des Haushaltsausschusses länglich mit der Presse geredet, haben aber im Haushaltsausschuss keine einzige Frage beantwortet, weil Ihre Koalition das mit Mehrheit so beschlossen hat, weshalb das nicht möglich war. Das heißt, die Möglichkeit, mit Ihnen zu reden, erschließt sich den Abgeordneten jetzt zum ersten Mal. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege Kahrs! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich konnte in Ihrer Wortmeldung zwar keine Fragestellung erkennen, aber ich möchte dennoch etwas dazu sagen. In der Sondersitzung des Haushaltsausschusses gestern um 11 Uhr war ich wunschgemäß zugegen. Der Kollege Schindler hat bis 11 Uhr behauptet, ich käme nicht. Und plötzlich war ich selbstverständlich da. ({0}) - Ja, selbstverständlich war ich da. Das kam Ihnen etwas in die Quere, aber ich war da. Das hat einigen offensichtlich nicht gepasst. Ich habe dann in der Ausschusssitzung festgestellt, dass ich da bin und auch bereit bin, über alle Dinge zu sprechen. Allerdings war Geschäftsgrundlage des Geschehens im Haushaltsausschuss, dass nicht nur ich da bin, sondern auch weitere geladene Gäste. Weitere geladene Gäste sind aber nicht erschienen; dafür sind auch Gründe angeführt worden. Dann war es Auffassung der Mehrheit des Ausschusses, dass man vor diesem Hintergrund eine Sinnhaftigkeit in der Fortführung der Haushaltsausschusssitzung nicht erkennen könne. Deshalb ist die Sitzung um Punkt 12 Uhr beendet worden. ({1}) Aber ich nehme an, dass dem Protokoll des Haushaltsausschusses zu entnehmen sein wird, dass ich im Haushaltsausschuss das Wort ergriffen habe. Den Zeitzeugen ist auch sicher nicht entgangen, dass ich sowohl vor der Ausschusssitzung - sowohl zeitlich als auch im räumlichen Sinne - als auch danach ohne jede zeitliche Restriktion Fragen entgegengenommen und Antworten gegeben habe gegenüber einer großen Zahl von Medienvertretern und auch gegenüber allen Kolleginnen und Kollegen. Lieber Kollege Kahrs, ich glaube, da auch Sie da waren, können Sie das, was ich gerade dargelegt habe, sicher nur bestätigen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie den Hinweis, Kollege Kahrs, dass Sie zu dieser Frage nur eine Nachfrage stellen können! Das heißt, wenn Sie sich noch einmal melden wollen, müssen Sie warten, bis ich irgendwann die Frage 6 aufrufe und die Frage 6 beantwortet ist. ({0}) - Das kann ich leider nicht ändern. Das sind die Regeln, die wir uns selbst gegeben haben. Ich mache auch darauf aufmerksam, dass wir im Moment noch in der Phase der Nachfragen zur Antwort auf die Frage 5 sind. Unsere Verabredung lautet, dass diese Nachfragen jeweils eine Minute maximal dauern sollen; im Übrigen die Antworten auf die Nachfragen ebenfalls. Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Hofreiter.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte, weil ich der Ausschussvorsitzende bin, an die Kollegin Haßelmann weitergeben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

In Ordnung. Dann hat die Kollegin Haßelmann das Wort.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Ramsauer, eingangs ganz kurz Folgendes: Punkt eins. Es ist eine Unverschämtheit, dass Sie als Minister hier zum Ausdruck bringen, dass wir eine überflüssige Geschäftsordnung haben. So geht das hier nicht. ({0}) Ich finde, gerade Ihre Einlassungen zeigen, wie notwendig die Geschäftsordnung für das Parlament ist, wenn es darum geht, dass wir unsere Rechte wahrnehmen. Punkt zwei. Ich finde, dass Sie sich hier reichlich aufblasen angesichts dessen, dass der Bund eine Beteiligung von 26 Prozent hat und dieser ganze Bereich des Flughafendesasters auf der Bundesebene in Ihrer Personalverantwortung steht. Jetzt zum Inhalt. Ich bin gespannt, was das Plenarprotokoll und das Protokoll der Haushaltsausschusssitzung ausweisen werden. Sie haben hier vorhin gesagt, Sie hätten umfangreiche Fragen der Haushaltsausschussmitglieder beantwortet. Anlässlich der Frage des Kollegen Kahrs haben Sie deutlich gemacht, dass Sie da ein bisschen geredet haben. Ich finde, Sie sind verpflichtet, hier die Wahrheit zu sagen. Deswegen werde ich mir Ihre Antwort auf meine Frage genau angucken. Meine Frage lautet: Welche Probleme hat Herr Amann mit Ihnen ganz konkret in dem Gespräch am 19. Dezember besprochen? Von welchen Problemen am BER hat er gesprochen, und welche Risiken hat er wie eingeschätzt?

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. Damit sich da ja nichts Falsches verfestigt: Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, Frau Kollegin Haßelmann: Ich habe nicht gesagt, dass wir - ({0}) - Wem ist das „Doch!“ gerade entfahren? ({1}) - Dann wundert es mich nicht. - Ich habe nicht von einer überflüssigen Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gesprochen. ({2}) Bitte nehmen Sie das nicht nur zur Kenntnis, sondern nehmen Sie diese Behauptung bitte zurück! ({3}) Zweitens. Zu Ihrer Nachfrage zu umfangreichen Antworten, die ich gestern gegeben habe: Ich habe während der offiziellen Dauer der Ausschusssitzung, soweit der Ausschuss offiziell getagt hat - er war unterbrochen -, das Wort im Ausschuss ergriffen, und ich habe in der Sitzungsunterbrechung gegenüber den Koalitionsmitgliedern im Haushaltsausschuss - das können viele, die jetzt hier sind, bestätigen; Kollege Koppelin nickt gerade ausführlich Fragen beantwortet. ({4}) Ich habe beispielsweise am Rande des Plenums und gestern danach am Rande auch Kollegen von der Opposition gesprochen. ({5}) Beispielsweise dem Kollegen Danckert, den ich jetzt gerade nicht sehe, ({6}) habe ich ausführliche Antworten auf Fragen gegeben, die ich beantworten kann. Warum bitte nehmen Sie es mir übel, ({7}) wenn ich ohne Ansehen der Fraktionszugehörigkeit Fragen beantworte? Ich finde, das kann ein Mitglied des Hohen Hauses - ohne Ansehen der Fraktionszugehörigkeit - vom Minister erwarten, soweit es dem Minister gestattet ist, eine Antwort zu geben. ({8}) So viel zum Thema Wahrheit. Jetzt noch einmal zu der Frage: Was ist besprochen worden? 15 bis 20 Minuten hat dieses Gespräch gedauert. ({9}) Es wurde von Herrn Amann dargelegt, wo die einzelnen Schwierigkeiten liegen. Das alles war aber ausschließlich eine Schilderung dessen, was ich bereits wusste, was Sie x-mal in den Medien nachlesen können, beispielsweise die Schwierigkeiten bei der Entrauchungsanlage, dass es weiterer Tests und Prüfungen bedarf, ob aufgrund beispielsweise der physikalischen Gegebenheiten eine Entrauchung in diesem Umfang funktionieren kann oder nicht, ob und, wenn ja, in welchem Umfang Umplanungen und Umbauten erforderlich werden können, dass dies alles offene Fragen sind, deren Prüfung noch Zeit in Anspruch nimmt, über Weihnachten hinaus, und dass Antworten erst am 5. oder am 8. Januar gegeben werden können. Darum hat es sich bei diesem Gespräch gehandelt. Die Conclusio aus dem Gespräch war, dass weder die Haltbarkeit des Termins 27. Oktober bestätigt werden kann noch dass verkündet werden könnte, dass eine Verschiebung erforderlich ist. Mehr kann ich Ihnen zum Inhalt dieses Gesprächs nicht mitteilen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Herzog.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, Sie sind seit 1990 im Deutschen Bundestag. Offenbar ist Ihnen auf der Strecke abhanden gekommen, dass es für Abgeordnete keine Verpflichtung gibt, den Gesprächen des Ministers mit Journalisten zu folgen, dass es aber sehr wohl eine Verpflichtung des Ministers gibt, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. ({0}) Sie können sich nicht auf das berufen, was Sie irgendwo vor der Tür mit irgendwem gesprochen haben. Ich will Ihnen eine kurze Frage stellen: Sie haben gesagt, das Gespräch mit Herrn Amann habe unter sechs Augen stattgefunden. Ich vermute, das war wörtlich gemeint. Daher interessiert mich, wer die dritte Person war, die bei diesem Gespräch dabei war. Oder gab es noch weitere Personen?

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Herr Kollege, ich nehme an, Sie sind gerade erst gekommen. ({0}) - Dann ist es Ihnen offensichtlich entgangen, was ich vor etwa fünf oder zehn Minuten dargelegt habe. Ich habe erläutert, dass außer Herrn Amann und mir der Staatssekretär Rainer Bomba zugegen war. Ich habe vorhin erläutert, ({1}) dass sich Herr Amann zu einem allfälligen Gespräch mit Herrn Staatssekretär Bomba in meinem Ministerium befunden hat. Anlässlich dieser Tatsache habe ich darum ersucht, dass Herr Bomba mit Herrn Amann kurz zu mir ins Ministerbüro kommen möge. Also: Es waren drei Personen. Die Namen sind jetzt genannt worden. Noch einmal: Ich halte es in einem solchen Fall für eine Selbstverständlichkeit, dass man die Gelegenheit eines solchen Gesprächs ergreift. Wenn man es nicht täte, würde man eine Gelegenheit verpassen. ({2}) Ich halte es für richtig, dass ich dies so gemacht habe. Ich würde es in einer analogen Situation selbstverständlich wieder genauso machen. ({3}) Wenn es mir möglich ist, empfange ich Gäste und spreche mit ihnen. Wenn Sie daran etwas Negatives sehen, dann habe ich eine andere Auffassung dazu. ({4}) Im Übrigen: Was heißt „Verpflichtung“? Sie haben natürlich keine Verpflichtung, Zeitung zu lesen. Es passt aber nicht zusammen, auf der einen Seite solche Fragen zu stellen und auf der anderen Seite so zu tun, als hätte man gestern und heute von den zahlreichen Medienverlautbarungen zu diesem Themenkomplex nichts mitbekommen. ({5})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zur Richtigstellung, Herr Minister: Im Unterschied zu Ihnen war ich schon zu Beginn der Fragestunde hier und die ganze Zeit anwesend.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen trotzdem zu den hier registrierten Nachfragen. Ich mache darauf aufmerksam: Wir sind immer noch bei Frage 5. Der Kollege Bartol stellt seine Nachfrage. ({0}) - Dann hat die Kollegin Rawert das Wort. - Auch das hat sich erledigt. Dann kommt die Kollegin Kotting-Uhl.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister Ramsauer, ich muss sagen: Als Abgeordnete, die nicht Mitglied des Haushaltsausschusses und des Verkehrsausschusses ist, strapaziert mich dieses Frage-Antwort-Spiel schon sehr. ({0}) Ich habe den Eindruck, dass Sie unheimlich viel Zeit haben müssen. Es ist erstaunlich, dass Sie und Ihr Staatssekretär sich mit jemandem treffen - also zwei sehr hochrangige Funktionen: der Minister und der Staatssekretär - und in dem Gespräch als Ergebnis nur das herauskommt, was Sie schon wussten. Sie und Ihr Staatssekretär investieren 15 bis 20 Minuten, und es kommt dabei nichts Neues heraus. ({1}) Demgegenüber haben Sie gerade eben gesagt, Sie hätten eine Gelegenheit verpasst, wenn Sie das Gespräch nicht geführt hätten. Ich frage Sie jetzt: Wenn Sie das Gespräch als Gelegenheit wahrgenommen haben, dann haben Sie offensichtlich auch Erwartungen gehabt. Wenn wir jetzt schon nicht hören können, was das Gespräch ergeben hat - nichts hören wir -, dann sagen Sie uns doch bitte, was Sie denn von dem Gespräch erwartet haben. ({2})

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Frau Kollegin Kotting-Uhl, zunächst tut es mir leid, wenn Sie sich durch Ihre parlamentarische Tätigkeit in dieser Weise strapaziert fühlen. ({0}) Parlamentarische Tätigkeit ist manchmal strapaziös, aber ich stelle mich dieser Strapaze seit über 22 Jahren, und zwar mit ungebremster Freude. ({1}) Wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, werfen Sie mir vor, dass ich als Minister mit 15 bis 20 Minuten zu viel Zeit in dieses Gespräch investiert habe. Gestern habe ich einen gegenteiligen Vorwurf vernommen. Der lautete, warum ich mir nicht mehr Zeit genommen hätte, um ein solches Gespräch zu führen. Der Vorwurf kam auch aus der Opposition. Die einen sehen es so, die anderen so. Ich bin überzeugt, dass ich richtig gehandelt habe, und würde genau so wieder verfahren. Jetzt sagen Sie: Bei diesem Gespräch kam nichts heraus, warum haben Sie es dann geführt? Sie kennen solche Lebenssituationen sicher auch; ich bringe es auf den Punkt: Man muss sich eben ständig gewisser Dinge vergewissern. Im ständigen Bemühen um Vergewisserung kommt manchmal weniger und manchmal mehr heraus. Ich habe dem Gespräch entnommen, dass weder definitiv eine Verschiebung des Termins verkündet noch das Einhalten des Termins bestätigt werden kann. Ich bin froh, dass ich vom entscheidenden Mann in der Geschäftsführung darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass weitere Tests erforderlich sind. Insofern war ich wieder auf dem Laufenden. Alleine dieser Vergewisserung wegen hat sich dieser Zeitaufwand bereits gelohnt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Cornelia Behm auf: Warum hat Bundesminister Dr. Peter Ramsauer einen Abwahlantrag gegen Professor Dr. Rainer Schwarz angekündigt, obwohl in der letzten Aufsichtsratssitzung einstimmig und auf Vorschlag des Bundes beschlossen wurde, dass zunächst eine haftungsrechtliche Prüfung durchgeführt werden soll, und ist mittlerweile eine Rechtsanwaltskanzlei bzw. eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit dieser Prüfung beauftragt worden? ({0}) - Kollege Beck, Sie haben schon vor der Unterbrechung eine Nachfrage gestellt, deshalb können Sie jetzt keine weitere Nachfrage stellen, sondern müssen erst die Beantwortung dieser Frage abwarten. Ich mache darauf aufmerksam, dass wir uns darauf geeinigt haben, dass wir für die erste Frage und die erste Antwort zwei Minuten einplanen und dass die nachfolgenden Fragen bitte innerhalb einer Minute gestellt und durch die Bundesregierung beantwortet werden. Ich sehe, der Staatssekretär steht zur Beantwortung der Frage 6 bereit. Sie haben das Wort.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Frau Kollegin Behm, die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage lautet: Die vom Aufsichtsrat beschlossene haftungsrechtliche Prüfung dient der Ermittlung der Erfolgsaussichten der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen vormalige sowie tätige Geschäftsführer und Aufsichtsräte. Das Verfahren zur Auswahl einer Rechtsanwaltskanzlei bzw. Wirtschaftsprüfungsgesellschaft läuft noch. Es liegt im Ermessen des Aufsichtsrates, sich bereits vor Abschluss der haftungsrechtlichen Prüfung mit einer Abberufung von Herrn Professor Dr. Rainer Schwarz als Geschäftsführer zu befassen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. Ich würde gerne wissen, wer aus dem Aufsichtsrat für die Suche nach einem Nachfolger bzw. einer Nachfolgerin von Herrn Schwarz zuständig ist und seit wann nach dieser Person gesucht wird. Wann soll diese Person dann die Aufgaben von Herrn Schwarz übernehmen, von dem wir ja nun alle gehört haben, dass er abberufen wird? ({0})

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Frau Kollegin Behm, es ist die Aufgabe des gesamten Aufsichtsrates, einen Nachfolger zu bestellen. In der Praxis ist es so, dass der Präsidialausschuss und, soweit vorhanden, der Personalausschuss, der mit entsprechenden Fragen befasst ist, diese Entscheidung vorbereiten. Da die Entscheidung zur Abberufung von Herrn Professor Schwarz als Geschäftsführer gerade eben erst getroffen wurde, ist eine Aussage dazu, wann und durch wen eine Nachbesetzung erfolgt, heute naturgemäß nicht möglich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da hat man sich also noch nicht auf ein Zeitfenster geeinigt? ({0}) Ich möchte gerne wissen, ob es zutrifft, dass die Beauftragung der Rechtsanwaltskanzlei und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die die haftungsrechtliche Prüfung, von der wir eben gesprochen haben, vornehmen sollen, durch die Geschäftsführung der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH erfolgt und nicht durch das Bundesverkehrs- und -bauministerium. Wenn das stimmt, warum ist das so?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Das ist sehr einfach, Frau Kollegin Behm: Das Bundesverkehrsministerium ist kein Organ der FBB; in diesem Verfahren können nur Organe der FBB tätig werden, in diesem Fall der Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat beauftragt eine Anwaltskanzlei oder eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Wie ich Ihnen aber gerade gesagt habe, ist das Verfahren der Suche nach einer passenden Kanzlei noch nicht abgeschlossen. Deshalb ist eine Aussage dazu, wann und durch wen die Prüfung erfolgt, jetzt nicht möglich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Eine Nachfrage stellt nun die Kollegin Gottschalck. ({0}) - Hat sich erledigt. Dann hat der Kollege Burkert das Wort.

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Meine Frage lautet: Sehen Sie in der heutigen Abwahl des Herrn Schwarz durch den Aufsichtsrat eine Beeinträchtigung des operativen Geschäfts in einer schwierigen Phase am Flughafen Berlin-Tegel? Wie wollen Sie sicherstellen, dass die schwierige Situation, die sich durch die weitere Verschiebung der Eröffnung des neuen Flughafens ergibt, gemeistert wird?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Das ist keine Frage, die das Bundesverkehrsministerium zu beantworten hat. Vielmehr ist es eine Frage, die die nunmehr verbliebene Geschäftsführung zu beantworten hat. Der Aufsichtsrat führt die Aufsicht über die GeParl. Staatssekretär Jan Mücke schäftsführung. Wir gehen davon aus, dass das Personal in Tegel, das jeden Tag fleißig seine Arbeit macht, die Situation in der Übergangszeit bewältigen kann, auch ohne dass Herr Professor Schwarz die Aufsicht führt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Beck, Sie haben das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vor dem Hintergrund, dass es jetzt auch um Personalfragen geht, frage ich den Bundesverkehrsminister: Gab es tatsächlich bei dem Gespräch am 19. Dezember kein anderes Thema bezüglich des Flughafens als die von Ihnen vorhin in der Antwort angeführte Entrauchungsanlage und die entsprechenden Entrauchungsversuche, die vor dem Gespräch stattgefunden hatten?

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Beck, das Gespräch war geprägt von Fragen rund um den Flughafen und von den Problemen, die es dort gibt. Ich schließe nicht aus, dass ganz am Rande, beispielsweise beim Verabschieden, noch das eine oder andere freundliche Wort darüber gefallen ist, ({0}) was denn die bevorstehende Weihnachtszeit unabhängig vom Flughafen so bringt. ({1}) Sie können noch so lange herumbohren; ich finde es langsam wirklich müßig, dass Sie in einer im Grunde genommen alltäglichen Begebenheit herumstochern. ({2}) Das ist etwas, was auch Ihre Fraktionskollegin strapaziert. Hiermit stelle ich fest: Ich bin der Meinung, dass ich über diesen Vorgang erschöpfend und hinreichend Auskunft gegeben habe. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, mich überzeugt das nicht. Ganz Berlin und die halbe Republik sprechen und rätseln darüber, auch schon am 19. Dezember vergangenen Jahres: Wann können wir weg aus Tegel, wann können wir vom und zum Flughafen „Willy Brandt“ in Schönefeld fliegen? Sie treffen nun den Mann, der wahrscheinlich die meisten Fachkenntnisse darüber hat, was noch zu tun ist. Sie haben ihm gegenüber offenbar eines der Probleme angesprochen. Nun wollen Sie sagen, dass Sie mit keiner Silbe darüber geredet haben, wie lange die Arbeiten noch dauern könnten und wann damit zu rechnen sei, dass man es verantworten kann, Passagiere auf den Flughafen zu lassen. Das wollen Sie allen Ernstes weiterhin so behaupten? ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort, Herr Minister.

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ströbele, zunächst zur Äußerung des Kollegen Beck nach der Beantwortung seiner Frage. Wahrscheinlich steht sie als Zwischenruf im Protokoll. Ich habe ihn sinngemäß so verstanden: „Wer so antwortet, hat etwas zu verbergen!“ Für den Fall, dass sich das im Protokoll wiederfindet, möchte ich mich ausdrücklich und entschieden dagegen verwahren, Herr Kollege Beck, dass ich etwas zu verbergen habe. ({0}) Ich habe nichts zu verbergen, und ich wünsche mir hier öfter die Art an Transparenz, wie ich sie an den Tag lege. ({1}) Ein weiterer Punkt. Herr Ströbele, Sie werden schwer von etwas zu überzeugen sein. Sie haben die Frage gestellt - ich fasse Ihre Frage zusammen -: Wann wird ein neuer Eröffnungstermin genannt? Wann kann der neue Flughafen in Betrieb genommen werden? Übrigens stellen mir viele Mitglieder dieses Hauses die umgekehrte Frage: Wie lange können wir noch ab Tegel fliegen? ({2}) Auch das ist eine interessante Fragestellung. ({3}) Die Betriebsgenehmigung für Tegel erlischt nach Inbetriebnahme des neuen Flughafens in Schönefeld. ({4}) Auf Ihre Frage, wann ein neuer Termin genannt werden kann, kann ich nur antworten, wie es sinngemäß die Kollegen Wowereit und Platzeck in den letzten Tagen auch getan haben, nämlich: Ein neuer Termin kann erst genannt werden, wenn alle technischen und planerischen Fragen so weit geklärt sind, dass verlässlich prognostiziert werden kann, wann der Bau fertiggestellt werden kann. Dann schließt sich der mehrmonatige Probebetrieb an. Erst dann kann der neue Zeitpunkt der Inbetriebnahme ermittelt werden. Wann der neue Termin genannt werden kann - ob das im Frühjahr ist, im Sommer oder möglicherweise nach dem Sommer -, vermag ich Ihnen heute von dieser Stelle aus genauso wenig zu sagen wie irgendjemand sonst in verantwortlicher Position rund um den Flughafen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich rufe Frage 7 des Kollegen Stephan Kühn auf. ({0}) - Entschuldigung, Kollege Kühn, können Sie bitte noch einen kleinen Moment Ihr Informationsbedürfnis zurückstellen? Wir haben den Kollegen Liebich übersehen.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin, gestatten Sie mir zunächst die Vorbemerkung, dass es mich schon erstaunt, wie das Fragerecht von Abgeordneten durch Vertreter der Bundesregierung bewertet und infrage gestellt wird. Das kenne ich aus der Arbeit im Abgeordnetenhaus von Berlin nicht. Ich hoffe nicht, dass das hier im Deutschen Bundestag üblich ist. Zu meiner Frage, Herr Ramsauer - um von dem Gespräch wegzukommen, über das sie nicht so viel reden wollen -: Das Gespräch fand am 19. Dezember statt. Vorhin hat Herr Staatssekretär Mücke gesagt, dass am 21. Dezember die Experimente mit der Rauchgasanlage abgeschlossen waren. Am 4. Januar ist den Referenten der Mehrheitsgesellschafter in einem Brief per Bote die Information zugegangen, dass der Eröffnungstermin erneut verschoben wird. Mich interessiert Ihre Bewertung der Dauer und der Art und Weise der Informationsübermittlung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort, Herr Minister.

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Herr Kollege Liebich! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle das Fragerecht nicht infrage. Ich bin selbst lang genug Parlamentarier und lang genug in parlamentarischen Führungspositionen und habe immer darauf beharrt. Dass dies eine ausführliche Debatte ist, zeigt sich im Übrigen allein daran, dass die Dauer der Debatte über dieses eine Gespräch schon jetzt die Dauer meines Gesprächs am 19. Dezember 2012 mit Herrn Amann um ein Mehrfaches übersteigt. ({0}) Stärker kann man das Ganze nicht zerlegen und atomisieren. ({1}) Noch einmal zum Ablauf - darüber habe ich in einer Berliner Zeitung heute schlicht und einfach Unsinn gelesen; darum bin ich sehr dankbar für diese Frage -: Nach meiner Kenntnis - Sie haben das korrekt dargestellt wurde die Feststellung von Herrn Amann, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, am 4. Januar 2013 - das war ein Freitag - im Laufe des Nachmittags an bestimmte Adressaten überstellt - in einem verschlossenen Umschlag, soweit ich informiert bin. Die Dienstzeit war möglicherweise vorbei. Was ich jetzt sage, ist gestern x-mal vor Medienvertretern öffentlich verlautbart und breitgetreten worden; aber ich wiederhole es gerne und geduldig weiter. ({2}) - Ich weise ja nur darauf hin; nicht dass jemand sagt, ich würde mich wiederholen, und mir das zum Vorwurf macht. Natürlich kann ich hier nur wiederholen, was gestern x-mal gesagt worden ist, ({3}) auch von mir. Staatssekretär Bomba ist, was nicht gewöhnlich ist, am Sonntag ins Ministerium gekommen. ({4}) Das ist nicht gerade eine übliche Dienstzeit. Er hat diesen Brief geöffnet und mir den Inhalt dieses Briefes sinngemäß am Sonntagabend, am 6., mitgeteilt, sodass im Laufe des 7. - Montag -, ab früh morgens gesprochen werden konnte. Die Zeitung Der Tagesspiegel hat heute geschrieben, das sei am 8. und nicht am 6. gewesen. Damit hier nicht noch eine Nachfrage kommt, sage ich: Das ist inzwischen auch korrigiert. Wie das mit dem 8. zustande kam, kann ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls habe ich nie „8.“ gesagt, sondern, so wie jetzt: am 6., am Sonntag, geöffnet und mir dann mitgeteilt. - Alles Weitere, das, was am Montag, den 7., stattgefunden hat, kennen Sie.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Jetzt rufe ich die Frage 7 des Kollegen Stephan Kühn auf: Wie kam das BMVBS nach dem Expertentreffen zum geplanten Berliner Flughafen BER am 18. Dezember 2012 gegenüber der Berliner Zeitung ({0}) zu der Einschätzung, es gebe „keine Aspekte, die eine Zeitverschiebung nötig machen“? Bitte, Herr Staatssekretär.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Aussage kommen; denn das BMVBS hat eine solche Aussage nicht getroffen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben in dieser Fragestunde eine intensive Presseschau betrieben. Darum habe auch ich mir erlaubt, aus der Zeitung zu zitieren. Dort stand das nämlich. Zur ersten Nachfrage. Inwieweit hat Staatssekretär Bomba beim besagten Treffen mit Herrn Amann am 18. Dezember 2012 thematisiert, dass die Bautätigkeit nicht im November 2012 wieder aufgenommen worden war, was ja Bedingung für die Einhaltung des angestrebten Eröffnungstermins am 27. Oktober 2013 war?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte, Herr Staatssekretär.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Zunächst einmal möchte ich das nicht so stehen lassen. Sie haben falsch aus der Berliner Zeitung zitiert. Sie haben unterstellt, dass das BMVBS behauptet hat, dass es keine Aspekte gibt, die eine Zeitverschiebung nötig machen würden. Genau das hat das BMVBS zu keiner Zeit behauptet. Hier ist zwar von einem unbekannten Teilnehmer die Rede; aber das BMVBS hat eine solche Aussage nicht getroffen. Eine solche Aussage konnten wir auch nicht machen, weil, wie Sie wissen, die Auswertung der Rauchgasversuche bis zum 21. Dezember 2012 gedauert hat und uns die Mitteilung über die Verschiebung der Inbetriebnahme des Flughafens am 4. Januar 2013 zugeschickt worden ist. Das hat der Bundesminister gerade erläutert. Zur Frage, was Herr Kollege Bomba bei dem Gespräch am 18. Dezember 2012 gefragt oder auch nicht gefragt hat, kann ich Ihnen nur so viel sagen: Dieses Gespräch hat auf Einladung der Geschäftsführung der FBB GmbH stattgefunden. Bei diesem Gespräch ging es ausschließlich um technische Details der Rauchgasversuche und der Brandschutzanlage. Mir liegen keine Erkenntnisse vor, dass darüber hinausgehend irgendwelche Fragen von Herrn Kollegen Bomba gestellt worden sind. Klar ist jedenfalls, dass Aussagen zu einer Verschiebung der Inbetriebnahme nicht getroffen worden sind und auch nicht getroffen werden konnten, weil die Auswertung der Ergebnisse noch angedauert hat.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir bleiben bei dem Thema und machen wieder ein wenig „Presseschau“. In der Welt vom 27. Dezember wird der Minister - ich glaube, wir sind uns einig, dass das in der Zeitung stand - mit der Aussage zitiert: Der Miteigentümer Bund sieht Anzeichen dafür, dass der Eröffnungstermin am 27. Oktober 2013 möglicherweise nicht gehalten werden kann. Herr Minister, ich frage Sie: Bezieht sich diese Einschätzung auf die Ergebnisse der Rauchgasversuche?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Das kann sich nicht darauf beziehen, weil die Ergebnisse da noch nicht vorgelegen haben.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hatte den Minister gefragt.

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Für die Bundesregierung antwortet immer -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Bundesregierung entscheidet, wer antwortet, und Sie entscheiden, wie zufrieden oder unzufrieden Sie gegebenenfalls mit dieser Entscheidung sind. - Ich mache darauf aufmerksam, dass die Fragestunde noch fünf Minuten andauert, und rufe die Frage 8 des Kollegen Kühn auf: Wann und mit welchem Ergebnis ist zwischen dem BMVBS und dem Bundesministerium der Finanzen abgestimmt worden, ob der Bund die Kandidatur von Ministerpräsident Matthias Platzeck für den Aufsichtsratsvorsitz der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH, FBB, unterstützt oder ob der Bund gegebenenfalls einen alternativen Kandidaten vorschlägt?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Herr Kollege Kühn, dazu lautet die Antwort der Bundesregierung: Nach dem Gesellschaftsvertrag der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH wählt der Aufsichtsrat den Aufsichtsratsvorsitzenden mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen aus seiner Mitte. Die Entscheidungsfindung findet im Aufsichtsrat statt. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und das Bundesministerium der Finanzen stimmen sich hierzu laufend ab.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor wir im Prozedere weiter fortfahren, hat sich der Kollege Volker Beck zur Geschäftsordnung gemeldet.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund der Antworten, die wir nicht bekommen haben, halte ich es für erforderlich, dass hier im Deutschen Bundestag in einer Aktuellen Stunde über die Verantwortung aller drei Eigner der Flughafengesellschaft debattiert wird. Ich beantrage dies hiermit im Namen meiner Fraktion, bitte aber, jetzt dennoch mit der Fragestunde bis zum Ende der Zeit fortzufahren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben es alle gehört: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat zur Antwort der Bundesregierung auf die Frage 8 eine Aktuelle Stunde verlangt. Das entspricht Nr. 1 b der Richtlinien für Aktuelle Stunden. Die Aussprache findet im Anschluss an die Fragestunde statt. Diese Fragestunde endet in drei Minuten und 24 Sekunden. Wir kommen jetzt zur nächsten Nachfrage des Kollegen Kühn.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der Zwischenzeit wissen wir, wie die Wahl zum neuen Vorsitzenden des Gremiums ausgegangen ist. Darum erlaube ich mir folgende Nachfrage: Warum hat der Bund bzw. haben die Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat nicht auf einen unabhängigen Experten als Aufsichtsratsvorsitzenden gedrungen, so wie es ursprünglich auch die Position von Bundesfinanzminister Schäuble gewesen ist?

Jan Mücke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003813

Herr Kollege Kühn, es ist gute Übung, dass sich die Gesellschafter auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Der Bundesregierung ist es wichtig gewesen, dass wir aus unserer Position als Minderheitengesellschafter heraus darauf hingewirkt haben, dass der Aufsichtsrat durch Fachleute ergänzt wird. Insofern ist das, was heute mit der Wahl von Herrn Ministerpräsident Platzeck stattgefunden hat, das Ergebnis einer Paketlösung. Wir akzeptieren Herrn Platzeck als Vorsitzenden des Aufsichtsrates, bestehen aber darauf, dass der Aufsichtsrat durch unabhängige Fachleute ergänzt wird, die den Aufsichtsrat bei seiner Tätigkeit unterstützen und damit mit dazu beitragen, dass der Flughafen endlich in ruhiges Fahrwasser kommt. Es war immer die Aufgabe der Bundesregierung - deshalb haben wir bei uns im Hause, im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, auch eine Sonderkommission eingerichtet -, darauf zu dringen, dass dieses leidige Problem endlich erledigt wird. Ich glaube, dass wir mit den getroffenen und noch zu treffenden Entscheidungen in personeller Hinsicht die Weichen richtig gestellt haben, damit der Flughafen endlich fertig gebaut werden kann.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Auf die zweite Nachfrage wird verzichtet. - Wir haben noch eine Minute und 16 Sekunden, und es gibt noch eine Nachfrage des Kollegen Stefan Liebich. Auch Sie verzichten. Will jemand den Antrag stellen, dass wir die Fragestunde noch eine Minute fortführen? ({0}) Niemand? Selbst Kollege Lindner nicht. Prima. Dann beenden wir die Fragestunde und kommen zu der bereits hier angekündigten Aktuellen Stunde, die nach Schluss der Fragestunde, den wir gerade gemeinsam festgestellt haben, durchgeführt wird. Ich rufe also Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Frage 8 auf Drucksache 17/12041 Im Augenblick wird die Rednerliste erstellt, aber der erste Redner ist mir schon gemeldet. Es ist unser Kollege Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Kollege Stephan Kühn.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer geriert sich beim Thema Flughafen Berlin Brandenburg gern in der Rolle des vermeintlichen Chefaufklärers. ({0}) So hat er im Mai 2012 eine Sonderkommission eingerichtet. Ich muss sagen: Die Bilanz von Herrn Ramsauer als Chaosbeseitiger beim Flughafen BER ist die gleiche wie seine Bilanz als Verkehrsminister, nämlich gleich null. ({1}) Die Befragung des Ministers gestern im Haushaltsausschuss - wir haben es bereits gehört - ist abgebrochen worden. ({2}) Die Koalition hat ganz offensichtlich gute Gründe, warum sie beim Verkehrsminister lieber nicht genauer nachfragen will. Warum das so ist, davon hat man gerade in der Fragestunde einen Eindruck gewinnen können. Sie, Herr Minister, haben uns mit Nichtaussagen die Zeit gestohlen, ({3}) und Sie pflegen eine Informationspolitik und einen Informationsstil, die diesem Hause aus meiner Sicht nicht angemessen sind. ({4}) Sie haben die Sonderkommission BER offensichtlich nicht darauf angesetzt, sich ein ehrliches Bild vom Ausmaß der Schlampereien auf dem Hauptstadtflughafen zu machen. Wie kommt es sonst, dass der Bund auch danach einen dritten und dann einen vierten Eröffnungstermin einstimmig mit den anderen Gesellschaftern festgelegt hat? Es gibt ja seitens des Bundes „Experten“ in diesem Gremium: Ingenieur Bomba und Finanzfachmann Gatzer. Man fragt sich, warum es nach der zweiten Verschiebung noch Zustimmung zum neuen Zeitplan der Planungsgesellschaft, pg bbi, gab, der man eine Woche später aufgrund fehlenden Vertrauens und Nichterfüllung ihrer Aufgaben gekündigt hat. Wie kommt es, dass ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums am 18. Dezember 2012 nach einer Begehung des Flughafens erklären ließ, dass es keine Aspekte gebe, die eine Zeitverschiebung nötig machen, und man nur zwei Wochen später im neuen Jahr die AusStephan Kühn sagen des neuen Technikchefs Amann hört, der die Zustände am Flughafen als „fast grauenhaft“ bezeichnet und überhaupt keinen Eröffnungstermin mehr nennen will oder kann. Fast grauenhaft ist das Bild, das bereits am 13. Dezember 2012 im Sachstandsbericht zum Flughafen BER gezeichnet wurde. Man muss den Eindruck gewinnen, dass eigentlich fast keine technische Anlage im Flughafen funktionsbereit oder funktionsfähig ist. Ich zitiere aus dem Sachstandsbericht: „Insbesondere bei den Schwerpunktthemen Entrauchung, Sprinklerung, Schließanlage und LAN sind noch grundlegende Klärungen herbeizuführen …“. Dort heißt es auch, dass es Mängel an den Kabeltrassen, Über- und Fehlbelegungen, gibt. Ferner heißt es: „Im Bereich der Niederspannungshauptverteilung wurden Verstöße gegen die Verlegungsrichtlinie festgestellt.“ Infolge von Planungsmängeln seien Nachbesserungen der Regelungstechnik des Kälteversorgungssystems erforderlich. Der aktualisierte Sachstandsbericht vom 8. Januar dieses Jahres zeichnet ein noch viel düstereres Bild. So sind umfangreiche Umplanungen und Umprogrammierungen der Steuerung und Umbaumaßnahmen, auch an den Entrauchungsanlagen, unumgänglich. Da heißt es sogar: Zu prüfen ist, ob „ein vollständiger Umbau auf den Genehmigungsstand unumgänglich ist.“ Es wurde also schlicht an der Baugenehmigung vorbei gebaut. ({5}) Das ist, wie die zuständige Behörde gesagt hat, nicht genehmigungsfähig. Es handelt sich also um einen klaren Fall von Schwarzbau. ({6}) Apropos Schwarz: Der Bund hat es hingenommen, dass Geschäftsführer Schwarz auch nach drei Verschiebungen immer noch weitermachen durfte. ({7}) Nun, nach der vierten Verschiebung, ist er heute von seinen Aufgaben entbunden worden. Das alles hätten wir schon im November letzten Jahres haben können. Sie erinnern sich: Wir haben damals einen Antrag in den Verkehrsausschuss und in den Haushaltsausschuss eingebracht, in dem wir die Auflösung des Vertrages und die Entlassung von Herrn Schwarz gefordert haben. Damals mussten die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD mit Tagesordnungstricks eine Vertagung herbeiführen. Damals hieß es noch, man wolle zunächst haftungsrechtliche Prüfungen durchführen, bevor man entscheidet. Das ist mittlerweile offensichtlich Geschichte. ({8}) Wir fragen uns: Wieso braucht es vier Verschiebungen, um zu einer neuen Struktur der Flughafengesellschaft zu kommen? Wieso gibt es keine Personalvorschläge für einen kompetenten Geschäftsführer aus dem Hause Ramsauer? Heute wurde zwar jemand entlassen; aber ein Nachfolger wurde nicht benannt. Verkehrsminister Peter Ramsauer hat aus dem ganzen Schlamassel immer noch nicht gelernt. Er hat seine Zustimmung zu einer - ich nenne es jetzt einmal so - russischen Rochade gegeben, nämlich zum Austausch an der Spitze des Aufsichtsrates, also zum Wechsel von Wowereit zu Platzeck, anstatt einen unabhängigen Experten zu benennen. Wir fordern: Besetzen Sie den Aufsichtsrat komplett neu und vor allen Dingen zügig mit Experten! ({9}) Wir fragen uns, da das Ganze immer teurer wird: Wo hat der Bund klare Bedingungen genannt, an die die Vergabe weiterer Mittel gebunden ist? Ramsauer hat bisher ein Rundum-sorglos-Paket abgesegnet. Den beiden anderen Anteilseignern wurden keine Bedingungen dafür genannt, dass weiter Geld fließt. Herr Ramsauer, Sie stehen in der Verantwortung. Nehmen Sie diese endlich wahr! Kümmern Sie sich um eine zeitnahe Eröffnung und die Begrenzung der Zusatzkosten! Bisher haben Sie dazu nichts, aber auch gar nichts geliefert. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das war Kollege Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. - Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Peter Wichtel. Bitte schön, Kollege Peter Wichtel. ({0})

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das neue Jahr beginnt im Plenum des Bundestages, wie das alte geendet hat: mit einer Debatte zu unserem Hauptstadtflughafen. Bedauerlicherweise reißen die Hiobsbotschaften, wie schon im vergangenen Jahr, auch in diesem Jahr nicht ab. Wir haben nun Gewissheit, dass der Eröffnungstermin nicht gehalten werden kann. Wenn man sich die heutige Diskussion, die Fragestunde und die entsprechenden Presseerklärungen vor Augen führt, wird deutlich, dass hier Verteidigungskämpfe stattfinden bzw. Stellvertreterkriege geführt werden. Die Situation ist beschämend genug. Deswegen bedauern die CDU/CSU-Fraktion und ich, dass die verantwortlichen Landesregierungen und die Opposition im Deutschen Bundestag nicht davon ablassen, von ihrer Verantwortung abzulenken, sondern versuchen, die Schuld auf andere abzuwälzen. ({0}) Insofern befinden Sie von der SPD sich mit Ihrem Parteivorsitzenden offenbar im Einklang, der ja versucht, durch Presseerklärungen den Eindruck zu erwecken, als wäre der Bund der Mehrheitsaktionär und als hätte der Bund bzw. der Bundesverkehrsminister das Sagen, um alle erforderlichen Maßnahmen durchzusetzen. Fehlanzeige sind bei Ihnen von der SPD und von den anderen Parteien aber auch Aussagen zur Rolle des Regierenden Bürgermeisters, der noch bis heute Aufsichtsratsvorsitzender war und nun endlich zurückgetreten ist. ({1}) Er lässt das Nachtreten auch nicht. Er kommt nicht mit dem Geständnis „Mea culpa - ich habe Fehler gemacht“: Ich habe sogar den Geschäftsführer Schwarz gegenüber dem Aufsichtsrat bis zur letzten Minute verteidigt. Kein Wort des Bedauerns über das Flughafendebakel kommt aus seinem Mund. Für die Krisenbewältigung bei diesem Hauptstadtprojekt brauchen wir Fachkompetenz und ein ausreichendes Zeitbudget. Ich selbst würde mir wünschen, dass endlich einmal ein Fach- und Sachkonzept vorgelegt wird, wie die bestehenden Mängel tatsächlich behoben werden können, was behoben werden muss, wie es behoben werden soll, wer es beheben soll und was es kostet, damit wir einen Zeitplan haben und endlich wissen, wann die gravierenden Fehler behoben werden. In der Anteilseignergesellschaft einigt man sich natürlich auf eine Struktur. Da gibt es Dinge, die man durchsetzen kann, und Dinge, die man nicht durchsetzen kann. Ich sage ganz offen: Ich bedaure, dass Herr Platzeck jetzt zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates gewählt worden ist. Er hat an den Fehlern in der Vergangenheit genauso wie Herr Wowereit federführend mitgewirkt und trägt dafür Verantwortung. Deswegen hätte er meine Stimme im Aufsichtsrat nicht erhalten. ({2}) Ich denke, das ist eine klassische Fehlbesetzung. Ich will das auch begründen: ({3}) Wenn jetzt auf einmal eine Taskforce mit einem Staatssekretär und zig Leuten eingebunden wird, dann frage ich mich, warum Herr Platzeck diese Taskforce nicht schon letztes Jahr eingesetzt hat. ({4}) Das wäre eine Chance gewesen, schneller voranzukommen und ein bisschen weg von der Politik zu kommen. Durch etwas mehr Fach- und Sachkompetenz wäre die Arbeit besser geworden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es muss jetzt weitergehen. Deswegen hoffe ich, dass diejenigen, die im Aufsichtsrat sitzen bzw. jetzt neu bestellt werden, sich die Strukturen noch einmal anschauen. Ich glaube, es ist jedem klar, dass der Betrieb in Schönefeld und der Betrieb in Tegel weitergeführt werden müssen. Es ist durchaus möglich, dass in Tegel optimiert werden muss, ({5}) damit die Zahl der Passagiere, die in Berlin - Gott sei Dank - regelmäßig weiter steigt, tatsächlich abgewickelt werden kann. Deswegen sollte auch darüber nachgedacht werden, wie in der Geschäftsführung selbst die Verantwortung für den Neubau bzw. für den Teil, der abgearbeitet werden muss, einerseits und die laufenden Geschäfte besonders in Tegel andererseits aufgeteilt werden kann. Ich glaube, dass die Geschäftsführung gut beraten ist, wenn sie entsprechende Struktur- und Organisationsvorschläge in den Aufsichtsrat einbringt, sodass diese dort diskutiert werden können. Ich denke, dass das Großprojekt BER nur dann tatsächlich zu Ende geführt werden kann, wenn jetzt mit Sach- und Fachverstand an die Sache gegangen wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke und da bin ich derselben Meinung wie die CDU/CSUund FDP-Mitglieder des Haushaltsausschusses -, dass weitere Gelder erst dann fließen können, wenn schlüssige Konzepte vorliegen. ({6}) Alles andere wäre der Bevölkerung nicht zuzumuten und ließe sich auch nicht erklären. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Peter Wichtel. - Als Nächster für die Fraktion der Sozialdemokraten: unser Kollege Sören Bartol. Bitte schön, Kollege Sören Bartol. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben beim Flughafen BER ein Desaster, das bei allen Beteiligten, auch bei uns, viele Fragen aufwirft. Zu Recht fragen viele Bürgerinnen und Bürger danach, wer bei diesem Projekt welche Verantwortung hat und ob wir überhaupt in der Lage sind, den Bau eines neuen Flughafens zu beaufsichtigen. Wir alle, lieber Kollege Wichtel, müssen partei- und fraktionsübergreifend unsere Lehren ziehen, um in Zukunft nicht die gleichen Fehler noch einmal zu machen. ({0}) Dazu braucht es Haltung, dazu gehört, dass Politiker auch zu ihrer Verantwortung stehen. Klaus Wowereit und Matthias Platzeck haben das getan. ({1}) Sie haben sich einem Vertrauensvotum ihrer Parlamente gestellt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Bundesverkehrsminister Ramsauer zeigt im Gegensatz dazu überhaupt null Haltung. ({3}) Er versteckt sich hinter seinem Staatssekretär Rainer Bomba und verweist darauf, dass der Bund bei BER lediglich Minderheitsgesellschafter ist. Von Bundesverkehrsminister Ramsauer habe ich bisher kein einziges Wort der Selbstkritik gehört. Das spricht doch für sich, vor allem sein Verhalten eben in der Fragestunde. ({4}) Wir haben in der Fragestunde erlebt, wie die Bundesregierung und die schwarz-gelbe Koalition mit der aktuellen Situation beim Bau des neuen Flughafens umgehen. Sie schlagen sich immer gerne in die Büsche, ({5}) wenn es darauf ankommt, und versuchen noch, die Situation rein parteipolitisch auszuschlachten. Die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP messen bei der Aufklärung mit zweierlei Maß. Im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat die Koalition erst eine Sondersitzung zum Thema BER beantragt, dann wurde sie von der Teilnahme ihres eigenen Bundesverkehrsministers überrascht und erteilte Herrn Ramsauer ein Redeverbot, indem sie die Sitzung einfach ohne Debatte wieder beendete. ({6}) Damit verhinderten die Koalitionsfraktionen, dass sich der Minister zu den Vorwürfen, dass er bereits im Dezember 2012 von einer Verschiebung des Termins wusste, entsprechenden Nachfragen stellen musste. Wenn es gegen die beiden Ministerpräsidenten Wowereit und Platzeck geht, sind Sie sehr schnell dabei, aufklären zu wollen. Wenn Ihre eigenen Minister in der Kritik stehen, dann verhindern Sie, dass überhaupt nur darüber gesprochen wird. Sehr geehrte Damen und Herren, Flughäfen von der Größe des neuen Flughafens BER sind von nationaler Bedeutung. Ich erwarte daher, dass sich der Bundesverkehrsminister aktiv um den Bau des neuen Flughafens BER kümmert. Die Länder Berlin und Brandenburg können sich jedoch nicht auf die Unterstützung der Bundesregierung verlassen. In der Öffentlichkeit wird falsch gespielt: Interne Unterlagen aus dem Aufsichtsrat werden „durchgestochen“, aus internen, vertraulichen Sitzungen wird an Journalisten berichtet, und es wird, wie wir heute in der Fragestunde gehört haben, ohnehin nur mit Journalisten geredet. Als der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit am 7. Januar 2013 im Kreise der Gesellschafter seinen Rücktritt als Vorsitzender des Aufsichtsrates anbot, verweigerte die Bundesregierung, Verantwortung zu übernehmen, und wies das angebotene Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden zurück. Umso schäbiger ist es, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Kompetenz von Ministerpräsident Matthias Platzeck am folgenden Tag infrage stellte. ({7}) Auch Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer signalisierte in Wildbad Kreuth zunächst Unterstützung für Ministerpräsident Platzeck. Inzwischen verweist er bei dieser Frage auf den geringen Einfluss, den er als Minderheitsgesellschafter bei der Wahl des neuen Aufsichtsratsvorsitzenden habe. Ich persönlich halte die Debatte über die Besetzung von Aufsichtsräten bei Unternehmen im Besitz der öffentlichen Hand für hochgefährlich. ({8}) Unabhängig von einigen unflätigen Angriffen von einzelnen Koalitionsabgeordneten, die gestandene Ministerpräsidenten als „Pfeifen“ bezeichnen - ich finde, hierfür fehlt immer noch eine Entschuldigung -, stelle ich die Frage: Welche Fachleute sind denn eigentlich gemeint? ({9}) Geht es um die Vertreter der Wirtschaft, wie zum Beispiel das Unternehmen Hochtief, das bei der Hamburger Elbphilharmonie gezeigt hat, wie „groß“ die Fachkompetenz ist, oder geht es um die Vertreter von Banken und Finanzinstituten, deren Aufsichtsräte das große Gezocke mit dem Geld der kleinen Sparerinnen und Sparer überhaupt erst zugelassen haben? ({10}) Ich empfinde es in einer Demokratie als eine Selbstverständlichkeit, dass demokratisch legitimierte Vertreter einer Regierung bei Unternehmen, die sich im öffentlichen Besitz befinden, die demokratische Kontrolle wahrnehmen. ({11}) Die Kompetenz dafür ist ihnen von den Wählerinnen und Wählern auch zugesprochen worden. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss und zitiere: Der Flughafen soll schnellstmöglich fertiggestellt und eröffnet werden. Alle dazu erforderlichen Entscheidungen im Aufsichtsrat sollen einvernehmlich getroffen werden. Es ist im gesamtstaatlichen Interesse, das Flughafenprojekt erfolgreich zu Ende zu bringen. Das ist der Wortlaut der gemeinsamen Erklärung der Gesellschafter des Flughafens BER, die auch Minister Ramsauer und Minister Schäuble am 9. Januar 2013 veröffentlicht haben. Lieber Herr Bundesminister, nach Ihrem heutigen Auftritt hoffe ich, dass Sie sich in Zukunft daran erinnern werden, das dauernde Über-Bande-Spielen beenden und sich endlich Ihrer Aufgabe als Bundesverkehrsminister stellen, dieses Großprojekt zu einem guten Ende zu bringen. Vielen Dank. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Sören Bartol. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Dr. Martin Lindner. Bitte schön, Kollege Dr. Martin Lindner. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Gestatten Sie mir, in dieser Debatte zwei einleitende Bemerkungen zu machen: Erstens. Ich glaube, wir alle - das meine ich parteiübergreifend - müssen uns einmal genau über das Thema „Bauen der öffentlichen Hand“ unterhalten, ({0}) weil hier ständig, konsekutiv, immer wieder dieselben Fehler auftreten, die immer wieder auf ähnliche Weise virulent werden: ({1}) Der erste Fehler ist, dass die Dinge heruntergerechnet werden, damit man sie durch den jeweiligen Gemeinderat, den Hauptausschuss und den Haushaltsausschuss bringen und die Öffentlichkeit davon überzeugen kann. Dann kommt der zweite Fehler: Um einigermaßen da zu landen, wo man es zunächst falsch projiziert hatte, wird billigst vergeben. Nicht der Beste, nicht der Qualifizierte, sondern der Billigste wird genommen, und dann kommen die Folgefehler. Der eine oder andere schafft es nicht, das zu halten. Dann müssen Nachaufträge vergeben werden, und wir landen immer in so einem elenden Desaster, was für unser internationales Ansehen mittlerweile verheerend ist. Hier hatten wir speziell die Frage der EU-weiten Ausschreibung. Ich sage nicht, dass eine Ausschreibung eines Generalunternehmers immer zwingend ist. Es kann in Unternehmen Bauexpertise vorhanden sein, beispielsweise bei Wohnungsbaugesellschaften, bei großen Energieversorgungsunternehmen, die laufend Kraftwerke bauen. Aber eine Flughafengesellschaft - wie oft baut die denn einen Flughafen? Alle hundert Jahre vielleicht einmal. Deswegen wäre es zwingend gewesen, hier beispielsweise einen Generalunternehmer zu beauftragen. ({2}) - An der Stelle der SPD würde ich hier ein bisschen herunterflammen. Aber dazu komme ich gleich. ({3}) Meine zweite Bemerkung: Politiker im Aufsichtsrat. Ich glaube, hier dürfen wir in der Tat - das war eines der wenigen Dinge, die mein Vorredner richtig analysiert hat - nicht grundsätzlich sagen, dass Politiker nicht geeignete Aufsichtsräte sind. Ich glaube, dass es an der einen oder anderen Stelle eine strukturelle Interessenkollision geben kann, weil man als Aufsichtsrat die mikroökonomischen Belange des Unternehmens zu beachten hat, aber als Minister oder Senator die Belange der Allgemeinheit. Das kann beispielsweise bei Verkehrsgesellschaften zu einer Kollision führen. Aber hier hatten wir diese Kollision nicht. Hier hatten wir ein gleichgerichtetes Interesse des Senators, des Ministers, des Regierenden Bürgermeisters und der Flughafengesellschaft an zügiger, pünktlicher und ordnungsgemäßer Realisierung dieses Bauvorhabens. Da kommt der Aufsichtsratsvorsitzende ins Spiel, und der hat an der Stelle jämmerlich und kläglich versagt. ({4}) Das hatte nichts mit Kollision zu tun, das hatte auch nichts mit einem Vorfeld zu tun. Das wird aus einem Schreiben vom 18. Dezember, das er an mich richten ließ, überdeutlich. Ich hatte ihm geschrieben, er soll einmal zur Umsetzung des brandenburgischen CorporateGovernance-Kodex Stellung nehmen. Da lässt er mir wie folgt antworten - ich zitiere aus dem Schreiben des Regierenden Bürgermeisters vom 18. Dezember -: So wurde - schreibt er der Aufsichtsratsvorsitzende von der Geschäftsführung auch über die Notwendigkeit sogenannter Endspurtmaßnahmen zur Realisierung des Eröffnungstermins am 03.06.2012 informiert, die vom Aufsichtsrat in seiner Sitzung am 20.04.2012 beschlossen wurden. Zur Eröffnung des Berliner Flughafens habe ich am 4. April 2012 eine Einladung bekommen, und jetzt schreibt mir der Regierende Bürgermeister, dass am 20.04. Endspurtmaßnahmen beschlossen wurden, Dr. Martin Lindner ({5}) ({6}) die in den gerade einmal zwei Wochen vor der Eröffnung - zwei Wochen! - realisiert werden sollten. Das ist so, als wenn ein Marathonläufer, der schon 42 Kilometer hinter sich hat, erklären würde, er hätte irgendwie zweieinhalb Meter vor dem Einlaufen den Endspurt eingeleitet. Leute, das ist doch das Versagen! Vor einem Jahr - wenn in dem Schreiben „2011“ stünde - wäre der Zeitpunkt für Endspurtmaßnahmen, für Nachfragen und so weiter gewesen. Aber er schickt erst einmal Hochglanzeinladungen und redet dann von Endspurtmaßnahmen. ({7}) Das ist ein absolutes Versagen des Vorsitzenden dieses Aufsichtsrats, absolut. ({8}) Das nächste Versagen war es, neue Termine anzusetzen - ohne Fundament. ({9}) Damit hat er nicht nur diesen Flughafen und diese Stadt, sondern dieses ganze Land der Lächerlichkeit preisgegeben. Das ist vor allen Dingen sein Versagen. ({10}) Es ist natürlich der Aufsichtsratsvorsitzende, der da gefragt ist. Er ist derjenige, der die Sitzungen einberuft. Er ist derjenige, der auch spezielle Maßnahmen ergreifen könnte. ({11}) Darauf mit einer Rochade nach Moskauer Art zu antworten, ist doch lächerlich. ({12}) Er muss als Regierender Bürgermeister zurücktreten, wenn er Verantwortung übernimmt. Das ist die entscheidende Frage. ({13}) Es geht doch hier nicht um so ein komisches Medwedew/Putin-Getue. Der einzige Unterschied ist, dass die zwei wenigstens Treiber waren; die anderen zwei, Platzeck und Wowereit, sind Getriebene. ({14}) Und Sie wollen das Land regieren! ({15}) Ich stelle sie einmal in folgende Reihe: Ude kriegt die dritte Startbahn nicht hin, Beck hat beim Nürburgring versagt, der Scholz mit der Elbphilharmonie. ({16}) Sie können es nicht; Sie können es so gar nicht. Sie können auch das ganze Land nicht regieren. ({17}) Das ist doch das Entscheidende. Dann stellen Sie sich hier hin und blasen die Backen auf. Nach diesem Desaster versuchen Sie jetzt, den Bundesverkehrsminister anzugreifen. ({18}) An Ihrer Stelle würde ich einmal ganz still vor der eigenen Tür kehren und überlegen, warum Sie es auf keiner Ebene schaffen. ({19}) Deswegen werden Sie zu Recht am Sonntag nicht gewählt werden. Deswegen werden Sie auch zu Recht in diesem Land keine Regierungsverantwortung übernehmen können. ({20}) Eine Partei, die es einfach nicht schafft und auf allen Ebenen versagt, die sollte sich erst einmal überlegen, wie man auf lokaler Ebene wichtige Projekte hinbekommt.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Lindner, beachten Sie das Leuchten, das das Ende Ihrer Redezeit anzeigt.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eine solche Partei sollte sich das gut überlegen, bevor sie Ansprüche auf mehr erhebt. ({0}) Herzlichen Dank. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Stefan Liebich. Bitte schön, Kollege Stefan Liebich. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich finde, wir müssen mit diesem Spiel langsam aufhören. ({0}) CDU/CSU gegen SPD und umgekehrt: Das hatten wir gestern im Haushaltsausschuss, das hatten wir vorhin in der Fragestunde, das haben wir jetzt in der Aktuellen Stunde. Ehrlich gesagt, diese Debatte interessiert außer uns hier niemanden. ({1}) Gesellschafter des Unglücksflughafens Berlin Brandenburg sind beide Länder, Berlin und Brandenburg, und der Bund gemeinsam. Alle Parteien, wie sie hier sitzen - das sage ich ganz deutlich -, verbinden mit Schönefeld ihre Geschichte. Ehe der Zwischenruf kommt: ({2}) Natürlich wir auch! Wir waren gegen den Standort Schönefeld und haben jetzt zwei Minister im Aufsichtsrat. Die CDU - der Herr Wichtel weiß das nicht; vielleicht wird ihm das Kai Wegner sagen, wenn er gleich spricht - ist Regierungspartei im Land Berlin und war Regierungspartei im Land Brandenburg. Die CSU steht mit Herrn Ramsauer in vorderster Verantwortung, die SPD mit Wowereit, Platzeck, Stolpe und Tiefensee sowieso. Auch Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben als Koalitionspartner in diversen Bundesregierungen keine weiße Weste. ({3}) Wissen Sie was? Es geht überhaupt nicht um die Frage, wer hier mehr und wer hier weniger schuld ist, ({4}) sondern letztlich geht es um die Frage, wer die Leidtragenden dieses Desasters sind. Zu denen will ich etwas sagen. ({5}) Dabei geht es zuerst um die Unternehmerinnen und Unternehmer, die auf unsere politischen Entscheidungen vertraut haben und die nun die bitteren Konsequenzen tragen müssen. Eine Bauunternehmerin aus Brandenburg hat am Sonntag in der Talkshow Günther Jauch gesagt, dass das Sterben ihrer Firma 17 Arbeitsplätze vernichtet hat. Dass diese 17 Familien und viele weitere nun einer unsicheren Zukunft entgegensehen, das ist der Skandal. Herr Lindner, es geht um Tausende Berlinerinnen und Berliner in Pankow, in Reinickendorf und in Spandau, die nicht nur noch länger, sondern auch noch intensiver unter Fluglärm zu leiden haben. Sie haben ja dort einmal kandidiert; das haben Sie sicher vergessen. Vor dreieinhalb Jahren war Herr Lindner erfolgloser Kandidat im Bezirk Pankow von Berlin. Dort sind jetzt die Lasten zu tragen. Es ist hier schon mehrfach angeklungen - ich kenne das auch aus vielen Gesprächen mit Ihnen -: Viele von Ihnen mögen den Flughafen Tegel. Der Flughafen Tegel ist so schön dicht am Bundestag, und man ist eins, zwei, drei hier. Manch einer findet ihn auch ganz schick. Aber wer in seiner Einflugschneise wohnt, der hat nichts zu lachen. Wissen Sie, was dort bis in den späten Abend und am frühen Morgen los ist? Allein im letzten Jahr hat der Flugverkehr um 10 Prozent zugenommen, und zwar wegen der Verschiebung. Das wird beim neuen Flughafen nicht besser; denn ein guter Kompromiss zwischen den Interessen der Anwohner und der Wirtschaftlichkeit ist auch hier noch nicht gefunden. Hunderttausende in Berlin und Brandenburg haben sich bei einem Volksbegehren für eine Ausweitung des Nachtflugverbots ausgesprochen. Tausende warten auf die Bewilligung ihrer Lärmschutzmaßnahmen. Aber darüber wurde hier bisher überhaupt nicht gesprochen. Dass der Nachtschlaf der Menschen in Brandenburg und Berlin den Profiten der Fluggesellschaften geopfert wird, ist ein Skandal. ({6}) Schließlich geht es auch um die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die die Kosten zu tragen haben. 1,7 Milliarden Euro sollte der Flughafen einmal kosten. Inzwischen sind wir bei 4,3 Milliarden Euro. Auch diese werden nicht reichen. Jeder Monat Verzug kostet 15 Millionen Euro. Davon könnten 25 000 Kitaplätze finanziert werden. Dort wäre das Geld besser angelegt. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte jetzt an der Zeit für einen wirklichen Neuanfang sein: offen, transparent, selbstkritisch. Ich stimme Herrn Bartol und überraschenderweise ein kleines bisschen auch Herrn Lindner zu: Nichts wird besser, wenn sich der Staat zurückzieht und die berühmten Experten aus der Wirtschaft alles in die Hand nehmen. - Ich war ein wenig über die Position von Bündnis 90/Die Grünen überrascht. Vielleicht kann Herr Hofreiter noch etwas dazu sagen. Ich habe nichts gegen Experten, aber es sollen doch hoffentlich keine Experten sein, die niemandem verantwortlich und durch keine Wahl legitimiert sind. Wir sollten nicht den Bock zum Gärtner machen. ({8}) Verantwortung hat man nicht nur, wenn es Erfolge zu feiern gibt, sondern auch dann, wenn etwas gewaltig schiefgeht, so wie jetzt. Dieser Verantwortung müssen wir uns alle stellen und nun aber auch gemeinsam im Aufsichtsrat einen Neuanfang wagen. Dann sollte man auch damit aufhören, darüber zu debattieren, wer dort aus welcher Partei kommt. Danke schön. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Stefan Liebich. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Kai Wegner. Bitte schön, Kollege Kai Wegner. ({0})

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bartol, ich finde es gut, dass wir heute diese Debatte führen. Ich finde es richtig, dass wir im Deutschen Bundestag an dem Tag, an dem der Aufsichtsrat wichtige Entscheidungen getroffen hat, über die Lage am künftigen Flughafen BER sprechen. Aber, Herr Bartol, ich fand die Art und Weise Ihrer Rede völlig daneben. ({0}) Wer mit dem Finger auf andere zeigt, muss sich nicht wundern, wenn viele Finger auf ihn zurückzeigen. Der Bund übernimmt Verantwortung für den Großflughafen. Der Bund hat heute durchgesetzt - das will ich an dieser Stelle deutlich sagen -, dass der völlig überforderte Geschäftsführer Schwarz endlich in die Wüste geschickt wurde, Herr Bartol. ({1}) Wenn der Bund das nicht gemacht hätte, und wenn auch der Koalitionspartner in Berlin das nicht gefordert hätte, bin ich mir nicht sicher, ob das heute passiert wäre. Diese Entscheidung kommt viel zu spät, Herr Bartol, und das liegt, mit Verlaub, nicht am Bund. ({2}) Ja, die Lage am Großflughafen Schönefeld ist alles andere als gut. Ich will nichts beschönigen, und ich finde, man kann auch nichts beschönigen. Ja, es sind in den letzten Jahren schwere Fehler begangen worden. Aber, meine Damen und Herren, das haben wir hier im Hause häufig diskutiert, und wir waren uns, glaube ich, fast immer alle einig: Wer wirklich überfordert war und das immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, war der Geschäftsführer. ({3}) Deshalb ist es richtig, dass heute diese Entscheidung getroffen wurde. Herr Liebich, über Ihre Rede bin ich erfreut. Das will ich gerne sagen. Ich hatte gedacht, Sie wollen sich Ihrer Verantwortung entziehen, obwohl Sie zehn Jahre in Berlin mit Ihrem Wirtschaftssenator im Aufsichtsrat Mitverantwortung getragen haben. Das haben Sie nicht getan. Das finde ich ausgesprochen gut. In der Tat, Sie haben recht: Wir sind in Berlin in der Regierung, und wir haben auch einen Sitz im Aufsichtsrat. Aber seien Sie sich sicher, dass wir nicht so handeln werden, wie Sie es über zehn Jahre gemacht haben, sodass Sie dieses Planungsdesaster mit zu verantworten haben. ({4}) Vielmehr werden wir jetzt alles daransetzen, ({5}) gemeinsam mit dem Gesellschafter Bund aufzuräumen, wo vieles schiefgelaufen ist, und dieses Projekt zum Erfolg führen. ({6}) Dass die Linke im Gegensatz zu Ihnen, Herr Liebich, der jetzt Mitverantwortung übernommen und das auch gesagt hat, die Verantwortung scheut und sich vor der Verantwortung drückt, zeigt heute Ihr Genosse Christoffers. Er ist vom Vorsitz des Projektausschusses zurückgetreten. Das ist zu begrüßen, wenn Sie mich fragen, weil es noch einmal den Beleg bringt, dass die Bundesregierung Verantwortung für dieses Projekt übernimmt. Denn Staatssekretär Bomba wird den Vorsitz übernehmen, und er wird es allemal besser machen, meine Damen und Herren. Vielen Dank, lieber Herr Minister und auch Herr Staatsekretär. ({7}) Worum geht es jetzt? Es geht in der Tat darum, aufzuräumen. Es geht darum, nichts zu beschönigen, Fehler zu benennen, wo sie in den letzten Monaten, ja Jahren passiert sind, und aufzuklären und dann das Projekt endlich zum Erfolg zu führen. Das geht nicht ohne personelle Konsequenzen. Das kann auch nicht nur bei Herrn Schwarz enden. Die Geschäftsführung muss weiter mit Fachverstand besetzt werden. Im Übrigen würde angesichts der Kontrollfunktion des Aufsichtsrats auch im Aufsichtsrat ein bisschen Expertise sicherlich nicht schaden. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass endlich eine transparente und ehrliche Informationspolitik betrieben wird, die es in den letzten Jahren unter Herrn Schwarz leider auch nicht gab. ({8}) Ich hoffe übrigens sehr, dass das, was von den Koalitionsfraktionen im Bund beschlossen wurde, umgesetzt wird. Ich hoffe auch, dass wir alles daransetzen werden, dass eine Abfindungszahlung für Herrn Schwarz nicht zustande kommt. ({9}) Es versteht kein Mensch auf den Straßen, wenn dieser Mann, der viele Fehler gemacht hat und der das Desaster zu verantworten hat, noch mit einer Millionenabfindung belohnt wird. Dieses Geld sollten wir lieber den Geschädigten geben, den kleinen Unternehmen, den Mittelständlern, die jetzt in eine prekäre Situation kommen und die teilweise kurz vor der Insolvenz stehen, ({10}) weil sie sich auf etwas verlassen haben, was jetzt nicht eingehalten wird. Deswegen steht Herrn Schwarz keine Abfindung zu. ({11}) Auch zu den Grünen will ich noch einen Satz sagen. Wenn es um Infrastrukturprojekte geht, wäre ich bei den Grünen ein bisschen vorsichtig. Ich kann mich noch gut erinnern, dass Frau Künast im Wahlkampf durch die Stadt Berlin gerannt ist und gesagt hat: Wir brauchen eigentlich gar keinen Großflughafen und erst recht kein Drehkreuz. Ein Regionalflughafen tut es auch. ({12}) Ich sage Ihnen: Die Grünen stehen nicht zwingend für große Infrastrukturprojekte. Sie stehen eher für Verkehrsinfrastrukturverhinderungspolitik. ({13}) Deswegen ist es besser, wenn Sie sich bei diesen Themen ein Stück weit zurückhalten. Lassen Sie uns gemeinsam die Fehler der letzten Jahre aufklären! Lassen Sie uns die Fehler benennen! Lassen Sie uns aufräumen, wo es in den letzten Jahren nicht funktioniert hat! ({14}) Lassen Sie uns dafür sorgen, dass diese traurige Geschichte, dass dieses Planungsdesaster im Zusammenhang mit dem Großflughafen Berlin nicht im Nachhinein - ich erinnere an die Kapazitätszahlen - noch zu einem Betriebsdesaster führt!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie uns dafür sorgen, dass dieses Projekt eine Erfolgsgeschichte wird, eine verspätete Erfolgsgeschichte für Berlin, eine Erfolgsgeschichte für die Hauptstadtregion, aber auch eine Erfolgsgeschichte für unser Land. Ich bin sehr dankbar, Herr Verkehrsminister, dass Sie klar Position zugunsten dieses Flughafens beziehen. Grundvoraussetzung für eine Erfolgsgeschichte ist, dass sich alle drei Gesellschafter zu diesem Projekt bekennen. Sie tun das. Bitte machen Sie weiter so, auch bei der Aufklärung. Herzlichen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das war ein schöner Schlusssatz. - Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin Frau Kirsten Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Verkehrsminister Ramsauer hat ein erstaunliches Talent dafür, sich bei unangenehmen Dingen für unzuständig zu erklären. Dabei sind die Fakten eindeutig: Neben den jeweils 37 Prozent, die Berlin und Brandenburg an der Flughafengesellschaft halten, gibt es noch die 26 Prozent des Bundes. Das ist natürlich keine Mehrheit, man kann damit auch nicht im Alleingang die große Linie bestimmen. Aber es ist auch deutlich zu viel, um „Herrn Ahnungslos“ und die Unschuld aus Bayern spielen zu können. Das haben heute die Nürnberger Nachrichten auf die Antworten zu sagen, die Herr Ramsauer gestern der Presse gegeben hat und aus denen wir - das hat er uns eben in der Fragestunde deutlich gemacht - unsere Informationen hätten ziehen sollen. Herr Ahnungslos und die Unschuld aus Bayern! Gestern Abend fragte Markus Lanz einen Gast aus der Regierungskoalition: Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie ihr von der CDU/CSU es schafft, den Ramsauer herauszuhalten. - Ich kann es Ihnen sagen, Herr Lanz: Wenn man seine gesamte Energie dafür verwendet, mediale Nebelkerzen zu werfen, anstatt sich der Lösung des Problems zuzuwenden, ist das ganz einfach. Dabei hätte diese Regierung jede Menge Möglichkeiten gehabt, sich der Lösung des Problems zu widmen. Sie selbst haben dafür eine Sonderkommission eingerichtet. Wenn wir uns aber anschauen, was diese Sonderkommission in den letzten Monaten getan hat, stellen wir fest: Sie hat sich über den Fortgang der Bauarbeiten und die Kapazitäten in Tegel berichten lassen. Nach jeder Sitzung hat sie festgestellt: Es läuft. - Danke schön! Wir hätten mehr erwartet. Wir hätten erwartet, dass sie sich aktiv an der Bewältigung der Probleme beteiligt. Eines der Probleme ist - darüber wurde heute noch gar nicht geredet; das ist ein Problem, dessen Lösung in alleiniger Verantwortung der Bundesregierung liegt - der Regierungsflughafen. Hier ist man deutlich im Verzug, und auch hier gibt es massive Probleme, die wir noch gar nicht besprochen haben. Herr Minister, hören Sie mit den Ablenkungsfütterungen und damit auf, den Eindruck zu erzeugen, dass wir nicht handeln. Wir sollten uns vielmehr gemeinsam wieder den Problemen zuwenden. Matthias Platzeck hat damit begonnen; er hat nämlich keinen neuen Termin für die Eröffnung gesetzt. Er hat den politischen Druck herausgenommen. Er hat gesagt: Lasst uns erst einmal planen! Lasst uns das angucken! Dann werden wir in Ruhe weitersehen. Über die Verantwortlichkeit für Fehler der Vergangenheit wurde heute schon sehr viel geredet. Zu der Verantwortlichkeit für Fehler der Vergangenheit gibt es erste Gerichtsverfahren, meine Herren und Damen. Die können wir erst einmal abwarten. Es ist nicht hilfreich, wenn wir andauernd Ausschusssitzungen haben, in denen uns die Regierung gebetsmühlenartig erzählt: Alle anderen sind schuld, nur wir nicht. - Es hilft auch nicht, wenn in diesen Sitzungen eine Beratungsgesellschaft vortragen und uns bei der Aufklärung helfen soll, die gleichzeitig die Flughafengesellschaft und damit ja wohl auch uns selber verklagt. ({0}) Was soll mir jemand, der gegen mich klagt, bei der Aufklärung irgendeines Sachverhaltes helfen? Das leuchtet mir nicht ein, und das scheint deutlich widersinnig zu sein. Aber, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, lassen Sie uns einmal über einen Flughafen reden, der in Betrieb ist, wo Hunderte von Menschen arbeiten, nämlich über den Flughafen Tegel; er ist heute schon einmal angesprochen worden. Auf eine entsprechende Frage in der Fragestunde hat der Staatssekretär Mücke ganz locker gesagt: Na ja, Geschäftsführer hin oder her, die machen alle ihre Arbeit; Tegel läuft schon. - Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, wie die Situation der Beschäftigten und der Passagiere in Tegel inzwischen ist: Seit 2010 wird jegliche bauliche Maßnahme zur Verbesserung der Arbeitssituation der Beschäftigten dort nicht angegangen mit der Begründung: Na ja, in sechs Monaten seid ihr hier sowieso weg. ({1}) Wir haben inzwischen die Situation, dass die Passagierzahlen im letzten Jahr überproportional um 8 Prozent auf 18 Millionen gesteigert worden sind. Die Fluglinien sagen: Die Technik funktioniere nicht. Die Anwohner werden von zusätzlichem Lärm belästigt. Die Beschäftigten sagen: Wir haben keine vernünftigen Arbeitsplätze. Die Anlagen für die Kontrolle des Gepäcks funktionieren nicht mehr. Das Sicherheitspersonal kann seine Arbeit nicht mehr machen. Ich denke, hierum sollten wir uns einmal kümmern. Das erwarten die Menschen von uns. Es kommen zusätzliche Probleme auf uns zu. Ab März wird die Luftfahrtkontrolle verändert sein. Ab 2014 wird es Flüssigkeitskontrollen geben. Das sind Probleme, die wir jetzt angehen müssen. Das erwarten die Leute von uns. Fazit ist: Großprojekte brauchen Offenheit. Wenn wir etwas aus der Flughafenfrage gelernt haben, dann ist es dieses: Wir sollten uns darum kümmern, neue Regeln für Großprojekte zu schaffen. ({2}) Die SPD hat das in einem Antrag getan. Dieser Antrag wurde heute im Fachausschuss beraten. Die Regierung hat sich verweigert, sich dieses Problems anzunehmen. Das gilt auch für das Problem der Flugrouten; ich verweise auf die Diskussion mit der EU-Kommission. Wir haben schon im März letzten Jahres dafür Lösungen gehabt. Sie verweigern sich diesen Lösungen. Das ist nicht das, was die Menschen von uns erwarten. Die Menschen erwarten von uns, dass wir ihre Probleme lösen. Lassen Sie uns endlich damit anfangen. Danke schön. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Kirsten Lühmann. Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Oliver Luksic. Bitte schön, Kollege Oliver Luksic. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Hauptstadtflughafen entwickelt sich zu einem Fass ohne Boden. Wir brauchen jetzt ein fachkundiges Management, einen kompetenten Aufsichtsrat. Wir müssen jetzt über die Ursachen reden, über das Problem der kollektiven Verantwortungslosigkeit, damit die Weichen neu gestellt werden können. Wir haben es mit eklatanten Planungsfehlern, Planungslücken, Überschreitung der Bauzeit und der Baukosten zu tun. Der frühere Architekt hat Bilanz gezogen und gesagt, ständige Umbauwünsche hätten den Bauablauf regelrecht zerschossen. Auf Drängen der Politik gab es knapp 300 Planänderungsanträge, eine fortdauernde Behinderung der eigenen Baustelle. Man habe mit Halbwahrheiten und unrealistischen Vorgaben gearbeitet. Lieber Kollege Bartol, beide betroffenen Länder waren SPDregiert, als diese Planänderungen ausgeführt wurden. Im Bund war Herr Tiefensee der zuständige Verkehrsminister. Er hat immer die Rückendeckung von Wowereit gehabt. Hören Sie also auf, sich ständig aus der Verantwortung herauszureden. ({0}) Das Credo lautete nämlich: Man baut einen Flughafen, koste es, was es wolle. - Jetzt haben wir schon die fünfte Verschiebung des Eröffnungsdatums in zwei Jahren. Das Kernproblem ist - wir haben es eben in der Fragestunde noch einmal gehört - die Entrauchungsanlage. Auch die wurde damals noch unter der Verantwortung von zwei SPD-regierten Ländern und von einem Verkehrsminister Tiefensee gebaut. Das Problem ist, dass da Ästhetik vor Funktionalität kam. Wie kann man denn auf die Idee kommen, eine Brandschutzanlage zu bauen, bei der der Rauch nach unten abgesogen werden soll? Man muss wirklich kein Ingenieur sein, um zu verstehen, dass das nicht geht. Aber diese Entscheidungen sind damals unter einer anderen Regie gefallen. Deswegen sind all Ihre Versuche, die Verantwortung immer zu Minister Ramsauer zu schieben, völlig fehl am Platze. ({1}) Daran war auch noch Herr Tiefensee beteiligt, der übrigens auch in der damaligen Regierung unter Beteiligung von Rot-Grün saß, Frau Künast. ({2}) Damals war auch die SPD im Bund im Aufsichtsrat. Ein weiterer Fehler war leider auch ein nicht vorhandener Generalunternehmer; denn es hat an Kontrolle und an Kommunikation auf der Baustelle gemangelt. Es gab kollektive Verantwortungslosigkeit. Das wurde jahrelang gedeckt durch die Herren Wowereit, Platzeck und Schwarz. Selbst die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung diskutiert ja nun darüber, den Namen „Brandt“ nicht mit dem Flughafen in Verbindung zu bringen. Ich glaube, dies sollte der SPD wirklich zu denken geben. Ich glaube, ein solches Denkmal hat Willy Brandt nun wirklich nicht verdient. ({3}) Ich glaube, die nicht endende Verantwortungslosigkeit ist nicht länger hinnehmbar. Auch die Rochade im Aufsichtsrat können wir als FDP-Fraktion nicht gutheißen, weil hier der Bock zum Gärtner gemacht wurde. Gerade Ministerpräsident Platzeck und seine brandenburgischen Genehmigungsbehörden haben sich auch nicht mit Ruhm bekleckert. ({4}) Deswegen meinen wir, die Spitze des Aufsichtsrates sollte mit einem unabhängigen Experten aus der Wirtschaft besetzt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich habe von Ihnen nichts gehört zu der Frage, warum Herr Wowereit und Herr Platzeck gestern nicht zur Sitzung des Haushaltsausschusses erschienen sind. Übrigens sind die Vertreter der entsprechenden Länder auf der Bundesratsbank bei solchen Themen auch nur selten präsent. Herr Platzeck will am nächsten Tag zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats gewählt werden, auch vom Bund, und kommt nicht in den zuständigen Ausschuss. ({5}) Herr Wowereit hat dreimal die Einladung von Toni Hofreiter ausgeschlagen, in den Verkehrsausschuss zu kommen. Er hat auch die letzte Einladung wieder ausgeschlagen. Das ist der eigentliche Skandal. Also hören Sie mal damit auf, hier immer wieder den Bundesverkehrsminister anzusprechen. ({6}) Katastrophale Informationspolitik, ständiges Verschieben von Terminen, falsche Fakten! Dafür muss der Regierende Bürgermeister die Verantwortung tragen. Außerdem gilt: Wer nicht Aufsichtsratschef sein kann, der kann auch keine Millionenmetropole regieren. Das ist unsere feste Überzeugung. Immerhin - da gebe ich Ihnen recht - hat Herr Platzeck den Mut gehabt, sich den öffentlichen Fragen zu stellen. Das war gut und richtig. Allerdings bin ich der festen Überzeugung: Wir brauchen jemanden, der das Fulltime machen kann, und nicht einen Regierungschef, der sich damit so nebenbei beschäftigt. Zum Thema Geschäftsführung: Es trifft zu, dass es der Bund war und nicht die SPD-regierten Länder Berlin und Brandenburg, die immer wieder darauf gepocht haben, dass Herr Schwarz entlassen werden muss. Peter Ramsauer ist dieses Thema immer wieder angegangen. Das war dringend notwendig; denn es kann nicht sein, dass zahlreiche kleine Unternehmen in Insolvenz gehen, ({7}) in eine Existenzkrise geraten, während andere jetzt noch den goldenen Handschlag bekommen. Das ist für unsere Fraktion wirklich nicht hinnehmbar. ({8}) Das Parlament weiß bis heute nicht, wie der aktuelle Stand aussieht. Deshalb erwarte ich, dass jetzt eine abschließende und möglichst umfassende Mängelliste vorgelegt wird. Ein Weiter-so kann es auch in der Informationspolitik nicht geben. Wir brauchen ein fachkundiges Management und vor allem endlich auch einen kompetenten Aufsichtsrat. Das ist die Erwartung, die wir haben, damit es endlich vorangeht beim Flughafen Berlin Brandenburg. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Oliver Luksic. - Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Anton Hofreiter. Bitte schön, Kollege Dr. Anton Hofreiter.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede von unserem Kollegen Wegner aus Berlin hat das Problem zum Teil deutlich gemacht. Er hat gefordert, dass sich alle Beteiligten zum Projekt bekennen müssen, und hat es als Verhinderungstaktik dargestellt, wenn man kritische Nachfragen stellt. Das ist letztendlich das zentrale Problem. Ein Großprojekt wird nicht dadurch gebaut, dass man sagt: „Ich will es haben“, sondern dadurch, dass man es richtig managt, sich darum kümmert, vernünftige Zeitpläne aufstellt und vernünftige Finanzpläne aufstellt. Dazu gehört eben auch kritisches Nachfragen und nicht einfach nur die Aussage: „Ich bekenne mich dazu.“ ({0}) Es ist zu simpel, zu einfach, und es ist die Art und Weise, wie Sie immer wieder Großprojekte durchsetzen. Das hier ist ja nicht das einzige, das scheitert. Was ist hier alles schiefgegangen? Der erste Problemkomplex ist: Man hat sich ein extrem kompliziertes Terminal mit hohen ästhetischen Standards gewünscht. Das heißt, alle Rohre sollten unterflur sein; man sollte unterflur entrauchen. Dann hat man Unmengen Umplanungen durchgeführt, während das Ganze schon im Bau war, gleichzeitig aber den Zeitplan nicht angepasst. Das musste ins Desaster führen. Der nächste Problemkomplex ist, wie man mit kritischen Nachfragen und mit der Öffentlichkeit umgegangen ist. Noch in der Aufsichtsratssitzung im April, kurz vor der geplanten Eröffnung, hat man Endspurtmaßnahmen beschlossen; das ist richtig dargestellt worden. Das Problem ist nur: Es ist von einem Vertreter der Regierungskoalition anklagend dargestellt worden, obwohl die Bundesregierung voll und ganz mit dabei war. ({1}) Neben dieser katastrophalen Kommunikationsstrategie hat man, als dann im Mai alles abgesagt war, am 16. Mai einvernehmlich entschieden: Wir schmeißen die Planer raus. - Irgendwer musste ja der Sündenbock sein. Man hat so getan - alle drei wieder einvernehmlich -, als wenn man das Ganze im Griff hätte, und man wollte Tatkraft zeigen. Nach allem, was ich inzwischen weiß, dachte man: Man schmeißt den technischen Leiter des Flughafens und auch ein paar Architekten raus. Dieser glorreiche Aufsichtsrat, in völliger Unkenntnis dessen, was er treibt, hat den Vertrag mit der pg bbi gekündigt. Was war die Folge davon? Die Folge davon war: Alle Planer, bis zum kleinsten Fachplaner, waren von einem Tag auf den anderen ihren Job los. ({2}) Was bedeutet das? Man hat von einem Tag auf den anderen auf einer Baustelle, die falsch gemanagt war, die große Terminprobleme hatte und die aufgrund des von der Politik - wieder von allen drei Beteiligten - künstlich erzeugten Zeitdrucks unter riesigen Schlampereien gelitten hat, das gesamte Wissen über diese Baustelle - im Einvernehmen zwischen Bund und beiden Ländern vernichtet. ({3}) Man kann zugespitzt sagen: Aus einer Baustelle mit Terminproblemen hat dieser tolle Aufsichtsrat eine Bauruine gemacht. ({4}) Das ist es im Moment; seit einem Dreivierteljahr geht da sozusagen nichts voran. Jetzt haben wir hier wunderschön erlebt, wie sich die Beteiligten gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Wenn man sich einmal anschaut, was jeweils entschieden worden ist, stellt man fest: Die schwarz-gelbe Bundesregierung und die beiden Landesregierungen haben immer alles einvernehmlich entschieden. Das Verkehrsministerium hat so getan, als wenn es keine Anteile hätte. Als dann das ganze Desaster offensichtlich war, ging es dem Ministerium und dem zuständigen Minister nicht darum: Wie kann ich das Problem lösen? Wie kann ich das Projekt retten? Man stellte sich die Frage: „Wie kann ich daraus politisches Kapital schlagen, ({5}) und wie kann ich mich selber in ein gutes Licht rücken?“, anstatt zu sagen, was ein verantwortlicher Minister sagen würde: Okay, wir haben da gemeinsam Mist gemacht, und das müssen wir jetzt auszubaden versuchen. - Das ist der Skandal, der da auf Bundesseite letztendlich vorhanden ist. ({6}) Was wäre jetzt notwendig? Notwendig wäre Folgendes - wenn man ehrlich ist, müsste man das sagen -: Man müsste sich zusammensetzen und überlegen: Wo ist denn überall Wissen über diese Baustelle vorhanden? Man müsste letztendlich eine Art Planungsgruppe gründen, in die man einen Teil der alten Planer hineinnimmt, in die man die neuen Planer hineinnimmt - die wissen nämlich seit August Bescheid -, in der man mit der Genehmigungsbehörde in einem ständigen Austausch ist und in der man mit den Firmen zusammenarbeitet. Wenn man mit Beteiligten spricht und fragt: „Wie ist denn die Lage?“, erfährt man etwas. Die Vertreter vom Hotel Steigenberger waren wöchentlich im Austausch mit der Genehmigungsbehörde, um die Probleme vielleicht gelöst zu bekommen. Die Genehmigungsbehörde sagt: Vom Flughafen hat sich bei uns in der Regel niemand gemeldet. - Das ist eine spannende Sache. Vielleicht sollten wir einmal mit den Herren von der Genehmigungsbehörde reden, und zwar intensiv reden, nämlich darüber: Wie bekommt man denn das Problem mit der Brandschutzanlage gelöst? Das Nächste: ein neuer Eröffnungstermin. Einen neuen Eröffnungstermin sollte man wirklich erst dann benennen, wenn man sich darüber im Klaren ist, wie das Ganze weitergeht. Bis dahin sehe ich noch eine gewisse Zeit ins Land gehen. Aber die Methode des Bundesverkehrsministeriums, die Schuld nur von sich wegzuschieben und so zu tun, als wenn man der Aufklärer wäre, zerstört jegliches Vertrauen im Aufsichtsrat und führt dazu, dass sich die einzelnen Beteiligten gegenseitig bekämpfen. Das muss dringend beendet werden, damit dieses Projekt vielleicht doch noch irgendwann zum Abschluss kommt. Vielen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Toni Hofreiter. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Jens Koeppen. Bitte schön, Kollege Jens Koeppen. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Desaster um den Hauptstadtflughafen ist eine Blamage, eine Schande für ganz Deutschland. Man muss sich, insbesondere als Brandenburger, Techniker und jahrelanger Geschäftsführer, für eine solche Schlamperei schämen. Die Master of Desaster, insbesondere Wowereit, Platzeck und der ehemalige Geschäftsführer Schwarz, „bemühen“ sich jetzt um Aufklärung und waschen die Hände in Unschuld. Ich halte das, gelinde gesagt, für eine Schweinerei. Jetzt gibt es ein Bäumchen-wechsel-dich-Spiel, eine Rochade an der Aufsichtsratsspitze, sozusagen von Wowereit in die Traufe. Als Brandenburger will ich meine Einschätzung dazu abgeben. Diese lässt sich kurz zusammenfassen: Gelinde gesagt bin ich übermäßig skeptisch, dass Ministerpräsident Platzeck an der Spitze des Aufsichtsrates irgendetwas verändern kann. ({0}) Ich bin übermäßig skeptisch, dass Matthias Platzeck seine Verantwortung als Regierungschef und als Aufsichtsratsvorsitzender unter einen Hut bringen kann. ({1}) Damals, als Regierungschef und Vorsitzender der Bundes-SPD, hat Matthias Platzeck einige Wochen nach seinem Rücktritt gesagt: Es ist nicht unter einen Hut zu bringen. Körperlich ist es nicht zu schaffen, und auch arbeitsmäßig nicht. ({2}) Jetzt will er ein Milliardenprojekt mit offenen Fragen und Dutzenden Problemen „ganz nebenbei“ handhaben. ({3}) Herr Liebich, ich bin auch deshalb übermäßig skeptisch, weil in den letzten 20 Jahren der Brandenburger Regierungschef und die Brandenburger SPD bei vielen Großprojekten in Brandenburg keine Führungsstärke, keine Diagnose- und Abwägungskompetenz gezeigt haben. ({4}) Ich nenne einige Beispiele, die in den märkischen Sand gesetzt wurden: Es wurden unzählige Millionen an Fehlinvestitionen in die Chipfabrik Frankfurt/Oder gesteckt. Matthias Platzeck war Ministerpräsident; er ist es noch immer. ({5}) Der Cargolifter, eine riesengroße Halle, war ein riesengroßes Projekt. Auch hier gab es viele Millionen an Fehlinvestitionen. Heute ist dort ein Freizeit- und Erholungsbad, und es wird immer noch gefördert - von Matthias Platzeck und der Brandenburger SPD. ({6}) Der Lausitzring: Es wurde groß verkündet, dort werde die Formel 1 fahren. Jetzt ist es eine Hobbyrennstrecke Matthias Platzeck und die SPD. Dann wurde die Brandenburgische Boden Gesellschaft an einen guten Freund des sehr guten Freundes des Ministerpräsidenten unter Wert verkauft. ({7}) Diese dubiosen Geschäfte sind jetzt Gegenstand eines Untersuchungsausschusses in Brandenburg. Wie will dieser Mann, wie will diese Partei ein solches Projekt schaffen? ({8}) Ich bin auch deswegen übermäßig skeptisch, weil die neue Wunderwaffe von Matthias Platzeck, die er in die Staatskanzlei holt, Staatssekretär Bretschneider, für die Taskforce verantwortlich gemacht wird. Dieser Staatssekretär Bretschneider hat das Planfeststellungsverfahren für den BER durchgeführt. Dieser Staatssekretär Bretschneider hat die alten Flugrouten genannt und ist für die heutigen Verwerfungen durch die neuen Flugrouten in der Region verantwortlich. Er ist vor allen Dingen dafür verantwortlich, dass in der Region Ungemach herrscht durch die „nette Art und Weise“, mit der er auftritt. Er hat immer noch die obere Bauaufsicht im brandenburgischen Verkehrsministerium. Er hätte natürlich Ministerpräsident Platzeck und den Aufsichtsratsvorsitzenden Wowereit darüber informieren können, dass im Juni 2012 nicht eröffnet werden kann. Was hat er gemacht? Bis zum Schluss, noch wenige Tage zuvor, hat er den Eröffnungstermin vehement verteidigt und jede Anmerkung dazu auf seine nette Art und Weise aufs Schärfste zurückgewiesen. Das hätte nicht sein müssen. Er hätte auch Platzeck und Wowereit die entsprechenden Fragen aufschreiben können; er hätte auch mit der Bauaufsicht reden können. Das hat er nicht gemacht. Ich stelle mir die Frage, warum Matthias Platzeck mit dieJens Koeppen sem vorbelasteten Staatssekretär Bretschneider die Aufgabe ernster nehmen sollte. Vielleicht holen sie sich den geschassten Geschäftsführer Schwarz in die Staatskanzlei. Vielleicht wird so etwas daraus. Platzeck hat gesagt: „Entweder das Ding fliegt, oder ich fliege“. Das hört sich verdammt ehrlich an. Es ist aber eine Aussage ohne Benchmarks. Natürlich hat keiner Zweifel daran, dass der Flughafen irgendwann fertig sein wird. Eine solche Aussage ist aber völlig inhaltsleer, wenn nicht darüber gesprochen wird, welche Kosten entstehen, wann der Flughafen tatsächlich eröffnet wird oder wie es um den Erweiterungsbedarf des Flughafens bestellt ist. Es muss auch darüber gesprochen werden, dass eine erfolgreiche Infrastruktureinbettung zu erfolgen hat. Die Freiwillige Feuerwehr von Schönefeld soll den Brandschutz übernehmen. Die Stellen für die Flughafenärzte sollen gestrichen werden, und das bei voraussichtlich 70 000 Fluggästen am Tag. Das ist absolut unverantwortlich. Hierüber wird jedoch kein Wort verloren. Ob der Aufsichtsratsvorsitzende Platzeck im Gegensatz zu seiner bisherigen Tätigkeit als Aufsichtsratsvize tatsächlich für Transparenz, Klarheit und Wahrheit sorgen kann, wage ich zu bezweifeln. Es handelt sich hierbei um mehr als nur ein Oder-Hochwasser, bei dem man sich ein Paar Gummistiefel anzieht und dann vom Hubschrauber aus winkt. Hier sind Managerqualitäten, Durchsetzungsvermögen und Sachverstand gefordert. Das alles sehe ich bei Matthias Platzeck nicht, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Jens Koeppen. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Mechthild Rawert. Bitte schön, Frau Kollegin Rawert. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Jahr 2012 endete mit einer Aktuellen Stunde Wozu? Zum „Flughafen Berlin Brandenburg“. Dort wurden meinerseits schon viele Fragen an die Bundesregierung gestellt. Ja, diese Flughafenkrise ist ganz unbestritten ein Debakel. Sie ist kein Ruhmesblatt für Regierende, für Experten und Expertinnen, egal ob auf Bundes- oder Länderebene, und egal welche großen Unternehmen - Bosch, Siemens und andere - daran beteiligt gewesen sind. Fakt ist aber auch: Es handelt sich um das größte ostdeutsche Infrastrukturprojekt. Hier erwarte ich, dass wir alle aus gesamtstaatlichem Interesse dahinterstehen; Sören Bartol hat es schon gesagt. Ich bin dankbar dafür, dass viele Arbeitsplätze in der Region Berlin und Brandenburg unabhängig von der Couleur der jeweiligen Regierung gehalten worden sind. In diesem Zusammenhang könnte ich Ihnen differenzierte Zahlenangaben machen. Nur so viel: 60 Prozent des Auftragsvolumens von 2,1 Milliarden Euro sind an hiesige Unternehmen in der Region geflossen; von den 600 Ausschreibungen haben diese 430 Unternehmen aus der Region gewonnen. Lassen Sie mich sagen: Ich danke Klaus Wowereit und ich danke Matthias Platzeck dafür, dass sie ihre Aufsichtsratsposten weiter wahrnehmen. ({0}) Denn es gehören Mut und Verantwortung dazu, zu dem zu stehen, was gesamtstaatliches Interesse ausmacht. ({1}) Fragen Sie sich von der FDP, der CDU und der CSU doch einmal, ob Sie Ihre Bundesregierung in ausreichender Form unterstützen, wenn Sie keine ausreichenden Mittel bewilligen ({2}) oder wenn Sie im Haushaltsausschuss keine Möglichkeit zur Befragung des Ministers Ramsauer bieten. Sie sind die Verhinderer des Flughafens, und nicht die Regierungen in Berlin und Brandenburg. ({3}) Herr Lindner, gut, dass Sie gerade so schreien; ich will auf ein Stichwort von Ihnen eingehen. Sie haben die Frage gestellt, inwieweit die öffentliche Hand ein geeigneter Bauherr ist. ({4}) Ich sage: Ja, sie ist es. Lassen Sie mich ein Beispiel herausgreifen; dann komme ich auf den Flughafen zurück. Die Avus wurde zehn Monate vor dem ursprünglich genannten Termin fertiggestellt, und zwar mit 20 Prozent weniger Kosten als geplant. Für uns als Bürgerinnen und Bürger ist im Zusammenhang mit dem Gerede, dass die öffentliche Hand kein Bauherr sein sollte, entscheidend: Der Flughafen Willy Brandt - und er wird stolz darauf sein ({5}) ist ein Beleg dafür, dass die öffentliche Hand Bauherr sein sollte. Ich nenne Ihnen die Gründe. Erstens. Es gibt keine Public-private-Partnership - viele andere wollen das gerne -, keine versteckten Gelder, keine verdeckten Schulden. Es gibt einen transparenten Haushalt, auf den die Bürger und Bürgerinnen Zugriff haben. ({6}) Die Politiker nehmen ihre Verantwortung wahr. Hessen, München - kein Flughafen ist in der vorgesehenen Zeit fertiggeworden. ({7}) Ich will nicht mit dem Finger auf die zeigen, die dort die Verantwortung getragen haben. Zweitens sind die Parlamente, egal ob in Brandenburg oder in Berlin, ihrer Verantwortung nachgekommen und haben die finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt. ({8}) Berlin hat das Notifizierungsverfahren erfolgreich bestanden; das war eine große Herausforderung bei der Bewältigung der Finanzierung des Flughafens. Ich komme schnell zum dritten Punkt; denn ich muss aufhören. Die Bürger und Bürgerinnen werden die Verantwortungsverschieberei, die hier vorgenommen worden ist, nicht verstehen. ({9}) Sie werden nicht verstehen, wie Sie sich hier aus der Verantwortung herausstehlen. ({10}) Sie werden nicht verstehen, dass Sie plötzlich so tun - vorhin sind Namen genannt worden; ich will sie nicht wiederholen -, als hätten Sie in bestimmten Phasen keine Verantwortung getragen. Das heißt, dass Sie keine politische Verantwortung übernehmen wollen. Denn wer politische Verantwortung tragen will, der muss auch zu ihr stehen und den entsprechenden Mut aufbringen. ({11}) Diesen Mut haben Klaus Wowereit und Matthias Platzeck, und dafür sage ich Danke. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster und auch letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Arnold Vaatz. Bitte schön, Kollege Arnold Vaatz. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Rawert, das, was Sie hier vorgetragen haben, macht der Faschingszeit alle Ehre. ({0}) Es gehört schon eine gewisse Dreistigkeit dazu, die Schuldzuweisungen so konsequent in die gewollte Richtung zu lenken, wie Sie es hier getan haben. ({1}) Ich glaube, jeder objektive Beobachter fasst sich an den Kopf, wenn er hört, was wir hier zum Teil diskutieren. Ich glaube, wir alle im Haus sind uns darin einig, dass die bisherige Geschichte des Flughafens eine Kette von Fehlleistungen war, die uns im Land enorm zurückwirft und uns auch internationales Ansehen kosten wird. Denn dieser Flughafen hat - egal, was wir im Einzelnen darüber denken - internationale Bedeutung; das gilt im Positiven wie im Negativen. Meine Damen und Herren, es ist sicher richtig, wenn Herr Liebich und Herr Hofreiter darauf hinweisen, dass der Misserfolg viele Väter hat und es nicht unbedingt richtig ist, immer nur auf den anderen zu zeigen. Aber ein paar Dinge sollte man wenigstens zur Kenntnis nehmen. Dazu zählt erstens die Tatsache, dass ein Vorsitzender eines Aufsichtsrats ungleich mehr Macht hat als die Mitglieder des Aufsichtsrates. ({2}) Jeder Realist in dieser Runde muss einräumen, dass es so ist. ({3}) Zweitens müssen wir feststellen, liebe Freunde von der sozialdemokratischen Seite: Ihre Ministerpräsidenten Wowereit und Platzeck waren von Anfang an dabei. Die Kollegen Gatzer und Bomba sind im Jahre 2010 dazugekommen, als im Wesentlichen vollendete Tatsachen geschaffen waren. ({4}) Man kann nicht verlangen, dass sich die neu hinzugekommenen Kollegen hinstellen und die Fehlentwicklungen nach kürzester Zeit beheben. Ich muss Ihnen sagen: Herr Amann ist jetzt etwa ein halbes Jahr dabei - noch nicht ganz -, und er hat, obwohl er hauptamtlich und ausschließlich damit befasst war, dieses knappe halbe Jahr gebraucht, um erst einmal den Iststand festzustellen. So weit war dieses Projekt schon verdorben, von Anfang an. Das muss man doch einmal einräumen. Man muss fragen: Wer hat die Geschichte von Anfang an angeführt? Ich bin nicht der Meinung, dass der Flughafen Berlin Brandenburg ein Beweis dafür ist, dass die öffentliche Hand als Bauherr versagt hat. Selbstverständlich ist auch die öffentliche Hand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland oftmals ein guter und effizienter Bauherr gewesen. ({5}) Aber, Frau Rawert, Sie können doch nicht wirklich ernsthaft behaupten, dass der Flughafen ein Beweis für die Qualität der öffentlichen Hand als Bauherr ist. ({6}) Die Öffentlichkeit erwartet von uns zu Recht, dass wir uns jetzt nicht in Details festkrallen, wie das am Anfang dieser Debatte geschehen ist. Was der Herr Minister mit Herrn Amann im Privatissimum besprochen hat, ist so uninteressant, wie eine Sache in diesem Zusammenhang überhaupt sein kann. Das Entscheidende, was die Öffentlichkeit von uns erwartet, ist, dass wir uns folgende Fragen stellen: Wie ist der Sachstand? Wie kann es weitergehen? Wie stellen wir uns organisatorisch den Weg zum Erfolg vor? ({7}) Das erwartet die Öffentlichkeit, und über diese Fragen ist in dieser Debatte meines Erachtens noch nicht entschieden worden. Zunächst einmal brauchen wir eine Diagnose in Bezug auf den Istzustand. Dann ist es notwendig, den genauen Bauumfang und den genauen Planungsumfang zu erkunden, der jetzt erforderlich ist, um aus dieser bisher missglückten Prozedur doch noch eine Erfolgsgeschichte zu machen. Danach müssen wir eine neue Wirtschaftlichkeitsbetrachtung vornehmen. Wir müssen eine neue Genehmigungssituation schaffen. Wir müssen Genehmigungskonformität herstellen. Schließlich und endlich müssen wir uns auch die Kosten-, Haftungs- und die Schuldfrage - also die Frage: „Wie konnte das geschehen?“ - stellen, damit uns Derartiges nicht wieder passiert. Das sind meines Erachtens die Erfordernisse der Vernunft. Darauf sollten wir abzielen. Wenn wir das nicht machen, dann wird dieser Flughafen enden wie ein vorangegangenes großes Beispiel Brandenburger Staatskunst, nämlich Tropical Islands. Vielen Dank. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Arnold Vaatz. Kollege Arnold Vaatz war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde. Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Schauen wir einmal, wann wir uns wieder gemeinsam hier im Plenum mit diesem Thema zu beschäftigen haben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2011 ({1}) - Drucksachen 17/8400, 17/11215 Berichterstattung: Abgeordnete Anita Schäfer ({2}) Karin Evers-Meyer Rainer Erdel Omid Nouripour Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Es sind alle damit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Bevor ich dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus, das Wort gebe, darf ich ihn herzlich willkommen heißen zusammen mit all seinen Mitarbeitern, denen ich für ihre Arbeit vom Präsidium aus herzlich danke. - Der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus hat das Wort. Bitte schön. Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend den Jahresbericht 2011. Die große Zahl der anwesenden Führungskräfte aus meinem Amt zeigt Ihnen, wie sehr uns an der Rückmeldung aus dem Parlament zu dem, was wir über die Jahre hinweg erarbeitet und ausgearbeitet haben, gelegen ist. Deshalb sind die Führungskräfte alle hier, und darüber freue ich mich. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen bereits im September des vergangenen Jahres in der ersten Beratung die Aussagen und Schwerpunkte des Berichts vorgestellt. Erlauben Sie mir bitte, dass ich heute an dieser Stelle nur einige der dort behandelten Themen aufgreife; denn ich möchte dem Jahresbericht 2012, der zurzeit im Druck ist und am 29. Januar übergeben wird, nicht vorgreifen. Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist in der Regel vor allem ein Mängelbericht. Deshalb freut es mich besonders, dass ich diesmal auch positive Entwicklungen herausstellen kann. Das meiner Ansicht nach Wichtigste sei vorangestellt: Seit dem 2. Juni 2011 hat die Bundeswehr keine Gefallenen mehr zu beklagen, und wir haben auch deutlich weniger verwundete und verletzte deutsche Soldaten. Ich glaube, das ist ein Grund zur Freude. Das ist nicht zuletzt den auch von Ihnen, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, veranlassten Verbesserungen bei der Ausrüstung und der Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz geschuldet. ({3}) Aber das ist es natürlich nicht allein. Auch die Gefahr durch die sogenannten Innentäter hat uns sehr beschäftigt. Darauf hat die Bundeswehr angemessen reagiert. Meine Anerkennung gilt deshalb vor allem den Kommandeuren vor Ort. Sie haben die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der ihnen unterstellten Soldatinnen und Soldaten in den Feldlagern und außerhalb vor weiteren derartigen Anschlägen und Attentaten ergriffen. Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus Im Februar 2011 - Sie erinnern sich - sind bei dem Angriff eines Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte auf deutsche Soldaten im OP North drei unserer Soldaten gefallen. Ich habe zwei von ihnen persönlich gekannt. Ich habe sie noch wenige Tage vor dem Anschlag getroffen und mit ihnen gesprochen. Deshalb ging mir das natürlich besonders nahe. Ich kenne auch ihre Hinterbliebenen. Ich weiß, welches Leid die Hinterbliebenen, ihre Angehörigen - darunter ein Kleinkind -, noch immer ertragen müssen. Ihnen, aber natürlich auch allen anderen Hinterbliebenen gilt meine besondere Zuwendung. Ich freue mich, dass auch Sie, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dem Wohl der Hinterbliebenen stets Ihr besonderes Augenmerk gewidmet haben. Dafür möchte ich Ihnen ausdrücklich meinen besonderen Dank aussprechen. Leider, trotz aller Verbesserungen, die ich durchaus anerkenne, gibt es weiterhin Ausrüstungsdefizite, die ausgeglichen werden müssen. Ich freue mich, dass auch insoweit das Parlament immer wieder die Initiative ergreift und ganz konkrete Maßnahmen einfordert. So hat der Verteidigungsausschuss das Bundesministerium der Verteidigung aufgefordert, die Beschaffung moderner Wärmebildgeräte für alle im Einsatz befindlichen Schützenpanzer Marder zu veranlassen, um die festgestellten Schwächen im Bereich der Nahkampffähigkeit zu beheben. Das ist eine wichtige Fürsorgemaßnahme, weil die Soldaten nur dadurch in die Lage versetzt werden, die anerkannten Regeln im Gefecht einzuhalten, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, und das ist, glaube ich, wichtig. Ebenso hat der Ausschuss die Beschaffung eines schnellen, beweglichen, kleinen Hubschraubers für den Einsatz der Spezialkräfte gefordert. Auch das ist etwas, was der Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten dient. Das Bundesministerium der Verteidigung hat den Bedarf auch eingeräumt, die Beschaffung aber nicht vor dem Jahr 2016 in Aussicht gestellt. Das ist angesichts des dringenden Bedarfs, der hier besteht, meiner Meinung nach nicht vertretbar, zumal solche Geräte am Markt verfügbar sind und von anderen Streitkräften beschafft wurden. Zu Recht beklagen Sie in den Debatten über die Jahresberichte immer wieder, dass viele der angesprochenen Themen geradezu zu jahrelangen Dauerbrennern werden. Auch ich wünschte mir, dass die Zeit zwischen der Feststellung eines Problems und seiner Abstellung deutlich verkürzt würde. Ein Beispiel hierfür - das ist ein ganz aktuelles Thema - ist die Schaffung von bundeswehreigenen Plätzen zur Kinderbetreuung. In der Tat wusste das BMVg in den letzten Jahren von einigen Grundsteinlegungen zu berichten; der Herr Staatssekretär hat das hier immer wieder vorgetragen. Ich würde mich aber freuen, wenn ich endlich einmal die Inbetriebnahme einer solchen Einrichtung erleben könnte, und zwar noch während meiner Amtszeit. ({4}) Im Berichtsjahr 2011 hat uns alle der Tod einer Seekadettin im Rahmen einer Ausbildungsfahrt des Segelschulschiffs „Gorch Fock“ beschäftigt. Die Umstände, die zu diesem tragischen Unfall geführt haben, sind inzwischen ausführlich untersucht worden. Dabei - das kann ich an der Stelle vielleicht anmerken, weil das auch hier immer wieder Thema war - haben sich nahezu alle von mir angesprochenen Defizite bestätigt. Auch die Marine räumt das inzwischen ein. Die vom Vorsitzenden des Beirates Innere Führung, Herrn Professor Pommerin, geleitete Kommission, die sich mit der Frage beschäftigt, wie dieses Schiff weiter betrieben werden kann und soll, hat alle meine Anregungen zur Verbesserung der Ausbildung und Sicherheitstechnik auf der „Gorch Fock“ aufgegriffen und in konkrete Vorschläge gefasst. Die Marine hat sie auch aufgenommen. Das freut mich sehr. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass ich das hier sagen kann: Ich wünsche der Besatzung und allen künftig dort Dienst tuenden Kadetten allzeit gute Fahrt und stets eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Ich glaube, das haben sie verdient. ({5}) Fragen der Ausrüstung und Ausbildung sind fester Bestandteil eines jeden Jahresberichts. Daneben aber gibt es immer auch Fragen des Grundrechtsschutzes der Soldatinnen und Soldaten in ihrem privaten Umfeld. Das gilt auch ganz aktuell für den folgenden Fall, den ich Ihnen gerne beispielhaft vorstellen und bei dem ich Sie möglicherweise auch zur Aktion veranlassen möchte: Vor wenigen Tagen erreichte mich die Eingabe eines Soldaten aus Termes. Er beklagte sich darüber, dass er wegen seines Auslandseinsatzes nicht an dem derzeit laufenden Volksbegehren im Freistaat Bayern teilnehmen könne. Dazu müsste er nämlich seine persönliche Unterschrift im Rathaus zu Hause leisten. Das kann er nicht, weil er im Einsatz ist. - Das ist natürlich eine Frage, die geklärt werden muss; denn es geht hier um den grundlegenden Anspruch eines jeden Staatsbürgers - auch in Uniform -, dass er sich an einer solchen Abstimmung beteiligen kann. Die Eingabe befindet sich noch bei mir in der Überprüfung. Ich kann Ihnen auch noch kein Ergebnis vortragen. Es zeigt sich aber doch immer wieder, dass sich die Grundrechtsfragen, die Fragen auch der Teilhabe am demokratischen Leben, immer wieder von neuem in unterschiedlichsten Facetten darstellen. Das gilt übrigens auch - wenn ich das noch an dieser Stelle in Erinnerung rufen darf - im Zusammenhang mit dem vom Bundestag im Sommer verabschiedeten neuen Meldegesetz, das sich derzeit noch im Vermittlungsverfahren befindet. Wenn es bei der jetzt diskutierten Fassung des Grundgesetzentwurfs bleibt, müssen sich unverheiratete Soldatinnen und Soldaten auch weiterhin mit ihrem ersten Wohnsitz am Dienstort anmelden. Das ist, nebenbei bemerkt, in einigen Bundesländern, wo bisher Landesrecht galt, sicherlich keine Verschlechterung, aber eben auch nicht die angesprochene und - übrigens auch vom Parlament - gewünschte Verbesserung. Es ist eine negative Sonderverpflichtung ausschließlich für Soldaten. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf steuer- und versicherungsrechtliche Fragen, vor allem aber auch auf das aktive und passive Wahlrecht der Betroffenen, jedenfalls im Bereich des KommunalwahlWehrbeauftragter Hellmut Königshaus rechts in einigen Bundesländern. Es würde mich freuen, meine Damen und Herren Abgeordneten, wenn dieser Gesichtspunkt bei der weiteren Beratung des Gesetzentwurfes noch einmal bewertet und abgewogen werden könnte. Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich Ihnen, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, für die vielfältige Unterstützung meiner Arbeit danken, natürlich auch für manche kritische Begleitung. Ebenso danke ich dem Bundesministerium der Verteidigung, namentlich dem Minister, seinen Staatssekretären und der militärischen Führungsebene für ihre Unterstützung und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit meinem Amt. Mein ganz besonderer Dank gilt natürlich den Soldatinnen und Soldaten, insbesondere denen im Einsatz, aber auch denen, die zu Hause sind, sowie ihren Angehörigen. Ich bitte die Soldaten und auch Oberst Kirsch vom BundeswehrVerband, die heute auf der Tribüne zuhören, dies zu vermitteln. Ich denke, das werden Sie zum Ausdruck bringen. ({6}) Nicht zuletzt danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ohne die ich meine Arbeit im Interesse der Soldatinnen und Soldaten, aber auch des Deutschen Bundestages, meines Auftraggebers, nicht so hätte leisten können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank dem Wehrbeauftragten unseres Parlamentes, Herrn Hellmut Königshaus. Nun kommen wir zur Aussprache. Als Erster hat das Wort für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär, Kollege Thomas Kossendey. Bitte schön, Herr Staatssekretär Thomas Kossendey. ({0})

Thomas Kossendey (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001188

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst einmal dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern - nicht nur den leitenden, sondern allen - ein ganz herzliches Dankeschön für das große Engagement sagen, mit denen sie unsere Arbeit begleitet und zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten in der letzten Zeit Anregungen gegeben haben. Auch aufgrund Ihrer Anregungen, Herr Königshaus, konnte mit der Unterstützung des Verteidigungsausschusses in den letzten Jahren für die Soldatinnen und Soldaten eine ganze Menge erreicht werden. Sie haben in Ihrem Bericht, der das Berichtsjahr 2011 umfasst, drei Schwerpunktthemen: die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Attraktivität des Dienstes und die Personalfragen, insbesondere vor dem Hintergrund der Strukturreformen, die wir im Augenblick umsetzen. Das sind, ehrlich gesagt, Herr Königshaus, genau die zentralen Handlungsfelder, die wir von der Leitung unseres Hauses für unsere Arbeit identifiziert haben. Lassen Sie mich bei den Personalfragen beginnen. Diese tiefgreifenden Veränderungen, die wir den Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr in diesen Jahren zumuten, werden jeden Angehörigen unserer Bundeswehr betreffen. Da wird es keine Ausnahme geben. Obwohl wir insgesamt eine breite Akzeptanz im Hinblick auf die Reform haben, gibt es natürlich, wenn ich an den Einzelnen denke, immer wieder besondere Herausforderungen und Unwägbarkeiten, die durchaus zu Verunsicherung führen. Deswegen können wir verstehen, dass sich Mitarbeiter der Bundeswehr mit ihren Sorgen auch an den Wehrbeauftragten wenden. Wir haben verschiedene Informationsveranstaltungen durchgeführt. Wir haben uns bemüht, Probleme aufzugreifen, zu erörtern und zu klären. Wir haben versucht, die Belastungen, die sich durch die Umsetzung der Reform ergeben, so gering wie möglich zu halten. Wir haben mit dem Reformbegleitprogramm und mit dem Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität Mittel zur Verfügung gestellt, um die Umsetzung zu erleichtern, die Härten abzufedern und den Übergang in die neuen Strukturen gut zu realisieren. Aber - auch das muss ich deutlich sagen; die Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss wissen das nicht alles, was wünschenswert ist, kann kurzfristig finanziert werden. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir deutlich machen, dass die Stimmung in der Truppe, die innere Lage und die Motivation der Soldaten nicht nachhaltig darunter leiden. Nach meinen Beobachtungen und nach den Beobachtungen des Ministers ist die Motivation in der Truppe, mit den Herausforderungen fertigzuwerden, ungeheuer hoch. Das stellen wir insbesondere bei den Soldatinnen und Soldaten, aber auch bei den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fest, die in den Einsatzgebieten arbeiten. Ich finde, die Leistungen, die unter den schwierigen Umständen im Einsatz, aber natürlich auch die Leistungen, die zu Hause erbracht werden, sind beeindruckend. Das verdient unser aller Anerkennung und Würdigung. ({0}) Diese Feststellung kann letztendlich auch nicht dadurch getrübt werden, dass im ersten Jahr nach dem Aussetzen der verpflichtenden Einberufung zum Grundwehrdienst, also nach dem Aussetzen der Wehrpflicht, die Abbrecherquote bei den freiwillig Wehrdienstleistenden hoch war. Wir können damit nicht zufrieden sein. Die Gründe dafür liegen jedoch durchaus auch im privaten Bereich derer, die sich bei uns beworben haben und die angenommen worden sind. Es liegt auch daran - das haben wir durch Befragungen festgestellt -, dass man vielfach Bewerbungen geschrieben hatte und man sich nach Antritt des Dienstes bei der Bundeswehr auf einmal für etwas anderes entschieden hat. Ein ganz wichtiges Thema, das der Wehrbeauftragte in seinem Bericht angesprochen hat, ist die Kinderbetreuung. Natürlich ist es nicht vorrangige Aufgabe der Bundeswehr oder des Verteidigungsministeriums, flächendeckend Kinderbetreuungsplätze für die Bundeswehr einzurichten, aber da, wo ein besonderer bundeswehrspezifischer Bedarf besteht, wo unser ureigenes Interesse deutlich wird, dass die Menschen, die bei uns arbeiten, gute Kinderbetreuungsmöglichkeiten bekommen, sind wir dabei, in Zusammenarbeit mit den Kommunen und übrigens auch mit unserem Finanzminister Kinderbetreuungsplätze einzurichten, natürlich unter Einhaltung der vielfältigen rechtlichen Vorgaben, die für die Einrichtung einer Kinderbetreuung notwendig sind. Wer mit unseren Behörden und dem Finanzminister jemals gekämpft hat, der weiß, dass die Umsetzung mitunter sehr zeitaufwendig sein kann. Aber der Aufbau dieser Kinderbetreuungsplätze schreitet kontinuierlich voran. Wir werden im April dieses Jahres den ersten Spatenstich für einen Betriebskindergarten der BundeswehrUni in München machen. Die Bundeswehrkrankenhäuser Koblenz und Ulm werden dieses Jahr folgen. Wir haben in enger Kooperation mit den Kommunen an verschiedenen Standorten Belegrechte zur Abdeckung des besonderen Bedarfs der Bundeswehr erworben. Ich erinnere an die Standorte Westerstede und Seedorf. Aber auch in Rostock sind wir so weit, dass wir Tagespflegemaßnahmen für die Soldatinnen und Soldaten in Angriff genommen haben bzw. bereits umgesetzt haben. Ich will auch daran erinnern, dass wir die Familien unterstützen, die durch den Dienst bei der Bundeswehr häufig besondere Belastungen haben. Wir erstatten Kinderbetreuungskosten, zum Beispiel bei Maßnahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Ich denke, auch das Kinderbetreuungsportal, das wir ins Werk gesetzt haben, ist eine ganz wichtige Maßnahme. Lassen Sie mich erwähnen, dass wir uns in den letzten zwei Jahren sehr intensiv engagiert haben, um die Betreuung der an der Seele verwundeten Soldatinnen und Soldaten intensiver in den Fokus unserer Bemühungen zu stellen. Wir werden zukünftig bereits vor dem Einsatz den Grad der psychischen Fitness von Soldatinnen und Soldaten testen, damit wir genau die Situation vermeiden, die Sie, Herr Wehrbeauftragter, uns hier ein paarmal sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben haben. Wir wollen verhindern, dass wir psychisch vorbelastete Soldaten in den Einsatz schicken und sich deren Probleme durch den Einsatz verstärken. Lassen Sie mich zum Schluss Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen im Verteidigungsausschuss, dafür danken, dass Sie unsere Arbeit so konstruktiv begleitet haben. Herr Wehrbeauftragter, ich bedanke mich auch dafür, dass Sie in Ihrem Bericht, der eigentlich ein Mängelbericht ist, durchaus auch einige positive Ansätze bei uns erkannt haben. Das ist eine neue Nachricht. Dafür ein herzliches Dankeschön! ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Hellmich für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Hellmich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass ich heute zum zweiten Mal zum Bericht des Wehrbeauftragten sprechen darf. Eingangs muss ich sagen: Ich habe von Ihnen, Herr Kossendey, vorhin mit großer Verwunderung gehört, die Zufriedenheit in der Truppe sei sehr groß. Bei meinen Besuchen vieler Standorte im Laufe der letzten Wochen und Monate stellte ich genau dies nicht fest. Ich stellte fest, dass es in der Truppe eher Unzufriedenheiten und viele Kritikpunkte als Zufriedenheit gibt. Von daher, glaube ich, müssen Sie Ihren Eindruck von der Situation etwas korrigieren. Für die klaren Worte und die Deutlichkeit, mit der Sie, Herr Königshaus, im 53. Jahresbericht auf Unzulänglichkeiten eingehen und bestehende Probleme benennen, ist Ihnen der Dank der SPD-Bundestagsfraktion sicher. Dies ist ein guter Beleg dafür, dass die Bundeswehr und ihre Angehörigen als Parlamentsarmee gut aufgehoben sind. Das soll auch dann so bleiben, wenn es um andere Fragen geht. Mit Nachdruck möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass es ein Unding ist, jetzt noch über einen Bericht von 2011 zu sprechen. Demzufolge bitte ich um Nachsicht, wenn ich dies zum Anlass nehme, an dieser Stelle aktuelle Punkte anzusprechen. Sehr geehrter Herr Königshaus, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber muss enorm verbessert werden, will sie angesichts der Konkurrenz um Nachwuchs und qualifizierte Kräfte in den nächsten Jahren bestehen. Der vorliegende Jahresbericht ist ein Auftrag, Dinge nicht mehr auf die lange Bank zu schieben, sondern Abhilfe zu schaffen. Die Frist, über die umgesetzten Maßnahmen zu berichten, läuft laut Beschluss am 23. Januar 2013 ab. Dieser Bericht ist ein Auftrag, für eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu sorgen. Was viele moderne Unternehmen vormachen, ist auch bei der Bundeswehr möglich. Ich denke da beispielsweise - einige Punkte sind angesprochen worden - an den Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder und vor allem an die bessere Anpassung des Kinderbetreuungsangebotes an die Dienstzeiten; dieses Problem kennen wir auch aus der kommunalpolitischen Diskussion, und zwar an jedem Ort, an dem es um die Kinderbetreuung geht. Dieser Frage muss sich auch die Bundeswehr intensiver stellen. Der Frauenanteil in der Bundeswehr steigt stetig; das ist gut so, und das wollen wir auch. Aber diese Entwicklung führt zu einem Problem - das kommt auch im Bericht zum Ausdruck -: Es gibt kaum Dienstposten als Ersatz für die Frauen, die aufgrund ihrer Schwangerschaft vorübergehend aus dem Dienst ausscheiden. Eine Folge ist leider, dass schwangere Frauen oftmals von Diskriminierung am jeweiligen Standort berichten; auch dies ist im Bericht angesprochen worden. Der Grund dafür ist ganz klar: Trotz eines solch freudigen Ereignisses wie einer anstehenden Geburt ist niemand glücklich darüber - das kennen wir auch aus anderen Bereichen -, wenn er oder sie für einen anderen die Arbeit mit erledigen muss und nicht für Ersatz gesorgt wird. Hier müssen wir ansetzen und zu einer Lösung kommen. Ein Stellenpool, der schwangerschaftsbedingtes Ausscheiden personell abfedert, könnte hier Abhilfe schaffen. Wir von der SPD wollen, dass an dieser Stelle umgehend Prozesse eingeleitet werden, die die Bundeswehr zu einem Arbeitgeber machen, der in puncto Attraktivität mit modernen Unternehmen mithalten kann. Das ist umso notwendiger, wenn wir auch in Zukunft eine ausreichende Zahl von freiwillig Wehrdienstleistenden und Zeitsoldaten gewinnen wollen. Familienfreundlichkeit ist ein Wert für sich und darf nicht als Belastung des Unternehmens gesehen werden. Dies gilt gleichermaßen für die Bundeswehr. ({0}) Zu einem anderen Thema. Die Zahlen, die in den letzten Tagen durch die öffentliche Berichterstattung gingen, belegen, dass für die Personalentwicklung der Bundeswehr klare, zukunftsorientierte Konzepte gebraucht werden. Die Abbrecherquote der freiwillig Wehrdienstleistenden liegt bei 30,4 Prozent, Tendenz steigend. Dass dies, wie es uns der Bundesverteidigungsminister leider weismachen will, nur an falschen Vorstellungen der jungen Leute liegen soll, halte ich für eine gewagte These. Die Kommandeure vor Ort - das merkt man auch bei Besuchen der einzelnen Standorte - berichten etwas völlig anderes. Wenn dem so wäre, dass die Abbrecherquote einfach nur an falschen Erwartungshaltungen liegt, schlage ich vor, die Werbekampagnen für die Bundeswehr realistischer zu gestalten; dann wäre dieses Problem geregelt. ({1}) Dem ist aber nicht so. Auch hier gilt: Wenn die Werbung Dinge verspricht, die das Produkt nicht halten kann, gibt es Reklamationen. Sagen Sie den jungen Menschen doch einfach vorher, was sie bei der Bundeswehr erwartet, und beugen Sie falschen Vorstellungen vor. Nehmen Sie bitte auch die Lebensrealität junger Menschen in den Blick! Wenn Sie dann zum Beispiel noch die Unterbringung verbessern und eine WLAN-Nutzung ermöglichen, statt die Truppenbetreuung abzubauen, werden wir uns sicherlich bald über eine niedrigere Abbrecherquote freuen können. Wenn Sie all dieses nicht tun, werden die Lebensrealität junger Menschen und die Bundeswehr schlichtweg nicht zueinander passen. Da entsteht ein Delta, das wir mit den bis jetzt genutzten Instrumenten im Zweifelsfall nicht schließen können. Das gesamte Konzept der freiwillig Wehrdienstleistenden muss auf den Prüfstand, inklusive der Ausbildung und der Möglichkeiten der Verwendung. Machen Sie - das gilt für die gesamte Bundeswehrreform - eine Reform für die Soldatinnen und Soldaten! Beteiligung heißt hier das Zauberwort. Meine Damen und Herren, der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages ist Anwalt der Soldatinnen und Soldaten und zugleich ein Hilfsorgan des Parlamentes bei der Kontrolle der Streitkräfte. Jede Soldatin und jeder Soldat hat das Recht, sich unmittelbar an den Wehrbeauftragten zu wenden; das schafft Sicherheit und Vertrauen. Sicherheit im Inland, aber vor allem im Einsatz sollen auch die Vertrauenspersonen vermitteln. Vertrauenspersonen stellen für die Soldatinnen und Soldaten einen ersten Ansprechpartner dar, der ihnen bei Dienstproblemen gegebenenfalls weiterhelfen kann. Aus diesem Grunde weise ich auf eine Petition hin, mit der sich ein Personalrat des Landeskommandos Niedersachen an den Deutschen Bundestag wendet und ein Zeugnisverweigerungsrecht für Vertrauenspersonen fordert. Der Hintergrund für diese Petition ist, dass nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom Juni 2012 Vertrauenspersonen von Soldaten kein solches Zeugnisverweigerungsrecht haben. Dies bedeutet: Die jeweilige Vertrauensperson kann in einem Disziplinarverfahren die Zeugenaussage nicht verweigern, obwohl die betroffenen Soldatinnen und Soldaten davon ausgegangen sind, mit ihrer Vertrauensperson unter dem Siegel der Verschwiegenheit sprechen zu können. Diese Petition kann noch bis Ende Januar gezeichnet werden. Machen Sie mit! Der BundeswehrVerband unterstützt diese Petition, und dem schließe ich mich an. ({2}) Meine Damen und Herren, die Debatte über bereits stattfindende und zukünftige Auslandseinsätze unserer Bundeswehr ist momentan wieder voll entbrannt. Bei allen Entscheidungen müssen wir zuallererst an unsere Soldatinnen und Soldaten denken. Sie unterliegen besonderen Belastungen und speziellen Herausforderungen. An dieser Stelle schließe ich mich dem Dank an diejenigen an, die diese Herausforderungen in besonderer Weise tragen. Aber auch für alle anderen Soldatinnen und Soldaten gilt das Bekenntnis zur umfassenden Betreuung vor, während und nach dem Einsatz. Aus diesem Grunde sind das Amt des Beauftragten des Verteidigungsministeriums für einsatzbedingte posttraumatische Belastungsstörungen, PTBS, sowie die Ansprechstelle für Hinterbliebene zwei notwendige Einrichtungen. Ich möchte dies zum Anlass nehmen, heute hier an dieser Stelle dem ehemaligen PTBS-Beauftragten, Brigadegeneral Christof Munzlinger, auch im Namen meiner Fraktion für seine hervorragende Arbeit ganz herzlich zu danken und ihm in seiner neuen Verwendung viel Erfolg wünschen. ({3}) Daran anschließend darf ich Brigadegeneral Klaus von Heimendahl beglückwünschen und ihm für sein neues Amt als PTBS-Beauftragter des Verteidigungsministeriums alles Gute wünschen. Unserer Unterstützung für seine Arbeit kann er sich sicher sein. Sie wird sehr intensiv sein, und sie wird auch dringend nötig sein. Die in Angriff genommenen Verbesserungen bei der Einsatzvorbereitung, zum Beispiel durch einen ganzheitlichen Gesundheitscheck oder durch eine individuelle Betreuung und Begleitung nach dem Einsatz, weisen den richtigen Weg. Wir haben dieses lange eingefordert und lange darüber gesprochen. Ich denke, da sind gute Schritte eingeleitet worden. Als Vorletztes möchte ich die Debatte zum Rechtsextremismus in der Bundeswehr ansprechen. Rechtsextremismus ist in der Bundeswehr wie auch in allen anderen Teilbereichen der Gesellschaft sehr wohl ein Problem. In sämtlichen Fällen, in denen der Verdacht eines Vorkommnisses mit rassistischem, antisemitischem oder ähnlichem Hintergrund entsteht, sind Konsequenzen notwendig - direkt und unmittelbar. Mit allen Instrumenten, die dem Staat zur Verfügung stehen, muss gegen Rechtsextremismus in der Bundeswehr vorgegangen werden. Es ist hier allerdings nicht hilfreich, wenn einerseits gesagt wird, es gebe kein größeres Problem als woanders auch, während andererseits die Presse über steigende Fallzahlen berichtet. Wir dürfen nicht den Eindruck zulassen, als würde dieses Problem an irgendeiner Stelle heruntergespielt, weil es nicht in unser Bild passt. Für das Jahr 2012 wurden bis Mitte Dezember 66 Vorfälle mit Verdacht auf einen rechtsextremen Hintergrund festgestellt und geprüft. 21 der Verdachtsfälle wurden bestätigt, die anderen werden noch geprüft. Ich glaube, vorbeugend hilft es, wenn die Bekämpfung des Rechtsextremismus ein wichtiger Ausbildungs- und Diskussionspunkt ist und bleibt. An die Staatsbürger in Uniform sind hier nämlich ganz besondere Anforderungen zu stellen. Deshalb ist es an dieser Stelle auch wichtig, das Thema öffentlich zu benennen und nichts zu verschweigen. ({4}) Meine Damen und Herren, abschließend und im Nachgang zu meiner letzten Rede möchte ich Sie, sehr geehrter Herr Königshaus, an Ihre Zusage erinnern. All die Soldaten, die vor dem 1. Dezember 2002 in den IFOR-, SFOR- und KFOR-Einsätzen geschädigt wurden, erhalten keine Entschädigungszahlung. Darüber habe ich hier gesprochen. Dies betrifft eine Gruppe von circa 40 Soldaten. Sie sicherten mir zu, sich um diese Ungerechtigkeit zu kümmern. Ich vertraue Ihnen, dass Sie noch in dieser Legislaturperiode eine Initiative starten, um diese nicht nachvollziehbare Ungleichbehandlung zu beenden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Christoph Schnurr hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 53. Jahresbericht des Wehrbeauftragten beschäftigt sich mit mehreren Themenfeldern: unter anderem mit dem Führungsverhalten von Vorgesetzten, den Auslandseinsätzen, der einsatzvorbereitenden Ausbildung, der persönlichen Ausstattung und Ausrüstung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Schwerpunkt des 53. Jahresberichts lag auf der Neuausrichtung der Bundeswehr. Ich bin gespannt, welche Themen und Schwerpunkte den nächsten Jahresbericht prägen werden. Wir werden den Jahresbericht 2012 zum Glück ja bald in den Händen halten und uns im Ausschuss, aber auch im Deutschen Bundestag dann hoffentlich zeitnah mit diesem befassen; der Kollege Hellmich hat das bereits angesprochen. Ich glaube, es ist unglücklich, dass wir die Debatte über den Jahresbericht 2011 Anfang des Jahres 2013 führen. Daran sind wir alle nicht unbeteiligt. In Zukunft müssen wir schauen, dass wir sowohl den Jahresbericht des Wehrbeauftragten als auch die Kommentierung des Ministeriums, wenn sie vorliegen, zeitnäher im Deutschen Bundestag debattieren. ({0}) Lieber Herr Wehrbeauftragter, Herr Königshaus, ich möchte mich bei Ihnen und Ihrem Haus nicht nur für den Bericht, sondern auch für Ihre Arbeit recht herzlich bedanken. Wenn wir uns mit dem Themenkomplex „Ausrüstung, Ausstattung und Ausbildung“ beschäftigen, dann sehen wir, wie oft der Wehrbeauftragte hier den Finger in die offene Wunde gelegt hat. Die Ausrüstung wurde kontinuierlich verbessert, und die Fahrzeuglage im Einsatz und für die so wichtige Ausbildung in Deutschland hat sich wesentlich entspannt. Der UH Tiger ist bereits in Afghanistan; der NH90 folgt bald. Somit können wir unseren Partnern und uns selbst eine eigenständige und geschützte MedEvac-Komponente anbieten. Das ist äußerst begrüßenswert. Die Ausrüstung und die Ausbildung werden ganz sicher auch Themenfelder der nächsten Jahresberichte werden. Es wird immer Probleme geben, und es gab auch in der Vergangenheit immer Herausforderungen. Das liegt in der Natur der Sache. Insgesamt - das ist ganz wichtig - sind unsere Soldatinnen und Soldaten für die schwierigen Aufgaben in den Auslandseinsätzen aber gut ausgebildet und gut ausgerüstet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Berichtszeitraum dieses 53. Jahresberichtes wurde auch das Stationierungskonzept der Bundeswehr beschlossen. Es ist ganz klar, dass hier sehr viele Unsicherheiten herrühren und dass sich viele Soldaten Gedanken über ihre berufliche Zukunft gemacht haben. Diese Verunsicherungen sind verständlich, und die Sorgen der Soldaten müssen wir auch hier im Bundestag sehr ernst nehmen. Herr Staatssekretär, Sie hatten das angesprochen und auch angekündigt: Es ist gut, dass das Ministerium inChristoph Schnurr nerhalb der Truppe vermehrt kommuniziert und das Konzept auf allen Ebenen vorstellt; denn das Entscheidende auch bei der Stationierungsentscheidung ist, dass wir die Soldatinnen und Soldaten in diesem Reformprozess mitnehmen und die Reform nicht gegen die Interessen der Soldaten gestalten. Ebenfalls im Berichtszeitraum wurde das „Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr“ eingebracht. Es ist doch ein gutes Zeichen, dass bereits ein Drittel der Maßnahmen umgesetzt oder eben auch auf den Weg gebracht wurde. ({1}) Die Herausforderungen bleiben jedoch weiterhin vielfältig. Wir sind angehalten, die Vereinbarkeit von Dienst und Familie weiter zu verbessern. Die bereits eingerichteten Eltern-Kind-Zimmer sind ein Anfang. Die Bundeswehr muss aber darüber hinaus für eine vernünftige Kinderbetreuung sorgen. Deshalb begrüße ich es, dass in diesem Jahr weitere Betriebskindergärten gebaut und Belegungsrechte bei den Kommunen erworben werden. ({2}) Meine Damen und Herren, der Jahresbericht beschäftigt sich auch mit dem freiwilligen Wehrdienst. Die Zahlen sprechen für sich: Zum Jahresbeginn haben rund 3 500 junge Menschen ihren Dienst bei der Bundeswehr begonnen. Im letzten Jahr konnte der Bedarf an freiwillig Wehrdienstleistenden und an Zeitsoldaten gedeckt werden. Das zeigt doch eben, dass der Arbeitgeber Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen wird und dass die Bundeswehr in der Lage ist, den bestehenden Wettbewerb um Nachwuchskräfte mit der freien Wirtschaft und mit anderen Behörden aufzunehmen. Allerdings finden wir hier eine Quote vor, an die sich ein Spitzenarbeitgeber nicht gewöhnen darf. Das ist die 30-prozentige Abbrecherquote der freiwillig Wehrdienstleistenden. Diese 30 Prozent sind meiner Ansicht nach per se noch keine Tragödie. In Berlin liegt beispielsweise die Quote der Abbrecher bei Lehrberufen auch bei circa 30 Prozent. Dennoch sollten wir die Beweggründe dieser jungen Menschen aufmerksam betrachten, warum sie ihren Dienst bei der Bundeswehr frühzeitig quittieren, um dann auch entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können. Auch hier hat der Kollege Hellmich vorgeschlagen, die Werbekampagnen zu überarbeiten. Ich glaube, das Problem liegt nicht an Werbekampagnen, die ja immer auf zugespitzte Aussagen konzentriert sind; denn diejenigen, die sich freiwillig zum Dienst bei der Bundeswehr melden, haben vorher entsprechende Beratungsgespräche, können sich intensiv mit der Bundeswehr, mit dem Arbeitgeber, auseinandersetzen. Ich lade Sie von der Sozialdemokratie und insbesondere Sie, Herr Abgeordneter Hellmich, herzlich ein: Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass wir Wehrdienstberatern endlich wieder Zugang zu öffentlichen Schulen gewähren, ({3}) damit sie auch hier wieder nicht nur für die Bundeswehr werben können, sondern mit den jungen Menschen auch kritisch diskutieren können wie beispielsweise die Jugendoffiziere. Da bin ich schon bei meinem letzten Stichwort. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir in die Diskussion auch wieder die Frage der gesellschaftlichen Anerkennung unserer Soldatinnen und Soldaten aufnehmen. Dazu gehört eben, dass Jugendoffiziere an Schulen nicht diskriminiert werden. Es gehört aber auch dazu, dass wir dafür Sorge tragen, dass Gelöbnisse auf öffentlichen Marktplätzen stattfinden und nicht hinter verschlossenen Kasernentoren. ({4}) Und es gehört vor allem dazu, dass wir am 20. Juli das öffentliche Gelöbnis wieder hier auf dem Platz vor dem Reichstagsgebäude stattfinden lassen, weil damit auch deutlich wird, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. In diesem Sinne bedanke ich mich vielmals bei Ihnen allen und bedanke mich ganz besonders bei den Soldatinnen und Soldaten, bei den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr, bei den Reservisten, aber auch bei den Familien für ihre Arbeit. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Harald Koch hat nun für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Königshaus! Als wir im September des letzten Jahres zuletzt über den Bericht des Wehrbeauftragten debattierten, haben Sie, Herr Königshaus, gesagt, es gebe zu viele Baustellen und zu wenige Lösungen. Dem kann ich ohne Wenn und Aber zustimmen. Ich möchte dem aber noch etwas hinzufügen: Es gibt nicht nur zu viele Baustellen, sondern diese sind auch schon seit Jahren bekannt und immer dieselben. Und es gibt auch nicht nur zu wenige Lösungen, sondern auch zu wenig Lösungswillen vonseiten des Bundesministeriums der Verteidigung und der Bundesregierung. Wenn ich mir die Stellungnahme des BMVg zum Bericht anschaue, dann kann ich darin nicht wirklich feststellen, dass die äußerst berechtigten Anmerkungen des Wehrbeauftragten ernst genommen und angegangen werden. Da wird vielmehr von „bedauerlichen Einzelfällen“ oder „Sonderfällen“ gesprochen. Da werden die Einwände damit abgetan, dass es dafür „keine Anhaltspunkte“ gebe, oder man flüchtet sich in dehnbare Formulierungen wie, man sei „fortwährend bemüht“ oder Konsequenzen seien nur „schwer möglich“. Ich frage mich doch ernsthaft, wie sich an den jährlich gleichen Problemen und Missständen oder der Unzufriedenheit der Soldatinnen und Soldaten irgendwann ein26700 mal etwas deutlich ändern soll. Ich meine, dass die Kritik der Linken nicht interessiert, kennen wir schon. Aber nehmen Sie doch bitte wenigstens den Wehrbeauftragten und seine Einschätzung der Lage ernst. Nehmen Sie vor allem die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten endlich ernst, und ändern Sie etwas, anstatt alle Probleme immer weiter nur abzutun und zu ignorieren. ({0}) Ich möchte dabei noch einmal auf zwei Probleme gesondert eingehen. Zum einen ist dies die Situation derjenigen Soldatinnen und Soldaten, die schwer traumatisiert bzw. mit einer posttraumatischen Belastungsstörung aus einem Auslandseinsatz zurückkommen, und zum anderen ist dies die Situation der sogenannten Radargeschädigten. Nach wie vor steigen Jahr für Jahr die Fallzahlen von PTBS-Erkrankungen. Nach wie vor wird damit abgewiegelt, dass die Erkrankungsrate der deutschen Soldatinnen und Soldaten niedriger sei als die anderer Armeen. Das ist doch aber kein Grund, die Betroffenen im Regen stehen zu lassen. ({1}) Natürlich wurde in den letzten Jahren geforscht und auch einiges getan, um die Betroffenen besser abzusichern. Aber dennoch sind die Defizite enorm. Bei der Einbeziehung der Familien in die Therapie mangelt es noch an allen Ecken und Enden. Vor allem die Betreuung bereits aus der Bundeswehr ausgeschiedener Soldatinnen und Soldaten lässt extrem zu wünschen übrig. Hier wird nach wie vor nach dem Prinzip „Aus den Augen, aus dem Sinn“ gehandelt, und die Betroffenen sind weitestgehend auf sich selbst gestellt. Was ich aber besonders schlimm finde, ist - wir können uns alle daran erinnern, wie das im Ausschuss gelaufen ist - die kürzlich vonseiten der Bundesregierung aufgestellte Behauptung, dass die meisten der Soldatinnen und Soldaten, welche traumatisiert aus einem Auslandseinsatz zurückkamen, schon im Vorfeld eine manifeste psychische Störung gehabt hätten. Da frage ich mich doch ernsthaft, wie es sein kann, dass das bei einer solch großen Anzahl von Fällen nicht aufgefallen ist, wenn doch alle Soldatinnen und Soldaten vor einem Einsatz angeblich mehrfach psychologisch begutachtet werden. Für mich ist dies eine plumpe Ausrede und ein Schlag ins Gesicht eines jeden Betroffenen. So darf man mit Menschen nicht umgehen. ({2}) Kommen wir zu den Radargeschädigten. Auch hier ist mit der Gründung der Härtefallstiftung längst nicht alles gut, auch wenn das gern so verkauft wird. Zum einen ist das bereitgestellte Kapital von 7 Millionen Euro viel zu gering, um auch nur einen Teil der Geschädigten wirklich und angemessen zu entschädigen. Zum anderen wurde hier ein Konstrukt geschaffen, mit dem die Geschädigten billig und nicht rechtsverbindlich abgespeist werden können. Zudem stellt sich noch immer die Frage, ob bei der Berechnung der Strahlendosis alles mit rechten Dingen zugegangen ist, da es hier nach wie vor zu viele Ungereimtheiten gibt. Auch hier muss dringend nachgebessert werden. Es kann nicht sein, dass ehemalige Soldaten, die unwissentlich durch die Ausübung ihrer Arbeit schwer erkrankt sind, einfach alleingelassen werden bzw. das Problem einfach ausgesessen wird. Abschließend betrachtet hat der Wehrbeauftragte wohl auch in den nächsten Jahren noch eine Menge Arbeit vor sich. Ich danke ihm und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einmal für den Bericht. Gestatten Sie mir die kleine Bemerkung: Wir sprechen hier von Reformen in der Verwaltung und von einer Frauenquote. Ich wünsche mir, die eine oder andere Frau in Ihrer Riege sitzen zu sehen. ({3}) Es gibt viel zu tun für die Bundesregierung, dass die aufgezeigten Mängel zukünftig ernsthaft angenommen, angegangen und beseitigt werden. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Katja Keul das Wort.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, genau wie meine Vorredner für den von Ihnen vorgelegten Bericht für das Jahr 2011 danken. Auch dass der Bericht von Ihnen bereits im Januar 2012 vorgelegt wurde, hat neue Maßstäbe gesetzt. ({0}) Leider wird er trotzdem jetzt erst, 2013, beraten. In Zukunft sollten wir dafür sorgen, dass der Bericht eher auf die Tagesordnung kommt. ({1}) Ich möchte mich aber auch bei den vielen Soldatinnen und Soldaten bedanken, die sich mit ihren Anliegen an den Wehrbeauftragten gewandt haben. Gemessen an der Gesamtstärke der Streitkräfte steigt die Zahl der Eingaben seit Jahren prozentual leicht. Das ist aber gut so; denn wir als Bundestag wollen wissen, wie es um unsere Streitkräfte bestellt ist. Wir brauchen mutige Soldatinnen und Soldaten, die uns auf bestehende Defizite hinweisen. So stelle ich mir im Übrigen einen Staatsbürger in Uniform vor. ({2}) Nun möchte ich die knappe Redezeit nutzen, vier Themen anzusprechen. Sorgen bereitet uns unter anderem die hohe Dunkelziffer bei sexueller Belästigung. Zu häufig werden solche Vorfälle weder dem Vorgesetzten noch dem Wehrbeauftragten gemeldet. Die Betroffenen wollen oft nicht als zimperlich gelten. Sexuelle Belästigung ist übrigens nicht nur ein Problem von Frauen; auch Männer leiden darunter, auch in den Streitkräften. Anstatt das Thema aber offensiv anzugehen, streicht der ehemalige Inspekteur der Streitkräftebasis Kühn im Fragenkatalog einer Studie zu diesem Thema unliebsame Passagen heraus. Die offizielle Begründung war, dass das Thema sexuelle Belästigung überrepräsentiert sei. So geht das nicht. ({3}) Wir als Parlament haben ein ausgeprägtes Interesse daran, zu wissen, wie es um die Streitkräfte bestellt ist. Wir wollen unabhängige und keine gefälligen Studien vorgelegt bekommen. Beim Thema „Frauen in den Streitkräften“ kann ich Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, Kritik nicht gänzlich ersparen. In Ihrem Bericht findet sich dazu gerade einmal eine einzige Seite, und das, obwohl die Bundeswehr ihr selbst gestecktes und nicht gerade ambitioniertes Ziel von 15 Prozent Frauen seit Jahren weit verfehlt. Der Anteil liegt momentan bei gerade einmal 6 bis 7 Prozent, und das bei fast hälftigem Anteil im Bereich der Sanität. Selbst dort ist die Generalität weiterhin eine reine Männerdomäne. Das ist zu wenig. ({4}) Das muss man klar kritisieren. Dazu würde ich in Ihrem nächsten Bericht gerne mehr lesen, und vielleicht bei der Gelegenheit auch etwas über die ambitionierten Ziele im Büro des Wehrbeauftragten. ({5}) Frauen sind seit neuestem auch in der KSK ausdrücklich erwünscht. Erstmals haben neun Frauen die sechsmonatige Vorausbildung bei der KSK durchlaufen und erfolgreich abgeschlossen. Wer die entsprechenden Fernsehdokumentationen gesehen hat, weiß, dass diese Ausbildung kein Erholungsurlaub ist. Es kann doch nicht sein, dass man einer Absolventin erst im Nachhinein erklärt, man habe leider übersehen, dass man sie in ihrer bisherigen Verwendung nicht entbehren könne. Die Tatsache, dass in der Bundeswehr vier verschiedene Streitkräfte miteinander um die besten Kräfte konkurrieren, darf nicht zulasten der Soldatinnen und Soldaten gehen. Die Verantwortung als Arbeitgeberin trifft die Bundeswehr im Ganzen. Das Thema „Frauen in der Bundeswehr“ wird übrigens gerne verwechselt mit dem Thema „Vereinbarkeit von Dienst und Familie“. In Ihrem Bericht haben Sie diesen Fehler nicht gemacht. Das will ich positiv hervorheben. Sie benennen die Mängel bei der Vereinbarkeit deutlich und schreiben - Zitat -: Umso bedauerlicher ist es, dass die Bundeswehr im Berichtsjahr über die Einrichtung von Eltern-KindZimmern hinaus keine weiteren wesentlichen Fortschritte auf diesem Gebiet vorweisen kann. Das BMVg gelobte in seiner Stellungnahme dann auch Besserung. Es müssten nur erst einmal die Reformen abgeschlossen sein und die neuen Strukturen richtig wirken. Dann würde man auch vermehrt Betriebskindergärten einrichten. Nun wissen wir aber aus Erfahrung, dass eine Bundeswehrreform niemals wirklich abgeschlossen ist. Der Bedarf ist aber nicht erst seit heute da, und die Bundeswehr muss sich als Arbeitgeberin auf dem Markt behaupten. Das vierte und letzte Thema, das ich heute ansprechen will, kommt mir in Ihrem Bericht ein bisschen zu harmlos daher: das Problem des Rechtsextremismus. Die Morde des rechtsextremen NSU haben uns alle schockiert. Sie selbst berichten, dass Sie Verbindungen dieser Szene zur Bundeswehr geprüft und verneint haben. Was Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten, weil das Verteidigungsministerium es Ihnen nicht gesagt hatte, war die Existenz der Akte Uwe Mundlos. Aus dieser Akte ging hervor, dass Mundlos in seiner Bundeswehrzeit wegen rechtsextremer Äußerungen aufgefallen und deshalb vom MAD vernommen worden war. Trotzdem wurde er zweimal befördert - entgegen den Dienstvorschriften. Auch wenn dies alles lange her ist, kann man daraus immerhin noch zweierlei schließen: zum einen die Überflüssigkeit des MAD. ({6}) Zum anderen hat das BMVg noch im Juni in der Stellungnahme zum Bericht des Wehrbeauftragten so getan, als ob es zu dem Thema nichts zu sagen gäbe, obwohl die Akte dort inzwischen aufgefallen sein dürfte. Damit wurde die Chance verpasst, zu beweisen, dass man das Thema ernst nimmt und unverzüglich alle Erkenntnisse auf den Tisch zu legen bereit ist. Nicht nur wir Parlamentarier, auch die Bevölkerung muss sich darauf verlassen können, dass das Thema „Rechtsextremismus in den Streitkräften“ nicht kleingeredet wird. ({7}) Der Wehrbeauftragte verspricht uns, auch künftig darauf zu achten, und das begrüßen wir. Wir sind schon auf den nächsten Bericht gespannt, den er sicherlich so gut wie fertig hat. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Anita Schäfer hat nun für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Das gerade abgelaufene Jahr 2012 war ein gutes Jahr für die Bundeswehr. Trotz fortlaufender gefährlicher Einsätze und trotz der Umstellungen, die die laufende Strukturreform mit sich bringt, ist mir bei diesem Urteil eines besonders wichtig: Erstmals seit längerer Zeit hatten wir in diesem Jahr keine gefallenen deutschen Soldaten in den Einsatzgebieten der Bundeswehr zu beklagen. Das liegt sicherlich daran, dass die ISAF-Truppen in Afghanistan bei der Operationsführung zunehmend gegenüber den einheimischen Sicherheitskräften in den Hintergrund treten. Aber hier zeigt sich auch die Verbesserung bei Schutz und Ausrüstung der Soldaten, die der Wehrbeauftragte immer wieder angemahnt hat, die der Bundestag in weitgehender Einmütigkeit verfolgt hat und die die Bundesregierung über Jahre hinweg umgesetzt hat. Ausrüstung ist zwar nicht alles, und vollständigen Schutz wird es nie geben. Wir haben gesehen, dass selbst schwer gepanzerte Fahrzeuge zerstört werden können. Aber die Situation für die Truppe hat sich im Laufe unseres Engagements in Afghanistan insgesamt erheblich verbessert, nicht nur im Einsatz selbst, sondern auch bei der Bewältigung der Einsatzfolgen einschließlich physischer und psychischer Verwundungen. Auch dabei wird es nie einen idealen Zustand geben. Wir werden weiter aufmerksam bleiben, wo es noch Verbesserungsbedarf gibt. Ich möchte an dieser Stelle einmal allen hier im Haus und außerhalb danken, die die bisherigen Verbesserungen bewirkt haben, und besonders die gute Zusammenarbeit des Wehrbeauftragten mit dem Parlament und der Regierung würdigen. Dennoch ist jeder bisherige und künftige Verwundete und Gefallene einer zu viel. Mit der geplanten Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung bis 2014 zeichnet sich zwar eine weiter abnehmende Intensität der ISAF-Mission ab. Wir werden die afghanische Regierung auch danach in geringerem Umfang weiterhin unterstützen, sofern die völkerrechtlichen Grundlagen dafür geschaffen werden. Unsere Rolle in Afghanistan wird also kleiner. Doch das heißt nicht, dass wir in unseren Bemühungen um Verbesserungen für unsere Soldaten nachlassen können; denn neue Einsätze werden kommen. Gegenwärtig läuft die Mission zur Verstärkung der integrierten NATO-Luftabwehr in der Türkei an. Durch den Schutz auch deutscher Patriot-Raketen wird dieser Partner, der den syrischen Bürgerkrieg vor der Haustür hat, in die defensive Haltung des Bündnisses eingebunden. Dies ist nicht das erste Mal, dass deutsche Truppen im Rahmen der NATO in die Türkei verlegt werden. Schon während des Kalten Kriegs waren wir nicht nur Empfänger der Unterstützung unserer Partner, sondern standen diesen gegenüber selbst in der Pflicht, zur gemeinsamen Sicherheit in der NATO beizutragen. Dieser Pflicht kommen wir mit dem Einsatz in der Türkei nach, nicht um in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen, sondern um ein Übergreifen auf das Bündnisgebiet und damit auch auf Europa zu verhindern. Ich wünsche unseren Soldaten, die in diesen Einsatz gehen, alles Gute. ({0}) Ihr Auftrag dort ist nicht weniger wichtig und nicht weniger wert als der in Afghanistan, im Kosovo oder am Horn von Afrika. Wir werden auch diesen genau verfolgen und handeln, wenn es objektiven Verbesserungsbedarf gibt. Ich erinnere beispielsweise an die kürzlich vom Deutschen BundeswehrVerband geäußerten Bedenken hinsichtlich der ABC-Abwehrfähigkeiten. Besorgt blicken wir auch nach Mali, wo die Entwicklung die Pläne für eine Ausbildungsmission der EU zu überholen droht. Unsere französischen Freunde haben - erst heute Vormittag haben wir den Abschluss des Élysée-Vertrags vor 50 Jahren gewürdigt - gerade noch verhindert, dass die Islamisten vom Norden des Landes aus auf die Hauptstadt vorstoßen konnten. Heute Mittag haben die Minister de Maizière und Westerwelle erklärt, dass wir den Aufbau der westafrikanischen ECOWASMission mit zwei Transall-Maschinen unterstützen werden. Das ist gut so; denn es ist in unserem gemeinsamen Interesse, dass in Mali kein weiterer gescheiterter Staat entsteht, den international agierende Terroristen als Operationsbasis auch gegen Europa nutzen können. Nach wie vor steht aber auch eine deutsche Beteiligung an der Ausbildungsmission im Raum, über die die EU-Außenminister morgen entscheiden wollen. Unabhängig davon, wie der Gesamtumfang unseres Engagements ausfällt, wird die Belastung der Bundeswehr dadurch wieder steigen. Wir müssen uns stets klar darüber sein, dass dies neben der ideellen und materiellen Attraktivität sowie der Vereinbarkeit von Familie und Dienst wesentlich zur Stimmung in der Truppe und auch zu ihrem Bild in der Öffentlichkeit beiträgt, was nicht zuletzt die Nachwuchslage mitbestimmt. Meine Damen und Herren, vor kurzem wurde zwar noch die Meldung aufgebauscht, dass etwa 30 Prozent der neuen freiwillig Wehrdienstleistenden den Dienst in der sechsmonatigen Probezeit verlassen. Das ist aber kein wesentlicher Unterschied zu der Meldung vom vergangenen Herbst, wonach die Abbrecherquote 27 Prozent in den ersten zwei Monaten betrage. Das bleibt zwar unbefriedigend, entspricht aber weiterhin den Erfahrungen aus der Wirtschaft, und es bleiben auch nicht, wie es hieß, Tausende Stellen unbesetzt, sondern die 5 000 vorgesehenen Dienstposten für freiwillig Wehrdienstleistende können problemlos abgedeckt werden. Bei den Zeitsoldaten bestehen in dieser Hinsicht ohnehin keine größeren Probleme. Bei dieser Feststellung wollen wir es aber nicht belassen, sondern wir wollen mit einer Vielzahl von Maßnahmen die Attraktivität des Dienstes bei der Bundeswehr weiter steigern. Insbesondere das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Dienst“, Stichpunkte „Pendler“ und „Kinderbetreuung“, erfordert weiterhin unsere Aufmerksamkeit. ({1}) Anita Schäfer ({2}) Ich hoffe, dass sich auch der freiwillige Wehrdienst zu einem Erfolgsmodell wie der zivile Bundesfreiwilligendienst entwickelt. Daran sollten wir alle gemeinsam arbeiten. Frau Präsidentin, zum Schluss darf ich noch dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich für ihr großes Engagement danken, das sie zum Wohle der Sicherheit unserer Soldaten gezeigt haben. Herzlichen Dank noch einmal! ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Reinhard Brandl spricht nun ebenfalls für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Unsere Verantwortung als Parlament für die Armee zeigt sich nicht nur in der Mandatierung der Einsätze - Frau Kollegin Schäfer hat einige angesprochen - und nicht nur darin, dass wir einen Haushalt aufstellen, in dem auch Organisation und Größe der Bundeswehr festgelegt sind, sondern auch darin, dass wir einen Wehrbeauftragten wählen als zentralen Ansprechpartner für die Soldaten und als Ausdruck von Kontrolle und Verantwortung für das Innenleben der Bundeswehr. ({0}) In einer Zeit, in der die Bundeswehr von Grund auf neu ausgerichtet wird, ist das Innenleben der Bundeswehr natürlich in Aufruhr. Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen, Herr Königshaus, dafür bedanken, dass Sie diese Neuausrichtung der Bundeswehr so konstruktiv begleiten und auf diese Weise dazu beitragen, dass Härten und Ungerechtigkeiten erkannt und in vielen Fällen auch ausgemerzt werden können. Herr Wehrbeauftragter, Ihre Rede hat deutlich gemacht: Sie legen den Finger auch dann in die Wunde, wenn der Auftrag, den wir hier erteilen, nicht zur Ausrüstung und zur Ausbildung der Soldaten passt. Da haben Sie recht; denn wir schulden unseren Soldaten die bestmögliche Ausbildung, den bestmöglichen Schutz und das bestmögliche Einsatzgerät. Ich nenne nur Stichworte aus Ihrem Bericht: geschützte Fahrzeuge, Handwaffen, Munition, Schießausbildung, Nachtsichtgeräte, Hubschrauber, Route Clearance, Drohnen. Wenn wir 2012 keinen Gefallenen zu beklagen hatten - das ist hier mehrfach angesprochen worden -, dann hat das auch damit zu tun, dass wir bei der Ausrüstung und bei der Ausbildung besser geworden sind. Das ist mit ein Verdienst des Wehrbeauftragten. ({1}) Natürlich werden wir bei der Ausbildung und vor allem bei der Ausrüstung nie einen perfekten Stand erreichen, weil sich Auftrag und Einsatzbedingungen der Soldaten immer wieder dynamisch ändern. Diese ändern sich schneller, als die Beschaffung darauf reagieren kann. Ich hoffe aber, dass wir mit dem neuen Rüstungsprozess, ein zentraler Baustein in der Neuausrichtung, die zeitliche Lücke zwischen Bedarf und Deckung des Bedarfs weiter verkürzen können. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was heute schon des Öfteren angesprochen worden ist und was mich persönlich auch besonders freut, ist, dass der Zustrom zur Bundeswehr weiterhin ungebrochen ist. Wir denken immer nur an die freiwillig Wehrdienstleistenden. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass im Januar dieses Jahres 3 500 junge Männer und Frauen ihren Dienst als Zeitsoldaten bei der Bundeswehr begonnen haben. Wir haben für das Jahr 2013 insgesamt einen Bedarf von 16 150 Zeitsoldaten. Das heißt, der Bedarf für 2013 ist bereits heute schon zu fast 25 Prozent gedeckt - und das trotz rückgängiger Jahrgangsstärken, trotz guter Alternativen auf dem Arbeitsmarkt, trotz der Schwierigkeiten bei der Neuausrichtung und trotz der Tatsache, dass der Soldatenberuf natürlich ein gefährlicher Beruf ist. Diese Zahl ist für mich ein guter Indikator für das Ansehen und den Stellenwert der Bundeswehr in der Gesellschaft. ({2}) Aber täuschen wir uns nicht. Der Wettbewerb um die besten Köpfe wird schon aufgrund der Demografie immer härter werden. Im Dezember wurden die neuen Karrierecenter der Bundeswehr in allen Bundesländern in Dienst gestellt. Auch das ist ein wichtiger Bestandteil der Neuausrichtung, und auch das ist ein Punkt, auf den wir große Hoffnungen setzen. Es muss gerade für uns als Parlament das Ziel sein, die Besten für die Bundeswehr zu gewinnen; denn wir stellen - das ist in den Reden der Kolleginnen und Kollegen auch immer wieder deutlich geworden - hohe ethische und moralische Ansprüche an unsere Soldaten. Der Bericht des Wehrbeauftragten ist für uns ein wichtiger Seismograf dafür, wie diese große Truppe von 200 000 jungen Männern und Frauen diesen Anforderungen gerecht wird. Herr Königshaus, wenn ich Ihren Bericht lese, dann muss ich feststellen, dass unsere Truppe, die Bundeswehr, diesen hohen Anforderungen zum großen Teil auch gerecht wird. Darauf können wir stolz sein. Herr Königshaus, ich danke Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihre Arbeit, und ich danke Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2011 des Wehrbeauftragten. Das sind die Drucksachen 17/8400 und 17/11215. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt Vizepräsidentin Petra Pau dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus Heil ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Künftige Wirtschaftkrisen erfolgreich meistern - Kurzarbeitergeld unter erleichterten Bedingungen wieder einführen - Drucksache 17/12055 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion. ({2})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen und, sofern uns sonst noch jemand zuschaut, meine Damen und Herren! Selten wurde eine politische Maßnahme so einhellig gelobt und war messbar so erfolgreich wie das konjunkturelle Kurzarbeitergeld. Die Minister Scholz und Steinbrück - ich erinnere daran gerne - hatten es in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 eingeführt. Herr Weise, der Chef der BA - ich habe das im Handelsblatt vom 12. Januar gelesen -, hat daran erinnert: In Spitzenzeiten dieser Krise, so sagt er, waren 1,7 Millionen deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Bezug dieses konjunkturellen Kurzarbeitergeldes. Das waren 1,7 Millionen Menschen, die weiter in Lohn und Brot bleiben konnten. Aber es war nicht nur gut für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, es zahlte sich auch aus für die Unternehmen; denn Tausende - es sind mehr als 13 000 Unternehmen seinerzeit gewesen konnten die Krisenzeit so abpuffern und ihre Fachkräfte halten - ein wichtiges Thema, das in den nächsten Jahren immer wichtiger werden wird; zumindest an der Stelle mögen wir uns einig sein. Der große Vorteil war: Beim Aufschwung, der dann ja auch kam, hatten die Unternehmen sofort wieder ihr Know-how und konnten durchstarten. Das ist einer der Gründe, warum wir so stabil aus dieser Krise herausgekommen sind. ({0}) Ich will nur sagen: Dieses Kug - so kürzen wir das ja ab - hat seinen Praxistest glänzend bestanden. Aber leider hatte es Schwarz-Gelb eilig, dieses Instrument wieder zurückzuführen. Sogar vorzeitig, drei Monate früher, als ursprünglich vereinbart, hieß es: Wir nehmen das wieder zurück. - Das halte ich und das hält meine Fraktion mit mir für einen gravierenden Fehler. ({1}) Wir haben ihn schon damals kritisiert und haben Verstetigung beantragt. Damals, 2011, fanden wir kein Gehör bei Mehrheit und Regierung; im Gegenteil - ich sagte es -: Sie haben die Sonderregelung verkürzt. Jetzt ist die Frage: Wie sieht es heute aus? Etwas dazugelernt? Ich hoffe, ja; denn wir wollen mit unserem Antrag „Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreich meistern - Kurzarbeitergeld unter erleichterten Bedingungen wieder einführen“ einen Impuls geben, dem alle hier folgen sollten, weil es um eine ganz wichtige politische Botschaft geht. Ich gebe zu: Erleichterte Kurzarbeit ist SPD-Politik in Reinform. ({2}) Warum sage ich das so? Es ist eine Beschäftigungsbrücke im Konjunkturabschwung. Es gibt kein Argument dagegen. Es geht um die Sicherung von Arbeitsplätzen, und es geht um einen Weg, die auftragsarme Zeit für Weiterbildung zu nutzen und aus der Beschäftigungsbrücke, die Kurzarbeit ganz sicher ist, auch eine Qualifizierungsbrücke zu machen. ({3}) Weil der eine oder andere Einwand kommen mag, will ich sagen: Dass das noch nicht so rund gelaufen ist, wundert mich persönlich nicht. Wir haben das erstmals ausprobiert: eine Verquickung von Qualifizierungsangeboten und Kurzarbeitergeld. Ich finde, das ist etwas, auf das wir unser Augenmerk auch zukünftig richten sollten; denn das treibt den nächsten Aufschwung an und hilft, Facharbeiterinnen und Facharbeiter in den Unternehmen zu halten, weil wir sie morgen ja so dringend brauchen. Das heißt im Blick zurück: Die konjunkturelle Kurzarbeit hat in den Krisenjahren starke Einbrüche am Arbeitsmarkt verhindert und dazu beigetragen, dass wir die besten Arbeitsmarktzahlen der letzten Jahrzehnte verzeichnen konnten. Ich will Ihnen noch etwas sagen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit mir nicht untergeschoben wird, ich neigte zum Schwarzmalen; das ist überhaupt nicht meine Art. Wir werden morgen hier den Jahreswirtschaftsbericht diskutieren. Ich brauche keine Kristallkugel, um sagen zu können: Da wird es um schlechtere Perspektiven und Prognosen gehen. Sie werden nicht mehr das Wachstum zeigen, das wir in den letzten Monaten und Jahren hatten. Deutschland - das wissen viele - befindet sich in einer prekären Stagnation, weil die Rezession im EuroRaum auch unsere Volkswirtschaft herunterzieht. Deshalb ist Vorsorge angesagt, die darin besteht, dass wir uns wappnen und wieder eine bessere Kurzarbeitssituation schaffen. Die SPD sagt sogar: Es wäre klug, wir würden das, was wir bei der konjunkturellen Kurzarbeit als Vorteile hatten, verstetigen, damit wir nicht ein Auf und Ab in den Rahmenbedingungen für Kurzarbeit haGabriele Lösekrug-Möller ben, sondern den Arbeitgebern und Unternehmen eine ganz klare Grundlage liefern, sodass sie wissen: Auch in konjunkturell schwierigen Zeiten haben wir die staatliche Regelung zur Unterstützung an unserer Seite. Wir wissen: Das Problem des Missbrauchs ist entgegen manchem Unken sehr gering. Ich erinnere daran: Die Remanenzkosten bleiben bei den Unternehmen. Das sind fast ein Viertel der Ausgaben. Das sorgt dafür, dass Unternehmen nicht leichtfertig sagen: Wir schicken unsere Leute in Kurzarbeit. Gerade in den letzten Tagen mussten wir hören, dass MAN Kurzarbeit angemeldet hat. Wir reden also nicht etwas herbei, sondern sagen: Wir als Gesetzgeber müssen jetzt handeln, damit wir eine gute Grundlage haben. - Ein Einwand, der vermutlich von meinen nachfolgenden Rednern von den Regierungsfraktionen kommt, ist: Das haben wir alles schon im Dezember erledigt. - Nein, das haben Sie eben nicht. § 109 SGB III erlaubt, dass man per Verordnung die Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld verlängern kann. Ja, das haben Sie gemacht. Aber die qualitativen Kriterien, von denen wir sagen, dass sie die Beschäftigungs- und Qualifizierungsbrücke bringen, haben Sie gar nicht aufgegriffen. Da sagen wir: Bitte mehr Mut! Unsere Wirtschaft braucht das. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hoffen darauf. Unternehmen brauchen einen sicheren Planungshorizont. Deshalb, meine Damen und Herren, freue ich mich auf die Diskussion, die wir zu unserem Antrag haben werden. Ich kann Ihnen versichern: Sollten Sie ihm zustimmen, zumindest in weiten Teilen, so freuen wir uns. Das steht dem Parlamentarismus in Deutschland gut zu Gesicht. Peter Struck, der heute Morgen ob seiner Qualitäten als Parlamentarier gewürdigt wurde, hat viel Wert darauf gelegt, dass Parlamentarier Mut haben, zu sagen, dass auch gute Vorschläge durch die Bearbeitung im Parlament besser werden können. Darauf setze ich. Ich hoffe, dass wir einen guten Weg gehen. Wir werden ihn für einen weiterhin stabilen Arbeitsmarkt und eine gute wirtschaftliche Lage in Deutschland brauchen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die Unionsfraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegen von der Sozialdemokratie! Sehr geehrte Frau Kollegin Lösekrug-Möller, Sie haben vielleicht etwas irritiert reagiert, als ich während Ihrer Rede spontan klatschen musste, weil ich feststellte: Jawohl, die Dame hat recht. Das erste Drittel Ihrer Rede konnte ich voll und ganz unterschreiben. Dann haben aber leider die Qualität und Seriosität Ihrer Rede ein bisschen nachgelassen. ({0}) - Sie hätten sich Redezeit geben lassen können, Frau Kramme. Frau Lösekrug-Möller, Sie haben recht: Wir können von Glück reden, dass wir zu Beginn der letzten Krise engagiert und dynamisch - zugegeben auch mit einem gewissen Verdienst des damaligen Arbeitsministers Olaf Scholz - die Kurzarbeiterregelung von zunächst 6 auf 18 Monate und dann auf 24 Monate verlängert haben. Damit hatten wir während der Krise das richtige Mittel, qualifizierte Arbeitsplätze in den Unternehmen zu halten. Diese Maßnahme schuf Vertrauen sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer, die ihren Job zwar behalten konnten und weniger verdient haben, aber trotzdem gewusst haben: Ich bin noch integriert. Ich bin noch im Unternehmen. - Das war richtig. Ich wünschte mir, dass ähnliche Modelle von anderen Ländern in Europa, die auf dem Arbeitsmarkt noch viel mehr Probleme haben als wir, ausprobiert würden. Es müsste geprüft werden, ob es für Spanien, Portugal, für Griechenland vielleicht infrage käme, ähnliche Methoden anzuwenden. Liebe Frau Lösekrug-Möller, Sie hätten ehrlicherweise dazusagen müssen, dass Olaf Scholz in der letzten Legislaturperiode - wir haben es beide hautnah erlebt bei der ersten Verlängerung des Bezugs des Kurzarbeitergeldes vorgeschlagen hat, Qualifizierung zur Voraussetzung für die vom Kurzarbeitergeldbezug betroffenen Mitarbeiter zu machen. Diesen Vorschlag haben wir nicht aufgegriffen, weil er nicht praktikabel war. Der Wirtschaftseinbruch war in der Krise mit 5,1 Prozent so heftig, dass wir nicht noch einige Monate hätten qualifizieren können. Wir mussten es ad hoc gewähren. Eines ist auch richtig: Wir haben damals sehr schnell reagiert. Ein großes Kompliment an alle an der Entscheidungsfindung beteiligten Parteien des Bundestages. Innerhalb einer Woche haben wir die erste Lesung, die Ausschussanhörung, die zweite Lesung und dann das endgültige Gesetz durch den Bundestag gebracht. Das heißt, wir sind kampagnenfähig. Wir sind in der Lage, auf eine Verschlechterung schnell zu reagieren. ({1}) Deshalb hat der Antrag der SPD völlig zu Recht die Überschrift: „Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreich meistern - Kurzarbeitergeld unter erleichterten Bedingungen wieder einführen“. Es heißt aber: „Künftige Wirtschaftskrisen“. Wir müssen erst einmal schauen, wie sich das Ganze tatsächlich entwickelt. Außerdem darf ich Sie daran erinnern - Sie haben das Bonmot selbst vorweggenommen -, dass die unionsgeführte Bundesregierung durch die Verordnung über die Bezugsdauer für das Kurzarbeitergeld mit Wirkung zum 14. Dezember 2012 - lange vor Ihrem Antrag vom 14. Januar - die gesetzlich auf sechs Monate begrenzte Bezugsdauer für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Anspruch auf Kurzarbeitergeld bis zum 21. De26706 zember 2013 entsteht, bereits auf zwölf Monate verlängert hat. Durch die Möglichkeit einer bis zu zwölfmonatigen Bezugsdauer wird den Arbeitgebern die eingangs besprochene Planungssicherheit sowie die Möglichkeit gegeben, kurzzeitige konjunkturelle Einbrüche zu überbrücken, ohne Mitarbeiter entlassen zu müssen. Die Verlängerung stellt eine Vorsichtsmaßnahme dar, um einem möglichen wirtschaftlichen Abschwung wirksam entgegenzutreten. Das heißt aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es um die konjunkturelle Lage in Deutschland so schlecht steht, wie Sie versuchen, es hier darzustellen. ({2}) Die schwarzen Wolken, die einige Kollegen der SPD - auch Sie, Frau Krellmann - hier an den Himmel projizieren wollen, kann ich bisher beim besten Willen nicht erkennen. Im Gegenteil! Deutschland hat so wenig Arbeitslose wie seit über 20 Jahren nicht mehr, zum großen Teil dank der christlich-liberalen Regierung, die dieses Land in den letzten drei Jahren genießen durfte. ({3}) Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war 2012 mit 41,5 Millionen Menschen so hoch wie nie zuvor. ({4}) Das haben wir auch in der Großen Koalition nicht geschafft, Frau Lösekrug-Möller. Mit 2,897 Millionen Arbeitslosen im Jahr 2012 ist das niedrige Niveau des Boomjahres 2011 sogar um 79 000 unterschritten worden. Die Arbeitslosenquote sank um 0,3 Prozentpunkte auf 6,8 Prozent. Bayern lag hierbei mit einer durchschnittlichen Quote von 3,7 Prozent an der Spitze. Am liebsten verweise ich auf meinen Wahlkreis: Im Landkreis Würzburg haben wir eine Arbeitslosenquote von 2,6 Prozent. Da kann man schon so langsam von Vollbeschäftigung sprechen. Selbstverständlich gehört es auch dazu, zu sagen, dass die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt gegen Ende des vergangenen Jahres abgenommen hat und erste Spuren einer Konjunktureintrübung sichtbar werden. Das hängt teilweise mit den internationalen Exportchancen gerade in Krisenländer im südlichen Europa zusammen. So haben sich die infolge der Staatsschuldenkrise in Europa sowie aufgrund der schlechteren konjunkturellen Prognose anhaltende Verunsicherung und Zurückhaltung bei den Unternehmen vermehrt auf dem hiesigen Arbeitsmarkt bemerkbar gemacht. Allerdings warne ich davor, jetzt in Hysterie auszubrechen; denn der Arbeitsmarkt stellt sich trotz der nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik nach wie vor äußerst robust dar und rechtfertigt in keiner Weise - Frau Kollegin Lösekrug-Möller, hören Sie mir zu! - diese Art von Alarmstimmung, die Sie hier zu verbreiten versuchen. Auch die Aussichten sind für Deutschland noch bei weitem besser als für viele andere Staaten in Europa. Für das Jahr 2013 ist nicht mit einem gravierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Trendwende zum Schlechteren zu rechnen. Die vorliegenden Daten deuten darauf hin, dass der Arbeitsmarkt auch weiterhin robust reagiert und wir die Lage am Arbeitsmarkt sehr stabil halten können. Die Zahl der Kurzarbeiter liegt trotz einer geringen Zunahme noch im normalen Bereich, sodass es auch hier keine Indikatoren gibt, die auf eine krisenhafte Entwicklung hindeuten. Im Jahr 2011 lag die Zahl der Kurzarbeiter bei durchschnittlich 102 000, 2012 bei unter 100 000. Laut Prognose der Bundesagentur für Arbeit wird für 2013 mit 180 000 Kurzarbeitern gerechnet. Nur zur Erinnerung: Zur Zeit der Wirtschaftskrise lag diese Zahl bei etwa 1,5 Millionen; das nur, um Ihnen die Relationen ein wenig vor Augen zu führen. Das Bruttoinlandsprodukt ist damals um 5 Prozentpunkte eingebrochen. Zurzeit wird darüber diskutiert, ob es um 0,2 oder um 0,3 Prozentpunkte sinkt. In der Zeit der Weltwirtschaftskrise lag dieser Wert bei 5,1 Prozent. Auch hier sollten Sie sich die Relationen klarmachen. Die Präsidentin bittet mich, so langsam ans Ende zu denken. Ich glaube, das vor uns liegende Jahr wird für die deutschen Arbeitnehmer und Arbeitgeber von Segen geprägt sein, insbesondere wenn im September die christlich-liberale Koalition in die Verlängerung geht. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine schöne Zeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lehrieder und andere vergessen immer die wichtigsten Akteure in diesem Zusammenhang: ({0}) die Betriebsräte und die Vertrauensleute im Betrieb. Sie sind diejenigen, die die Probleme aufgreifen und die die Kurzarbeit und all die anderen Instrumente umsetzen, die hier diskutiert wurden. Sie sind in Krisenzeiten mit die ersten auf der Matte, die etwas unternehmen können. Ihre Aufgabe ist es, Arbeits- und Ausbildungsbedingungen im Betrieb zu sichern. Sie brauchen dazu eine Werkzeugkiste, mit der sie sicher und zuverlässig arbeiten können. Wichtigstes Werkzeug ist in dem Zusammenhang der Umgang mit Arbeitszeit. Arbeitszeitkonten, Verkürzung und Verlängerung von Arbeitszeit stehen im Zentrum jeder betrieblichen Auseinandersetzung. Kurzarbeit ist dabei ein Kernwerkzeug der Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wie erfolgreich dieses Instrument war, konnte man in der letzten Krise sehen. Daher ist es unverständlich, wieso man die erweiterte Kurzarbeitergesetzgebung aus der Krise 2009 nicht zu einer Dauereinrichtung macht. Unter diesem Gesichtspunkt finde ich den Antrag der SPD gut und richtig. Was ich aber in dem Antrag nicht gefunden habe, ist der Vorschlag bzw. die Forderung, auch Leiharbeitern den Bezug von Kurzarbeitergeld zu ermöglichen. Haben Sie das übersehen? Haben Sie das vergessen? Oder soll das gar nicht geregelt werden? Es ist das ureigenste Unternehmerrisiko der Leiharbeitsfirmen, Arbeitsausfall aufzufangen. Leider können sie das Risiko problemlos an ihre Beschäftigten weitergeben: Sie werden einfach entlassen. Die Linke fordert deshalb: Kurzarbeitergeld auch für Leiharbeitsbeschäftigte. ({2}) Die Kurzarbeit ist ein Instrument zur schnellen Reaktion beim Eintritt einer Krise; es geht aber nicht an die Ursachen. Die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit nimmt seit der Krise 2009 zum ersten Mal wieder zu. Der Grund liegt nicht zuletzt in der Europapolitik der Kanzlerin. Der Fiskalpakt und die den Krisenländern Europas verordnete radikale Sparpolitik haben zu einem dauerhaften Einbruch des Wachstums und der Nachfrage in diesen Staaten geführt; die staatliche Schuldenkrise haben sie damit nicht gelöst. Für diese Politik stimmten leider auch die SPD und die Grünen. Die Linke hat als einzige Partei diesen Kurs konsequent abgelehnt. Deutschland exportiert 60 Prozent seiner Produkte in Länder der EU. Jetzt wundern sich alle, wenn exportorientierte Firmen in Deutschland in die Krise geraten. Ihre Politik ist verantwortlich dafür. ({3}) Momentan freuen sich nur Banken über Ihre Politik; sie machen weiter leichtes Geld mit der Krise der Staatsfinanzen. Das muss ein Ende haben. Die Linke will die Finanzmärkte strikt regulieren und Millionäre zur Kasse bitten. ({4}) Die Linke fordert ein Ende der brutalen Sparpolitik im Euro-Raum und einen Marshallplan für Südeuropa. Nur so kommt die Wirtschaft wieder auf die Beine, sodass wichtige Investitionen getätigt werden können. ({5}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung verschärft mit ihrer Politik die Krise, anstatt sie zu lösen. Die Verlängerung der Kurzarbeit ist absolut nötig. So erhalten die Beschäftigten und ihre Betriebe Planungssicherheit. Nur die Linke hat ein wirkliches Antikrisenprogramm: Wir spannen einen Rettungsschirm nicht nur für die Banken, sondern für die Menschen in Deutschland und Europa. Wir wollen die Profiteure und Spekulanten zur Verantwortung ziehen. Wir machen Politik für die Menschen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Pascal Kober hat nun für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die derzeitige Arbeitsmarktsituation in Deutschland ist sehr gut: Wir haben die höchste Erwerbstätigenzahl in der Geschichte der Bundesrepublik und die geringste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Das ist in erster Linie der Erfolg der vielen fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Aber es ist auch recht, dass wir vonseiten der Regierungskoalition einmal darauf hinweisen, dass das auch Ergebnis einer richtigen Politik ist. ({0}) Es wäre schön, wenn auch die Opposition das einmal eingestehen könnte. Frau Krellmann, Sie sagen, dass Sie Politik für die Menschen machen wollen. Dann müssen Sie doch einmal anerkennen, dass diese Regierung eine so erfolgreiche Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - auch das sind Menschen - gemacht hat wie noch keine in der Geschichte der Bundesrepublik. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage oder eine Bemerkung der Kollegin Lösekrug-Möller?

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Kollege Kober, Sie haben gerade die Erfolge Ihrer Politik auf dem Arbeitsmarkt hervorgehoben. Ich habe im Handelsblatt vom 12. Januar gelesen, dass Herr Weise schwere Bedenken hinsichtlich der Mittelausstattung der BA hat, sofern sich die Krise verschärft oder unsere Wirtschaft in Schwierigkeiten kommt. Unter anderem sagt er - von Ihnen möchte ich wissen, ob Sie das auch so sehen -, dass er ein schweres Jahr erwartet. Ich zitiere aus dem Handelsblatt: Im Jahresdurchschnitt dürfte die Arbeitslosigkeit aber nicht über die Drei-Millionen-Marke steigen. Ein wichtiger Grund dafür sei die schrumpfende Bevölkerungszahl. Ist das Ihr politischer Erfolg? Habe ich das richtig verstanden? ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Lösekrug-Möller, die schrumpfende Zahl der Menschen in unserem Land ist nicht das Ergebnis der Politik dieser Regierung. Ganz im Gegenteil: Diese Regierung und die Koalitionsfraktionen machen viel für Familien mit Kindern und für die Kinderbetreuung, gerade um diesem Trend entgegenzuwirken. ({0}) Auch in anderen Bereichen ist diese Regierung so erfolgreich wie keine vor ihr. Deshalb, liebe Frau Lösekrug-Möller: Wir sehen unsere Verantwortung und gehen die Herausforderungen entschieden an. - Vielen Dank. ({1}) Diese Regierung hat eine wachstumsfreundliche Politik gemacht: gleich zu Beginn der Legislaturperiode beispielsweise durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, zuletzt jetzt am 1. Januar 2013 durch die Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge. Damit haben wir jeweils entscheidende Akzente gesetzt und Impulse gegeben, damit die Wirtschaft auf Wachstumskurs kommt und bleiben kann. Das ist gute Politik im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist gut, viel besser als es in den Nachbarländern bedauerlicherweise festzustellen ist. Deutschland ist gut durch die Krisenjahre gekommen. Es hat besser die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise verkraftet als vergleichbare Länder um uns herum. Das Wachstum, das wir hier zu verzeichnen haben, ist alles andere als selbstverständlich. ({2}) Ein wesentlicher Grund dafür ist in der Tat das Instrument der Kurzarbeit, so wie wir es in der Wirtschaftsund Finanzkrise in Deutschland angewendet haben. Nicht umsonst schauen unsere europäischen Nachbarn und auch andere Länder weltweit auf dieses Erfolgsmodell und wollen es nun auch nachahmen. ({3}) Vor allem die Arbeitnehmer haben in der Krise Opfer gebracht. Sie haben auf Gehalt verzichtet, um ihre Arbeitsplätze zu sichern. Aber auch für die Unternehmerinnen und Unternehmer ist die Kurzarbeit nicht kostenfrei. Insofern ist es eine gemeinsame Anstrengung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - auch wenn sie gewerkschaftlich organisiert sind -, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und der Politik, dass das gemeinsam gelungen ist. Ich habe bereits auf die Erfolge des Arbeitsmarktes hingewiesen, aber uns allen ist klar, dass das die momentane Situation ist. Jetzt komme ich auf das zurück, was Frau Lösekrug-Möller gesagt hat: Die Erwartungen für dieses Jahr signalisieren uns zwar weiterhin Wachstum, aber es gibt in der Tat auch Anzeichen, dass die angespannte Lage bei unseren europäischen Nachbarn auch bei uns zu Veränderungen führen könnte. Die Bundesagentur für Arbeit - Frau LösekrugMöller, darauf haben Sie sich in Ihrer Frage ja bezogen geht davon aus, dass die Zahl der Kurzarbeiter in diesem Jahr bei circa 200 000 Menschen liegen dürfte. ({4}) Das wären dann aber bei weitem noch nicht so viele wie beim Höhepunkt im Mai 2009, als es 1,4 Millionen Menschen waren. Zudem sind dieses Jahr regionale und branchenspezifische Unterschiede zu erwarten. So wird der Schwerpunkt der Kurzarbeit voraussichtlich im verarbeitenden Gewerbe liegen, und sie wird besonders in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland eingesetzt werden. Kurzarbeit wird kein deutschlandweites Massenphänomen sein. Daher sehen wir auch keinen akuten gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Die bestehenden Gesetze und der Handlungsspielraum der Bundesagentur für Arbeit sind derzeit ausreichend. Auf die Anzeichen, dass wir in diesem Jahr mit mehr Kurzarbeit zu rechnen haben, hat diese Bundesregierung schnell und unkompliziert reagiert. Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler und Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen haben sich Anfang Dezember 2012 darauf verständigt, dass das Kurzarbeitergeld statt wie bisher sechs Monate künftig zwölf Monate ausbezahlt werden kann. Das zeigt einmal mehr: Die Bundesregierung kann handeln, wenn es nötig ist. Sie tut es und hat die Grundlage dafür gelegt, dass in Zukunft flexibel und schnell gehandelt werden kann, wenn die Situation auf dem Arbeitsmarkt dies erfordert. Weitergehende Forderungen, wie sie auch der Antrag der SPD beinhaltet, halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für eindeutig verfrüht. Wir sollten mögliche Probleme oder eine Krise nicht herbeireden, Frau Lösekrug-Möller. ({5}) Da im Bereich Wirtschaft vieles Psychologie ist, sollten wir die notwendigen Schritte dann ergreifen, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist, und nicht voreilig über möglicherweise in der Zukunft auftretende Probleme reden, die wir jetzt noch nicht haben und die nach der derzeitigen Lage auch nicht wahrscheinlich sind. Jetzt zitiere ich Frank-Jürgen Weise, den Chef der Bundesagentur für Arbeit. Er sagte: Die gefühlten Risiken auf dem Arbeitsmarkt sind größer als die tatsächlichen. Ich glaube, an diesen Satz sollten wir uns halten. Diesen Satz sollten wir uns immer wieder bewusst machen und im Kopf behalten, wenn wir hier und heute über VeränPascal Kober derungen im Bereich der Kurzarbeit sprechen. Politik sollte weniger von Gefühlen geleitet sein, sondern mehr von der Realität und den Fakten. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie können sich darauf verlassen, dass wir das Thema Kurzarbeit und Kurzarbeitergeld auf dem Schirm haben. Die Vorschläge, die Sie in Ihrem Antrag machen, haben wir durch Regierungshandeln zum Teil bereits erledigt. ({6}) Ich glaube, wir sind in der Lage, kurzfristig auf Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zu reagieren. Wie immer werden wir die Probleme der Menschen angehen und das Gute und das Richtige für sie entscheiden. ({7}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Brigitte Pothmer hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kober, Sie haben es schon vorsichtig angedeutet: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt trübt sich ein; die Wirtschaftsleistung schrumpft; Sie haben ja heute sogar Ihre eigene Wachstumsprognose von 1 Prozent auf 0,4 Prozent nach unten korrigiert. Natürlich ist es so, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften zurückgegangen ist. Daraus resultierend ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, und die Unternehmen melden zunehmend Kurzarbeit an. Mit anderen Worten: Die fetten Jahre sind vorbei. Ich will das hier gar nicht dramatisieren. ({0}) Ich will der Regierung auch gar nicht die alleinige Schuld dafür zuweisen. Was ich Ihnen allerdings vorwerfe, ist, dass Sie diese guten Zeiten nicht genutzt haben, um Vorsorge für schlechtere Zeiten, die absehbar waren, zu treffen. ({1}) Sie haben sich nicht nur auf der guten Arbeitsmarktlage ausgeruht, ({2}) sondern Sie haben in dieser Zeit auch die Kassen der BA wirklich gnadenlos geplündert. ({3}) Ende 2010 wurde die Rücklage aus der Insolvenzgeldumlage einfach einkassiert. Für die BA bedeutete das ein Minus von 1 Milliarde Euro. Dann wurden die Kosten für die Grundsicherung im Alter einfach der Bundesagentur übertragen: für das Jahr 2012 1,2 Milliarden Euro, für das Jahr 2013 2,6 Milliarden Euro. Und jetzt wird die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Arbeitsförderung gänzlich gestrichen. Ich gebe zu: Im Gegenzug wird auch der Eingliederungsbeitrag zurückgenommen. Es bleibt aber ein Minus für die Bundesagentur für Arbeit in Höhe von 2 Milliarden Euro. Meine Damen und Herren, Frau Lösekrug-Möller, das ist das eigentliche Problem: ({4}) Wir sind schlecht vorbereitet auf die Ausweitung von Kurzarbeit. Sollte die Kurzarbeit ausgeweitet werden müssen - das ist absehbar -, ({5}) wird das auf Pump geschehen. Herr Kober, genau das hat uns Herr Weise im Ausschuss noch einmal deutlich gesagt. Die Bundesagentur für Arbeit wäre nicht in der Lage, eine Ausweitung von Kurzarbeit zu finanzieren. Dass wir in diesem Haus gemeinsam für die Kurzarbeiterregelung sind, haben die Wortbeiträge deutlich gemacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, es gibt in diesem Zusammenhang aber ein Alleinstellungsmerkmal: Hier liegt ein Antrag der SPD vor, der Ihnen als Regierung die Möglichkeit eröffnen will, eigenständig zu entscheiden, wie Sie mit der Kurzarbeit umgehen wollen. ({6}) Wir übertragen Ihnen Kompetenzen. Sie müssen sie nicht nutzen. Wie sie es ausgestaltet, ist dann allein Sache der Regierung. Sie erschrecken sich zu Tode ({7}) und sagen: Auf gar keinen Fall, wir wollen diese Kompetenzen nicht haben. - Meine Damen und Herren, das ist schon ein Kuriosum, das Ihnen, glaube ich, so schnell keiner nachmacht. ({8}) Allerdings will ich Ihnen sagen, dass ich den Antrag der SPD-Fraktion gerade in dieser Situation für notwendig und richtig halte: Erstens, weil sich die Wirtschaftskrise verschärfen und sich die Arbeitsmarktlage ziemlich schnell verändern kann. Das lässt sich im Moment nicht wirklich kalkulieren. Der zweite Grund ist, dass wir in diesem Jahr Neuwahlen haben und das neugewählte Parlament erst im Herbst zusammentreten wird. Deswegen macht es Sinn, dass wir jetzt diese Möglichkeit eröffnen. ({9}) Wir übertragen Ihnen Kompetenzen, wir wollen diese Möglichkeit schaffen. Ich finde es bedauerlich, dass Sie die Verantwortung nicht übernehmen wollen. Ich danke Ihnen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestern Abend kam der Antrag, den wir heute auf der Tagesordnung haben und debattieren. Normalerweise bin ich sehr für Just-in-time-Produktionen, aber da hätte mir ein wenig Vorlauf schon sehr gut gefallen. ({0}) Also habe ich gestern Abend den Antrag gelesen und bin schon am Anfang etwas stutzig geworden. Dort steht: „Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreich meistern“. Da reibt sich der Beobachter verwundert die Augen und fragt: Welche Krise? Wir haben keine Krise, und es ist auch keine Krise in Sicht. Im Gegenteil, wir haben hervorragende Wirtschaftsdaten. ({1}) Meine Damen und Herren, als Opposition würde ich da auch nervös werden. Die Wirtschaftsdaten sind positiv, sind robust. Im nächsten halben Jahr wird nach Einschätzung vieler Beobachter die Euro-Zone auch wieder aus der Krise herauskommen; so jedenfalls die Weltbank und die Ratingagentur Fitch. Das kommt uns entgegen, das hilft uns zusätzlich, was die Exporte angeht. Es gibt für 2013 gute Aussichten. Sie hingegen schwadronieren über eine mögliche Krise. Das ist ein wenig so, als ob Sie in den Sommerurlaub nach Mallorca eine Skiausrüstung mitnehmen: Es könnte ja schneien. ({2}) Kommen wir zum inhaltlichen Kern: Kurzarbeit ist ein geeignetes arbeitsmarktpolitisches Instrument, um exzessive Entlassungen bei temporärer Konjunkturschwäche zu überbrücken. Das haben wir in der Großen Koalition getan, und es war richtig. Es war aber auch richtig, das Programm auslaufen zu lassen. Wirtschaft besteht - Herr Kollege Kober hat darauf hingewiesen zu einem hohen Anteil aus Psychologie. Wir haben durch die Beendigung des Programms das Zeichen gegeben: Die Krise ist beendet. Deswegen wäre es auch falsch gewesen, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, hier einer Verstetigung das Wort zu reden. ({3}) Kurzarbeit kann und darf stets nur eine Brücke für einen vorübergehenden Arbeitsausfall sein. Sie ist ein Instrument unter vielen. Frau Kollegin Krellmann hat einen Instrumentenkasten erwähnt. Bei ihrer Rede hatte man den Eindruck, sie habe nur den Hammer als Instrument übrig. Die Sichel ist Ihnen ja abhanden gekommen. ({4}) Für jemanden, der nur einen Hammer hat - das hat Ihre Rede gezeigt, Frau Kollegin Krellmann -, sehen in der Tat alle Probleme wie Nägel aus. ({5}) Meine Damen und Herren, die Vorschläge für das erneute Aufgreifen von Sonderregelungen in der Kurzarbeit würden zu einer Verschiebung der Kostenlast bei Kurzarbeit von der Arbeitgeberseite auf die Versicherten- und Beitragsgemeinschaft führen. Die bestehende Risikoabgrenzung bei normalen Konjunkturverläufen hat sich über Jahrzehnte bewährt. Sie sollte nur im Krisenfall maßgeschneidert auf die dann vorliegenden Verhältnisse angepasst werden. Es war also richtig, das Kurzarbeitergeld wieder auf sechs Monate zurückzunehmen, um Vertrauen zu schaffen und zu bestätigen. Mittlerweile haben wir es mit einem sehr stabilen Arbeitsmarkt zu tun. Der Kollege Lehrieder hat dazu ja eine ganze Reihe von Zahlen genannt. ({6}) Nein, Frau Lösekrug-Möller, Ihrem Antrag merkt man an, dass Wahlen bevorstehen. Ich hatte eben gesagt: Wirtschaft besteht zu einem großen Teil aus Psychologie. Das bedeutet aber auch, dass wir die psychologischen Auswirkungen dessen bedenken müssen, was wir hier tun. Verehrte Frau Pothmer, die fetten Jahre sind nicht vorbei. Sie versuchen, eine Krise herbeizureden, die es nicht gibt. Das mag Wasser auf Ihre dürstenden Wahlkampfmühlen sein, aber es ist unverantwortlich und sachlich falsch. ({7}) Sie versuchen, das schlechtzureden, was Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit Unterstützung der christlich-liberalen Koalition in den letzten Jahren erreicht haben. Es gibt eigentlich nur eine Entschuldigung für den Unfug, den Sie mit Ihrem Antrag präsentieren. Sie scheinen allen Ernstes davon auszugehen, am Ende des Jahres 2013 tatsächlich die Regierung stellen zu können. Dann allerdings wäre das, was Sie vorschlagen, tatsächlich notwendig. Davon überzeugt schon ein kurzer Blick in Ihre Forderungen zur Wahl.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Krellmann?

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich führe meine Rede jetzt zu Ende. Danke. ({0}) Sie haben ein formidables Wachstumsvernichtungsprogramm, ein mutiges Programm zur Reduzierung von Arbeitsplätzen. Zumindest insofern sind Sie ehrlich: Sie bemühen sich, für die Folgen Ihrer Politikplanung schon jetzt prophylaktisch das Gegenmittel bereitzustellen, das Heftpflaster für die Wunden, die Sie der deutschen Wirtschaft schlagen wollen. ({1}) Insofern können wir dankbar für Ihren Antrag sein. Er zeigt uns, wie nahe etwas, das furchtbar einfach daherkommt, letztlich einfach furchtbar ist. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12055 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie - Drucksache 17/11670 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie - Drucksache 17/8721 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die Unionsfraktion. Auch wenn einige dieser spannenden Debatte nicht mehr folgen können, bitte ich doch trotzdem, die notwendige Aufmerksamkeit zu gewährleisten. - Bitte, Kollege Weinberg.

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es in diesem Plenum Kolleginnen und Kollegen gibt, die dieser wichtigen Debatte nicht lauschen wollen, zumal wir jetzt nach der Schärfe in der Debatte zum Kurzarbeitergeld zu einem wichtigen Einvernehmen kommen, nämlich zu einem kleinen Geburtstag: dem 10. Geburtstag der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Fortschrittsbericht 2012 hat die Bundesregierung jetzt zum dritten Mal diese nationale Nachhaltigkeitsstrategie fortgeschrieben. Dabei ist, glaube ich, eines von entscheidender Bedeutung: Nachhaltigkeit lebt von Kontinuität. Deswegen ist es für uns im Beirat immer wichtig gewesen, dass wir über den Tellerrand schauen, dass wir von der Farbenlehre wegkommen und uns Gedanken machen, wie wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten, auch mit Blick auf 2050, die Nachhaltigkeitsstrategie im Sinne der kommenden Generationen entwickeln. Ich möchte aus meiner Sicht drei, vier wesentliche Punkte, Änderungen und Kommentierungen des Beirates darstellen. Änderungen ergeben sich dort, wo es gilt, neue thematische Schwerpunkte zu setzen oder die Schärfe der Nachhaltigkeitsstrategie durch Veränderung der Zielvorgaben nachzujustieren. Einige Änderungen der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sind durchaus gelungen, bei anderen sind wir, um es vorsichtig zu formulieren, in der Phase der Überprüfung; denn wir müssen uns immer fragen, inwieweit eine Änderung tatsächlich einen Fortschritt darstellt. Ich komme zu den Änderungen mit Verbesserung der Zielschärfe. Gelungen ist zum Beispiel die Änderung bei Marcus Weinberg ({0}) einem Indikator, der uns allen sehr bekannt ist, beim berühmten - für einige berüchtigten - Indikator 15, nämlich Kriminalität. Hier wurden unser Flehen und Bitten erhöhrt, nicht vom lieben Herrgott, aber von der Bundesregierung - das hat in weiten Teilen ja eine gewisse Ähnlichkeit. Wir als Beirat haben jedenfalls in Stellungnahmen immer wieder gefordert, diesen Indikator neu zu justieren. Mit der Ausrichtung auf Straftaten insgesamt wird der Fokus des Indikators erheblich vergrößert, ohne aber - auch das ist von elementarer Bedeutung - dass die speziellen Aspekte aus den Augen verloren werden. ({1}) Die Änderung des Indikators 15, über die lange diskutiert wurde, ist also ein Beispiel für eine gute und sinnvolle Verbesserung. Hier erwartet der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung bei der Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zum Jahr 2016 auch bei anderen Indikatoren eine sinnvolle Optimierung, beispielsweise bei der Darstellung frühkindlicher Kompetenzen; das ist gerade für junge Eltern, für junge Mütter und Väter, von großer Bedeutung. Schwierigkeiten bei der vertikalen Integration sind dabei nicht zwingend als Hinderungsgrund ersichtlich. Unabhängig von der Frage nach einer Änderung der Indikatoren enthält die nationale Nachhaltigkeitsstrategie bereits jetzt Indikatoren, für die der Bund nicht zuständig ist, weshalb er auf die Unterstützung der Länder angewiesen ist. Ich glaube, das ist eine Grundproblematik, der wir uns stellen müssen. Der Bund übernimmt seine Verantwortung. Ich will jetzt keine Länderschelte betreiben. Aber hier und da hat man den Eindruck, dass das eine oder andere Bundesland beim Thema Nachhaltigkeit und bei der Beteiligung der Parlamente noch etwas ambitionierter sein könnte. Ich glaube, hier müssen wir noch auf die Länder einwirken. Ich komme zu den Änderungen mit Ausweitung des Ziel- und Zeithorizontes. Gelungen ist die Weiterentwicklung der Zielvorgaben für einzelne Indikatoren, so zum Beispiel beim Indikator 1, der Ressourcenschonung. Damit setzt die Bundesregierung eine Forderung aus dem im Jahr 2009 durchgeführten Peer Review der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie um. Die Ausweitung des Zeithorizonts auf 2050 muss mit der Vorlage des Fortschrittsberichts 2016 konsequent fortgesetzt werden; denn letztendlich müssen die Weichen zur Zielerreichung bereits viel früher gestellt werden. Je eher die Zielvorgaben für das Jahr 2050 bekannt sind, umso eher kann die Zielerreichung angegangen werden. Es gibt aus unserer Sicht also viel Lob; aber wir sehen auch Ziele, die noch zu erreichen sind, und teilweise nicht gelungene Zieländerungen. Weniger hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass bei zwei Indikatoren die Zielvorgaben aus dem Jahre 2010 einfach auf das Jahr 2020 gestreckt worden sind. Dies betrifft die privaten und öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung ebenso wie die Zahl der 18- bis 24-Jährigen ohne Abschluss. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung bedauert, dass im Fortschrittsbericht 2012 die ursprünglichen Ziele für das Jahr 2010 in das Jahr 2020 verschoben worden sind. ({2}) - Punktueller Applaus unterstützt diese Aussage. - Da hilft es aus unserer Sicht wenig, dass wir uns bemühen, hier die Strategie „Europa 2020“ heranzuziehen. Gerade diese beiden Indikatoren sind, was den Bildungsbereich angeht, aus unserer Sicht von elementarer Bedeutung. An dieser Stelle möchte ich ein kleines Lob, das sich auf ein anderes Politikfeld bezieht, aussprechen. Wenn man im Bereich Bildung und Forschung so erfolgreich ist wie diese Bundesregierung, dann muss man auch die Konsequenzen ziehen. Das heißt, dass wir die Ziele der Nachhaltigkeit auch im Bildungsbereich verändern müssen. Wir haben 12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung ausgegeben. Solche Veränderungen müssen sich im Bildungsbereich deutlich widerspiegeln. Insofern kann man, wie ich glaube, auch etwas mehr verlangen. Lassen Sie mich abschließend auf einen Indikator eingehen, der uns sicherlich auch in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen wird: auf die Flächeninanspruchnahme bzw. den - so heißt der Indikator - „Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsflächen“. Der Zuwachs an Siedlungs- und Verkehrsflächen lag im Jahr 2010 bei 87 Hektar pro Tag; der Trend hat sich also erkennbar abgeschwächt. Aber ich erinnere daran: Das angestrebte Ziel war ursprünglich ein Zuwachs um 30 Hektar pro Tag. Daran muss weiterhin ambitioniert gearbeitet werden. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert, die Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, stärker zu nutzen. ({3}) Zum Schluss des kleinen Geburtstages bzw. des zehnjährigen Bestehens der Nachhaltigkeitsstrategie möchte ich einen Dank an die Kolleginnen und Kollegen aussprechen. Wir haben es in mehreren doch sehr diskussionswürdigen Runden gemeinsam geschafft, das zu formulieren, was uns wichtig ist. Die Kolleginnen und Kollegen haben über den Tellerrand hinaus geschaut und die Farbenlehre außer Acht gelassen, um die Nachhaltigkeitsstrategie langfristig weiterzuentwickeln. ({4}) Dieser Dank gilt nicht nur den Kolleginnen und Kollegen, sondern auch - ich möchte an dieser Stelle betonen, dass viel Vorarbeit geleistet wurde - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Außerdem - auch das erfreut uns - gibt es kein einziges Sondervotum. Auch das bestärkt uns in dem Bemühen, weiterhin gemeinsam in diesem Beirat zu arbeiten. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Ulrike Gottschalck hat nun für die SPDFraktion das Wort. ({0})

Ulrike Gottschalck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004043, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dem, was Herr Weinberg ausgeführt hat, kann ich mich in vielen Bereichen anschließen. Aber ich frage mich immer wieder - wahrscheinlich geht es Ihnen ähnlich -: Fortschritt und nachhaltiges Handeln, nehmen wir das eigentlich ernst genug? ({0}) Ich habe den Eindruck, dass Nachhaltigkeit mittlerweile eine reine Worthülse ist und als inhaltsarmes Schlagwort benutzt wird. Unter einem Fortschrittsbericht kann sich der und die Einzelne dementsprechend ziemlich viel oder eben ziemlich wenig vorstellen. Positiv ist festzustellen, dass wir seit rund zehn Jahren überhaupt eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie haben und diese regelmäßig fortschreiben. Positiv ist auch, dass das wichtige Thema Nachhaltigkeit - mit all seinen Facetten: von Generationengerechtigkeit über Umwelt und Lebensqualität bis hin zum sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft - heute auf der Tagesordnung steht. Gut ist so ein Bericht auch, weil wir immer wieder kritisch hinterfragen müssen, welche Fortschritte es in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie gibt oder welche es nicht gibt. Ein Zurücklehnen darf es nicht geben - das sind wir schon den zukünftigen Generationen schuldig. ({1}) Dank des Statistischen Bundesamtes können wir Erfolge oder - leider auch - Versagen der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie anhand von Indikatoren, die sehr plakativ, nämlich durch Wettersymbole, dargestellt werden, messen und bewerten. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat den Bericht rund ein halbes Jahr gründlich geprüft. Herr Weinberg hat es eben schon gesagt: Die Berichterstatterinnen und Berichterstatter haben teilweise Stunden um einzelne Worte gerungen, um einen parteiübergreifenden Konsens zu erzielen. Auch von meiner Seite geht deshalb ein großer Dank an die Kolleginnen und Kollegen, aber auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; denn das war schon ein Stückchen Arbeit. Wir haben das sehr ernst genommen, und ich denke, der Bericht ist uns gut gelungen. ({2}) Mit unserer Unterrichtung geben wir der Bundesregierung wertvolle Hinweise. Wir erwarten, dass auf Regierungsseite nicht nur schöne Worte, sondern auch Taten folgen. ({3}) Aus unserer Sicht ist es beispielsweise wenig nachhaltig, Zielwerte für Indikatoren nach unten zu korrigieren. Auch da gebe ich meinem Vorredner recht: Wir brauchen für Deutschland ambitionierte Ziele. ({4}) Wir fordern die Bundesregierung auf, sich insbesondere um diejenigen Bereiche zu kümmern, bei denen nachweislich Gewitterstimmung herrscht. Als Beispiele seien hier die Artenvielfalt, die Landschaftsqualität, die Intensität des Gütertransports und der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen in unserem Land genannt. Es ist ein Skandal, dass Frauen immer noch 23 Prozent weniger Lohn erhalten. Das können wir uns zukünftig nicht mehr erlauben. ({5}) Weiterhin erwarten wir - da besteht überparteilich Einstimmigkeit -, dass das Megathema „demografischer Wandel“, das uns in der Zukunft sehr beschäftigen wird, im nächsten Fortschrittsbericht mehr Beachtung findet. Des Weiteren wünschen wir uns und erwarten wir, dass alle Ministerien ihre Gesetzesinitiativen ernsthaft auf Nachhaltigkeit prüfen. Der Vorsitzende unseres Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung schreibt die Ministerien regelmäßig an und reklamiert auch einmal. Er wird mir sicherlich recht geben, dass es in einigen Ministerien, vorsichtig formuliert, durchaus noch Optimierungsmöglichkeiten gibt. ({6}) Überparteilich ist es uns außerdem ein großes Anliegen, dass es beim Thema Nachhaltigkeit endlich zu einer besseren Verzahnung zwischen Bund und Ländern kommt. Der Beirat richtet sein Augenmerk aber auch auf die Zivilgesellschaft und die Unternehmen. So sollen die Verbraucherinnen und Verbraucher immer wissen, wie es mit der Nachhaltigkeit in den Produktions- und Lieferketten ihres Wunschartikels aussieht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Fortschritt und Nachhaltigkeit dürfen nicht zu schönen Worthülsen verkommen. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass zukünftig noch mehr Trends in Richtung Sonne zeigen. Dazu muss die Bundesregierung den Fortschrittsbericht ernst nehmen. Vielleicht müsste er auch hier etwas besser auf der Tagesordnung platziert werden - wobei das immer schwierig ist; das wissen wir alle. Wir alle müssen jenseits von Allgemeinplätzen überparteilich an einer zukunftsfesten Ausgestaltung nachhaltiger Politik für die Menschen in Deutschland arbeiten. ({7}) Das erhoffe und wünsche ich mir, und ich gehe davon aus, dass wir in diesem Punkt jedenfalls in dieser Runde, die heute Abend hier vertreten ist, auch einen Konsens haben. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael Kauch das Wort. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute gab es in der Presse eine positive Nachricht: Zum ersten Mal seit 2007 gab es im letzten Jahr wieder einen Überschuss in den öffentlichen Kassen in Deutschland. Das zeigt, dass der Indikator, der in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie noch mit Wolken dargestellt wurde, aufgrund der sehr positiven Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung inzwischen auf einem richtigen und guten Weg ist. ({0}) Durch die Überschüsse in den Sozialversicherungen wurde die Mangelverwaltung abgelöst. Die Pflegeversicherung wurde durch die private Vorsorge zukunftsfähiger gemacht. Und die Energiewende ist auf einem guten Weg. Der Fortschrittsbericht weist für die erneuerbaren Energien noch einen Anteil von 17 Prozent an der Stromerzeugung aus; inzwischen sind wir bei etwa einem Viertel Ökostrom. Bei der Energiewende kommen wir ebenso voran wie beim Klimaschutz, wo wir im Jahr 2010 die in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie gesetzten Ziele übertroffen haben. Das sind positive Beispiele für die nachhaltige Entwicklung in Deutschland in dieser Wahlperiode. ({1}) Es gibt aber eben auch negative Punkte, denen wir uns in nächster Zeit verstärkt widmen müssen. Ein Thema ist die schon angesprochene Flächeninanspruchnahme. Wir diskutieren seit Jahren darüber, eigentlich seitdem es diese Nachhaltigkeitsstrategie gibt. Bewegt hat sich aber eigentlich nichts; das muss man ganz deutlich sagen. ({2}) Es gibt Schwankungen, aber die sind nur konjunkturell bedingt. Das hängt auch damit zusammen, dass wir uns bisher parteiübergreifend gescheut haben, hier über die Grenzen der staatlichen Ebenen hinweg - Kommunen, Länder und Bund - wirklich ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Bei der Flächeninanspruchnahme werden wir aber nur dann erfolgreich sein, wenn Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten und es eben nicht einen Wettbewerb der einen Kommune mit der nächsten um noch ein Gewerbegebiet gibt, das brachliegt, nachdem alles planiert worden ist. Dieser Entwicklung müssen wir uns in der nächsten Wahlperiode widmen. ({3}) Ein weiteres Thema, bei dem ich große Sorgen habe, ist die Entwicklung des Indikators zur Artenvielfalt. Das betrifft sowohl die weltweite Entwicklung als auch die Entwicklung in Europa und in Deutschland. Wir haben in den vergangenen Jahren für erste Ansatzpunkte gesorgt, indem wir das Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“ aufgelegt und das Bundesprogramm zur Wiedervernetzung von Lebensräumen gestartet haben, um die Zerschneidung von Lebensräumen zu verringern. ({4}) Das ist aber offenkundig noch nicht genug. Deshalb müssen wir auf diesem Weg weitermachen - genauso wie in der Fischereipolitik. Für die Reform in diesem Bereich hat der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend ein sehr positives Inputpapier in Europa geliefert. Das ist aber noch lange nicht das Ende der Fahnenstange in diesem Politikbereich. ({5}) Ebenfalls verbesserungsfähig ist der Bereich Gesundheitsprävention. Das erkennt man, wenn man sich den Indikator in Bezug auf Menschen mit Fettleibigkeit ansieht. Fortschritte gibt es dagegen beim Indikator, der die Raucherquote abbildet. In den Bereichen Ernährung und Bewegung haben wir die Trendwende zu einem längeren gesunden Leben aber offensichtlich noch nicht geschafft. ({6}) Generell positiv ist - hier möchte ich die Bundesregierung ausdrücklich loben -, dass diese Bundesregierung nach zweimaligem Anmahnen des Indikators endlich dem Drängen des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung nachgekommen ist, indem der Indikator für die Kriminalität so umgestaltet wurde, dass er jetzt tatsächlich nicht mehr nur die Eigentumsdelikte, sondern eine größere Palette von Straftaten abbildet. Ich glaube, so ist es eher ein Indikator für wirklichen gesellschaftlichen Zusammenhalt im Bereich der inneren Sicherheit. ({7}) Ich möchte eine deutliche Kritik auch an diesem Haus selbst äußern. ({8}) Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir eine Generationenbilanzierung in die Nachhaltigkeitsprüfung für die jeweilige Gesetzesfolgenabschätzung einführen wollen. Dies ist bisher zwar vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung unterstützt worden, aber es gibt dafür bisher noch keine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Ich glaube, es ist an der Zeit, die noch verbleibenden Monate dieser Wahlperiode zu nutzen, um dieses Projekt endlich in die Praxis umzusetzen. Ja, es kostet etwas Geld für Personal hier im Parlament; ja, es kann das eine oder andere Vorhaben etwas verzögern; aber wir gewinnen erheblich an Transparenz bei den Dingen, über die wir hier entscheiden, wenn wir dieses Instrument für die Fragen der Finanz- und Sozialpolitik endlich einführen würden. Das wäre ein Fortschritt, den wir uns auch etwas kosten lassen sollten. ({9}) Meine Damen und Herren, die Nachhaltigkeitsprüfung durch die Bundesregierung, aber auch durch den Bundestag ist oft doch sehr formalistisch. Wir schauen, ob das Ministerium etwas zur Nachhaltigkeit gesagt hat; aber es gibt einige Häuser, bei denen man den Eindruck hat, dass dort immer die gleichen Textbausteine in die Gesetzesfolgenabschätzung hineingeschrieben werden und man sich nicht wirklich damit beschäftigt hat. Ich glaube, wir sollten in der nächsten Wahlperiode dazu kommen, dass wir im Parlament nicht nur die formelle Nachhaltigkeitsprüfung diskutieren, sondern auch die Inhalte, ({10}) und dass sich die Fachausschüsse auch mehr mit den Ergebnissen dieser Nachhaltigkeitsprüfung beschäftigen. Abschließend möchte ich aber auch einige positive Beispiele im Bereich der Nachhaltigkeitsprüfung hervorheben. Das Bundesumweltministerium ist inzwischen, glaube ich, bei fast allen Vorhaben mit der Nachhaltigkeitsprüfung so umgegangen, dass wir hier auch substanziell etwas erkennen können. Die Bundesjustizministerin hat jetzt auf unsere Kritik hin im Haus eine abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe eingesetzt, um auch in einem Politikfeld, das vermeintlich nicht so nah an der Nachhaltigkeitspolitik ist, die Nachhaltigkeitsprüfung zu verbessern. Das sollte auch für alle anderen Ressorts Ansporn sein. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Heidrun Dittrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der heute zu beratende Fortschrittsbericht zur Nachhaltigkeitsstrategie kommt genau richtig, denn das Jahr 2013 ist das Jahr der Gebrüder Grimm: 200 Jahre Märchen. ({0}) Die Lektüre dieses Berichts ist zwar nicht so spannend wie die Märchen der Gebrüder Grimm; aber kaum weniger märchenhaft ist doch die Zauberformel von der Nachhaltigkeit. Wir leben in einer heilen Welt, möchte man bei der Lektüre meinen. ({1}) Es geht um blumige Begriffe wie Generationengerechtigkeit, sozialer Zusammenhalt und internationale Verantwortung. Alles zusammengenommen sei das Ganze dann Nachhaltigkeit, ein Verkaufsschlager für große Firmen auf internationalen Finanzmärkten. So, wie Rotkäppchen durch den Wald ging, um auf den bösen Wolf zu treffen, lassen Sie mich am Beispiel des Waldes den Begriff erklären, der der SPD doch nicht so klar war: Nachhaltigkeit ist seit dem 18. Jh. als eine Regel der Forstwirtschaft aufgekommen und bedeutet hier, dass auf einer bestimmten Forstfläche dem Wald in einem bestimmten Zeitraum nicht mehr Holz entnommen werden darf, als gleichzeitig nachwächst. … Seit dem Bericht der BrundtlandKommission der UN von 1987 wird der Begriff Nachhaltigkeit zur Kennzeichnung einer gesellschaftlichen Entwicklung gebraucht, - das ist auch die Grundlage dieses Berichtes in der - weltweit - den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generationen Rechnung getragen wird, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihren eigenen Bedürfnissen zu entsprechen. Das können Sie bei Professor Karl Hermann Tjaden, Ökonomieprofessor in Kassel, nachlesen. Die Bundesregierung feiert den Höchststand der Beschäftigung mit 41,5 Millionen Menschen - das haben wir gerade gehört - als nachhaltige Teilhabe. Aber die prekär Beschäftigten sind trotz Arbeit arm. Das ist nicht die Nachhaltigkeit, die wir meinen. ({2}) Oder nehmen wir den Maßstab der internationalen Verantwortung in dem Bericht. Dafür, dass die Unternehmen in Deutschland mit Dumpinglöhnen und Exportüberschuss die Wirtschaft schwächerer Länder in den Ruin treiben, brauchen wir nicht nach Afrika zu schauen. Dafür reicht ein kurzer Blick nach Griechenland und Spanien. Wer hat die Agenda 2010 erfunden? SPD und Grüne. Wer setzt sie nachhaltig fort? CDU/CSU und FDP. ({3}) Nachhaltigkeit ist in diesem Wirtschaftssystem mit immer mehr Profit und mit immer mehr Waren in kurzer Zeit nicht möglich. ({4}) Die Zwecke der Produktion sind vom Gewinnstreben einer kleinen uneinsichtigen Minderheit, den Kapitaleignern, gesetzt. ({5}) Die großen Unternehmen diktieren mit den Finanzhaien, was, wie viel und für wen hergestellt wird. Oberstes Ziel - das ist nicht zu vergessen - ist mehr Gewinn. Das Wissen der Umweltinitiativen und aktiven Bürger geht nur über Proteste in die Köpfe, aber die Anerkennung in der Gesellschaft hat nicht zu einer vernünftigen Umsetzung geführt. Der Mensch existiert als belebter Teil der Natur, und die Erde ist endlich. Wird mit dieser Produktionsweise die Umwelt zerstört, so zerstören die Kapitalbesitzer damit auch die Grundlagen des Lebens für Menschen und Tiere. ({6}) Eine Form der nachhaltigen Entwicklung, nämlich Frieden, ist in diesem Bericht von 250 Seiten in wenigen Sätzen zusammengefasst: Die Bundesregierung erkennt an, dass Entwicklung nur in Frieden möglich ist. Sie garantiert globale Sicherheit. - In wessen Interesse sichert eigentlich die Bundeswehr globale Sicherheit in Afghanistan? ({7}) Im Krieg werden Menschen getötet, unwiderruflich, Häuser und Denkmäler zerstört, Wasserleitungen beschädigt. Gasleitungen explodieren, Epidemien brechen aus, und die Kinder- und Müttersterblichkeit wächst. Das ist das schlimmste Ergebnis dieser Wirtschaftsweise, die sowohl an Rüstung als auch am Kriegseinsatz verdient. Atomkraftwerke wurden zur Herstellung von Atomwaffen entwickelt. Es liegt im öffentlichen Interesse, die Stilllegung der Atomkraftwerke zu betreiben, ihren Rückbau einzuleiten und jetzt die jahrtausendelange rückholbare Lagerung unter der Kontrolle der Bevölkerung zu beginnen. Dieses Beispiel soll zeigen, wie viel Altlasten Sie zukünftigen Generationen aufbürden. Das ist nicht nachhaltig. Wenn es die Bundesregierung ernst meint, kann sie es beweisen: Geben Sie Gorleben als Endlagerstandort in Niedersachsen auf! Bezahlen sollen die Lagerung von Atommüll die Profiteure der Atomenergie und nicht die Allgemeinheit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Also, auf diese Rede muss ich erst einmal einen Schluck Wasser nehmen. ({0}) Es ist doch schon erstaunlich, welche Schlüsse man ziehen kann, wenn man in den ganzen Debatten nicht dabei war. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mit einer Frage beginnen - über die Details des Berichtes haben ja die Vorrednerinnen und Vorredner schon eine ganze Menge gesagt -: Sind Wachstum und Nachhaltigkeit ein Widerspruch? Ob ja oder nein, damit befasst sich seit zwei Jahren eine Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag. Erst am Montag wurde dort das Ergebnis der entsprechenden Projektgruppe vorgestellt, besser gesagt: zwei unterschiedliche Ergebnisse. Koalition und Opposition konnten sich nicht einigen und legten jeweils eigene Berichte vor. Beide sind sich immerhin einig, dass Wachstum kein Ziel ist, sondern bestenfalls ein Mittel zum Zweck. Das ist in dieser Enquete-Kommission erreicht worden. ({2}) Beim Zweck aber scheiden sich die Geister. Die Koalitionsfraktionen setzen auf Innovationen, um ein angemessenes Wirtschaftswachstum beizubehalten. Vor allem das müsse man im Fokus behalten, anderenfalls würde der materielle Wohlstand leiden. Für andere - dazu gehört meine Fraktion - steht im Vordergrund, wie man beim Wirtschaften die Grenzen der Erde respektieren und alle am Wohlstandskuchen teilhaben lassen kann. Für manchen von Ihnen hört sich das ähnlich an. Aber dahinter verbergen sich riesengroße Unterschiede. Der materielle Wohlstand ist zwar eine wichtige Säule der Menschheit, aber er ist nicht alles, gerade wenn wir damit unsere Lebensgrundlagen zerstören. Das kapieren mittlerweile immer mehr Menschen, und das nicht nur in den entwickelten Ländern. Ein Blick nach China diese Woche reicht, um den Wachstumswahn anhand des katastrophalen Smogs in Peking greifen zu können. Deshalb - lassen Sie mich zu meiner Eingangsfrage zurückkehren - sollten wir den Schwerpunkt nicht mehr allein auf das Wachsen legen, sondern auf das Thema Nachhaltigkeit. Warum? ({3}) Erstens. Es ist kein Gewinn für die Gesellschaft, wenn sie auf Kosten der Umwelt und menschlichen Integrität wächst. Die Beseitigung der Schäden kurbelt zwar die Konjunktur an, aber das mehrt nicht den Wohlstand, sondern es hilft maximal, ihn wiederherzustellen. Zweitens. Materieller Wohlstand ist nicht alles. Wer mehr als einen Vollzeitjob benötigt, um überleben zu können, hat keine Zeit mehr für die Pflege sozialer Beziehungen. Wieder andere fallen aus dem System heraus, weil sie mit dem beschleunigten Rhythmus nicht mehr mithalten können. Man könnte hier noch lange fortfahren, und am Ende stellt sich durchaus die Systemfrage. Diese lässt sich meiner Ansicht nach nur mit einer nachhaltigen Lebensund Wirtschaftsweise - und zwar durch jeden einzelnen Erdenbürger, durch jeden von uns - beantworten. Damit sind wir bei der Nachhaltigkeitsstrategie angelangt, die jetzt zehn Jahre alt ist. Sie enthält konkrete Ziele, zum Beispiel die Ressourceneffizienz bis 2020 zu verdoppeln, die Treibhausgase bis 2050 um 80 bis 95 Prozent zu senken und die Artenvielfalt zu stärken, aber auch Ziele im sozialen Bereich wie in den Bereichen Bildung, Beschäftigung und Gesundheit, im ökonomischen Bereich die Senkung der Staatsschulden und im internationalen Bereich die Entwicklungszusammenarbeit. Darauf will ich heute nicht im Einzelnen eingehen. Die Ziele können Sie im Fortschrittsbericht 2012 nachlesen, und sie sind auch schon von Kolleginnen und Kollegen angesprochen worden. Lesen Sie dann bitte auch die Kritik dazu, die wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung gemeinschaftlich erarbeitet haben! Beide Dokumente sind heute Gegenstand der Debatte. Vielmehr will ich daran erinnern, dass die Nachhaltigkeitsziele ihren Ursprung im Erdgipfel von Rio 1992 haben. Sie sind weltweit Konsens, wenn auch weltweit konkrete zahlenmäßige Ziele noch nicht festgelegt sind. Dazu hat der Jubiläumsgipfel im vergangenen Jahr endlich seinen Mitgliedstaaten einen konkreten Auftrag erteilt. Werte Zuhörerinnen und Zuhörer, wo stehen wir denn heute in Deutschland wirklich? Wir sind gut gestartet mit lokalen Agenda-21-Gruppen und der Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes im Jahr 2002. Und wo sind wir gelandet? Wie gerade der Streit in der Enquete-Kommission gezeigt hat, ist die Einsicht noch nicht bei allen Handelnden in der Politik angekommen. Darum helfen Sie uns durch Ihr Handeln, auf die richtige Bahn zu gelangen: Setzen Sie sich für eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise ein! Denken Sie bei Ihrem Konsum an die Grenzen der Erde! Brauche ich jetzt schon wieder ein neues Handy, nur weil der Vertrag abgelaufen ist? Oder leiste ich mir stattdessen gesunde Lebensmittel?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Wilms, achten Sie darauf, dass die Zeitressourcen erschöpft sind? ({0})

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin. Ich war gerade beim letzten Satz. Sie haben es haargenau abgepasst. - In diesem Sinne würde ich mich freuen, wenn wir weiter in diese Richtung gehen können. Vielen Dank, dass Sie mir die Aufmerksamkeit geschenkt haben. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Andreas Jung hat für die Unionsfraktion das Wort.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede der Kollegin Dittrich, die, wie ich im Übrigen finde, Frau Kollegin, nicht nur, weil Sie die Gebrüder Grimm zitiert haben, etwas sehr grimmig ausgefallen ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung über alle Fraktionen hinweg ein sehr gutes Einvernehmen haben. ({0}) Im Übrigen, Frau Kollegin, hat auch Ihre Fraktion unserer gemeinsamen Stellungnahme zugestimmt. Sie ist mit den Stimmen aller Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen verabschiedet worden. Ich finde, dass sich das im Ergebnis und in der Arbeitsweise wohltuend von dem unterscheidet, wie sonst sehr häufig in diesem Haus, auch in den Ausschüssen, in der Aufspaltung zwischen Regierung und Opposition gearbeitet wird. ({1}) Ich finde, das ist etwas, worauf wir gemeinsam stolz sein können. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen Kolleginnen und Kollegen für die Zusammenarbeit und die investierte Arbeit zu danken. Ich möchte dabei ausdrücklich unsere Referenten und Mitarbeiter einbeziehen. ({2}) Die vorliegende Unterrichtung ist vor allen Dingen - sonst hätten wir kein Einvernehmen erzielt - weit entfernt von Schönfärberei. Zur Wahrheit gehört: Ja, es gibt Bereiche, in denen wir gut vorankommen und es Licht gibt. Aber es gibt auch Bereiche, in denen es noch zu viel Schatten gibt. Ich will zunächst auf das eingehen, was aus unserer Sicht gut ist. Fortschritt bedeutet laut Andreas Jung ({3}) Duden die positiv bewertete Entwicklung einer Sache. In weiten Teilen gibt es eine solche Entwicklung im Bereich der Nachhaltigkeit, insbesondere was Strukturfragen, Nachhaltigkeitsmanagement, die Ansiedlung der Nachhaltigkeitspolitik im Bundeskanzleramt und deren Behandlung im Bundeskanzleramt, die Einbeziehung unabhängigen Sachverstands durch den Rat für nachhaltige Entwicklung sowie nicht zuletzt den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung selbst betrifft. Dieses Gremium ist aus dem Gefüge des Parlaments nicht mehr wegzudenken. Wir sind als Aufpasser für Nachhaltigkeit in unserer Wachhundfunktion in der Gesetzgebung gestärkt. Jetzt muss endlich die Konsequenz daraus gezogen werden. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung muss in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages verankert werden. ({4}) Damit muss der Notwendigkeit langfristigen Denkens und Handelns, auch was die Behandlung der Nachhaltigkeit im Parlament angeht, Rechnung getragen werden. Der Bundestag muss zeigen: Nachhaltigkeit ist kein Modethema, sondern ist Daueraufgabe für eine verantwortungsvolle Politik. ({5}) Es gibt manche Bereiche, in denen es besser werden muss. Die Frau Kollegin Gottschalck und der Kollege Michael Kauch haben darauf hingewiesen, dass es bei der Nachhaltigkeitsprüfung der Bundesregierung in der Gesetzesfolgenabschätzung Unterschiede zwischen den Ministerien gibt. In einigen Ministerien wie dem Bundesumweltministerium funktioniert sie schon sehr gut. Aber es gibt andere, die noch besser werden können. Wir arbeiten hartnäckig daran. Politik bedeutet auch hier das Bohren dicker Bretter. Wir stellen allerdings fest, dass sich unsere Arbeit schon ausgezahlt hat, dass die Ministerien sehr viel besser und verantwortungsvoller mit dieser Aufgabe umgehen. Wir werden hier - Frau Dr. Wilms hat das gerade plastisch geschildert - weiter bohren und dranbleiben. Ein weiterer Punkt, der schon thematisiert wurde, ist die Verzahnung der Nachhaltigkeitspolitik über verschiedene Ebenen - Europäische Union sowie Bund, Länder und Kommunen - hinweg. Hier gibt es noch viel zu tun. Wir stellen fest, dass hier Nachholbedarf besteht und es Kritikpunkte gibt. Wir haben in unserer auswärtigen Sitzung in Brüssel gegenüber der EU-Kommission gemeinsam deutlich gemacht, dass es so, wie es geplant ist, nicht umgesetzt werden kann. Nachhaltigkeit soll nämlich nicht - entgegen unserem gemeinsamen Verständnis - das Fundament sein, auf dem alle anderen Fachpolitikbereiche fußen, sondern nur noch ein kleiner Ableger der Strategie 2020 sein. Das kann nicht richtig sein. Wir sind froh, dass uns die Bundesregierung unterstützt. Wir hoffen, gemeinsam in Europa zu verhindern, dass hier Rückschritte gemacht werden. Wir brauchen Fortschritte. Da ist auch die EU in der Pflicht. ({6}) Auch die Zusammenarbeit mit den Ländern muss verbessert werden. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Aber die Abstimmung muss verbessert werden; sonst erreichen wir nicht eine Nachhaltigkeitspolitik aus einem Guss. Es ist notwendig, dass Indikatoren abgestimmt werden und dass vergleichbare Gremien als Ansprechpartner geschaffen werden. Man muss in den wichtigen Bereichen zusammenkommen. Angesichts der mir verbleibenden Redezeit will ich nur die nachhaltige Mobilität als Beispiel nennen. Wir alle sind uns einig, dass hier etwas passieren muss. Wir haben im Bundestag ein Gesetz zur Förderung der Elektromobilität beschlossen, das eine Befreiung von der Kfz-Steuer und eine Besserstellung von Dienstwagen vorsieht, wenn sie ökologisch und nachhaltig sind. Dieses Gesetz halten wir alle eigentlich für richtig. Es wird in der Sache auch nicht von den Ländern kritisiert. Aber es wird jetzt aus anderen Motiven blockiert, die nichts damit zu tun haben. Mit Blick auf dieses Beispiel sage ich: Da müssen wir alle besser zusammenarbeiten. Da sind auch die Länder in der Verantwortung. Wir nehmen diese Verantwortung gemeinsam im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung wahr, und wir werden weiterhin gemeinsam dafür eintreten. Das Einvernehmen, die Gemeinsamkeit über Fraktionsgrenzen hinweg, die wir hier haben, machen ein Stück weit unsere Stärke aus. Insofern können wir immer wieder Wichtiges bewegen. Ich freue mich auf die weitere Arbeit. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/11670 und 17/8721 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Privat Versicherte solidarisch versichern Private Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen - Drucksache 17/10119 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Vizepräsidentin Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. ({1})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuhörerinnen und Zuhörer sind leider keine mehr da. ({0}) Kein vergleichbares Land auf der Welt hat ein so unsinniges Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung wie Deutschland. ({1}) Bei uns werden die Menschen in die beiden unterschiedlichen Systeme mehr oder minder aufgrund des beruflichen Status eingeteilt; historisch ist das weitgehend überholt. Wer selbstständig ist, Beamter, gut verdienender Angestellter oder Berufspolitiker, zudem noch jung und gesund, der kommt in die private Krankenversicherung, alle anderen müssen in die gesetzliche. Dieses Nebeneinander ist ein Ärgernis. Es ist ein Symbol für die Zweiklassenmedizin in Deutschland, die wir nicht wollen. ({2}) Damit stehen wir allerdings schon lange nicht mehr allein. Der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse hat vor kurzem umstandslos festgestellt: Die PKV passt nicht in unser System. Wir sollten sie abschaffen. ({3}) Sogar der Kollege Jens Spahn hält die Trennung für „nicht mehr zeitgemäß“ und stellt laut Presse die Systemfrage. ({4}) Welchen Grund gibt es, von Menschen mit gleichem Einkommen unterschiedliche Beiträge zu verlangen? Welchen Grund gibt es, Menschen mit der gleichen Krankheit, mit der gleichen Diagnose, die beim selben Arzt in Behandlung sind, verschieden zu behandeln? Ich rede hier nicht von schlechter oder besser. Die Annahme, die auch in der Bevölkerung weit verbreitet ist, als Privatpatient werde man automatisch besser behandelt, ist zumindest sehr zweifelhaft. Richtig ist: Man bekommt schneller einen Termin beim Facharzt. Richtig ist: Man hat womöglich eigene Wartezonen. Richtig ist: Man bekommt vielleicht einen Kaffee. Aber man wird zweifellos häufiger und teurer behandelt, weil mehr Geld zu verdienen ist. Das ist nicht nur schädlich für das Portemonnaie, das kann auch durchaus der Gesundheit abträglich sein, weil letztlich auch Fragwürdiges abgerechnet werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Privatversicherter kann seinen Versicherungsvertrag in allen Einzelheiten verstehen. Häufig tun das noch nicht einmal diejenigen, die diese Verträge vermitteln: die Versicherungsmakler. ({5}) Die Konstruktionen und Kalkulationen der Tarife werden auch nicht offengelegt. Es gibt Unbekannte in der Kalkulation, zum Beispiel die Zinsentwicklung. Warum ist das wichtig? Einen Teil der Beiträge junger Versicherter nutzt das Versicherungsunternehmen, um Rückstellungen zu bilden, wenn die Versicherten alt sind. Die Zinserträge hieraus entscheiden auch über die Höhe der Beiträge. Bei einem dauerhaft niedrigen Zinssatz, wie wir ihn derzeit haben, ist die direkte Folge: Die Beiträge steigen. Selbst wenn die Zinsen über die gesamte Vertragslaufzeit hoch genug wären: Weder steigende Gesundheitskosten noch die Inflation sind ausreichend in diese Berechnungen eingepreist. ({6}) Die Folge: Die Beiträge, vor allen Dingen für ältere Privatversicherte, gehen „durch die Decke“. Dann zeigt sich, dass „Hier die gesetzliche Krankenversicherung, die als bürokratische Staatsmedizin daherkommt, und dort die private Krankenversicherung als innovative wettbewerbsorientierte Alternative“ schlicht ein Märchen ist. ({7}) Versuchen Sie als Privatversicherter so ab 50 doch einmal, die Wettbewerbsfähigkeit zu testen und zu einer anderen Versicherung zu wechseln. Welch böses Erwachen! Die Versicherungen verlangen eine Gesundheitsprüfung, und bei ehrlicher Beantwortung der Fragen lehnen einige der Versicherungsunternehmen wegen Vorerkrankung einfach die Versicherungsmöglichkeit ab, andere wollen entsprechende Leistungsausschlüsse, und wieder andere wollen Risikozuschläge erheben, die den Beitragssatz noch weiter in die Höhe treiben. Oder es wird angeboten, den Beitragssatz durch deutliche Erhöhung der Selbstbehalte stabil zu halten. Hier ist weit und breit kein Wettbewerb. Es gibt nur einen Wettbewerb um die Jungen und Gesunden. Wer schon länger dabei ist, kann so gut wie nicht mehr wechseln und ist auf Gedeih und Verderb einer Versicherung ausgeliefert. Das soll innovativer Wettbewerb sein? Für mich ist das eine Bankrotterklärung der privaten Krankenversicherung. ({8}) Jetzt wird wieder behauptet, die Linke mache eine Politik gegen die Privatversicherten. Das ist falsch. Wir wollen die bestmögliche gesundheitliche Versorgung für alle Menschen in Deutschland. Das ist mit der Privatversicherung nicht möglich, dazu brauchen wir die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, in die alle Menschen einbezogen sind. ({9}) Dann wird noch der Vorwurf kommen, das gehe verfassungsrechtlich nicht. Das haben die Konservativen in der USA auch zu Obamas Gesundheitsreform gesagt. Letztendlich hat dort der Oberste Gerichtshof Obama aber zugestimmt. Es kommt also auf den Versuch an, den die Linke wagen will. ({10}) Denn man kann mit Kurt Marti nur sagen: Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen! Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Karin Maag hat nun für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Weinberg! ({0}) - Persönliche Wertschätzung ist vorhanden. An der gesetzlichen Einheitsversicherung für alle haben sich schon die Kollegen der Grünen und der SPD abgearbeitet. Schon deren Herangehensweise, lieber Herr Weinberg, war juristisch bedenklich. Das sagen nicht Sie oder ich, sondern das sagte bereits der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Papier, der darauf hingewiesen hat, dass genau diese Modelle die Bürger in ihrer verfassungsrechtlich garantierten Handlungsfreiheit und die Versicherungsunternehmen in ihrer Berufsfreiheit einschränken. ({1}) - Aber, lieber Herr Weinberg, wir unterhalten uns jetzt nicht juristisch, sondern wir gehen zu Ihrem Antrag. Das, was Sie hier abgeliefert haben, ist dünn, ist schlecht gemacht. Mit der Feinarbeit wollen Sie sich in Ihrem Drang, jetzt umzuverteilen, auch gar nicht aufhalten. Sie wollen die PKV als Vollversicherung schlicht sofort und unmittelbar ganz abschaffen. Übergangsregelungen, die die Kollegen der Grünen und der SPD als zentrales Thema erkannt haben, brauchen Sie nicht. Die Beitragsbemessungsgrenze stört Sie; also muss sie weg. Vom Äquivalenzprinzip haben Sie noch nie gehört oder das ist Ihnen egal. Dann wollen Sie selbstverständlich alle Arten von Einkommen zum Beitrag heranziehen. Das war auf jeden Fall schon für die Grünen und für die SPD ein Thema. Das sieht man an den Volten, die sie geschlagen haben. Spätestens da hätten Sie doch merken müssen, dass es so platt nun einfach auch nicht geht. Bei der SPD hat man zumindest den hohen Verwaltungsaufwand bei der Verbeitragung aller Einkommensarten und den vergleichsweisen geringen Ertrag daraus erkannt. Die Grünen, jedenfalls soweit mir deren letztes Modell bekannt ist, wollen wenigstens die Freibeträge einräumen. Bei der Beitragsbemessungsgrenze hat man ja dann auch bemerkt - Sie wahrscheinlich nicht, Herr Weinberg -, dass diese die Bezieher mittlerer Einkommen schützt und dass diese auch schützenswert sind, weil sie die Hauptlast des Staates bereits tragen. ({2}) Die Grünen wollen deshalb nur in Grenzen erhöhen und die Beiträge für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen verteuern. Die SPD sagt dann: „Okay, wir verteuern nur für die Arbeitgeber.“ Da muss man sich dann fragen, ob Sie von der SPD noch ernsthaft daran glauben, dass dann irgendein Arbeitgeber auch nur noch einen zusätzlichen Arbeitsplatz schafft; denn das würde denen schlicht zu teuer werden. Aber jetzt zurück zu Ihnen. 170 Milliarden Euro Altersrückstellungen sind verfassungsrechtlich auch über Art. 14 Grundgesetz geschützt. Das interessiert Sie schlicht nicht. Das kann man aber nur dann verstehen, wenn man Ihrem Verweis auf Ihren Antrag „Gesundheit und Pflege solidarisch finanzieren“ folgt. Dort wird formuliert - das zitiere ich jetzt -: Die Idee, heute für spätere Leistungen Geld zurückzulegen, führt in die Irre und hat nichts mit Generationengerechtigkeit zu tun. ({3}) Der demografische Wandel und die Diskussion der letzten Jahre ist spurlos an Ihnen vorbeigegangen. ({4}) Da frage ich mich nur noch: Wo leben Sie denn eigentlich? ({5}) In Deutschland ist die Lebenswirklichkeit eine völlig andere. Unser System ist nach wie vor eines der besten der Welt. Das können wir uns von Ihnen nicht kaputtreden lassen. Wirklich jeder, der im Ausland einen Unfall erleidet oder krank wird, hat nur ein Interesse: Er möchte zurück nach Deutschland, um sich behandeln zu lassen. ({6}) Neun von zehn Versicherten sind mit den Wartezeiten auf einen Arzttermin zufrieden. 90 Prozent der Menschen sind von der Freundlichkeit des Personals und der Atmosphäre in der Praxis begeistert. Das sage übrigens nicht ich, sondern das sagt das Wissenschaftliche Institut der von Ihnen zitierten Techniker Krankenkasse. Noch eines: Selbstverständlich, auch das System der PKV - das haben wir erkannt; wir sind ja nicht blöd, Herr Weinberg - hat Schwächen, und daran arbeiten wir. ({7}) Es ist doch sinnvoll, diese Schwächen aufzuarbeiten, das heißt, das System zu stärken. Das ist unsere Aufgabe. ({8}) Wir bringen heute zum Beispiel Innovationen auch schneller in die GKV. Ich nenne da die §§ 137 c und e SGB V. Genau das, den schnellen Zugang zu Innovationen, stellt die PKV seit langem sicher, natürlich dann auch für die Versicherten der GKV. Diese Innovationen nützen allen. Dann müssen Sie noch an Folgendes denken: 11 Prozent privat Versicherte sorgen im Durchschnitt für 25 Prozent der Honorare in einer Arztpraxis. Auch im niedergelassenen Bereich kommt das den gesetzlich Versicherten zugute. Gerade die Länder mit einem Einheitssystem sind in den letzten Jahren leider Gottes zur Rationierung übergegangen. Schon das wäre für mich ein Grund, das Einheitssystem abzulehnen. Ich erinnere Sie an Großbritannien. ({9}) Auch das Modell des einheitlichen Marktes in den Niederlanden - darüber haben wir ebenfalls schon gesprochen - krankt heute. Lesen Sie, was Fritz Beske in dieser Woche geschrieben hat! Da sind die Themen deutlich benannt. Sie haben die schwarzen Schafe bei der PKV angeführt. Klar, es gibt solche PKVen, die die Tarife nicht auskömmlich kalkulieren, die Provisionen jenseits des Tolerierbaren gezahlt haben. Genau dort haben wir gehandelt. ({10}) Wir haben die Provisionen begrenzt. ({11}) Wir haben die PKVen daran erinnert, dass sie ihre Versicherungsnehmer darüber informieren müssen, dass die Tarife gewechselt werden können. Wir haben den Ausgabenanstieg auch dort und nicht nur in der GKV begrenzt, etwa mit dem Privatklinikausgründungsverbot. Darüber haben wir uns in diesem Hohen Hause wirklich ausgiebig unterhalten. Fazit aus meiner Sicht also: Der GKV die Konkurrenz vom Leib zu halten, ist keine Lösung. Das macht das System auf Dauer nicht tragfähig. Wenn Sie sich das nächste Mal damit befassen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei Ihren Anträgen etwas mehr Mühe geben würden. Danke schön. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Karl Lauterbach das Wort. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: An der Diagnose des Systemfehlers, vorgetragen von Herrn Weinberg für die Linkspartei, ist nichts auszusetzen; sie ist im Prinzip richtig. Das ist mittlerweile auch in der allgemeinen Bevölkerung, selbst bei einem großen Teil Ihrer Wähler, zunehmend die einhellige Meinung. Das wird für die Unionswähler wie für uns alle mittelfristig ein großes Problem werden. Es ist ganz klar: Das System funktioniert in der jetzigen Form nicht. Wir haben eine ausgesprochene Zweiklassenmedizin. Dies wird von kaum jemandem mehr bestritten. Es gibt kaum jemanden, der mir ernsthaft bestreitet, dass wir eine Zweiklassenmedizin haben. Es wird mittlerweile auch kaum mehr bestritten, dass sie beiden Gruppen, nämlich den gesetzlich Versicherten und den privat Versicherten, schadet. Es ist nicht so, dass die privat Versicherten allein gewinnen und die gesetzlich Versicherten allein verlieren, sondern jeder verliert auf seine Art. Jeder verliert auf seine Weise, wenn man so will: Die gesetzlich Versicherten haben oft keinen Zugang zu Fachärzten, müssen warten und werden als Patienten zweiter Klasse gesehen, empfinden sich auch so. Die Patienten, die privat versichert sind, sind oft die Versuchskaninchen des Systems. Sie werden mit Medikamenten behandelt, die noch nicht wissenschaftlich ausreichend erprobt sind. Sie waren mehr vom VioxxProblem betroffen als die gesetzlich Versicherten. In der Onkologie gibt es zahlreiche Antikörpertherapien, die nicht evidenzbasiert sind, die bevorzugt bei privat Versicherten eingesetzt werden. Unilaterale Kniegelenksprothesen, die in der Regel nur fünf Jahre halten, werden bei privat Versicherten bevorzugt eingesetzt. Das Gleiche gilt für die sogenannte Überkronung des Hüftgelenkes, ein Eingriff, der für denjenigen sozusagen lukrativ ist, der ihn vornimmt, dessen Erfolg aber wissenschaftlich überhaupt nicht gesichert ist. Die Protonentherapie wird bei Privatpatienten vornehmlich genutzt, obwohl neuere Studien keinen Vorteil zeigen. Jeder leidet für sich allein. Beide Gruppen - privat wie gesetzlich Versicherte - sind betroffen. Viele ältere Privatversicherte müssen ihre Ansprüche zurückschrauben, weil sie mit dem Geld nicht mehr klarkommen. Rentner zahlen 800, 900 Euro Krankenversicherung, haben aber nur eine Rente von 1 500 Euro. Oft ist dabei die Armutsgrenze fast erreicht. Das betrifft auch Geschiedene von Beamten sehr häufig. Gesetzlich Versicherte dagegen sind besser geschützt. Es gibt also eine Vielzahl von Problemen. Zu all dem hat die FDP, wie wir gerade von Frau Maag gehört haben, nichts beizutragen. Ich habe keinen einzigen Lösungsvorschlag gehört. ({0}) Damit werden Sie nicht durchkommen. Die Kritik an den Vorschlägen der Linkspartei mag in dem ein oder anderen Punkt berechtigt sein, aber Sie haben nichts anzubieten. Sind wir doch ehrlich. Im Bereich der privaten Assekuranz sind Sie nichts anderes als eine kleine Klientelpartei, was man Ihnen immer vorwirft. Mehr ist von der liberalen Tradition im Gesundheitssystem nicht übrig geblieben. ({1}) - Diesen Kritikpunkt räume ich ein. Das ist in der Tat richtig. Die Lösung der Linkspartei, die vorgetragen wurde, ist ebenfalls nicht allumfassend. Das muss man sagen. Viele Dinge sind schlicht übergangen worden. So ist zum Beispiel dem Antrag nicht zu entnehmen, ob die Altersrückstellungen überführt werden sollen oder nicht. Das steht nicht im Antrag. Ich rate auch davon ab, dies in den Antrag zu schreiben; denn diese Art der Enteignung ist verfassungsmäßig auf der Grundlage der uns vorliegenden Gutachten schlicht und ergreifend nicht gedeckt. Ebenfalls ist es unklar, ob eine solche Überführung des Personals gedeckt ist. Es ist auch nicht klar, ob in das Versicherungsfeld der Bürgerversicherung, wenn sie eingeführt werden sollte, was wir verfolgen, die privaten Krankenversicherungen einen entsprechenden Zugang haben sollten. Ich halte die von der Linkspartei vorgenommene Diagnose des Problems im Großen und Ganzen für richtig. Mit dem Antrag springen Sie aber zu kurz. Es fehlt ein Vorschlag, wie die Vergütung sein soll. Was machen wir mit den Beamten? In Ihrem Antrag steht nichts über die Beamten. Wie stellen Sie sich das vor? Ist es verfassungskonform, auch die Beamten - ich sage einmal - zwangszuüberführen? Wenn Sie das denken, hätte es im Antrag stehen müssen. Wir halten es für nicht machbar. Es fehlt vieles. Somit glaube ich, dass das ursprüngliche Modell, das Originalmodell der SPD nach wie vor das einfachste und unbürokratischste Modell ist. Es werden wieder paritätische Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern erhoben. Damit das System demografisch abgefedert ist, wird der Steuerzuschuss systematisch erhöht. Die Bürgerversicherung in einem System, wo gleiche Honorare von gesetzlich wie privat Versicherten bezahlt werden, beseitigt die Zweiklassenmedizin. Dann kann man den privat Versicherten den Übergang in einem Jahr freiwillig erlauben. Wenn sie wollen, wechseln sie in das Bürgerversicherungssystem, sonst bleiben sie im privaten System. Wo liegt der Fehler, wenn sich jeder in einem Übergangsjahr selbst entscheiden kann, wenn es keine Zweiklassenmedizin mehr gibt? Das ist viel unbürokratischer und gerechter, als wenn das private System - ich sage einmal - in die Knie gezwungen wird. Wieso soll ich diesen Arbeitgebern nicht die Möglichkeit geben, die Bürgerversicherung selbst anzubieten? (Zuruf der Abg. Stefanie Vogelsang ({2}) Ein solches System hätte darüber hinaus auch den Vorteil, dass es in der Bevölkerung anerkannt ist. In der Bevölkerung wird zwar eine Lösung des Systemproblems gewünscht, aber kein Zwang. Jeder kann sich innerhalb eines Jahres entscheiden. Die Neumitglieder gehen alle in das neue Versicherungssystem der Bürgerversicherung. Die Altmitglieder können sich entscheiden, ob sie in der Bürgerversicherung zu Hause sind oder ob sie in der PKV verbleiben. Ich sage Ihnen voraus: Die allermeisten werden sich für den Wechsel in die Bürgerversicherung entscheiden. Diejenigen, die das nicht tun, treffen diese Wahl in freier Entscheidung. Die Altersrückstellungen - das hören wir von der FDP immer wieder ({3}) sind auskömmlich. Von daher wird das als Substanz reichen. Niemand soll zu seinem Glück in einer Bürgerversicherung gezwungen werden, die ein unbürokratisches System darstellt, das gerecht ist, ohne Zweiklassenmedizin, bei gleichen Honoraren für alle Beteiligten, das begleitet wird durch eine Strukturreform, die ihren Namen auch verdient, mit mehr Vorbeugemedizin und einer Öffnung der Sektorengrenzen. In einem System für alle sind auch Reformen möglich, die bisher nicht möglich waren. Denn oft scheitern Reformen daran, dass überlegt wird, was gut ist für die Privatversicherten und was gut ist für die gesetzlich Versicherten. Sitzen alle in einem Boot, lässt sich eine Reform aufbauen, die für die Bevölkerung gut ist und nicht für Einzelne in unserer Gesellschaft. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weinberg, kein vergleichbares Land hat ein so gutes Gesundheitssystem wie wir. Unser deutsches Gesundheitssystem gehört zu den besten der Welt. Diesen Satz habe ich von Ihnen heute leider nicht gehört. ({0}) Statt sich um eine konkrete Weiterentwicklung unseres wirklich guten Gesundheitssystems zu bemühen, zetteln Sie hier eine ideologische Debatte an. Sie fordern eine wie auch immer geartete Bürgerversicherung und damit natürlich die Abschaffung der privaten Krankenversicherung. Diese Versprechen von vermeintlich mehr Solidarität und mehr Gerechtigkeit hören sich immer toll an. Schaut man jedoch hinter die Kulissen Ihres Antrages, dann wird sehr schnell klar: Ihnen geht es gar nicht um irgendwelche Leistungsverbesserungen oder mehr Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen oder in der Versorgung der Versicherten. Ihnen geht es einzig und allein um das Erschließen neuer Geldquellen. Sie glauben, mit mehr Geld werde schon alles besser. Sie behaupten, die PKV entziehe der GKV besser verdienende und gesündere Versicherte. Sie wollen die Beiträge der PKV-Mitglieder, die dann als Zwangskunden in die Bürgerversicherung einzahlen müssen. Ich kann Ihnen nur sagen: Nicht mit uns! ({1}) Sie vergessen dabei, dass nur 13 Prozent der PKVVersicherten Arbeitnehmer oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze sind, die in der GKV den Höchstbetrag bezahlen würden. Außerdem vergessen Sie die Kinder und die erwerbslosen Ehepartner, die in der PKV selbstverständlich Beiträge leisten. Das müssten sie in der GKV nicht, hätten aber einen vollen Leistungsanspruch. Wir wissen: Sie als Linke streben eine Ausweitung der Beitragsbasis an. Sie wollen auch noch solche Einkommensarten wie Kapital-, Zins- oder Mieteinkommen vereinnahmen. Ihr Ziel ist die Umwandlung des für unsere Begriffe ohnehin schon überregulierten Krankenversicherungssystems in ein planwirtschaftliches System. Hier ist nach Ihrer Ideologie natürlich kein Platz mehr für die PKV. In Ihrem System sehen Sie eine ausnahmslose Zwangsmitgliedschaft aller Bürger in einer Einheitsversicherung vor. Das ist wirklich klasse! Dabei können Sie auf unsere Hilfe nicht hoffen. Damit nehmen Sie nämlich den Menschen ihre Wahlfreiheit. Diese Wahlfreiheit erachte ich als besonders wichtig. ({2}) Dafür haben sich in Deutschland 9 Millionen Versicherte aktiv und eigenverantwortlich entschieden. ({3}) Sie wollen diese Menschen entmündigen, weil die PKV einfach nicht in Ihre Ideologie und Ihr System passt. Meine Damen und Herren, die Linke schreibt in ihrem Antrag, das Nebeneinander einer gesetzlichen und einer privaten Krankenversicherung führe zu einer Zweiklassenmedizin. Sie sagen also: Nur der PKV-Versicherte ist erster Klasse versichert. Schon im nächsten Absatz - ich finde Ihren Antrag wirklich sehr putzig beklagen Sie dann den bedauernswerten Zustand der PKV-Versicherten, beklagen einen Leistungskatalog im Basistarif mit Vergütungen von Ärzten unter GKV-Niveau. Ja, was denn nun? Ist es eine Versicherung erster Klasse, oder ist es die Holzklasse? Ich habe das Ihrem Antrag nicht richtig entnehmen können. ({4}) Als Mittel gegen diese vermeintlichen Ungerechtigkeiten wird von Ihnen die Bürgerversicherung angepriesen. Aber was steckt eigentlich dahinter? Führt eine Einheitskrankenkasse wirklich dazu, dass alles besser und solidarischer wird? Nein, auf gar keinen Fall, meine Damen und Herren. De facto führt gerade das Konzept der Bürgerversicherung zu einer echten Zweiklassenmedizin. Sie können etwa am Beispiel Großbritanniens sehr gut sehen, ({5}) wie ein einheitliches, planwirtschaftlich organisiertes staatliches System zu langen Wartezeiten, zu Rationierung, zu Mangel und zu eingeschränkten Leistungen führt. ({6}) Das wollen wir hier bei uns nicht haben. ({7}) Denn die überwiegende Mehrheit bekommt in Großbritannien eine Minimalversorgung auf niedrigem Niveau. Wer es sich leisten kann, der nimmt natürlich bessere Leistungen gegen bar in Anspruch oder fährt ins Ausland, am besten zu uns nach Deutschland, wo es eine gute medizinische Versorgung gibt. Das ist die wahre Zweiklassenmedizin, und die wollen wir hier nicht haben. ({8}) Es gibt weitere Argumente dafür, die PKV nicht abzuschaffen. Ich nenne hier insbesondere die Altersrückstellungen in der PKV. Denn damit ist die PKV dem Umlagesystem der GKV deutlich überlegen. ({9}) Die PKV punktet beim Stichpunkt Demografie, meine Damen und Herren; das können Sie nicht einfach wegargumentieren. Wir gleiten doch in Zukunft in eine Situation, in der immer weniger Beitragszahler immer größere Kostenlasten tragen müssen. Eine Ausweitung des Umlagesystems auf 100 Prozent der Bevölkerung verschärft dieses Problem nur. Denn mit den neuen Mitgliedern - ich habe das am Anfang schon ausgeführt - werden auch deren Kosten erworben. Für diesen zweifelhaften Effekt wollen Sie also das gute System der Altersrückstellungen abschaffen; das ist mit uns nicht zu machen. In der PKV wird eine generationengerechte Lösung praktiziert. ({10}) Doch Sie gehen sogar so weit, dass Sie in der Bürgerversicherung Rücklagenbildungen untersagen wollen. Das ist nicht vorausschauend; so schafft man kein Gesundheitssystem, das zukunftsfest ist. Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die Weiterentwicklung unseres wirklich ausgezeichneten Systems ist es viel zielführender, über weitere Reformen in der GKV und in der PKV nachzudenken. Das ist doch die Lösung. Wir dürfen doch nicht das duale System auf dem Altar einer sogenannten Bürgerversicherung opfern, bei der wirklich nur der Name gut ist. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, den bewährten Dualismus zu optimieren, indem wir die jeweiligen Vorteile beider Systeme stärken und miteinander kombinieren. Darin liegt die Zukunft des Gesundheitssystems, nicht in der Entmündigung von Millionen PKV-Versicherten. Danke schön. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Birgitt Bender hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kollegin Aschenberg-Dugnus, wenn man Sie so hört, dann ist man schon froh, dass die FDP in Umfragen bei nur 2 Prozent steht. ({0}) Jetzt reden wir einmal über die PKV. Diese Regierung hat in den letzten drei Jahren immer ihre schützende Hand über die PKV gehalten. Einige Beispiele gefällig? Erst einmal hat sie die Frist, die gesetzlich Versicherte einhalten müssen, bis sie in die PKV wechseln können, von drei Jahren auf ein Jahr verkürzt. ({1}) Mit der Pflegereform wurde der privaten Versicherungsbranche der sogenannte Pflege-Bahr geschenkt. Er wird dem Großteil der Pflegebedürftigen nichts nützen, eröffnet der privaten Krankenversicherung aber ein neues Geschäftsfeld - sonst eben nichts. ({2}) Die Auswirkungen des vorerst letzten Akts dieser Klientelpolitik erleben wir in diesen Tagen. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Versicherer für Frauen und Männer keine unterschiedlichen Preise mehr verlangen dürfen. Beflissen hat die Bundesregierung dafür gesorgt, die Auswirkungen dieses Urteils auf die PKV abzupuffern; denn geschlechtsneutrale Tarife soll es nur für Neukundinnen und -kunden geben, für Bestandsversicherte bleibt dank dieser Koalition alles beim Alten. ({3}) - Werter Kollege, die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Europarecht ist mehr als fraglich. ({4}) Das wird sich spätestens dann zeigen, wenn die erste Altversicherte vor den EuGH zieht. Doch für die Branche ist es natürlich erst einmal bequemer: Das erspart den Ärger mit den männlichen Altversicherten, und nur das zählt für die Bundesregierung. Aber die PKV setzt noch einen drauf. Die Beiträge für neu eintretende Männer sind gestiegen. Aber glauben Sie etwa, die für die Frauen seien gesunken? Ganz im Gegenteil! Tatsächlich haben diese Tarife bei diversen Unternehmen sogar zugelegt. Da der PKV die Ausgaben davonlaufen, braucht sie nämlich jeden Cent, und da passen Beitragssenkungen eben nicht ins Konzept. Hier zeigt sich wieder einmal: Die Doppelstruktur von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ist nicht nur ungerecht, weil sie Gutverdienenden ermöglicht, sich vom Solidarausgleich zu verabschieden. Die PKV als solche ist eine Fehlkonstruktion, nichts anderes. ({5}) Man sieht es doch: Obwohl sie weit weniger chronisch Kranke, Behinderte und Alte versichert, liegen ihre Ausgabensteigerungen deutlich über denen der GKV. ({6}) Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer Abschaffung der PKV als eigenständiges Versicherungssystem neben der GVK absolut richtig. Wir brauchen eine Bürgerversicherung, die auch die bisher PKV-Versicherten am Solidarausgleich beteiligt ({7}) und so - hören Sie gut zu, werter Herr Kollege - den solidarischen Krankenversicherungsschutz demografiefest macht; auch das ist die PKV nämlich nicht. ({8}) Allerdings - das sage ich jetzt Ihnen, Herr Kollege Weinberg - schießen die Kollegen und Kolleginnen von der Linken dann doch über das Ziel hinaus; denn sie wollen den privaten Krankenversicherungsunternehmen das Vollversicherungsgeschäft verbieten. Sie sollen nur noch Zusatzversicherungen anbieten können. Damit würde man sich völlig überflüssigerweise verfassungsrechtliche Probleme aufhalsen. Warum eigentlich - so frage ich Sie - soll man den privaten Krankenversicherungen nicht zumuten, mit den gesetzlichen Krankenversicherungen in einen Wettbewerb nach gleichen Spielregeln im Rahmen der Bürgerversicherung einzutreten? ({9}) Einen solchen Wettbewerb, in dem für alle die gleichen Spielregeln gelten, würden die gesetzlichen Kassen nicht fürchten müssen. Das genau ist unser Weg in die Bürgerversicherung. Danke schön. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Rudolf Henke hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns von CDU und CSU ist jeder Mensch von gleichem Wert. In Bezug auf die Substanz medizinischer Hilfe für Patienten lehnen wir eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Versichertengruppen ab. Ärztliche Hilfe darf nicht vom Geldbeutel und auch nicht vom Versicherungsstatus abhängen. Ob jemand zur gesetzlichen Krankenversicherung gehört, ob er privat versichert ist, ob er Beihilfe bezieht oder von der Stütze lebt - das alles soll keinen Unterschied bei der ärztlichen Behandlung machen. ({0}) Beim Hotelkomfort mag es Unterschiede geben; in der Medizin muss die Behandlung eines jeden Patienten fachlich immer auf der Höhe der Zeit erfolgen. Genau das sind die Normen, die im Sozialgesetzbuch festgelegt sind, und es sind die Normen, die Ärzte und andere Behandelnde den Patientinnen und Patienten in der privaten Krankenversicherung schulden. Wenn man sich die Frage stellt: „Was ist denn das Kernargument des Antrags, den Sie als Linke hier eingebracht haben?“, muss man sich vergegenwärtigen, wie die Lage wirklich ist. Wir Deutschen werden - das ist schon gesagt worden - weltweit beneidet um den sehr, sehr guten Zugang zu medizinischer Versorgung in unserem Land. ({1}) In kaum einem Land der Welt sind die Wartezeiten auf einen Termin für eine notwendige Operation so kurz wie bei uns. In kaum einem Land der Welt ist es so leicht, einen Arzt, Hausarzt oder Facharzt, aufzusuchen, wie bei uns. Ja, es mag Wartezeiten geben; aber wenn es darauf ankommt, wird es immer möglich sein, rasch einen Termin zu bekommen, und sei es, weil der Hausarzt sich darum kümmert. ({2}) In kaum einem Land der Welt ist die Eigenbeteiligung desjenigen, der medizinische Hilfe braucht, niedriger als hier. Erst Ende 2012 haben wir die Kassengebühr für den Besuch einer Praxis aufgehoben. Das lassen wir uns 2 Milliarden Euro pro Jahr kosten. In kaum einem Land der Welt ist auch die Versorgung der Kranken, die auf der Schattenseite der Gesellschaft leben, so zuverlässig wie in Deutschland. Wenn Kritik an unserer gesundheitlichen Versorgung geübt wird, dann bezieht sie sich eher auf ein Zuviel als auf ein Zuwenig. In vielen Fällen verlassen wir uns so sehr auf die Qualität der Versorgung, dass wir glauben, wir könnten es uns leisten, uns wenig um Gesundheitsförderung und Prävention zu kümmern. Wir denken, dass die Versorgung all das, was wir im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung versäumen, ausgleicht. CDU/CSU und FDP werden in den kommenden Wochen eine nachhaltige Initiative starten, um den Bereich Prävention und Gesundheitsförderung zu stärken. ({3}) Bei Krankheit gibt es oft so viele Hilfen in unserem Land, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. In einer solchen Situation, in der sich sicher etliches Kritische zur Versorgung sagen lässt, legen Sie von der Fraktion Die Linke uns einen Antrag vor, in dem das Nebeneinander von gesetzlicher Krankenkasse und privater Krankenversicherung als Hauptgrund aller Mängel im Gesundheitswesen benannt wird. Damit führen Sie die Menschen in Deutschland hinter die Fichte. Sie bewegen sich weit weg von der Realität. ({4}) Sie haben Jens Spahn angesprochen und ihn gewissermaßen zum Kronzeugen gemacht. Ich will einmal aus seinen zehn Thesen zu den Anforderungen an eine Krankenversicherung der Zukunft zitieren: ({5}) Die Debatte zum Verhältnis von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung darf nicht als linke Neiddebatte geführt werden. In genau dieser Art führen Sie aber die Debatte. ({6}) Dieser Neid wird gleich auf zwei Ebenen geschürt: SPD, Linke und Grüne erwecken in der politischen Diskussion zum einen den Eindruck, man könnte die Finanzprobleme der GKV am besten lösen, indem man die „unsolidarischen Besserverdiener“ zu Beitragszahlern machte, und zum Zweiten wird die angeblich bessere Versorgung von Privatpatienten angeprangert, beispielhaft regelmäßig illustriert an den kürzeren Wartezeiten auf einen Arzttermin. Beide Neidargumente - so Jens Spahn greifen deutlich zu kurz, sie klingen im ersten Moment gut und eingängig, aber sie treffen einfach nicht zu. Recht hat Jens Spahn. ({7}) Deswegen, verehrter Kollege Lauterbach, sage ich auf Ihre Frage, wo die Vorschläge sind: Ja, wir müssen beide Systeme reformieren. Das ist eine Daueraufgabe. Bezogen auf die PKV gehört dazu: ein Ende der Billigtarife, eine überarbeitete Systematik zur Kalkulation der Tarife, ein einheitlich definierter Mindestversicherungsschutz, eine stärkere Versorgungs- und eine geringere Vertriebsorientierung bei den Versicherungen. Das sind alles Punkte, über die wir diskutieren und reden können, über die wir bereits sprechen. Aber was Sie machen, ist, Neid schüren und eine anschließende Räuberei vorbereiten. Sie wollen eigentlich nichts anderes, als die Privatversicherten um 170 Milliarden Euro Rücklagen bringen und dieses Geld verteilen. Dieser Betrag ist in der PKV angesammelt worden und fällt unter das Eigentumsrecht. ({8}) Das ist letzten Endes eine klassenkämpferisch motivierte, wahrscheinlich kommunistisch durchdachte Politik, ({9}) mit der Sie letztlich nichts anderes erreichen, als Unfrieden in der Gesellschaft zu schüren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Henke, achten Sie bitte auf die Zeitanzeige.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Absolut, ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dort sehen Sie ein Minus.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Das heutige Versorgungsniveau ist durch ein Miteinander von GKV und PKV entstanden. Wenn Sie das aufgeben, bedeutet das, dass Sie die Nivellierung der Versorgung in einer Einheitskrankenkasse für alle vorbereiten. Das wollen CDU/ CSU und, wie ich sicher bin, auch die FDP nicht. ({0}) Deswegen widersprechen wir Ihrem Antrag und werden ihn ablehnen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir haben jetzt alle eine Ahnung davon, wie die weitere Behandlung in den Ausschüssen zu einem entsprechenden Meinungsaustausch führen wird. Für heute schließe ich aber die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10119 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 17. Januar 2013, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.