Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/14/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Schön, Sie doch so bald wiederzusehen. Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und b sowie Zusatzpunkt 8 auf: 41 a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 17/11819 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 17/11820 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Dagmar Enkelmann, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 17/11821 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Rechtsausschuss Hierzu soll eineinhalb Stunden debattiert werden. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann wollen wir so verfahren. Der erste Redner in unserer Debatte ist der Kollege Michael Grosse-Brömer für die CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir gestern bis kurz vor Mitternacht debattiert haben, ist es nur angemessen, dass wir heute Morgen mit einem wichtigen Thema beginnen: mit einer Grundlage der Demokratie bzw. der parlamentarischen Daseinsberechtigung, nämlich mit dem Wahlrecht. ({0}) Wir behandeln heute die 22. Novelle des Bundeswahlgesetzes, und wir nehmen aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli dieses Jahres zwei Anpassungen beim Verfahren der Sitzverteilung vor. Erstens wird dabei der Effekt des negativen Stimmgewichtes, der bei der Umrechnung von Stimmen in Parlamentssitze zur Verfälschung des Wählerwillens führen kann, in Angriff genommen. Zweitens wird das Thema Überhangmandate urteilsgemäß berücksichtigt. Beides - das finde ich wichtig - werden wir durchführen, ohne die Grundpfeiler unseres deutschen Wahlsystems in irgendeiner Form zu beeinträchtigen. Ich halte das für gut so, weil die Bürger in Deutschland, wie ich glaube, ihrem Wahlrecht vertrauen; sie sind mit der personalisierten Verhältniswahl ein Stück weit vertraut und können auch künftig auf diese Grundlage setzen. Auch im Ausland gilt unser Modell durchaus als nachahmenswert. Zu den vielen Vorzügen unseres Wahlsystems gehört jedenfalls meiner Einschätzung nach, dass politische Mehrheitsverhältnisse im Parlament adäquat abgebildet sowie stabile Regierungen und ein handlungsfähiges Parlament garantiert werden. Deswegen haben wir daran nichts geändert. Ich glaube, das ist in unser aller Interesse, weil wir hier ein Erfolgsmodell vorweisen können. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das negative Stimmgewicht kann man intensiv diskutieren; im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gibt es Definitionen dazu. Um es kurz zu sagen: Letztlich geht es darum, dass ein Zugewinn bei den Stimmen am Ende zu weniger Mandaten führen kann. Es ist recht naheliegend, dass das vielleicht nicht das ideale Ergebnis ist. Deswegen ist schon mit der Wahlrechtsnovelle von 2011 die Listenverbindung abgeschafft worden: Durch die Einführung von Ländersitzkontingenten konnten wandernde Sitze, die im alten Wahlrecht noch möglich waren, vermieden werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Lösungsansatz dem Grunde nach bestätigt. Ländersitzkontingente dürfen sich aber nicht, wie in der Novelle von 2011 noch vorgesehen, nach der Wahlbeteiligung in dem jeweiligen Bundesland bestimmen; das entscheidende Kriterium sollte der Bevölkerungsanteil sein, um das negative Stimmgewicht effektiv zu bekämpfen. Mit der heutigen Novelle setzen wir nun die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes um. Nach dem Kompromissmodell, das wir heute in erster Lesung behandeln, werden die 598 Sitze in einem ersten Schritt auf die Bundesländer verteilt. Ein Bundesland wird dabei künftig so viele Sitze erhalten, wie es Anteil an der deutschen Wohnbevölkerung hat. In einem zweiten Schritt werden diese Sitze dann auf die jeweiligen Landeslisten der Parteien verteilt. Dabei erhält jede Landesliste so viele Sitze, wie ihr nach Zweitstimmen zustehen. So weit zur groben Systembeschreibung. Zum zweiten Punkt. Eine weitere wichtige Anpassungsmaßnahme betrifft die Überhangmandate. Sie sind die Konsequenz unseres bewährten Wahlsystems mit den zwei Stimmen. Sie garantieren, dass Kandidaten, die einen Wahlkreis direkt gewonnen haben, unabhängig vom Zweitstimmenergebnis tatsächlich ins Parlament einziehen. Angesichts der Arbeit der Kollegen vor Ort ist dies eine durchaus sinnvolle Möglichkeit, deren Arbeit und deren Einsatz vor Ort zu honorieren oder eben zu sanktionieren; das ist der richtige Grundgedanke. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil die Zulässigkeit von Überhangmandaten im Grundsatz bestätigt, aber auf eine gewisse Zahl beschränkt. Wir als einbringende Fraktionen haben intensiv über die Umsetzung dieser Vorgaben beraten. Schließlich haben wir uns darauf verständigt, dass Überhangmandate bestehen bleiben sollen, aber im weiteren Verlauf der Sitzverteilung ein Vollausgleich aller Überhangmandate vorgenommen werden soll. Das bedeutet, dass für jedes anfallende Überhangmandat weitere Ausgleichsmandate an die anderen Parteien vergeben werden. Ziel dieses Verfahrens ist es, dass am Ende der Proporz nach Zweitstimmen wieder vollständig hergestellt ist. Damit setzen wir die zweite Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes um. Wir standen vor einer großen Aufgabe. Wir hatten auch eine große Verantwortung. Ich bin davon überzeugt, dass die einbringenden Fraktionen nach intensiven Beratungen dieser Verantwortung sehr gerecht geworden sind. Ich glaube fest, dass wir eine verfassungsgemäße Lösung gefunden haben. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es uns gelungen ist, der möglichen Versuchung zu widerstehen, eine radikale Änderung unseres Wahlsystems durchzuführen. ({2}) Dazu hätte man sich hinreißen lassen können; aber wir haben es geschafft, auch bei unterschiedlichen Interessenlagen ein Stück weit dem Wunsch des Gerichtes, formuliert durch den Präsidenten, nachzukommen, das neue Wahlrecht auf eine möglichst breite parlamentarische Grundlage zu stellen. ({3}) - Herr Wiefelspütz, ich wollte Sie in meiner Rede eigentlich noch positiv erwähnen; das habe ich jetzt gerade gestrichen. ({4}) Ungeachtet dieser Tatsache ist die Reihenfolge der Redner angesichts der Bedeutung der Fraktionen nicht zufällig. Infolgedessen glaube ich, dass die CDU ihren großen Anteil daran hat. Wir können uns nun wechselseitig garantieren, dass wir der Verantwortung nachgekommen sind, und aus meiner Sicht völlig zu Recht feststellen, dass wir eine schwierige Aufgabe fraktionsübergreifend gut gelöst haben. ({5}) - Das Lob von rot-grüner Seite macht mich nicht nur verlegen, sondern es verwirrt mich auch ein bisschen. ({6}) Wir wollen bei dem ganzen Lob nicht vergessen: Ein Wermutstropfen bleibt, nämlich die Tatsache, dass durch dieses Ausgleichssystem eine Vergrößerung unseres Parlamentes nicht auszuschließen ist. Das ist ein Kritikpunkt, den wir aufnehmen müssen. Ich lege allerdings Wert darauf, dass dieser Umstand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes geschuldet ist und gerade auch dem Wunsch, den ich angesprochen habe und der bestätigt worden ist: dass man auf einer breiten interfraktionellen Grundlage eine Entscheidung treffen muss. Da muss man eben Kompromisse machen, man muss abwägen. Der Kollege Wiefelspütz wird sich, wie mancher andere Kollege, daran erinnern, dass wir schon seit Beginn der 90er-Jahre über die Verkleinerung des Parlamentes beraten, dass wir 1998 beschlossen, eine Verkleinerung durchzuführen, und dass bei der Bundestagswahl 2002 erstmals eine Verkleinerung durchgesetzt wurde. Das als Beleg dafür, dass hier nicht Kolleginnen und Kollegen sitzen, die grundsätzlich nur darauf achten, dass das ParMichael Grosse-Brömer lament vergrößert wird. Dass es zu einer Vergrößerung des Parlamentes kommen kann, ist einer verfassungsgemäßen, bundesverfassungsgerichtlich vorgegebenen Maßgabe geschuldet, insgesamt den Vorgaben nachzukommen und auf breiter parlamentarischer Basis Kompromisse zu schließen. Daraus ergibt sich jetzt die Möglichkeit der Vergrößerung. Wir sollten aber auch darauf hinweisen, dass diese Vergrößerung nicht allein mit Bezug auf das Jahr 2009 berechnet werden darf. 2009 waren es 24 Überhangmandate, 1990 waren es 6, und bei den Wahlen 2002 fielen insgesamt nur 5 Überhangmandate an. In dieser Debatte darf man nicht übertreiben, auch deshalb nicht, weil wir in Deutschland auch bei dieser maßvollen Erhöhung der Anzahl der Sitze immer noch, gemessen an der Bevölkerung, das zweitkleinste Parlament in Europa haben. Auch nach dem neuen Wahlrecht vertritt ein deutscher Abgeordneter mehr Bürger als zum Beispiel ein französischer oder ein britischer Abgeordneter. Er vertritt mehr Bürger als fast jeder andere Abgeordnete in einem europäischen Land. Wir sind immer noch, was die Größe des Parlaments bezogen auf die Einwohnerzahl angeht, eines der kleinsten Parlamente in Europa. Dennoch möchte ich aus Sicht der Union darauf hinweisen, dass es auch verschiedene andere Lösungsmodelle gab, zum Beispiel ein Kompensationsmodell. Das hätte zu regionalen Verwerfungen geführt. Der Kollege Krings wird darauf in seinem Wortbeitrag gleich eingehen. ({7}) Wir haben Wert darauf gelegt, dass ein Wähler in Kiel nicht irgendwann feststellen muss, dass er jemanden in Konstanz am Bodensee gewählt hat. Ich glaube, es ist sinnvoll, dass man wissen und feststellen kann, dass man dort, wo man gewählt hat, einen Abgeordneten ins Parlament geschickt hat. Das ist, jedenfalls aus meiner Sicht, ein wichtiger Aspekt. Ich will darauf hinweisen, dass uns nach diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes viele gesagt haben: Das mit der schnellen Umsetzung im Parlament wird schwierig; da kann man wahrscheinlich gar nicht viel Hoffnung haben; machtpolitische Motive werden wahrscheinlich eine schnelle Einigung verhindern. Es ist nicht so gekommen. Wir haben es geschafft, in intensiven Verhandlungen, die eben nicht von machtpolitischen Motiven dominiert waren, einen überparteilichen Konsens in recht kurzer Zeit hinzubekommen. In nicht einmal sechs Monaten haben sich vier der fünf Fraktionen verständigt. Die Fraktion Die Linke hat sich bewusst, auf meine Anregung hin, an den Beratungen beteiligt, aber - das muss ich schon sagen - leider nicht konstruktiv. Sie können nicht Idealmodelle vorstellen, gar nicht kompromissbereit sein und sich dann hier hinstellen - ich gehe mal davon aus, dass das gleich so sein wird - und sagen, dass Sie das einzige Modell haben, das nicht zu einer Vergrößerung führt. ({8}) Frau Wawzyniak, Sie können damit zwar populär werden, ({9}) aber Sie handeln damit nicht verantwortungsbewusst; das sage ich Ihnen. ({10}) Sie hätten eine andere Aufgabe gehabt. Es ist leicht, es besser zu wissen, aber schwer, es besser zu machen. Das werden wir wahrscheinlich in Ihrer Rede gleich feststellen. Ich will zum Schluss sagen: Herzlichen Dank allen Kollegen! ({11}) Wir mussten Abstriche machen. Ein noch größerer Dank gebührt aus meiner Sicht den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die noch stärker als wir zu Wahlrechtsexperten wurden. Sie haben uns sehr stark unterstützt. Schließlich danke ich auch den Experten des Bundesinnenministeriums. Was wir denen im Vorfeld und zwischendurch an Arbeit aufgegeben haben, war nicht wenig. Ich bitte, dieses Lob und diesen Dank auszurichten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlen stellen die unmittelbarste Form politischer Teilhabe des Bürgers in der parlamentarischen Demokratie dar. Wahlen dienen der Ermittlung des Volkswillens, der sich in letzter Hinsicht im Parlament durch unsere Mandate manifestiert. Fragen des Wahlrechts tangieren also fundamentale Elemente unserer Demokratie. Sie müssen mit großer Verantwortung behandelt werden. Ich bin sehr davon überzeugt, dass die einbringenden Fraktionen dieser Verantwortung in sehr vernünftigem Maße gerecht geworden sind. Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit und hoffe, dass dieses von uns jetzt eingebrachte Wahlrecht nicht nur Akzeptanz beim Bundesverfassungsgericht findet, sondern auch in der breiten Bevölkerung. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Thomas Oppermann ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr haben wir hier schon einmal über das richtige Wahlrecht gestritten. Damals gab es vier Gesetzentwürfe, einen der Linken, einen der SPD, einen der Grünen und einen der Koali26510 tion. Die weitere Geschichte ist bekannt: Die Koalition hat mit ihrer Mehrheit ihren Gesetzentwurf gegen die Minderheit durchgesetzt. ({0}) Wir haben in Karlsruhe geklagt. Das Urteil, der Richterspruch aus Karlsruhe war eindeutig: Das Wahlrecht, wie Sie es verabschiedet haben, ist verfassungswidrig. Die Botschaft aus Karlsruhe, die damit verbunden war, war eindeutig: Wahlrecht darf nicht als Machtrecht missbraucht werden. Das Wahlrecht ist nicht dazu da, nach den Machterhaltungsbedürfnissen der Mehrheit gestaltet zu werden. ({1}) Vielmehr ist das Wahlrecht das vornehmste demokratische Recht der Bürgerinnen und Bürger. Nach unserem Grundgesetz geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Sie wird in Wahlen und Abstimmungen vom Volk ausgeübt. Das bedeutet, dass die Wahlen das Verfahren sind, in dem die Staatsgewalt vom Volke auf das Parlament übertragen wird. Dieses Verfahren muss sehr genau und präzise gestaltet sein. Es muss fair und transparent sein, und es muss verlässlich und berechenbar sein. ({2}) - Es muss nicht unbedingt so sein, lieber Kollege Wieland, dass jeder Einzelne die komplexe Mechanik des Wahlrechtes versteht. ({3}) Aber er muss sich darauf verlassen können, er muss darauf vertrauen dürfen, dass seine Stimme am Ende die Wirkung hat, die er mit dieser Stimme verbindet. ({4}) Am besten ist natürlich ein Wahlrecht, das im Einvernehmen der konkurrierenden Parteien hier im Bundestag verabschiedet wird. Schade, dass sich die Linken diesen Ruck nicht geben konnten. ({5}) Sie haben ja auch einen Vorschlag gemacht und könnten sich in diesem Wahlrecht auch wiederfinden. ({6}) Ehrlich gesagt, da ist Ihnen der billige Punkt, den Sie jetzt noch machen wollen, wichtiger als der wertvolle Konsens der Demokraten in diesem Hause. Hier verpassen Sie wieder einmal eine Chance; das muss ich ganz ehrlich sagen. ({7}) Ihnen hätte ich eigentlich zugetraut, dass Sie diese Chance erkennen; aber Sie haben das leider wieder nicht geschafft. Ich bin froh, dass wir nach den Irrungen und Wirrungen der Koalition beim Wahlrecht jetzt zu einem gemeinsamen Entwurf von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP kommen. Das ist ein großer Schritt nach vorne. Das Wahlrecht selber bleibt in seinen Grundzügen natürlich erhalten. Es hat sich seit der ersten Bundestagswahl 1949 bewährt. Es war eine kluge Entscheidung des Parlamentarischen Rates, genau genommen des Ausschusses des Parlamentarischen Rates, der sich mit dem Wahlrecht befasst hat, dieses Wahlrecht, das eine Kombination aus Personal- und Verhältniswahl ist, in Deutschland einzuführen. Die Union wollte übrigens im Parlamentarischen Rat das Mehrheitswahlrecht durchsetzen. Auch das Mehrheitswahlrecht hat ja Vorzüge. ({8}) Es schafft eine enge Bindung zwischen den Wählern und den Gewählten. Es sorgt für eindeutige Mehrheitsverhältnisse. Es hat aber den Nachteil, dass letztlich zu viele Wählerstimmen unter den Tisch fallen. Deshalb hat die SPD zusammen mit den kleinen Parteien im Parlamentarischen Rat dafür gesorgt, dass wir ein Verhältniswahlrecht bekommen, aber kein reines Verhältniswahlrecht, wie wir es in der Weimarer Republik hatten. Dieses hatte bekanntlich dazu geführt, dass die Parteienlandschaft total zersplitterte. ({9}) Das hat am Ende den radikalen und extremen Kräften geholfen, sich an die Macht zu putschen. Deshalb war es eine kluge Entscheidung, die Persönlichkeitswahl, die Direktwahl in den Wahlkreisen zu kombinieren mit der Verhältniswahl, die dafür sorgt, dass sich das ganze Spektrum der Meinungen und Interessen einer Gesellschaft auch im Parlament wiederfindet. Entscheidend für die Zusammensetzung des Parlaments sind die Zweitstimmen. Entscheidend ist, was für ein Parlament die Wähler am Ende haben wollen. Bei der Verhältniswahl haben wir, um der Zersplitterung der Parteienlandschaft entgegenzuwirken, zum Glück die Fünfprozentklausel. Ich bedaure in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass das Bundesverfassungsgericht die Fünfprozentklausel bei den Europawahlen für verfassungswidrig erklärt hat. Ich möchte von dieser Stelle aus keine Urteilskritik betreiben; aber mir persönlich fällt es schwer, diese Entscheidung nachzuvollziehen. ({10}) Klar ist: Niemand in Deutschland will auf das Zweistimmenwahlrecht verzichten. Dabei wird es bleiben. Aber wir müssen zwei Korrekturen anbringen. Die eine Korrektur ist beim negativen Stimmgewicht notwendig. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Stimmabgabe der Wählerinnen und Wähler den von ihnen gewünschten Effekt haben muss. In bestimmten Konstellationen kann es jedoch vorkommen, dass man der Partei, die man wählt, mit der Stimmabgabe schadet - darum wird vom negativen Stimmgewicht gesprochen und einer anderen Partei nützt. Das ist eine etwas absurde Konsequenz unseres Wahlrechtes. Wir schließen das Auftreten des negativen Stimmgewichts aus, indem wir die Wahlgebiete jetzt voneinander trennen. Das heißt, die Wählerstimmen werden nicht mehr verrechnet. So haben wir mit einem handwerklichen Kunstgriff dafür gesorgt, dass das negative Stimmgewicht nicht mehr auftreten kann. Das zweite große Problem, das wir zu korrigieren hatten, sind die Überhangmandate. Die Überhangmandate sind ein Stachel im Fleisch der durch das Grundgesetz gebotenen Gleichheit der Wahl. Überhangmandate sind sozusagen ein leistungsloser politischer Einfluss für die Parteien, die davon begünstigt werden. ({11}) Die Union hatte zuletzt 24 Überhangmandate. Das ist der Gegenwert von 1,6 Millionen Wählerstimmen. Diese Wählerstimmen haben Sie in der Bevölkerung bei den Zweitstimmen nicht bekommen. ({12}) - Herr Kauder, ich will doch nur das Ausmaß des Fortschrittes beschreiben, den wir bald gemeinsam realisieren. Da muss ich schon einmal auf diesen Punkt zurückkommen. ({13}) - Sich mit Ihnen zu versöhnen, ist nicht immer ganz einfach. ({14}) Aber so wenige Tage vor Weihnachten will ich am Ende meiner Rede den Versuch noch einmal machen, Herr Kauder. Indem wir die Überhangmandate neutralisieren, indem wir sie ausgleichen, kommen wir zu dem korrekten Wahlergebnis. Damit sorgen wir dafür, dass am Ende die Wählerinnen und Wähler darüber bestimmen, wie sich der Bundestag zusammensetzt und wie die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag aussehen, und dass nicht mehr Zufälligkeiten bzw. die Absurdität des jetzigen Wahlrechts die Mehrheiten in diesem Hause festlegen. Deshalb bin ich froh, dass wir jetzt zu einer gemeinsamen Regelung gekommen sind. Dass die Überhangmandate von jetzt ab keine Rolle mehr spielen werden, ist durchaus historisch zu nennen. Der Bundestag muss deshalb auch nicht unverhältnismäßig groß werden. Ich habe es ausrechnen lassen: Je mehr Stimmen die SPD bekommt, desto kleiner wird der Bundestag. ({15}) Es gibt also vernünftige Anreizstrukturen. ({16}) Ich freue mich, dass die nächste Bundestagswahl auf der Grundlage eines verfassungskonformen Wahlrechts durchgeführt werden kann. Herzlichen Dank. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich beginne mit der Feststellung: Heute ist ein guter Tag für dieses Land, ({0}) weil wir gemeinsam ein Wahlrecht beschlossen haben ({1}) - weil wir beschließen werden, Herr Wieland; ich kann es gar nicht abwarten -, weil wir als Demokraten gezeigt haben, dass die Gemeinsamkeiten stärker sind als die Unterschiede. Wir haben, glaube ich, einen guten Kompromiss gefunden. Wir wollten mehrere Prinzipien unter einen Hut bringen: Erstens. Der Bundestag soll - so der Ausgangspunkt der Überlegungen der Koalition - nicht vergrößert werden. Zweitens. Das negative Stimmgewicht soll abgeschafft werden. Drittens. Es darf keine Verzerrung durch föderalen Proporz geben. Es sollen also proportional nicht mehr Baden-Württemberger, sosehr ich sie schätze, als Brandenburger im Bundestag vertreten sein. Viertens wollten wir uns mit der Frage befassen: Wie halten wir es mit dem subjektiven Wahlrechtsschutz? Das haben wir dann aber separat gemacht. Diesen Mühen haben sich auch Linke und Grüne unterzogen. Auch sie haben sich für ein Wahlrecht ausgesprochen, durch das eine Vergrößerung des Bundestages verhindert wird. ({2}) Lediglich die sozialdemokratische Partei hat von Anfang an nur Modelle auf den Tisch gelegt, die zu einer Vergrößerung des Bundestages führen. Die SPD-Fraktion empfindet das offensichtlich als keinen so gravierenden Nachteil wie die anderen Fraktionen in diesem Hause. Vier Fraktionen also haben sich der Mühe unterzogen, ein Bundestagswahlrecht vorzuschlagen, durch das der Bundestag nicht vergrößert wird. Unsere sozialdemokratischen Kollegen haben die Vergrößerung gleich eingeplant. ({3}) Wir haben erlebt, dass Karlsruhe das Bundestagswahlrecht verworfen hat, weil es in Teilen verfassungswidrig war. ({4}) - Herr Wiefelspütz, ich wünsche Ihnen, dass Sie von Ihrer Fraktion auch noch Redezeit eingeräumt bekommen. Wir haben erlebt, dass die Verfassungsrichter im Zusammenhang mit den Überhangmandaten nun die Zahl 15 für zulässig halten. Aus Art. 38 Grundgesetz wurde abgeleitet, dass jetzt 15 Überhangmandate und nicht wie bisher 30 Überhangmandate - dies war die Rechtsprechung von 1997 - zulässig sind. Wir haben diese Veränderung zur Kenntnis genommen und einen neuen Anlauf für ein gemeinsames Wahlrecht unternommen. Ich finde, das ist relativ gut gelungen. Was sind die Alternativen? Die Linke schlägt uns heute ein Wahlrecht vor, bei dem der Osten am Ende schlecht wegkommt. ({5}) Das verwundert auf den ersten Blick. Als CDU-Abgeordneter braucht man danach in Brandenburg etwa 360 000 Stimmen, um ein Mandat zu erringen, während man in Baden-Württemberg nur etwa 60 000 Stimmen benötigt. Ihnen ist der baden-württembergische Wähler also sechsmal lieber als der brandenburgische. Das verwundert schon ein wenig. ({6}) - Herr Wieland, Sie haben dieses Modell auch eine Zeit lang favorisiert. ({7}) Diese föderale Verzerrung ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. ({8}) Sie von den Grünen haben uns dann noch vorgeschlagen: Diejenigen Kollegen der CSU, die ihren Wahlkreis in Bayern gewonnen haben, sollten aufgrund der fehlenden Verrechnungsmöglichkeit gleich nach Hause geschickt werden. Am besten solle überhaupt kein Vertreter aus dieser Partei im Bundestag zugelassen werden. ({9}) Auch diese Idee, dass jemand, der seinen Wahlkreis direkt gewonnen hat, einfach zu Hause bleiben kann, weil er einem grünen Wahlrechtsmodell zum Opfer gefallen ist, hat uns nicht überzeugt. ({10}) Man kann über Überhangmandate unterschiedlicher Auffassung sein. ({11}) Ich bin auch der Meinung, dass man eher das Verhältniswahlrecht etwas stärken sollte als die Zahl der Überhangmandate zu groß werden zu lassen. Allerdings ist Ihre Feindschaft gegen Überhangmandate, lieber Herr Oppermann, doch eher jüngeren Datums. ({12}) Man erinnere sich an die Zeit, als Sie mit Ihrem Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Vertrauensfrage zu bestehen hatten. Die haben Sie nur gewonnen, weil Sie seitens der SPD Überhangmandate hatten. Damals spielte die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate keine Rolle; Sie haben sie vielmehr als äußerst legitim dargestellt und für in Ordnung gehalten. Insofern glaube ich, dass sich Ihre sozialdemokratischen Überzeugungen je nach aktueller politischer Befindlichkeit gelegentlich ändern. ({13}) Heute debattieren wir in erster Lesung über ein, wie ich finde, gutes Wahlrecht. Wir werden eine Anhörung durchführen und zur Kenntnis nehmen, ob wir einzelne Teile, zum Beispiel in der Begründung, verbessern und vereinfachen und sprachliche Änderungen vornehmen können, um das Ganze etwas verständlicher zu machen. Den Anhängern eines Einstimmenwahlrechts, die es in der öffentlichen Debatte durchaus auch gibt, sage ich aber noch einmal: Ich kann nicht nachvollziehen, warum ein Wahlrecht, bei dem der Wähler eine Stimme hat, demokratischer sein soll als ein Wahlrecht, bei dem der Wähler zwei Stimmen und damit ein höheres Maß an Einfluss hat. ({14}) Von daher bin ich ein ausgesprochen großer Anhänger des Zweistimmenwahlrechts. ({15}) Mit der ersten Stimme kann man denjenigen wählen, den man vor Ort schätzt, und mit der Zweitstimme kann man dann die Partei seiner Präferenz wählen. Herr Wieland, ich hätte auch einen konkreten Vorschlag, wen Sie wählen können. Ich kann Sie nur einladen: Kommen Sie bei uns vorbei. Wir erklären Ihnen das genauer. ({16}) - Jeder kann helfen, Herr Wieland. ({17}) Wir haben in dieser Legislaturperiode auch beim subjektiven Wahlrechtsschutz etwas erreicht. Auch das haben wir breit diskutiert und gemeinsam vereinbart. Wir werden uns noch dafür einsetzen, dass im Ausland lebende Deutsche auch hier wählen können, wenn sie gewisse Voraussetzungen erfüllen. Ich finde, das ist eine Fülle von guten Veränderungen. Als Demokraten haben wir gezeigt, dass wir solche Veränderungen durchaus auch im gemeinsamen Gespräch erreichen können - ohne Schärfe gegeneinander und mit guten Ergebnissen. Dem Wähler draußen kann ich sagen: Das perfekte Wahlrecht wird es nie geben. Jedes Wahlrecht wird gewisse Anomalien haben, weil beispielsweise hinter einem Mandat in Berlin aufgrund geringerer Wahlbeteiligung weniger Wähler stehen als hinter einem Mandat in anderen Gebieten mit höherer Wahlbeteiligung. Wir werden uns also daran gewöhnen müssen, dass es immer kleinere Anomalien im Wahlrecht gibt. Ich glaube, das bringt die Demokratie nicht ins Wanken. Wenn das bestehende, bewährte Zweistimmenwahlrecht erhalten bleibt, dann haben wir vielmehr einen großen Beitrag zur Stärkung der repräsentativen Demokratie geleistet. Ich freue mich auf die Anhörung und werde froh sein, wenn wir als Juristen irgendwann weniger als in der Vergangenheit mit mathematischen Dingen konfrontiert werden; denn es ist durchaus auch anstrengend, die jeweiligen Auswirkungen der Veränderungen genau auszurechnen. Ich danke aus allen Fraktionen denen, die daran mitgewirkt haben, allen Mitarbeitern und dem BMI. Ich glaube, wir haben ein gutes Ergebnis gefunden. Vielen Dank. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über drei Gesetzentwürfe zu zwei Wahlrechtsthemen. Wir haben zwei Gesetzentwürfe zum Sitzzuteilungsverfahren. Hier geht es um die spannende Frage: Wie werden eigentlich aus den Prozenten Mandate, und was passiert dabei mit den Direktmandaten? Dazu gibt es einen Gesetzentwurf der anderen Fraktionen und einen der Linken. Darüber hinaus haben wir einen Allparteienantrag zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche vorliegen. Das ist im Übrigen der Beweis: Wenn die Inhalte stimmen, kann man etwas gemeinsam machen. Zum Dank dafür haben Sie Herrn Grindel heute gar nicht hergeholt. ({0}) Ich wollte mich nämlich ausdrücklich bei ihm dafür bedanken, dass er den Kauder-Quatsch nicht mitmacht, dass da, wo „CDU/CSU“ draufsteht, nicht auch „Linke“ draufstehen kann. ({1}) Jetzt kommen wir zum Gesetzentwurf zum Sitzzuteilungsverfahren. Noch einmal zum Hintergrund: Die Koalitionsmehrheit hatte einen Gesetzentwurf beschlossen. Er ist vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden. Wir haben Ihnen das gleich gesagt. Hätten Sie auf uns gehört, müssten wir diese Debatte jetzt nicht führen. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Bedingungen genannt, die für die Verfassungsmäßigkeit eines Sitzzuteilungsverfahrens vorliegen sollen: Zum einen darf der Effekt des negativen Stimmgewichts nur in vernachlässigbarem Umfang auftreten. Zum anderen dürfen Überhangmandate nur in einem Umfang auftreten, mit dem der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl nicht aufgehoben wird. Noch einmal: Negatives Stimmgewicht bedeutet, mehr Stimmen führen zu weniger Sitzen und umgekehrt. Überhangmandate sind die Mandate, die entstehen, wenn man mehr Direktmandate gewinnt, als einer Partei nach Zweitstimmen zustehen. Jetzt haben Sie alle - außer uns - einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorgelegt. Wenn ich diesen detailliert beschreiben müsste, bräuchte ich erstens diese wunderbare Anzeigetafel für eine Powerpoint-Präsentation, und zweitens wären dann meine elf Minuten Redezeit sehr schnell vorbei. Die Kurzfassung lautet wie folgt: Die auf ein Bundesland anfallenden Mandate sind abhängig von der Bevölkerungszahl. Dabei fallen pro Bundesland doppelt so viele Mandate an wie Wahlkreise. Innerhalb der Bundesländer erfolgt die Verteilung an die Parteien mittels der Methode, dass in den Ländern die pro Landesliste erzielte Zahl der Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdivisor geteilt wird. Von der Anzahl der Mandate werden dann die Direktmandate abgezogen. Soweit in einzelnen Landeslisten mehr Direktmandate als Listenmandate vorhanden sind, wird die Zahl der Bundestagssitze erhöht. Die so erhöhte Gesamtzahl wird dann entsprechend der Zweitstimmen an die Parteien verteilt. Dazu wird die Anzahl der Zweitstimmen der Parteien durch einen Parteiendivisor geteilt. Klingt kompliziert, ist kompliziert! Man kann es sehr verkürzt sagen: Die Anzahl der Mandate wird erst auf die Bundesländer umgerechnet und dann auf die Parteien. Nun ist es so, dass das Bundesministerium des Innern Berechnungen angestellt hat und deshalb sagt: Dieses Modell hätte seit 1994 immer zu einer zahlenmäßigen Erhöhung der Bundestagssitze geführt. In der Begründung des Gesetzentwurfs selbst steht: Eine Vergrößerung der Zahl der zu vergebenden Sitze kann … auch dann nötig werden, wenn keine Partei Überhangmandate erzielt hat … Wahlrecht.de kommt zu dem Ergebnis, dass es faktisch immer zu einer zahlenmäßigen Erhöhung der Bundestagssitze kommt, obwohl der Bundestag entschieden hat, ab der Bundestagswahl 2002 nicht mehr aus 656 Abgeordneten zu bestehen, sondern aus 598 Abgeordneten. Jetzt kommen wir einmal zum regionalen Proporz. Der Bundeswahlleiter hat eine Berechnung auf Basis des Wahlergebnisses von 2009 gemacht. Jetzt wird es für die SPD in Mecklenburg-Vorpommern interessant. Bei 598 Sitzen erhielte die SPD in Mecklenburg-Vorpommern drei Sitze, bei 671 Sitzen erhielte sie zwei Sitze. Ich würde mich bei meinen Genossen bedanken. ({3}) Für die CDU in Sachsen-Anhalt sieht es nicht viel besser aus. Bei 598 Sitzen bekäme die CDU in SachsenAnhalt sechs Sitze, bei 671 Sitzen bekäme sie noch fünf Sitze. Auch da würde ich mich herzlich bedanken. - Fakt ist: Auch in Ihrem Gesetzentwurf wird der regionale Proporz nicht wirklich hergestellt. Man kann ein solches Gesetz machen, muss es aber nicht. ({4}) Der Hammer ist, dass in Ihrem Gesetzentwurf nicht einmal der Punkt „Alternativen“ vorkommt, so, als gäbe es überhaupt keine Alternativen. Ich sage Ihnen: Weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, lehnen wir das Zuteilungsmodell ab. Gäbe es keine verfassungsgemäße Alternative, wäre eine zahlenmäßige Vergrößerung des Parlaments hinzunehmen. Die verfassungsgemäße Alternative ist der Gesetzentwurf der Linken. Wir hatten den Vorschlag schon einmal in einem umfangreicheren Antrag eingebracht. Wir weisen in unserem Gesetzentwurf selbstverständlich darauf hin, dass es auch andere Modelle gibt. Die Linke hat hier mindestens einen Seriositätsvorsprung. ({5}) Die vorgelegte Alternative ist in jedem Fall verfassungsgemäß. Ich zitiere aus der Anhörung im Innenausschuss am 5. September 2011. Der Sachverständige Strohmeier sagte: Der Gesetzentwurf beseitigt komplett die Verfassungswidrigkeit im Bundeswahlgesetz. Der Sachverständige Pukelsheim sagte: Der Gesetzentwurf beseitigt das negative Stimmgewicht. Der Sachverständige Grzeszick sagte: Das absolute negative Stimmgewicht wird durch den Gesetzentwurf der Linken vermieden. Der Sachverständige Schorkopf sagte: Der Entwurf hat den Vorteil, dass er das absolute negative Stimmgewicht beseitigt. Was schlagen wir eigentlich vor? Wir schlagen vor, zu errechnen, wie viele Mandate sich bundesweit für eine Partei ergeben. Davon werden die auf eine Partei bundesweit entfallenden Direktmandate abgezogen. Entstehen ausnahmsweise Überhangmandate, wird ausgeglichen, bis das Zweitstimmenergebnis wiederhergestellt wird. Sehr verkürzt kann man sagen: erst die Verteilung der Mandate an eine Partei, dann an die Bundesländer. Ein ähnliches Modell ist das Modell Pukelsheim III. Beide Modelle - unser Modell und Pukelsheim III - hätten seit 1994 lediglich im Jahr 2009 zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages geführt. Jetzt kann man sich fragen, warum wir ein Modell vorschlagen, nach dem die Mandate zuerst an die Partei und erst dann an die Länder verteilt werden, statt wie Sie alle ein Modell, das erst die Mandate an die Bundesländer und dann an die Partei verteilt. Ganz einfach: Es heißt Bundestagswahl, weil eine Bundespartei gewählt wird. Es ist eben keine verbundene Wahl von Landesparteien zur Bildung eines Bundestages. ({6}) Zum Einwand, der regionale Proporz würde in unserem Gesetzentwurf nicht ausreichend berücksichtigt: Er wird in der Tat nicht vollständig hergestellt, aber das ist in Ihrem Gesetzentwurf auch nicht der Fall. Ich verweise auf die Beispiele der CDU in Sachsen-Anhalt und der SPD in Mecklenburg-Vorpommern. Unser Gesetzentwurf hat aber Vorteile. Es gibt kein negatives Stimmgewicht. Das Problem der Überhangmandate wird gelöst, und es kommt nicht zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Das sind drei Vorteile auf einmal. Das gibt es tatsächlich - bei der Linken. ({7}) Diese drei Vorteile überwiegen den Nachteil, dass es nicht zu einem hundertprozentigen Ausgleich des regionalen Proporzes kommt. Solange wir am Zweistimmenwahlrecht festhalten, wird es nie möglich sein, alle vier Prinzipien zu 100 Prozent zu erfüllen. Deswegen muss man eine Abwägung vornehmen. Wir sagen: Unser Gesetzentwurf hat drei Vorteile und erfüllt alle Kriterien des Bundesverfassungsgerichts. Deshalb bitten wir, ihm zuzustimmen. ({8}) Es ist bereits auf die Allparteiengespräche hingewiesen worden. SPD und Grüne haben ursprünglich das Modell Pukelsheim III präferiert. Das Modell ähnelt unserem, sieht aber zugunsten des regionalen Proporzes vor, als Mindestmandatszahl die Zahl der Direktmandate um 10 Prozent zu erhöhen. Wir waren bereit, uns auf dieses Modell einzulassen. Wir sind im Übrigen immer noch dazu bereit, uns darauf einzulassen. ({9}) - Das heißt, wenn Sie und die Grünen zu dem Modell zurückkehren, dann sind wir gerne bereit, das weiter mitzutragen. Aber Sie wollten sich unbedingt ganz schnell mit Union und FDP einigen. Wir stehen bereit, Pukelsheim III gemeinsam mit Ihnen zu verabschieden. ({10}) Ich wiederhole: Weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, lehnen wir Ihr Modell ab. Denn es führt zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Gäbe es keine verfassungsgemäße Alternative, müsste selbstverständlich die zahlenmäßige Vergrößerung des Bundestages hingenommen werden. ({11}) - Na klar, Herr Wiefelspütz, Sie dürfen immer.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie wollen eine Zwischenfrage zulassen. Dann halte ich die Redezeit an. - Bitte schön, Herr Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Kollegin Wawzyniak! Sie haben - ich hoffe, es schadet Ihnen nicht, wenn ich das jetzt sage sich sehr seriös an den Beratungen des neuen Wahlrechtes beteiligt. Es ist kurz vor Weihnachten. ({0}) Man kann das Wahlrecht sehr unterschiedlich gestalten. Ich halte das Modell, das Sie vorschlagen, für verfassungskonform. Halten Sie denn das, was voraussichtlich mit großer Mehrheit vom Deutschen Bundestag verabschiedet wird - ich greife den Beratungen etwas voraus -, für verfassungsgemäß, oder ist das, was der Bundestag beschließen wird, aus Ihrer Sicht verfassungswidrig?

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Wiefelspütz, ich kann Ihre Frage kurz beantworten: Ich werde meiner Fraktion nicht empfehlen, gegen dieses Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. ({0}) Zu dem Gesetzentwurf bezüglich der Auslandsdeutschen. Eine neue Regelung ist nötig, weil das Bundesverfassungsgericht die geltende Regelung als verfassungswidrig ansieht. Wir alle haben die Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts - trotz des Kauder-Unsinns, dass der Name der Linken nicht auf einer gemeinsamen Vorlage stehen darf ({1}) gemeinsam umgesetzt. ({2}) Wir hätten uns sehr gewünscht, dass in diesem Zusammenhang auch das Wahlrecht für Menschen, die seit mindestens fünf Jahren hier in Deutschland leben und trotzdem nicht wählen dürfen, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitzen, geklärt worden wäre. Das war nicht möglich. Aber seien Sie sicher: Eine kraftvolle Linke-Fraktion wird das in den nächsten Bundestag erneut einbringen. ({3}) Zum Abschluss meiner Rede möchte ich Ihnen sagen, dass wir aus meiner Sicht noch zwei Probleme zu klären haben. Das eine ist - hier befinden wir uns in Gesprächen - die Prozenthürde bei der Europawahl. Das andere ist das Wahlrecht für Menschen, die unter Vollbetreuung stehen. Ich weiß, dass das in allen Fraktionen umstritten ist. Wir sollten darüber seriös diskutieren. Ich freue mich auf die Anhörung. Vielleicht gibt es doch die Möglichkeit, sich wenigstens auf Pukelsheim III zu einigen. Dann muss ich nicht wiederholen: Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab, weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, die nicht zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestags führt. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist Weihnachten, ({0}) und es gibt einen Gesetzentwurf, den immerhin vier Fraktionen gemeinsam eingebracht haben. Bedauerlich ist, dass es nicht möglich war, die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses vom Mittwoch in der heutigen Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu berücksichtigen. ({1}) Hier blockiert die Koalition die Einigung. Die Bürger wissen nicht, welches Steuerrecht am 1. Januar 2013 gilt. Das ist unnötig. ({2}) Aber Sie sind so durcheinander aufgestellt und auf andere Themen konzentriert, dass Sie nicht in der Lage sind, mit uns gemeinsam zu entscheiden. ({3}) Zurück zum Thema. Was uns vorliegt, ist ein Kompromiss. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt - die Union hat schließlich auch mitgemacht -, dass die Linke an den Wahlrechtsgesprächen beteiligt wird. Für mich ist das eine demokratische Selbstverständlichkeit, für andere leider nicht. Ich finde aber, dass Sie Ihrem Anliegen, stärker an interfraktionellen Gesprächen beteiligt zu werden, mit Ihrem Ausstieg aus den Verhandlungen nicht wirklich einen guten Dienst geleistet haben. ({4}) Ich habe große Sympathien für den inhaltlichen Ansatz Ihres Gesetzentwurfs. Aber es gab nun einmal verschiedene Interessen in diesem Hause. Die Koalition hatte andere Modelle favorisiert - quasi einen Aufschlag von 50 Abgeordneten auf die Gesamtzahl und dann Verteilung -, ({5}) in der Hoffnung, dass das gerade einmal so reicht und es nicht zu mehr als 15 Überhangmandaten kommt. Das hätte ein großes verfassungsrechtliches Risiko zur Folge gehabt, entsprach aber dem Anliegen der Koalition, die eigenen Überhangmandate zu behalten, in der Hoffnung, trotz einer Minderheit bei den Stimmen die Mehrheit der Sitze im nächsten Deutschen Bundestag zu bekommen. Ein Kompromiss ist - das habe ich während Ihrer Rede bei Wikipedia nachgeschlagen ({6}) „die Lösung eines Konflikts durch gegenseitige freiwillige Übereinkunft unter beiderseitigem Verzicht auf Teile der jeweils gestellten Forderungen.“ ({7}) Wir haben - im Gegensatz zu Ihnen - in der letzten Wahlrechtsdebatte einen Gesetzentwurf eingebracht, der keine Vergrößerung des Bundestages zur Folge gehabt hätte. Wir hatten noch Pukelsheim III favorisiert. Aber das war mit der Koalition nicht zu machen. So haben wir dem Kompromiss zugestimmt, was uns nicht leichtgefallen ist. Wir dürfen aber die eigentliche Frage nicht aus den Augen verlieren: Was ist das Ziel dieser Wahlrechtsreform? ({8}) - Wir haben ein politisches Ziel. Es geht nicht um Haltungsnoten, Frau Kollegin, auch nicht um Unterwerfung oder um Besiegen des anderen. Vielmehr geht es darum, dass wir den Charakter des Wahlrechts erhalten und ihm gerecht werden. ({9}) Da ist das Ziel, dass der Wählerwille unverfälscht in den Stärkeverhältnissen des Deutschen Bundestages zum Ausdruck kommt; ({10}) denn das Wahlrecht hat diese Funktion, und die dürfen wir nicht beschädigen. Wir haben gesagt: Wenn wir dieses Ziel erreichen, sind wir bereit, mit den anderen Fraktionen über den Weg dorthin zu reden und den aus unserer Sicht zweit- oder auch nur drittbesten Vorschlag zu akzeptieren. Wir haben hier nicht die Mehrheit und können unseren Vorschlag nicht einfach durchsetzen. Deshalb muss man sich aufeinander zubewegen. Ich finde es grundsätzlich richtig, egal ob man die Mehrheit hat oder nicht, im Wahlrecht einen breiten Ansatz zu verfolgen, der von möglichst vielen Fraktionen getragen wird. Die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien sind durch den vorgeschlagenen Entwurf gewährleistet. Ich würde sagen: Einen Schönheitspreis für normenklare Formulierung werden wir mit diesem Gesetzentwurf sicher nicht gewinnen. ({11}) Man muss den Text mindestens zweimal oder dreimal lesen, um ihn wenigstens im Ansatz zu verstehen. Wir werden deshalb im Ausschuss einen verbesserten Formulierungsvorschlag zur Diskussion stellen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht bei seinem letzten Wahlrechtsurteil es schon aufgegeben hat, uns zu ermahnen, einen verständlichen Gesetzestext zu formulieren - im vorletzten Urteil hat es uns das noch mitgegeben -: Wir sollten ein verständliches Wahlrecht formulieren. ({12}) Volker Beck ({13}) Dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe - Herr Ruppert, Herr van Essen, Sie lachen selbst - werden wir nicht hundertprozentig gerecht, um es einmal freundlich auszudrücken. Ich würde sagen: Man kann es einfach nicht verstehen. Das verstehen noch nicht einmal alle Juristen. Es verstehen einige Wahlrechtsexperten, und am Ende versteht es hoffentlich wenigstens der Bundeswahlleiter; denn er soll das Gesetz anwenden. Für den Vorschlag, den wir machen, zahlen wir einen hohen Preis. Das muss man ganz offen bekennen. Er kann zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Deutschen Bundestages führen, die der Arbeitsfähigkeit des Hauses nicht förderlich ist und die Mehrkosten verursacht. Wenn wir diesen Weg gehen, müssen wir uns deshalb meines Erachtens bei der zweiten und dritten Lesung verpflichten, dass wir in der nächsten Wahlperiode im Lichte des Wahlergebnisses daran arbeiten, dass nach Möglichkeit schon die Entstehung von Direktmandaten verhindert wird, damit ein Ausgleich von vorneherein entfällt. Das kann man mit verschiedenen Methoden erreichen. Man kann das durch eine Wahlkreisreform mit dem Ziel der Verringerung der Zahl der Wahlkreise erreichen, man kann es auch mit dem Vorschlag von mehr Demokratie erreichen, der Mehrpersonenwahlkreise durch Zusammenlegung mehrerer Wahlkreise bildet. ({14}) Darüber sollten wir im nächsten Deutschen Bundestag in Ruhe diskutieren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt dürfen wir in diese Mechanismen gar nicht mehr eingreifen, weil Kandidatenaufstellungen auf Grundlage der Teile des Wahlrechts, die nicht verfassungswidrig sind, bereits stattgefunden haben. Wir sollten in den Ausschussberatungen für den Bericht auch deutlich sagen, welche Alternativen insgesamt auf dem Tisch lagen: unser alter Gesetzentwurf, der Gesetzentwurf der Linken, Pukelsheim III, Ihr Modell, um 50 Sitze zu erhöhen. Wir sollten auch deutlich machen, worin die jeweiligen Vor- und Nachteile bestehen. Die Modelle, die in puncto Verhältniswahlrecht optimal sind - ohne zahlenmäßige Vergrößerung des Parlaments -, haben den Nachteil einer regionalen Proporzverzerrung, den Sie nicht in Kauf nehmen wollten. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass der regionale Proporz ein verfassungsrechtlich legitimes Interesse des Gesetzgebers ist, aber es verfassungsrechtlich nicht erforderlich ist, dass man ihm gerecht wird. Man kann ihm aber Rechnung tragen, wobei man allerdings einen Preis dafür zu zahlen hat. Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf. Ich denke, der Gesetzentwurf ist ein anständiger Kompromiss. Er hat auch die Schwächen eines Kompromisses, sodass jeder ein bisschen unzufrieden und ein bisschen zufrieden ist. Vielen Dank. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Günter Krings das Wort. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vier Fraktionen des Deutschen Bundestages legen dem Haus heute einen guten und ausgewogenen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vor. Das Voraburteil, dass dieser Gesetzentwurf gut und ausgewogen ist, will ich mit vier Zielen untermauern, die durch Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs erreicht werden sie sind für ein gutes Wahlrecht entscheidend: Erstens. Durch seine Verabschiedung wird sich eine weitestgehende Beseitigung des negativen Stimmgewichts ergeben. Ich formuliere das bewusst etwas vorsichtig, weil es so weit beseitigt wird, wie das Verfassungsgericht es verlangt. ({0}) Zweitens. Damit verbunden ist eine Beseitigung der Überhangmandate in ihrer Wirkung, natürlich nicht eine Beseitigung der Mandate selber. Drittens. Damit verbunden ist auch - das ist ebenso wichtig - die Vermeidung einer extremen Ungleichverteilung von Bundestagsmandaten innerhalb von Deutschland. Der Kollege Ruppert hat hier bereits sehr eindrucksvolle Zahlen vorgelegt. Es darf natürlich nicht sein, dass das Gewicht einer Wählerstimme für eine Partei in einem Bundesland fünf- oder sechsmal größer ist als in einem anderen Bundesland. Auch das vermeiden wir. Viertens. Mit diesem Gesetzentwurf ist keine grundlegende Abkehr vom Prinzip der personalisierten Verhältniswahl verbunden. Jeder Bundesbürger behält zwei Stimmen. Er kann einmal eine Parteiliste und einmal einen Direktkandidaten wählen. Das ist ein bewährtes und gutes System. Wenn man diese Ziele diskutiert, dann muss man gar nicht alle Verästelungen des Wahlrechts verstehen oder erklären können. Die Erreichung dieser Ziele stößt auf eine ganz hohe Akzeptanz in der Bevölkerung, also außerhalb unseres Hauses. Es ist richtig: Kein Wahlgesetz ist alternativlos. Auch dieser Gesetzentwurf ist natürlich nicht ohne Alternative. Das beweist schon der Umstand, dass im vergangenen Jahr vier verschiedene Modelle in den Deutschen Bundestag eingebracht und dort diskutiert worden sind. Es gab neben dem Entwurf der Koalition auch drei Entwürfe aus der Opposition. Keiner dieser vier Gesetzentwürfe hat aber alle der vier eben genannten Kriterien erfüllt. Keiner dieser vier Gesetzentwürfe war also geeignet, alle diese vier Ziele zu erreichen. Hält man die Erreichung der vier genannten Ziele für notwendig, dann bleibt keine andere Lösung übrig, dann muss man den Weg, den wir mit diesem gemeinsamen Gesetzentwurf gegangen sind, gehen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat uns keine Abkehr von unserem bewährten Wahlrechtsystem empfohlen. Das Gericht wusste natürlich, dass es uns mit der neuen, der deutlich strengeren Rechtsprechung aus diesem Jahr zu den Überhangmandaten realistischerweise nur den Weg zu unserem jetzigen Vorschlag eines Ausgleichs von Überhangmandaten weisen konnte. ({1}) Insbesondere war klar, dass die Forderung des Gerichts, unter anderem vom Gerichtspräsidenten artikuliert, dass ein neuer Gesetzentwurf in einem fraktionsübergreifenden Konsens entwickelt werden sollte, nur im Wege eines solchen vollen Ausgleichs zu erfüllen ist. Meine Damen und Herren, man darf hier und heute also mit vollem Recht sagen, dass bei diesem Gesetzentwurf nicht nur vier Fraktionen Pate gestanden haben, sondern dass auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bei diesem Gesetzentwurf Pate gestanden hat. ({2}) Ich mache auch keinen Hehl aus Folgendem: Wenn wir, wie es auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts fordern, dauerhaft sicherstellen wollen, dass grundlegende Änderungen im Wahlrecht nur in einem fraktionsübergreifenden Konsens hergestellt, also mit großen Mehrheiten beschlossen werden sollen, dann ist es schon sinnvoll, die Grundzüge des Wahlsystems in der Verfassung, im Grundgesetz, zu verankern. Das liegt durchaus in der Logik der Hinweise aus Karlsruhe. Dem gerecht zu werden, war uns in der Kürze der Zeit nicht möglich. Ich bin der Auffassung, dass wir uns das durchaus als Projekt für die nächste Wahlperiode vornehmen sollten. Natürlich ist die Lösung eines Vollausgleiches von Überhangmandaten - darauf ist hingewiesen worden mit einer bitteren Pille verbunden, nämlich mit der möglichen zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Ich sage das auch als Redner der einzigen Fraktion in diesem Hause, die von diesem Ausgleich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht profitieren wird. Unsere Mandatszahl wird, wenn man Berechnungen nach dem geplanten Wahlrecht auf der Grundlage der alten Wahlergebnisse oder aber auch Wahlprognosen zugrunde legt, eben nicht steigen. Alle anderen Fraktionen profitieren von dem Ausgleich. Ich weise aber noch einmal darauf hin: Wir haben als einzige Fraktion dieses Hauses keinen, jedenfalls keinen signifikanten Anteil an dieser Vergrößerung. Ich habe natürlich großes Verständnis für die Kritik an der Konsequenz einer möglichen zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Ich habe aber kein Verständnis für Kritiker, die zwar die vier eingangs benannten Ziele als richtig und wichtig ansehen, aber die aus dem System des Ausgleichs folgende Konsequenz nicht akzeptieren wollen. Man kann über das richtige Wahlrecht politisch streiten. Man kann aber nicht über die Regeln der Logik streiten. Die Logik zeichnet genau dieses Ergebnis vor. Für mich wird daher am Ende der Wahlrechtsdebatte sehr deutlich, dass zu Beginn dieser Debatte vor wenigen Jahren einige Kritiker, des alten Koalitionsentwurfs zumal, ihre Angriffe nicht wirklich zu Ende gedacht haben. Ich erwarte daher von jedem Kritiker, egal ob hier im Haus oder außerhalb des Hauses, dass er klipp und klar sagt, welches der konsentierten Ziele des Wahlsystems er opfern möchte. Gehen wir das also noch einmal kurz durch: Erster Punkt. Beseitigung des negativen Stimmgewichts. Wer das nicht will und so vielleicht eine Vergrößerung verhindern will, handelt nach beiden Urteilen aus Karlsruhe klar verfassungswidrig. Zweite Möglichkeit. Man könnte eine Vergrößerung verhindern, indem man Überhangmandate nicht ausgleicht. Jedenfalls ab der interessanten Grenze von 15 Überhangmandaten wäre das klar verfassungswidrig. Eine solche Lösung, 15 Überhangmandate bestehen zu lassen und nicht auszugleichen, wäre mit den Oppositionsfraktionen nicht machbar gewesen. Der Konsens wäre dann aufgegeben. Dritte Möglichkeit. Wir nehmen föderale Ungerechtigkeiten in Kauf, das war der Ansatz der Linken, und zwar nicht irgendwelche föderalen Ungerechtigkeiten, sondern bizarre Verzerrungen der Vertretung von Abgeordneten im Deutschen Bundestag aus den einzelnen Bundesländern. Möglich wäre dann etwa, dass eine Partei in einem Bundesland 20 bis 30 Prozent der Zweitstimmen bekommt, aber keinen einzigen Abgeordneten aus diesem Bundesland im Deutschen Bundestag hat. ({3}) Nach einem Gesetzentwurf, der im Bundestag eingebracht wurde, würde es sogar möglich sein, dass direkt gewählte Abgeordnete, die als Wahlkreissieger aus einer Bundestagswahl hervorgegangen sind, in bestimmten Fällen ihr Mandat nicht antreten können. ({4}) Meine Damen und Herren, darüber kann man aus Ihrer Sicht offenbar sprechen. Ich finde, das wäre das stärkste Gift für die Akzeptanz des Wahlrechts und für die Akzeptanz unserer Demokratie. Es ist gut, dass wir das gemeinsam verhindert haben. ({5}) Die vierte Option. Man könnte als Kritiker natürlich sagen: Wir wollen etwas ganz anderes. Wir wollen ein ganz anderes Wahlrecht, also beispielsweise ein reines Verhältniswahlrecht. Damit liebäugeln vielleicht die einen oder anderen auf der linken Seite des Hauses, jedenfalls auch, so haben wir gehört, ein paar Wissenschaftler. Ich frage nur: Wo bleibt bei einem reinen Verhältniswahlrecht in einem 80-Millionen-Volk die Anbindung zwischen Bundestagsabgeordnetem und Volk? Das mag vielleicht in einem kleinen überschaubaren Land gehen, aber nicht in einem Land unserer Größenordnung. Der Vorwurf, wir säßen hier im Raumschiff Berlin und hätten den Blick für die Probleme verloren, hätte wahrscheinlich erstmals seine Berechtigung, wenn wir eine reine Verhältniswahl mit Listen von mehreren Hundert Kandidaten hätten. Natürlich könnte man auch ein reines Mehrheitswahlrecht einführen. Damit würde man das Problem auch beseitigen. Die Union sähe das gelassen. Das hieße nach aktuellen Prognosen, dass wir knapp 60 Prozent der Mandate im Deutschen Bundestag bekommen würden. Das ist eine komfortable, solide Mehrheit. Aber es wäre kein faires Wahlrecht, weil es kleine Parteien und deren Interessen nicht berücksichtigen würde. Dass wir das nicht wollen, beweist, dass wir nicht unsere eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellen, sondern die Interessen aller Parteien, dass wir eben einen echten Interessenausgleich wollen. ({6}) Um eine mögliche zahlenmäßige Vergrößerung des Bundestags in Grenzen zu halten, wäre die Union natürlich auch bereit gewesen, die vom Verfassungsgericht gesetzte Grenze von 15 Überhangmandaten anzunehmen, auch wenn sie wenig erklärbar erscheint, und erst ab dem 16. Überhangmandat auszugleichen, so schwierig das sein mag. Aber wir haben akzeptiert, dass das für die Opposition kein gangbarer Weg ist. Von daher haben wir auch akzeptiert, dass die mögliche zahlenmäßige Vergrößerung des Bundestags etwas stärker ausfallen könnte. Auch unser Koalitionsentwurf aus dem letzten Jahr war von dem Ziel getragen, dass der Bundestag nicht oder allenfalls um ganz wenige Sitze vergrößert wird. Das war der berühmte mikroinvasive Eingriff in das bewährte Wahlrecht, eben nur durch den Grundsatz der Listentrennung. Ich will ausdrücklich zugestehen: Auch die Entwürfe von Grünen und Linken zeugten von dem Bemühen, eine Vergrößerung zu vermeiden, aber eben unter Inkaufnahme von wirklich grotesken Nachteilen in regionaler und föderaler Hinsicht, ({7}) die in einem demokratischen Wahlrecht nicht akzeptabel sind. ({8}) Das Verfassungsgericht hat grundsätzlich bestätigt, dass auch unser Ansatz vom letzten Jahr eine Lösung für das Problem des negativen Stimmgewichts bedeutet hätte.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Krings, Frau Wawzyniak würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Geht das?

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern. Das soll sie tun.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Krings, ich würde Sie einfach nur gern fragen wollen, was Sie Ihren Mitgliedern - „Mitglieder“ heißt das bei Ihnen - in Sachsen-Anhalt sagen. ({0}) Ich habe vorhin ausgeführt: 598 Sitze - 6 Mandate. Nach der Vergrößerung: 671 Sitze - 5 Mandate. Wie erklären Sie Ihren Mitgliedern in Sachsen-Anhalt, dass sie nach Ihrer Reform am Ende ein Mandat verlieren? ({1})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann die Zahlen ausdrücklich nicht bestätigen. Ich weiß nicht, woher diese so exakten Berechnungen kommen. Es mag bestimmte Fallkonstellationen geben, bei denen sich die Mandatszahl durch Rundung um ein Mandat nach oben oder unten verändern kann. Und ich erinnere mich genau, dass Zahlen - auch die vom BMI vorgelegten - von Ihnen immer kritisiert werden. Es würde mich deshalb sehr wundern, wenn Sie jetzt mit solchen Zahlen operieren. Die Linken sind aber auch dafür bekannt, dass Sie Positionen und Begründungen austauschen. Das will ich Ihnen ausdrücklich zugestehen. Aber entscheidend ist doch, dass wir heute schon durch die Existenz von Überhangmandaten eine gewisse unvermeidbare föderale Verzerrung haben. Die Vorschläge Ihrer Fraktion - ursprünglich auch der Grünen; auch die SPD fand sie ganz sympathisch - hätten diese föderalen Verzerrungen deutlich verschlimmert. Die Situation, die wir durch Überhangmandate systembedingt hinnehmen müssen, wäre dann deutlich verschlimmert worden, indem dann nämlich ein Bundesland nicht nur nicht in den Genuss von Überhangmandaten kommt, sondern auch noch zusätzlich den Preis für Überhangmandate in anderen Ländern hätte zahlen müssen. Also: Sie hätten eine ohnehin im System angelegte föderale Ungerechtigkeit potenziert. Genau das haben wir vermieden. Genau das zeichnet die Qualität des Gesetzentwurfes aus. ({0}) Meine Damen und Herren, die Koalition hat bereits im letzten Jahr einen Entwurf vorgelegt, der - nach Aussage des Verfassungsgerichts - das Problem des negativen Stimmgewichts gelöst hätte. Allerdings hat das Verfassungsgericht, das wissen wir, im laufenden Spiel die Tore verschoben. Die jüngste Entscheidung, die uns zu diesem Wahlrecht gebracht hat, war in der Begründung in mancher Hinsicht schon bemerkenswert. Ich will einen einzigen Satz aus der Entscheidung zitieren. Als man feststellte, man dürfe nur noch 15 Überhangman26520 date ausgleichslos zulassen, sagte der Senat - Zitat, Randziffer 144 -: Der Senat ist sich bewusst, das die Zahl von 15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden kann. Ich hoffe, dass ich im Namen des ganzen Hauses sagen kann: Ein solcher Verzicht auf Begründungen sollte im Verfassungsgericht keine Schule machen. ({1}) Als Gesetzgeber haben wir aus Karlsruhe immer stärkere Anforderungen in Bezug auf die Rationalität bei der Gesetzesbegründung zu berücksichtigen. Ich nenne die Hartz-IV-Regelsätze. Ich nenne die Pendlerpauschale und andere Dinge, bei denen uns ins Stammbuch geschrieben worden ist, dass wir sie rationaler begründen müssen. Ich fände es schön, wenn auch künftig, was bisher immer der Fall war, auch das Gericht selbst sich wieder dieser Regel unterwirft. Sie gilt für den Gesetzgeber, gilt aber auch für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Insgesamt, Frau Präsidentin, bin ich der Auffassung, dass wir einen guten und ausgewogenen Entwurf haben, dass wir die Qualität des Bundestages nicht nur an seiner Größe messen dürfen. Ich glaube, dass wir immer noch selbstbewusst sagen können: Gemessen an der Bevölkerungszahl werden wir das zweitkleinste Parlament in der Europäischen Union bleiben. Aus dem Grunde bin ich gespannt auf die Beratungen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. - Wir werden in den Beratungen mögliche Verfeinerungen noch einmal diskutieren. Im Kern haben wir einen guten Entwurf dank der guten Mithilfe des Bundesinnenministeriums. Dafür vielen Dank! Für die Geduld der Präsidentin bedanke ich mich auch. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich habe gar keine Geduld. Das verstehen Sie ganz falsch. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz. ({0})

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wahlrecht ist Wettbewerbsrecht in der Demokratie und deshalb von überragender Bedeutung. Unser Wahlrecht hat der Sache nach Verfassungsrang. Auch wenn wir heute wichtige Änderungen besprechen, will ich doch hervorheben, dass wir mit unserem Wahlrecht seit 1949 ganz hervorragende Erfahrungen gemacht haben, auch in der Umsetzung. Wir haben seit 1949 immer verfassungskonforme Bundestagswahlen erleben dürfen. Sie sind auch im Detail, im operativen Durchführen der Wahlen geradezu perfektionistisch umgesetzt worden. Das ist uns gleichsam selbstverständlich geworden. Viele erwarten das. Wenn man sich aber in der Welt umschaut, ist es das nicht. Mich hat in den letzten Wochen und Monaten interessiert, wie der amerikanische Präsident gewählt wird. Ich war neugierig. ({0}) Es ist das reine Chaos, was rechtlich und technisch in den USA läuft. ({1}) Man muss aber gar nicht so weit weg schauen. Ich will das auf den europäischen Kontext beziehen. Herr Oppermann hat das mit der 5-Prozent-Klausel angedeutet. Ich finde, die Art und Weise, wie wir unser Europäisches Parlament in der Europäischen Union wählen, hoch bedenkenswert und problematisch. „One man, one vote“ gilt in Europa nicht. Das ist ein riesiges Legitimationsproblem. Darüber muss man, glaube ich, auch in Deutschland sehr viel mehr reden. ({2}) Aber das ist jetzt nicht unbedingt unser Thema. Ich will nur sagen: Man sollte heute auch die Tatsache hervorheben, dass wir hier in Deutschland ein ganz vorzügliches Wahlrecht haben, das große Vorzüge hat und ein wesentlicher Teil unserer politischen Kultur geworden ist. Das ist eine große Leistung in unserem Land. Gleichwohl haben wir in den letzten Jahren Probleme an diesem Wahlrecht erkannt. Wir sind heute Morgen hier zusammengekommen, um diese Probleme zu beheben. Das erste Problem - das kann ich Ihnen nicht ersparen - heißt: CDU/CSU und FDP. ({3}) - Wir haben drei Probleme. Das erste Problem sind Sie. Wir können ja alle bis drei zählen, ich komme schon noch dahin. Sie sind deshalb das Problem, weil Sie so vermessen gewesen sind, zu glauben, Sie könnten alleine ein Wahlrecht auf den Weg bringen - ohne SPD, ohne Bündnisgrüne, ohne Linkspartei. ({4}) Das ist ein unglaublicher Vorfall. ({5}) Da haben Sie die Sache so richtig vor die Wand gefahren. Ich räume aber ein, unter Menschen und unter Parteien gilt: Jeder hat eine zweite Chance ({6}) oder auch eine dritte Chance. Hier will ich freimütig sagen: Diese zweite oder dritte Chance - Sie Besserwisser, Herr Wieland - haben Sie genutzt. ({7}) Wahlrecht geht nur gemeinsam. Auch das ist eine wichtige Botschaft. Das zweite Problem ist das negative Stimmgewicht. Das dritte Problem sind die Überhangmandate. ({8}) - Lieber Herr Wieland, es ist kurz vor Weihnachten, ich freue mich auf eine Frage von Ihnen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Wieland, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen. Bitte schön.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, schön, dass Sie sowohl Geduld wie auch Aufmerksamkeit für das Plenum haben. - Herr Kollege Wiefelspütz, wieso nennen Sie mich einen Besserwisser, wo Sie doch wissen, dass meine Hauptkritik an dem gefundenen Kompromiss der Schönheitsfehler ist, dass dieser Kompromiss nicht heißt: „Wiefelspütz II/ Pukelsheim III“? Das wäre doch sprachlich nicht zu toppen gewesen und jedem Grundschüler eingängig. ({0})

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Wieland, wir sind dabei, ein nach meiner Einschätzung ganz ordentliches Wahlrecht zu verabschieden, wobei der Begriff „Kompromiss“ diesen Namen auch verdient. Kompromisse haben bei uns ja nicht immer einen guten Ruf, auch das ist hier schon angedeutet worden. Aber das Ergebnis ist wirklich brauchbar, solide, vor allen Dingen auch verfassungskonform, fair und gerecht. Es wird von allen getragen. Sprachlich ist das Ganze jedoch ganz schwierig und kaum zu verstehen. ({0}) - Die Sprache ist schon schlimm genug; wenn man sich jetzt aber vorstellt, es hieße „Wiefelspütz II/ Pukelsheim III“ - das wäre ein Anschlag auf die deutsche Sprache, lieber Herr Wieland. Davon kann ich nur dringend abraten. ({1}) Sie verschlechtern dieses wunderbare Ergebnis, über das wir heute reden, nachhaltig. Wir hatten die Aufgabe, negatives Stimmgewicht zu beseitigen und Überhangmandate zu neutralisieren. Das ist gelungen. Da will ich freimütig sagen: Das ist eine Leistung aller. Wir haben fair beraten, jedenfalls im zweiten und dritten Anlauf, und zwar in einer guten Atmosphäre. Kompromisse haben in Deutschland leider nicht immer einen guten Ruf. Das ist ganz falsch. Auch in der veröffentlichten Meinung gab es den einen oder anderen kritischen Hinweis. Da schlägt sich sehr häufig Besserwisserei nieder. Diejenigen, die glauben, wir könnten hier ein Patentrezept vorlegen, verkennen, dass wir einen Kompromiss finden müssen, der von allen getragen wird. Natürlich gibt es zu dem Modell, das wir gefunden haben, Alternativen. Einige davon sind angesprochen worden, gar nicht einmal abschließend. Entscheidend ist aber, dass man sich zusammensetzen und eine breite Mehrheit erreichen muss. Das können die Kritiker nicht - das ist kein Vorwurf -, sondern das müssen wir hier leisten. Wir haben es aber auch geleistet. Das Ergebnis lässt sich sehen. Wir werden mit einem verfassungsgemäßen Wahlrecht in die nächste Bundestagswahl hineingehen. Das kann man von uns erwarten und verlangen. Das haben wir geleistet, auch wenn es im zweiten oder dritten Anlauf war. Insgesamt gesehen können wir eine zufriedenstellende Lösung vorlegen. Diese Lösung wollen wir gerne verteidigen bzw. im Einzelnen auch noch sprachlich verbessern; das ist angedeutet worden. Eines sollte uns allen aber auch klar sein - das will ich zum Schluss noch sagen -: Es gibt kein perfektes Wahlrecht und wird auch kein perfektes Wahlrecht geben. Bei uns in Deutschland hat es sich entwickelt: mit zwei Stimmen, mit Listen und Direktmandaten. Jedes Wahlrecht kann an der einen oder anderen Stelle wegen mathematischer Besonderheiten Fallstricke enthalten und zu Problemen führen. Deswegen wird das Wahlrecht weiterhin beobachtet werden müssen - nicht, um es in irgendeiner Weise zu manipulieren. Das Problem bei dem Wahlrecht, das wir voraussichtlich Ende des nächsten Monats verabschieden werden, besteht darin, dass sich der Bundestag unter Umständen vergrößern wird, und zwar in einem Umfang, den wir alle nicht wollen. Des26522 wegen muss man dieses Wahlrecht weiterhin beobachten. Ich hoffe, dass sich die Vergrößerung des Bundestages in Grenzen halten wird. Niemand im Hause will einen Deutschen Bundestag mit 800 oder 850 Sitzen. Ich halte es auch nicht für sehr wahrscheinlich, dass es dazu kommen wird. Aber 20, 30 oder 40 Sitze mehr, das ist durchaus im denkbaren Bereich. Das halten wir allerdings insgesamt gesehen - das darf ich sagen - für vertretbar. Wenn ich alles rundherum abwäge und auch die Tatsache berücksichtige, dass wir ein verfassungskonformes, faires und wettbewerbsgerechtes Wahlrecht haben, dann kann ich feststellen, dass wir zwar keinen Grund zur Selbstzufriedenheit haben, aber dass heute eine ordentliche Arbeit vorgelegt worden ist. Es lohnt sich aber auch, den Gesetzentwurf noch weiter zu beraten und zu verbessern. Insgesamt möchte ich mich für meine Fraktion bei allen Beteiligten sehr herzlich bedanken. Alle haben an einem Tisch gesessen - auch die Linke, was ich für richtig halte. Die Bandbreite der Diskussionen war groß, und der Kompromiss war schnell gefunden und überzeugend. Insoweit hat der Deutsche Bundestag gezeigt, was er zu leisten imstande ist, wenn er muss. Wenn wir alle bereit sind, nicht nur an unsere eigenen Interessen zu denken - auch wenn es legitim ist, dass die Parteien an ihre Interessen denken -,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- sondern auch die jeweiligen Interessen der anderen und vielleicht auch noch die Interessen des Gemeinwesens zu beachten und zur Kenntnis zu nehmen, dann kommt dabei etwas Vernünftiges heraus. Deswegen, glaube ich, kann man mit diesem Ergebnis wirklich gut leben. Schönen Dank fürs Zuhören. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Jörg van Essen hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Wiefelspütz dankbar, dass er darauf hingewiesen hat, welch gutes Wahlrecht wir in Deutschland haben. Ich glaube, es gibt kaum ein faireres Wahlrecht als das, was wir seit 1949 in der Bundesrepublik Deutschland haben. Es ist auch überhaupt kein Wunder, dass dieses Wahlrecht für viele der neuen Demokratien, nachdem die Diktaturen in den Ländern im Osten von den Bürgern abgewählt worden waren, Modell war. Dass das so ist, ehrt uns. Trotzdem ist unser Wahlrecht auch ein kompliziertes Wahlrecht. Die Fairness ist einem Mischsystem - Mehrheitsentscheidungen im Wahlkreis, das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf Bundesebene - geschuldet. Deshalb gibt es immer wieder Friktionen zwischen den verschiedenen Prinzipien. Ich glaube, dass wir gut beraten sind, diese Friktionen hinzunehmen und bestimmte Bereiche, beispielsweise das negative Stimmgewicht, das wir jetzt hatten, nicht überzubetonen. Solche Probleme gibt es immer, aber solange die Gesamtarchitektur stimmt, glaube ich, sind wir gut beraten, es bei dieser Gesamtarchitektur zu belassen. ({0}) Die Beratungen haben gezeigt, dass es eine hochexplosive Mischung ist, wenn Rechtswissenschaft auf Mathematik trifft. ({1}) Als Jurist, der einen Mathematiker zum Bruder hat, erlebe ich das auch im privaten Bereich. ({2}) Das Ergebnis ist dann leider ein Text - der Kollege Beck hat es angesprochen -, der für viele schwer verständlich ist. Ich gebe zu: Ich gehöre auch dazu. Aber anders ist es nicht zu schaffen. Das macht einen Teil der Probleme deutlich, unter denen wir bei unserer Arbeit zu leiden hatten. Dass es aber den Mathematikern im Übrigen nicht anders geht, sehen wir im Zusammenhang mit dem Begriff „Pukelsheim III“, der mehrfach hier in der Debatte erwähnt worden ist. Für diejenigen, die nicht so im Thema sind wie wir, muss man es vielleicht erklären: Professor Pukelsheim ist ein Mathematikprofessor, der sich insbesondere mit den Fragen des Wahlrechts befasst. ({3}) - So genau kenne ich ihn nicht, als dass ich das beurteilen könnte, Herr Wiefelspütz. Aber die Tatsache, dass auch er als besonderer Spezialist im Wahlrecht offensichtlich drei Anläufe brauchte - Pukelsheim III ist das dritte Modell -, ({4}) macht deutlich, dass es offensichtlich selbst für die Spezialisten in der Mathematik eine schwierige Thematik ist. ({5}) Ich würde gerne insbesondere einen Aspekt ansprechen, nämlich die Größe des Bundestages. Es war interessant, dass die zu erwartende Größe des Bundestages ein besonderer Kritikpunkt war, als die Fraktionen ihre Einigung verkündet hatten. Selbst solch dümmliche Bemerkungen wie jene, dass der Bundestag dann das zweitgrößte Parlament der Welt nach dem chinesischen Volkskongress sei, wurden veröffentlicht. ({6}) - Vom Bund der Steuerzahler, wenn ich mich recht entsinne, Frau Künast. ({7}) Es ist natürlich schlichter Unsinn. ({8}) - Nein, Herr Wiefelspütz. Sie haben geredet; das hätten Sie dann vortragen können. Schauen wir uns die Größe benachbarter Parlamente an. Frankreich, Italien und Großbritannien haben etwa ein Viertel weniger Einwohner als wir; sie alle haben circa 60 Millionen Einwohner. Das französische Parlament hat 577 Abgeordnete, das italienische Parlament hat 630 Abgeordnete, also 32 Abgeordnete mehr als wir bei einem Viertel weniger Bürgern, und das englische Parlament hat 650 Abgeordnete, also erheblich mehr als wir. Wenn man nach Osten schaut, sieht man: Polen hat etwa die Hälfte unserer Einwohnerzahl und 460 Abgeordnete. All das macht deutlich: Der Bundestag ist eines der kleinsten Parlamente. Ich halte das auch für gut so; es ist unser gemeinsamer Wille, dass wir es so halten. Aber insofern kann eine maßvolle Vergrößerung des Bundestages, wie ich finde, hingenommen werden. Selbst bei 671 Abgeordneten - das ist eine Zahl, die aus einer Hochrechnung herrührt - wäre unser Parlament noch erheblich kleiner als all die Parlamente in den großen Nachbarstaaten um uns herum. Ich weise darauf hin: Demokratie kostet auch Geld. Alle Erfahrung in der Geschichte zeigt, dass Nichtdemokratie für den Bürger am teuersten kommt. Ich finde also, dass eine vernünftige Größe des Parlaments zu einer Demokratie dazugehört. ({9}) Ich würde gerne eine letzte Bemerkung machen. Wir haben als Koalition die Kritik des Bundesverfassungsgerichts zu hören bekommen - die Kritik betraf nicht alle; wir waren als Koalition dafür verantwortlich -, dass es beim ersten Versuch zu lange gedauert hat. Diese Kritik war berechtigt, und sie wird von uns akzeptiert. Aber ich bin dem Kollegen Krings dankbar, dass er deutlich macht: Es darf auch Kritik in umgekehrte Richtung geben. Das, was wir in dem Urteil zur Möglichkeit von „etwa 15“ Überhangmandaten lesen konnten, ist etwas, das man sich in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht wünscht. ({10}) Auch sonst muss ich selbst nach mehrfacher Lektüre dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichtes sagen: Ich kann mich daran erinnern, dass es Urteile gab, die sich mir besser erschlossen haben als dieses. ({11}) Nichtsdestotrotz: Das Wahlrecht ist eines der Kernrechte in einer Demokratie. Deshalb ist das Signal, das wir heute senden: Vier Fraktionen haben sich auf ein neues Modell geeinigt. Es ist ein ausgesprochen gutes Modell. Es ist eine gute Nachricht für unser Land, dass es möglich wurde; darüber freue ich mich ganz außerordentlich. Deshalb danke ich für die wirklich guten Beratungen, die wir zwischen allen Fraktionen geführt haben. Ganz herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wolfgang Wieland hat jetzt das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind ja nun in der Weihnachtszeit, der Zeit des Schenkens. ({0}) Manchmal sagt man als Beschenkter: Das Geschenk wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. So geht es mir mit dem Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes zu den Auslandsdeutschen vom Juli dieses Jahres, über den wir hier reden müssen. Da war die sogenannte kleine Runde der Innenpolitiker sehr schnell, noch schneller als die große Runde, auch dank der straffen Führung des Kollegen Grindel; so selten ich ihn loben kann, so wenig will ich die Gelegenheit jetzt verpassen. Der Kollege Oppermann und ich sind beide wohlerzogen, ({1}) deswegen kritisieren wir das Bundesverfassungsgericht nicht so scharf. Ich will es daher mit den Worten des Minderheitenvotums von Frau Lübbe-Wolff machen. ({2}) Sie hat geschrieben: Sollten die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten - das sind wir gemeint haben, dass man sich an ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zumindest dann gefahrlos orientieren kann, ({3}) wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass sie innerhalb des Gerichts jemals umstritten gewesen wäre, muss der vorliegende Beschluss sie überraschen. Er hat überrascht. ({4}) Ohne jede Vorwarnung wurde ein Wahlrecht, das es im Grunde während der gesamten Nachkriegszeit gab, nunmehr für verfassungswidrig erklärt, und uns wurde ein Problem beschert. Das muss man so sagen. Ob wir es gut gelöst haben, werden wir sehen. Die Lösung war relativ simpel: Wir nehmen den Text dieser Entscheidung und schreiben ihn wörtlich in einen Gesetzentwurf nach dem Motto „Sie werden sich das nächste Mal nicht selber für verfassungswidrig erklären“. ({5}) Das ist logisch, beschert den Beschwerdeführerinnen aber Steine statt Brot. Die Beschwerdeführerinnen waren zwei in Belgien lebende Deutsche, die noch nie in Deutschland gelebt hatten und fragten: Warum macht ihr diese schematische Dreimonatsfrist? Wir sind Deutsche, wir orientieren uns - heute ja kein Problem über die neuen Medien - nach Deutschland, wir wollen wählen, also das allgemeine Wahlrecht im Sinne eines Wahlrechts für alle Deutschen. Dem kann man durchaus nahetreten. Wir sind heute angesichts von Wahlbeteiligungen von teilweise unter 50 Prozent dankbar für jede Wählerin, für jeden Wähler. Egal ob Biodeutscher, Beutedeutscher oder Namibiadeutscher, der immer noch glaubt, dass es noch einen Kaiser gibt: ({6}) Wer Deutscher ist, soll wählen können. ({7}) - Ich sehe, der Gedanke belebt. Mir ist selbst ein Wähler von Dieter Wiefelspütz lieber als ein Nichtwähler. So weit gehe ich. ({8}) Aber auch diese Möglichkeit hat das Gericht wohl versperrt. Es wird ausgeführt - ich zitiere -: Danach ist die Möglichkeit, eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen, für die Wahlteilnahme unabdingbar. Hieran fehlt es bei mangelnder Vertrautheit mit den Verhältnissen in Deutschland. Ein bisschen Vertrautheit muss sein. Wir müssen das Kunststück vollbringen, aus dem Grundgedanken des Gerichts - eigentlich sollten alle Deutschen wählen können, aber ein bisschen müssen sie mit Deutschland schon vertraut sein - einen Paragrafen zu machen. Unser Vorschlag ist, was Normenunklarheit angeht, nicht zu übertreffen, das muss man deutlich sagen. ({9}) „Aus anderen Gründen“ vertraut, ohne irgendein Beispiel - das ist schwierig. Die Alternative wäre eine elende Kasuistik mit Typgruppen: Pendler oder wer das alles sein kann. Die schwierige Frage, die Frau LübbeWolff aufwirft, ob die Zugehörigkeit zu einem Karnevalsverein ausreichen würde, wollten wir im Gesetzestext nicht beantworten. ({10}) Dafür gibt es gute Argumente. Ich als Preuße sehe gute Argumente dafür, dass man das reichen lässt. Für viele Kollegen hier ist das der eigentliche Lebensinhalt. ({11}) Aber auch wir konnten nicht jede Streitfrage klären.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, das ist mein letzter Satz. - Deswegen haben wir klugerweise gesagt: Wir bitten die Sachverständigen, uns in der Anhörung bessere Formulierungen vorzuschlagen. Wir konnten nicht mehr leisten als das, was Ihnen vorliegt. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Stephan Mayer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute über das vielleicht wichtigste Gesetz für die Arbeit des Deutschen Bundestages, weil es für unsere Arbeit konstitutiv ist. Manche zählen es zum materiellen Verfassungsrecht. Es geht um das Bundeswahlgesetz. Wir setzen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli dieses Jahres um, das - mit Verlaub; das ist schon mehrere Male gesagt worden - nicht einfach umzusetzen und in der einen oder anderen Hinsicht durchaus auch etwas schwer nachzuvollziehen ist. Dieser gelungene Kompromiss vermeidet das Phänomen des Stephan Mayer ({0}) negativen Stimmgewichts. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Der zweite wichtige Aspekt ist, dass es uns gelungen ist, die Wirkung von Überhangmandaten unter Inkaufnahme von Ausgleichsmandaten und einer möglichen deutlichen Erweiterung des Bundestages zu beseitigen. In der ersten Stufe der Verteilung der Bundestagssitze - das wird auch in Zukunft so sein - erfolgt eine länderweise Verteilung der Sitze auf die Landeslisten. Verbindungen von Listen werden in Zukunft ausgeschlossen sein. In der zweiten Stufe erfolgt dann zur Vermeidung von Überhangmandaten eine Erhöhung der Gesamtzahl der Sitze im Bundestag, und zwar so weit, bis bei einer anschließenden bundesweiten Oberverteilung auf die Parteien und einer Unterverteilung auf die Landeslisten alle Wahlkreismandate auf Zweitstimmenmandate der Parteien angerechnet werden können. Es kommt zu einer deutlichen Erweiterung des § 6 des Bundeswahlgesetzes. Das ist unter den Gesichtspunkten der Verständlichkeit, der Normenklarheit und der leichten Lesbarkeit des Gesetzes mit Sicherheit nicht schön. Der Gesetzentwurf stellt aber einen Kompromiss dar. Diesbezüglich halte ich es mit dem früheren US-Außenminister und Nobelpreisträger Henry Kissinger, der gesagt hat: Ein Kompromiss ist nur dann gerecht, brauchbar und dauerhaft, wenn beide Parteien damit unzufrieden sind. Meine Unzufriedenheit bezieht sich vor allem darauf, dass ich durchaus die Gefahr sehe, dass es mit der nächsten Bundestagswahl zu einer deutlichen Vergrößerung des Deutschen Bundestages kommt. Ich glaube, auch diesbezüglich sollten wir einen Blick über die Landesgrenzen werfen - das ist schon angesprochen worden -: Ein Vergleich der nationalen Parlamente in Europa macht deutlich, dass der Deutsche Bundestag selbst bei einer Erhöhung der Mandatszahl um 100 im Vergleich zur Bevölkerungszahl immer noch das zweitkleinste Parlament in der Europäischen Union nach dem spanischen Parlament wäre. Ich glaube, wenn man einen solchen Vergleich bezogen auf die Bevölkerungszahl anstellt, kommt man sehr wohl zu dem Schluss, dass es noch akzeptabel ist, dass nach dem jetzt zur Debatte stehenden Bundeswahlrecht eine Vergrößerung des Bundestages ansteht. Ich möchte aber schon zu bedenken geben, dass irgendwann einmal die Grenze der Arbeitsfähigkeit eines Parlaments erreicht ist. Wenn man irgendwann einmal über 700 oder 750 Abgeordnete zählen würde, dann wäre es unabhängig vom Vergleich mit der Bevölkerungszahl schwierig, das Parlament arbeitsfähig zu halten. Demokratie kostet Geld. Auch diesbezüglich kann man einen interessanten Vergleich anstellen: Wie viel kostet eigentlich der Deutsche Bundestag? Wie viel kosten wir Parlamentarier, unsere Mitarbeiter, die Mitarbeiter des Deutschen Bundestages, alles drum herum? Dies kostet einen Bundesbürger im Jahr einen einstelligen Euro-Betrag. Es ist ganz interessant, auch für die Diskussion mit der Bevölkerung, dass das Parlament nicht so teuer ist, wie viele glauben. Demokratie kostet nun einmal Geld. Jede andere Staatsform wäre für Deutschland und für die Deutschen mit Sicherheit weitaus teurer. ({1}) Ich bin sehr froh darüber, dass sich die Grünen mit ihrer kruden Idee, dass einem direkt Gewählten das Mandat zu entziehen ist, wenn in dem Bundesland Überhangmandate anfallen würden, nicht durchsetzen konnten. ({2}) Lieber Herr Kollege Wieland, so kann nur eine Partei argumentieren, ({3}) die nicht Gefahr läuft, außerhalb von Berlin überhaupt Direktmandate zu gewinnen. ({4}) Es ist nun einmal aufgrund unseres personalisierten Verhältniswahlrechts so, ({5}) dass die Verbindung zwischen dem direkt gewählten Wahlkreisbewerber und den Bürgerinnen und Bürgern in seinem Wahlkreis ganz wichtig ist. Ihre Herangehensweise und Ihre Sichtweise lassen wirklich tief blicken, wenn Sie sagen - ganz perfide -: Der Wahlkreisbewerber hat dann sein Mandat gar nicht gewonnen, deswegen muss es ihm gar nicht entzogen werden. ({6}) Was ist denn das für eine Denkweise, zu meinen, dass ein direkt gewählter Abgeordneter, unabhängig davon, mit welchem Prozentsatz er gewonnen hat, sein Mandat nicht errungen hat und nicht in den Deutschen Bundestag einziehen darf? ({7}) Ich glaube, das ist eine Verhöhnung des Wählerwillens. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen. ({8}) Es ist schade, dass sich die Linken dem Kompromiss, der jetzt gefunden wurde, nicht anschließen konnten. Der Gesetzentwurf, der von den Linken vorgelegt wird, würde zwar eine Vergrößerung des Bundestages ver26526 Stephan Mayer ({9}) meiden, was durchaus - das möchte ich betonen - ein erstrebenswertes Ziel ist, aber dies würde mit deutlichen föderalen Verzerrungen und entsprechenden Wechselwirkungen zwischen den Landeslisten einhergehen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Linken, bei Ihrem Gesetzentwurf besteht die konkrete Gefahr, dass es zu einer deutlichen Überrepräsentanz von Abgeordneten einer Partei in bestimmten Bundesländern kommt und gleichzeitig zu einer deutlichen Unterrepräsentanz von Abgeordneten derselben Partei in anderen Bundesländern. ({10}) Ich glaube, das würde auch dem Wunsch, dass es im Deutschen Bundestag eine möglichst ausgewogene Repräsentanz der Bundesländer gibt, nicht genügen. Sie bringen auch wieder - steter Tropfen höhlt den Stein - die Idee, die 5-Prozent-Klausel abzuschaffen, in Ihren Gesetzentwurf ein. Das fordern Sie nicht zum ersten Mal. Ich glaube, Ihnen sitzt die Angst vor der anstehenden Bundestagswahl im Nacken. Wir werden auch diesem Wunsch wieder eine deutliche Absage erteilen. Es wurde schon erwähnt: Wir setzen mit diesem Gesetzentwurf auch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli dieses Jahres hinsichtlich des aktiven Wahlrechts von Auslandsdeutschen um. Hier ist es wichtig, dass wir für im Ausland lebende Deutsche eine Möglichkeit schaffen, an Bundestagswahlen teilzunehmen. Der Gesetzentwurf enthält die Konkretisierung, dass man über 14 gewesen sein und ununterbrochen mindestens drei Monate in Deutschland gelebt haben muss. Dieser Zeitraum darf auch nicht mehr als 25 Jahre zurückliegen. Die Alternative ist, dass man persönlich oder unmittelbar mit dem politischen Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland vertraut ist. Ich glaube, dass es mit dieser offenen Formulierung möglich ist, dass die Deutschen, die im Ausland leben und an der Bundestagswahl teilnehmen wollen, dies auch in Zukunft tun können. Kein Kompromiss ist perfekt. Aber, ich glaube, mit diesem Kompromiss, den vier Fraktionen heute vorlegen, wird eine solide, eine rechtmäßige und vor allem eine verfassungsgemäße Grundlage für die Durchführung der nächsten Bundestagswahlen geschaffen. Ich möchte vermuten, dass dieses Bundeswahlrecht nur einmal zur Anwendung kommen wird. Wahrscheinlich wird es im Laufe der nächsten Wahlperiode wieder zu einer Novellierung des Bundeswahlrechtes kommen. Das ist nun einmal so. Das Bundeswahlrecht ist nicht starr, ist nicht fix, ist nicht apodiktisch, es unterliegt natürlich einem steten Wandel. In diesem Sinne sollten wir die weiteren Beratungen sehr stringent angehen. Die Anhörung zu den Gesetzentwürfen ist für den 14. Januar 2013 geplant. Ich hoffe, dass es in den Wochen danach zu einer Verabschiedung unseres Gesetzentwurfes kommen wird. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich freue mich jetzt sehr, als zweiter Frau in dieser Debatte Gabriele Fograscher für die SPD-Fraktion das Wort zu geben. ({0})

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Wahlrecht ist der Grundpfeiler unserer Demokratie, und es ist die Legitimation jedes einzelnen Abgeordneten hier im Hause. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. So heißt es in Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz. Der Parlamentarische Rat konnte sich 1949 nicht auf eine Festschreibung des Wahlsystems im Grundgesetz verständigen. So wurde das erste Bundeswahlgesetz zunächst von den Ministerpräsidenten der Länder erlassen. Zur Bundestagswahl 1953 wurde erstmals nach einem vom Bundestag selbst erlassenen Gesetz gewählt; nach diesem Gesetz hatten die Wählerinnen und Wähler eine Stimme. Zur Bundestagswahl 1957 wurde dann die Zweitstimme eingeführt. Das bis zur Bundestagswahl 2009 gültige Wahlrecht entsprach im Wesentlichen dem Wahlrecht von 1957. Seitdem gab es die Wahl mit verbundenen Landeslisten, das heißt, das Auftreten des negativen Stimmgewichts war möglich. Der Effekt des negativen Stimmgewichts wurde 2005 bei der Nachwahl in einem Wahlkreis in Dresden offensichtlich. Dies war der Grund, weshalb das Bundesverfassungsgericht dieses Wahlrecht 2008 in Teilen für verfassungswidrig erklärte. Es sah den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt. Die Lösung dieses Problems haben Sie von den Koalitionsfraktionen zunächst im Alleingang versucht. ({0}) Sie sind damit in Karlsruhe gescheitert. Wir begrüßen es, dass Sie jetzt wieder zu der guten Tradition zurückgekehrt sind, das Wahlrecht auf der Grundlage einer breiten Mehrheit in diesem Hause zu erarbeiten, einzubringen und zu verabschieden. Was soll das neue Wahlrecht leisten? Die Gleichheit der Stimmen soll hergestellt werden. Dafür muss das negative Stimmgewicht beseitigt werden. Die einfachste Lösung wäre, vom Zwei-Stimmen-Prinzip Abstand zu nehmen. Das wollen wir aber nicht; denn im Grundsatz hat sich das Wahlrecht seit 1957 bewährt. Stattdessen geben wir das bisher gültige Prinzip der verbundenen Landeslisten auf. Dies war ein Vorschlag der Regierungsfraktionen. Wir wollen, dass sich das Zweitstimmenverhältnis der Parteien in der Sitzverteilung im Bundestag widerspiegelt. Überhangmandate verzerren dieses Verhältnis. Deshalb werden in Zukunft alle Überhangmandate ausgeglichen. Dies entspricht dem Vorschlag, den wir als SPD-Bundestagsfraktion bereits eingebracht haben. ({1}) Dies könnte - das ist mehrfach erwähnt worden - zu einer Vergrößerung des Bundestages führen. Deshalb werden wir die Entwicklung beobachten und gegebenenfalls reagieren müssen. Wir wollen den Länderproporz erhalten. Bei der letzten Bundestagswahl hat die CDU in Baden-Württemberg zehn Überhangmandate errungen. Damit war BadenWürttemberg im Bundestag im Verhältnis zu den anderen Bundesländern überrepräsentiert. Deshalb wollen wir in Zukunft einen bundesweiten Ausgleich von Überhangmandaten. Der Gesetzentwurf der Linken löst zwar das Problem des negativen Stimmgewichts, der Überhangmandate und der Größe des Bundestages, führt allerdings zu einer erheblichen Verzerrung der Länderverhältnisse. Deshalb erhält er nicht unsere Zustimmung. ({2}) Wir wollen nicht, dass sich die Fraktionsstärken und somit die Mehrheitsverhältnisse durch das Ausscheiden von Abgeordneten während der Wahlperiode ändern können. Durch den Ausgleich der Überhangmandate sind jetzt alle Mandate mit Zweitstimmen unterlegt, sodass frei werdende Sitze durch Nachrücker von der jeweiligen Landesliste nachbesetzt werden können. Der Innenausschuss wird - auch das wurde schon erwähnt - am 14. Januar 2013 eine Anhörung durchführen, um noch offene Fragen zu klären. Unbefriedigend bleibt nach wie vor die schwer zu verstehende Fassung des § 6 Bundeswahlgesetz. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die fehlende Normenklarheit bereits beanstandet. Hier erwarten wir noch Anregungen von den Sachverständigen. Gegenstand der Anhörung wird auch die ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Regelung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche sein. Die jetzt vorgeschlagene Formulierung entspricht zwar der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts, scheint uns aber zu unbestimmt und zu interpretierbar. Deshalb werden wir versuchen, mithilfe der Sachverständigen eine bessere Formulierung zu finden. Ein Thema, das wir nicht aus den Augen verlieren wollen, das heute in der Debatte aber wenig angesprochen wurde, ist der Ausschluss vom Wahlrecht, in § 13 Bundeswahlgesetz geregelt. Im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention müssen wir die Anregungen und Bitten von Behindertenverbänden, die ein inklusives Wahlrecht fordern, sehr ernst nehmen. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention haben wir die Pflicht, gleiche Bürgerrechte für Menschen mit Behinderung konsequent umzusetzen. Barrierefreiheit, einfache Sprache und eine Möglichkeit für Analphabeten sind wichtige Voraussetzungen für die demokratische Teilhabe von Menschen mit Handicaps. Deshalb bitte ich Sie von der Regierungskoalition, darüber mit uns noch einmal ins Gespräch zu kommen, um das im Sinne der vielen Betroffenen zu regeln. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen zum Wahlrecht und danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Ich bitte um Nachsicht, dass ich nun als Mann hier spreche und Ihnen sieben freudlose Minuten bereite, aber vielleicht führt mein Vortrag ja dazu, dass Sie das eine oder andere doch noch freundlich aufnehmen. - Ich will mich zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche äußern. Eine Bemerkung vorab: Lieber Kollege Beck, die Forderung nach weiterer Abschaffung von Direktwahlkreisen kann man wirklich nur erheben, wenn man weit, weit weg von der täglichen Wahlkreisarbeit ist, die direkt gewählte Abgeordnete, von denen wir in unserer Fraktion ja viele haben, leisten. Die Wahlkreise in den neuen Ländern, aber auch in Flächenländern wie Niedersachen und Baden-Württemberg sind schon jetzt so groß, dass man dort kaum flächendeckend Präsenz zeigen kann. Ihre Forderung würde Bürgerferne und weniger Bürgernähe bedeuten. Das ist schon ein erstaunlicher Beitrag eines grünen Abgeordneten, den Sie hier geleistet haben. ({0}) Jetzt aber genug des Streits; denn beim Wahlrecht für Auslandsdeutsche - das hat der Kollege Wieland hier ja schon gesagt - sind wir uns alle, bis hin zur Linken, einig. Minderheitenvotum von Frau Lübbe-Wolff hin oder her: Wir müssen uns mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzen. Bisher waren Auslandsdeutsche alleine unter einer Voraussetzung wahlberechtigt, nämlich dann, wenn sie sich mindestens drei Monate in ihrem Leben ununterbrochen auch tatsächlich in Deutschland aufgehalten haben. Dieser Regelung lag der Gedanke zugrunde, dass als wahlberechtigte Bürger nur Deutsche gelten sollen, die aufgrund eigener Erfahrung mit den politischen Verhältnissen in Deutschland vertraut sind. Eines ist ganz deutlich - auch für die Zukunft -: Allein die Beobachtung des politischen Prozesses vom Ausland aus unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel reicht nicht aus. Außerdem konnte durch das sogenannte Sesshaftigkeitserfordernis in der Tat klar definiert werden, an welchem Ort man ins Wählerverzeichnis aufgenommen werden muss. Das Bundesverfassungsgericht hat die Berechtigung dieser Dreimonatsregel durchaus anerkannt, aber es hat sich aus Anlass der hier bereits angesprochenen zwei Wahlprüfungsbeschwerden gegen die ausschließliche Gültigkeit dieses Prinzips der Sesshaftigkeit gewandt und gesagt, es gebe erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, wenn alleine auf diesen Grundsatz abgestellt wird. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht darauf verwiesen - das gehört auch zu den Änderungen bzw. Ergänzungen des Wahlrechts, die wir jetzt vornehmen -, dass sich eine Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen schwerlich einstellen kann, wenn der entsprechende deutsche Wahlbürger die Dreimonatsfrist zu einem Zeitpunkt erfüllt hat, als er lediglich Kleinkind gewesen ist. Die zweite Personengruppe sind solche Auslandsdeutsche, die die Bundesrepublik schon vor so langer Zeit verlassen haben, dass die von ihnen erworbenen eigenen Erfahrungen in den aktuellen politischen Verhältnissen unseres Landes und in der heutigen Realität keine Entsprechung mehr finden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dann auch noch der eben von Herrn Wieland angesprochenen dritten Fallgruppe zugewandt. Dabei handelt es sich um Personen, die zwar zu keinem Zeitpunkt mindestens drei Monate lang ununterbrochen in Deutschland ansässig gewesen sind, jedoch trotzdem mit den politischen Verhältnissen sehr wohl vertraut und von ihnen betroffen sein können, etwa weil sie als Grenzgänger ihren Beruf in der Bundesrepublik ausüben oder weil sie durch ihr Engagement in Vereinen, Parteien oder sonstigen Organisationen in erheblichem Umfang am politischen Leben unseres Landes teilnehmen. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht die alte Vorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 1 Bundeswahlgesetz für nichtig erklärt und uns als Gesetzgeber zu einer entsprechenden Änderung aufgefordert. Wir haben - ich will das betonen - im großen Einvernehmen aller Fraktionen reagiert. Das Sesshaftigkeitserfordernis von drei Monaten wird um zwei bedeutsame weitere Erfordernisse ergänzt: Zum einen muss der mindestens dreimonatige ununterbrochene Aufenthalt nach Vollendung des 14. Lebensjahres erfolgt sein. Zum anderen darf er nicht länger als 25 Jahre zurückliegen. Mit der Altersgrenze von 14 Jahren nehmen wir im Interesse der Einheit der Rechtsordnung Bezug auf andere Vorschriften, bei denen man von diesem Alter an eine für eigenverantwortliche Entscheidungen hinreichende Reife und Einsichtsfähigkeit annimmt. Das betrifft den Beginn der Strafmündigkeit und die Religionsmündigkeit. Mit der Einführung der Fortzugsfrist von 25 Jahren wird eine bereits früher im Bundeswahlgesetz einmal gültige Frist wieder aufgegriffen. Sie erscheint auch deshalb sinnvoll, weil damit von uns ein Zeitraum erfasst wird, in den die wohl grundlegendste Änderung der politischen Verhältnisse in Deutschland, nämlich der Prozess der Wiedervereinigung, gefallen ist. Um die Fallkonstellation des der Wahlprüfungsbeschwerde zugrundeliegenden Sachverhalts aufzugreifen, haben sich die Fraktionen entschieden, in § 12 Abs. 2 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes eine neue Nr. 2 einzuführen, mit der auch demjenigen Auslandsdeutschen das Wahlrecht gegeben wird, der aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben hat und von ihnen betroffen ist. Wir können uns das alles in der Anhörung natürlich noch einmal anschauen. Aber ich finde, es dient der Einigkeit zwischen den Fraktionen in dieser Frage, wenn wir mit dieser Formulierung praktisch den Begründungstext des Urteils aus Karlsruhe abbilden. In der Gesetzesbegründung haben wir dann - lieber Herr Wieland, das haben Sie wahrscheinlich aus Zeitgründen nicht mehr erwähnt ({1}) zur Unterstützung unserer Änderung ({2}) - wenn wir in einer Debatte zum Asylrecht wären und das ein Angriff hätte sein sollen, hätte ich gesagt, Sie hätten das böswillig verschwiegen; aber jetzt bin ich davon ausgegangen, dass Sie dazu aus Zeitgründen nichts haben sagen können ({3}) Tatbestandsvoraussetzungen aufgeführt - das ist in der Tat in der Sache wichtig -, anhand derer die Wahlämter vor Ort Gruppen definieren können, bei denen man vom Vorliegen der Voraussetzungen ausgehen kann, also zum Beispiel Ortskräfte mit deutscher Staatsangehörigkeit an Auslandsvertretungen, Mitarbeiter von Entwicklungsorganisationen oder Außenhandelskammern, Abkömmlinge von deutschen Beamten bei der EU-Kommission, die im Bundesgebiet tätig sind, Zeitungskorrespondenten oder, wie gesagt, die von mir benannten Grenzgänger. Die Tatsachen, die für die Aufnahme in das Wählerverzeichnis sprechen sollen, sind glaubhaft zu machen. Ich will hier ein Thema kurz ansprechen, das uns beschäftigt hat, nämlich: In welcher Gemeinde müssen die Auslandsdeutschen ihren Eintrag ins Wählerverzeichnis beantragen? Bei denen, die sich schon mehr als drei Monate in Deutschland aufgehalten haben, kommt als Anknüpfungspunkt natürlich die letzte Heimatgemeinde in Betracht. Die Auslandsdeutschen, die noch nie oder zumindest weniger als drei Monate in Deutschland waren, müssen sich an dem Ort melden - darauf haben wir uns verständigt -, aus dem sich ihre Betroffenheit von den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik ergibt. Das wird in aller Regel der Arbeitsort oder der Ort sein, an dem das gesellschaftliche Engagement in einer Organisation stattfindet, auf das auch abgestellt werden kann. Was wir bewusst nicht gemacht haben, ist, einen Vorschlag aufzugreifen, dass wir ein Wahlamt oder eine Gemeinde sozusagen als Auffangbecken für Auslandsdeutsche benennen, weil dieses dem Grundsatz der Vergleichbarkeit der Größe der Wahlkreise möglicherweise widersprechen würde. Dies wäre der Fall, wenn man zum Beispiel sagen würde: Auslandsdeutsche kommen grundsätzlich in den Wahlkreis Berlin-Mitte. Ich kann nur sagen: Wenn wir immer so entspannt, fröhlich und sachlich diskutieren würden, wie das bei diesem Gesetzentwurf geschehen ist, würden wir in unserem Land weiterkommen. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielen Dank für die freudvolle Entspannung, Herr Grindel. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/11819, 17/11820 und 17/ 11821 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Gibt es dazu andere Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 42 auf: Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke Alterssicherung und Altersarmut von Frauen in Deutschland - Drucksachen 17/9431, 17/11666 Hierzu liegt auch ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Verabredet ist es, hierzu eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so verabredet. Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe das Wort der Kollegin Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke. ({1})

Yvonne Ploetz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Können Sie sich das Gefühl vorstellen, wenn Sie Ihren beiden Enkeln Weihnachtsgeschenke kaufen wollen, dies aber nicht geht, weil Ihnen schlichtweg das Geld fehlt, und das, obwohl Sie wirklich jeden Cent zur Seite legen, auch dann, wenn es am Ende des Monats nicht mehr für ein richtiges Essen reicht? So geht es Frau Hoffmann, die mich vor kurzem in meiner Sprechstunde besucht hat. Frau Hoffmann hat eine Minirente von 480 Euro, obwohl sie ihr Leben lang hart gearbeitet hat. Ihren beiden Kindern hat sie den besten Start ins Leben ermöglicht. Frau Hoffmann war Friseurin und in den letzten Jahren vor der Rente in Minijobs als Reinigungshilfe tätig. Zum Amt, so sagt sie, will sie nicht. Sie schämt sich. Ich finde, diese Scham sollte jeder Seniorin und jedem Senior erspart bleiben. ({0}) Kein Mensch, der ein Leben lang hart gearbeitet hat, sei es im Beruf, für die Familie oder für die Gesellschaft, darf im Alter mit Sozialhilfe abgespeist werden. ({1}) So wie Frau Hoffmann geht es vielen älteren Menschen, insbesondere Frauen. Es ist die klassische Konstellation: raus aus dem Beruf, Kinder erziehen, Angehörige pflegen und parallel zum Teilzeitjob ehrenamtlich tätig sein. Mittlerweile haben zwei von drei Frauen eine Rente unterhalb der Grundsicherung. 83,5 Prozent der Frauen haben eine Altersrente von unter 850 Euro, davon wiederum ein Viertel von unter 250 Euro. Die Durchschnittsrente einer Frau ist halb so hoch wie die eines Mannes. Das gilt im Westen wie im Osten. Auch im Osten sinken die Renten von Jahr zu Jahr. Für die Frauen gilt: Die meisten bleiben abhängig von ihrem Mann oder vom Staat. Das alles hat mit Würde im Alter nichts zu tun. ({2}) Die Bundesregierung möchte nun Frauen wie Frau Hoffmann mit der sogenannten Lebensleistungsrente unter die Arme greifen. Ich finde, diesen Etikettenschwindel muss man den Menschen erklären: Man soll 40 Jahre Beitrag zahlen, man soll jahrzehntelang privat vorsorgen, um dann 10 bis 15 Euro mehr als die Grundsicherung, die Sozialhilfe im Alter, von 707 Euro zu bekommen. Ich möchte das Wort „Lebensleistungsrente“ kurz analysieren. Lebensleistung und Rente haben, wie jeder weiß, der einmal im Jahr - bleich und mit flatternden Fingern - einen Brief mit dem Statusbescheid seiner Rentenversicherung aufschlitzt, rein gar nichts mehr miteinander zu tun. So stand es vor wenigen Wochen im stern geschrieben. - Und, ja, das wird noch viel mehr der Fall sein, wenn Sie, wie geplant, das Rentenniveau von derzeit 50 auf 43 Prozent senken werden. Ich bitte Sie eindringlich: Lassen Sie das bleiben! Wir brauchen kein niedrigeres, sondern ein höheres Rentenniveau. ({3}) Wenn Sie unbedingt etwas senken wollen, dann nehmen Sie bitte die Rente mit 67 zurück. ({4}) Das würde insbesondere Frauen zugute kommen. Wir wissen schon heute, dass gerade einmal 11,7 Prozent der Frauen im Alter von 64 Jahren noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, davon gerade einmal 5,8 Prozent der Frauen Vollzeit. Hier zeigt sich wieder ganz deutlich, wie Sie Politik gegen die Realitäten machen, und zwar Sie alle: FDP, CDU/CSU, Grüne und SPD. ({5}) Ja, wir brauchen einen Mindestlohn von 10 Euro und eine Mindestrente, wenn wir den Kampf gegen Altersarmut wirklich aufnehmen und gewinnen wollen. ({6}) Aber zurück zur Lebensleistungsrente nach von-derLeyen-Art. Ich habe schon erklärt, wo die beiden Haupthürden liegen. Man braucht 40 Beitragsjahre, und man soll jahrzehntelang privat vorgesorgt haben, um dann im Alter 10 bis 15 Euro mehr als die Grundsicherung zu bekommen. Ich finde, das ist ganz böse Satire. Sie verhöhnen damit die Menschen und ihre Arbeit regelrecht. ({7}) 10 Euro mehr: Das reicht gerade mal für ein Eis mit dem Enkel. Ich finde, man darf den Menschen im Land nichts vormachen. Wir wissen doch genau, dass eine Frau im Leben nicht auf 40 Versicherungsjahre kommt, sondern nur auf 30. ({8}) Und die private Vorsorge? Ja, Frauen haben mehr Riester-Verträge als Männer abgeschlossen. Aber die Hälfte aller Frauen hat keinen Riester-Vertrag. Andere Verträge werden auf ruhend gestellt oder nicht voll bespart. Man muss doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass jahrzehntelange Einzahlungen in der gewünschten Höhe eben nicht zu den Irrungen und Wirrungen eines normalen Lebens passen, und schon gar nicht zu dem Leben einer Frau, die im Niedriglohnsektor beschäftigt ist. Sie kann das Geld für die private Vorsorge doch nirgends mehr abknapsen. ({9}) Das ist aber nicht der einzige Haken. Ich will einen weiteren nennen. Die Riester-Rente wird auf die Grundsicherung im Alter angerechnet. Das heißt, die Grundsicherung wird um den angesparten Betrag gekürzt. Das Geld der Sparerin oder des Sparers verpufft in diesem Fall regelrecht. Ich finde, das ist ganz absurd. Das ist ein absurder Systemfehler, genauso wie die Zerschlagung der gesetzlichen Rente zugunsten der privaten Vorsorge von Anfang an der Fehler eines Systems war, das sich die Politik von Wirtschaftsinteressen diktieren lässt. ({10}) Die Hälfte aller Frauen in meinem Alter hat heute schon Angst vor Altersarmut; das ist nicht ganz unbegründet. Das hat Arbeitsministerin Ursula von der Leyen dankenswerterweise ganz klar benannt. Die Altersarmut wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stark zunehmen. Aber, Frau Arbeitsministerin, eine Ministerin darf nicht dabei stehen bleiben, Probleme aufzuzeigen, sondern muss Lösungen entwickeln, ({11}) Lösungen dafür, dass Millionen Frauen eben nicht direkt von der prekären Beschäftigung in die Altersarmut rutschen. Nehmen wir als Beispiel die Minijobs. Eine Minijobberin hat nach 45 Versicherungsjahren einen Rentenanspruch von 139,95 Euro im Monat. Das zeigt doch wieder: Minijobs sind für Frauen der ganz sichere Weg in die Altersarmut. Und was machen Sie? Sie weiten diese Sackgasse noch aus. Wir sagen: Legen Sie sie endlich still! ({12}) Das, was ich hier angesprochen habe, sind Fakten, die aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zur Altersarmut von Frauen hervorgehen. Sie als Regierung kommentieren all diese erschreckenden Zahlen so: Es … kann von einer besonders unzureichenden sozialen Absicherung von Frauen bzw. einer besonderen Betroffenheit von Armut im Alter generell nicht die Rede sein. Das ist das nächste Adventsmärchen der christlich-liberalen Regierung - völlig herzlos, unengagiert und lebensfremd. Wir alle wissen: Die Weihnachtszeit ist auch die Zeit der Besinnung. Wir können für die Frauen nur hoffen, dass Sie zur Besinnung kommen. Danke schön. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Peter Weiß hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir im Deutschen Bundestag einmal ausführlich über die Alterssicherung der Frauen sprechen. Es ist so, dass vor allen Dingen in Westdeutschland viele Frauen in den vergangenen Jahrzehnten spätestens mit der Geburt des ersten Kindes ganz und sogar auf Dauer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Manche Frauen haben sich - ich denke dabei an meine eigene Mutter - die in wenigen Berufsjahren erworbenen Rentenansprüche auch noch auszahlen lassen, sodass gar keine eigene Altersrente anfallen wird. Für sie bedeutet Altersversorgung für Frauen, von der Altersversorgung des Mannes abhängig zu sein. Das ist der Grund, warum die durchschnittliche Rentenzahlung an Frauen so niedrig ist. Aber bemerkenswert ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein deutlicher Wandel, was die eigenständige Alterssicherung von Frauen angeht, vollzogen hat. Es wäre daher gut gewesen, wenn diejenigen, die eine Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt haben, auch die Antworten aus dieser Anfrage hier vorgetragen und nicht verschwiegen hätten. ({0}) Die Erwerbstätigenquote der Frauen, das heißt der Anteil von Frauen in Erwerbstätigkeit an der weiblichen Bevölkerung in Deutschland, ist im Jahr 2011 bei 67,8 Prozent angelangt. Das ist, wenn man den Zeitraum von 2002 an nimmt, eine Steigerung um 8,8 Prozent. Sie liegt damit deutlich über der Steigerung der normalen Erwerbstätigenquote in Deutschland. ({1}) Auch bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen haben wir eine Steigerung um 2 Prozent. Der Anteil der Frauen, die eine eigene Alterssicherung aufgebaut haben, ist von 1999 bis 2011 von 83 Prozent auf 91 Prozent gestiegen. ({2}) - Auch dazu sage ich etwas, Frau Ferner. - Wenn man jetzt das Niveau der Alterssicherung der Frauen mit dem der Männer vergleicht, dann stellt man fest, dass das Alterssicherungsniveau der Frauen 1999 noch bei 39 Prozent des Niveaus der Männer lag, aber bis 2011 immerhin schon auf 43 Prozent gestiegen ist. ({3}) Schauen wir uns die Dynamik in Westdeutschland an, Frau Ferner. Wie sieht es bei den jüngsten Altersjahrgängen aus, was die Rente anbelangt? In der jüngsten Altersgruppe hatten 1999 bereits 87 Prozent der Frauen eine eigene Alterssicherung und 2011 immerhin 92 Prozent. Was übrigens erstaunlich ist: Bei der zusätzlichen Altersversorgung, zum Beispiel der Riester-Rente oder der betrieblichen Altersversorgung, sind die Frauen besser als die Männer. Das heißt, Frauen handeln in Sachen Altersvorsorge durchaus klug, klüger noch als die Männer. Das muss man anerkennen. ({4}) - Die Frauen rufen natürlich zu Recht: Da auch. Ein zentraler Punkt gerade der Union war und ist, dass wir angesichts der Tatsache, dass nach wie vor hauptsächlich Frauen die Erziehungs- und Pflegeleistung bei uns in Deutschland erbringen, diese Erziehungs- und Pflegeleistung bei der Rente anerkennen. ({5}) Deshalb waren wir es, die die Anerkennung von Kindererziehungszeiten überhaupt ins Rentenrecht aufgenommen haben. ({6}) Deshalb waren auch wir von der Union es, die die Anerkennung von Pflegeleistungen ins Rentenrecht aufgenommen haben. Auch das ist eine wichtige Reform. ({7}) Wir haben mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, das am 1. Januar in Kraft treten wird, die Leistung noch einmal verbessert. Ich verstehe die Unruhe bei den anderen Fraktionen. Die haben in ihrer Regierungszeit nichts für die Anerkennung von Pflege- und Erziehungsleistung getan. ({8}) Wir, die Union, waren es. ({9}) Um zu einer eigenständigen Alterssicherung der Frauen beizutragen, kommt es wesentlich auf die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen an. ({10}) Wir haben 2007 mit der Einführung des Elterngeldes einen wichtigen Schritt unternommen, Peter Weiß ({11}) ({12}) der es möglich macht, dass Frauen aus dem Erwerbsleben für ein Jahr aussteigen, um Kinder zu erziehen ({13}) - Männer machen Gott sei Dank immer mehr auch davon Gebrauch -, und anschließend wieder schneller ins Berufsleben zurückkommen. Mit der Idee der Großelternzeit hat übrigens Frau Bundesministerin Schröder eine weitere gute Idee entwickelt, ({14}) wie die positiven Effekte des Elterngeldes in flexibler Weise genutzt werden können. ({15}) Mit dem Anfang 2012 in Kraft getretenen Familienpflegezeitgesetz wird es zudem Beschäftigten erleichtert, ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen und auch weiterhin Rentenansprüche zu erwerben. Am 1. Januar 2013 tritt eine Neuregelung zu Minijobs in Kraft, die nicht unwesentlich ist. Wir kehren nämlich das bisherige System um. Künftig ist auch bei Minijobs eine Einzahlung in die Rentenversicherung die Regel und nicht die Ausnahme, selbst wenn man auf der Basis von Minijobs nie eine anständige Rente erwerben kann. Das ist richtig. ({16}) - Frau Ferner, Sie wissen, wie viele Menschen dauerhaft in ihrem Leben nur Minijobs ausüben und nichts anderes. ({17}) Auch wenn der Minijob in der Regel nur einen Teil der Berufsbiografie umfasst, ist es wesentlich, dass auch in der Zeit, in der man einen Minijob hat, Rentenversicherungsbeiträge gezahlt und entsprechende Ansprüche erworben werden. ({18}) Durch den gezielten quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung, insbesondere auch mit dem zum 1. August nächsten Jahres in Kraft tretenden Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, schaffen wir eine weitere Voraussetzung dafür, dass Familie und Beruf für Frauen und Männer in Deutschland besser vereinbar sind. ({19}) Ich darf noch einmal erwähnen, dass wir, der Bund, dafür kräftig Geld in die Hand nehmen: 4 Milliarden Euro für die Schaffung und den Betrieb von Kindertageseinrichtungen und jetzt zusätzliche 580 Millionen Euro für weitere 30 000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. ({20}) Im Parlament liegt zurzeit ein Betreuungsgeldergänzungsgesetz zur Beratung, mit dem wir vorsehen, dass Frauen - oder natürlich auch Männer -, die das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen, einen zusätzlichen Finanzzuschuss vom Staat erhalten, wenn sie dieses Geld für eine zusätzliche Altersversorgung ansparen. ({21}) Auch das ist ein wichtiger Beitrag, um die eigenständige Altersversorgung von Frauen zu stärken und zu unterstützen. ({22}) - Der Kollege Strengmann-Kuhn redet in diesem Fall von „Geldverschwendung“. Ich finde, jeder Euro für die Altersversorgung ist nicht Geldverschwendung, sondern gut angelegtes Geld. ({23}) Um erwerbstätige Eltern, gerade mit kleinen und mittleren Einkommen, zu entlasten, hat sich die Bundesregierung in ihrer Demografiestrategie darauf verständigt, ({24}) familienunterstützende und haushaltsnahe Dienstleistungen zu stärken. Das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Familie“ fördert die Familienfreundlichkeit in der Personalpolitik der Unternehmen, und im Rahmen der Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ unterstützt die Bundesregierung aktuell gemeinsam mit den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle in der betrieblichen Praxis. Deswegen ist eine der allerwichtigsten Maßnahmen, neben den rentenrechtlichen, dass wir durch entsprechende Gestaltung einer familienfreundlichen Arbeitswelt dafür sorgen, dass Männer und Frauen mit Familie, mit Kindern, die Chance haben, im Arbeitsleben zu bestehen und eigenständige Altersversorgungsansprüche aufzubauen. Das ist der Kern. ({25}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Auflistung dieser frauenund familienpolitischen Maßnahmen, die ich hier kurz Peter Weiß ({26}) vorgenommen habe, zeigt: Wir haben in der Tat noch viel vor uns. Unter der Regierungsverantwortung von Angela Merkel, unter der Regierungsverantwortung von Ursula von der Leyen und Kristina Schröder haben wir so viele die Position und Situation von Frauen stärkende Entscheidungen getroffen wie nie zuvor in der deutschen Politik. ({27}) Es ist richtig, dass wir über eine eigene Alterssicherung der Frauen diskutieren, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass die historische Entwicklung dazu geführt hat, dass viele Frauen von Altersarmut bedroht sind. ({28}) Aber die vorliegenden Entwicklungsfaktoren zeigen: Wir machen einen Sprung nach dem anderen nach vorn, um die Situation von Frauen im Erwerbsleben und die Situation der Frauen, was die Alterssicherung anbelangt, deutlich zu verbessern. Auf diesem Weg wollen wir vorangehen. Vielen Dank. ({29})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Weiß, eines muss man Ihnen lassen: Wie Sie die Tatsachen verdrehen, was Sie eben getan haben, ist schon bewundernswert. ({0}) Diese Wahlperiode kann man zumindest unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellungspolitik wirklich nur als Stillstandswahlperiode wahrnehmen und nicht als Fortschrittswahlperiode. ({1}) Altersarmut von Frauen fällt nicht vom Himmel, sondern sie hat Ursachen, Herr Weiß. Wer Altersarmut vermeiden will, muss deshalb an den Ursachen ansetzen und nicht an den Symptomen. Altersarmut ist das Ergebnis von Erwerbsarmut. Die Erwerbsarmut von Frauen ist das Ergebnis von falschen Rahmenbedingungen, die immer noch das Ein-Ernährer-Modell der Nachkriegszeit privilegieren, obwohl die gesellschaftliche Realität schon längst eine andere geworden ist. ({2}) Frauen sind mehr denn je auf eine eigenständige Existenzsicherung angewiesen, auch wenn sie verheiratet sind oder in einer Partnerschaft leben. Wir haben bei der Frage der Vermeidung von Altersarmut kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit. ({3}) Wir alle wissen: Nur wer lange möglichst durchgängig Vollzeit zu guten Löhnen sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat, wird im Alter eine auskömmliche Rente erhalten. Das gilt für Frauen wie für Männer. ({4}) Deshalb muss man auch beim Arbeitsmarkt ansetzen, Frau von der Leyen; man darf nicht auf eine sogenannte Lebensleistungsrente setzen, die nicht die Lebensleistung in Form von langjähriger Erwerbsarbeit belohnt, sondern ausschließlich die langjährige private Vorsorge. ({5}) Herr Weiß, Sie haben eben auf das Erwerbsleben abgehoben. Was habe ich von Ihnen denn zum Thema Mindestlöhne gehört? Nichts habe ich von Ihnen gehört! ({6}) Ein Mindestlohn würde den meisten Frauen sofort helfen, und zwar beim aktiven Einkommen und auch bei den Altersbezügen. ({7}) Deshalb fordern wir die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Zwei Drittel der Niedriglöhner sind Frauen. Die Verweigerungshaltung der schwarz-gelben Koalition bei der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns führt bei Frauen zu einem höheren Armutsrisiko im Alter. ({8}) Wer, Frau von der Leyen, als Arbeitsministerin hinnimmt, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, am Ende des Monats nicht von ihrem Einkommen leben können, sondern zum Sozialamt bzw. zum Jobcenter gehen müssen, hat als Rentenministerin nicht das Recht, drohende Altersarmut zu beklagen. ({9}) Wir werden nach der kommenden Bundestagswahl einen gesetzlichen Mindestlohn einführen und damit die Situation für 5,8 Millionen Frauen und Männer verbessern - bei den aktiven Bezügen und bei der Altersversorgung. Kommen wir zum Thema Minijobs. Anstatt Minijobs einzuschränken oder wenigstens den bestehenden Missbrauch zu unterbinden, haben Sie die Minijobgrenze um 50 Euro auf 450 Euro angehoben. Damit vergrößern Sie nicht nur das Heer der bisher über 7 Millionen Menschen, die in einem Minijob sind, sondern insbesondere auch das Armutsrisiko im Alter für Frauen. ({10}) Das, was Sie eben gesagt haben, Herr Weiß, dass wir jetzt sozusagen eine Regel-Ausnahme-Umkehr haben, glauben Sie doch selber nicht. Sie haben in Ihr eigenes Gesetz geschrieben, dass 90 Prozent der Betroffenen das gar nicht in Anspruch nehmen werden, sondern aus der Versicherungspflicht herausoptieren werden. ({11}) Wir reden bei 400 Euro übrigens über einen Rentenanspruch von 4,15 Euro im Monat. Das reicht nicht zum Leben und zum Sterben schon gar nicht. Das wissen Sie genauso gut wie wir. ({12}) Wir brauchen nicht mehr ungeschützte, sondern mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Ich finde, der DGB hat ein sehr interessantes Modell dazu vorgelegt, auf dessen Basis eine Neuordnung der Minijobs erfolgen könnte. Darüber hinaus müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, um den Missbrauch endlich zu bekämpfen. Wer von den Beschäftigten weiß denn, dass er oder sie Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat, dass bezahlter Urlaub gewährt werden muss, dass tariflich bezahlt werden muss? Und was tun die Arbeitgeber, obwohl sie eigentlich mehr bezahlen müssen in Form der pauschalen Abgaben? Sie setzen genau an den Stellschrauben an! Deshalb lohnt es sich am Ende des Tages für den Arbeitgeber, einen solchen Minijob anzubieten. Wir wollen aber mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. ({13}) - Bitte schön. - Herr Präsident?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich konnte nicht so schnell sein wie die Kollegin Ferner. - Bitte schön.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie sind ja stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion. ({0}) Können Sie mir vielleicht Auskunft darüber geben, wie viel Minijobber Sie in Ihrer Fraktion beschäftigen?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Thema hatten wir schon bei der letzten Debatte. ({0}) Wenn Sie sich die Zahlen genau angucken, dann werden Sie feststellen, dass die Zahl der Minijobber in Ihrer Fraktion und auch in der FDP-Fraktion prozentual gesehen ({1}) deutlich höher ist als in der SPD-Fraktion. Die SPD-Fraktion selber - die Fraktion! - hat einen Minijobber in der Pressestelle. Wie das bei den Abgeordneten aussieht, kann ich Ihnen nicht sagen, weil diese Zahlen nur einer Kommission des Ältestenrats zur Verfügung gestellt werden und im Prinzip nichtöffentlich sind. Eines aber kann ich Ihnen sagen: Wenn wir eine andere Regelung für eine auf den Monat bezogen niedrig bezahlte Beschäftigung hätten, dann hätten wir alle hier andere Beschäftigungsverhältnisse. Die Bundestagsverwaltung wertet jedes Arbeitsverhältnis, das mit weniger als 400 Euro im Monat vergütet wird, als Minijob und meldet das auch so an. Wir haben gar keine andere Wahl, als so anzumelden. Aber gucken Sie sich erst einmal Ihre eigenen Zahlen an, bevor Sie auf uns zeigen! Dann können wir gern noch einmal darüber reden. ({2}) Teilzeitarbeit führt auch zu einer niedrigen Rente im Alter. Wir stellen hier einen traurigen Rekord auf. Nach den Niederlanden sind wir das Land mit dem höchsten Anteil an Teilzeitarbeit. Fast die Hälfte aller Frauen im Westen arbeitet Teilzeit; im Osten sind es immerhin 34 Prozent. Aus Untersuchungen wissen wir - in den letzten Wochen gab es noch eine Untersuchung vom Statistischen Bundesamt -, dass die meisten Teilzeitbeschäftigten eine höhere wöchentliche Arbeitszeit wünschen, sie aber nicht bekommen. Teilzeitbeschäftigung bringt aber nicht nur eine geringere Rente mit sich, sondern in der Regel auch eine Dequalifizierung. Teilzeitbeschäftigte nehmen deutlich weniger an Fortbildungen und Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung teil als Vollzeitkräfte. Sie werden im Übrigen auch schlechter bezahlt. Das, was die Bundesregierung macht, ist aber wirklich der Hammer. Frau von der Leyen, Sie sollten sich einmal die Homepage Ihres Ministeriums ansehen. Dort gibt es einen sogenannten Teilzeitrechner. Man gibt sein früheres Gehalt, seine frühere Stundenzahl und seine jetzige Stundenzahl ein - Frau von der Leyen interessiert das offenkundig nicht -, und dann wird ein Stundenlohn ausgeworfen, netto. Welch Wunder, er ist natürlich bei der Teilzeitarbeit höher als bei der Vollzeitarbeit. Was sagt uns das aber? Besser wäre es, wenn ausgerechnet worden wäre, welche Rente sich dabei ergibt. Dann hätte man feststellen können, dass bei einer Arbeitszeit von 20 Stunden mit einem Durchschnittseinkommen nicht 28, sondern nur 14 Euro Rente pro Jahr herauskommen. Offenkundig hat die Bundesregierung überhaupt kein Interesse daran, dass mehr Frauen wie von ihnen gewünscht arbeiten können, nämlich vollzeitnah und nicht nur Teilzeit oder „kleine Teilzeit“. Ein weiteres Thema ist Equal Pay. Der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen ist immer noch sehr groß. Wir sind immerhin um einen Prozentpunkt besser geworden. Der Unterschied beträgt nur noch 22 Prozent statt 23 Prozent. Ganz klasse! Herr Weiß hat uns gerade angepriesen, dass die Rente der Frauen immerhin schon 42 Prozent des Niveaus der Männer beträgt. Das ist toll. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die sogenannten typischen Frauenberufe schlechter bezahlt werden als die Männerberufe, aber auch damit, dass Frauen für gleiche Arbeit weniger Geld gezahlt wird als den Männern. Was fällt der Bundesregierung dazu ein? Sie unterstützen den Equal Pay Day mit Geld. Sie führen ein Messverfahren, das Logib-D-Verfahren, ein - das aber kein vernünftiges Messverfahren ist - und bieten den Unternehmen an, es freiwillig anzuwenden. Das ist alles. Wir haben den Entwurf eines Entgeltgleichheitsgesetzes in den Bundestag eingebracht. Sie machen nichts. Sie haben noch nicht einmal ein Konzept von wegen „Strategie“, Herr Weiß. Ich sage Ihnen: Wir werden nach der Bundestagswahl in diesem Haus ein Gesetz zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit beschließen, weil wir andere Mehrheiten haben werden. ({3}) Auch bei der Bewertung der sogenannten typischen Frauenberufe ist noch einiges zu tun. Warum derjenige, der unsere Waschmaschine repariert, ein höheres Einkommen bekommt, als diejenige, die unsere Kinder erzieht, erschließt sich mir nicht. Das hat etwas mit Gerechtigkeit, vor allen Dingen aber mit Wertschätzung zu tun. ({4}) Wir haben auch über Rahmenbedingungen zu sprechen. Rahmenbedingungen sind beispielsweise das Steuerrecht. Unser Steuerrecht privilegiert immer noch die Einverdienerehe mit dem Ehegattensplitting, mit der Steuerklasse V. Die Steuerklasse V ist eine der wesentlichen Hürden für Ehefrauen, wieder erwerbstätig zu werden, nachdem sie für die Kindererziehung ausgesetzt haben. Diese Steuerklasse V gehört abgeschafft und ersetzt durch das Faktorverfahren. Auch beim Ehegattensplitting müssen wir Änderungen vornehmen. Es ist nicht einzusehen, dass die Ehe begünstigt wird. Wir wollen eine Individualbesteuerung für neue Ehen, bei der die Unterhaltsverpflichtung gegenseitig steuerlich berücksichtigt wird. Dann ist die Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt anders; denn dann präjudiziert nicht mehr die steuerliche Besserstellung die Entscheidung, ob man Vollzeit erwerbstätig ist oder nicht. ({5}) Ein weiteres Thema ist die Teilung der Arbeit im Erwerbsleben, aber auch in der Familie. Dazu brauchen wir - das ist richtig, Herr Weiß - etwas anderes als die Dauerpräsenzkultur, die wir jetzt haben. Wo sind denn die Initiativen zu familienfreundlichen Arbeitszeiten? Wo sind die Initiativen dafür, dass man für einen befristeten Zeitraum seine Arbeitszeit auf Teilzeit oder vollzeitnahe Teilzeit reduzieren kann? Wo sind denn die Initiativen für ein besseres, geschlechtergerecht ausgestaltetes Elterngeld? Von Ihnen haben wir dazu bisher nichts gehört. ({6}) Ein wesentlicher Punkt bei der Rente ist der Nachteilsausgleich für diejenigen, die ihre Erwerbsbiografie nicht mehr umschreiben können. Da muss ich Ihnen sagen: Nehmen Sie sich ein Beispiel an unseren Vorschlägen! Ich greife nur einmal den Punkt „Solidarrente“ heraus, also die Fortführung der Rente nach Mindestentgeltpunkten. Würde diese Regelung zum 1. Januar in Kraft treten, machte das für diejenigen, die, sagen wir einmal: von 1992 bis Ende dieses Jahres die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient haben, 147 Euro mehr an Rente aus. Das bekommen Sie mit Ihrer Lebensleistungsrente nicht hin. Da geht es lediglich um Cent-Beträge am Tag, um nicht mehr und um nicht weniger. Wir haben hierzu Konzepte vorgelegt. Auf Ihre Konzepte warten wir noch. Ich prophezeie Ihnen: Sie werden sich in dieser Koalition auf nichts einigen können. Eines ist klar: Wenn wir die Altersarmut überwinden wollen, dann müssen wir die Erwerbsarmut überwinden. Das geht nur mit einer anderen Bundesregierung. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat der Bundesregierung eine Große Anfrage mit dem schönen Titel „Alterssicherung und Altersarmut von Frauen in Deutschland“ zur Beantwortung vorgelegt, die wir heute hier debattieren. Weil die Linken ja immer ein Haar in der Suppe finden müssen, ({0}) kommen sie auf Basis der genannten Zahlen zu dem Ergebnis, um die Alterssicherung von Frauen in Deutschland sei es sehr schlecht bestellt. So heißt es jedenfalls in Ihrem Entschließungsantrag. Zum Beleg führt die Kollegin Ploetz hier aus, dass die Frauen eine sehr niedrige Rente hätten - ich habe mir die Zahlen notiert -: 83,5 Prozent unter 850 Euro. Dazu möchte ich Folgendes anmerken: Wenn wir über Alterssicherung reden, Frau Kollegin Ploetz und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, dann müssen wir das netto verfügbare Gesamtalterseinkommen vor Augen haben. Dann reden wir aber nicht nur über Rente. Bei Frauen - das ist in dem Ergänzenden Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht auch so ausgeführt worden - ist zunächst natürlich die eigene erworbene Rente von Bedeutung, also das Ergebnis von Erwerbsarbeit unter dem Gesichtspunkt der Beitragsäquivalenz. Die Bundesregierung weist darauf hin, dass es darüber hinaus auch abgeleitete Leistungen und Leistungen des sozialen Ausgleichs gibt, die bei Frauen in besonderer Weise zum Tragen kommen. Wenn man das Ganze zusammenführt, dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Das hätten Sie der Antwort auf die Große Anfrage oder zumindest dem Ergänzenden Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht, nämlich der Tabelle C.4.1a, entnehmen können. Dort werden das persönliche Nettoeinkommen und das äquivalenzgewichtete Haushaltsnettoeinkommen von Verheirateten und Alleinstehenden, auch nach Geschlecht differenziert, dargestellt. Alleinstehende Frauen haben demnach im Schnitt ein persönliches Nettoeinkommen von 1 292 Euro; ebenso hoch ist natürlich auch ihr äquivalenzgewichtetes Haushaltsnetto. Bei verheirateten Frauen sieht es ganz anders aus. Sie haben zwar nur ein persönliches Nettoeinkommen von 686 Euro, aber ein äquivalenzgewichtetes Haushaltsnetto von 1 585 Euro. Deswegen lautet eine Antwort auf Ihren Entschließungsantrag: So wie Sie die Sache angehen, ist es nicht richtig. Ich weiß, es geht Ihnen um eine Standardisierung, darum, eine bestimmte These zu transportieren. Das ist ja Ihr Geschäftsmodell, mit dem Sie sich im politischen Wettbewerb versuchen zu behaupten. Die Zahlen geben das, was Sie behaupten, nämlich es sei um die Alterssicherung von Frauen in Deutschland sehr schlecht bestellt, jedoch nicht her. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, klar.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kolb, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben mit Ihrem Redebeitrag den Eindruck erweckt, es sei alles gar nicht so schlimm. Sie agieren mit Durchschnittszahlen nach dem Motto: Wenn der eine null Euro hat und der andere 1 Million Euro, dann haben beide im Durchschnitt eine halbe Million. Zu den armen Frauen haben Sie kein Wort verloren. Ich würde Sie doch bitten, einmal dazu Stellung zu nehmen, dass von dem Zeitpunkt der Einführung der Grundsicherung im Alter bis heute die Anzahl derer, die im Alter Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen, um 69 Prozent zugenommen hat und dass zwei Drittel davon Frauen sind. Insgesamt müssen heute schon 436 000 Menschen im Alter Grundsicherung in Anspruch nehmen. Das ist aber nur die offizielle Zahl. Es gibt eine Studie der Armutsforscherin Irene Becker, in der eine Dunkelziffer genannt wird; denn insbesondere viele Frauen sagen - die Kollegin Ploetz hat vorhin darauf hingewiesen -: Ich gehe nicht zum Sozialamt. Ich möchte eine Rente haben; ich möchte keine Sozialleistungen. - Diese Dunkelziffer liegt zwischen 60 und 68 Prozent, sodass wir schon heute von 1,1 bis 1,4 Millionen armen alten Menschen ausgehen müssen. Zwei Drittel davon sind Frauen. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist: In den neuen Bundesländern erhalten weit über 90 Prozent der Menschen nur die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung; bei den Frauen sind es sogar 95 Prozent. In diesem Fall können Sie nicht sagen: Da gibt es noch andere Alterseinkommen. - Die Betroffenen erhalten heute nichts aus Betriebsrenten, Lebensversicherungen oder Ähnlichem. ({0}) Das heißt, es gibt sehr viele ältere Frauen, die nichts anderes haben als diese mickrigen Rentenbeträge. Deswegen ist meine Frage an Sie: Wie steht denn Ihre Fraktion bzw. wie steht die Koalition zu der Forderung, endlich dafür zu sorgen, dass Müttern auch für die Kinder, die vor 1992 geboren sind, drei Entgeltpunkte auf dem Rentenkonto gutgeschrieben werden? Wie stehen Sie also zur Frage der Kindererziehungszeiten, und wie stehen Sie zur Rente nach Mindestentgeltpunkten? - Die Kollegin Ferner hatte das angesprochen. Alleine diese beiden Maßnahmen würden dazu beitragen, dass Hunderttausende - mittelfristig Millionen - von älteren Frauen aus der Altersarmut herauskämen. ({1})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben ja drei Punkte angesprochen. Sie werden ein bisschen länger stehen bleiben müssen, Herr Kollege Birkwald, wenn ich entsprechend Ihrer Fragen detailliert antworten soll. ({0}) Der erste Punkt ist die Grundsicherung im Alter. Dazu möchte ich grundsätzlich noch etwas ausführen. Wir haben in Deutschland so eine Neigung, ein Problem im sozialen Bereich zu identifizieren, dann eine Leistung zu gestalten, um dieses Problem anzugehen, aber dann hinterher „Skandal!“ zu rufen, wenn genau diese Leistung in Anspruch genommen wird. So funktioniert das im Moment bei der Grundsicherung im Alter. Wir haben sie ja nicht erfunden; das war Rot-Grün. Die Grundsicherung im Alter wurde ausdrücklich eingeführt, um Armut im Alter zu vermeiden. Aber jetzt sagen Sie, Herr Birkwald: Wenn jemand die Grundsicherung im Alter in Anspruch nimmt, dann ist er arm. - Die InanspruchDr. Heinrich L. Kolb nahme von Grundsicherung bedeutet entweder Armutsvermeidung oder Armut. Ich glaube, die Wahrheit liegt eher bei dem, was sich die Kollegen von Rot-Grün damals gedacht haben: Die Grundsicherung vermeidet Armut. ({1}) Der Frau Hoffmann, die Sie in Ihrem Beitrag zitiert haben, Frau Kollegin Ploetz, muss man wirklich sagen: Die Grundsicherung ist damals auch eingeführt worden, um zu vermeiden, dass es „verschämte“ Armut gibt. ({2}) Es gibt einen Anspruch auf Grundsicherung. Diejenigen, bei denen die Rente nicht reicht, haben das Recht - das ist ein soziales Recht, das wir als Leistung in unserem Sozialstaat eingeführt haben -, diese Leistung in Anspruch zu nehmen. ({3}) Ich bin immer noch bei Ihrer ersten Frage, Herr Kollege Birkwald. Sie haben die Situation der Frauen, die Grundsicherung beziehen, beschrieben. Aber wenn man eine Gesamtsicht herstellen will, dann muss man doch auch sagen, dass insgesamt unter 3 Prozent derjenigen, die älter als 65 sind, überhaupt Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen. Das zeigt doch sehr deutlich, dass das stimmt, was ich eingangs gesagt habe, nämlich dass die Skandalisierungsthese nicht trägt. Bei den allermeisten Personen in Deutschland reicht die eigene Altersvorsorge aus. Der zweite Punkt ist die Situation der Frauen in den neuen Bundesländern. Sie wissen so gut wie ich, Herr Birkwald, dass die Frauen in den neuen Bundesländern aufgrund der geschlossenen Erwerbsbiografien, die es in einer Vielzahl von Fällen gibt, eine deutlich höhere eigene Rente erhalten. Es ist richtig, dass sich das mit der privaten Vorsorge und der betrieblichen Altersvorsorge alles erst entwickeln muss. Aber ich glaube, der Trend muss uns ermutigen, der in dem Ergänzenden Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht in der Tabelle C.4.2 dargestellt worden ist: Je jünger die Frauen sind, desto höher ist der Anteil der eigenen Alterssicherung; denn heute erwerben, anders als früher, als ein anderes Partnerschaftsmodell gelebt wurde, mehr und mehr Frauen ihre eigenen Rentenansprüche. Deswegen kann man das, was Sie gesagt haben, nicht so stehen lassen. Zu Ihren anderen Fragen. Kindererziehungszeiten, Rente nach Mindestentgeltpunkten: Darüber diskutieren wir derzeit in der Koalition. Zu beiden Punkten ist zu sagen: Es kostet recht viel Geld. Aber darüber setzen Sie sich immer relativ locker hinweg. Ich sehe mir den Forderungsteil Ihres Entschließungsantrags an und erkenne: Sie haben da die eierlegende Rentenwollmilchsau erfunden; Geld spielt keine Rolle. ({4}) Alles, was nur irgendwie denkbar ist, Herr Kollege Birkwald, haben Sie am Ende niedergeschrieben. Das ist aber keine verantwortliche Rentenpolitik. Wir müssen uns natürlich auch danach richten, welche Mittel zur Verfügung stehen. Aber ich kann Ihnen sagen: Wir werden sicherlich einen eigenen Vorschlag in diesem Sinne vorlegen. ({5}) Bevor meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich Frau Ferner darauf hinweisen, dass es im Internet sicherlich nicht nur einen Teilzeit-Nettorechner gibt, sondern auch einen Rentenrechner. ({6}) Ich habe es auf die Schnelle nicht nachprüfen können; aber es würde mich sehr verwundern, wenn man im Internet nicht auch ausrechnen könnte, welchen Rentenanspruch man mit seinem Bruttoentgelt, das verbeitragt wird, erwerben kann. ({7}) Da haben Sie wirklich aus einer Mücke einen Elefanten gemacht; das muss man nicht machen. ({8}) Der letzte Punkt. Ich möchte ausnahmsweise der Kollegin Ploetz recht geben. Sie hat darauf hingewiesen, dass es bei der Grundsicherung im Alter einen Systemfehler gibt: Private und betriebliche Vorsorge werden angerechnet. Frau Kollegin Ploetz, auch wenn Sie das überrascht: Das sehen wir genauso; da gibt es heute einen Fehlanreiz im System, den man nach unserer Auffassung beseitigen sollte. Wenn wir Menschen ermutigen wollen, neben den Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung eigene Anstrengungen bei der Altersvorsorge zu unternehmen, darf es nicht sein, dass wir ihnen am Ende sagen: Ätsch, das hat sich aber nicht gelohnt; falls du in die Situation kommst, Grundsicherung beziehen zu müssen, wird dir alles angerechnet. - Wie gesagt: Das gehen wir an. ({9}) - Es wird zwar nicht mehr in diesem Jahr geschehen; ({10}) aber im Januar nächsten Jahres, lieber Toni Schaaf, ({11}) werden wir auf der Basis von Ergebnissen eine intensive Rentendebatte zu den Vorstellungen der Koalition führen können. ({12}) Bis dahin wünsche ich Ihnen eine ruhige Zeit zwischen den Jahren; wir alle haben sie uns verdient. Frohe Weihnachten, einen guten Rutsch und ein gutes neues Jahr 2013! Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Altersarmut in Deutschland ist weiblich. Das war schon das Ergebnis der Großen Anfrage, die wir, die grüne Bundestagsfraktion, letztes Jahr gestellt haben. Ich möchte eine Zahl aus der Antwort der Bundesregierung nennen; es sind keine Zahlen von uns. Herr Kolb, hören Sie vielleicht einmal zu; denn ich bin gerade dabei, etwas zu den eben von Ihnen genannten Zahlen klarzustellen. In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu dem Thema „Altersarmut in Deutschland“ wurde deutlich, dass es allein 1 Million alleinstehende Frauen mit einem Einkommen unter der Risikogrenze gibt. Diese Grenze liegt bei 930 Euro; das ist nicht sehr viel. Hinzu kommen 500 000 Frauen, die in Paarhaushalten leben, wenngleich sie in der Tat meist bessergestellt sind als alleinstehende Frauen. Insgesamt liegt das Einkommen von über 1,5 Millionen Frauen unter der Altersarmutsrisikogrenze: unter 930 Euro, wenn sie alleine leben, unter 700 Euro pro Kopf, wenn sie in einem Paarhaushalt leben. Sie würden wahrscheinlich sagen: Das ist noch nicht Armut. - Aber wir sind uns vielleicht einig: Das ist sehr wenig Geld. Wenn man die Grenze heruntersetzt, ist die Gruppe derjenigen, die tatsächlich von Armut betroffen sind, immer noch groß. Wie gesagt: Es sind hauptsächlich Frauen. Ich bin deswegen der Linken durchaus dankbar, dass sie mit einer weiteren Großen Anfrage an dieser Stelle nachgehakt hat und das Thema der Altersarmut von Frauen angeht. Der Kollege Peter Weiß tut mir fast schon ein bisschen leid, ({0}) weil ich weiß, dass Teile der CDU/CSU-Fraktion - mancher Sozialpolitiker, auch er - gerne etwas vorgelegt hätten, um die Altersarmut insgesamt und die Altersarmut von Frauen zu bekämpfen; aber da ist nichts. Ich habe in einer Fernsehdokumentation gesehen, dass die Bundesministerin schon als Kind beim Krippenspiel den Weihnachtsengel gespielt hat. Es ist erstaunlich - vielleicht auch nicht -, ({1}) dass sie heute nicht hier steht und sagt: Wir retten die armen alten Frauen. - Sie hat das in den letzten Jahren permanent angesprochen, nicht nur zur Weihnachtszeit. Aber mittlerweile ist klar: Der Lack ist ab; da wird in Sachen Bekämpfung von Altersarmut nichts mehr kommen. ({2}) Wenn man etwas gegen Altersarmut machen will, dann muss man in erster Linie bei den Ursachen ansetzen. Es gibt drei wichtige Ursachen, warum Frauen in der Altersarmut landen. Die erste Ursache ist: Frauen verdienen immer noch weniger als Männer. ({3}) Sie haben einen geringeren Lohn - es ist schon gesagt worden -: 22 bis 23 Prozent weniger Stundenlohn. Das müssen wir unbedingt beenden. Wir finden: Frauen verdienen mehr. ({4}) Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn, der Frauen ein höheres Einkommen beschert, wir brauchen endlich ein Gesetz gegen Entgeltdiskriminierung, wir brauchen Equal Pay im Leiharbeitssektor und vieles mehr, um die Schere zwischen Männern und Frauen bei der Bezahlung zu schließen. Der zweite Punkt. Frauen verdienen nicht nur pro Stunde weniger, sondern sie arbeiten auch weniger. Halt, falsch! Frauen arbeiten nicht weniger. Wenn man es genau nimmt, arbeiten Frauen mehr, aber der Erwerbstätigkeitsumfang von Frauen, die bezahlte Arbeit von Frauen ist geringer, sowohl in Wochenstunden als auch in Lebensarbeitszeit. Das heißt, sie haben weniger Lohn, weniger Erwerbsarbeitszeit, und das führt am Ende zu einer geringeren Rente. An diesem Punkt muss man unbedingt ansetzen. Wir brauchen Anreize und müssen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Frauen mehr arbeiten können, und zwar nicht nur in Minijobs, sondern in bezahlter, sozialversicherungspflichtiger Teilzeit- oder Vollzeitarbeit, damit am Ende ein ordentliches Einkommen und folglich eine ordentliche Rente herauskommen. ({5}) Ein wichtiger Punkt in Bezug auf diese Rahmenbedingungen ist schon angesprochen worden: In Deutschland wird die Alleinverdienerehe besonders subventioniert. Deswegen ist es überhaupt kein Wunder, dass der Gender Pay Gap, also der Unterschied bei den Löhnen, in Deutschland besonders groß ist. Am stärksten wird die Alleinverdienerehe durch das Ehegattensplitting subDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn ventioniert. Wir wollen das Ehegattensplitting abschaffen und durch eine Individualbesteuerung ersetzen, damit endlich Gleichheit herrscht und für Frauen ein Anreiz besteht, mehr erwerbstätig zu sein. ({6}) Gleichzeitig muss man eines deutlich machen: Wir brauchen zwar Anreize für Frauen, mehr zu verdienen, wir müssen aber umgekehrt auch dafür sorgen, dass Männer weniger arbeiten und sich mehr um die Kindererziehung kümmern. Nur so werden wir tatsächlich eine Gleichstellung zwischen Männern und Frauen im Erwerbsleben und auch in der Rente bekommen. Das Ehegattensplitting ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen die Rahmenbedingungen stärken. Die zwei Vätermonate in der Elternzeit reichen nicht aus, sie müssen ausgeweitet werden und vieles mehr. ({7}) Wir haben genügend Konzepte vorgelegt, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen im Erwerbsleben herstellen. Frau Ferner, es reicht nicht, Erwerbsarmut zu bekämpfen und die Gleichstellung von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt herzustellen, wir müssen auch die soziale Absicherung insbesondere von Frauen stärken. ({8}) Allein die Erwerbsarmut zu bekämpfen, reicht nicht aus, um Altersarmut zu vermeiden. ({9}) Derzeit ist es so: Bei einem Verdienst von 2 000 Euro braucht man 40 Jahre, um auf 30 Entgeltpunkte zu kommen, was ein bisschen über dem Grundsicherungsniveau liegt. Wenn man weniger verdient, weil man Teilzeit arbeitet oder einen Job mit Mindestlohn hat, dann liegt die Rente auch nach 40 Jahren nicht über dem Grundsicherungsniveau. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen das Rentenrecht so verändern, dass am Ende eine Rente herauskommt, die tatsächlich vor Armut schützt. ({10}) Da setzt man auch wieder im Lebensverlauf an. Unsere Perspektive ist langfristig die Bürgerversicherung. Da müssen wir schrittweise hinkommen. Ein wichtiger erster Schritt ist, die Minijobs wieder rentenversicherungspflichtig zu machen. Der Wechsel von Opt-in zu Opt-out reicht nicht aus. Vielmehr brauchen wir wieder eine Rentenversicherungspflicht für alle Menschen, die erwerbstätig sind. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass Nichterwerbstätigkeitsphasen besser abgesichert sind. In Paarhaushalten sollten die Rentenanwartschaften im Erwerbsverlauf geteilt werden. Es ist nicht einzusehen, dass eine Alleinverdienerehe vom Staat subventioniert wird; vielmehr sollten in einer Ehe die Anwartschaften geteilt werden. Das wäre solidarisch. Das würde eigentlich sogar zu einem konservativen Weltbild passen. ({11}) Das würde dazu führen, dass Frauen in längerfristiger Perspektive einen höheren eigenständigen Rentenanspruch erwerben und damit besser vor Altersarmut geschützt wären. ({12}) So viel zu den präventiven Maßnahmen, die alle notwendig sind. Wir sagen aber auch: Viele Erwerbsbiografien sind jetzt schon geschrieben. Wir müssen auch sicherstellen, dass bei allen Unwägbarkeiten, die im Lebensverlauf passieren können, am Ende für diejenigen, die lange in die Rentenversicherung eingezahlt haben, ein Mindestniveau gewährleistet ist, und zwar nicht in Form einer Lebensleistungsrente - eigentlich muss man ja „Rentchen“ sagen -, sondern in Form einer echten Garantierente, die auch diejenigen schützt, die tatsächlich von Altersarmut bedroht sind, insbesondere die Frauen. Wir haben ein Konzept für eine Garantierente vorgelegt. Wir sagen: Wer 30 Versicherungsjahre hat - alle rentenrechtlichen Versicherungszeiten zählen dazu -, soll eine Garantierente von 30 Entgeltpunkten erreichen. Das entspricht ungefähr 850 Euro. Damit muss man nicht mehr zum Grundsicherungsamt, wenn man lange in die Rentenversicherung eingezahlt hat. Dieses Konzept einer Garantierente haben wir durchrechnen lassen. Dabei haben wir festgestellt, dass 85 Prozent derjenigen, die diese Garantierente beziehen würden, Frauen sind. Das heißt, die Garantierente ist eine echte Frauenmindestrente. Sie schützt die Frauen vor Altersarmut. ({13}) Das unterscheidet unser Konzept stark von dem Konzept der CDU; allerdings kann man dabei ja noch nicht einmal von einem wirklichen Konzept reden. Da gibt es nichts außer dem Begriff „Lebensleistungsrente“ und der Festlegung auf 40 Beitragsjahre. ({14}) Eindeutig ist: 40 Beitragsjahre sind von den Frauen, die von Altersarmut bedroht sind, überhaupt nicht erreichbar. Bei der Solidarrente der SPD werden 40 Versicherungsjahre gefordert, von denen 30 Beitragsjahre sein müssen. Auch das ist von den meisten Frauen, die von Altersarmut bedroht sind, nicht zu erreichen. Das heißt, auch die SPD hat keine Antwort auf die drohende Altersarmut von Frauen. ({15}) Wir haben ein Konzept, mit dem wir die Frauen, die von Altersarmut bedroht sind, tatsächlich vor Altersarmut schützen können, mit dem wir sie davor bewahren können, dass sie nach langer Erwerbstätigkeit, langen Kindererziehungszeiten zum Sozialamt oder zum Grundsicherungsamt müssen. Sie erhalten eine Rente, die vor Armut schützt. ({16}) Da ich sehe, dass meine Redezeit vorbei ist, sage ich einen letzten Satz - ich habe gesagt, dass Frau von der Leyen schon als Kind den Weihnachtsengel gespielt hat -: Nächstes Jahr gibt es eine neue Ministerin oder einen neuen Minister, und dann werden wir uns daranmachen, die Altersarmut von Frauen endlich zu bekämpfen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heike Brehmer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verschließen die Augen nicht davor, dass durch veränderte wirtschaftliche und demographische Strukturen in Zukunft die Gefahr einer ansteigenden Altersarmut besteht. So steht es im Koalitionsvertrag unserer christlich-liberalen Koalition aus dem Jahr 2009. ({0}) Diese Aussage zeigt, dass wir den Kampf gegen Altersarmut bereits zu Beginn unserer Legislaturperiode fest in unserer Agenda verankert haben. ({1}) Ich kann die Aussage aus unserem Koalitionsvertrag nur wiederholen und bestätigen: Unsere christlich-liberale Koalition verschließt nicht die Augen vor dem Problem der Altersarmut ({2}) und widmet sich dem Thema mit einem hohen Maß an politischer Verantwortung. ({3}) Es war unsere Bundesarbeitsministerin, Frau von der Leyen, welche mit ihrem Regierungsdialog Rente ({4}) das Thema Altersarmut aufgegriffen und es zu einem wichtigen Handlungsfeld unserer Politik gemacht hat. Wir dürfen nicht vergessen, um wen es hier geht: Es geht um die vielen Menschen in unserer Bundesrepublik, vor allem Frauen, die Zeit ihres Lebens fleißig und hart gearbeitet haben. Sie haben in die Rentenkasse eingezahlt, sie haben aber auch ihre Kinder erzogen oder Familienangehörige gepflegt. Die Lebensleistung dieser Frauen verdient Anerkennung und großen Respekt, auch in der Alterssicherung. ({5}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, Sie nutzen Ihre Anfrage an die Bundesregierung wieder einmal, um mit den Emotionen unserer Bürgerinnen und Bürger zu spielen. Anstatt sich sachlich mit dem Thema auseinanderzusetzen, ist in Ihrer Anfrage von „unzureichender“ sozialer Absicherung die Rede. ({6}) Fakt ist: Die Rente ist und bleibt ein Spiegel unseres gesamten Erwerbslebens. ({7}) In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass viele Seniorinnen heute Witwenrente bekommen und davon leben müssen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bitte vergessen Sie nicht, dass die Rolle der Frau früher eine andere war als heute. ({8}) Insbesondere in den alten Bundesländern waren die Frauen meist zu Hause und haben die Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt. Selbst in der ehemaligen DDR - ich spreche hier als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern - sind viele Frauen zu Hause geblieben. Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass meine Mutti zu Hause war und uns Kinder zu Hause erzogen hat. Wir waren nicht im Kindergarten und auch nicht im Hort, weil es selbst zu DDR-Zeiten nicht genügend Plätze gab. ({9}) Woher sollen heute die Rentenleistungen für unsere Seniorinnen kommen, welche circa 70 Jahre oder älter sind? Inzwischen hat sich das Bild der Frau verändert. Fakt ist, dass in den letzten Jahren die Erwerbstätigenquote von Frauen in Deutschland überproportional gestiegen ist. Die Anzahl derer, die eine zusätzliche Altersvorsorge in Anspruch nehmen, ist unter Frauen sogar höher als bei Männern. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage deutlich hervor. Von einer, wie Sie es nennen, „unzureichenden Absicherung“ bei Frauen kann also nicht die Rede sein. ({10}) Wir müssen unsere Altersvorsorge zukunftsfest machen. Eine nachhaltige Vorsorge muss auf drei Säulen beruhen: erstens die gesetzliche Rentenversicherung, die das Kernstück unserer Altersvorsorge ist, zweitens die private Vorsorge und drittens die betriebliche Altersvorsorge. ({11}) Wir in der CDU/CSU wollen, dass jeder, der Zeit seines Lebens gearbeitet und vorgesorgt hat, im Alter von seiner Rente leben kann und ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung bekommt. ({12}) Wir wollen, dass wir die Anerkennung der Beitragszeiten von Frauen, die Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, schrittweise verbessern. ({13}) Das gilt insbesondere für diejenigen Frauen, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben. ({14}) Mit ihrer Entscheidung für ein oder mehrere Kinder haben diese Mütter einen wesentlichen Beitrag für unsere Rentenversicherung geleistet. Das sollten wir nicht vergessen. ({15}) Wir haben auf unserem Bundesparteitag in Hannover die schrittweise Anerkennung dieser Lebensleistung in unserem Beschluss „Sichere Rente - starker Generationenvertrag“ auf den Weg gebracht. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strengmann-Kuhn?

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) CDU und CSU waren es auch, die im Jahr 1986 erstmals Familienleistungen in der Rentenversicherung anerkannt und diese schrittweise ausgebaut haben. Um unsere Rentnerinnen vor einer möglichen Altersarmut zu schützen, wollen wir daran anknüpfen und auch weiterhin an unseren Überzeugungen festhalten. Wir wollen und werden uns auch künftig dieser Thematik widmen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, in Ihrem Entschließungsantrag fordern Sie kostenlose Kitaplätze. Sie wissen schon, dass nicht nur der Ausbau der Kindertagesstätten viel Geld kostet, sondern auch die Betreibung, und dass kostenlose Kindergartenplätze die Kommunen, kreisfreien Städte und Länder zusätzlich schwer belasten würden? Der Landtag in Sachsen-Anhalt hat gestern die Änderung des Kinderförderungsgesetzes beschlossen. Bisher haben Eltern, die zu Hause und nicht berufstätig sind, nur einen gesetzlichen Anspruch auf Halbtagsbetreuung ihrer Kinder. Der Landtag hat nun beschlossen, dass alle Kinder einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung haben. Diese Änderung kostet das Land ab dem Jahr 2016 jährlich 53 Millionen Euro. Diese fallen zusätzlich zu den aktuell 184 Millionen Euro, die das Land bereits zahlt, an. ({1}) Ich möchte nur noch darauf hinweisen, dass auch wir uns kostenlose Kindertagesbetreuung nicht leisten können. Wir wollen junge Familien mit Kindern finanziell entlasten. Das geschieht in erster Linie durch das Kindergeld und durch die steuerlichen Freibeträge. Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion hat sich für eine Verbesserung dieser Familienleistungen eingesetzt. Wir haben das Kindergeld um 20 Euro pro Kind und Monat erhöht: für das erste und das zweite Kind auf 184 Euro, für das dritte Kind auf 190 Euro und für alle weiteren Kinder auf 215 Euro im Monat. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle an die Blockadehaltung der SPD, der Grünen und der Linken im Bundesrat erinnern. Auch im Hinblick auf den Abbau der kalten Progression in der Einkommensteuer konnten Sie sich im Vermittlungsausschuss diese Woche nicht einigen. ({3}) SPD, Grüne und auch die Linken sorgen im Bundesrat weiterhin dafür, dass die hart arbeitenden Menschen in unserem Land ab Januar 2013 weiterhin hoch besteuert werden. ({4}) Vielleicht denken Sie einmal an die Menschen mit einem kleinen Portemonnaie, die sich etwas für die private Altersvorsorge zurücklegen wollen. Hier könnten Sie im Bundesrat Ihrer Verantwortung nachkommen. ({5}) Verehrte Kollegen von den Linken, in Ihrer Großen Anfrage geht es unter anderem um die Beschäftigungszahlen der Frauen in Ost- und Westdeutschland. Als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern ({6}) möchte ich Ihnen gerne meine Ansicht dazu schildern. In den neuen Bundesländern waren nach der Wiedervereinigung viele Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig. Viele Bürger, darunter viele Frauen, verloren ihren Arbeitsplatz. Verehrte Kollegen von den Linken, das sind die Folgen der verfehlten Politik der SED-Diktatur. ({7}) Sie reden in Ihrer Großen Anfrage von Altersarmut und „unzureichender“ Alterssicherung. Der Normalbürger zu DDR-Zeiten - daran möchte ich Sie gerne erinnern hätte im Durchschnitt vielleicht 340 Ostmark Rente erhalten. Ich möchte auch daran erinnern, dass es damals weder Arbeitslosengeld noch eine Grundsicherung im Alter gab. ({8}) Ich möchte zum Abschluss meiner Rede kommen. Wir haben in der heutigen Debatte die sozialen Herausforderungen diskutiert - und tun es noch -, die an uns Frauen gestellt werden. Die christlich-liberale Koalition nimmt diese Herausforderungen an. Dieses Thema ist bei unserem Ministerium, bei unserer Ministerin in sehr guten Händen. Für uns in der Union gehört es zu unseren festen Überzeugungen, dass das Ziel einer menschlichen Gesellschaft nur erreicht werden kann, wenn Frauen in allen Bereichen dieser Gesellschaft mitwirken. Eine gleichberechtigte Teilhabe von Mann und Frau ist dafür eine Grundvoraussetzung. ({9}) Das gilt auch bei der Absicherung im Alter. Um dem Problem der Altersarmut zu begegnen, werden wir uns auch zukünftig mit viel Herz und Verstand für die Belange unserer Frauen einsetzen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Anton Schaaf für die SPD-Fraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Brehmer, Sie können alle Themen dieser Erde ansprechen; es wird aber nicht funktionieren, davon abzulenken, dass Sie in dieser Legislaturperiode rentenpolitisch völlig gescheitert sind. ({0}) Ich weiß, wie das in Koalitionen ist: Da muss man Kompromisse machen, und manche Wege sind schwierig zu gehen. Das ist auch in Ordnung. Ich habe zwei Koalitionen gemacht; die eine war etwas besser als die andere. ({1}) Was ich der Union und dieser Ministerin allerdings nicht durchgehen lassen kann, ist, dass Sie zugelassen haben, dass Rentenpolitik in diesem Lande zur Klientelpolitik verkommt. ({2}) Sie sind mit hehren Zielen gestartet. Gehen wir die Punkte einmal durch: Rentenangleichung Ost/West: völlige Fehlanzeige, Frau Brehmer. Vermeidung von Altersarmut, im Koalitionsvertrag vereinbart: völlige Fehlanzeige in dieser Legislaturperiode. Rente nach Mindesteinkommen stand in Ihrem Konzept: völlige Fehlanzeige. Erwerbsminderungsrente: Fehlanzeige. Dann startet die Ministerin durch, mit einem riesigen medialen Aufwand, mit ihrem Vorstoß zu einer Zuschussrente. Auch dieses Konzept ist in der Koalition völlig gescheitert. Heraus kommt eine „Lebensleistungsrente“. Da müssen wir über Klientelpolitik reden. Für diese „Lebensleistungsrente“ sollen die Menschen erst einmal ganz viele Jahre gearbeitet und Beiträge gezahlt haben. Das reicht aber nicht aus als Bemessungsgrundlage für eine „Lebensleistungsrente“. Es geht Ihnen also überhaupt nicht um die Lebensleistung der Menschen. Vielmehr sollen die Menschen diese Rente nur dann bekommen, wenn sie zusätzlich langjährig privat vorgesorgt haben. Das ist Klientelpolitik, meine Damen und Herren, und zwar zugunsten der Versicherungswirtschaft. ({3}) Wie sieht Ihre Bilanz dieser Legislaturperiode aus? Was haben Sie diesem Parlament real vorgelegt? Nur eines hat das Parlament tatsächlich erreicht - wir hatten dazu am Montag eine Anhörung -: Das ist die steuerliche Besserstellung für Selbstständige, die eine RürupRente abgeschlossen haben. Das ist auch Klientelpolitik und nichts anderes. Das ist das, was die Rentenpolitik dieser Regierung und dieser Koalition in dieser Legislaturperiode ausgemacht hat. Wenn man einen Strich darunter zieht, dann sieht man, dass Sie für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nichts gemacht haben - und schon gar nicht für die Frauen in diesem Lande. ({4}) Dann wurde es abenteuerlich und, wie ich finde, schäbig - um das ehrlich zu sagen. Der CDU-Parteitag hat, wie ich finde, richtigerweise beschlossen, dass man etwas für die Frauen tun muss, die vor 1992 Kinder geboren haben. ({5}) - Bis hierhin bin ich ja bei Ihnen. ({6}) Einen Tag später kam der Bundesfinanzminister um die Ecke und sagte: Wir machen bei dem Thema nichts, weil wir für Griechenland haften müssen. - So etwas an Schäbigkeit habe ich schon lange nicht mehr gehört um ehrlich zu sein. ({7}) Entweder belügen Sie die Öffentlichkeit, wenn es darum geht, wie wir für Griechenland, die Finanzkrise und die schwierige Situation in den südeuropäischen Ländern haften, oder Sie spielen tatsächlich mit Ressentiments gegen die südeuropäischen Länder und insbesondere Griechenland, um nicht Geld in die Hand nehmen zu müssen und Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, besserzustellen. Das und nichts anderes ist doch der Hintergrund. Ich habe keinen Widerspruch aus Ihren Reihen dazu gehört. An der Stelle habe ich nur den tapfer kämpfenden Peter Weiß erlebt, der in seiner völligen Verzweiflung vorgeschlagen hat, nur die Frauen besserzustellen, die mehrere Kinder vor 1992 geboren haben. In seiner Verzweiflung hat er selbst zu diesem Trick noch gegriffen. Aber selbst dieser Trick ist gescheitert, Peter; selbst dabei kommt nichts heraus. Um wirklich voranzukommen, hätten Sie zumindest die Erziehungsleistung von Frauen in Ost- und Westdeutschland einfach gleichermaßen anerkennen können. Selbst das, die Erziehungsleistungen in Ost und West in der Rente gleichzustellen, haben Sie nicht hinbekommen. Selbst dazu waren Sie in keinster Weise in der Lage. ({8}) Von Ihren Strategien ist am Ende also nicht viel übrig geblieben. Schauen wir uns noch einmal die Lebensleistungsrente an. Gestern, am 13. Dezember, dem Geburtstag meiner Mama, die ich von hier aus zu ihrem Geburtstag noch einmal grüße, ({9}) schrieb die Welt - Herr Präsident, ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis -: „Rentenreform droht endgültig zu scheitern“. Das, was Sie als Rentenreform bezeichnen, Ihr Vorschlag der Lebensleistungsrente, droht jetzt also endgültig zu scheitern. Ihr geschätzter Kollege Straubinger Max, CSU, wird in diesem Artikel zitiert. ({10}) Dort steht: Straubinger machte deutlich, dass auch die CSU bei der Lebensleistungsrente mehr Probleme als Lösungen sieht. Ja, Sie verursachen neue Probleme und Ungleichheiten. Der Straubinger Max hat recht. Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm! ({11}) Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Anmerkungen machen: Ich finde, die Saarbrücker Zeitung hat etwas Schönes geschrieben - Herr Präsident, ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis -: Die Union möchte dem Rentenkonzept der SPD etwas Greifbares entgegensetzen. Aber die FDP hat daran offenkundig wenig Interesse. Sie lassen sich von dieser kleinen Klientelpartei auch in der Rentenpolitik mit dem Nasenring durch die Arena ziehen. Das ist das, was tatsächlich dabei herauskommt. ({12}) Deswegen werden Sie in dieser Legislaturperiode mit Sicherheit auch nichts mehr hinkriegen. Herr Strengmann-Kuhn, wir sind an der einen oder anderen Stelle vielleicht noch nicht ganz beieinander, aber ich bin mir sicher: Ab September nächsten Jahres werden wir uns relativ zügig auf den Weg machen, um Antworten auf die Fragen zu geben, wie wir Altersarmut verhindern und Frauen auch im Rentenrecht besserstellen können. Ich bin mir sicher: Wir kriegen das zügig hin. Die kriegen das auf gar keinen Fall hin. Danke. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Toni Schaaf, eines muss sich diese Regierungskoalition von der SPD mit Sicherheit nicht vorwerfen lassen, nämlich dass wir für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nichts gemacht hätten. ({0}) Wir haben eine Politik gemacht, die so viele Menschen wie seit Jahrzehnten nicht mehr in Arbeit gebracht hat. Das ist eine Leistung dieser Regierungskoalition, die sich sehen lassen kann, Toni. ({1}) - Deine Nervosität zeigt, dass wir recht haben. ({2}) Wir sind die wahre Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenpartei, nicht ihr. Wir bringen die Menschen in Arbeit, und das ist das Wichtigste, wenn es um rentenpolitische Fragen geht. ({3}) Toni Schaaf, auch ich grüße deine Mutter, die gestern Geburtstag hatte, von diesem Ort aus. Während dieser Rentendebatte habe ich eine SMS von einem Freund bekommen, dem gerade ein Sohn, Julius Paul Konstantin, mit 53 Zentimetern und 3 440 Gramm geboren wurde. ({4}) Auch für die Generation dieser Kinder, die jetzt geboren werden, müssen wir Politik machen, auch an sie müssen wir denken, wenn wir in der Rentenpolitik etwas erreichen wollen, ({5}) weil alles von künftigen Generationen bezahlt werden muss, entweder über Beiträge oder über Steuern. Lieber Toni Schaaf, liebe Frau Ferner, liebe SPD, Sie sollten in der Debatte schon ehrlich sein. Sie tun so, als ob man mit der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns - der Mindestlohn ist eine Forderung in Ihrem Wahlkampf - von 8,50 Euro in ganz Deutschland etwas gegen Altersarmut erreichen könnte. ({6}) Dann sollten Sie zumindest so ehrlich sein, einmal vorzurechnen, wie viel man denn in Deutschland verdienen müsste, um, wenn man 40 Jahre lang ganztägig arbeitet, auf einen Rentenanspruch zu kommen, der höher als die gegenwärtige Grundsicherung ist. ({7}) Da müssen Sie 14, 15 oder 16 Euro die Stunde verdienen, nicht die 8,50 Euro, die Sie hier propagieren. Sie streuen mit Ihrer Forderung den Menschen Sand in die Augen und machen ihnen Hoffnungen, die Sie in keiner Weise erfüllen können. ({8}) Diese Regierungskoalition macht eine erfolgreiche Politik, auch wenn es um die Erwerbstätigkeit von Frauen geht. Es ist richtig: Gerade bei Frauen müssen wir weitere Anstrengungen unternehmen, damit sie bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Ein wichtiger Schlüssel dafür ist die Kinderbetreuung. Die Bundesregierung hat - daran waren Sie beteiligt - den Ausbau der Kinderbetreuung bereits mit 4,6 Milliarden Euro forciert. Jetzt sind allerdings auch die Länder gefordert, auch die, in denen Sie Regierungsverantwortung haben, ({9}) ihren Teil der Zusagen einzuhalten und eine ausreichende Kinderbetreuung sicherzustellen. Aber auch wir lassen nicht nach. Diese Regierungskoalition unterstützt den Betrieb und den weiteren Ausbau der Kinderbetreuung ab 2014 mit jährlich 845 Millionen Euro. Das kann sich sehen lassen. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Chancen für Frauen am Arbeitsmarkt. ({10}) Darüber hinaus unterstützt die Bundesregierung beispielsweise mit dem Programm „Perspektive Wiedereinstieg“ Frauen und ihre Partner im Prozess des beruflichen Wiedereinstiegs. ({11}) Mit über 650 lokalen Bündnissen für Familien vernetzen wir Akteure aus Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft. So verbessern wir die Lebensbedingungen von Familien, von Eltern und erleichtern den Wiedereinstieg in den Beruf. Wir müssen aber auch insgesamt an einigen Stellen in der Gesellschaft umdenken, beispielsweise wenn es um die Berufswahl von Frauen geht. Auch das, Frau Ferner, ist ein wichtiger Punkt; denn wir sehen, dass sich 50 Prozent aller jungen Frauen auf nur 10 Prozent von den rund 350 existierenden Ausbildungsberufen konzentrieren, und zwar häufig im Dienstleistungsbereich, etwa als Verkäuferin, Arzthelferin, Friseurin, wo es eher geringere Karriere- und Verdienstmöglichkeiten gibt. Da muss man die jungen Frauen ermutigen, neue und andere Berufsbilder zu entdecken, damit sie die gleichen Chancen wie die Männer haben. ({12}) - Nein, Frau Ferner, Frauen sind nicht selber daran schuld. Aber jeder kann seinen Beitrag leisten. Wir sind bereit, das zu tun. Liebe Frau Ferner, wenn Sie wirklich etwas gegen Altersarmut und für die Erwerbstätigkeit von Frauen tun wollen, dann wählen Sie bei der nächsten Bundestagswahl diese Bundesregierung. ({13}) Damit werden Sie dieses Ziel erreichen. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich stelle noch einmal fest: Niedriglöhne und Minijobs ergeben eine schlechte Rente. ({0}) Frauen sind davon besonders betroffen. Überraschung! All das haben wir vorher nicht gewusst. Jetzt wissen wir es genau, und zwar allein wegen dieser Anfrage. 70 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor sind Frauen. Zwei Drittel aller Minijobber sind weiblich. Die Folge: Frauen sind häufiger auf Grundsicherung im Alter angewiesen und von Armut im Alter bedroht, egal was Herr Kolb von der FDP dazu sagt. Aber es kommt noch dicker: Selbst in normalen Arbeitsverhältnissen sind Frauen schlechter gestellt als ihre männlichen Kollegen. Frauen verdienen im Durchschnitt - das haben auch andere schon gesagt - 22 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. ({1}) Als ich in Hameln bei der IG Metall angefangen habe zu arbeiten, war das große Thema der AEG-Frauen die Abschaffung der Niedriglohngruppen. Die Abschaffung dieser unteren Entgeltgruppen ist gelungen. Dafür haben wir gekämpft. ({2}) Heute gibt es die Lohngruppe 1 nicht mehr. Die Diskriminierung von Frauen in vielen anderen Bereichen und Arbeitsbereichen ist aber geblieben und hat sich sogar teilweise noch verstärkt. Meine Damen und Herren von der Koalition, was ist so schwer daran, wirksam gegen Altersarmut vorzugehen? Man bräuchte doch nur einen Mindestlohn einzuführen. Das wäre doch wirklich nicht schwierig. ({3}) Stattdessen doktern Sie mit völlig untauglichen Mitteln an den Ergebnissen Ihrer Niedriglohnpolitik herum und versagen bei der Gleichstellungspolitik. Damit muss Schluss sein. ({4}) Ihre Miniaufstockung von Renten mit dem zynischen Namen „Lebensleistungsrente“ für Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, wird kaum bei den Frauen ankommen, weil die meisten Frauen gar nicht so viele Beitragsjahre zusammenbekommen. Auch bei der Bekämpfung einer anderen Ursache niedriger Frauenrenten versagen Sie. Abgesehen von schlechten Löhnen sind auch längere Erwerbsunterbrechungen wegen Kindererziehung und Pflege ein Grund für niedrige Renten von Frauen. Denn immer noch sind meistens sie es, die zu Hause die Kinder erziehen und Angehörige pflegen. Wir brauchen endlich eine funktionierende Infrastruktur für Erziehung und Pflege, damit auch Frauen in ihren Berufen tätig bleiben können. ({5}) Statt das anzugehen, wollen Sie sich den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz billig durch das Betreuungsgeld abkaufen lassen oder setzen auf schlecht bezahlte und kaum abgesicherte Tagesmütter, die ihrerseits wahrscheinlich auch in der Altersarmut landen werden. Zusätzlich brauchen wir genau in den Bereichen, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, gute Arbeitsbedingungen und gute Löhne. Die Linke sagt: Wir brauchen familienfreundliche Arbeitszeiten und eine Arbeitskultur, in der nicht diejenigen der tolle Hecht oder die tolle Frau sind, die bis 20 Uhr im Büro sitzen, sondern diejenigen, die spätestens um 17 Uhr alles geschafft haben und dann ihre Kinder abholen können, um mit ihren Familien zusammen leben zu können. Die Linke sagt: Wir brauchen eine Pflegeversicherung, die diesen Namen auch verdient und die eine Pflege ermöglicht, in deren Hände man seine Eltern und Großeltern gerne gibt. ({6}) Die Linke sagt außerdem: Um Minirenten zu verhindern, müssen wir Minijobs abschaffen, einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro einführen und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verbessern. ({7}) Aber gute Löhne können nur dann zu guten Renten führen, wenn das Rentenniveau insgesamt ausreichend hoch ist. Das ist nicht mehr der Fall und wird für viele, egal ob Männer oder Frauen, in die Altersarmut führen, wenn Sie nicht gegensteuern. Es bleibt dabei: Wir brauchen einen grundlegenden Kurswechsel in der Arbeits- und Rentenpolitik, auch und gerade für Frauen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf den eigentlichen Anlass dieser Debatte zurückkommen, nämlich die Große Anfrage, die Sie als Linke an die Bundesregierung gerichtet haben. Das Thema ist wichtig, wie auch Redner unserer Fraktion schon gesagt haben, aber für mich bzw. für uns ist die Fragestellung irgendwie seltsam. Denn es wirkt so, als hätte es zwischen den Aussagen, die Sie in der Einleitung zu Ihrer Großen Anfrage gemacht haben, und den Aussagen, die Sie jetzt machen, keine Antwort gegeben. Es wirkt, als wären Sie schon voreingenommen und wüssten die Antwort schon vorher, wollten sie aber noch einmal bestätigt haben. Sie klauben sich ein Stück weit einfach das heraus, was Sie bestätigt. Ich lese einfach ein paar kurze Passagen aus Ihrer Großen Anfrage vor: „Frauen sind …“, „Sie haben …“, „Sie verfügen …“, „Sie sind …“. Das stammt nur aus den ersten sechs oder sieben Zeilen der Anfrage. ({0}) Dann stellen Sie Fragen und machen jetzt, nachdem Sie die Antwort der Bundesregierung bekommen haben, die gleichen Aussagen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass dazwischen Dinge widerlegt worden sind. ({1}) - Die sind ja auch entsprechend ausgefallen. - Für uns ist das ein wichtiges Thema. Mich erinnert Ihr Vorgehen an die Szenerie - ich weiß nicht, ob Sie diese kennen -, in der ein Mann einen Pfeil sieht, der in einer Scheunenwand steckt, und dann herausfindet, dass dieser Pfeil im Schwarzen einer Zielscheibe steckt. ({2}) Später stellt sich heraus, dass die Zielscheibe um den Pfeil herum gemalt wurde. Genauso verhält es sich mit Ihrer Großen Anfrage. Sie haben die Antworten schon vorweggenommen. ({3}) Im Einstiegstext zu Ihrer Großen Anfrage sagen Sie, was Sie denken. Welchen Sinn machen Fragen, wenn schon in der Vorbemerkung Folgendes behauptet wird: Die bisher bekannt gewordenen Vorhaben … sind jedoch nicht geeignet, dem Problem der Altersarmut und unzureichenden Absicherung von Frauen für das Alter in adäquater und ausreichender Weise zu begegnen. (Beifall des Abg. Jörn Wunderlich ({4}) Weiter heißt es: Die darüber hinaus anvisierten rentenrechtlichen Änderungen sind ebenfalls nicht geeignet, das Problem im Kern zu lösen. ({5}) Dann gibt es falsche Behauptungen. In Frage 33 Ihrer 80 Fragen heißt es: Wie bewertet die Bundesregierung den Trend der Abnahme weiblicher Vollzeitbeschäftigung …? In der Kleinen Anfrage, die Sie letztes Mal gestellt haben, wurde darauf bereits geantwortet: Diesen Trend gibt es gar nicht. In einer anderen Frage werden Sie darauf hingewiesen, dass Sie die Antwort auf Ihre Frage in dem vorangegangenen Satz hätten finden können. Ich finde, das Thema ist zu wichtig, als dass wir so einfältig und leichtfertig damit umgehen sollten. ({6}) Ich kann mich an dieser Stelle des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie offensichtlich das politische Ziel sozialistischer Färbung haben, ({7}) ein Stück weit einen Angriff auf die Kernwerte unserer Gesellschaft zu starten, und das wird dann auch noch als solidarisch dargestellt. ({8}) Ihr Entschließungsantrag enthält Forderungen wie die Abschaffung des Ehegattensplittings und des Betreuungsgeldes. ({9}) Kann es sein, dass Sie freiwilligen Verzicht von Bürgern auf Erwerbsarbeit zugunsten von Erziehung einfach nicht zulassen wollen?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Binder?

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, im Moment nicht. Ich möchte zum Punkt kommen. ({0}) Politik darf doch den Lebensentwurf von Familien nicht so stark beeinflussen, von Eingriffen in andere Autonomiebereiche ganz zu schweigen. Meine Kollegin Brehmer hat am Anfang gesagt, dass die Rente für uns als christlich-liberale Verantwortungsträger Erwerbsbiografie, Erziehungsleistung und pflegerische Tätigkeit widerspiegeln und so die Versorgung im Alter sichern und die Lebensleistung tatsächlich würdigen soll. Ich habe gesagt: eine wichtige Debatte. Die Debatte wird auf jeden Fall zum richtigen Zeitpunkt geführt. In diesem Jahr haben nicht nur Sie, meine Damen und Herren von der Linken, diese Anfrage gestellt. Frau von der Leyen ist teilweise verbal fast dafür vermöbelt worden, dass sie auf Altersarmut als Problem hingewiesen hat. ({1}) Man hat ihr vorgeworfen, hier ein Angstszenario zu skizzieren. Wir nehmen dieses Thema in den Fokus. Ich zitiere: Die Bundesregierung sieht, dass durch veränderte wirtschaftliche Strukturen und den demografischen Wandel in Zukunft die Gefahr besteht, dass Altersarmut zunimmt. ({2}) Weiter heißt es: Vor diesem Hintergrund und der Notwendigkeit, im Hinblick auf die Alterssicherung auch den Haushaltszusammenhang und abgeleitete Alterssicherungsansprüche zu berücksichtigen, kann von einer besonders unzureichenden sozialen Absicherung von Frauen … nicht die Rede sein. Der Anteil von Frauen, die im Alter Leistungen der Grundsicherung beziehen, ist sehr gering. Es ist eine wichtige Debatte mit einem konstruktiven Ausblick. Die drei Säulen wurden bereits genannt: die gesetzliche Rente, die betriebliche Altersvorsorge und die private Vorsorge. Herr Strengmann-Kuhn hat vorhin immer wieder gefragt: Was tut die Bundesregierung? ({3}) Herr Kober hat bereits auf den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz und den bedarfsgerechten Ausbau der qualitativ hochwertigen Kinderbetreuungsinfrastruktur hingewiesen. Die Bundesregierung fordert Unternehmen auf, die Einrichtung betrieblicher Betreuungsplätze zu fördern. Meine Redezeit reicht nicht aus, um all das, was die Bundesregierung tut, aufzulisten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. In der heutigen Ausgabe des Tagesspiegel wird das noch einmal bestätigt. Es kommt nicht nur bei den Betrieben, sondern auch bei den Familien an: Eltern wählen ihren Arbeitgeber immer stärker nach der Familienfreundlichkeit aus. Wenn das Signal nicht deutlich genug ist! Ein wichtiges Thema mit einer seltsamen Fragestellung,

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege!

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- eine wichtige Debatte zum richtigen Zeitpunkt. ({0}) Aber wir brauchen auch einen konstruktiven Ausblick. Wir laden Sie zu weiteren Debatten ganz herzlich ein. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin eigentlich erstaunt darüber, dass die Bundesregierung bislang hier nicht das Wort ergriffen hat. ({0}) - Bitte? ({1}) Wir haben hier eine Debatte über die schriftliche Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage. ({2}) Diese Antwort der Bundesregierung ist in den Debattenbeiträgen mehrfach in Zweifel gezogen worden. ({3}) Hier sitzt die amtierende Bundesministerin und hat es bislang nicht nötig, im Parlament zu dem Thema zu reden. Hier sitzt der Staatssekretär Fuchtel, ausgestattet mit einer neuen Brille, und hat es nicht nötig, hier im Parlament zu dem Thema zu reden. ({4}) Das geht einfach nicht. ({5}) - Die ist wirklich gewöhnungsbedürftig. Dieses Gerät ist gewöhnungsbedürftig, Herr Staatssekretär, aber das ist ein anderes Thema. ({6}) Die Vorredner haben schon zusammengefasst, um was es sich hier handelt: Pannen, Pleiten, Pech. Weiß der Teufel, was hier zustande gekommen ist. Nichts. Schauen Sie sich die Ankündigungen der letzten Jahre und die Koalitionsvereinbarung an. Ich habe alleine schon wegen des Rentendebakels große Zweifel, ob es sich bei dieser Koalition um eine christlich-liberale Koalition handelt. ({7}) Es handelt sich ohne Zweifel um eine liberale Koalition, aber was den christlichen Teil betrifft, sind einige Fragezeichen angebracht. ({8}) - Große Fragezeichen. - Schauen wir uns an, was zu guter Letzt dabei herausgekommen ist. Auch hier gilt der Satz von Altkanzler Helmut Kohl. Eine seiner berühmtesten Erkenntnisse war ja: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. - Hier ist hinten bislang nichts herausgekommen. ({9}) Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, kommt denn noch etwas hinten heraus? ({10}) Der Kollege Schiewerling leitet eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Versuch beschäftigen soll, die verschiedenen Überlegungen, die seit Jahren auf dem Koalitionsmarkt sind, jetzt erneut zusammenzufügen. Ich entnehme der Presse, dass der Kollege Schiewerling die Arbeitsgruppe nicht mehr einberuft. ({11}) - Das kann man in den Zeitungen nachlesen. ({12}) Herr Kollege Schiewerling, haben Sie jede Hoffnung aufgegeben? Hier ist Schluss mit lustig, es findet nichts mehr statt. ({13}) Ich habe in meinem ganzen parlamentarischen Leben kein vergleichbares Beispiel dafür erlebt, dass in einem zentralen Politikfeld alle Ankündigungen über Jahre hinweg bis hin zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag in keinem einzigen Punkt eingehalten worden sind. Das habe ich bisher in diesem Ausmaß nicht erlebt. Wir erleben ein völliges Fiasko der Koalition. ({14}) Frau von der Leyen hat ohne Zweifel das Verdienst, dass sie mit der Lampe auf die Probleme geleuchtet hat. Ich kenne eine ganze Reihe von Beispielen. Sie hat unter anderem in den Medien darauf hingewiesen, dass beispielsweise jemand, der 1 900 Euro verdient, bei 40 Beitragsjahren auf eine Rente von etwas mehr als 800 Euro kommt. Wenn das Rentenniveau weiter gesenkt wird, wird sich der Betrag in Richtung Grundsicherung bewegen - und das bei 1 900 Euro Monatsverdienst. Das heißt, der komplette Niedriglohnsektor wird in absehbarer Zeit in der Altersarmut versumpfen, wenn nichts geschieht. ({15}) Der Niedriglohnsektor ist aber eine Domäne, in die ganz überwiegend Frauen abgeschoben werden. Damit sind wir beim Thema. In dem Armuts- und Reichtumsbericht, dem ungeschönten - ich spreche von der ersten Version ({16}) - dem echten -, ist zu lesen, dass 25 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland inzwischen atypische, das heißt prekäre, instabile, unsichere Beschäftigungsverhältnisse sind. Das ist ein neuer Rekord. Dass 23 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor angesiedelt sind, ist ebenfalls ein Rekord. Wir haben es also mit der Situation zu tun, dass rund ein Viertel aller Beschäftigten entweder in einem prekären Beschäftigungsverhältnis oder im Niedriglohnsektor beschäftigt ist. Diese Beschäftigten sind zu fast 70 Prozent Frauen. Das heißt, die Altersarmut dieser Frauen ist - das belegen alle Daten, die die Bundesministerin in den letzten Monaten vorgetragen hat - geradezu vorprogrammiert. Das weiß jeder. ({17}) Es geschieht nichts. Es geschieht deshalb nichts, weil die Koalition handlungsunfähig ist. Übrigens: Ich widerspreche der Saarbrücker Zeitung ungern, weil mein Wahlkreis in der Nähe von Saarbrücken liegt. Wenn sie aber schreibt, dass die FDP - Herr Kollege Kolb, ich muss Sie jetzt ausdrücklich in Schutz nehmen - den Versuch der CDU blockiere, bei der Bekämpfung der Altersarmut einen Schritt nach vorne zu machen, dann trifft das nicht zu. ({18}) Sie von der FDP blockieren zwar, aber Sie sind nicht die Einzigen. Ihre Helfershelfer in der CDU/CSU - die Rentenpolitiker Mißfelder, Spahn und wie die ganze Truppe heißt - sind die eigentlichen Verhinderer und Blockierer in dieser Koalition. ({19}) Die Ministerin und das Häuflein der Sozialpolitiker sind umstellt von Herrn Kolb und seinen Rentenjüngern in der FDP-Fraktion auf der einen Seite ({20}) und der jungen Garde der neoliberalen Jungideologen Mißfelder, Spahn und Konsorten auf der anderen Seite. ({21}) Sie tun mir fast schon leid, und da Weihnachten ist, wünsche ich Ihnen eine gute Erholung über die Festtage. Ich will zur Lebensleistungsrente von Frau von der Leyen jetzt nichts mehr sagen. Dazu ist bereits vieles dargestellt worden. ({22}) Frau von der Leyen, was bisher von Ihnen kam, ist nichts als weiße Salbe. Wenn Sie eine Aufstockung um etwa 10 Euro als Honorierung von Lebensleistung darstellen, dann bedeutet das, dass man die Leute veralbert, vereiert, im schlimmsten Fall verarscht. ({23}) Das geht wirklich nicht, Frau von der Leyen. Den Vogel abgeschossen - nicht Sie, Herr Vogel; Sie brauchen gar nicht zusammenzuzucken - ({24}) - Ach so, okay. Dann kann es ja ganz lustig werden. ({25}) Ich möchte noch kurz auf den abgeschossenen Vogel eingehen. Frau von der Leyen, damit gemeint sind nicht Sie; nicht Sie haben den Vogel abgeschossen. Den Vogel abgeschossen hat vermutlich die wichtigste Person in der Bundesregierung nach der Bundeskanzlerin, nämlich der Bundesfinanzminister. Der Bundesfinanzminister hat vor wenigen Tagen in der Bild am Sonntag erklärt, er sehe derzeit überhaupt keinen Spielraum im Haushalt 2013 für die auf dem CDU-Parteitag beschlossene Besserstellung älterer Mütter in der Rente. Als Grund hat er die neuen Hilfsmaßnahmen für Griechenland angeführt. Das ist bodenlos. ({26}) Mit dem gleichen Argument könnte hier im Bundestag jemand einen Antrag stellen, den Bundeswehreinsatz in der Türkei unterbleiben zu lassen, weil das Geld dafür aufgrund der Hilfen für Griechenland nicht da sei. Es gibt überhaupt keinen inneren Zusammenhang zwischen dem Bundeswehreinsatz in der Türkei und den Griechenland-Hilfen, und es gibt auch nicht den geringsten inneren Zusammenhang zwischen den Rentenleistungen für Mütter, die vor 1992 geboren haben, und den Griechenland-Hilfen. Das ist abenteuerlich und bringt die Europapolitik in schwersten Misskredit. So etwas darf man hier wirklich nicht stehen lassen. Das geht doch gar nicht. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Schluss. Wenn der Bundesfinanzminister einen adäquaten Beitrag zur Verbesserung der Situation geliefert hätte, dann hätte er vielleicht einmal erklärt, ob und in welchem Ausmaß die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Europa darauf hingewirkt hat, dass beispielsweise in Griechenland die wirklich Vermögenden - die Milliardäre, die Millionäre - ihrerseits einen Beitrag zur Sanierung des griechischen Staatshaushalts leisten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege!

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Solange sie nicht zur Kasse gebeten werden, ist es unstattlich, in Deutschland ältere Frauen, die Kinder geboren haben, wegen Griechenland in Haftung zu nehmen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schreiner, das war ja wirklich eine bemerkenswerte Rede. ({0}) Ich habe ein bisschen auf die Zeit geachtet: Die Hälfte der Zeit haben Sie sich mit persönlichen Angriffen auf Vertreter der Regierungskoalition beschäftigt, ({1}) gipfelnd in der Auseinandersetzung über die Brille des Parlamentarischen Staatssekretärs. Wer keine Argumente hat, der geht gegen die Person. Das ist, glaube ich, bezeichnend, Herr Kollege Schreiner. ({2}) - Auf die „Rentenjünger“ wollte ich jetzt nicht näher eingehen. Schauen wir uns einmal an, was Sie inhaltlich gesagt haben, lieber Kollege Schreiner. Sie haben gesagt, Sie hätten den Eindruck, diese Koalition lege beim Rentenpaket nichts mehr vor. Sie haben sich auf einen Pressebericht gestützt, aus dem das hervorgehe. ({3}) Ich gehöre diesem Parlament sehr, sehr viel kürzer an als Sie. Aber eins habe selbst ich schon in meiner ersten Legislaturperiode gelernt: Man soll nicht alles glauben, was in der Zeitung steht. ({4}) Insofern: Wenn entsprechende Zeitungsmeldungen das Fundament Ihrer Argumente sind, dann ist das bezeichnend. Gehen Sie einmal davon aus, dass diese Koalition in intensiven Gesprächen ist. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir die Arbeit nicht schon drei Jahre nach Beginn der Legislaturperiode einstellen. ({5}) Wir werden ein gutes Paket zu den Themen Lebensleistungsrente, Grundsicherung, Rentenflexibilisierung und den anderen Themen vorlegen. ({6}) Interessant ist ja - wir reden hier über Altersarmut -, dass dieses Paket sowieso nur auf der Systematik aufbauen kann, die wir im Rentensystem schon haben. Da, lieber Toni Schaaf, fand ich bemerkenswert, wie du hier gegen die eigene Politik gewettert hast - gegen die Politik, die die rot-grüne Regierung einmal begonnen hat. ({7}) Eins ist klar: Gerade die Menschen, die wenig haben, gerade die, die weniger ins Rentensystem einzahlen, sind doch darauf angewiesen, dass das Rentensystem solide und zukunftssicher aufgebaut ist. ({8}) Wir reden ja über Altersarmut für die Jüngeren, für zukünftige Generationen. Heute ist Altersarmut in Deutschland zum Glück nicht so weit verbreitet. Wenn wir auch in Zukunft Altersarmut vermeiden wollen, dann muss das Rentensystem in Zeiten des demografischen Wandels solide aufgebaut sein. Deswegen habt ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der ehemaligen rotgrünen Koalition die zweite Säule der Rentenversicherung aufgebaut, zu der wir uns bekennen. Dagegen wurde heute von dir, lieber Toni Schaaf, sehr polemisiert. Die SPD hat sich mit dem aktuellen Rentenkonzept, das sie beschlossen hat, von der eigenen Politik - Stichwort „zweite Säule“, Stichwort „Rente mit 67“ - verabschiedet. ({9}) Da kann ich nur sagen: Wenn diese Politik Realität würde, dann wäre das für die jüngere Generation der sicherste Weg in die Altersarmut, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das wollen wir nicht. ({10}) Neben der Frage der Systematik des Rentensystems ist eines auch klar; da stimme ich Ihnen, Frau Kollegin Ferner, ausnahmsweise zu. Wir sind im Deutschen Bundestag häufig nicht einer Meinung, aber in einem Punkt muss ich Ihnen ausdrücklich recht geben. ({11}) Sie haben betont: Die eigene Rente kann immer nur Spiegel des eigenen Arbeitslebens sein. - Das ist richtig. Deshalb: Wer sich seriös mit der Verhinderung von Altersarmut beschäftigen will, der muss neben dem Rentensystem auch immer auf das schauen, was am Arbeitsmarkt passiert. Johannes Vogel ({12}) ({13}) - Genau! - Nur ist Ihre teilweise realitätsverweigernde Wünsch-dir-was-Politik am Arbeitsmarkt ({14}) - das gilt auch für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken - dann nicht die bessere Antwort. Es ist eben nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen mit gesetzlichem Mindestlohn usw. usf. Es kommt darauf an, sich der schwierigen Aufgabe zu stellen, für die Menschen am Arbeitsmarkt Einstiegschancen - denn das größte Risiko für Altersarmut ist längere Arbeitslosigkeit - und Aufstiegschancen zu organisieren. ({15}) Da kann ich nur sagen: Ausweislich der Zahlen, ausweislich zum Beispiel der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa, ausweislich unseres Handelns, ausweislich des Ausbaus der Qualifikationsmöglichkeiten für mehr Aufstiegsperspektive am Arbeitsmarkt widmen wir uns dieser Aufgabe sehr viel erfolgreicher als Sie mit all den Konzepten, die Sie uns hier vorlegen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({16}) In diesem Sinne hat uns, finde ich, diese Debatte leider nicht wirklich neuere Erkenntnisse gebracht, Herr Kollege Birkwald, als die Kleine Anfrage zu diesem Thema, die Sie im Laufe dieses Jahres bereits gestellt haben. ({17}) Ich freue mich trotzdem, dass wir Gelegenheit hatten, hier noch einmal ausführlich zu debattieren. Ich nutze diese Gelegenheit auch, um zum Ende meiner Rede versöhnlich Ihnen allen frohe Weihnachten zu wünschen sowie ein paar schöne ruhige Tage im Kreise von Menschen, die Ihnen wichtig sind. Ich freue mich darauf, dass wir alle uns im neuen Jahr in dieser Runde im Deutschen Bundestag wiedersehen. ({18}) In diesem Sinne: Schöne Feiertage! ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Jörn Wunderlich, schauen wir mal! - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben zu Beginn und zum Ende Ihrer Rede unsere sehr engagierte und dynamische Arbeitsministerin, Frau von der Leyen, rückblickend als Weihnachtsengel apostrophiert. ({0}) Vom Äußeren könnte man sicherlich auf die Idee kommen, dass sie für eine solche Funktion geeignet wäre wie für andere Sachen auch. Ich komme gleich noch darauf. ({1}) - Frau Ferner, zu Ihnen komme ich auch noch. Auf jeden Fall: Es hat nichts mit Weihnachten zu tun. Schauen Sie sich einmal den Entschließungsantrag an! Wir haben im März den ersten Entwurf zur Vermeidung gerade von Altersarmut hier durch Frau von der Leyen vorgelegt bekommen. Da hat die Linke gemerkt: Hoppla, da ist was! Dann stellen wir eine Große Anfrage. - Aus dieser Großen Anfrage ist der vor drei Tagen hier vorgelegte Entschließungsantrag entstanden, der - wir sind in der Vorweihnachtszeit - etliches Wünschenswerte, aber leider Gottes keine Finanzierung enthält. Das ist aber genau die Diskussion, die wir führen müssen. Sie fordern die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das haben wir gemacht. Lieber Anton Schaaf, weil du gesagt hast, wir hätten nichts erreicht, sage ich: Es ist nicht nur das Rentenpolitik, wo „Rentenpolitik“ draufsteht; auch Familienpolitik ist Rentenpolitik. Das haben wir gemacht. Wir haben den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen vorangebracht, ({2}) um die Möglichkeiten von Frauen, Berufstätigkeit und Familie zu verbinden, zunehmend zu verbessern. Da sind wir auf einem guten Weg. Das haben wir umgesetzt. Daran kann man einen Haken machen. Frau Familienministerin Schröder - ({3}) - Nein! Erledigt! Erfolgt! - Wir haben sogar noch 580 Millionen Euro für die Betreuungseinrichtungen draufgelegt, weil manche Regionen - erstaunlicherweise sozialdemokratisch regierte - hier noch Hausaufgaben machen müssen. ({4}) - Liebe Frau Ferner, wenn Sie mitdenken können, können die Stenografen auch mitschreiben. Lieber Anton Schaaf, Sie haben ausgeführt, dass der Kollege Straubinger recht hat. Natürlich hat der Kollege Straubinger wie immer recht. Sie sagten weiterhin, erst ab September 2013 werde es besser werden. Ihren Optimismus in Ehren, aber ich glaube, es wird ab September 2013 noch besser, weil die christlich-liberale Koalition über den September 2013 hinaus weiter regieren wird. ({5}) Meine Damen und Herren, ich habe mir die einzelnen Forderungen im Entschließungsantrag der Linken angesehen. Ich will nicht verhehlen, liebe Frau Ploetz, dass die Forderung nach einer „Stärkung des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Rentenversicherung … durch die Ausweitung der dreijährigen Kindererziehungszeiten auf Zeiten vor 1992“ sehr große Sympathie bei mir auslöst. ({6}) - Das ist doch nicht völlig neu, lieber Kollege Birkwald. Fairerweise muss man dazu sagen: Wenn man die Vorschläge ad hoc umsetzt, kostet das 14 Milliarden Euro. Man muss deshalb auch sagen, woher das Geld kommt. Wir können jetzt keine neuen Schulden machen und zulasten der nächsten Generation das verfrühstücken, was wir eigentlich den Müttern geben wollen. ({7}) Es macht keinen Sinn, den Müttern etwas zu geben, was wir den zukünftigen Generationen, also den jetzigen Kindern, wieder wegnehmen. ({8}) Das wäre der falsche Weg. Diese Sorge treibt auch den Bundesfinanzminister um. Natürlich muss er auf die Schwierigkeiten bei der Finanzierung hinweisen. ({9}) Natürlich muss er sagen, dass das momentan mit der Schuldenbremse, mit dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts schwer zu vereinbaren ist. Wir arbeiten daran, Frau Kollegin Ferner, Mittel und Wege zu finden, um die Situation zu verbessern. Es wird nicht von jetzt auf gleich gehen. Natürlich sehen auch wir hier eine Gerechtigkeitslücke, auf die Sie in Ihrem Antrag zu Recht hingewiesen haben. Es ist richtig - darauf haben die Vorredner bereits hingewiesen -, dass die Altersarmut in Deutschland überwiegend Frauen betrifft. Dafür verantwortlich sind die geringen Einkommen und die geringe Anzahl der Versicherungsjahre. Frauen verdienen weniger als Männer, haben eine eher unregelmäßige Erwerbsbiografie, da sie aufgrund von Schwangerschaft und Kindererziehung öfter pausieren oder Teilzeit arbeiten. Das ist von den Vorrednern schon alles thematisiert worden. Es sind auch im Jahr 2012, also in diesem Jahr, mehrheitlich Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, um sich familiären Fürsorgeaufgaben wie Kinderbetreuung oder Pflege von Familienangehörigen zu widmen. Nach dieser Auszeit entscheiden sie sich häufig für Teilzeitarbeit, arbeiten weniger oder arbeiten in weniger gut bezahlten Branchen bzw. in geringfügiger Beschäftigung. Das wirkt sich auf die Rentenhöhe aus. Jede Unterbrechung führt beim Wiedereinstieg zu Gehaltseinbußen und somit zwangsläufig zu Abschlägen in der Rente. Die Alterssicherung der Frauen ist in hohem Maße nach wie vor vom Einkommen der Männer abhängig. Häufig erreichen die Frauen erst durch die Kombination ihrer eigenen, sehr niedrigen Rente mit der ihres Gatten bzw. mit einer Hinterbliebenenrente ein ausreichendes Einkommen. Allerdings sind - entgegen Ihrer Auffassung, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken - familienbedingte Erwerbsunterbrechungen per se im Rahmen des langen Verlaufes eines Erwerbslebens noch nicht der alleinige Auslöser für die Probleme bei der Alterssicherung. ({10}) Hier bedarf es der differenzierten Betrachtung der vielfältigen Ursachen und Wirkungszusammenhänge. Aktuelle Studien zeigen, dass sich familienbedingte Erwerbsunterbrechungen sehr unterschiedlich auf den weiteren Erwerbsverlauf auswirken können. Sie dokumentieren, dass das eigentliche Problem nicht die Erwerbsunterbrechung an sich ist, ({11}) sondern das, was darauf in ihrer weiteren Biografie folgt. Die eigentliche Frage ist also, ob und wie der Wiedereinstieg ins Berufsleben gelingt und welchen Umfang die Erwerbstätigkeit danach hat. Da in Deutschland die Alterssicherung insgesamt sehr eng mit dem Erwerbsleben verknüpft ist, kommt hier der Arbeitsmarktintegration eine große Bedeutung zu. Die Auswertungen der Erwerbsbiografien belegen erwartungsgemäß, dass die Rentenhöhe sehr eng mit der Dauer der sozialversicherungspflichtigen Vollzeit- oder vollzeitnahen Beschäftigung zusammenhängt. Vor dem Hintergrund aktueller wissenschaftlicher Studien, die auf einen wachsenden Anteil von Frauen mit Erwerbspräferenzen im vollzeitnahen Bereich hinweisen, ist eine bessere Mobilisierung dieser Erwerbspotenziale ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der eigenen Alterssicherung. Viele Frauen sind aber beispielsweise in bestimmten Berufen, Branchen und auf den höheren Stufen der Karriereleiter noch immer unterrepräsentiert. ({12}) Auch darauf wurde hingewiesen. Daher ist es unsere Aufgabe, Frauen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf konsequent zu unterstützen. Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter zu verbessern, ist der Ausbau der Kinderbetreuung von zentraler Bedeutung. NePaul Lehrieder ben öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen sind auch betriebliche Angebote erforderlich. Ich darf darauf hinweisen: Am 30. November 2012, also vor wenigen Wochen, hat die christlich-liberale Bundesregierung daher die nächste Runde des Förderprogramms „Betriebliche Kinderbetreuung“ gestartet. Seit vorletzter Woche können Unternehmen an dem neuen Förderprogramm „Betriebliche Kinderbetreuung“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend teilnehmen. Das Programm richtet sich an Unternehmen aller Größen und Branchen mit Sitz in Deutschland. Dabei werden Arbeitgeber finanziell gefördert, wenn sie neue betriebliche Kinderbetreuungsplätze einrichten. Mit diesem Zuschussprogramm sollen Unternehmen motiviert werden, ihre Beschäftigten bei der Kinderbetreuung zu unterstützen. Für Mitarbeiter haben familienbewusste Arbeitsbedingungen zweifelsohne einen hohen Stellenwert bei der Auswahl des Arbeitgebers. Beschäftigte, die bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt werden, kehren früher aus der Elternzeit zurück, fehlen seltener, sind meist weniger gestresst und arbeiten motivierter. Somit stellt sich mit dieser familienfreundlichen Komponente durchaus ein Standortvorteil mit Blick auf den sich abzeichnenden Fachkräftebedarf heraus. ({13}) Gerade im Hinblick auf die Fachkräftesicherung können Unternehmen somit von einer familienfreundlichen Personalpolitik nur profitieren. ({14}) Eine familienbewusste Arbeitswelt ist entscheidend für eine gelungene Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Jeden, der sich für gebündelte Informationen rund um das Thema „Familienfreundlichkeit“ interessiert, lade ich ein - liebe Frau Ferner, nehmen Sie sich etwas zum Schreiben -, sich auf der Internetseite www.erfolgsfaktor-familie.de umzuschauen. ({15}) - Das freut mich. Ich wünsche Ihnen, Frau Ferner, und allen Kolleginnen und Kollegen eine schöne Weihnachtszeit und erholsame Feiertage. Auf ein gutes 2013, in dem wir dieses Thema weiter bearbeiten werden und in der christlich-liberalen Koalition zu einem guten Ende führen werden! ({16}) Herzlichen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11854. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung ({1}) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012 - Drucksachen 17/11783, 17/11892 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Marina Schuster Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({2}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/11893 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Priska Hinz ({4}) Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion das Wort. ({5})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir entscheiden heute über den Einsatz von Patriot-Raketenabwehrsystemen in der Türkei, bei einem unserer wichtigen Bündnispartner. Ich glaube, dass wir heute zwei wichtige politische Signale hier von Berlin aussenden: Wir machen sehr deutlich - das ist die erste Botschaft -, dass Deutschland ein zuverlässiger Bündnispartner ist und dass unser Bündnispartner Türkei sich auch an dieser Stelle auf Deutschland verlassen kann. ({0}) Die zweite wesentliche politische Botschaft, die wir heute von dieser Stelle aussenden, ist, dass sich das Bündnis und die Bundesregierung auf das Parlament verlassen können, weil wir hier in einem wirklich beispielhaften Zusammenspiel zwischen Teilen der Opposition, den Regierungsfraktionen und der Bundesregierung innerhalb kürzester Zeit zu der Entscheidung, dass aus sicherheitspolitischen Gründen eine Entsendung von deutschen Streitkräften sinnvoll und notwendig ist, gekommen sind, nachdem in einer intensiven Diskussion alle notwendigen Fragen beantwortet worden waren. Deshalb an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön auch an die Kolleginnen und Kollegen der Opposition. ({1}) Warum ist das so wichtig? Weil die Soldatinnen und Soldaten eine breite politische Rückendeckung benötigen, wenn sie in einen anspruchsvollen und gefährlichen Auslandseinsatz gehen. Basierend auf den Erfahrungen, die wir mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz an dieser Stelle gemacht haben, glaube ich, dass auch für unsere Soldatinnen und Soldaten dieses hohe Gut des politischen Konsenses wichtig ist für die Erfüllung ihres Auftrages vor Ort. Die Türkei hat eine Anfrage an die NATO gestellt. Es ist darüber diskutiert worden, wie wir dieser subjektiven Bedrohungsempfindung eines wichtigen Bündnispartners Rechnung tragen, gleichzeitig aber auch innerhalb unseres eigenen Landes Klarheit darüber schaffen können, welcher Auftrag damit verbunden ist. Ich glaube, dass es sehr gut war, dass die Bundesregierung in dem Mandat Einsatzort und Anzahl der Soldaten klar festgelegt hat, aber auch sehr deutlich die politischen Schranken aufgezeigt hat: Dieser Einsatz ist ausschließlich defensiv. Er dient explizit nicht der Implementierung einer sogenannten Flugverbotszone über syrischem Territorium. Die Aufstellung der Systeme und die Art der Entsendung unserer Soldaten zeigen klar, dass die Wirkungsmöglichkeit ausschließlich auf türkisches Territorium und damit auf NATO-Territorium beschränkt ist. ({2}) Dies sind wesentliche Voraussetzungen für die Zustimmung der Opposition. Aber auch aus Sicht der Regierungsfraktionen sind sie dringend notwendig. Denn damit können wir Missverständnissen in der öffentlichen Debatte vorgreifen. Wir haben festgestellt, dass schon angefangen wird, zu spekulieren, Dinge zu unterstellen. Das geht sogar so weit, dass unterstellt wird, dass Deutschland oder die NATO Konfliktpartei in Syrien würde. Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir mit diesem Mandat hinreichend geklärt haben, wie der Sachverhalt ist. Ich möchte an der Stelle eines ausdrücklich betonen: Das Parlamentsbeteiligungsgesetz sieht selbstverständlich für dieses Parlament auch die Möglichkeit vor, Streitkräfte aus einem Einsatzgebiet abzuziehen, sollte sich die sicherheitspolitische Lage bzw. die Geschäftsgrundlage dieses Mandates signifikant verändern. ({3}) Das heißt, wir haben eine Reihe von Brandmauern eingebaut, die explizit deutlich machen, dass weder die NATO noch die Bundesrepublik Deutschland ein Interesse daran haben, unmittelbar Konfliktpartei in Syrien zu werden. ({4}) Damit ist ein weiterer Punkt verbunden. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, meine Damen und Herren, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir mit einem Verbündeten in unserer unmittelbaren Nähe, mit unserem Nachbarn, den Niederlanden, gemeinsam zeigen, dass wir in Zukunft dem Gedanken von Smart Defence, von Pooling und Sharing, die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Das reibungslose Miteinander, die Abstimmung hinter den Kulissen und die erfolgreiche politische Rückendeckung, die sich die Niederlande und Deutschland gemeinsam geben, zeigen meiner Ansicht nach, dass dies ein guter Weg ist, um in Zukunft die Kooperationen im sicherheitspolitischen Bereich zwischen europäischen Partnern substanziell voranzutreiben. Ich gehe davon aus, dass wir gemeinsam mit unseren niederländischen Verbündeten versuchen werden, so viele Dinge wie möglich gemeinsam abzubilden - nicht nur, um Ressourcen zu schonen, sondern auch, um den Gedanken einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik an einem ganz konkreten Beispiel voranzutreiben, meine Damen und Herren. Meine Fraktion wird dem Mandat zur Entsendung von Patriot-Raketen die Zustimmung erteilen. Ich freue mich, dass es einen breiten Konsens gibt. ({5}) Lassen Sie mich an der Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten, die entsandt werden, ein herzliches Dankeschön und ein herzliches „Glück auf!“ mit auf den Weg geben. ({6}) Herr Minister, ich freue mich auch, dass es gelungen ist, unsere Soldatinnen und Soldaten nicht schon zum Weihnachtsfest oder zum Jahreswechsel in den Einsatz bringen zu müssen, sodass sie die Festtage noch gemeinsam mit ihren Familien zu Hause feiern können. Ich darf mich bei Ihnen allen sehr herzlich für die hervorragende Zusammenarbeit in diesem Jahr bedanken und wünsche allen ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rainer Arnold für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Verantwortliche Sicherheitspolitik heißt, Risiken frühzeitig zu erkennen und langfristig Vorsorge zu betreiben. Das gilt in erster Linie für politische Prozesse, auch in Syrien. Wir finden, es ist ein richtiger Schritt, dass sich die Opposition in Syrien zusammengefunden hat und für die deutsche Außenpolitik ein Gesprächspartner sein kann. Dazu gehört allerdings auch, dass bei aller Kritik an Russland - und Russlands Verhalten ist zu kritisieren gleichzeitig akzeptiert und erkannt wird, dass russische Interessen mitbedacht werden müssen, wenn man in Prozesse eintreten will, die das Blutvergießen beenden sollen. Dazu gehört auch, dass die syrische Armee am Ende nicht zerschlagen wird; denn wir wissen, dass dieses Land, vollgestopft mit Waffen, eine Armee braucht, die den Daumen auf diese Waffen hält. Dazu gehört weiterhin, dass wir unserer Verantwortung für die Flüchtlinge gerecht werden. Diese Verantwortung umfasst mehr, als nur Geld zu geben. ({0}) Wir wissen aber auch: Nicht alle Risiken sind vorsorgend politisch anzugehen. Dieses Land hat fast 1 000 Mittelstreckenraketen und besitzt chemische Kampfstoffe, die in Raketen verfüllt werden können. Die Realität ist, dass Assad fast täglich seine eigene Bevölkerung beschießt, dass Granaten in der Türkei einschlagen - eine Familie wurde ausgelöscht, und ein türkisches Flugzeug wurde über dem Mittelmeer abgeschossen und dass Qassam-Raketen auf die eigene Bevölkerung gerichtet werden. Wer sagt uns eigentlich, dass nicht eines Tages eine fehlgeleitete Qassam-Rakete in der Türkei einschlagen könnte? Wir werden bei der Verlegung militärischer Fähigkeiten diese Risiken bedenken, gleichzeitig aber prüfen: Tragen die Patriot-Systeme zur Eskalation der Situation bei, oder wirken sie deeskalierend? Wir stimmen der Verlegung dieser Systeme zu, weil wir der festen Überzeugung sind: Sie wirken deeskalierend. Hierfür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. In erster Linie ist diese Verlegung einer routinemäßig vorhandenen, integrierten NATO-Fähigkeit der Luftverteidigung zum Schutz der Türkei eine politische Ansage. Sie lautet: Die NATO hält zusammen. Es ist gut, wenn dies alle wissen. Dieses Wissen hat in der Geschichte der NATO zu Frieden und Stabilität bei uns geführt. Sollte aber - selbst wenn es ein unwahrscheinlicher Fall ist - eine Rakete auf türkisches Gebiet zufliegen, in urbanem Gebiet einschlagen und den Tod von Hunderten Menschen verursachen, dann würde das zu einer absoluten Eskalation der Situation bis hin zum Ausbruch eines Krieges führen. Deshalb ist es besser, dass Patriot-Systeme dies möglicherweise verhindern. Insofern trägt die Verlegung militärisch zur Deeskalation bei. Dieses System ist per se defensiv ausgerichtet. Wir stimmen auch deshalb zu, weil die Regierung, aber auch die NATO und die Türken bei der Diskussion über diesen Antrag zugehört haben. Die Bedenken der Opposition wurden aufgenommen. Das gilt vor allen Dingen für die Formulierung, dass dieses System ausdrücklich nicht auf syrischem Staatsgebiet wirken darf. Das trifft aber schon aus operativen Gründen zu: Die Entfernungen sind nämlich so groß, dass dies technisch gar nicht möglich wäre. Für Fachpolitiker ist ebenfalls klar: Patriot-Systeme sind nicht das Mittel der Wahl zur Durchsetzung einer Flugverbotszone. Nun hören wir natürlich immer wieder den Einwand: Dieses defensive System könnte auch andere Funktionen haben; es könnte der Türkei möglicherweise eigene Handlungsoptionen und -freiräume eröffnen. Dazu ist zu sagen: Bisher hat sich die Türkei in dieser ernsten Situation an ihrer Grenze außerordentlich besonnen verhalten. Dies muss so bleiben; das dürfen wir den Türken durchaus signalisieren. Dazu ist auch zu sagen: Das PatriotSystem macht die Türkei in keiner Weise unverwundbar. Das System ist in der Lage, in einem sehr eng gefassten Kreis mit Radius von 30 Kilometern urbanes Gebiet und sensible Infrastruktur zu schützen, aber nicht das gesamte Staatsgebiet. Die Regierung hat in der Diskussion über die Mandatsfrage zugehört und am Ende unsere Rechtsauffassung übernommen. Wir sagten von vornherein: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008 ist dieser Einsatz zu mandatieren. Dazu gehört dann auch, AWACS ins Mandat aufzunehmen. In einem Punkt stimme ich mit der Kollegin Hoff völlig überein. Die schnelle Diskussion im Deutschen Bundestag über diesen Einsatz zeigt: Wir haben überhaupt keinen Grund, uns von irgendjemandem - weder von unseren Freunden in der NATO noch von einigen Kollegen der CDU/CSU - einreden zu lassen, die Bündnisfähigkeit werde beschränkt, weil es in Deutschland einen Parlamentsvorbehalt gibt. Der deutsche Parlamentsvorbehalt behindert nichts. Wir zeigen heute, dass er gut funktioniert. ({1}) Nun wünschen wir uns allerdings, dass die Regierung auch noch in zwei anderen Punkten auf die Opposition hört. Der erste Wunsch bezieht sich auf die Frage der Finanzierung. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass weitere Aufgaben der Bundeswehr aus dem Einzelplan 60 finanziert werden sollen. Im Mandat steht aber, dass das Geld direkt aus dem Etat der Bundeswehr kommt. Gleichzeitig erzählen Sie den Soldaten, es sei kein Geld für dies und jenes vorhanden, vor allen Dingen nicht für Beförderungen von Mannschaftsdienstgraden. Ich hätte mir schon gewünscht, dass die Bundeskanzlerin sagt, wo es langgeht, wenn sich die Ressorts in dieser Frage nicht einigen können. Aber sie taucht auch bei diesem Thema ab. Meinen zweiten Wunsch richte ich direkt an Sie, Herr Minister: Wann erkennen Sie angesichts der Realitäten, über die wir heute und möglicherweise auch im Januar diskutieren, endlich, dass Ihr Ansatz „Breite vor Tiefe“ nicht zukunftsfähig ist? ({2}) Wir verlegen ein System von Patriot-Raketen inklusive knapp 400 Soldaten in die Türkei, und gleichzeitig müssen diese Soldaten umziehen, weil Sie die Fähigkeit der Patriot-Raketen sozusagen halbieren, eine Fähigkeit, die innerhalb der NATO in nur drei Ländern vorhanden ist. Sie halbieren die Fähigkeit, statt zu sagen: Deutschland ist an dieser Stelle stark, hier können wir dem Bündnis etwas Präventives anbieten. Mein letzter Punkt. Ich habe mit Sicherheitsvorsorge begonnen und will damit auch enden. Sicherheitsvorsorge ist etwas anderes, als immer nur situativ zu diskutieren und zu reagieren. Wir alle wissen um die Umbrüche in der arabischen Welt und im nördlichen Afrika. Deutsche Politik handelt hier - siehe Libyen, siehe die Debatten, die wir aktuell geführt haben; der Einstieg in die Diskussion über die Patriot-Raketen war wirklich nicht ganz glücklich - ein Stück weit situativ statt konzeptionell und langfristig unterlegt. Herr Minister und Frau Bundeskanzlerin, es reicht nicht aus, wenn Sie bei einer Konferenz die Überschrift produzieren: „Es gibt Länder, die strategische Partner sind“. Nein, wir brauchen in der deutschen Gesellschaft, vor allen Dingen auch im Deutschen Bundestag, eine echte sicherheitspolitische Debatte über die strategische Ausrichtung und über die wohlverstandenen Stabilitätsinteressen Deutschlands. Diese Debatte fehlt bis jetzt. Sie könnten sie anstoßen. Warten Sie nicht darauf, dass sie sich irgendwie ergibt. Geben Sie hier eine Regierungserklärung zur Sicherheitspolitik ab. Wir können dann gemeinsam darüber diskutieren. Wir bieten Ihnen das ausdrücklich an. Ich bin überzeugt davon: Es gibt eine Reihe von Punkten, bei denen Konsens zu erzeugen wäre. Aber es ist nicht gut, dass Sie solche Überschriften produzieren, um möglicherweise Rüstungsexporte zu erleichtern, aber in der Gesellschaft, im Parlament den Diskurs darüber verweigern. Das tut den deutschen Interessen nicht gut, weil wir einen Nachholbedarf an strategischer Orientierung haben. Ich wünsche mir, dass Sie auch hier auf die Opposition hören. Ansonsten ist es ein Thema, das zu den friedlichen Tagen kurz vor Weihnachten passt. Wir sind froh, dass an die Soldaten das Signal ausgeht: Der Deutsche Bundestag trägt Ihre schwierige Aufgabe mit sehr großer Mehrheit. Herzlichen Dank und ein frohes Fest. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei meinem Kollegen Arnold dafür bedanken, dass er das Mandat und die Tragweite des Mandates richtig eingeordnet hat. Gerade der defensive Charakter, den Sie stark herausgearbeitet haben - das ist etwas, was die Fraktionen im Deutschen Bundestag weitgehend verbindet -, zeigt, wie wichtig die Beratung im Vorfeld war. Damit konnten wir in der Öffentlichkeit dem Eindruck entgegenwirken, wir würden auch nur einen Schritt, und sei er noch so klein, in Richtung Eskalation gehen. Wir gehen auf eine Bitte ein, die unser NATO-Partner Türkei an uns gerichtet hat. Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Wenn ein NATO-Partner uns um Hilfe bittet, dann entsprechen wir dieser Hilfe auch. Trotzdem hat es im Vorfeld Diskussionen gegeben. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass aufgrund der Vielzahl von Einsätzen, die wir mittlerweile hier im Plenum zu beraten haben, zu Recht kritische Fragen gestellt werden. Sie sind bei uns rauf und runter diskutiert worden. Ich glaube, wir haben gemeinsam mit der Regierung mit diesem Mandat die richtigen Antworten auf die drängenden Fragen gefunden. Ich möchte eine grundsätzliche Bemerkung zur NATO selber machen. Deutschland ist das Land, das am stärksten von der NATO profitiert hat. Die NATO hat uns zu Zeiten des Kalten Krieges geschützt; die NATO hat Deutschlands Bürgern immer Sicherheit garantiert; die NATO hat vor allem einen enormen Beitrag dazu geleistet, dass unser Vaterland wiedervereinigt worden ist. ({0}) Um es deutlich zu sagen: Für unsere Fraktion ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir helfen, wenn uns ein NATO-Partner, in diesem Falle die Türkei, um unsere Hilfe bittet. Deshalb weise ich die Kritik am Mandat und die Kritik an der Türkei ausdrücklich zurück. Seitens der SPD-Fraktion ist schon gesagt worden: Die Türkei leistet zurzeit wirklich sehr, sehr gute Arbeit. ({1}) Gerade dadurch, dass sie sich so zurückhaltend verhält, wirkt sie deeskalierend. Herr Kollege Nouripour, ich höre Ihre Zwischenrufe; die Zuschauer zu Hause können Zwischenrufe in der Regel nicht verstehen. Sie, Herr Kollege, haben sich im Vorfeld sehr kritisch geäußert. Die Türkei ist für uns ein wichtiger strategischer Partner und Freund. Ich glaube, wir werden keine Lösung des Syrien-Konflikts ohne die Türkei erreichen. Deshalb müssen wir die Türkei politisch und an dieser Stelle auch militärisch unterstützen, damit die Lage in der Türkei sicher bleibt. ({2}) Die Türkei ist außerhalb Syriens das mit Abstand am stärksten von diesem Konflikt betroffene Land: 120 000 Flüchtlinge, zum Teil katastrophale Zustände. Deshalb möchte ich hier auch sagen - das haben wir in dieser Woche schon oft betont -, dass die militärische Komponente für uns nie die Gesamtlösung darstellt. Unsere Fraktion legt größten Wert auf einen gesamtpolitischen Ansatz. Deshalb hat unser Außenminister in dieser Woche in Marrakesch zu Recht starke Signale ausgesendet, die zeigen, dass wir die politische Unterstützung der Opposition in Syrien vorantreiben und weiter an einer politischen Lösung arbeiten. ({3}) Es ist natürlich sehr schwierig, eine solche Lösung zu finden. Neben dem militärischen Engagement, über das wir hier heute beraten, und der Soforthilfe, die geleistet wird, ist aber auch strukturelle Hilfe unabdingbar, um der Flüchtlingsproblematik gerecht werden zu können. Problematisch ist in diesem Fall natürlich vor allem die Rolle Russlands. Ich möchte unserem Bundesaußenminister insbesondere dafür danken, dass er sein Werben um die Russen nicht aufgegeben hat. Die Situation ist sehr verfahren, weil die UNO sich in einer Selbstblockade befindet und weil China und Russland nicht konstruktiv mitarbeiten. Dadurch verhindern sie letztendlich, dass die UNO ihrer Rolle als Weltpolizei gerecht werden kann. Wir sollten trotzdem weiter auf Dialog setzen. Das tun Sie, Herr Minister, und dafür danke ich Ihnen. ({4}) Ich fand es richtig, dass sich der NATO-Russland-Rat mit dem Thema beschäftigt hat, auch wenn die Ergebnisse bei weitem noch nicht so waren, wie sie sein müssten. Wir profitieren von einer sicheren, von einer starken Türkei, die als Regionalmacht in vielen anderen Konflikten, aber auch bei der Neuorientierung der arabischen Welt zukünftig eine fundamentale Rolle spielen wird. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir der Türkei das notwendige Vertrauen entgegenbringen. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir den Sicherheitsinteressen der Türkei, die um unsere Solidarität wirbt, gerecht werden und uns darum kümmern, dass die Türkei ein sicheres Land ist, das sich in der NATO-Partnerschaft gut aufgehoben fühlt. Die Zivilbevölkerung in der Türkei ist voller Sorge über mögliche Angriffe aus Syrien. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf den Fortgang des Mandats eingehen. Der amerikanische Präsident hat deutliche Worte zur Problematik der Chemiewaffen in Syrien gefunden. Nach den aktuellen Erkenntnissen sind syrische Waffen weiterhin auf Israel gerichtet, nicht auf die Türkei. Das könnte sich natürlich jederzeit ändern. Mit dieser Sorge haben die türkische Politik und die türkische Zivilbevölkerung zu leben. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Patriot-Systeme einsetzen. Damit begegnen wir von vornherein der Gefahr einer weiteren Eskalation, die angesichts dieser schwierigen Situation in Syrien jederzeit stattfinden kann. Außerdem beruhigen wir damit auch die türkische Bevölkerung und sorgen dafür, dass das türkische Staatsgebiet unverletzt bleibt und keine Region unbewohnbar wird. Ich glaube auch, dass wir der Auffassung der Amerikaner zustimmen können, dass der Einsatz von Chemiewaffen das Überschreiten einer roten Linie darstellt, angesichts dessen sich die Weltgemeinschaft endgültig fragen lassen muss, warum sie bislang nicht in der Lage gewesen ist, dem UNO-Statut „Responsibility to Protect“ gerecht zu werden, also der Verpflichtung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Bislang blockiert sich die UNO selbst; bislang liefert die UNO in diesem Konflikt um Syrien ein Trauerspiel ab. Wir können es nicht hinnehmen, dass Assad sein Volk weiter tötet. Wir können es nicht hinnehmen, dass es möglicherweise zu einer weiteren Eskalation in Richtung Libanon kommt oder gar unser NATO-Partner Türkei in diesen Konflikt hineingezogen wird. Deswegen werben wir für dieses Mandat und für unsere weiteren politischen Initiativen, um den Konflikt einzugrenzen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland besitzt zwölf einsatzfähige Patriot-Feuereinheiten, die uns seit 1989 immerhin 3,048 Milliarden Euro gekostet haben. Die Linke hat immer erklärt: Wir müssen darauf verzichten, die modernste Kriegstechnik einzukaufen. Sie ist auch die teuerste. Sie sahen das immer anders. Es gibt kein Land, das Deutschland überfallen will. Wir brauchen überhaupt nicht die modernste Kriegstechnik auf der Welt. ({0}) Damit ist auch eine riesige Verschwendung von Steuergeldern verbunden. Nun kommt ein neuer Aspekt hinzu: Wer die modernsten Waffen besitzt, wird am häufigsten zum Krieg eingeladen. Denn die Türkei bittet nur die USA, Holland und Deutschland um Hilfe, weil wir die modernste Technik haben. Vielleicht hören Sie einmal auf die Linke und hören auf, immer die modernste Kriegstechnik einzukaufen. ({1}) Zweitens. Mit Patriot-Raketen kann man, so sagt es auch der Bundesverteidigungsminister, nicht ein einziges Geschoss abwehren, das bisher aus Syrien in der Türkei eingetroffen ist. Sie sind also gar nicht dafür geeignet. Eigentlich ist es sinnlos. Nun wird der Verdacht eines möglicherweise bevorstehenden Einsatzes von Chemiewaffen geäußert. Ich halte diesen für falsch; denn auch Assad weiß, dass dann die internationale Gemeinschaft einmarschieren würde. Das wird nicht passieren. Mit Patriot-Raketen können Sie übrigens auch Chemiewaffen nicht bekämpfen. Wieso also wird etwas stationiert, das überhaupt nicht gebraucht wird? Das macht nur in einem Fall Sinn: Wenn es eine Flugverbotszone gibt. Aber der Außenminister und der Verteidigungsminister sagen beide, dass es sie nicht geben wird. Ich sage Ihnen: Das ist ein schweres Eingeständnis von Untreue. Wir sollen 25,1 Millionen Euro bis zum 31. Januar 2014 für etwas ausgeben, das niemand braucht, nur zur Beruhigung der Gefühle der türkischen Regierung? Dazu sage ich Ihnen: Wenn die türkische Regierung besser schlafen will, dann soll sie endlich einmal die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Oppositionellen, Kurdinnen und Kurden und Alawiten einstellen, also lernen, Minderheiten anders zu behandeln. ({2}) Drittens. Sie kennen die Bedenken Russlands. Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben. Das wissen auch Sie, Herr Westerwelle. ({3}) Viertens. Die schlimmste Katastrophe - dazu komme ich jetzt - ist eine andere: Sie marschieren mit der Bundeswehr in den Nahen Osten ein. ({4}) - Machen Sie nicht? Ich bin ja noch nicht fertig. Hören Sie zu. - Sie marschieren mit der Bundeswehr in den Nahen und Mittleren Osten ein, nicht etwa auf Beschluss der UNO, nicht etwa, um die Einhaltung eines Waffenstillstandes zu kontrollieren, ({5}) sondern auf Wunsch der Türkei im Rahmen des NATOBündnisses. Sie machen Deutschland schon mit dem Einmarsch und erst recht mit dem Abschuss einer einzigen Rakete zur Kriegspartei im Nahen und Mittleren Osten. ({6}) Genau das darf Deutschland niemals werden. Wir können dort eine Rolle als Vermittler spielen, aber um Gottes Willen nicht als Kriegspartei. Die Folgen wären verheerend. Sie wissen gar nicht, was Sie damit anrichten können. ({7}) - Ich wusste, dass Sie sich aufregen werden, aber Sie müssen mir trotzdem zuhören. Die Türkei stellt sich immer deutlicher gegen Israel. ({8}) Die Bundesregierung steht immer auf der Seite Israels. Die Türkei unterstützt die Hamas. Die Bundesregierung redet nicht einmal mit der Hamas. Ich habe jetzt keine Zeit, zu sagen, ({9}) was davon ich richtig und was davon ich falsch finde. ({10}) Sie selbst begeben sich damit in unlösbare Widersprüche. ({11}) Lassen Sie diesen Schnellschuss. Mir ist es ein Rätsel, dass wieder einmal auch SPD und Grüne zustimmen. Jetzt habe ich noch eine Frage. Herr Schockenhoff von der CDU hat hier am Mittwoch Folgendes erklärt. Er hat gesagt: Da der UN-Sicherheitsrat bis heute blockiert ist und keine wirksamen Maßnahmen ergreifen konnte, war kein anderer Weg möglich, als die syrische Opposition mit Waffen zu versorgen, um das syrische Regime zu stoppen. … Ja, ich sage das ganz offen … So weit sein Zitat. Das muss jetzt geklärt werden. Das wäre völkerrechtswidrig, und es würde auch das Recht der Bundesrepublik Deutschland ganz energisch verletzen, wenn heimlich Waffen nach Syrien geliefert worden sein sollten. ({12}) Mein letzter Satz: Wir müssen in Anbetracht unserer Geschichte gemeinsam verhindern, dass Deutschland zur Kriegspartei im Nahen oder Mittleren Osten wird. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Also, bei aller Liebe, Gregor Gysi - ({0}) - Na ja, manchmal kann man ja auch mit ihm einen Kaffee trinken. Nur ein kleiner Hinweis, ein Satz: Die Türkei ist NATO-Partner, sie ist im NATO-Bündnis, es gilt der NATO-Vertrag. Angesichts des Antrags der Bundesregierung von einem Einmarsch der Deutschen in den Nahen Osten zu sprechen, das ist ein derart abstruser Populismus, dass man auf diese Rede nicht weiter eingehen muss. ({1}) Zum Thema. Nach 21 Monaten blutigem Bürgerkrieg - dazu wurde hier wenig gesagt - gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass das Regime Assad auf sein Ende zusteuert. Ich begrüße sehr, dass die Bundesregierung und mehr als 100 weitere Staaten die Nationale Koalition endlich als legitime Vertreterin des syrischen Volkes anerkannt haben. Das war überfällig, und das ist für die Menschen in Syrien sehr wichtig. Die Tatsache allerdings, dass die Zahl der Flüchtlinge gerade noch einmal dramatisch zunimmt - jeden Tag sind es 3 000 mehr, die sich an den Grenzen melden -, deutet darauf hin, dass das Regime jetzt noch brutaler gegen sein eigenes Volk vorgeht, mit Brandbomben und mit Scud-Raketen. Mehr als eine halbe Million Syrer sind in die Nachbarländer geflohen, allein die Türkei hat 136 000 aufgenommen. Bis zu 2 Millionen Flüchtlinge irren innerhalb Syriens umher. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, im Kontext der Stationierung der Patriot-Systeme war viel von Solidarität mit dem NATO-Partner Türkei die Rede. Ich möchte hier sehr deutlich sagen: Für mich gehört zur Solidarität auch, dass wir den betroffenen Nachbarländern bei der Bewältigung dieses Flüchtlingsdramas helfen, und zwar nicht nur mit humanitärer Hilfe, sondern ganz konkret mit der unbürokratischen Aufnahme von Flüchtlingen. Selbst der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Ihr Kollege Polenz, hat gesagt: Lassen wir doch wenigstens die Flüchtlinge, die von ihren hier lebenden Angehörigen eingeladen werden, nach Deutschland kommen! ({2}) Das wäre ein wichtiges politisches Signal und ein wichtiges Signal der Humanität, gerade jetzt vor Weihnachten. ({3}) Ich habe für die Fraktion der Grünen von Anfang an deutlich gemacht: Wenn sich der Partner Türkei durch den blutigen Bürgerkrieg an seinen Grenzen bedroht fühlt und sich deshalb an die NATO wendet, dann werden wir eine solche Anfrage ernsthaft prüfen; denn genau das ist der Sinn des NATO-Bündnisses.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel? ({0})

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich glaube, nicht. - Meine Damen und Herren von der Linken, bei allem Misstrauen, das man gegenüber Erdoğans sonstigen Interessen haben kann und muss, sage ich: Dass die Türkei nach mehrfachem Granatenbeschuss Sorge hat, in Zukunft von syrischen Scud-Raketen bedroht zu werden, können Sie ihr nicht ernsthaft absprechen. ({0}) Es ist zwar richtig: Viel Rationalität hätte ein solches Vorgehen aus Sicht des syrischen Regimes nicht; denn solange dieser Bürgerkrieg nicht internationalisiert wird, kann der Diktator Assad Menschen morden, sie foltern, sie vertreiben, sie mit Raketen beschießen. Aber welche Rationalität hat ein zerfallendes Regime? Maßen Sie sich an, zu wissen, welche Teile des Regimes morgen mit Raketen um sich schießen? ({1}) Und das Assad-Regime verfügt über Chemiewaffen. Das Regime hat das nicht bestritten, sondern es im Gegenteil noch einmal zugegeben. Ein Einsatz dieser Waffen ist ein Szenario, auf das die Patriot-Systeme keine ausreichende Antwort wären. Selbst der russische Protest gegen die Stationierung der Patriot-Systeme hat sich merkwürdig schnell gelegt. Also: Der NATO-Partner Türkei sieht sich subjektiv in seiner Sicherheit bedroht. Allein das ist hinreichend für eine Anwendung von Art. 4 NATO-Vertrag. ({2}) Dennoch ist uns wichtig, dass wir mit der Stationierung der Patriot-Systeme nicht in den Bürgerkrieg hineingezogen werden. Wir begrüßen es daher sehr, dass im Mandat jetzt ganz klar festgehalten ist: Die Patriots dienen nicht der Einrichtung einer Flugverbotszone. Sie werden so aufgestellt, dass sie nicht in den syrischen Luftraum hineinwirken. Damit hat die Bundesregierung unsere Bedenken ausgeräumt, ebenso mit der klaren Ansage in den Ausschüssen: Sollte sich daran etwas ändern, Kerstin Müller ({3}) wird der Bundestag noch einmal mit dieser Angelegenheit befasst. Meine Fraktion wird dem Mandat aus diesen Gründen mit großer Mehrheit zustimmen. ({4}) Ich will aber auch sehr deutlich sagen: Es geht uns darum, dass die Türkei eingebunden wird. NATO bedeutet eben auch: Verantwortung auf beiden Seiten. Mir ist lieber, wir binden die Türkei frühzeitig im Rahmen der NATO ein und senden damit die klare Botschaft: Keine Alleingänge! Dafür sorgen wir aber für eure Sicherheit.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum letzten Satz. - Wir verbinden mit dieser breiten Zustimmung aber auch die Forderung, dass die Bundesregierung nicht nur militärisch, sondern auch humanitär und menschenrechtlich alles tut, um den Nachbarstaaten zu helfen und das Leid der syrischen Bevölkerung zu lindern. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner in der Debatte ist Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Tagen haben wir als Parlament unsere Bündnisfähigkeit unter Beweis gestellt. Es vergingen nur zehn Tage vom Beschluss der NATO bis zur Beschlussfassung hier im Bundestag. Niemand kann sagen, unser parlamentarisches Verfahren halte etwas auf bzw. die Reaktionsfähigkeit der Regierung sei durch uns eingeschränkt. ({0}) Im Gegenteil: Ich würde sogar sagen: Wenn das Parlament heute nicht in der Verantwortung wäre, dann hätte es die Regierung sehr schwer gehabt, das Thema so schnell zu einem breiten Konsens zu führen. ({1}) Ich möchte mich bei unserem Verteidigungsminister und unseren Soldaten in der Bundeswehr bedanken, weil ja nicht nur wir diesen kurzen Vorlauf hatten. Die Soldaten müssen sich auf diesen Einsatz vorbereiten, und wir wissen, dass die Patriot-Staffeln auch andere Einsatzverpflichtungen haben. Innerhalb von wenigen Wochen jetzt in den Einsatz zu gehen, ist eine enorme logistische Herausforderung. Von unserer Seite allen Dank und Respekt dafür! ({2}) Zum Mandat selbst. Die Türkei hat die NATO zum Schutz ihrer Bevölkerung und ihres Territoriums um Hilfe gebeten. Wir als NATO-Mitglied haben die Fähigkeit, diese Hilfe zu leisten, und wir helfen unserem bedrohten Partner Türkei selbstverständlich. Genau dafür ist die NATO auch da. Die wenigen Kritiker des Mandats fragen: Ist die Türkei überhaupt bedroht? Warum soll Assad die Türkei denn überhaupt angreifen? Herr Gysi hat gesagt, Assad wisse doch, dass er dann die gesamte internationale Gemeinschaft und die NATO gegen sich hätte. Richtig, aber genau das zeigt ja, dass die Strategie der Abschreckung funktioniert. Genau das ist der Ansatz der NATO. Mit der Stationierung der Patriots unterstreichen wir das und setzen ein sichtbares Zeichen der Bündnissolidarität: Die Türkei ist einer von uns! Es geht aber nicht nur darum, Zeichen zu setzen. Die Türkei ist bedroht - Punkt! Herr Gysi, ich finde es, ehrlich gesagt, ziemlich arrogant, das von hier aus zu verneinen. Ich weiß nicht, wie sicher Sie sich fühlen würden, wenn an unseren Grenzen Scud-Raketen einschlagen würden, die auch bis zu uns reichen würden, ({3}) und wenn Sie genau wissen würden, dass derjenige, der sie abschießt, über geschätzte 1 000 Tonnen chemische Massenvernichtungswaffen verfügt, die er gegen uns einsetzen kann. ({4}) Wir müssen doch damit rechnen, dass das Regime zerfällt, dass dann Chaos herrscht und dass dann irgendjemand in diesem Chaos auf die Idee kommt, sich bei denen zu rächen, die die Opposition unterstützt und zum Beispiel auch die Flüchtlinge aufgenommen haben. Die Türkei ist nun einmal das einzige Land in Reichweite. „In Reichweite“ ist hier durchaus wörtlich zu nehmen. Wenn das keine Bedrohung für ein Land und ein Volk darstellt, dann weiß ich nicht, was eine Bedrohung sein soll. Vor diesem Hintergrund finde ich auch die Diskussion über die Stationierungsorte nicht angemessen. Das Kriterium muss doch sein: „Wo entfalten die Raketen die größte Schutzwirkung? Wo sind Menschenansammlungen? Wo sind die großen Städte? Wo ist die wichtige Infrastruktur?“, und nicht: Je weiter weg von der Grenze, desto besser. Auch die Unterstellungen zwischen den Zeilen gegenüber der Türkei haben mich geärgert.Wenn die Türkei in ihrem Antrag explizit schreibt: „Es ist eine rein defensive Maßnahme, und es geht nicht um die DurchDr. Reinhard Brandl setzung einer Flugverbotszone“, dann sollten wir unserem Bündnispartner Türkei glauben. ({5}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind Teil der NATO. Wir haben von der Solidarität der Partner in der NATO jahrzehntelang profitiert. Jetzt sind wir gefragt, Solidarität zu zeigen. Wir sollten uns dem nicht verweigern. Ich bitte Sie herzlich um Zustimmung zu diesem Mandat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Bundesregierung zur Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11892, den Antrag der Bundesregie- rung auf Drucksache 17/11783 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na- mentlich ab. Hierzu liegen mir eine ganze Reihe persön- licher Erklärungen zur Abstimmung vor.1) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache darauf aufmerksam, dass wir jetzt noch nicht am Schluss der Tagesordnung sind und auch zu diesem Tagesordnungs- punkt noch eine Abstimmung durchführen werden. Des- halb wäre ich dankbar, wenn diejenigen, die jetzt an den Beratungen teilnehmen, Platz nehmen, sodass ich dann auch Abstimmungsergebnisse zweifelsfrei feststellen kann. Kollegin Vogler, wir stimmen jetzt gleich über einen Antrag Ihrer Fraktion ab. Es wäre schön, wenn ich fort- fahren könnte. Das gilt auch für die übrigen Mitglieder der Fraktion Die Linke, welche noch im Plenarsaal ste- hen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- che 17/11896. Wer stimmt für den Entschließungsan- trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 44 a bis 44 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingo Egloff, Burkhard Lischka, Sebastian Edathy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Genossenschaftsgründungen erleichtern, Wohnungsgenossenschaften stärken, bewährtes Prüfsystem erhalten - Drucksache 17/9976 ({0}) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Genossenschaften aktiv fördern, Mitgliedschaften erleichtern und unterstützen - Drucksache 17/11828 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Ingrid Hönlinger, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kleine und Kleinstgenossenschaften stärken, Bürokratie abbauen - Drucksache 17/11579 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ingo Egloff für die SPD-Fraktion. ({4})

Ingo Egloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der genossenschaftliche Teil der Wirtschaft hat sich in den 100 Jahren seines Bestehens gut behauptet. Die hohe Insolvenzfestigkeit und auch die zum Teil 1) Anlagen 8 bis 12 2) Ergebnis Seite 26565 C schon sehr alte und erfolgreiche Geschichte einiger Genossenschaften zeigt, dass man mit dieser Gesellschaftsform in einem marktwirtschaftlichen System überleben kann. Genossenschaften sind soziale, demokratische und verantwortungsbewusste Institutionen. Die Genossenschaft ist die einzige Rechtsform, die es erlaubt, bürgerschaftliches Engagement und wirtschaftliches Interesse unter einem Dach zu verbinden. Bei Genossenschaften steht die Befriedigung der eigenen Nutzerinteressen im Vordergrund, nicht die Rendite. Sie sind nicht anfällig für Spekulationen und auch nicht für feindliche Übernahmen. Keine Heuschrecke kann sie zerfleddern oder kaputtsanieren. Es ist vor allem dieser Unterschied zu den Kapitalgesellschaften, der sie gänzlich unbeeindruckt durch die Krise gebracht hat. So zeigen spätestens seit 2008 die Genossenschaftsbanken anschaulich, dass es solide Alternativen zum Finanzgebaren der Geschäftsbanken gibt. Die Wohnungsgenossenschaften sind das Kernstück eines sozialen Wohnungsmarktes. Über 5 Millionen Menschen wohnen in Deutschland in solchen Wohnungen und halten gleichzeitig Genossenschaftsanteile. In großen Städten wie Hamburg oder Berlin sind Wohnbaugenossenschaften das letzte Bollwerk gegen explodierende Mieten und die Verdrängung der angestammten Bewohner. Wir wollen am Ende dieses Jubiläumsjahres, des Internationalen Jahres der Genossenschaften, der stolzen Geschichte ein paar Kapitel hinzufügen. Mit unserem Antrag unterstützen wir die Genossenschaften in ihren traditionellen Geschäftsfeldern und fordern gezielte Maßnahmen zur Weiterentwicklung dieses genossenschaftlichen Wirtschaftens. ({0}) Der Deutsche Bundestag hat bereits in der Vergangenheit eine Reihe von Reformen eingeleitet, auf deren Ergebnissen unser aktueller Antrag aufbaut: In der Genossenschaftsgesetzesnovelle von 2006 waren es Anregungen aus der Europäischen Union, die zum Nutzen der Genossenschaften übernommen wurden: Ausweitung des Förderzwecks, eine geringere Vorgabe für die Mindestanzahl an Mitgliedern und Verzicht auf die Bestellung eines Aufsichtsrates für Kleinstgenossenschaften. Andere Grundlagen wurden indirekt gelegt: Im Anlegerschutzgesetz von 2005 wird bei Genossenschaften als einziger Rechtsform auf die Prospektpflicht verzichtet, und mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wurde die Geschäftsgrundlage für neue Energiegenossenschaften geschaffen, die in den letzten Jahren zahlreich gegründet worden sind. Die Zahl der nach 2006 gestiegenen Neugründungen ist erfreulich, aber im Vergleich zu Kapitalgesellschaften immer noch verschwindend gering. Ein großer Teil der neuen Genossenschaften füllt die Lücken, die der stetig sinkende Anteil der öffentlichen Hand an sozialen und kulturellen Leistungen hinterlässt. Genossenschaften entstehen in der Gesundheitsversorgung, als Träger ehemals kommunaler Aufgaben, auch in Form von Energiegenossenschaften und vor allem als Sozialgenossenschaften. Sie reagieren oftmals auf die Privatisierung ehemals staatlicher Leistungen, oder sie greifen Trends wie den demografischen Wandel schneller und in einer Weise auf, wie sie staatlicherseits nicht angeboten wird. Dieser Fortentwicklung der Genossenschaften außerhalb ihrer angestammten Felder müssen wir politisch Rechnung tragen. ({1}) Die SPD-Bundestagsfraktion stellt mit dem vorliegenden Antrag die Weichen dafür. Es ist uns gelungen, die verschiedensten Genossenschafts- und Raiffeisenverbände zur Mitarbeit an diesem Antrag anzuregen, eigene Vorschläge einzubringen und gemeinsam mit uns - salopp formuliert - dem genossenschaftlichen Dickschiff ein bisschen frischen Wind in die Segel zu blasen. Im gemeinsamen Interesse an der Förderung solidarischer Wirtschaftsformen bedanken wir uns ausdrücklich für die gemeinsame Arbeit bei den Genossenschaftsverbänden. Erfreulich finden wir, dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesjustizministerium, der Kollege Max Stadler, hier vor ein paar Tagen in der Befragung der Bundesregierung bereits in Aussicht gestellt hat, bis zum Ende der Legislaturperiode zu einem gesetzgebenden Verfahren zu kommen, das den fraktionsübergreifenden Wunsch nach verbesserten Bedingungen für Genossenschaftsgründungen erfüllt. Herr Kollege Stadler, ich glaube, wir laufen in die gleiche Richtung. Ich hoffe, dass wir hier gemeinsam Gutes zustande bringen und dafür sorgen werden, dass der Genossenschaftsgedanke gefördert wird. Ich will unseren Antrag, der sich in vielen Punkten mit Überlegungen anderer Fraktionen deckt, kurz begründen, bevor ich die Forderungen skizziere: Problem Nummer eins. Genossenschaften haben vergleichsweise hohe Rechtsformkosten, die mit erheblichem Aufwand verbunden sind. Die Gründungsprüfung vor der Eintragung in das Genossenschaftsregister wird von den Prüfungsverbänden gegen Entgelt durchgeführt. Für die regelmäßige Prüfung der Geschäftsführungen und Vermögen fallen Gebühren an. Hinzu kommen Rechnungslegungsvorschriften, Bilanz- und Veröffentlichungspflichten auch für sehr kleine Genossenschaften. Problemfeld zwei. Genossenschaftsgründer erhalten keine Gründungsförderung, weil die Förderprogramme auf die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit durch einen einzelnen Unternehmensgründer abzielen. Das Kriterium der ausreichenden unternehmerischen Entscheidungsfreiheit wird regelmäßig nicht zuerkannt, gerade bei Genossenschaften nicht, die offen auf Mitgliederzuwachs angelegt sind. Dasselbe gilt für den ERPGründerkredit, das sogenannte Startgeld der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Hier wird jeder Stimmenanteil eines anderen Gesellschafters, der Satzungsänderungen ermöglicht, als förderschädlich bewertet. Auch Beteiligungskapital der KfW wird nur dann gewährt, wenn der Antragsteller als Person mehr als 25 Prozent der Firmenanteile hält. Das ist selten ein Problem für kleine und selbst mittlere Kapitalgesellschaften, ist aber in Genossenschaften regelmäßig nicht der Fall. Problem Nummer drei. Genossenschaften können nur unter stark erschwerten Bedingungen Kredite ihrer Mitglieder aufnehmen. Darlehen ihrer Genossen stellen Bankgeschäfte dar, bei denen nach dem Kreditwesengesetz zum Beispiel verlangt wird, dass der Vorstand einer Genossenschaft über eine Bankleiterqualifikation verfügt. Das führt schon bei traditionellen Winzergenossenschaften zu Problemen, wie wir erfahren mussten, wird aber noch viel schwieriger bei Energiegenossenschaften und anderen investitionsintensiven Genossenschaften. Wir haben es speziell bei Wohnungsgenossenschaften mit einem beiderseitigen Problem zu tun, wenn Privatinsolvenzen eintreten. Einerseits kann der Insolvenzverwalter die Mitgliedschaft des Schuldners in der Wohnungsgenossenschaft kündigen. Das berechtigt diese zwar nicht zur Kündigung des Mietverhältnisses. Aber das Wohnrecht ist trotzdem gefährdet. Andererseits ist den Wohnungsgenossenschaften nicht zumutbar, sich in diesen Fällen immer häufiger in der Situation zu befinden, dass Bewohner keine Mitglieder mehr sind. Speziell die Genossenschaftsbanken sind von einem Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission betroffen, bei Unternehmen von öffentlichem Interesse einen regelmäßigen Wechsel des Abschlussprüfers zu erzwingen. Hier drohen auf nationales Recht zu übertragende Bestimmungen das bewährte und erfolgreiche System der Prüfung durch genossenschaftliche Prüfverbände auszuhebeln. Unsere Forderungen lauten deshalb: Erstens. Förderkriterien, die Genossenschaften benachteiligen, müssen ausgeschlossen sein. Nicht Mindestbeteiligungen, sondern die Organstellung sollte Kriterium von Förderrechtlinien sein. Damit Existenzgründungen in der Rechtsform der Genossenschaft in vergleichbarer Weise gefördert werden können, müssen gegebenenfalls neue, geeignete Förderinstrumente entwickelt werden. ({2}) Zweitens. Genossenschaften wird unter der Verpflichtung zur Offenlegung aller Risiken durch eine Änderung des Kreditwesengesetzes oder des Genossenschaftsgesetzes ermöglicht, zur Finanzierung des Genossenschaftsbetriebs Kredite ihrer Mitglieder aufzunehmen. Drittens. Wir wollen Erleichterungen für sogenannte Kleinstgenossenschaften in Anlehnung an die Kriterien der Micro-Richtlinie der Europäischen Union für Kapitalgesellschaften, die bezüglich Rechnungslegung sowie Prüf- und Veröffentlichungspflichten gewährt werden sollen. Viertens. Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften sollen im Falle der Privatinsolvenz vor dem Wohnungsverlust, im Gegenzug Wohnungsgenossenschaften vor Mietern ohne Genossenschaftsanteil geschützt werden. ({3}) Wir sollten auf dem Weg zu einer Gesetzesinitiative außerdem darauf achten, dass die Frage der Haftung bei ehrenamtlicher Vorstands- und Aufsichtsratstätigkeit für in Wahrnehmung ihrer Pflichten verursachte Schäden geklärt wird. Zu prüfen ist, ob sie entsprechend der Regelung für Vereinsvorstände in § 31 a BGB auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt werden kann. Geprüft werden sollte auch, ob und wie für genossenschaftliche Kultur- und Kreativunternehmer in Anlehnung an das geplante Investitionsprogramm für Sozialunternehmer ein KfW-Förderprogramm aufgelegt werden kann, und ab welcher Darlehenssumme es erforderlich ist, dass auch eine Kleinstgenossenschaft der Pflichtprüfung unterliegt, wenn sie von ihren Mitgliedern mehr als nur Kleinkredite aufnimmt. Von ganz erheblicher Bedeutung wird es außerdem sein, dass die Bundesregierung sich bei der EU-Kommission für die Genossenschaftsbanken starkmacht. Das bewährte gesetzliche Dauerprüfmandat der genossenschaftlichen Prüfungsverbände muss erhalten bleiben. ({4}) Insgesamt sind wir, so glaube ich, alle gemeinsam in der Lage, ruhig und sachlich über dieses Problem zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen, die der Tatsache Rechnung tragen, dass in Deutschland 21 Millionen Menschen Mitglied einer Genossenschaft sind. Das ist ein Viertel der Bevölkerung. Das zeigt, welche Bedeutung die 8 000 Genossenschaften in der Bundesrepublik Deutschland haben. Dessen sollten wir uns immer bewusst sein. Wir sollten Bewährtes erhalten - Stichwort „Insolvenzfestigkeit“ - und es trotzdem ermöglichen, dass neue Genossenschaften gegründet werden. Wenn wir das als Maßstab anlegen, sind wir gemeinsam auf einem guten Weg. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Detlef Seif für die Unionsfraktion. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Nach der über 150-jährigen Geschichte der Genossenschaften hat diese Unternehmensform in der Tat einen festen Platz in vielen wirtschaftlichen Bereichen unserer Gesellschaft: im Einkauf, im Verkauf, im Verkehrsbereich, im Kreditwesen und - das ist ganz besonders wichtig - im Wohnungswesen. Mit der letzten Novelle im Jahr 2006 wurde das Tätigkeitsfeld der Genossenschaften noch erweitert und auf soziale und kulturelle Zwecke ausgedehnt. Die Zahl der Gründungen war rückläufig. Die Zahl der Genossenschaften hatte im Jahr 2005 ihren Tiefststand erreicht. Es gab nur noch 75 Neugründungen. Man muss aber sehen, dass das auch der Fusion vieler Genossenschaften geschuldet ist. Die Novelle bewirkte jedenfalls, dass eine deutliche Zunahme der Neugründungen von Genossenschaften stattgefunden hat. Von 241 Neugründungen im Jahr 2009 stieg die Zahl im Jahr 2011 auf 370. Für einige Unternehmen - das haben die letzten Jahre gezeigt - steht die Gewinnmaximierung im Vordergrund: Börsennotierung, Dividende. Das ist auch kein Wunder. Der Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesellschaft wird danach bewertet, wie hoch der Profit für die einzelnen Aktionäre ist. Da ist es wohltuend, dass es in Abgrenzung dazu Genossenschaften gibt, deren Zweck darauf gerichtet ist, die einzelnen Mitglieder zu fördern. Der Mensch steht hier im Mittelpunkt. Die Genossen sind mit ihrer Gesellschaft persönlich verbunden; unabhängig von der Höhe des Geschäftsanteils hat man in der Regel nur eine Stimme. Deswegen wird die Genossenschaft zu Recht als die demokratischste Gesellschaft bezeichnet. Die Geschichte zeigt auch, dass es keine andere Unternehmensform gibt, die so gut durch wirtschaftlich schwierige Zeiten kommt. Das Insolvenzrisiko von Einzelunternehmen ist doppelt so hoch wie das von Genossenschaften, das Insolvenzrisiko von Aktiengesellschaften und GmbHs sogar siebenmal so hoch. Die Kreditgenossenschaften - das haben Sie schon angedeutet - haben sich in der Finanzmarktkrise als Pfeiler der Finanzwirtschaft erwiesen. Die Wohnungsgenossenschaften mit ihrer wichtigen Funktion der Wohnungsbeschaffung und -bereitstellung sind nicht wegzudenken. In der Zukunft werden wir es zunehmend auch mit Energiegenossenschaften zu tun haben. Wir alle wissen: Die Energiewende wird nur gelingen können, wenn wir auf eine dezentrale Stromversorgung setzen. Gerade da können Energiegenossenschaften eine wichtige Funktion einnehmen. ({0}) Genossenschaften sind also ein Erfolgsmodell. Insoweit ziehen wir eigentlich grundsätzlich am selben Strang. Festzuhalten ist aber, dass bereits die Novelle des Jahres 2006 viele Verbesserungen gebracht hat; Sie haben es ja im Einzelnen erläutert. Für wichtig erachte ich insbesondere, dass die Mindestmitgliederzahl auf drei reduziert wurde. Kleine Genossenschaften mit weniger als 20 Mitgliedern können Organe leichter bestellen. Da hat also schon viel Bürokratieabbau stattgefunden. Man hatte sich erhofft, durch die Abschaffung der Verpflichtung zur Prüfung des Jahresabschlusses bei kleineren Genossenschaften eine wesentliche Entlastung herbeizuführen. Die Prüfung hat aber ergeben: Die Entlastung lag tatsächlich nur in der Größenordnung von 20 Prozent. Der Bericht empfiehlt, eine kleine Genossenschaft oder die sogenannte Kooperativgenossenschaft einzuführen, die von der Pflichtmitgliedschaft und der Pflichtprüfung befreit ist. So sollen bürokratische Belastungen reduziert und Neugründungen von Kleingenossenschaften erleichtert werden. Aber was ist eine kleine Genossenschaft? Ab welchem Schwellenwert fängt sie an? Meine Damen und Herren, wir dürfen eins nicht übersehen: Wir haben zwar oftmals eine unerträgliche Bürokratie, aber hinter jeder Regelung steckt im Normalfall ein Sinn. Der Sinn gerade bei der Genossenschaftsprüfung liegt darin, den ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb sicherzustellen. Es gilt, sicherzustellen, dass gerade die Genossen geschützt werden, und sicherzustellen, dass auch die Gläubiger geschützt werden. Deshalb müssen wir höllisch aufpassen, dass wir in dem Bereich nicht eine Regelung einführen, die dies nicht in ausreichendem Umfang berücksichtigt. Warum? Die Genossenschaften haben sich bewährt. Wenn wir aber ein neues System einrichten, das ohne eine Prüfung arbeitet, dann besteht ein hohes Risiko, dass sich zukünftig gerade Kleinstgenossenschaften nicht so an Rechtsvorschriften halten, wie sie es sollten, dass Mängel, die in der Prüfung entdeckt werden könnten, nicht aufgedeckt werden. Ich denke, wir müssen daran arbeiten, dass in der Tat auch die Kleinstgenossenschaften von vornherein angehalten werden, Rechtsvorschriften zu beachten. Wenn jemand, der ein Unternehmen hat, weiß, dass er nicht geprüft wird, dann liegt es in der Natur der Sache, dass er leichtfertiger arbeitet. Genau da müssen wir ansetzen. Der Ansatz, hier grundsätzlich eine Neuregelung zu schaffen, ist gut; aber das muss mit dem Risiko abgewogen werden. ({1}) Meine Damen und Herren, SPD und Linke regen an, dass die Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften bei Privatinsolvenz vor Wohnungsverlust geschützt werden müssen. Dieser Ansatz ist richtig. Vor zwei Wochen haben wir in erster Lesung ein Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens beraten. Danach sieht der neue § 67 c des Genossenschaftsgesetzes vor: Die Kündigung der Mitgliedschaft in einer Wohnungsgenossenschaft durch den Gläubiger … oder den Insolvenzverwalter … ist ausgeschlossen, wenn 1. die Mitgliedschaft Voraussetzung für die Nutzung der Wohnung des Mitglieds ist und 2. sein Geschäftsguthaben höchstens das Vierfache des auf einen Monat entfallenden Nutzungsentgelts … beträgt. Das ist so ähnlich wie bei der Kautionsregelung. Man kann hier im Detail sicher darüber streiten, ob man in die eine oder andere Richtung geht. Ich meine, dieses Gesetz erfasst das Problem im Wesentlichen. Das ist eine sachgerechte Lösung. Hier und heute bräuchte es deshalb keine zusätzliche Gesetzesinitiative. Ich denke, die eine oder andere Anregung ist zumindest nachdenkenswert. Ich gehe auch davon aus, dass die Bundesregierung das in ihre Überlegungen mit einbeziehen wird. Wichtig ist aber, dass wir keine Schnellschüsse machen. So habe ich zum Beispiel Bedenken, ob die vorgeschlagene Kreditaufnahme der Genossenschaften bei Mitgliedern überhaupt zulässig ist. Das könnte nämlich einen Verstoß gegen Art. 5 der EU-Richtlinie über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute darstellen. Man muss diese rechtlichen Bedenken zumindest ausräumen. Wenn man das kann - in Ordnung -, dann kann man über diesen Punkt nachdenken. Ich gehe davon aus, dass auch Sie ein Interesse daran haben. Qualität geht vor Schnelligkeit. Wir werden alle gemeinsam daran arbeiten, dass die wichtigste Unternehmensform, Genossenschaft, zukünftig optimale Rahmenbedingungen hat. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung ({0}) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012“ bekannt: abgegebene Stimmen 555. Mit Ja haben 461 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 86, und es gab 8 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 555; davon ja: 461 nein: 86 enthalten: 8 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({1}) Manfred Behrens ({2}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({3}) Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Helge Braun Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Hermann Gröhe Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Florian Hahn Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Helmut Heiderich Mechthild Heil Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({6}) Volker Kauder Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({7}) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({8}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({9}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({10}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({11}) Anita Schäfer ({12}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({13}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({14}) Dr. Kristina Schröder ({15}) Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({16}) Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Vizepräsidentin Petra Pau Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({17}) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({18}) Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Peter Weiß ({19}) Sabine Weiss ({20}) Karl-Georg Wellmann Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Dirk Becker Uwe Beckmeyer Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Edelgard Bulmahn Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Kerstin Griese Gabriele Groneberg Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({21}) Hubertus Heil ({22}) Wolfgang Hellmich Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Frank Hofmann ({23}) Dr. Eva Högl Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Daniela Kolbe ({24}) Angelika Krüger-Leißner Christian Lange ({25}) Dr. Karl Lauterbach Burkhard Lischka Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Petra Merkel ({26}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({27}) Michael Roth ({28}) Annette Sawade Axel Schäfer ({29}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({30}) Werner Schieder ({31}) Ulla Schmidt ({32}) Carsten Schneider ({33}) Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({34}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Hans-Michael Goldmann Miriam Gruß Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({35}) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({36}) Michael Link ({37}) Dr. Erwin Lotter Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({38}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({39}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({40}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Serkan Tören ({41}) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({42}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({43}) Volker Beck ({44}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({45}) Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Ute Koczy Tom Koenigs Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({46}) Vizepräsidentin Petra Pau Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller ({47}) Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({48}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein SPD Klaus Barthel Bärbel Bas Lothar Binding ({49}) Ulla Burchardt Dr. Peter Danckert Angelika Graf ({50}) Hans-Joachim Hacker Petra Hinz ({51}) Dr. Bärbel Kofler Christine Lambrecht Steffen-Claudio Lemme Hilde Mattheis Swen Schulz ({52}) Dr. Marlies Volkmer Waltraud Wolff ({53}) DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer ({54}) Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Halina Wawzyniak Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann fraktionsloser Abgeordneter Wolfgang Nešković BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Marco Bülow ({55}) Ewald Schurer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Wir fahren nun fort in der Debatte zum Tagesordnungspunkt 44: Genossenschaftsgründungen. Das Wort hat die Kollegin Johanna Voß aus der Fraktion Die Linke. ({56})

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Jahr der Genossenschaften geht nun zu Ende. Zahlreiche Publikationen hat es gegeben, zahlreiche Veranstaltungen und Filmreihen haben stattgefunden. Eine Wahlkreisreise per Rad zu solidarischer Ökonomie hat mir gezeigt, wie viel sich tut: Eine-Welt-Läden, weitere Läden, neue Energiegenossenschaften, Jugend- und Beschäftigungsprojekte und mehr. Die Linke und die anderen Oppositionsfraktionen haben hier im Parlament sowohl in dieser Legislaturperiode als auch schon davor dazu fleißig gearbeitet, etwa in Form von Anfragen. Es gab auch eine Genossenschaftskonferenz der Linken. Die UNO hat mit dem Jahr der Genossenschaften mehr verbunden als den Wunsch, dass gefeiert wird. Sie hat eine Resolution mit einem Arbeitsauftrag verabschiedet. Sie fordert alle Mitgliedsländer auf, bekannt zu machen, welche Beiträge Genossenschaften zur Beseitigung von Armut und zur Sicherung des Lebensunterhalts leisten können. Sie fordert die Mitgliedstaaten auf, Genossenschaften zu fördern. Sie fordert dazu auf, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften für Genossenschaften zu überprüfen und die Bestandsfähigkeit von Genossenschaften zu stärken. Und da fehlt was. Dass wir hier heute überhaupt über Genossenschaften und den diesbezüglichen Reformbedarf sprechen, ist der geleisteten parlamentarischen Arbeit und den Anträgen der Opposition zu verdanken. Inzwischen sind Genossenschaften aber auch mehr und mehr zum Lückenbüßer geworden, nämlich dort, wo kaputtgesparte und durch Schuldenbremsen drangsalierte Kommunen ihre Aufgaben in der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht mehr wahrnehmen können. Genossenschaften sollen aber die öffentliche Daseinsvorsorge nicht ersetzen; sie dürfen nicht Lückenbüßer sein. Wir brauchen sozialen Wohnungsbau, gesicherte Gesundheitsversorgung, öffentliche Büchereien und Schwimmbäder auch ohne genossenschaftliche Beteiligung. ({0}) Auch dank vieler neuer Energiegenossenschaften, die zur Regionalisierung der Energieversorgung und zum Umstieg auf erneuerbare Energien beitragen, steigt die Anzahl der Genossenschaftsgründungen nun wieder. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Genossenschaften weit mehr Auftrieb erhalten könnten und sollten. Was sind die Hindernisse? Ein ganz wichtiges Hindernis ist: Für viele Selbsthilfeprojekte sind die Kosten zu hoch. Sie können die Gründungskosten und die Prüfungskosten nicht schultern. Ein weiteres Hindernis: Genossenschaften sind bei Fördermaßnahmen benachteiligt. Fördermaßnahmen sind oft auf individuelle, selbstständige Tätigkeiten zugeschnitten - Ingo Egloff hat das gerade gut ausgeführt -, und sie stehen für kollektive Lösungen nicht zur Verfügung. Noch etwas: Bildung über Genossenschaften wird in Schulen, in der Berufsausbildung und auch an Universitäten stiefväterlich behandelt. Sie gehört aber unbedingt in die Curricula. Diese Nachteile gehören beseitigt! Bitte denken Sie auch daran! ({1}) Seit 2006 gibt es für kleine Genossenschaften mit einer Bilanzsumme bis 1 Million Euro und einem Umsatz bis 2 Millionen Euro Erleichterungen bei den umfassenden Jahresabschlussprüfungen. Dass dies nicht reicht, hat die Linke schon damals kritisiert und eine weitergehende Befreiung gefordert. Weil kleine Genossenschaften immer noch regelrecht totgeprüft werden, wählen viele Initiativen andere Rechtsformen. Sie konstituieren sich beispielsweise als eingetragener Verein, wie dies zahlreiche Weltläden oder Dorfläden, auch in meinem Wohnort, tun. Die Reform von 2006 wurde im Jahr 2009 evaluiert. Es wurde empfohlen, weitere Erleichterungen zu schaffen. Im Mai dieses Jahres sprach der Petitionsausschuss eine ähnliche Empfehlung aus. Von Schnellschuss kann also keine Rede sein. Ich sage, dass sich die Regierung hier Versäumnisse vorwerfen lassen muss und nachliefern sollte. Alljährlich hat die Bundesregierung angekündigt, dass sie hierzu noch einen Gesetzentwurf vorlegen wird. Im November 2011 kündigte sie das in einer Antwort auf eine Frage der Kollegin Hönlinger an. Auch in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken im Sommer dieses Jahres hat sie das angekündigt. Heute wieder. Ich frage Sie: Wann legen Sie endlich einen Entwurf vor? Gibt es beim Thema Genossenschaften von Ihnen noch etwas anderes als Ankündigungen? ({2}) Leider ist auch nicht überall, wo Genossenschaft drauf steht, Genossenschaft drin. In den letzten beiden Novellen wurden die Rechtsgrundlagen der Genossenschaften immer mehr denen von Kapitalgesellschaften angepasst. Wir wollen die Demokratie in Genossenschaften wieder stärken und die Rechte der Generalversammlung und der Mitglieder wieder ausbauen. ({3}) Auch den Einfluss sogenannter investierender Mitglieder auf die Geschäftspolitik wollen wir beschränken; denn hier geht es vor allem um die Dividende und nicht um das Wohl der Mitglieder. ({4}) Zu den Agrargenossenschaften. Rund 850 Agrargenossenschaften gibt es in Ostdeutschland. Sie haben dort in der Landwirtschaft einen Anteil von 27 Prozent. Sie produzieren gemeinschaftlich, betreiben keinen Raubbau im Interesse kurzfristiger Renditen. Sie erhalten und schaffen Arbeitsplätze im Dorf, bilden Lehrlinge aus und erbringen Leistungen für das Dorf; und das alles in einer weitgehend demokratischen Wirtschaftsform nach dem Prinzip: ein Mann/eine Frau - eine Stimme. ({5}) Agrargenossenschaften mit gelebten genossenschaftlichen Prinzipien sind Vorbild für eine zukunftsfähige Landwirtschaft. Sie produzieren nachhaltig, ökologisch, tiergerecht und auch effizient. Deshalb müssen sie in ihrer Besonderheit gestärkt werden. Sie dürfen nicht zu verkleideten Kapitalgesellschaften mutieren. ({6}) In der Agrarpolitik dürfen sie nicht diskriminiert werden. Wir wollen eine stärkere Berücksichtigung der Genossenschaften bei der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU ({7}) und in der Bodenpolitik, vor allem bei der Privatisierung der BVVG-Flächen. Sie brauchen auch Schutz vor feindlichen Übernahmen durch Kapitalgesellschaften. ({8}) Die Potenziale der Genossenschaften sollten in der Agrarressortforschung und in der Agrarberichterstattung stärker als bislang berücksichtigt und präsentiert werden. ({9}) Zu den Wohnungsgenossenschaften. Heidrun Bluhm hat bereits einiges gesagt. Viele Mieter fühlen sich nicht wohl. Sie haben keine Mitspracherechte mehr, und es wird ein Mietwucher betrieben, wie es auch sonst in der Wohnungspolitik üblich ist, gerade in Berlin. ({10}) Ich danke meiner Namenskollegin Elisabeth Voß für ihre geleistete Arbeit und für ihr Buch. Sie hat viel für die Genossenschaften und die Verbreitung der guten Gedanken, die mit dieser Bewegung verbunden sind, getan. Das internationale Jahr der Genossenschaften geht nun zu Ende. Da heißt es für die Bundesregierung: Liefern! Nicht immer nur ankündigen, liefern! ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Marco Buschmann hat nun für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über Anregungen für die Änderung des Rechts der eingetragenen Genossenschaften. Dies ist gut; denn diese Rechtsform ist extrem praxisrelevant. Die Genossenschaftsbanken sind schon erwähnt worden. Sie bilden eine ausgesprochen stabile, gleichberechtigte und unverzichtbare dritte Säule im deutschen Bankensystem. Die Einkaufs- und Absatzgenossenschaften haben eine wichtige Funktion für den Mittelstand, weil Größenvorteile größerer Wettbewerber ausgeglichen werden, indem kleine Unternehmen miteinander kooperieren. Auch über die Wohnungsbaugenossenschaften und über die Energiegenossenschaften haben wir schon viel gehört. Es werden hier Vorschläge zur Entbürokratisierung gemacht, insbesondere in der Gründungsphase, im Prüfungswesen und bei den Bilanzierungspflichten. Diese Anregungen sind im Grundsatz zu begrüßen. Herr Kollege Egloff hat ja schon angedeutet, dass im Hause grundsätzlich kein Dissens darüber besteht, dass hier etwas zu tun ist. Gerade deshalb brauchen wir die Entschließungsanträge vielleicht gar nicht, weil ja allgemein bekannt ist, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen wird, ({0}) der gerade die Gründung erleichtern soll - Stichwort: „Minigenossenschaften“ -; das konnten wir auch schon in den Zeitungen lesen. Herr Kollege Egloff, Sie haben recht, wenn Sie mir entgegenhalten, dann könnten wir, was diese Punkte angeht, hier einen breiten Konsens finden. Allerdings ist es so, dass Sie, so meine ich, in Ihren Vorschlägen zum Teil über das hinausgehen, was ein umsichtiger und kluger Gesetzgeber tun sollte; Herr Kollege Seif hat das schon angedeutet. Aus der Perspektive des Verbraucher- und Anlegerschutzes schießen Sie über bestimmte Grenzen hinaus. Das ist, glaube ich, nicht klug; denn Sie behandeln die Genossenschaft - das merkt man in Ihrem Antrag und Ihren Begründungen ganz deutlich - wie einen eingetragenen Verein oder eine GmbH. Das erkennt man auch bei den Schwellenwerten, die Sie zugrunde legen. Das halte ich für einen Denkfehler. Die Genossenschaft ist ihrem Wesen nach eine Publikumsgesellschaft. Das hält das Genossenschaftsgesetz in § 1 Abs. 1 ausdrücklich fest. Demnach ist die Genossenschaft definiert als eine Gesellschaft „von nicht geschlossener Mitgliederzahl“. Ihre Mitgliedschaft ist also potenziell breit gestreut; die Zahl von 21 Millionen Mitgliedern spricht Bände. Die Genossenschaft richtet sich auch an geschäftlich unerfahrenes Publikum, nicht zwingend, aber eben potenziell. Denken Sie beispielsweise an die sogenannten Konsumentenvereine, dort liegt das bereits im Wesen. Da sich eine Publikumsgesellschaft an Gesellschafter wendet, die ganz anders als der GmbH-Gesellschafter keinen unmittelbaren Einfluss auf die Geschäftsführung haben, besteht ein entscheidender Unterschied etwa zur GmbH. Der Genosse ähnelt also eher dem Aktionär, der ja bekanntlich auch keinen unmittelbaren Einfluss auf die Geschäftsführung der Aktiengesellschaft hat. Der große Unterschied, auf den es mir jetzt ankommt, wenn wir hier feststellen, dass es sich bei der Genossenschaft sozusagen um eine Publikumsgesellschaft handelt, liegt darin, dass die Genossenschaft, anders als die Aktiengesellschaft, das Risiko der unbeschränkten Haftung mit dem Privatvermögen birgt. Diese Tatsache muss man vielen Kollegen noch einmal ins Gedächtnis rufen. § 6 Nr. 3 des Genossenschaftsgesetzes sieht vor, dass die Satzung vorsehen kann, dass im Fall der Insolvenz unbeschränkter Nachschuss geleistet werden muss. Kübler und Assmann bringen das in ihrem Lehrbuch auf die schöne Formel: Jeder Genosse kann in der Insolvenz der eingetragenen Genossenschaft mit seinem ganzen Vermögen in Anspruch genommen werden; solange auch nur ein Genosse zahlungsfähig ist, haben die Gläubiger Aussicht auf volle Befriedigung. Zwar kennt auch die GmbH die Nachschusspflicht, aber bei der GmbH hat es der Gesellschafter eben selber in der Hand, diesen Fall abzuwenden, weil er selber Kontrollmöglichkeiten und Einfluss auf die Geschäftsführung hat. Wir haben es also mit einer ganz eigenwilligen Kombination im deutschen Gesellschaftsrecht zu tun, nämlich mit einer Publikumsgesellschaft, die sich auch an unerfahrene Anleger wendet, kombiniert mit dem potenziellen Risiko der unbeschränkten Haftung dieser Anleger mit ihrem gesamten Privatvermögen. Diese eigenwillige Kombination macht es aus der Perspektive des Verbraucher- und Anlegerschutzes zwingend erforderlich, dass man als Gesetzgeber entsprechende Vorkehrungen trifft. Herr Kollege Seif hat das ja schon angedeutet. Die Antwort des Gesetzgebers auf dieses besondere Regelungsproblem, das niemand ignorieren kann, ist eben das Prüfungswesen: zum einen die Gründungsprüfung und zum anderen die Prüfungsverbände mit ihren besonders qualifizierten und erfahrenen Prüfern, die dafür sorgen sollen, dass in dieser besonderen Konstellation das Risiko für die Mitglieder der Genossenschaften überschaubar bleibt. Dieses Instrument hat sich bewährt. Die niedrige Zahl der Insolvenzen, diese Insolvenzfestigkeit, ist nicht nur, aber auch auf dieses Prüfungswesen zurückzuführen. SPD und insbesondere Grüne wollen nun diese Prüfungspflichten außen vor lassen und die Möglichkeit zur Genossenschaftsgründung allein vom Vorliegen bestimmter Bilanzkennziffern abhängig machen. Sie haben sich dabei an der Micro-Richtlinie orientiert, die im Wesentlichen auf kleine Kapitalgesellschaften abzielt. Das ist, glaube ich, nicht sachgerecht. Wenn man Genossenschaftsgründungen erleichtern und Prüfungspflichten verringern möchte, dann muss man auch das besondere Risiko, das ich vorhin skizziert habe, nämlich die potenziell unbegrenzte Nachschusspflicht, zwingend in den Blick nehmen, und zwar aus Gründen des Anleger- und Verbraucherschutzes. Ich meine, wenn man solche Erleichterungen vornehmen will, muss man, um den geschäftlich Unerfahrenen zu schützen, zwingend festlegen, dass die Satzung eine unbegrenzte Nachschusspflicht bzw. eine Nachschusspflicht überhaupt nicht vorsehen darf. Denn ich glaube, niemand hat etwas davon, wenn man über Fälle in den Zeitungen liest, in denen sich Unerfahrene auf dieses Risiko eingelassen haben und möglicherweise am Ende ruiniert sind. Das würde dem Genossenschaftswesen sicherlich schaden. Deshalb halte ich es für zwingend erforderlich, so etwas festzulegen. Genau diese Anforderung fehlt allerdings in Ihren Anträgen gänzlich. Es gibt auch noch andere Gründe, aber allein aus gesellschaftsrechtlichen Gründen, aus Gründen des Anleger- und Verbraucherschutzes halte ich sie für nicht zustimmungsfähig. Hier müssen wir bei der Beratung mehr ins Detail gehen; die Gründung von Genossenschaften darf nicht einfach an Bilanzkennziffern festgemacht werden. Lassen Sie mich am letzten Sitzungstag vor Weihnachten versöhnlich schließen: Ich glaube, einem konstruktiven Gespräch steht nichts im Wege. Ich habe Ihnen ausführlich begründet - ohne Schaum vor dem Mund, sondern mit guten Sachargumenten -, warum ich mich Ihren Vorschlägen nicht in Gänze anschließen kann. Aber ich freue mich auf die konstruktiven Beratungen, sobald der Gesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt. Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest und einen guten Rutsch. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich nicht nur vor Weihnachten, wenn Sie keinen Schaum vor dem Mund haben, wenn wir hier diskutieren. „Gemeinsam mehr erreichen“, das ist der Grundgedanke der Genossenschaften. Ob Dorfladen, Energiegenossenschaften oder regionale Volks- und Raiffeisenbanken: In der Gemeinschaft lassen sich Ziele leichter erreichen. Wie kein anderes Modell bieten genossenschaftliche Unternehmen die Möglichkeit der Mitwirkung und Mitgestaltung. Die eingetragene Genossenschaft ist traditionell seit vielen Jahren die mit Abstand insolvenzsicherste Rechtsform in Deutschland. Die Insolvenzquote lag 2011 bei 0,13 Prozent. Das ist außergewöhnlich gut. Das ist doch genau das, was eine starke Gesellschaft braucht: dass sich Menschen solidarisch zusammenschließen, um gemeinsam für soziale oder ökologische Zwecke einzutreten. Wenn das dann auch noch wirtschaftlich ist, ist es umso besser. ({0}) Gerade jetzt, 2012, im internationalen Jahr der Genossenschaften, sollte man also ansetzen, um die gute Struktur weiter zu verbessern. Es ist allerdings nicht mehr allzu viel Zeit. Wir wollen, dass es leichter und attraktiver wird, Genossenschaften zu gründen. Deshalb braucht es vereinfachte Bedingungen für kleine und Kleinstgenossenschaften. ({1}) Ein konkreter Punkt ist: Kleinstgenossenschaften sollen zukünftig selbst darüber entscheiden dürfen, ob die sogenannte Pflichtprüfung durch den Genossenschaftsverband durchgeführt werden soll. Das soll für Genossenschaften bis zu einem Schwellenwert von 350 000 Euro Bilanzsumme und 700 000 Euro Umsatzerlöse gelten. Für Kleinstgenossenschaften steht die finanzielle Belastung durch gesetzliche Prüfungen nicht immer im Verhältnis zu ihrer Finanzkraft. Sie sollen also freiwillig wählen, ob sie den Genossenschaftsverband zur Unterstützung heranziehen wollen. Das erscheint uns fair. Machen wir es den Kleinen doch nicht unnötig schwer! ({2}) Für kleine Genossenschaften, die bereits jetzt die Pflichtprüfung nur alle zwei Jahre durchführen lassen, soll es neue Schwellenwerte geben. Wir schlagen vor, die Bilanzsumme auf 4,84 Millionen Euro und den Umsatz auf 9,68 Millionen Euro zu erhöhen. Wir stellen sie damit Kapitalgesellschaften gleich. Die neuen Schwellenwerte passen wir dem Handelsgesetzbuch an. So sinken die Prüfkosten. Damit ist es aber nicht getan. Wir wollen die Haftung ehrenamtlicher Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder gegenüber der Genossenschaft auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränken oder den Haftungsbetrag reduzieren, weil nur so die Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement in Genossenschaften gefördert werden kann. Das ist gut so; denn wir alle wissen und sind uns sicher einig, dass nicht nur die Gesellschaft insgesamt, sondern sicherlich auch die Genossenschaften von ehrenamtlichem Engagement leben. Das wollen wir fördern, denn es dient dem Gemeinwohl. ({3}) Im Hinblick auf die Existenzgründung - Sie haben es angesprochen - müssen in unseren Augen bessere Förderbedingungen geschaffen werden. Die staatliche Gründungsförderung ist bei dieser zukunftsfähigen Rechtsform im Vergleich zu anderen Rechtsformen derzeit völlig unzureichend. Fördermittel werden in der Regel vergeben, um einzelne Unternehmer zu unterstützen. Eine solche Förderung ist für Genossenschaften in der Regel uninteressant, da die Vorstandsmitglieder selbst nicht mit erheblichem Kapital an der Finanzierung beteiligt sind. Die Förderprogramme sollen so eingerichtet werden, dass darüber die Kosten der Gründungsprüfung aufgefangen werden, sofern entsprechende soziale und ökologische Bedingungen erfüllt werden. Wir wollen es den Genossenschaften erleichtern, bei ihren Mitgliedern Kredite aufzunehmen. Das Kapital von neu gegründeten kleinen Genossenschaften ist oft sehr gering. Wächst die Genossenschaft, indem immer mehr Mitglieder hinzukommen, dann wächst auch der organisatorische Aufwand. Genossenschaften sind nicht nur zu regelmäßigen Meldungen an die Bankenaufsicht verpflichtet. Beispielsweise muss der Vorstand auch über die Bankleiterqualifikation verfügen. Das ist gerade in kleinen Genossenschaften manchmal einfach unerfüllbar. Engagement darf nicht mit schier unüberwindbaren bürokratischen Hürden aufgehalten werden; wir wollen es fördern. Außerdem muss die Insolvenzordnung hinsichtlich der Genossenschaften überprüft werden, und zwar im Hinblick auf die Übernahme eines Krisenbetriebes oder eines insolventen Unternehmens. Hier muss geschaut werden, ob solche Betriebe seitens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gefördert werden können. ({4}) Ganz besonderes Augenmerk legen wir dabei auf Wohnungsgenossenschaften. Bei der Privatinsolvenz eines Mitglieds einer Wohnungsgenossenschaft droht der Wohnungsverlust. Das kann und darf nicht sein. Wir wollen deshalb, dass ein Ausweg aus dieser ungerechten Situation gefunden wird. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir finden Ihren Antrag gut. Er geht uns aber in manchen Punkten nicht weit genug. Wir machen sozusagen Nägel mit ein bisschen größeren Köpfen. Ein Unterschied ist zum Beispiel, dass wir die Schwellenwerte bei der Kategorisierung als sogenannte kleine Genossenschaften anheben wollen. Diese Genossenschaften müssen nur alle zwei Jahre zur Pflichtprüfung. Da gehen wir also mit den Erleichterungen ein Stück weiter. ({6}) - Ja, wir finden das sinnvoll. Aber wir können gerne darüber reden. - Die Forderungen der Linken sind uns ein bisschen zu diffus. Wir hätten es gern, dass Sie etwas Konkreteres vorlegen. Von der Regierungskoalition haben wir 2012 leider wenig zu diesem Thema gehört. Wir finden, dass Sie nicht zu viele Bedenken haben sollten. Sie sollten aus dem Jahr 2013 nicht wieder ein Jahr der Ankündigungen machen, sondern wirklich Änderungen vorlegen. Nachhaltigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Selbsthilfe und Effizienz sind Markenzeichen der demokratischen Gesellschaftsform der Genossenschaft. Wir wollen deshalb Genossenschaften stärken und weiter voranbringen. Wir waren bei der Vorbereitung unseres Antrags mit vielen relevanten Akteuren im Bereich der Genossenschaften im Gespräch. An dieser Stelle herzlichen Dank an unsere Gesprächspartner. Wir finden, dabei ist ein praxisorientiertes, gutes Papier herausgekommen; ich werbe um Ihre Zustimmung. „Gemeinsam mehr erreichen“ - das ist das Motto der Genossenschaften. Auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss daran gelegen sein, solche Ideen voranzubringen. Ich danke Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen frohe Festtage und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Matthias Heider das Wort. ({0})

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn 21 Millionen Menschen in Deutschland einem gemeinsamen Grundgedanken folgen, dann muss da etwas dran sein. Wenn über 7 600 eingetragene Genossenschaften das Wir vor das Ich stellen, dann ist das ein Erfolgsmodell. Wenn Genossenschaften in Zeiten der Verwerfungen an den Finanzmärkten mit Selbsthilfe, in Selbstverantwortung und Selbstverwaltung handeln, dann zeigt dies: Es handelt sich um ein Modell, über das wir uns im kommenden Jahr etwas länger unterhalten müssen. Genossenschaften sind allerdings keine Patentlösung für alle gesellschaftlichen oder ökonomischen Probleme. Sie handeln nicht in einem öffentlichen Auftrag und sind in der Regel keine Non-Profit-Organisationen. Gegenstand ihres Geschäfts - der Kollege Buschmann hat richtigerweise darauf hingewiesen - ist eine unternehmerische Tätigkeit. Die regionale Verankerung und die feste Bindung an ihre Mitglieder bringt eine Vielzahl von Geschäftsmodellen hervor, die im Vergleich zu anderen Unternehmen und auch Rechtsformen bodenständiger und in der Tat auch viel nachhaltiger sind. Die relativ geringe Insolvenzquote - fast alle Redner haben sie angesprochen - zeigt, dass die Erfolge in der inneren Struktur unserer Genossenschaften liegen. Fernab von den Finanzmärkten, die ich gerade schon erwähnt habe, sind es insbesondere die kleinen Genossenschaften, die sich jetzt an vielen einzelnen Stellen in der Gesellschaft etablieren und denen eine immer größere Bedeutung zukommt. Ich spreche zum Beispiel von den kleinen Dorfläden, die entstehen, wenn sich große Discounter zurückziehen oder wenn dem Tante-EmmaLaden in den kleinen Ortschaften im ländlichen Raum die Luft ausgegangen ist. Ich will nicht all das wiederholen, was schon gesagt worden ist. Lassen Sie mich daher folgendes Beispiel nennen. In meinem Wahlkreis gibt es einen solchen kleinen Dorfladen, in einem kleinen sauerländischen Dörfchen mit tausend Einwohnern, in Hüinghausen. Dort gab es zuvor keinen Lebensmittelladen mehr. Die Dorfbewohner haben jetzt Verantwortung übernommen, und sie beliefern ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Haushaltswaren, mit Lebensmittel und mit Tierfutter. Es gibt auch einen Bringservice. Die Mitglieder dieser Genossenschaft haben einen Slogan: „Wir werden alles tun, damit unser Dorf eine Zukunft hat“. Sie wollen den Zusammenhalt von Jung und Alt fördern und das Wir-Gefühl stärken. Das ist genau der Kern der Botschaft der Genossenschaftserfinder Raiffeisen und Schulze-Delitzsch im 19. Jahrhundert. Viele Neugründungen von Genossenschaften zwischen 2006 und 2010, immerhin über 900, finden in innovativen Geschäftsfeldern statt. Genossenschaften sind Pioniere neuer Märkte wie im Bereich der Energiewirtschaftsdienstleistungen, aber auch der neuen Sozialleistungen. Es gab alleine 485 neu gegründete Energiegenossenschaften, die vor allem im ländlichen Raum und in den kleinen Gemeinden entstanden sind. Es freut mich, dass wir ein Thema gefunden haben, zu dem wir offenbar fraktionsübergreifend sehr schnell eine gemeinsame Meinung erzielen könnten. Unser gemeinsames Anliegen muss es sein - Kollege Egloff hat das einleitend richtig gesagt -, die Genossenschaftsgründungen zu erleichtern, Genossenschaften zu fördern, unnütze Bürokratien abzubauen und Kosten zu minimieren. Zu der Feststellung dieser Zielsätze hätte es eigentlich keiner Anträge bedurft. Lassen Sie mich an dieser Stelle - nicht allzu kleinkariert - kurz vor Weihnachten sagen: Wir hätten uns gefreut, wenn Sie im Zuge der Beratung des Jahressteuergesetzes 2013 schon im Vermittlungsausschuss dafür gestimmt hätten, die Aufbewahrungspflicht von zehn auf acht Jahre zu verkürzen. Das wäre eine schnelle Hilfe für die Genossenschaften gewesen. ({0}) Es gibt in den Anträgen dennoch einige Unterschiede. Diese Baustellen müssen wir uns im nächsten Jahr genauer anschauen. Bei intensiver Betrachtung eignen sie sich unter Umständen für eine längere Diskussion. Es geht im Wesentlichen um die Haftung und um die Nachschusspflicht, es geht um die genossenschaftliche Pflichtprüfung, und es geht um die Einführung der sogenannten Kleinstgenossenschaften. Die genossenschaftliche Pflichtprüfung ist eine betreuende und besonders umfassende, periodische Prüfung der gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse. Dieses Bewertungsregime hat sich seit 1889 bewährt. Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts, das 2001 das so entschieden hat, ist die Pflichtmitgliedschaft von Genossenschaften im Prüfungsverband verfassungsgemäß, und sie dient dem Schutz der Genossenschaftsmitglieder und dem Schutz der Gläubiger. Einerseits soll die Position der Mitglieder im Innenverhältnis zur Genossenschaft besonders gesichert und gestärkt werden. Gleichzeitig werden der ordnungsgemäße wirtschaftliche Umgang mit den von den Mitgliedern gehaltenen Geschäftsanteilen überprüft und die Genossen vor den möglichen wirtschaftlichen Folgen ihres Tuns frühzeitig gewarnt und bewahrt. Dieses hohe Schutzniveau, das wir in der Genossenschaft vorfinden, ist letztendlich der innere Kern der Genossenschaften und der Grund, weshalb wir so wenige Insolvenzen auf diesem Sektor beobachten können. Auf der anderen Seite sollen natürlich auch die Gläubiger der Genossenschaften vor Schaden bewahrt werden. Dieses Prüfungssystem gewährleistet eine Sicherheit, die man sicherlich bei keiner anderen Rechtsform in dieser Ausführlichkeit feststellen kann. Es bleibt also festzuhalten: Die Pflichtprüfung ist grundsätzlich etwas Gutes. Sie bietet eine Sicherheit für dieses Geschäftsmodell. Das ist eine verpflichtende Prüfung. Meine Fraktion hat das bereits 2006 mit einer Veränderung der jährlichen Prüfungsperiode bei einer Bilanzsumme unter 2 Millionen Euro vorangetrieben. Ich sehe aber auch, dass wir Raum für weitere Änderungen haben. Vielleicht können wir vom verpflichtenden geprüften Jahresabschluss bei einigen, weiteren Genossenschaften anderer Größenordnung im zweiten Geschäftsjahr absehen. Voraussetzung dafür ist aber erstens, dass im Innenverhältnis der Schuldner - Stichwort: Haftungsbeschränkung - vor weitergehender Haftung und Nachschusspflicht geschützt wird, und zweitens, dass im Außenverhältnis dem Gläubiger durch entsprechende Firmierung als haftungsbeschränkte Genossenschaft signalisiert wird, dass eine Kontrolle der wirtschaftlichen Verhältnisse entsprechend der Pflichtprüfung alter Prägung nicht stattfindet. Das ist auch ein Kreditargument der Genossenschaft. Das wird man näher beleuchten müssen. Mit anderen Worten: Wir sollten in der Diskussion keine Automatismen entstehen lassen. Die Anträge der Opposition gehen in die richtige Richtung. Im Detail werden wir das noch nachvollziehen müssen. Ich begrüße es, dass das Bundesjustizministerium signalisiert hat, dass es im nächsten Jahr einen Gesetzentwurf zum Thema Genossenschaften geben kann. Da das offensichtlich fraktionsübergreifend begrüßt wird, wünsche ich mir, dass wir darüber noch einmal intensiv diskutieren. An dieser Stelle darf ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit danken und Ihnen ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Wir sehen uns im nächsten Jahr wieder. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter das Wort. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Weihnachtszeit, und man kann wirklich sagen: Genossenschaften sind wahrlich ein Gewinn für alle. Das stimmt. Das Motto des Genossenschaftsjahres hat sich wirklich bestätigt. Genossenschaften haben auch vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise bewiesen, dass „Mehr Wir und weniger Ich!“ das richtige Rüstzeug ist, um gut durch Krisen zu kommen. Das Konzept der gemeinschaftlichen Selbsthilfe ist aufgegangen. Im Mittelpunkt der Genossenschaft steht die langfristige Orientierung an den Mitgliedsinteressen und nicht die kurzfristige Gewinnmaximierung. Die Identität von Eigentümer und Kunde ist ein prägendes Merkmal. Genossenschaften sind vor allem regional verankert, und ihre Mitglieder sind fest mit ihnen verbunden, sodass sie Geschäftsmodelle hervorbringen, die im Vergleich zu anderen Unternehmen bodenständiger und nachhaltiger sind. Dem Gründungszweck sind keine Grenzen gesetzt. Entscheidend ist, dass Menschen in ihrer Region und ihrem Umfeld gemeinsam etwas positiv bewegen und verändern wollen. Ich glaube, wir sind uns in diesem Bereich wirklich einig. Bauen Sie aber bitte nicht wieder Hürden durch Bürokratie und Angst vor Haftung auf. Meines Wissens ist bisher noch nie der Fall eingetreten, dass Mitglieder mit ihrem persönlichen Vermögen haften mussten, wie Sie es beschrieben haben. ({0}) Ich komme aus dem ländlichen Raum, aus dem Schwarzwald. Gerade in ländlichen Räumen bietet die Rechtsform der Genossenschaft eine große Chance. Wir haben Genossenschaften im Bereich der Nahversorgung, der Energieerzeugung und der Vermarktung. Wir haben Genossenschaften im Bereich der medizinischen Versorgung und im Bereich der sozialen Infrastruktur, zum Beispiel bei Schwimmbädern, Freizeit- und Bildungseinrichtungen oder bei kulturellen Einrichtungen. Dies ist vor dem Hintergrund des demografischen Wandels besonders interessant, aber auch angesichts der immer knapper werdenden Kassen der Kommunen. Es gibt zahlreiche Beispiele. So wie es im Sauerland ist, ist es auch im Hochschwarzwald. Es gibt zum Beispiel in dem kleinen Ort St. Märgen eine solche Initiative. Dort wurde mit einer Bürgerinitiative ein wahres Kulturgut, ein Haus, vor dem Abriss bewahrt. Es war erst ein Pilgerheim des Klosters von St. Märgen, dann war es ein Grandhotel, dann sollte es dem Bagger zum Opfer fallen. Einige Frauen haben es geschafft - die Initiative ging von den Landfrauen aus -, eine Genossenschaft zu gründen, die in dem Haus ein Café betreibt, in dem familienfreundliche Teilzeitarbeitsplätze gesichert und regionale Lebensmittel verwertet werden. Dies ist also ein echtes Pfund, mit dem man wuchern kann. Zahlreiche Energiegenossenschaften haben sich gegründet. Sie bieten eine großartige Chance, die Menschen bei der Energiewende mitzunehmen und sie einzubeziehen. Genossenschaften sind, wie gesagt, keine Patentlösungen. Ihre Merkmale sind jedoch in mehrfacher Hinsicht dazu geeignet, einen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mehrwert hervorzubringen. Warum gibt es nicht mehr? Die Rechtsformkosten sind hoch, und der erhebliche Aufwand, den man betreiben muss, ist abschreckend; er schreckt viele von der Gründung vor allem sehr kleiner Genossenschaft ab. Wir müssen hier einen Ausgleich finden. Die Genossenschaften müssen das gewährleisten können, für das sie stehen, nämlich Sicherheit. Es ist eine Rechtsform, die zur Bewältigung bestimmter Herausforderungen besonders geeignet ist. Daher sollte man die Hürden für Genossenschaften senken. Wir wollen die rechtlichen und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für genossenschaftliches Wirtschaften verbessern. Deswegen wollen wir die Gruppe der Kleinstgenossenschaften einführen. Diese sollen bei der Rechnungslegung davon befreit werden, einen Anhang zu erstellen und den Jahresabschluss im Bundesanzeiger zu veröffentlichen. Kleinstgenossenschaften sollen von der Prüfpflicht befreit werden. Sie müssen den Jahresabschluss aber an den Prüfungsverband senden und sind diesem auskunftspflichtig. Sie sollen auch - das finde ich ganz wichtig - Gründungs- und Fördermittel bekommen können. Warum sollen die Kleinstgenossenschaften davon ausgeschlossen sein? Manchmal wird genau das als letzter Kick gebraucht, um eine Kleinstgenossenschaft zu gründen, mit der man zum Beispiel die oben genannten Herausforderungen im ländlichen Raum bewältigen kann. Genossenschaften haben sich seit mehr als 100 Jahren als Erfolgsmodell bewiesen. Lassen Sie uns gemeinsam dieses Potenzial heben. Geben Sie Ihrem Herzen einen Ruck und verlieren Sie sich nicht wieder in bürokratischen Vorwänden. Dann können wir zusammen ein gutes neues Jahr haben. Frohe Weihnachten. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in unserem Gesellschaftsrecht eine lange Tradition unterschiedlicher Rechtsformen, Gesellschaftsformen von BGB-Gesellschaften bis hin zu börsennotierten Aktiengesellschaften. Dieses Gesellschaftsrecht ist durchaus dynamisch angelegt, so wie die Märkte, auf denen sich diese Gesellschaften bewegen. Gerade die Europäisierung und die Internationalisierung unserer Rechtsordnung haben dazu geführt, dass auch neue Rechtsformen, Gesellschaftsformen etabliert worden sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die englische Limited, die sich seit einigen Jahren auch bei uns wachsender Beliebtheit erfreut. Wichtig ist allerdings, dass jeder die Gesellschaftsform wählen kann, die seinen Ansprüchen am nächsten kommt. Wir haben die Situation, dass die unterschiedlichen Gesellschaftsformen mit spezifischen Vor- und Nachteilen verbunden sind, die wohl abgewogen werden müssen. Wir können als Gesetzgeber den Rahmen dafür bieten, aber welche Gesellschaftsform letztlich gewählt wird, bleibt Ausdruck der Privatautonomie. Die eingetragene Genossenschaft hat nicht nur eine lange Tradition bei uns, sondern sie verfügt auch über ein Alleinstellungsmerkmal. Die Genossenschaft muss einem Förderzweck dienen, der - anders als bei allen anderen Gesellschaftsformen - nicht allein in der Absicht, Gewinn zu erzielen, liegen darf. Die Genossenschaft muss den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder ihre sozialen oder kulturellen Belange fördern. Die Genossenschaften leisten damit einen wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Hier sind schon die unterschiedlichsten Genossenschaftsformen angeführt worden: Erzeugung, Vermarktung und Vertrieb von Nahrungsmitteln; regionaler Wohnungsbau; Energieversorger; Gesundheitsmarkt überall haben wir erfolgreiche Genossenschaften. Die Entwicklung ist auch deshalb so positiv verlaufen, weil wir das Genossenschaftsrecht im Jahr 2006 novelliert haben. Bei dieser Reform des Genossenschaftsrechts haben wir eine ganze Reihe von Erleichterungen - insbesondere für die kleinen Genossenschaften eingeführt: von der Kapitalbeschaffung und der Kapitalerhaltung bis dahin, dass für die Gründung einer Genossenschaft heute nicht mehr sieben Mitglieder erforderlich sind, sondern schon drei Mitglieder ausreichen. Auch Sacheinlagen sind heute zugelassen, wenn es die Satzung vorsieht, und vieles mehr. Die steigende Anzahl von genossenschaftlichen Neugründungen in den letzten Jahren belegt, dass die Reform des Genossenschaftsrechts erfolgreich war und dass dieses Gesellschaftsmodell eine erfolgreiche Praxis hat. Die Anträge der Opposition beinhalten eine Reihe von Gedanken, die wir uns auch machen und über die auch die Bundesregierung berät. Die Bundesregierung hat schon angekündigt, dass sie einen Gesetzentwurf vorlegen will. Mir scheint allerdings, dass ein zentrales Anliegen der Opposition bereits aufgegriffen worden ist, nämlich der Schutz des Mieters von Genossenschaftswohnungen im Falle einer Privatinsolvenz. Das haben wir zum Gegenstand der zweiten Stufe der Insolvenzrechtsreform gemacht. Die erste Lesung dazu hat bereits Ende November stattgefunden. Den Vorwurf der Benachteiligung von Genossenschaften gegenüber anderen Gesellschaftsformen kann ich nicht ganz nachvollziehen. Es ist jedem Einzelnen überlassen, für welche Gesellschaftsform er sich entscheidet. Wenn die Linke den Eindruck vermittelt, als würde sie den LPGs nachtrauern, dann kann ich das zwar nachvollziehen; aber wir sind trotzdem froh, dass diese Zeiten vorbei sind. ({0}) Ich habe schon erwähnt, dass Genossenschaften wie alle Gesellschaftsformen mit spezifischen Vor- und Nachteilen verbunden sind. Für die eingetragene Genossenschaft spricht sicherlich, dass sie im Vergleich zu anderen Rechtsformen Kostenvorteile bietet. Aber die Genossenschaft unterliegt auch Prüfungspflichten, die sonst nur mittelgroße oder große Unternehmen, die als Kapitalgesellschaft organisiert sind, erfüllen müssen. Wir müssen darauf achten, dass zwischen Rechten und Pflichten dieser Gesellschaftsform ein ausgewogenes Gleichgewicht besteht. In dieses Gleichgewicht können wir nicht ohne Weiteres eingreifen. Es gibt aber wie immer Spielraum für Optimierungen. Ich bin gespannt darauf, was uns die Bundesregierung im Frühjahr als Ergebnis ihrer Beratungen vorlegen wird. Es ist schon angesprochen worden, dass das Thema Kleinstgenossenschaften dabei eine Rolle spielen wird. Wir sollten in der Tat sorgfältig erwägen, ob wir nicht an dieser Stelle weitere Vereinfachungen und Erleichterungen schaffen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt in Deutschland mehr als 7 500 Genossenschaften und genossenschaftliche Unternehmen. Sie sind damit ein wichtiger Bestandteil unserer mittelständischen Wirtschaft. Über 20 Millionen Mitglieder haben diese Genossenschaften. Mehr als 800 000 Mitarbeiter sind bei ihnen beschäftigt. Sie sind eine treibende Kraft unserer Wirtschaftsordnung. Wir wollen dafür sorgen, dass dieses Gesellschaftsmodell weiter so erfolgreich bleibt. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/9976, 17/11828 und 17/11579 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck ({0}), Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Situation von Opfern von Menschenhandel in Deutschland - Drucksache 17/10843 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels stellt Menschenhandel zur sexuellen und zur Arbeitsausbeutung als erstes international rechtsverbindliches Dokument ausdrücklich in einen menschenrechtlichen Kontext und verpflichtet die Mitgliedstaaten zu umfassenden Maßnahmen zur Prävention von Menschenhandel, zur Strafverfolgung der Täterinnen und Täter und zum Schutz der Opfer. In der Denkschrift der Bundesregierung zur Konvention steht, dass die Regelungen des Übereinkommens - Zitat - „bereits heute umfassend im nationalen deutschen Recht verwirklicht“ sind, „sodass bei Ratifizierung keine Änderungen des deutschen Rechts, insbesondere des Strafrechts und Aufenthaltsrechts, erforderlich sind.“ Ich sehe das anders. Die konsequente Umsetzung der Konvention erfordert nämlich gesetzliche Neuregelungen, unter anderem im Aufenthaltsgesetz, im Asylbewerberleistungsgesetz, im SGB II, im SGB III, im Schwarzarbeiterbekämpfungsgesetz und in der Gewerbeordnung. Dass CDU und FDP anscheinend keinen Einsatz für die Opfer von Menschenhandel zeigen, erlebe ich derzeit hautnah in meinem Heimatland Sachsen. In dieser Woche beschloss der Landtag den Doppelhaushalt 2013/ 2014. Auf Initiative von CDU und FDP wurden die Mittel für die Fachberatungsstelle KOBRAnet in Zittau um fast 50 Prozent von jetzt schon geringen 75 000 Euro auf 40 000 Euro gekürzt. Das bedeutet faktisch die Schließung der Fachberatungsstelle; denn die Mitarbeiterinnen von KOBRAnet, die unter diesen Bedingungen nicht mehr zur Verfügung stehen, sagen ganz bewusst: Durch guten Willen und Ehrenamt können Betroffene von Menschenhandel nicht adäquat unterstützt werden. ({0}) Nach Thüringen könnte Sachsen damit das nächste Bundesland im Osten sein, das keine spezialisierte Fachberatungsstelle anzubieten hat. Auch in allen anderen Ostbundesländern existiert größtenteils nur eine Beratungsstelle pro Bundesland mit meistens nur einer Personalstelle. Eine solche Haltung ist nicht zu akzeptieren. Entscheidend für einen erfolgreichen Kampf gegen den Menschenhandel ist die Stärkung der Opfer. Dafür müssen die Opferrechte dringend weiter ausgebaut und darf die Unterstützungsstruktur nicht abgebaut werden. ({1}) Menschenhandel kann sowohl zur sexuellen als auch zur Arbeitsausbeutung stattfinden und sowohl mit psychischer als auch mit physischer Gewalt einhergehen. Die Bundesregierung hat bei der Ratifizierung der Konvention des Europarates geschlafen und es versäumt, notwendige Gesetzesänderungen vorzunehmen. Deshalb bringen wir Grünen heute einen umfassenden Gesetzentwurf ein. Nach der Konvention des Europarates sind Vertragsstaaten verpflichtet, Opfern einen verlängerbaren Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn der Aufenthalt aufgrund der persönlichen Situation des Opfers erforderlich ist oder das Kindeswohl dies erfordert. Dieser Anforderung wird der bisherige § 25 Abs. 4 a des Aufenthaltsgesetzes, der den Erhalt der Aufenthaltserlaubnis allein von der Beteiligung im Strafverfahren abhängig macht, nicht gerecht. Daher regelt unser Gesetzentwurf, dass Betroffene nicht nur eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn ihre Beteiligung am Strafverfahren für sachdienlich erachtet wird, sondern auch zur Vermeidung von Härtefällen. ({2}) Außerdem soll der Erhalt der Niederlassungserlaubnis erleichtert werden. Das gilt insbesondere für Opfer, die zum Zeitpunkt der Tat minderjährig sind. Mit Blick auf die Entschädigungs- und Lohnansprüche ergeben sich verschiedene Umsetzungsanforderungen. Damit Betroffene ihre Rechte wahrnehmen können, müssen sie diese kennen. Die Information über die Rechte muss deshalb umfassend, unabhängig von einem Strafverfahren, ab dem Zeitpunkt, an dem konkrete Anhaltspunkte für Menschenhandel vorliegen, und in einer Sprache erfolgen, die die Betroffenen verstehen. Deshalb gibt es umfassende Informationspflichten im Aufenthaltsgesetz, im Schwarzarbeiterbekämpfungsgesetz für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit und in der Gewerbeordnung für die Gewerbeaufsicht. Als Ausgleich für die zahlreichen Hindernisse bei der tatsächlichen Erlangung von Entschädigungsleistungen schlagen wir einen Ausgleichsfonds beim Bundesamt der Justiz vor. Beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend soll eine Berichterstatterstelle eingerichtet werden, die Ergebnisse von Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels und der schweren Arbeitsausbeutung messen und neue Maßnahmen zur Verbesserung erwirken kann. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir von Ihnen keine warmen Worte zum Weihnachtsfest. Es ist unsere humanitäre Pflicht, die Menschen, die Menschenrechtsverletzungen erlitten haben, zu stärken und zu stützen. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf kommen wir diesem Ziel ein Stück näher. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker das Wort. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für warme Worte zum Weihnachtsfest eignet sich das Thema Menschenhandel gewiss nicht. - Die Situation von Opfern von Menschenhandel haben wir in dieser Legislaturperiode schon mehrfach auf der Tagesordnung gehabt: zunächst im vergangenen Jahr, als wir die Bedenk- und Stabilisierungsfrist für Opfer von Menschenhandel von einem auf drei Monate verlängert haben - das geschah damals im Zuge der Anpassung an den EU-Visakodex -, aber auch bei der Ratifizierung der Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschenhandel. Seither stellen wir uns auch in Deutschland der Bewertung des Kontrollgremiums GRETA, das periodisch Berichte erarbeiten wird und Vorschläge zur Verbesserung im Kampf gegen den Menschenhandel unterbreitet. Wir hatten in diesem Zusammenhang eine Diskussion und eine Sachverständigenanhörung zu der Frage, ob wir noch mehr tun müssen, um diese Konvention ratifizieren zu können, oder was unabhängig von Zwang politisch gewünscht und sinnvoll ist. Wir haben uns damals im Anschluss an Auffassungen der Bundesregierung und des Bundesrates dagegen entschieden, im Rahmen des Ratifizierungsprozesses Maßnahmen zu ergreifen, aber in der Tat bleibt die Frage, ob etwas politisch gewünscht wird und umzusetzen ist, auf der Tagesordnung; denn wir lassen uns nicht immer nur zwingen. Zunächst einmal ein Blick auf die Zahlen und Fakten: 2,4 Millionen Menschen pro Jahr sind weltweit von Menschenhandel betroffen. Nach Angaben der ILO sind es vor allem Frauen und Kinder, die infolgedessen schwer traumatisiert und für ihr Leben gezeichnet sind. Ein Großteil der Opfer kommt mittlerweile aus Osteuropa. Darüber hinaus stammt eine relevante Zahl der Opfer aus Afrika, vor allem aus Nigeria. Ein großer Teil der Opfer wird zur Prostitution und zur Schwarzarbeit gezwungen. Deutschland ist sowohl als Transitland als auch als Zielland stark betroffen. Hinter dem Menschenhandel stecken häufig sehr gut strukturierte Netzwerke der organisierten Kriminalität. Mich machen vor allem die krassen Fälle der sexuellen Ausbeutung sehr betroffen. Mir hat eine Kollegin aus dem Bundestag, die früher als Rechtsanwältin tätig war, dazu ein sehr nahegehendes Beispiel genannt: Eine junge Frau aus einem Drittstaat ist mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt worden. Dann geht es ganz klassisch weiter: Sie wird in ein Bordell gebracht, und die Papiere werden ihr abgenommen. Sie wird von sechs Männern vergewaltigt. Sie wird monatelang in diesem Bordell festgehalten und dort auf übelste Weise ausgenutzt. Bei einer Razzia wird sie dann aufgegriffen. Ungewöhnlich ist in diesem Fall: Sie ist zur Aussage bereit. Sie muss aber erleben, dass die Täter nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt werden. Sie selbst darf auch aus humanitären Gründen nicht in Deutschland bleiben. Sie wird nach Hause zurückgeschickt und findet dort die gleichen Strukturen vor. Sie wird wieder nach Deutschland gebracht. In den Regionen in Deutschland findet so etwas alltäglich statt. Wir können davon ausgehen, dass wir im Moment auch hier in Berlin von vielen Frauen umgeben sind, die das Schicksal dieser Frau teilen. Ähnliche Schicksale schildern uns die Hilfsorganisationen, etwa Schwester Lea Ackermann von Solwodi, und auch das BKA. Hier stellt sich uns folgender Problemzusammenhang dar: Zumeist sind die Opfer nicht zur Aussage bereit, weil sie Sorge haben und weil sie traumatisiert sind und sich gar nicht dazu durchringen können, sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen. Tun sie es doch, dann wird ihnen aufgrund der Koppelung von Aufenthaltstitel und Aussage häufig die Glaubwürdigkeit mit der Folge abgesprochen, dass die Täter ohne Strafe davonkommen und die kriminellen Strukturen unangetastet bleiben. Deshalb ist es aus meiner Sicht der richtige Weg, für mehr Sicherheit für die Opfer zu sorgen, damit sie sich trauen, auszusagen, und man besser an die Täter anstatt an die Opfer herankommt. Natürlich wird hier das Risiko von Missbrauch gesehen. Aber auch hier sagen uns die Fachleute - aus meiner Sicht sehr glaubhaft -, dass diese Gefahr minimal ist, weil man anhand des Ortes, wo eine Person aufgegriffen wird, und anhand der Verletzungen, die zu sehen sind, objektive Anhaltspunkte dafür finden kann, ob diese Person Opfer von Menschenhandel war oder ob sie sich den Aufenthalt erschleichen will. Wer sich als Frau einen Aufenthalt in Deutschland erschleichen will, findet sicherlich einfachere Wege, als den Weg der Zwangsprostitution zu gehen. ({0}) Im Übrigen müssen wir uns entscheiden - dabei richte ich den Appell ausdrücklich an die Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen -: Es wäre doch ein tolles Anliegen auch im Rahmen von Law and Order, wenn wir uns mehr darum kümmern, die Täter zu finden, statt uns vor einigen Opfern zu schützen. ({1}) Trotzdem bin ich der Auffassung, das Aufenthaltsrecht ist nicht die Lösung aller Probleme. Denn wir müssen auch sehen, dass viele Opfer aus Osteuropa kommen, also auch aus EU-Staaten, für die das Aufenthaltsrecht längst gegeben und geregelt ist. Deshalb gehört für mich auch eine Reform des Prostitutionsgesetzes dazu. Auch die Fachleute sagen uns, dass das Prostitutionsgesetz seit 2001 zu einer deutlichen Verschlechterung für Frauen in Zwangsprostitution geführt hat. ({2}) - Doch, auch das hat etwas damit zu tun. Denn es gibt kaum noch eine Handhabe für die Ordnungsbehörden, Razzien zu machen oder sich überhaupt in die Bordelle zu begeben, wo die Frauen gehalten werden. Hier hat das sicherlich gut gemeinte Prostitutionsgesetz leider genau das Gegenteil bewirkt und schützt im Prinzip die Täter und nicht die Opfer. Wir haben mittlerweile mehrere Beschlüsse von Fachministerkonferenzen. Auch die Gleichstellungsministerkonferenz und die Innenministerkonferenz haben im Sommer 2012 den Fokus darauf gelegt. Es ist doch ein Unding, dass es leichter ist, ein Bordell zu eröffnen als eine Frittenbude. Wir müssen ganz klar dafür sorgen, dass es den Frauen ermöglicht wird, in regelmäßigen Abständen vertrauliche Gespräche mit Ärzten oder Ordnungsbehörden zu führen. Wir müssen hier zu einem Verbot von Werbung kommen. Auf meiner Wunschliste stünde auch die Bestrafung derjenigen Freier, die wissen, dass sie eine Zwangsprostituierte vor sich haben. Ich würde mir eines wünschen - ich weiß, dass wir in verschiedenen Punkten unterschiedlicher Meinung sind -: Lassen Sie uns doch ein Paket aus all diesen Maßnahmen schnüren! Jeder springt ein Stück weit über seinen Schatten, und dann schaffen wir es vielleicht auch, zu einem guten Paket für die Frauen zu kommen. Das wäre eine gute Weihnachtsbotschaft. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Marlene Rupprecht das Wort. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am Freitag vor Weihnachten sind wir alle eigentlich schon in Gedanken auf dem Heimweg, aber wir haben ein sehr schwer verdauliches Thema auf der Tagesordnung. Umso ernsthafter, merke ich, gehen die Kolleginnen, die dazu reden, damit um. Es ist wie immer: Frauen kümmern sich darum. Nachher wird Herr Kober sprechen, weil keine Frau mehr da ist. ({0}) Eigentlich wäre Frau Laurischk die Rednerin für dieses Thema gewesen. Aber das nur nebenbei. Wir haben es mit einem Gesetzentwurf der Grünen zu tun, die einen Vorschlag machen, wie die Konvention des Europarates mit Leben erfüllt werden kann und wirklich umgesetzt wird. Ich will das noch einmal Revue passieren lassen; daran können Sie sehen, wie „schnell“ wir so manche Dinge befördern. 2005 hat Deutschland die Unterschrift zur Konvention geleistet. Es hat drei Jahre gedauert, bis genügend Staaten sie als inländisches Recht anerkannt haben und sie 2008 in Kraft treten konnte. Wir haben in der Zwischenzeit immer wieder mit Nichtregierungsorganisationen Gespräche darüber geführt, dass wir das auch in deutsches Recht umsetzen sollten. Ich bin als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates immer wieder massiv von den Kolleginnen und Kollegen, deren Staaten sie bereits ratifiziert und in inländisches Recht umgesetzt hatten, angegangen und gefragt worden: Warum geht Deutschland nicht voran und macht dies endlich auch? Ich glaube, ich habe den Herrn Staatssekretär öfter mit der Frage genervt: Wann ratifizieren wir denn? Wann sind wir so weit? Gut, wir haben sie 2012 ratifiziert, und darüber bin ich froh. Von 2005 bis 2012 sind es „nur“ sieben Jahre. Ich denke, das ist eine überschaubare Zeit. Gemessen an der Ewigkeit ist das ganz kurz, nicht einmal ein Wimpernschlag. Für diejenigen, die in der Zeit betroffen sind, ist das sehr lang. Die SPD-Fraktion hat vor der Ratifikation einen Antrag vorgelegt, in dem sie feststellt, dass wir in den Bereichen, die jetzt auch die Grünen vorschlagen, Änderungen vornehmen müssen. Er ist im Ausschuss abgelehnt worden. Nun, wo es darum geht, die Konvention in inländisches Recht zu überführen, heißt es in der Denkschrift der Bundesregierung: Es ist nichts zu ändern. - Ich denke, es liegt daran, dass wir vieles im Recht täterzentriert sehen. Das heißt, wir würden die Täter gerne bestrafen. Aber die Opfer spielen zum Beispiel im Strafrecht fast überhaupt keine Rolle, genauso wenig wie die Auswirkungen einer Straftat auf die Opfer. Wir machen häufig Opfer zu Tätern bzw. Täterinnen, wenn beispielsweise Aufenthaltsrechte missachtet werden. Wenn wir im selben Tempo weitermachen, haben wir in sieben Jahren alle Gesetze geändert. Das wäre ja toll! Fangen wir mit dem an, was uns am leichtesten fällt, mit Regelungen, die keinem wehtun. So sollten wir den Opfern die Beratung und den Schutz zugestehen, den sie brauchen, wenn sie gegen Täter aussagen wollen oder nicht aussagen wollen. ({1}) Wenn Frauen nicht aussagen wollen, bedeutet das bislang: Sie werden abgeschoben, und zwar häufig in Länder, in denen die Opfer genau den Tätern bzw. Tätergruppen - es handelt sich hier in der Regel um organisierte Kriminalität - begegnen und Druck aufgebaut wird. Also ist es wichtig, dass wir hier anfangen und sagen - gerade jetzt vor Weihnachten -: Nein, wir wollen sehen, wo wir etwas machen können, ohne dass unsere ideologischen Scheuklappen heruntergehen. Wir wollen die Opfer besser schützen und ihnen mehr Rechte geben. ({2}) Da komme ich zu den Beratungsstellen. In dieser Woche haben wir im Rahmen einer Anhörung zur Finanzierung von Frauenhäusern auch KOK angehört. KOK - das ist ein bundesweiter Koordinierungskreis für Migrantinnen und Migranten, die, aus welchen Gründen auch immer, hier sind und Opfer geworden sind - weiß nicht, wie er weiter existieren soll, weil die Mittel nicht Marlene Rupprecht ({3}) mehr genehmigt werden. Mein Gott! Wir entscheiden manchmal über Milliarden in einer Nacht. Aber warum schaffen wir es dann nicht, 100 000 Euro für die Finanzierung einer Stelle freizubekommen? Eine solche Summe zahlen andere aus der Portokasse. Wenn ich mir unsere Bundespressebälle anschaue, dann kann ich nur sagen: Wenn alle das Geld, das sie für die Eintrittskarten gezahlt haben, gespendet hätten, dann hätten wir den KOK und noch ein paar andere NGOs finanzieren können. Das wäre leicht machbar. Es gibt aber nicht den politischen Willen, dies zu tun. Deshalb geschieht es nicht. Auch wenn Sie es nicht gerne hören - ich meine das hoch moralisch -: Wir wollen es nicht, oder es ist uns wurscht. Deshalb machen wir es nicht. - Da könnten wir ansetzen. Die Grünen machen viele Vorschläge. Vieles davon war auch in unserem Antrag drin. Ich bin froh, dass Sie die Ergebnisse der Anhörung in den Gesetzestext haben einfließen lassen und ein so vielfältiges Artikelgesetz vorgelegt haben. Ob Aufenthaltsrecht, Asylbewerberleistungsgesetz oder Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz, in all diesen Bereichen geht es nicht nur um Frauen, sondern auch um junge Menschen, die bei der Arbeit ausgebeutet werden. Es geht zum Beispiel um Menschen, die nicht über eine reguläre Agentur hierher gekommen sind und die dann aufgrund ihrer Notlage ausgenutzt werden und 12, 14 oder 18 Stunden in Familien arbeiten, um alte Menschen, die dement und pflegebedürftig sind, zu betreuen. Da haben wir null Hemmungen, weil das günstiger ist als eine reguläre Beschäftigung. Auch das ist Ausbeutung und eine Form von Menschenhandel. Auch das sollten wir uns genau ansehen. Ich möchte gern aufgreifen, was Frau WinkelmeierBecker und Frau Lazar gesagt haben. Wenn der vorliegende Gesetzentwurf in die Ausschussberatungen geht und, wie ich hoffe, eine Anhörung dazu stattfindet, sollten wir gemeinsam die nächsten Schritte planen. Vielleicht schaffen wir es, das Ganze schneller als in einem Zeitraum von sieben Jahren umzusetzen. Mir wäre es recht, wenn wir das gemeinsam schaffen würden. Das Parlament sollte konstruktiv arbeiten und nicht in Bunkermentalität verfallen. Es wäre für Sie genauso wie für uns toll, wenn wir unsere Energie zur Lösung von Problemen und nicht nur zum Abwehren von Vorschlägen nutzen würden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen frohe Weihnachten und ein ruhiges Gewissen. Vielleicht denken Sie daran, dass es die eine oder andere gibt, die nicht weiß, wo sie die Nacht verbringen soll, weil sie von ihrem Partner, der sie unter dem Vorwand, sie zu heiraten, hierher geholt hat, sich nicht hat zur Prostitution zwingen lassen und rausgeschmissen wurde. Schlimm wäre es, wenn es dann kein Frauenhaus gäbe, weil wir es wegen unserer Uneinigkeit nicht finanzieren. Ich wünsche Ihnen eine ruhiges und gutes Gewissen und fröhliche Weihnachten. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit über einem Jahrzehnt - ich glaube, das kann man sagen - wird das zuvor lange totgeschwiegene und vernachlässigte Phänomen des Menschenhandels im politischen Raum diskutiert. Es sind große Verbesserungen erzielt worden, aber wir sind uns alle einig, dass wir bei der Bekämpfung des Menschenhandels trotzdem noch am Anfang stehen. Menschenhandel ist nicht nur eine schwere Form von organisierter grenzüberschreitender Kriminalität, sondern auch eine der furchtbarsten Menschenrechtsverletzungen. Eine Vielzahl internationaler Initiativen und Programme wurde aufgelegt. Mit dem UN-Protokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels aus dem Jahr 2000 und der Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschenhandel aus dem Jahr 2005 sind auch spezialisierte Rechtsinstrumente entstanden, die wiederum glücklicherweise regionale und nationale Rechtsänderungen angestoßen haben. Trotz dieser Entwicklung bleibt der Menschenhandel weltweit eine der drängendsten menschenrechtlichen Fragen. Jedes Jahr werden nach Angaben des Bundeskriminalamts in Deutschland 600 bis 1 200 Opfer identifiziert. Meistens sind es Fälle sexueller Ausbeutung. Wir müssen diese Zahlen mit größter Skepsis betrachten; denn wir müssen wissen, dass die Dunkelziffer bei den Opfern viel höher liegt. Die Entwicklung von Opferrechten ist vorangekommen. Aber trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema in Deutschland müssen wir in diesem Bereich deutlich besser werden. Frau Winkelmeier-Becker hat in ihrer Rede Ausführungen dazu gemacht, was wir in dieser Legislaturperiode schon vorangebracht haben. Wir müssen weiter an diesem Thema arbeiten und dürfen an dieser Stelle nicht nachlassen. Noch immer wird der größte Teil der Betroffenen nicht als Opfer von Menschenhandel identifiziert. Auch können die identifizierten Betroffenen Rechte auf Aufenthalt, sichere Unterbringung, materielle und psychosoziale Unterstützung, Entlohnung und Entschädigung in der Praxis nur dann wahrnehmen, wenn sie als Zeuginnen und Zeugen in Strafverfahren auftreten. Es erfolgt auch keine ausreichende Einbindung der Prävention von Menschenhandel in eine menschenrechtsorientierte Gestaltung von Migration insgesamt. Auch da müssen wir besser werden; denn diese Prävention zielt bekanntlich darauf ab, dass reguläre und irreguläre Migrantinnen und Migranten erst gar nicht in ausbeuterische und sklavereiähnliche Situationen gelangen. Auch daran müssen wir verstärkt arbeiten. Angesichts der bereits ergriffenen Maßnahmen ist es jedoch auch notwendig, die vorliegenden Konzepte und die menschenrechtlichen Auswirkungen der Maßnahmen gegen Menschenhandel, die wir bisher getroffen haben, immer wieder zu überprüfen. Opfer von Menschenhandel befinden sich in einem spannungsreichen politischen Feld zwischen Verbrechensbekämpfung, Migrationspolitik und Menschenrechten. Deshalb diskutieren wir solche Fragen auch in verschiedenen Ausschüssen, heute im Rahmen des Familienausschusses. In vielen Staaten - darunter auch in Deutschland liegt der Schwerpunkt der Maßnahmen und der Rechtsreformen nach wie vor im Bereich der Strafverfolgung. Ein umfassenderer Denkansatz über Menschenrechte ist in dieser Frage noch nicht vollständig entwickelt worden. Auch daran sollten wir künftig weiterarbeiten. Die völkerrechtlichen Instrumente zum Menschenhandel decken längst nicht alle Verpflichtungen ab, die sich zum Beispiel aus der Frauenrechtskonvention ergeben. Auch in Deutschland lässt sich erkennen, dass der Kampf gegen Menschenhandel nach wie vor primär als Kriminalitätsbekämpfung verstanden und durchgeführt wird. Die Betroffenen dienen häufig nur als Informationsquellen oder als Zeuginnen und Zeugen des Verbrechens und werden als solche vom Gericht geschätzt; wenn das aber nicht der Fall ist, dann sind sie im Nachteil. Sie aber als Subjekte wahrzunehmen, die Opfer von traumatisierender Gewalterfahrung oder sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen wurden, dürfen wir dabei nicht übersehen. Es mangelt noch immer - darauf haben wir alle hingewiesen - an ausreichenden Beratungs- und Unterstützungsangeboten für Betroffene. Die Durchsetzung von Rechtsansprüchen hat für die Opfer von Menschenhandel vor allem auch symbolische Bedeutung. Denn dadurch kann es gelingen, dass die betroffenen Menschen, die oft über einen langen Zeitraum unter einem totalen Verlust selbstbestimmter Lebensführung gelitten haben, sich wieder als eigenständige Subjekte erleben können. ({0}) Ein aktives Eintreten für das eigene Recht bietet die Chance, auch ein Bewusstsein der eigenen Würde wiederzugewinnen und zu stärken. Gerade an dieser Stelle müssen in Deutschland die Unterstützungsangebote präsenter und leichter zugänglich werden. So muss Frauen aus dem Ausland, die in Deutschland zur Prostitution gezwungen wurden und gewaltähnliche Erfahrungen gemacht haben, der Zugang zu Hilfsangeboten, wie zum Beispiel Frauenhäusern, erleichtert werden. Bisher müssen sie meist abgewiesen werden, weil die Finanzierung des Aufenthalts sowie der mögliche illegale Aufenthalt der Frau an sich nicht geklärt sind. Hier könnte eine Änderung im Asylbewerberleistungsgesetz Abhilfe schaffen. Um eine Aussage im Rahmen einer gerichtlichen Verfolgung der Täter zu ermöglichen, bedarf es eines besonderen Schutzes; schließlich gilt es, ein langwieriges und quälendes Verfahren durchzustehen. Eine qualitative Betreuung der Frau während des Verfahrens muss auch in Deutschland in Zukunft gewährleistet sein. Eine sichere und angemessene Regelung zur Finanzierung von Fachberatungsstellen sowie von Frauenhäusern ist im Zusammenhang mit Menschenhandel zwingend. Dessen sind wir uns hier, glaube ich, alle bewusst. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat haben wir es mit einem sehr schwerwiegenden Menschenrechtsproblem zu tun, wenn wir hier heute über die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution sprechen. Ich muss sagen: Es ist schon sehr frustrierend, wenn man in diesem Haus seit vielen Jahren diese Debatte miterlebt hat. Herr Kober, Sie haben ja sehr schöne Worte gefunden; aber es fehlen die Taten von Ihrer Seite. Sie hätten in der Vergangenheit sehr viel mehr tun können. Die Vorschläge, die heute auf dem Tisch liegen - ich meine den Gesetzentwurf der Fraktion die Grünen -, gehen auf jeden Fall in die richtige Richtung, was die Verbesserung der Situation der Opfer von Menschenhandel angeht. Ich bin ihnen dankbar, dass wir diese Diskussion erneut hier im Parlament führen. Ich denke, dass über diesen Gesetzentwurf natürlich noch weiter diskutiert wird. Er ist ja erst einmal eingebracht worden. Ich würde hier gerne einige Anregungen geben, wo Regelungen weiter gehend sein müssten. Grundsätzlich muss man sagen, dass Mädchen und Frauen, aber eben auch junge Männer und Jungen - das wurde hier schon gesagt - von kriminellen Banden nach Deutschland verschleppt werden, meistens zur Zwangsprostitution, häufig aber auch, um hier ausbeuterische Arbeit zu verrichten. Man muss einfach wissen, dass viele von ihnen, die dadurch quasi in der Illegalität sind, hier sowieso ein äußerst schwieriges Leben haben. Heute ist die Rede davon, die Situation dieser Menschen zu verbessern. Ich meine, wir sollten uns alle daran erinnern, dass Terre des Femmes, die Frauenrechtsorganisation, allen Abgeordneten einen Brief geschrieben hat, in dem sie darauf hinweist, dass diese Opfer, wenn sie abgeschoben werden, Racheaktionen und Gewalt in ihren Heimatländern ausgesetzt sind. Deswegen kann es nicht richtig sein, dass Personen, die hier aussagebereit sind, vor ein Gericht treten und als Zeuge aussagen, einen gewissen Schutz im Sinne eines Aufenthaltsrechts nur bis zum Ende des Prozesses erhalten. Wir, die Linke, sind vielmehr der Meinung, dass sie auch dann geschützt werden müssen, wenn dieser Prozess be26580 endet ist. Das bedeutet, dass sie ein unbefristetes Aufenthaltsrecht bekommen müssen. ({0}) Nur dadurch ist es wirklich möglich, sie zu schützen. Man muss sich einfach vorstellen: Diese Personen werden in ihre Herkunftsländer abgeschoben, wo sie wieder diesen verbrecherischen Banden ausgeliefert sind. Da muss man natürlich präventiv vorarbeiten. Ich möchte noch einige Bemerkungen zu diesem Gesetzentwurf der Grünen machen. Es geht dort um viele Punkte; sie werden wir auch weiter diskutieren. Ich konzentriere mich heute auf das Aufenthaltsrecht. Gerade dann, wenn man davon ausgeht, dass viele Opfer Angst haben, hier in Deutschland auszusagen, muss man sie meiner Meinung nach vor einer Abschiebung schützen. Sie sprechen davon, dass das ein Härtefall ist, der nach Ihrem Gesetzentwurf ins Ermessen der Ausländerbehörden gestellt wird, die nämlich dann entscheiden: Ist es ein Härtefall, ja oder nein? Das finde ich sehr schwierig, weil die Ermessensspielräume, die die Ausländerbehörden sehen, häufig nicht die sind, die wir für notwendig halten, um den Opfern entsprechenden Schutz zu geben. ({1}) Nach Ihrem Gesetzentwurf soll das Asylbewerberleistungsgesetz geändert werden, und die Opfer sollen die volle Gesundheitsversorgung erhalten. Das ist gegenwärtig nicht der Fall. Wir kennen den neuen Entwurf zum Asylbewerberleistungsgesetz noch nicht. Sicher ist es ein wichtiger Schritt, ihnen überhaupt Gesundheitsversorgung zu gewähren, die sie bisher ja nicht haben. Sie sind traumatisiert, sie brauchen Therapie; wir haben das hier schon von verschiedenen Kollegen gehört. Wir sind aber der Meinung: Wir sollten diese Opfer ganz aus dem Regelungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes herausnehmen und sie so stellen, dass sie den entwürdigenden und demütigenden Vorstellungen, die hinter dem Asylbewerberleistungsgesetz stehen, nicht unterliegen. ({2}) Zum Schluss möchte ich noch auf Folgendes hinweisen - das ist hier heute auch schon angesprochen worden -: In der Tat gibt die Umsetzung der Europaratskonvention diesem Haus die Möglichkeit, die Verhütung und Bekämpfung von Menschenhandel wirklich anzupacken. Die Kolleginnen und Kollegen aufseiten der Koalition haben bisher nur Forderungen umgesetzt, die nicht sehr weitgehend gewesen sind. Ich fordere Sie auf, übrigens nicht nur deshalb, weil Weihnachten ist - ich finde, das Thema sollte uns immer bewegen -, wirkliche Schritte umzusetzen, um den Opfern zu helfen und ihnen den Schutz und die Unterstützung zu geben, die sie brauchen. Mit Sonntagsreden ist es nicht getan. Die Menschen, die von Menschenhandel betroffen sind, die Opfer, brauchen wirklich andere Maßnahmen. Dazu gehört ein unbefristeter Aufenthaltstitel in diesem Land, damit sie ein neues Leben beginnen können. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Norbert Geis für die Unionsfraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wiederholt gesagt worden - ich schließe mich dieser Feststellung an -, dass der Menschenhandel eine der übelsten Menschenrechtsverletzungen darstellt, die man sich vorstellen kann, und dass wir alles tun müssen, um den Menschenhandel, der auch in Deutschland vorkommt, einzudämmen, zurückzudrängen. Wir müssen dafür sorgen, dass er nicht weiter zunimmt, sondern zurückgeht. Da ist der Vorschlag der Grünen durchaus diskussionswürdig. Es wäre vermessen, hier zu sagen: Dem schließen wir uns in gar keinem Fall an. - Es gilt natürlich, diesen Vorschlag zu diskutieren. ({0}) - Ich danke Ihnen. Das ist eine Anregung, und die nehmen wir auch gern auf. Man darf dabei einige Gesichtspunkte nicht außer Acht lassen: Erstens. Dass die Konvention des Europarates in Deutschland umgesetzt worden ist, das hat der Bundesrat im letzten Jahr einstimmig festgestellt. Er hat uns mitgeteilt, dass von der deutschen Rechtsordnung alle die Aufgaben, die die Konvention gegen den Menschenhandel uns aufgegeben hat, erfüllt worden sind. Das sollte man festhalten. Zweitens. Man sollte bei dem Gesetzentwurf der Grünen und auch bei dem, was Frau Jelpke gerade gesagt hat, Folgendes bedenken: Wir dürfen nicht in eine Schieflage geraten. Einmal gibt es die Verpflichtung des Staates, das Ausländerrecht, das Asylbewerberleistungsgesetz, das Asylverfahrensgesetz, das Aufenthaltsgesetz, das heißt die Regelungen, die dort getroffen worden sind, durchzusetzen - das ist die eine Aufgabe des Staates -, und zum anderen gibt es natürlich die Verpflichtung, dem Menschenhandel entgegenzutreten. Dabei kann der Staat in einen Zielkonflikt geraten. Hier muss versucht werden, einen vernünftigen Ausgleich zu finden. Es müssen vernünftige Regelungen getroffen werden, bei denen das eine Gut genauso beachtet wird wie das andere. Das, glaube ich, ist auch die Aufgabe bei der Diskussion über Ihren Gesetzentwurf. Ich weise darauf hin - Frau Winkelmeier-Becker hat es schon gesagt -, dass das Prostitutionsgesetz vom 20. Dezember 2001 - es jährt sich in den nächsten Tagen nicht das gebracht hat, was man sich damals erhofft hat. Man hatte sich erhofft, durch die Legalisierung der Prostitution den Menschenhandel zurückzudrängen. Das war nicht der Fall. Wir haben heute ein viel höheres Maß an Menschenhandel und ein viel höheres Maß an Prostitution als beispielsweise Schweden: In Schweden ist die Prostitution verboten; bei uns gibt es 60-mal mehr Prostituierte. In Schweden gibt es auch viel weniger Menschenhandel. Liebe Frau Rupprecht, es gibt in Deutschland 62-mal mehr Menschenhandel als in Schweden. Diese Zahlen habe ich mir nicht einfallen lassen; sie sind aus einer Studie der Göttinger Universität. Das sind gewaltige Zahlen, die man nicht außer Acht lassen darf. Ein ehemaliger Leitender Kommissar des LKA Hamburg hat laut einem Artikel der Zeit gesagt, dass 95 Prozent der in Hamburg tätigen Prostituierten Zwangsprostitution nachgehen müssen. Viele sind über Menschenhandel nach Hamburg gekommen. - Das hat seinen Grund; es liegt an der liberalen Ausgestaltung unseres Prostitutionsgesetzes. ({1}) Wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen: Frau Rupprecht, wir haben das liberalste Gesetz zur Prostitution, und Deutschland ist ein Zentrum des Menschenhandels geworden, insbesondere des Menschenhandels mit Frauen. Die Grünen wollen das Ausländergesetz und das Asylbewerberleistungsgesetz ändern. Sie sagen mit Recht, dass sich die Frauen fürchten, zur Polizei zu gehen. 88 Prozent der in Deutschland registrierten Opfer des Menschenhandels, die in Deutschland sexuell ausgebeutet werden, kommen neben Deutschland aus den Ländern Rumänien und Bulgarien. Diese halten sich legal in Deutschland auf. Wenn sie ab 2014 die Freiheit haben, in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen, kann die Polizei überhaupt nichts mehr machen. Von jedem, der eine Pommes-Frites-Bude aufmacht, von jedem Metzgermeister, von jedem Bäckermeister verlangen wir, dass er die Genehmigungsauflagen einhält. Für Bordelle gibt es so etwas nicht. Das kann nicht sein. ({2}) Liebe Frau Lazar, das ist ein Grund dafür, dass die Polizei nichts machen kann. Die Polizei kann nicht einfach ohne Anlass in ein Bordell gehen, wie es früher der Fall war, und nachschauen, ob Zwangsprostitution betrieben wird oder nicht. Dieses Gesetz muss man ändern. ({3}) Ich möchte einen letzten Punkt aufgreifen. Es ist richtig, was Sie, Frau Rupprecht und die anderen Redner, gesagt haben, nämlich dass sich die Frauen fürchten, zur Polizei zu gehen, weil man dann ihren Status entdeckt. Das ist ein Grund, warum sich die Polizei bei der Verfolgung des Straftatbestandes Menschenhandel so schwertut. Ein anderer Grund ist, dass die betroffenen Personen, die Opfer, große Angst haben müssen, dass, wenn sie mit einer Kronzeugenregelung und einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bleiben dürfen, ihren Verwandten im Herkunftsland unter Umständen von dieser organisierten Truppe Rache geschworen wird. Das muss man bedenken. Deswegen ist das Erste, das A und O, die Bekämpfung der Täter. Darin stimmen wir auch alle überein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Geis!

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Augenblick; Ich bin sofort fertig. Lassen Sie mich noch zwei, drei Sätze sagen. - Das Erste ist also: Bekämpfung der Täter. Das Zweite ist: bessere Instrumente für die Polizei. Wir müssen § 233 Strafgesetzbuch ergänzen. Das Dritte ist, dass wir ganz vorsichtig mit der Änderung des Ausländergesetzes umgehen, aber Ihren Vorschlag aufgreifen und diskutieren. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10843 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 9 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verantwortung der Bundesregierung angesichts der Kostenexplosion bei Infrastrukturgroßprojekten S 21 und BER Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen hat der Kollege Sven-Christian Kindler.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das ist die letzte Debatte im Bundestag im Jahr 2012. Wir reden noch einmal über große Summen und große Themen, nämlich über die Infrastrukturprojekte Stuttgart 21 und den Pannenflughafen BER. Ich frage mich angesichts der Kostenexplosionen schon: Wo ist eigentlich der Verkehrsminister Peter Ramsauer? Er ist der zuständige Minister. Diese Versagen sind auch Versagen der Bundesregierung, auch Versagen von Peter Ramsauer. Ich finde es eine Frechheit, dass er heute nicht hier ist. ({0}) Er duckt sich lieber weg. Das ist auch völlig klar; denn von Infrastrukturplanung hat er einfach wenig Ahnung. Das ist leider so. Wir wissen, wir brauchen eine gute Infrastruktur in diesem Land, gerade im Verkehrsbereich. Das Problem ist: Kostenexplosionen und Terminverschiebungen sind inzwischen nicht mehr die Ausnahme, sondern sind unter dieser Bundesregierung zur Regel geworden. Das liegt an der grottenschlechten Verkehrsplanung. Man orientiert sich eben nicht an sachlichen Kriterien, zum Beispiel am Kosten-Nutzen-Verhältnis, an der Frage der Wirtschaftlichkeit oder an der Frage der Zukunftsorientierung. Bei Schwarz-Gelb geht es vor allen Dingen um die Frage, wie viele rote Schleifen man durchschneiden und wie viele schillernde Großprojekte man auf den Weg bringen kann. Das ist das große Problem bei der Verkehrspolitik von Schwarz-Gelb, leider viel zu oft auch von der SPD. Mit dieser ideologischen Verkehrspolitik muss endlich Schluss sein. ({1}) Sie ist nämlich auch teuer für den Bund, für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, weil eben nicht in den Erhalt investiert wird, nicht in sinnvolle Infrastrukturmaßnahmen, sondern in teure Großprojekte. Jetzt ist herausgekommen, dass das Projekt Stuttgart 21 6,8 Milliarden Euro kosten soll. Der Bundesrechnungshof hat übrigens schon im Jahr 2008 festgestellt - da wollte ihm aber keiner zuhören -: Der Bundesrechnungshof weist nochmals darauf hin, dass das Bundesministerium selbst von Kostensteigerungen für Großprojekte - darüber reden wir heute von mindestens 60 Prozent, teilweise sogar bis zu 100 Prozent ausgeht. Damals lag der Kostendeckel bei 4,5 Milliarden Euro; dieser Wert war unrealistisch. Der Bundesrechnungshof hat im Nachhinein recht behalten. Damals haben die Deutsche Bahn und die schwarz-rote Regierung diese Warnung empört zurückgewiesen. Sie haben den Kopf in den Sand gesteckt, genauso wie heute Schwarz-Gelb. Mit diesem Kopf-in-den-Sand-Stecken muss bei Stuttgart 21 endlich Schluss sein. ({2}) Wir müssen endlich wissen - denn es kann teuer werden, sowohl für den Bundeshaushalt, weil die Deutsche Bahn zu 100 Prozent dem Bund gehört, als auch für die Fahrgäste -, wie viel uns das Projekt kostet. Wir brauchen eine unabhängige Prüfung - das kann nicht die Deutsche Bahn machen, da sie eigene Interessen hat -, um zu wissen, was das Projekt kosten wird und welche Ausstiegsoptionen es gibt. Hier brauchen wir endlich Transparenz. ({3}) Kommen wir zu einem weiteren Großprojekt, bei dem es gerade zu Kostenexplosionen kommt, dem Pannenflughafen Berlin Brandenburg. Über den lacht angesichts der Terminverschiebungen die ganze Welt. Es gab bisher drei Terminverschiebungen; jetzt kommt es vielleicht zur vierten. Klaus Wowereit hat heute in der Berliner Zeitung gesagt, er wisse nicht, ob der Termin im Oktober 2013 zu halten sei. Was hier passiert, ist schon ein starkes Stück. ({4}) Auf einmal sind Rechnungen in Höhe von 250 Millionen Euro aufgetaucht, Forderungen von Baufirmen, die man bisher nicht eingerechnet hatte. Rainer Schwarz, der zuständige Geschäftsführer für den kaufmännischen Bereich und damit für Finanzen, hat sie jetzt anscheinend gefunden. Ich finde, das Missmanagement von Rainer Schwarz in der Vergangenheit geht in der Zukunft nicht mehr. Das zeigt sich heute einmal mehr: Einen Betrag von 250 000 Euro hat er nicht gefunden. Rainer Schwarz muss endlich entlassen werden. ({5}) Im Haushaltsausschuss haben wir das gefordert. Die einzige Fraktion, die dagegen gestimmt hat, war die SPD. Das Missmanagement von Rainer Schwarz soll anscheinend das Missmanagement von Klaus Wowereit überdecken. Das finde ich ziemlich peinlich, liebe SPD. ({6}) Aber es geht nicht nur um den Geschäftsführer; es geht auch um den Aufsichtsrat, um Staatssekretär Bomba vom BMVBS und um Staatssekretär Gatzer vom BMF, die nicht richtig kontrolliert haben. Der Aufsichtsrat soll sich vor dem Eröffnungstermin darum kümmern, ob dieser Termin auch zu halten ist, ob zum Beispiel die technischen Probleme mit der Brandschutzanlage behoben sind. Der Aufsichtsrat soll sich nicht darum kümmern, wie viel Sekt und wie viele Schnittchen es beim Empfang gibt. Das hat der Aufsichtsrat aber gemacht. Auch der Aufsichtsrat hat beim Flughafen versagt, auch er muss endlich ausgewechselt werden. ({7}) Es ist klar: Wir brauchen endlich eine sachliche, finanziell realistische Verkehrsplanung. Wir müssen in Erhalt und sinnvolle Zukunftsprojekte investieren. Teure schillernde Großprojekte, die wenig bringen, den Steuerzahler aber Milliarden kosten, können wir uns nicht mehr leisten. Wir brauchen endlich eine echte Wende in der Verkehrspolitik. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Heinz Peter Wichtel hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im letzten Halbjahr ist kaum eine Woche vergangen, in welcher wir nicht das Thema des neuen Hauptstadtflughafens auf unserer Tagesordnung hatten. Es war immer wieder ärgerlich, festzustellen, dass die Verzögerungen nicht in den Gremien des Parlaments diskutiert wurden. Mit Recht haben wir im Verkehrsausschuss immer wieder nachgefragt und versucht, Aufklärung darüber zu erhalten, aus welchem Grund die Eröffnung tatsächlich verschoben werden muss und warum das alles nicht läuft. Die Besichtigung vor Ort hat nicht so viele Erkenntnisse gebracht, dass wir am Ende außer dem, was wir bauphysisch gesehen haben, etwas von dem hätten erkennen können, was uns wenige Wochen später durch neue Berichte der Geschäftsleitung eingeholt hat. Auch beim Thema Stuttgart 21 haben wir heute Morgen im Ausschuss wieder so etwas erlebt. Aus meiner Sicht können wir die Verfahren - auch wenn wir im Ausschuss meinen, dass sie vielleicht anders sein sollten - aber auch gar nicht in den Griff bekommen, weil andere handelnde Personen zuständig sind. Deswegen kann ich nicht verstehen, was die Aktuelle Stunde heute bewirken soll - außer dass man wieder einmal über das Thema gesprochen hat. Mehr wird aus meiner Sicht nicht passieren. ({0}) Die Frage nach der Verantwortung, auch nach der Regierungsverantwortung zum Beispiel für den Berliner Flughafen, die mein Vorredner bereits gestellt hat, ist doch eindeutig zu beantworten: Es gibt einen Mehrheitsaktionär - die Länder Brandenburg und Berlin -, der hauptsächlich die Verantwortung trägt. Die Bundesländer halten 75 Prozent an der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH. Sie sind federführend bei dem Bauprojekt; nicht der Bund. In Brandenburg - nicht im Bund - sitzen zudem die meisten Genehmigungsbehörden. Auch der Aufsichtsratsvorsitzende, der Regierende Bürgermeister von Berlin, repräsentiert Berlin - und nicht den Bund. Übrigens war es Herr Wowereit, der den Flughafen zur Chefsache erklärt hat - wenn ich mich richtig erinnere, hat er das sogar als sein Lebenswerk bezeichnet -, und nicht ein Politiker des Bundes. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass man diese Geschichte einmal vom Kopf auf die Füße stellen muss. ({2}) Wir sollten die Verantwortlichkeiten auch ruhig dort lassen, wo sie sind. Die Kollegin von der SPD kann ruhig noch ein bisschen dazwischenrufen; von mir bekommt sie auf ihre Zwischenrufe sowieso keine Antwort. ({3}) Ich halte das nicht für in Ordnung: Beim Thema nie mitdiskutieren, aber hier dazwischenrufen, das sind mir immer die Liebsten. Aus meiner Sicht müssen wir bei der Begleitung von Großprojekten immer wieder feststellen, dass bei bestimmten Verwaltungsaufgaben und -abläufen immer wieder versucht wird, die politische Verantwortung abzuschieben. Ich denke, davon müssen wir wegkommen. Es schadet der Bundesrepublik Deutschland, wenn es zu Verzögerungen bei Großprojekten kommt. Das schadet unserem Ansehen im Bereich der Planung von Objekten und der modernen Gestaltung. Deswegen denke ich, dass wir die Vorgänge aus sachlichen Gründen lückenlos aufklären müssen. Wir müssen nachvollziehen: Wo lagen die Fehler? Wie sind sie entstanden? Warum sind sie entstanden? - Denn es geht darum, diese Fehler bei zukünftigen Projekten möglichst auszuschließen. ({4}) Wir können feststellen, dass Probleme gerade dann auftreten, wenn Projekte eine lange Laufzeit haben, wenn der Zeitraum von der ersten Planung und Kostenschätzung bis zur Umsetzung viel zu lang ist. Deswegen muss überlegt werden, wie man die Phase der Entwicklung, der Weiterplanung und des Größerwerdens eines Objektes, das man baut, gestalten kann und wie man damit umgeht, wenn neue Probleme festgestellt werden. Solche Desaster, wie sie jetzt bei dem einen oder anderen Projekt auftreten, kann man nicht weiter zulassen. Ich denke, dass man die Landesregierungen im Zusammenhang mit dem Berliner Flughafen nicht aus der Verantwortung entlassen kann. ({5}) Ich habe mich gewundert, dass die Bundesregierung eine Kommission gebildet hat, um festzustellen, ob die Aufsichtsratsmitglieder alle Antworten erhalten haben oder nur zum Teil informiert worden sind, ob die Geschäftsführung richtig und umfassend informiert hat. Ich denke, dass gerade ein Aufsichtsratsvorsitzender - das habe ich an dieser Stelle schon einmal gesagt - eigentlich einen viel engeren Kontakt zur Geschäftsführung haben müsste und dass die Geschäftsführung ihn schon aus Eigenschutz eher informieren müsste. ({6}) Insofern stimme ich der im Haushaltsausschuss geäußerten Überzeugung zu: Wenn bei der Bewertung der Ergebnisse der Untersuchung, die stattfinden soll, in der Tat herauskommt, dass die Geschäftsführung nicht objektiv über all das informiert hat, über das sie hätte informieren müssen, dann ist sie aus meiner Sicht abzulösen. Ich denke auch, Herr Wowereit sollte den Aufsichtsratsvorsitz niederlegen und ihn jemand anderem überlassen, wenn er zeitlich und inhaltlich nicht in der Lage ist, die damit verbundene umfängliche Verantwortung zu tragen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion hat Sören Bartol jetzt das Wort. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen haben wir im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages hautnah erlebt, welches Amtsverständnis der Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat: Er ist nicht zu der Sondersitzung zu den Mehrkosten von Stuttgart 21 erschienen, die wir beantragt haben. Wieder einmal hat er gekniffen und sich nicht den Fragen der Abgeordneten gestellt. Das zeigt: Immer wenn es ernst wird, duckt er sich weg. Er ist ein Schönwetterminister, der gerne über seine Reform der Flensburger Punkte redet, aber nicht zu seiner Verantwortung steht. ({0}) Als Bundesverkehrsminister ist er für die Infrastruktur des Landes verantwortlich. Das gilt für die Mehrkosten bei Stuttgart 21 genauso wie bei dem neuen Flughafen Berlin Brandenburg. Ich will es an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Der Bund ist Mitgesellschafter beim Flughafen Berlin Brandenburg und war somit bei allen Entscheidungen im Aufsichtsrat dabei. Hier trägt Bundesverkehrsminister Ramsauer die Mitverantwortung. Während der Bundesverkehrsminister mit seiner sogenannten Soko BER medial geschickt den Aufklärer gibt, verschweigt er, dass der Bund ganz allein für weitreichende Verzögerungen beim Bau des Regierungsterminals am neuen Flughafen BER verantwortlich ist. Der Abfertigungsbereich für Staatsgäste und Regierungsmitglieder am neuen Flughafen geht später in Betrieb als lange geplant. Der Protokollbereich wird erst im Jahre 2016 und nicht, wie eigentlich vorgesehen, im Jahr 2014 eröffnet. Die Kosten dafür haben sich außerdem fast verdoppelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Projekt Stuttgart 21 steht Minister Ramsauer ebenfalls in der Verantwortung. Er vertritt uns alle als Eigentümer. Er hat die Aufgabe, von unserem Unternehmen Deutsche Bahn Schaden fernzuhalten. Die jetzt bekannt gewordenen Mehrkosten von über 1 Milliarde Euro sind nach dem Regierungswechsel 2009, in der Regierungszeit von Schwarz-Gelb, entstanden. Damit sind die Mehrkosten von 1 Milliarde Euro auch Ramsauers Milliarde; er muss sie mit verantworten. ({1}) Minister Ramsauer hat bisher nicht schlüssig erklären können, wie sich die Mehrkosten von 1 Milliarde Euro zum Beispiel auf die erwarteten Gewinne der Deutschen Bahn auswirken. Im Zweifel sinken die Gewinne. Dann stellt sich die Frage, wie die Deutsche Bahn dem Bundesverkehrsminister jedes Jahr weiterhin mindestens eine halbe Milliarde Euro an Zwangsdividende zahlen soll. Ich sage Ihnen voraus: Das wird am Ende auch Auswirkungen auf den Bundeshaushalt haben. Ich will, dass wir in ganz Deutschland einen besseren Lärmschutz an der Schiene und barrierefreie Bahnhöfe haben. Dabei erwarte ich vom Bundesverkehrsminister und der Deutschen Bahn, dass sie sich an dieser Stelle finanziell stärker engagieren. Vor diesem Hintergrund warne ich davor, dass die Deutsche Bahn mit den Mehrkosten alleingelassen wird. Wenn das Unternehmen am Ende voraussichtlich fast 2 Milliarden Euro an Mehrbelastung hat, bleibt für andere Projekte in Deutschland kein Spielraum mehr. Der Bahn droht dann die Luft auszugehen. Dann muss der Bundesverkehrsminister Ramsauer den Menschen in Nordrhein-Westfalen erklären, warum der Rhein-Ruhr-Express nicht kommen kann. Dann muss der Bundesverkehrsminister Ramsauer den Menschen im Rheintal erklären, dass sie leider auf ihren zusätzlichen Lärmschutz verzichten müssen. Dann muss der Bundesverkehrsminister Ramsauer der Hafenwirtschaft in Hamburg und Bremen erklären, dass die Y-Trasse in Niedersachsen erst später kommen kann. ({2}) Es fehlt schlichtweg das Geld. Ich betone daher ganz klar: Zusätzliche Kosten, die im Schlichtungsverfahren und im sogenannten FilderDialog im Zusammenhang mit dem Flughafenbahnhof entstanden sind, sind Forderungen der Region Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg. Daher erwarte ich, dass der Bundesverkehrsminister die Deutsche Bahn aktiv dabei unterstützt, dass sich die dortigen Projektpartner an den Mehrkosten beteiligen. ({3}) Wir brauchen einen Bundesverkehrsminister, der zu seiner Verantwortung steht und sich kümmert. Ich kann derzeit nicht erkennen - und jeder, der hier zuschaut, sieht es, weil er nicht auf der Regierungsbank sitzt -, dass der Minister das tut. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion spricht unser Kollege Oliver Luksic. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Bartol, ich darf darauf hinweisen: Wenn ihr am Abend vorher als einzige Fraktion zu einer Sitzung einOliver Luksic ladet, dann hat das eine andere Qualität, als wenn der Ausschussvorsitzende im Namen des Ausschusses Herrn Wowereit dreimal einlädt, um als Aufsichtsratsvorsitzender zu berichten, und Herr Wowereit dreimal absagt. Das letzte Mal konnte er nicht, weil er am Abend vorher auf der US-Wahlparty war. ({0}) Ich wäre beim Thema Einladung insofern ganz vorsichtig, Kollege Bartol. ({1}) - Ja, da klatschen auch die grünen Kollegen, Herr Bartol. Zu den beiden Großprojekten, die wir heute diskutieren. Ja, sowohl Stuttgart 21 - der Kollege Simmling wird später dazu sprechen - als auch der Hauptstadtflughafen sind wahrlich keine gute Werbung für den Standort Deutschland. Das ist es, was uns als FDP-Fraktion umtreibt. ({2}) Lassen Sie mich auf das Thema Flughafen eingehen. 1996 wurde das Projekt vorgestellt; die Eröffnung wurde mehrfach verschoben: 2011, 2012, 2013. Jetzt sind wir bei Oktober 2013, und auch daran müssen wir ein Fragezeichen machen. Der Grund sind intransparente Entscheidungsprozesse, Planungsfehler und Planungslücken sowie ständiges Überschreiten der Bauzeit und der Baukosten. Es ist wirklich ein Schlag ins Gesicht der Steuerzahler, wenn man liest, was die Soko von Staatssekretär Odenwald festgestellt hat: Es wurde dort nach dem Motto gebaut: „Lege Kabel und gucke, dass Strom durchgeht“. - Das Ganze wird immer wieder gedeckt durch das Dreigestirn Wowereit, Platzeck und Schwarz. ({3}) Das ist das Problem. Bevor er eröffnet werden soll, stößt der neue Flughafen bereits an Kapazitätsgrenzen. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Jetzt wird festgestellt: Wir reden von einer „Sanierung im Bestand“. Auf der Baustelle wird gerade eine Pause gemacht, weil eine „Sanierung im Bestand“ durchgeführt werden muss, und das bei einem Projekt, das noch nicht einmal fertiggestellt ist. Das ist wirklich ein Skandal. ({4}) Kollege Bartol, bereits im Frühjahr 2012 war klar - Wowereit hat das einräumen müssen -, dass wir mit einer pünktlichen Eröffnung des Flughafens nicht rechnen können. Jeder weiß ganz genau - Herr Kollege Wichtel hat es zu Recht gesagt -, dass der Aufsichtsratsvorsitzende ein besonders enges Verhältnis zum Geschäftsführer hat. Es brennt hier lichterloh an allen Ecken und Enden, und im brandenburgischen Boden versickert Geld schneller als Wasser. Die Vogel-Strauß-Taktik sowohl von Herrn Platzeck als auch von Herrn Wowereit stößt langsam an Grenzen. ({5}) Wieso wurde immer anders gebaut, als es genehmigt wurde? Darauf bekommen wir bis heute keine Antwort. Wir bekommen auch keine Antwort auf die Frage, warum Gewerke nicht vollständig abgenommen wurden. Auch Herr Platzeck trägt Verantwortung, weil sich die Behörden, die für die Genehmigung sowohl des Lärmschutzes als auch der Entrauchungsanlage zuständig sind, in Brandenburg befinden. Leider ist es im Moment so - ich kann das auch nicht ändern -, dass, wenn bei Aufsichtsräten in Deutschland etwas schiefgeht, immer die SPD dabei ist, ({6}) ob das der Ökonomieerklärer Steinbrück bei ThyssenKrupp mit einem Milliardenverlust oder Herr Beck in Rheinland-Pfalz mit dem Nürburgring ist. Jetzt wird diese grandiose Tradition mit Herrn Wowereit und Herrn Platzeck fortgesetzt. Angesichts dessen, was die SPD sich im Moment mit ihren Aufsichtsräten antut, sollte man ein bisschen vorsichtig sein, Kollege Bartol. ({7}) - Genau. Ich unterstütze Sie. In dem Punkt wäre die Frauenquote wahrscheinlich sinnvoll gewesen. Es wäre in der Tat von Vorteil, wenn Wowereit und Platzeck nicht Aufsichtsräte wären; das stimmt. ({8}) Was Stuttgart 21 angeht, will ich offen sagen: Ich teile die Kritik, die Kollege Bartol eben vorgetragen hat, in Teilen. Was wir heute Morgen gehört haben, war nicht zufriedenstellend. Ich glaube, das Vertrauensverhältnis zur Bahn ist in der Tat ein Stück weit gestört. Natürlich sind Kosten und Verzögerungen auch deshalb entstanden, weil die Grünen vor Ort alles blockieren, was sie blockieren können. ({9}) Die Bahn kann aber nicht erklären, wieso und weshalb es zu welchen Kostensteigerungen kommt. Die Koalition hat gesagt, dass wir im Januar darauf drängen werden, dass sowohl Herr Kefer als auch Herr Grube in den Ausschuss kommen, damit wir Transparenz und Öffentlichkeit herstellen können. Diesbezüglich brauchen wir von Ihnen keine Nachhilfestunden. Dafür sorgt diese Koalition. ({10}) Wir stehen für Transparenz und Offenheit bei Großprojekten. Ich glaube, die Sonderkommission von Staatssekretär Odenwald leistet gute Arbeit beim Thema Flughafen. Wir wollen nicht für ein Weiter-so sorgen. Deswegen haben die Haushälter immer darauf gedrängt, dass Mittel gesperrt werden. Wir sind der festen Überzeugung, dass sowohl Herr Schwarz als auch Herr Wowereit als Aufsichtsratsvorsitzender nicht mehr tragbar sind. Ich hoffe, dass Herr Wowereit uns nicht noch vor dem Weihnachtsfest eine weitere böse Bescherung hinsichtlich des Kosten- und Zeitplans für den Flughafen bereiten wird. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Sabine Leidig das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich in meinen fünf Minuten Redezeit - meiner Fraktion stehen leider keine weiteren Minuten zur Verfügung - auf das Projekt Stuttgart 21 konzentrieren, weil wir darüber sehr viel wissen. ({0}) Wir wissen, dass wir es bei der aktuellen Entwicklung nicht mit einer zufälligen Kostensteigerung zu tun haben. Wir wissen, dass wir über eine Kostenlüge, und zwar eine planmäßige, sprechen müssen. ({1}) Wir haben das heute in der Sondersitzung des Ausschusses von Herrn Kefer gehört. Als ich 2009 meine Arbeit im Ausschuss aufgenommen habe, gab es einen Auftritt von Herrn Grube, der Stein und Bein geschworen hat, dass die Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro für dieses Projekt auf keinen Fall überschritten wird, weil alles andere unwirtschaftlich wäre. Es vergingen keine zwei Wochen, da kamen die ersten Zweifel an der Validität dieser Zahlen auf. Unter anderem wurde schon damals ganz deutlich gesagt, dass die Kostenreduzierungen beim Brandschutzkonzept nicht haltbar sind. Das lag auf dem Tisch. Damit hätte sich jeder beschäftigen können. 2011 hat Arno Luik im stern einen umfangreichen Bericht über bahninterne Untersuchungen, Kosten-, Risiken- und Chancenabschätzungen veröffentlicht. Danach musste man damit rechnen, dass Mehrkosten in Höhe von mindestens 1,2 Milliarden Euro auf dieses Projekt zukommen. Damals waren viele Risiken noch nicht einmal mit Kosten hinterlegt. Daraufhin ist Hany Azer, der Projektleiter, zurückgetreten, dem diese Risiken offensichtlich zu groß waren. Herr Kefer hat uns in der heutigen Ausschusssitzung offen gesagt, dass sogenannte nicht stichhaltige Risiken vor der Volksabstimmung aus den Projektkosten herausgerechnet worden sind. Man hat also absichtlich den Anschein erweckt, man könnte dieses Projekt mit diesen 4,5 Milliarden Euro wirtschaftlich betreiben. Tatsächlich wusste die Bahn, wussten die Zuständigen längst, dass dies nicht der Fall ist. Ich finde, das ist eine wirklich mehr als peinliche Angelegenheit. Das muss Konsequenzen haben. Ich finde, ein solcher Bahnvorstand muss abgelöst werden. ({2}) Das Zweite ist, dass wir natürlich volle Transparenz brauchen. Es ist nicht hinnehmbar, dass diejenigen, die die Verantwortung für den sinnvollen Einsatz von Steuermitteln tragen, derart abgespeist werden. Man enthält Ihnen die notwendigen Unterlagen für die Wirtschaftlichkeitsprüfung und für die konkrete Bezifferung weiterer Risiken vor mit der Begründung: Wenn man sie veröffentlichen würde, dann würde - so Herr Kefer wörtlich - die Gefahr für das Projekt untragbar. Was heißt das denn? Wenn die Leute wüssten, was noch alles auf sie zukommt, dann würden sie es kippen. Ich finde, so etwas dürfen wir uns nicht bieten lassen. ({3}) Inzwischen haben wir die skurrile Situation, dass niemand es gewesen sein will. Vor zwei Jahren haben wir hier nach der großen Protestkundgebung und dem gewaltsamen Polizeieinsatz über Stuttgart 21 diskutiert. Damals hat sich

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Stuttgart 21 ist eine Schicksalsfrage für die Republik. Die Autorität Deutschlands wird in Europa untergraben, wenn dieser Tunnelbahnhof nicht gebaut wird. - Inzwischen sagt der zuständige Staatssekretär: Der Bund hat eigentlich gar nichts damit zu tun. Wir geben nur das Geld. Das ist ein eigenwirtschaftliches Projekt der Bahn. Wir waschen unsere Hände in Unschuld. Wir geben nur das Geld, das notwendig wäre, um den bestehenden Bahnhof zu sanieren. Ich finde, das ist genau die richtige Strategie. Machen Sie einen vernünftigen Kopfbahnhof. Es würde reichen, den bestehenden Bahnhof zu sanieren. Das würde vielleicht 1 Milliarde Euro kosten. Dann hätte man wirklich einen Topbahnhof mit Kapazitäten, die weit über das hinausgehen, was der zukünftige Tiefbahnhof jemals wird leisten können; denn er stellt in Wirklichkeit eine Verringerung der Bahnkapazität dar. ({0}) Mein letzter Punkt. Ich richte mich an die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie haben die Landtagswahl gewonnen. Herr Kuhn sitzt hier als designierter Oberbürgermeister von Stuttgart. Ich gratuliere dazu. Ich finde, das ist ein deutlicher Ausdruck dafür, dass der Protest gegen Stuttgart 21 auch in der Stadtpolitik Niederschlag gefunden hat. Aber jetzt müssen Sie die nötigen Schritte gehen, um aus dem Projekt auszusteigen. Die Voraussetzungen sind gegeben. Die Kostengrenze ist gekappt. In den Unterlagen zu der Volksabstimmung steht explizit - die SPD hat es in ihren Werbematerialien für den Weiterbau auch explizit so geschrieben -, dass die Projektkosten in Höhe von 4,088 Milliarden Euro bestätigt sind, dass es keinerlei Zweifel an dieser Größe gibt. Die Leute sind natürlich davon ausgegangen, dass dies die Kosten für das Projekt sind. Ich halte es für unredlich, jetzt zu sagen: Alle haben sowieso gewusst, dass es teurer wird. Deshalb können wir weiterbauen. Das Ergebnis der Volksabstimmung gilt, egal was kommt. ({1}) Damit vergraulen und verärgern Sie die Leute. Dies führt auch zu einer Demokratie- und Politikverdrossenheit, die wirklich schädlich und gefährlich ist. Ich finde, Sie müssten sich als Landesregierung ernsthaft damit befassen, wie Sie den Ausstieg hinkriegen können. Herr Kefer hat heute eine Brücke gebaut und gesagt, die Ausführungsverpflichtung der Bahn würde bestehen, aber er würde - so habe ich es verstanden - davon Abstand nehmen, wenn es eine Zusicherung der Projektpartner gäbe, dass sie nicht klagen, wenn die Bahn nicht baut. ({2}) Jetzt liegt der Ball bei Ihnen. Ich fordere Sie auf: Stehen Sie zu Ihrem Wort! Machen Sie diesem Spuk Stuttgart 21 endlich ein Ende. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Thomas Jarzombek. ({0})

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stuttgart erfindet sich neu. Wir erleben eine neue Gründerzeit in dieser Stadt. Stuttgart 21 ist ein großartiges Beispiel für eine nachhaltige Perspektive mitten in der Wirtschaftskrise. ({0}) Die baden-württembergische Landeshauptstadt bekommt dadurch historische Impulse für ihre wirtschaftliche Entwicklung, für die Mobilität und die Stadtentwicklung - das Projekt sucht in der Bundesrepublik seinesgleichen. Diese Aussage ist richtig, aber sie kommt gar nicht von mir, sondern sie ist von Bundesverkehrsminister Tiefensee. ({1}) Dies konnte man im April 2009 in der Stuttgarter Zeitung nachlesen. Ich kann Ihnen sagen: Man darf nicht immer nur das Haar in der Suppe suchen. Denn Stuttgart bekommt eine tolle Chance, die Stadt zu verschönern. ({2}) Ich komme aus Düsseldorf. Wir haben in Düsseldorf eine Straße am Rhein tiefer gelegt. Dies wurde sehr viel teurer als veranschlagt, aber heute glauben alle, dass es diese hohen Kosten wert war. Die Vorteile von Stuttgart 21 liegen auf der Hand: Das Umland wird viel besser angebunden. Flughafen und Messe werden in einem Drittel der Zeit erreicht. Auch im Hinblick auf die transeuropäischen Netze ist diese Maßnahme sinnvoll. Kommen wir zu den Kosten. Der Kollege Bartol hat gesagt: Der Bundesverkehrsminister ist schuld. ({3}) - Da haben Sie hundertprozentig recht: Er ist nicht da, und er ist schuld. ({4}) - Warten Sie einmal ab, bevor Sie applaudieren! Es kommt das nächste Zitat: Das Gesamtprojekt sei vom Bund „akribisch durchgerechnet“ worden, betonte der Bundesverkehrsminister. Er habe „keinen Zweifel daran, dass das Geld gut eingesetzt“ sei. Stuttgart 21 soll nach aktuellen Berechnungen der Bahn 3,1 Milliarden Euro und die ICE-Trasse Wendlingen-Ulm 2 Milliarden Euro kosten. So Bundesverkehrsminister Tiefensee laut Stuttgarter Nachrichten vom 29. Oktober 2008. - Die Frage ist richtig: Wo ist Herr Tiefensee, warum ist er nicht hier? - Sie sehen, man muss diese Diskussion mit Ehrlichkeit unterfüttern. Ich hätte mir gewünscht, dass wir heute einmal über die Frage reden, warum eigentlich sämtliche Projekte immer teurer werden und was wir dagegen tun können. Sie machen hier reines Finger-Pointing. ({5}) Das Finger-Pointing wäre sehr viel ehrlicher gewesen, wenn nicht Ihre eigene Bundesregierung dieses Projekt durchgepresst hätte und wenn nicht Ihre eigene Bundesregierung an allen Stellen immer erklärt hätte, dass diese Zahlen so hundertprozentig korrekt sind. ({6}) Die Grünen haben vorhin gefordert, es müsse eine unabhängige Prüfung geben. Wir haben heute Morgen gehört, dass es McKinsey gewesen ist. ({7}) Es gab sogar einen Volksentscheid. Das Ergebnis ist bekannt. Die Kosten für den Bund sind fix; ({8}) was das Land angeht, weiß ich es nicht. Es gibt Abgeordnete, die der Meinung sind, jetzt müsste das Land Baden-Württemberg eigentlich auch noch einmal in die Tasche greifen. Ich zitiere, was der Kollege Beckmeyer im Plenum des Deutschen Bundestages gesagt hat: Herr Fricke, Sie sind einer, der bei Ausgaben immer auf die Bremse drückt. Vielleicht erinnern Sie Ihre Kollegen im Landtag einmal daran - schließlich beteiligen sie sich an Stuttgart 21 -, bei dieser Angelegenheit ein wenig mehr Bereitschaft zu zeigen, um so auch das Landesinteresse zum Ausdruck zu bringen. Insofern können Sie gleich einmal erklären, wie hoch der Anteil des Landes Baden-Württemberg ist. Zum Flughafen gibt es nicht viel mehr, was man da noch sagen kann. Ich finde, es ist wirklich traurig. Als wir mit einer Delegation - Kollege Hofreiter war dabei in Malaysia und Singapur unterwegs waren und dort für deutsche Industriepartner, die Infrastrukturprojekte realisieren, geworben haben, wurde uns vorgehalten: Ihr könnt doch noch nicht einmal einen Flughafen richtig bauen. - Dieser Schaden ist noch viel größer als das Geld, das im märkischen Sand versickert ist - ich kann Ihnen die Zitate nennen -: von 1,7 Milliarden Euro - das hat Klaus Wowereit 2004 erklärt - über 2,8 Milliarden Euro zu 4,5 Milliarden Euro, und wir sind noch immer nicht am Ende dieser Kostenentwicklung. Was die Leute wirklich fuchst, ist, dass es niemanden gibt, der dafür verantwortlich ist, dass der Flughafen nicht nur teuer, sondern auch schlecht ist. Sie erinnern sich an die Sitzung des Verkehrsausschusses, in der Professor Schwarz da gewesen ist. Da stünde eine Rücktrittskaskade an - die aber nicht stattfinden darf, weil die Länder Berlin und Brandenburg keine Beamten, sondern ihre gewählten Spitzenvertreter in den Aufsichtsrat geschickt haben. Würde Wowereit da zurücktreten - so ist doch ihre Sorge -, müsste er auch als Bürgermeister zurücktreten. Deshalb darf er nicht zurücktreten. Auch Professor Schwarz darf nicht zurücktreten; denn sonst müsste auch der Aufsichtsratsvorsitzende zurücktreten. Auf meine Frage an Professor Schwarz, warum er denn nicht zurücktritt, hat er uns - Sie waren dabei - allen Ernstes erklärt, er sei ja gar nicht der Chef des Flughafens, sondern nur der Sprecher der Geschäftsführung und er trage überhaupt keine Verantwortung für diesen Bau. - Da fällt mir nichts mehr ein. Wenn es niemanden gibt, der für so etwas die Verantwortung übernehmen will, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie dafür bei Ihren beiden Landtagswahlen die Quittung bekommen werden. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Mechthild Rawert hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie wollten mit der Wahrheit anfangen. Ich selber war, obwohl ich keine Verkehrspolitikerin bin, bei dem Besuch auf dem Flughafen dabei. Ich kann Ihnen sagen: So stimmt Ihre Aussage nicht. Mit anderen Worten: Sie war wahrheitswidrig. ({0}) Am Mittwoch dieser Woche habe ich den Berliner Tagesspiegel aufgeschlagen und war überrascht: Da standen Details aus der letzten Sitzung der von Herrn Ramsauer eingerichteten Soko BER. Zitiert wurde aus dem Protokoll der Sitzung vom 6. Dezember. Wie kann es sein, dass dem Tagesspiegel ein Protokoll vorliegt, das noch nicht einmal den Gesellschaftern der Flughafengesellschaft vorliegt, obwohl der Chef der Berliner Senatskanzlei und auch der Chef der Brandenburgischen Staatskanzlei ausdrücklich um diese Protokolle gebeten hatten? Warum hat Herr Ramsauer eine Soko zum BER, nicht aber zur neuen BND-Zentrale eingerichtet, obwohl der Kostenanstieg hier viel markanter ist? ({1}) Warum hat Herr Ramsauer keine Sonderkommission zu Stuttgart 21 eingerichtet? Warum hat Herr Ramsauer keine Sonderkommission zum neuen Regierungsflughafen eingerichtet, dessen Inbetriebnahme sich noch viel länger, nämlich bis 2016/2017, verzögert? Das ist heute sicher. Könnte es nicht sein, dass der Bund mit Herrn Ramsauer an der Spitze mit der Soko zum BER von eigenen Problemen ablenken will und Nebelkerzen zündet? Könnte es nicht sein, dass es nicht um die Sache, sondern um die Wahlkämpfe in Bayern und im Bund geht? ({2}) Woraus bezieht die Soko eigentlich ihre Legitimation, Vernehmungen vorzunehmen, wie es in der Presse heißt? Welche Legitimation hat Herr Ramsauer, bei Eröffnungen anwesend zu sein, nicht aber hier, wo es heute darauf ankommt? ({3}) Herr Ramsauer verhält sich hier nicht wie ein verantwortlicher Gesellschafter der Flughafengesellschaft. ({4}) Zur Erinnerung: 26 Prozent gehören dem Bund. Nein, er zielt darauf ab, seine Mitgesellschafter Berlin und Brandenburg aus politischen Motiven zu schädigen. ({5}) Das erweckt fast den Eindruck, dass es nicht das Ziel von Herrn Ramsauer ist, den Hauptstadtflughafen BER so bald wie möglich an den Start zu bringen. ({6}) Bedauert er es? Ist es das Interesse des Bundes, dass der Flughafen in den Negativschlagzeilen bleibt? ({7}) Herr Ramsauer, wenn Sie zu Ihrer Verantwortung als Gesellschafter stehen würden, dann würden Sie ihre Energien in die Finanzierung des Flughafens stecken. Während Berlin und Brandenburg zügig gehandelt und Mittel nachgeschossen haben, eiert der Bund herum. Auch in der Sitzung des Haushaltsausschusses vom Mittwoch wurden mit der Bewilligung von 85 Millionen Euro nicht die gesamten erforderlichen Mittel freigegeben, sondern nur ein Teilbetrag. ({8}) Sehenden Auges nimmt man damit in Kauf, dass sich nicht nur die Firmen fragen, ob der Bund überhaupt zu dem Projekt steht. Während die beiden Länder an einem Erfolg des wichtigsten Infrastrukturprojektes in Ostdeutschland interessiert sind, schickt das Bundesverkehrsministerium lieber vertrauliche Informationen an Tagesspiegel, Bild und Co. ({9}) Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich frage mich wirklich: Was ist eigentlich bei Ihnen los? In Berlin stimmt die CDU dafür, hier stimmen Sie dagegen. Frau Vogelsang wird ihre Äußerungen sicherlich noch wiederholen. Daher verzichte ich aus Zeitgründen darauf, sie jetzt hier anzusprechen. Warum fallen Sie ihren eigenen Parteifreunden im Berliner Senat in den Rücken? Um das Chaos perfekt zu machen: Die Brandenburger CDU will jetzt sogar noch Sperenberg als Flughafen ausbauen. Ein aufgeschreckter Hühnerhaufen ist gar nichts dagegen. ({10}) Die CDU in Brandenburg hat dann noch den Vogel abgeschossen. Sie hat ein Gutachten bestellt, bei dem herauskam, dass der Flughafen BER viel zu klein ist. Dummerweise hat der gleiche Gutachter früher behauptet, der Flughafen sei viel zu groß und überdimensioniert. Noch ein paar klärende Worte zu den Mehrkosten: Die Flughafengesellschaft braucht zur Fertigstellung des Flughafens inklusive der Umsetzung des erweiterten Lärmschutzes - das ist uns ein sehr wichtiges Anliegen nach jetzigem Stand weitere Finanzmittel in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. So weit richtig. Es gab verschiedenste Nachbauten auf dem Flughafen. Die Planungen des Flughafens mussten angepasst werden. Hier seien nur die Terminals, die zusätzlichen Piers, Doppelstockbrücken und die Drehkreuzfunktion erwähnt. Wichtig - ich habe es schon erwähnt - sind die 305 Millionen Euro für den zusätzlichen Lärmschutz, die unabhängig von der Verschiebung gezahlt werden müssen, um den höheren Anforderungen gerecht zu werden. Diese Anforderungen haben sich aus dem Gerichtsurteil vom Juni dieses Jahres ergeben. ({11}) Im Ergebnis wird der Lärmschutz am neuen Flughafen weit besser sein als an irgendeinem anderen großen deutschen Airport. Wer so tut, als sei der Lärmschutz infrage gestellt, agiert bewusst fahrlässig. Niemand stellt ihn infrage. Zum Schluss. Richtig ist, dass wir künftig Großprojekte besser planen, umsetzen und auch kommunizieren müssen. Wir müssen Antworten auf folgende Fragen geben: Wie können wir es schaffen, Zeit- und Kostenrahmen einzuhalten? Wie können wir es erreichen, dass Baufirmen keine unrealistischen Bewerbungen einreichen oder horrende Nachforderungen stellen? Wie können wir es schaffen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger stärker in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden? ({12}) Will Deutschland seinen Status als führende Wirtschaftsnation behalten

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- der letzte Satz -, müssen Großprojekte allerdings auch künftig möglich sein; ({0}) denn wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen keinen Abschied vom Fortschritt. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wünsche Ihnen nichtdestotrotz eine rege Anwesenheit auf der Regierungsbank und auch hier im Parlament, ({0}) ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch! Rutschen Sie nur da, wo Sie es selber wollen. Sorgen Sie nicht dafür, dass andere an falscher Stelle ausrutschen, liebe Union. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Werner Simmling das Wort. ({0})

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es so befürchtet, dass diese Debatte wieder voller Spekulationen ist und nichts zur Wahrheitsfindung beiträgt. Deshalb ist es meine Meinung, dass diese Debatte viel zu früh stattfindet, da zahlreiche offene Fragen und Zusammenhänge erst einmal geklärt werden sollten. Seit kurzem liegen uns Zahlen vor. Hier müssen wir einfach einmal die Zusammenhänge erläutern. ({0}) Wir brauchen mehr Transparenz. Auch wir sind über die Kostensteigerung von 4,5 Milliarden Euro auf 5,6 Milliarden Euro sehr besorgt. 1,1 Milliarden Euro zusätzliche Kosten beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 sind immens. Darüber hinaus können noch durch externe Einflussfaktoren zusätzliche Risiken in einer Höhe von 1,2 Milliarden Euro entstehen. Die Aussage Mehdorns: „Stuttgart 21 ist das bestgeplante und am besten berechnete Projekt der Deutschen Bahn“ gilt spätestens seit dem 12. Dezember dieses Jahres nicht mehr. Sie hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. ({1}) Kostensteigerungen sind inzwischen bei großen Infrastrukturprojekten leider durchaus üblich, aber in dieser Größenordnung ungewöhnlich. Das ist - das wurde schon ausgeführt - ein hoher Reputationsschaden für die Deutsche Bahn, aber auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland. ({2}) Leider sind sie kein Einzelfall, wie mein Kollege Oliver Luksic bereits anführte, ({3}) da der Berliner Flughafen in der Verantwortung der SPD bereits ein Milliardengrab produziert hat. Durch diese vorgezogene Debatte zu Stuttgart 21 könnte man fast vermuten, dass heute hier der Versuch unternommen wird, das Wowereit’sche Finanzdebakel um den Berliner Flughafen aus dem Schussfeld zu ziehen. Aber das nur am Rande. Unstrittig ist, dass man jetzt nach den Fehlern bei der Kalkulation und Planung von Stuttgart 21 nach mehr Transparenz fragen muss. Eine gewisse Erklärung - das wurde uns heute Morgen in der Ausschusssitzung so gesagt - ist, dass wir uns heute in vielen Bereichen schon in der Ablauf- und nicht mehr in der Entwurfsplanung befinden und damit ein realistischeres Kostenbild haben. Aber genau das müssen wir nun untersuchen. Gegenwärtig lässt sich nur feststellen, dass die Deutsche Bahn angekündigt hat, dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst sei, die von ihr zu vertretenden Mehrkosten in Höhe von 1,1 Milliarden Euro zu übernehmen. Aber dabei ist auch noch der Aufsichtsrat im Spiel, der darüber im Januar entscheiden muss; denn die Wirtschaftlichkeit des Projekts hat sich drastisch verringert. Wir sollten daher das Ergebnis der nächsten Sitzung des Aufsichtsrats einmal abwarten und dann erst in die konstruktive Diskussion einsteigen. Der erste Schritt kann doch nur sein: Alle Beteiligten müssen an einen Tisch und alle Fakten und offenen Fragen zur Finanzierung und Kostenverteilung diskutieren. Aber der wieder öffentlich hochkochende Streit über die Kostenverteilung zwischen der Bahn, der Landesregierung Baden-Württemberg, der Stadt und der Region Stuttgart ist im Zuge dessen schon jetzt kontraproduktiv und entzieht sich der objektiven Diskussion. An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich machen, dass für uns Liberale eindeutig das Verursacherprinzip gilt. Es muss doch klar sein, dass die Mehrkosten, die aus der Schlichtung oder infolge des Filder-Dialogs, durch den veränderten Flughafenbahnhof und weitere Verzögerungen entstanden sind, nicht allein der Bahn aufgebürdet werden können. Auch muss eine juristische Auseinandersetzung vermieden werden, um dieses zentrale Infrastrukturvorhaben, welches eine große Bedeutung nicht nur für BadenWürttemberg, sondern für Deutschland und Europa hat, erfolgreich zu realisieren. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich formieren sich nach der Nennung der Fakten jetzt die Gegner des Projekts, und wie auf Stichwort werden wieder die Rufe nach einem Ausstieg aus dem Projekt laut. ({4}) Sie, sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, forcieren diese hastige und unsachliche Debatte. Vergessen Sie aber bitte nicht, dass Sie in Stuttgart einen Koalitionspartner haben, der Ihren Aktionismus ganz anders sieht. Er steht zu Stuttgart 21 und schließt eine Beteiligung an den Mehrkosten inzwischen nicht mehr aus. ({5}) Das ist seriös und verhindert verkehrspolitischen Unsinn. Denn ohne Stuttgart 21 macht auch die Schnellbahnstrecke Wendlingen-Ulm keinen Sinn. Wir dürfen die europäischen Verkehre nicht ausbremsen. In Frankreich fährt der TGV mit 300 km/h und bei uns auf dem Weg von Paris nach Wien mit 70 km/h auf der Geislinger Steige. Dieser Blamage sollten wir uns nicht aussetzen. Also überlegen Sie sich alles noch einmal! Ich wünsche Ihnen friedvolle Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vom Kollegen Wichtel ist angemerkt worden, dass die Aktuelle Stunde umsonst sei, weil nur geredet wird und am Ende dann wieder nichts passiert. Ja, das ist zu befürchten. Allerdings ist das das zentrale Problem. Denn warum behandelt der Bundestag diese Probleme? Wer ist denn beteiligt? Am Berliner Flughafen ist der Bund mit 26 Prozent beteiligt. An der Bahn ist er mit 100 Prozent beteiligt. Bei beiden gibt es extreme Kostensteigerungen: beim Berliner Flughafen mindestens 1,2 Milliarden Euro. Bei Stuttgart 21 wurden 1,1 Milliarden Euro eingestanden; dazu kommen weitere 1,2 Milliarden Euro, für die die Schuld irgendwohin abgeschoben wird. Also sind wir bei 2,3 Milliarden Euro. Letztendlich wissen alle Projektbeteiligten, dass zumindest bei Stuttgart 21 das Ende der Fahnenstange bei weitem noch nicht erreicht ist, sondern dass wir mit weitaus höheren Kostensteigerungen zu rechnen haben. Das heißt, es sind in zwei Fällen Gesellschaften des Bundes - einmal ein Minderheitsgesellschafter, einmal als Alleineigentümer - ganz extrem betroffen. Wo, wenn nicht hier, in der zentralen Vertretung des Bundes, im Parlament, sollten wir über solch massive Kostensteigerungen für den Steuerzahler reden? Wo, wenn nicht hier? ({0}) Dass nichts passieren wird, ist genau das Problem. Das Ministerium müsste nämlich eingreifen. Bei Stuttgart 21, wo wir Alleineigentümer sind, müsste es ganz massiv eingreifen. Denn seien wir ehrlich: Es gibt im Grunde niemanden, der sich mit diesem Projekt ernsthaft beschäftigt hat und nicht wusste, dass das Projekt verkehrspolitisch sinnlos ist und nie und nimmer zu diesem Preis zu bauen ist. Wie ist das Projekt zustande gekommen? Die Landesregierung in Baden-Württemberg, damals Oettinger, wollte unbedingt ein Prestigeprojekt, weil er das toll fand. Herr Mehdorn wollte unbedingt die Bahn privatisiert haben. Dann haben die beiden einen Deal geschlossen: Dafür, dass die Südwest-CDU sowohl im Deutschen Bundestag als auch im Bundesrat die Stimmen für die Bahnprivatisierung besorgt, kriegen sie Stuttgart 21, obwohl auch Herrn Mehdorn und die Bahnspitze wussten, dass das Projekt sinnlos ist. Die Bahnprivatisierung ist zum Glück verhindert worden. Stuttgart 21 ist uns an der Backe geblieben und wird noch weitaus teurer. Gehen wir nur von den 1,1 Milliarden Euro Zusatzkosten aus, die angeblich die Bahn zu tragen bereit ist. Über zehn Jahre verteilt bedeutet das, wenn wir von optimistischen Baukosten ausgehen, 100 Millionen Euro Eigenmittel jährlich. Jeder sollte einmal in seinem Wahlkreis nachschauen, wie viele Bahnprojekte nicht realisiert werden können, weil die Bahn zum Beispiel sagt: „Der Bahnhof kann nicht saniert werden“, oder: „Das Überholgleis kann nicht hergerichtet werden.“ Dabei geht es um Summen von 100 000, 500 000, 1 Million oder 2 Millionen Euro. Aber bei Stuttgart 21 wird so getan, als ob 100 Millionen Euro Eigenmittel - das ist noch der optimistischste Fall für die Bahn - kein Geld wären. Das ist im Grunde ein Skandal. ({1}) Schauen wir uns das zweite wunderbare Projekt an, den Berliner Flughafen. In den Aufsichtsratsunterlagen vom 20. März, die der Ausschuss nach großen Mühen endlich bekommen hat, steht wörtlich: Der AN - was auch immer das ist - hat die „Grobmontagen“ bei der Entrauchungsanlage durchgeführt, aber die „Feinjustierung ({2})“ fehlt noch. - Wer bitte, der einigermaßen des Lesens mächtig ist, wagt ernsthaft zu behaupten, dass eine Inbetriebnahme zum 3. Juni möglich ist, wenn in den Aufsichtsratsunterlagen vom 20. März steht, dass die Entrauchungsanlage nicht verkabelt ist? Wie viele Entrauchungsanlagen und wie viele technische Geräte kennen Sie, die ohne Verkabelung funktionieren? ({3}) Nun zu Herrn Wowereit. Herr Wowereit ist regelmäßig in den zuständigen Ausschuss, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, eingeladen worden. Herr Wowereit hat freiwillig den Posten des Aufsichts26592 ratsvorsitzenden übernommen. Damit ist er verantwortlich gegenüber allen drei Gesellschaftern und nicht nur gegenüber dem Land Berlin. Es ist offensichtlich, dass er sich nicht traut oder - simpel ausgedrückt - zu feige ist, sich den Fragen des Fachausschusses zu stellen und darzulegen, wie er seine Katastrophenbaustelle in den Griff kriegen will. Das ist ein weiterer Skandal. ({4}) Wenn man sich das Ganze anschaut, kann man letztendlich nur eines daraus schlussfolgern: Es ist dringend notwendig, dass Verkehrsprojekte nicht aus ideologischen Gründen oder deshalb, weil man ein Prestigeprojekt haben will, realisiert werden. Vielmehr sollten Infrastrukturprojekte umgesetzt werden, um ein Problem zu lösen. Die Infrastruktur sollte dem Problem angemessen errichtet werden. Die Kosten müssen von Anfang an transparent sein, und die Planung muss vernünftig sein. Nach der Planungsphase muss man einen Schlussstrich ziehen und sagen: So ist die Planung - sie darf sich nicht jedes halbe Jahr ändern -, und so wird es gebaut. Fakt ist aber: Man erfindet Großprojekte, nicht um Verkehrsprobleme zu lösen. Die Kosten werden kleingerechnet. Wenn dann der Bau begonnen hat und es schon zu spät ist, rückt man mit den tatsächlichen Kosten heraus. Das trifft auf beide hier zur Diskussion stehende Projekte zu. Es ist an der Zeit, dass wir von einer großprojektfixierten Verkehrspolitik hin zu einer vernunftgeleiteten Verkehrspolitik kommen. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dr. Stefan Kaufmann hat nun das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der letzten Sitzung vor Weihnachten haben wir ein vorweihnachtliches Märchen vom Kollegen Hofreiter zur Historie von Stuttgart 21 gehört. Die Deutsche Bahn hatte heute leider kein Weihnachtsgeschenk für uns parat, eher eine schöne Bescherung. Der Streit über das Bahnprojekt Stuttgart 21 begleitet uns seit Jahren. Auch eine Volksabstimmung, die in Stadt und Land eine klare Zustimmung der Bevölkerung zu Stuttgart 21 ergab, hat zu keiner wirklichen Befriedung der Situation in Stuttgart geführt. Im Ergebnis stehen sich Befürworter und Gegner noch immer kaum versöhnlich gegenüber. Die Deutsche Bahn ist leider nicht ganz unschuldig an diesem Zustand. Ich möchte vorausschickend festhalten, dass ich das Projekt Stuttgart 21 zur Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart nach wie vor für sinnvoll halte. Kollege Jarzombek hat bereits einiges zu den großen Chancen gesagt. Die Unionsfraktion nimmt darüber hinaus positiv zur Kenntnis, dass der Vorstand der Deutschen Bahn am Projekt festhalten möchte. Zudem ist das Projekt trotz höherer Kosten aus Sicht der Deutschen Bahn nach wie vor wirtschaftlich, jedenfalls dann, wenn man die Kosten eines Projektausstiegs hinzu- bzw. dagegenrechnet. Einzuräumen ist allerdings, dass es sich bei Stuttgart 21 offensichtlich nicht - das hat der Kollege Simmling schon gesagt - um das am besten durchgerechnete Projekt der Bahngeschichte handelt. Dies gibt die Bahn ja auch selbstkritisch zu. An dieser Stelle sei aber noch einmal erwähnt, dass die höheren und zum Teil auch kaum planbaren Kosten dieses Projekts insbesondere aus den Risiken resultieren, die im Zusammenhang mit dem zu bauenden umfangreichen Tunnelsystem stehen. Dieses Tunnelsystem ist Folge der Grundsatzentscheidung im Jahr 1994, den Citybahnhof sowie den Flughafen Stuttgart an die ICE-Trasse anzubinden. Nur am Rande sei erwähnt, dass auch die maßgeblichen Alternativkonzepte, namentlich K 21, Frau Leidig, an dieser Grundsatzentscheidung festhalten und eine Flughafenanbindung mit entsprechenden Tunnelbauten vorsehen. Auch das muss deutlich gesagt werden. ({0}) Die entscheidende Frage in den nächsten Wochen wird nun sein, wie die erhöhten Kosten den Projektpartnern zugerechnet werden können. Sicherlich muss hier, wie es die Bahn auch tut, zwischen den Planungsversäumnissen der Bahn und den Kosten, die aus der Schlichtung oder Verzögerung des Projektes entstanden sind, differenziert werden. Auch die Risiken, die aus dem sogenannten Filder-Dialog über den Flughafenbahnhof resultieren und zu einer Qualitätsverbesserung des Projekts führen sollen, sind separat zwischen den Projektpartnern zu diskutieren. Lassen Sie mich mit drei Forderungen schließen, die aus meiner Sicht für die Fortführung des Projekts ganz entscheidend sind: Erstens. Es muss zukünftig absolute Transparenz bei der Finanzierung und Durchführung dieses Projekts herrschen. Insofern sind wir dem Bahnvorstand und insbesondere Dr. Volker Kefer dankbar, dass er das von ihm eingeleitete Sechs-Punkte-Programm zur Kostenentwicklung umgehend an die verantwortlichen Gremien weitergeleitet hat. Zweitens. Der Beitrag des Bundes zur Projektbeschleunigung sollte eine personelle Stärkung des Eisenbahn-Bundesamtes sein. Auch dort ist ein Teil der Verantwortung für die Verzögerung des Projekts zu suchen. Drittens. Das Projekt Stuttgart 21 muss nach den erforderlichen Diskussionen der nächsten Wochen und insbesondere auch der Zustimmung des Aufsichtsrats der Bahn zügig umgesetzt werden. Hierbei ist vor allem an die Projektförderungspflicht der Projektpartner zu erinnern. Ohne eine engagierte Kooperation der Projektpartner kann das Projekt weder zügig noch kostenoptimiert realisiert werden. Bisher tut insbesondere die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg zu wenig, um die enormen finanziellen Risiken und Herausforderungen dieses Projekts konstruktiv zu begleiten. Wer wie die Landesregierung - und hoffentlich nicht bald auch noch der neue Stuttgarter OB, Herr Kuhn - den Bau aus parteitaktischen Gründen immer wieder verzögert und seine Freude über jede schlechte Nachricht bei Stuttgart 21 presseöffentlich kaum verbergen kann wie Landesverkehrsminister Hermann, der ist beileibe nicht unschuldig an der heutigen Situation. ({1}) Die Projektpartner sind in der Pflicht und können sich nicht einfach davonstehlen, Frau Bender. Am Ende wird das Projekt nur erfolgreich sein, wenn es von allen gemeinsam getragen wird. Dies war im Übrigen auch der Geist des Finanzierungsvertrages aus dem Jahr 2009. Das Projekt darf jedenfalls nicht weiter bloß ein Spielball politischer Interessen und wechselnder politischer Mehrheiten sein. Anderenfalls steht die Zukunft großer, planungsintensiver Infrastrukturprojekte in Deutschland insgesamt auf dem Spiel. Dies sollten wir immer im Hinterkopf behalten, gerade bei unseren Diskussionen hier im Bundestag. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und allen eine erholsame und frohe Weihnachtszeit. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist tatsächlich eine schöne Bescherung, die wir heute haben - es sind, glaube ich, alle Stuttgarter Abgeordneten anwesend, mit Ausnahme des Kollegen Maurer -: ({0}) Wir haben zum Jahresende die Quittung von der Bahn präsentiert bekommen und sehen nun, was Stuttgart 21 kostet. Kollege Hofreiter spricht immer von einem Lieblingsprojekt, wenn wir im Verkehrsausschuss darüber debattieren. Die Bahn hat es uns schon schwer gemacht, gerade den Befürwortern von Stuttgart 21; denn angesichts dieser Kostenrechnung, die jetzt offengelegt wird, kommen wir doch ins Grübeln. Auch die Projektpartner vor Ort verstehen diese Rechnung nicht ganz. Ich als Befürworterin ärgere mich natürlich saumäßig darüber - entschuldigen Sie diesen Ausdruck -, dass die Gegner von Stuttgart 21 dadurch Aufwind bekommen. Dadurch wird die Stimmung in Stuttgart wieder ganz schön aufgeheizt. Das ist die Situation, die wir in Stuttgart haben. Der designierte OB Kuhn - am 7. Januar tritt er sein Amt an - wird damit zu kämpfen haben. Das finde ich sehr schwierig. Es ist ziemlich problematisch, wenn wir uns bei allen großen Projekten immer wieder gegenseitig die Schuld zuschieben und mit dem Finger auf den anderen zeigen; schließlich weisen gleichzeitig drei Finger zurück auf einen selbst. Herr Kefer hat in der Sondersitzung des Verkehrsausschusses heute Morgen lapidar den Satz gesagt: Na ja, bei großen Projekten ist das so. ({1}) Ich glaube, es ist nicht mehr zu vermitteln, dass man es bei großen Projekten einfach so hinnimmt, dass sie teuer werden können, dass man einfach vor sich hin plant, nicht entsprechend Rücksicht nimmt, nicht mit allen infrage kommenden Partnern kommuniziert. Das können wir uns in dieser Form nicht mehr leisten. Lieber Kollege Hofreiter und andere, wenn ein Projekt ein Großprojekt ist, heißt das nicht unbedingt, dass es prestigeträchtig ist. Wir brauchen komplexe Systeme. Auch die Energiewende wird nur auf eine bestimmte Art und Weise zu organisieren sein. Alles gleichzeitig schlechtzureden, was als Großprojekt gilt, ist falsch. Schlichtweg ein bisschen mehr Differenzierung tut schon not, ({2}) um den Leuten das Ganze verständlich zu machen. ({3}) Äußerungen wie die von Herrn Kefer führen doch dazu, dass die Leute für solche Projekte im Infrastrukturbereich nicht gewonnen werden. ({4}) Wir brauchen aber die Leute vor Ort. ({5}) Alle - ihr auch - spüren das doch. Ihr werdet genauso gefragt, wie ihr euch dazu positioniert habt. Die Grünen dürfen sich jetzt keinen schlanken Fuß machen. Auch die Grünen stehen in Baden-Württemberg in der Verantwortung. Es gab einen Volksentscheid zu Stuttgart 21. ({6}) Dieser Volksentscheid ist positiv ausgegangen. Die Umsetzung dieses Volksentscheids wird unter bestimmten Prämissen durchgeführt. ({7}) Es gibt einen Kostendeckel. Jetzt geht es darum, der neuen Situation Rechnung zu tragen. Zur Bundesregierung - jetzt wird nicht getwittert oder gelesen, Kollege Ferlemann und Kollege Mücke; aufgepasst! -: ({8}) Es kann nicht sein, dass Sie gebetsmühlenartig immer wieder sagen: Es ist ein eigenwirtschaftliches Projekt der Bahn. Wir lassen uns da überhaupt nicht hineinziehen; wir geben nur 563 Millionen Euro. - Der Bund gibt aber nicht nur 563 Millionen Euro, sondern Mittel in Höhe von insgesamt 1,229 Milliarden Euro zu diesem Projekt; denn man muss auch die hinzukommenden Mittel einrechnen. Genauso wie Sie zur Bewältigung der Probleme beim Flughafen BER eine Soko eingerichtet haben, sollten Sie sich Gedanken darüber machen, wie der Kostenkonflikt im Zusammenhang mit Stuttgart 21 gelöst werden kann. Wir erwarten, dass Minister Ramsauer hierbei Verantwortung übernimmt und zu diesem Projekt steht. Die Bahn beziffert die Verzögerungskosten mit 400 Millionen Euro. Beim Eisenbahn-Bundesamt arbeiten gerade einmal fünf Personen an dem Genehmigungsverfahren. Hürden wie diese müssen wirklich abgebaut werden. Mit mehr Personal könnten die prognostizierten Kosten verringert werden. Am 16. Januar findet die nächste Sitzung des Verkehrsausschusses statt. Herr Ramsauer, Herr Grube und Herr Kefer werden die Frage beantworten müssen, welche Kostenrisiken im Projekt Stuttgart 21 noch stecken, zu welchem Zeitpunkt es tatsächlich unwirtschaftlich und nicht mehr vertretbar wird und was ein Ausstieg für die Bahn kostet. Es kursieren unterschiedliche Zahlen: einmal 2 Milliarden Euro, einmal 3 Milliarden Euro. Herr Ramsauer muss darauf Antworten geben, und er kann sich nicht wieder davonmachen. Wenn er Richtung Schweiz unterwegs ist, dann muss er vielleicht eine Zwischenlandung in Stuttgart machen, um sich mit Herrn Kretschmann darüber zu verständigen, wie der Konflikt zwischen Bund, Land, Kommune und der Region gelöst wird. Wenn er dies nicht tut, dann kommt umso schneller der Ruf: Die Kanzlerin soll es richten. - In der Heilbronner Stimme stand heute: Weil der Ramsauer es nicht bringt, soll die Kanzlerin es richten. - Ich glaube, das kann er sich nicht erlauben und nicht auf sich sitzen lassen. Herr Ramsauer muss hier Rede und Antwort stehen. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Stefanie Vogelsang hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Hofreiter, letzter Tagesordnungspunkt vor der Weihnachtspause ist eine Aktuelle Stunde über ein Thema, für das wir Verantwortung haben. Wir, der Deutsche Bundestag, haben das Budgetrecht, und bei uns liegt die Budgetverantwortung. Darüber haben wir in den unterschiedlichsten Ausschusssitzungen - im Verkehrsausschuss, im Haushaltsausschuss - diverse Male diskutiert. ({0}) Die eigentliche Motivation dafür, dass Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben, ist doch, zu skandalisieren und vielleicht noch mit einem scheinbar großen Erfolg in die Weihnachtspause zu gehen. ({1}) Ich persönlich glaube, dass wir uns mit solchen Diskussionen überhaupt keinen Gefallen tun. Wie der eine auf den anderen und der andere auf den einen zeigt, wollen die Bürgerinnen und Bürger gar nicht mehr sehen. Qualifizierte Problemanalyse, qualifizierte Beschäftigung mit Strukturschwächen und Fehlentscheidungen kann man in einer Aktuellen Stunde jetzt und hier nicht leisten. ({2}) Am Anfang dieser Woche war unser Thema die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union durch das Nobelpreiskomitee, bei der die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und der französische Staatspräsident Hollande anwesend waren. Wir haben in dieser Woche den Europäischen Rat mit intensiven Diskussionen vorbereitet. Wir haben uns mit der Abwägung zwischen dem Recht auf freie Religionsausübung auf der einen Seite und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit von Kleinkindern auf der anderen Seite auseinandergesetzt. Wir haben heute eine Abstimmung darüber gehabt, ob wir unserer Beistandspflicht im Rahmen der NATO-Verpflichtung nachkommen und unsere Patriot-Raketen in die Türkei entsenden. Jetzt beschäftigen wir uns in einem Hin und Her mit diesem Thema. ({3}) Ich glaube, den Grundstock der Planungen hat der damalige Verkehrsminister Stolpe in einer rot-grünen Bundesregierung gelegt. ({4}) Ein Kollege hat in seiner Rede gesagt: Das ist eine völlig desaströse Verkehrsplanung gewesen. - Planung macht man von Anfang an! Ich glaube, dass es darauf ankommt, dass wir engmaschig kontrollieren. Aus diesem Grund, Frau Kollegin Rawert, hat der Haushaltsausschuss die Mittel gesperrt. Wegen der engmaschigen Kontrolle hat der Haushaltsausschuss die Mittel nicht komplett freigegeben; aber er hat auch nicht nur 84 Millionen Euro freigegeben, wie Sie das fälschlicherweise dargestellt haben. Als wirklich wesentlichen Beitrag zum Bau des Flughafens hat er die Verpflichtungsermächtigung aus dem Nachtragshaushalt für 2012 in Höhe von 312 Millionen Euro freigegeben. Er hat genau die Mittel gesperrt gehalten - das ist ein ganz wesentlicher Aspekt -, die man noch nicht für tatsächliche Aufgaben und tatsächlich rechtsverbindliche Verpflichtungen in den nächsten Wochen braucht. Ich persönlich empfinde es als ein Desaster, in welcher Art und Weise die Flughafengesellschaft hier in Berlin kommuniziert, in welcher Art und Weise mit uns gesprochen wird, in welcher Art und Weise wir informiert werden. Ich finde, es ist ein Desaster, wie da mit Geldern umgegangen wird, wie das eine oder andere hochgerechnet wird, wie wir am Mittwochmittag im Haushaltsausschuss Informationen bekommen, die am Mittwochabend schon wieder von gestern sind, wie man auf einmal Rechnungen über 250 Millionen Euro in irgendwelchen Waschkörben findet ({5}) und wie ein Geschäftsführer oder ein Sprecher der Geschäftsführung, wie er sich nennt, seinen Aufsichtsratsvorsitzenden nicht informiert haben will. Ich glaube, dass spätestens mit dieser Aktion auch wirklich jedem hier im Hause hätte klar sein müssen, Frau Rawert, dass Herr Schwarz seinen Stuhl räumen muss und dass eine andere Person diese Aufgabe übernehmen muss, weil wir noch ein bisschen Vertrauen in diesen Bereich haben wollen. ({6}) Sowohl der Bund als auch Berlin - ich bin Berliner Bundestagsabgeordnete - bekennen sich zu diesem Flughafen. Wir wissen, wie wichtig diese Drehscheibe Europas für die Hauptstadtregion ist. Deswegen werden wir alles unternehmen, damit dieser Flughafen so schnell wie möglich und so kostengünstig, wie das jetzt noch möglich ist, fertiggebaut wird. Ich habe Vertrauen in das Verkehrsministerium, das sich noch einmal die Analysen anschaut, um herauszufinden, ob die unterschiedlichen Systeme von Siemens und Bosch irgendwann einmal kompatibel gemacht werden können oder ob wir da ein absolutes Desaster erleben müssen. Ich bin gespannt! Ich glaube, dass die Wochen Ende Dezember/Anfang Januar noch die eine oder andere Erkenntnis bringen werden. Ich glaube aber nicht, dass wir dem Flughafen Berlin Brandenburg mit Blick auf die Realisierung, den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern und damit uns allen einen Gefallen tun, wenn wir nur hin und her zeigen. Stattdessen sollten wir uns um die Dinge tatsächlich kümmern und die Probleme lösen helfen. Ich bin die letzte Rednerin ({7}) in dieser Debatte. Es ist die letzte Debatte vor der Weihnachtspause. Ich wünsche Ihnen allen gesegnete Weihnachten. Haben Sie ein bisschen Zeit, über das nachzudenken, was wir gemacht haben. Auf gute Entscheidungen im nächsten Jahr! ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Aussprache ist geschlossen. Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen eine gute weitere Adventszeit, gesegnete Weihnachten und einen fröhlichen Jahreswechsel. Damit wir uns auf jeden Fall wiedersehen, berufe ich die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Januar 2013, 11 Uhr, ein. Genießen Sie die Zeit und die gewonnenen Einsichten. Alles Gute! Die Sitzung ist geschlossen.