Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte
ich dem Vizepräsidenten Dr. Hermann Otto Solms zu
seinem 72. Geburtstag gratulieren, den er vor wenigen
Tagen gefeiert hat. Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Solms. Im Namen des Hauses alle guten Wünsche.
({0})
Im Übrigen feiert heute der Direktor beim Deutschen
Bundestag, Staatssekretär Semmler, seinen 65. Geburtstag.
({1})
Das ist eine schöne Gelegenheit, ihm vor dem Hohen
Hause nicht nur zum Geburtstag zu gratulieren, sondern
für seine langjährigen Dienste in der Bundestagsverwaltung und nun an der Spitze derselben zu danken, verbunden mit allen guten Wünschen für den bevorstehenden
Ruhestand.
({2})
Nun mache ich Sie darauf aufmerksam, dass es eine
interfraktionelle Vereinbarung gibt, mit Ausnahme des
Antrages des Bundesministeriums der Finanzen auf der
Drucksache 17/11669, die Tagesordnung um die in der
Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Ökonomische und verfassungsrechtliche Auswirkungen der Vermögensteuerpläne von SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
({3})
ZP 2 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 17/10754, 17/11269 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4})
- Drucksache 17/11705 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Rolf Hempelmann
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Menschenwürdige Lebensbedingungen für
Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie
Geduldete sicherstellen - Asylbewerberleis-
tungsgesetz reformieren
- Drucksache 17/11674 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Rüdiger Veit,
Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende
und Geduldete
- Drucksachen 17/5912, 17/11716 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({6})-
Ulla Jelpke-
Josef Philip Winkler
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 51
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Markus Tressel, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verkehrsträgerübergreifende Fahrgastrechte
stärken
- Drucksache 17/11375 25630
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({7})Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Tourismus -
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner
Simmling, Birgit Homburger, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Projektbeiratsbeschluss bei der Rheintalbahn
umsetzen
- Drucksache 17/11652 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Tourismus -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktionsplan Soziale Sicherung - Ein Beitrag
zur weltweiten sozialen Wende
- Drucksache 17/11665 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({11})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 52
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Dem Antrag Palästinas auf erweiterten Be-
obachterstatus in der UNO zustimmen
- Drucksache 17/11678 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({12})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11618 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({13})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11619 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({14})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11620 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({15})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11621 -
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Unterschiedliche Auffassungen der Koalitions-
fraktionen über ihre Pläne zur Einführung
von Gutscheinen für Haushaltshilfen
ZP 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Strompreiserhöhung aussetzen - Faire Strom-
preise für alle
- Drucksache 17/11656 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({17}), Rolf
Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Für ein konzeptionelles Vorgehen der Bundesregierung bei der Energiewende - Masterplan Energiewende
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kosten und Nutzen der Energiewende fair
verteilen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bezahlbare Energie sichern durch Einsparung, Erneuerbare und mehr Verbraucherrechte
- Drucksachen 17/9729, 17/11004, 17/11030,
17/11719 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({18})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen
- Drucksachen 17/8493, 17/9713 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({19})Karin Roth ({20})Helga DaubNiema MovassatUwe Kekeritz
ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch
- Drucksache 17/11726 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({21})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
ZP 10 a)Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen
Fortschritte beim Anpassungsprogramm für
Griechenland
b) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland - Änderung der
Garantieschlüssel;
Einholung eines zustimmenden Beschlusses
des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1
i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes ({22})
- Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11469,
17/11669 ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen
- Drucksachen 17/3685, 17/9587 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Edgar Franke
ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({24}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Wohnungspolitische Verantwortung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen
sichern
- Drucksachen 17/9737, 17/10717 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Götz
Über die Aufsetzung des von mir gerade genannten
Antrages werden wir morgen früh vor Eintritt in die Tagesordnung abstimmen.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Des Weiteren werden die Tagesordnungspunkte 23,
27, 42, 46 und 48 abgesetzt. Darüber hinaus kommt es
zu den in der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Sind Sie damit einverstanden? Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 17/10754, 17/11269 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({25})
- Drucksache 17/11705 Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Hempelmann
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Philipp Rösler,
das Wort.
({26})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Montag haben wir den
Netzentwicklungsplan vorgelegt. Gestern hat das Bundeskabinett eine Verordnung für mehr Versorgungssicherheit in Deutschland beschlossen. Und heute
diskutieren wir abschließend über das Energiewirtschaftsgesetz. Allein dies zeigt: eine gute Woche zur erfolgreichen Umsetzung der Energiewende in Deutschland.
({0})
Diese Umsetzung, anders als bei Rot-Grün zu ihrer Regierungszeit, ist bei dieser Regierungskoalition aus
CDU, CSU und FDP ausdrücklich in guten Händen.
({1})
Wie war es denn zu Ihrer Zeit? Sie haben den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, aber keinerlei
Pläne vorgelegt zum Netzausbau, zum Ausbau der erneuerbaren Energien oder für mehr Speichertechnologien.
({2})
Kollege Altmaier hat berichtet: In seinem Ministerium,
das von Rot und Grün geführt wurde, gab es nicht einen
einzigen Plan zur erfolgreichen Umsetzung der Energiewende. Jetzt gegen das Energiewirtschaftsgesetz zu sein,
ist unsolide, unglaubwürdig und unseriös.
({3})
Es geht um den Ausbau der erneuerbaren Energien, ganz
konkret der Offshorewindenergie. Da muss man sich
schon sehr wundern: Es stehen Milliardeninvestitionen
an, die nicht nur Versorgungssicherheit durch eine neue
Energieerzeugungsform, sondern auch viele Hunderte,
vielleicht Tausende neue Arbeitsplätze im Norden unseres Landes schaffen, und die Grünen sind gegen dieses
Gesetz.
({4})
Also halten wir doch zuerst einmal fest: Die Grünen
sind gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien.
({5})
Sie sind gegen Offshorewindenergie. Das ist das wahre
Gesicht der Grünen in der deutschen Energiepolitik.
({6})
Bei den Roten sieht es leider nicht viel besser aus.
({7})
In seinem letzten Redebeitrag hat sich der Kollege noch
darüber beschwert, es würde bei der Offshorewindenergie nicht vorangehen. Jetzt liegt das Gesetz vor. Wir
machen den Weg frei für ebendiese Milliardeninvestitionen, und Sie sind dagegen! Gehen Sie doch einmal zu
den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen oder Niedersachsen!
Gehen Sie doch einmal an die Werkstore und sagen Sie
den Menschen dort, Sie seien gegen diese neue Form der
Industrie, Sie seien gegen die Unternehmen, Sie seien
gegen die Menschen, Sie seien gegen die Arbeitsplätze
zum Beispiel in Niedersachsen.
({8})
Ich bin sehr gespannt, ob Sie den Mut haben, hier Nein
zu sagen. Aber den Menschen hier vorzumachen, Sie
seien für erneuerbare Energien,
({9})
ist unehrlich, Frau Steiner. Sie kommen auch aus Niedersachsen, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.
({10})
Wenigstens ist hier richtig Stimmung, wenn sie da ist.
({11})
Ja, der Ausbau der erneuerbaren Energien kostet
Geld. Wenn man Kernkraftwerke abschalten will,
braucht man Ersatzkapazitäten, konventionelle Kraftwerke - Kohlekraftwerke, Gaskraftwerke -, aber eben
auch Offshorewindenergie. Das wird zu bezahlen sein.
Weil es viel Geld kostet, weil Investitionen notwendig
sind, teilen wir die Belastungen gerecht auf: auf die Offshorewindparkbetreiber, auf die Übertragungsnetzbetreiber und auch auf die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Weil wir wissen, dass die Risiken zwar klein, aber die
Kosten im Schadensfall vergleichsweise hoch sind, haben wir dafür gesorgt, dass die Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger auf 0,25 Cent je Kilowattstunde gedeckelt werden. Das ist gerade einmal 1 Prozent des
aktuellen Strompreises.
({12})
Das, was im Haftungsfall die Industrie an Erstattung
bekommt, wird am Ende der Förderlaufzeit genau dieser
Industrie auch wieder abgezogen. Das ist ein gerechtes
Verhältnis zwischen dem Investitionsnutzen und den
Kosten. Wir stellen fest: Dies ist erstmals eine Regelung,
die die Kosten für Verbraucherinnen und Verbraucher
begrenzt. Aber Rot und Grün sind gegen diese Begrenzung bei den erneuerbaren Energien.
({13})
Wir wissen: Erneuerbare Energien werden nur dann
wirtschaftlich werden können, wenn wir genügend Speicherkapazitäten zur Verfügung haben.
({14})
Deswegen unterstützen wir Pumpspeicherkraftwerke,
weil wir Speicherkapazitäten brauchen, die auch industriell nutzbar sind. Sie sagen: Ja, wir brauchen erneuerbare Energien. Ja, wir brauchen Speicher. - Das ist alles
sehr wolkig und unscharf formuliert; denn wenn es konkret wird, sind Sie wiederum dagegen.
({15})
Wir wissen, wir brauchen beides: erneuerbare Energien
und Speicher. Deswegen handeln wir und schlagen mit
dem Energiewirtschaftsgesetz den richtigen Weg ein.
({16})
Zum Energiewirtschaftsgesetz gibt es ein Wintergesetz. Hierbei geht es ganz konkret um die Versorgungssicherheit in den nächsten beiden Wintern. Ja, wir wissen, das sind ordnungspolitisch und wirtschaftspolitisch
durchaus streitige Maßnahmen.
({17})
Aber in der Abwägung zwischen diesen streitigen Maßnahmen auf der einen Seite und der Versorgungssicherheit für die Menschen in Deutschland in den nächsten
beiden Wintern auf der anderen Seite haben sich diese
Regierung und diese Koalition völlig zu Recht für die
Versorgungssicherheit der Menschen und Unternehmen
in Deutschland entschieden.
({18})
Warum müssen wir solche Maßnahmen auf den Weg
bringen, Frau Höhn? Weil es ein Gesetz zur Förderung
der erneuerbaren Energien, das EEG, gibt, das zum Beispiel durch den Einspeisevorrang konventionelle Kraftwerke immer unwirtschaftlicher werden lässt. Deswegen
muss man im Interesse der Versorgungssicherheit solche
Maßnahmen ergreifen. Sowohl unsere Maßnahmen im
Bereich der Offshorewindenergie als auch die Maßnahmen, die jetzt im Rahmen des Wintergesetzes notwendig
werden, zeigen nur eines: Wenn wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien, bei der umweltfreundlichen Produktion, bei der Versorgungssicherheit und der Bezahlbarkeit der Energie weiter vorankommen wollen, dann
brauchen wir eine grundlegende Reform des Gesetzes
zur Förderung der erneuerbaren Energien.
({19})
Wir sind in dieser Woche einen großen Schritt vorangekommen durch neue Netze, durch Versorgungssicherheit und durch dieses EnWG.
({20})
Weitere Schritte werden folgen müssen. Ein nächster
großer Schritt ist die Reform des EEG. Anders wird die
Bezahlbarkeit der Energie in Deutschland nicht sicherzustellen sein.
({21})
Dieses Gesetz, Frau Steiner, führt genau in die richtige
Richtung - zu notwendigen Reformen für eine bessere
Energieversorgung in Deutschland.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({22})
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Rösler, die Energiewende bietet, wenn man sie richtig betreibt, in allererster Linie
eine Riesenchance für das Industrieland Bundesrepublik
Deutschland. Wir können, wenn wir es richtig machen,
unseren Beitrag dazu leisten, dass wir auf diesem Gebiet
Ausrüster der Welt sein können: mit Energieeffizienz,
mit modernen Formen von Energieproduktion durch erneuerbare Energien. Wir haben in Deutschland das ingenieurwissenschaftliche Know-how dazu, wir verfügen
über die notwendigen Fähigkeiten. Was wir allerdings
nicht haben, ist eine Bundesregierung, die diese Chance
nutzt. Deshalb gerät die Energiewende, die eine Operation am offenen Herzen unserer Industriegesellschaft ist,
durch die Unfähigkeit und das Chaos in Ihrer Regierung
zu einem Riesenproblem. Sie fahren gerade die Energiewende an die Wand, Herr Rösler.
({0})
Wir können Vorreiter sein, auch in Bereichen, wo wir
Neuland oder wie in diesem Fall See betreten, gar keine
Frage. Offshorewindenergie ist nicht nur ein zentraler
Eckpfeiler einer stabilen Energieversorgung der Zukunft, sondern Offshore ist eine neue Technologie. Da
gibt es erhebliche Risiken. Da ist vieles technisch noch
nicht gelöst. Gleichwohl ist dieser Weg richtig. Wir bekennen uns dazu. Wir wollen, dass Stromerzeugung mittels Windkraftanlagen auf See einen wichtigen Beitrag
für den Energiemix der Zukunft leistet. Offshoreanlagen
erreichen eine höhere Volllaststundenzahl als andere Anlagen und sind Teil einer stabilen Energieversorgung
durch Erneuerbare. Aber ich sage noch einmal: Es ist das
Chaos in dieser Bundesregierung, das zu einer Situation
geführt hat, die sich folgendermaßen beschreiben lässt:
Noch vor ein, zwei Jahren waren immense Investitionen
von großen EVUs, aber auch von Stadtwerken im Bereich Offshore geplant. Heute jedoch müssen wir erleben, dass diese Unternehmen ihr Investment Stück für
Stück canceln, weil diese Bundesregierung die Aufgabe,
erneuerbare Energien offshore auszubauen, schlicht und
ergreifend unterschätzt hat. Sie sind dieser Aufgabe
Hubertus Heil ({1})
nicht gewachsen, und deswegen gehen die Investitionen
jetzt den Bach herunter.
({2})
Das hat Folgen für Arbeitsplätze in unserer niedersächsischen Heimat, in Norddeutschland insgesamt.
Wenn man es richtig macht, bietet Offshore eine Chance
für Industrialisierung an den Küsten des Nordens, für
Wertschöpfungsketten beispielsweise im Schiffbau. Sie
haben Planungs- und Investitionsunsicherheit geschaffen. Sie versuchen jetzt, das mühsam zu reparieren durch
ein Gesetz, das neue Ungerechtigkeiten schafft. Das alles gefährdet Beschäftigung, Arbeitsplätze und eine sichere Energieversorgung in diesem Land. Herr Rösler,
Sie sind der Aufgabe nicht gewachsen. Das ist genau das
Problem.
({3})
Was machen Sie jetzt mit diesem Gesetz? Flickschusterei! Sie wälzen im Wesentlichen die Haftungsrisiken
auf die Verbraucher ab. Herr Rösler, Sie sollten keine
Krokodilstränen über höhere Strompreise vergießen, wie
Sie es heute im Morgenmagazin getan haben, wenn Sie
gleichzeitig den Verbrauchern mit diesem Gesetz höhere
Strompreise bescheren. Das ist unglaubwürdig, Herr
Rösler.
({4})
Eine faire Lastenteilung in der Energiewende sieht anders aus. Marktwirtschaftliche Instrumente, Herr
Brüderle, sehen völlig anders aus als das, was Sie mit
diesem Gesetz vorhaben. Das ist ja reine Planwirtschaft,
nichts anderes. Das muss man einmal feststellen.
({5})
Wo sind denn Ihre Vorschläge, die dafür sorgen, dass
wir beim Netzanschluss - denn das ist die Hauptaufgabe trotz aller technisch ungelösten Probleme wirklich vorankommen? Wir hatten in Deutschland eine Riesenchance, in den Jahren 2008 und 2009 beim Unbundling
durch die Schaffung einer deutschen Netz AG mit öffentlicher Beteiligung, aber im Wesentlichen privatwirtschaftlich organisiert, die Feuerkraft für Investitionen in
diesem Bereich zu organisieren. Damals waren es der
Bundesminister Michael Glos, meine Damen und Herren
von der CSU, und später Ihr famoser Herr Guttenberg,
die sich einer solchen vernünftigen Lösung verweigert
haben. Das Ergebnis sehen wir eben heute. Wir sehen
heute, dass die Investitionen, die notwendig wären, nicht
mobilisiert werden können: Investitionen in den Netzanschluss - da gibt es Probleme - und in Leitungen an
Land, die benötigt werden, um Strom vom Norden in
den Süden zu bringen.
Lassen Sie uns doch eine Diskussion über eine deutsche Netz AG führen. Sogar Herr Homann von der
Bundesnetzagentur hält sie für eine Möglichkeit, das
Problem vernünftig zu lösen; Herr Rösler, Sie haben ihn
im Wesentlichen mit ins Amt gebracht, wenn ich mich
recht entsinne. Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob
es nicht vernünftig wäre, das Problem der Offshoreanbindung zu nutzen, um den Nukleus einer deutschen
Netz AG zu schaffen. Unser Vorschlag ist konkret. Wir
wollen, dass wir uns auf diesen Weg machen. Wir könnten dann von öffentlicher Seite, über die Kreditanstalt
für Wiederaufbau, einsteigen, um Haftungsrisiken abzusichern und sie nicht auf die Verbraucher abzuwälzen.
Herr Rösler, das ist eine Alternative zu dem, was Sie hier
vorlegen.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, Herr Rösler: Sie tragen persönlich Verantwortung für das, was im Moment
scheitert. Sie schaffen es nicht, mit Herrn Altmaier wirklich zu Lösungen zu kommen, sondern markieren lediglich für den Bundestagswahlkampf. Die Rede, die Sie
eben gehalten haben, war ein beredter Hinweis auf Ihre
Position im Wahlkampf; aber Sie werden Ihrem Amt
nicht gerecht. Ein Bundeswirtschaftsminister, der eigentlich für eine sichere, saubere und bezahlbare Energieversorgung für die Wirtschaft und für die Verbraucherinnen
und Verbraucher in diesem Land zuständig ist, muss
mehr bieten als die Rede, die wir eben gehört haben. Ich
habe heute Morgen gehört, dass Sie im Morgenmagazin
einen Masterplan zur Energiewende gefordert haben.
({6})
Da kann ich nur sagen: Gute Idee, Herr Minister! Wie
viele Jahre haben Sie eigentlich gebraucht, um auf diese
geniale Idee zu kommen?
Tatsache ist: Wir brauchen eine bessere Koordinierung. Es mag sein, dass Sie die Versorgungssicherheit im
nächsten Winter so garantieren müssen, wie Sie es jetzt
mit Ihrem Zwangsanschaltgesetz machen. Wir sind in
einer Lage, in der die Versorgungssicherheit im Winter
nicht mehr garantiert ist, weshalb Sie Zwangsmaßnahmen ergreifen müssen, die mit Marktwirtschaft nun
wirklich nichts zu tun haben. Sie zwingen die Unternehmen, konventionelle Kraftwerke im Süden anzuschalten,
die sich betriebswirtschaftlich nicht mehr rechnen. Das
wird in den nächsten drei oder vier Wintern möglicherweise notwendig sein; vielleicht gibt es gar keine Alternativen mehr, weil Sie uns in diese Situation gebracht
haben.
Sie haben aber auch keine Idee, wie es danach weitergehen soll, wie ein Strommarktdesign der Zukunft aussieht, wie wir die erneuerbaren Energien vernünftig ausbauen, sie Stück für Stück in die Vermarktung
überführen und sie mit Reservekapazitäten koppeln. Sie
haben keinen Vorschlag vorgelegt, aus dem hervorgeht,
wie ein solches Strommarktdesign aussehen könnte. Dafür hatten Sie eigentlich genug Zeit.
Ich sage Ihnen, Herr Bundesminister: Für den Offshorebereich und für die Versorgungssicherheit sind Sie
nicht der Experte.
({7})
Hubertus Heil ({8})
Sie haben es in den letzten Jahren nicht geschafft, die
Chancen Norddeutschlands und Deutschlands insgesamt
im Bereich der erneuerbaren Energien zu nutzen. Sie
schimpfen in einer Tour über die erneuerbaren Energien,
anstatt sie vernünftig auszubauen und zu fördern. Sie
sorgen nicht für die notwendige Planungs- und Investitionssicherheit. Sie sorgen nicht für eine sichere und bezahlbare Stromversorgung. Sie verspielen die Chancen,
die für das Industrieland Deutschland in der Energiewende stecken, auch die Chancen im Export unserer
Technologien. Sie schaffen keine Planungs- und Investitionssicherheit und vernichten dadurch Arbeitsplätze.
Wir müssen nach der Bundestagswahl mit diesem Chaos
aufräumen. Wir können Energiewende, und Sie nicht.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In der Tat geht es heute um
zwei zentrale energiepolitische Vorhaben beim Umbau
der Energieversorgung, die wir im Übrigen im letzten
Jahr mit großer Mehrheit und fraktionsübergreifend hier
in diesem Hause beschlossen und auch im Bundesrat
einmütig auf den Weg gebracht haben.
Um was geht es konkret? Es geht zum einen um Planungssicherheit im Offshorebereich, um den Offshorewindbereich dorthin zu bringen, wo wir ihn gemäß unserer Ziele haben wollen; ich werde gleich noch darauf
eingehen. Es geht zum anderen um die Übergangsphase,
in der die erneuerbaren Energien aufgrund von Fixkostenvergütungen, Einspeisegarantien und anderen Regelungen eine Dimension erreicht haben, die im Winter zu
der Problematik führt, dass die Erneuerbaren nicht den
Beitrag leisten können, den sie leisten sollen, weil die
Sonne nicht so scheint und der Wind nicht so weht, wie
wir uns das wünschen.
({0})
- An der Küste ist es auch nicht anders; da scheint
nachts auch nicht die Sonne. Das wird trotz fortschreitendem Klimawandel auch nicht anders werden. Mit
dem Wind verhält es sich ähnlich; das wissen Sie genau.
Wir stehen vor folgender Situation: In diesem Jahr
werden über 25 Prozent des Stroms durch erneuerbare
Energien erzeugt. Im Winter werden wir wieder die Situation haben, dass nicht genug installierte Kapazität zur
Verfügung steht. Wir mussten deshalb im letzten Winter
insbesondere in Süddeutschland auf Strom aus Österreich zurückgreifen und zeitweise Reservekraftwerke
zur Stromlieferung verpflichten, um die Versorgung sicherzustellen.
Lassen Sie mich auf folgenden Effekt eingehen. Der
Anteil an Strom aus erneuerbaren Energien wird immer
größer, aber im Spitzenlastbereich muss zusätzlich
Strom aus konventioneller Energie eingesetzt werden.
Wenn die konventionellen Kraftwerke aber über das Jahr
so wenig zum Einsatz kommen, dann sind sie nicht mehr
rentabel. Das betrifft nicht nur neu gebaute, sondern
auch bestehende Kraftwerke. Im nächsten Winter werden wir zusätzlich 2,6 Gigawatt, also 2 600 Megawatt
- das entspricht der Leistung von drei Kernkraftwerken -,
als Reserve brauchen, um die Energieversorgung zu gewährleisten.
Durch eine Übergangslösung bis 2017 - das fällt uns
nicht leicht, weil es in der Tat ein Eingriff in den Markt
ist - wollen wir ausreichend Reserven für den Winter sicherstellen. Für Mitte des Jahres 2014 ist eine Überprüfung vorgesehen. Des Weiteren haben wir gestern im
Bundeskabinett eine Verordnung zu abschaltbaren Lasten auf den Weg gebracht. Das ist eine Möglichkeit, genug Strom zu erzeugen. Die andere Möglichkeit ist, dass
man bei Spitzenlast Lasten insbesondere im industriellen
Bereich vom Netz nimmt, und zwar dort, wo es möglich
ist. Für die Übergangszeit ist das wichtig. Wir finden
hier eine Balance, um schwierige Situationen zu überbrücken.
Wir haben auch ein Problem bei den Pumpspeicherkraftwerken. Dort haben wir eine ähnliche Situation. Auf
der einen Seite brauchen wir mehr Speicherkapazität,
um den diskontinuierlich erzeugten Strom aus erneuerbaren Energien zu speichern. Auf der anderen Seite werden
Pumpspeicherkraftwerke durch den Wegfall der Mittagsspitze über das Jahr hinweg zunehmend unrentabel. Das
heißt, dass sich nicht nur neue, sondern auch bestehende
Pumpspeicherkraftwerke nicht mehr rechnen. Mit dem
Gesetz versuchen wir Anreize zu setzen, um durch den
Einsatz neuer Technik die Effizienz der bestehenden
Pumpspeicherkraftwerke zu erhöhen. Das ist die eine
Seite der Medaille.
Offshore ist ein weiteres Thema. Ich darf daran erinnern: Wir haben uns gemeinsam das Ziel gesetzt, bis
2020 10 Gigawatt und bis 2030 25 Gigawatt durch Offshoreanlagen zu produzieren. Leider wurden bisher nur
2 Prozent davon umgesetzt.
({1})
Was sind die Gründe? Die Gründe liegen in der Vergangenheit. Wir können uns jetzt darüber streiten, wer dafür
Verantwortung trägt oder nicht. Als das auf den Weg gebracht wurde, war Herr Gabriel Umweltminister.
({2})
Wir können jetzt sagen: Der ist schuld. - Das mache ich
aber nicht. Bei einer neuen Technologie sind die Gründe
vielfältig. Es gibt technische Gründe - beispielsweise
bei der Gründung -, es gibt Engpässe bei den entsprechenden Spezialschiffen, die notwendig sind; es gibt
nicht genug Kabel,
({3})
es gibt den Tidenhub, und es gibt logistische Herausforderungen. Das alles sorgt dafür, dass es nicht so umgesetzt werden konnte, wie wir uns das vorgestellt haben.
Wir haben zeitliche Verzögerungen, insbesondere
beim Netzanschluss. Wir stehen vor der Situation, dass
beispielsweise Windparks einsatzfähig sind, aber der
Strom nicht abtransportiert werden kann.
({4})
In den Jahren 2010 und 2011 haben wir bereits zwischen
20 Millionen und 35 Millionen Euro für produzierten
Strom ausgegeben, der nie beim Verbraucher ankam.
Das ist natürlich nicht Sinn der Sache.
Manche sagen: Dann machen wir halt nichts; dann
fährt das alles gegen die Wand. - Aber die Offshoreenergie hat großes Potenzial. Es besteht die Chance, bis 2020
8 bis 10 Prozent und bis 2050 25 bis 30 Prozent des gesamten Stroms offshore zu produzieren.
Offshorewindenergie leistet auch einen Beitrag zur
Systemstabilität. Die Sonne scheint eben, wie gesagt,
nicht Tag und Nacht, und auch der Wind weht onshore
nicht so kontinuierlich wie offshore. Daher haben wir in
diesem Bereich nur eine Verfügbarkeit von 2 bis 5 Prozent. Demgegenüber haben wir offshore eine Verfügbarkeit von ungefähr 4 500 Stunden. Neueste Zahlen belegen, dass die Windparks in der Ostsee im letzten Jahr
über 4 200 Volllaststunden erbracht haben. Insofern können sie einen guten Beitrag zur Systemstabilität leisten.
Offshorewindenergie kann mittelfristig auch zur Senkung des Energiepreises beitragen. Jetzt, am Anfang, ist
die Vergütung zwar vergleichsweise hoch. Die Vergütung
im Bereich Offshorewindenergie wird aber im Gegensatz zu der Vergütung in den Bereichen Onshorewindenergie und Photovoltaik nur neun Jahre lang gezahlt.
Dann läuft die Förderung aus. Das heißt, wir haben keine
20-jährige Bindung. Nach dem Ablauf von neun Jahren
beträgt die Vergütung 4,5 Cent pro Kilowattstunde, was
absolut wettbewerbsfähig ist.
({5})
Das Exportpotenzial ist bereits angesprochen worden.
Offshorewindenergie zählt nämlich nicht zum Bereich
Lowtech, sondern zum Bereich Hightech, und zwar hinsichtlich der Anlagen, der Leitungen und des sonstigen
Know-hows, das damit verbunden ist.
Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, die zeitlichen Verzögerungen zu berücksichtigen und die ungeklärten Haftungsfragen, die sich daraus ergeben, dass es sich hier
um eine neue Technologie handelt, zu klären. Bei der
Offshorewindenergie ist es nicht so wie bei der Nutzung
der Windenergie an Land oder der Nutzung anderer
Technologien, bei denen das Risiko auf dem Markt versicherbar ist. Wir müssen eine Lösung finden, damit die
bestehenden Projekte fortgeführt und zum Erfolg geführt
werden können, und gleichzeitig müssen wir für die
neuen Projekte zukunftsfähige Regeln finden. Diesen
Gordischen Knoten gilt es zu durchschlagen. Deswegen
unterbreiten wir heute diesen Vorschlag, der einen guten
Ausgleich darstellt. Damit schaffen wir einerseits Planungssicherheit für die Investoren, und andererseits wird
der Verbraucher nicht über Gebühr strapaziert.
Wie machen wir das? Wir definieren Fahrlässigkeit
klar. Die Haftungssumme bei leichter Fahrlässigkeit soll
17,5 Millionen Euro pro Projekt betragen. Das war der
große Streitpunkt: Wie hoch muss dieser Betrag sein,
damit trotzdem noch Investitionen ausgelöst werden?
Wichtig ist, dass nicht nur die Umlage ausgelöst wird,
sondern wirklich neue Projekte entstehen und auch private Investoren dabei sind. Auf der anderen Seite sehen
wir einen Selbstbehalt von 110 Millionen Euro pro Jahr
für die Netzbetreiber vor, die in diesem Bereich auf dem
Markt aktiv sind.
Jetzt geht es darum, einen Ausgleich zu schaffen. Wir
müssen nicht nur die bestehenden Projekte umsetzen,
sondern auch dafür sorgen, dass es zukünftig neue Projekte gibt. Deshalb synchronisieren wir im Offshorenetzentwicklungsplan den Ausbau der Offshorekapazitäten
mit dem Kapazitäts- und Netzausbau. Damit bringen wir
beides zusammen; das ist bisher unterlassen worden. Vor
dieser Aufgabe stehen wir heute. Heute drücken wir den
Startknopf. Ich bin gespannt, ob der Bundesrat, in dem
auch Vertreter der Oppositionsparteien vertreten sind,
diesen vernünftigen Weg mitgeht und ob Sie hier und
heute bereit sind, diesen vernünftigen Weg mitzugehen,
oder das Ganze gegen die Wand fahren lassen und damit
die Arbeitsplätze und die Energieversorgung gefährden.
Damit würden Sie letzten Endes das Gegenteil dessen erreichen, was Sie hier immer so schön propagieren.
({6})
Barbara Höll ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist der Anlass für die Debatte? Die Netzanbindung
von Windparks im Meer - dazu wird meine Kollegin
Johanna Voß sprechen ({0})
und die Tatsache, dass Energieversorgern verboten werden soll, Kohle- und Gaskraftwerke stillzulegen unter
Zahlung einer Entschädigungsleistung. Warum? Energiekonzerne drohen momentan damit, dass sie eine
Reihe von Kraftwerken stilllegen müssen, weil sie sich
angeblich nicht mehr rentieren. Diese Woche berichtet
Der Spiegel von einer vertraulichen Studie des Umweltministeriums von Nordrhein-Westfalen, nach der allein
in diesem Bundesland die Stilllegung von 29 Kraftwerken droht, und zwar vorzeitig; denn ihre technische Lebensdauer liegt noch bei 20 bis 30 Jahren.
Nun fragt sich natürlich jeder, warum das so ist. Die
Mengen an Wind- und Solarstrom hätten so stark zugenommen, dass die Großhandelspreise sinken würden. Das
mache den Betrieb von Kohle- und vor allem von Gaskraftwerken zunehmend unwirtschaftlich, so die Energiekonzerne. Sinkende Strompreise durch erneuerbare Energien - ich glaube, ganz viele Bürgerinnen und Bürger sind
nun ein bisschen verwirrt. Vor zwei Wochen erhielten sie
die Nachricht ihres Stromversorgers, dass die Strompreise wegen der Förderung der erneuerbaren Energien
zum 1. Januar 2013 steigen müssen. Die Strompreise sollen um durchschnittlich 12 Prozent ansteigen. Einige Versorger verlangen mit einem Aufschlag von bis zu 20 Prozent sogar deutlich mehr. Man fragt sich wirklich: Wie
passt das zusammen?
Richtig, die Umlage für erneuerbare Energien steigt
im nächsten Jahr um 1,7 Cent pro Kilowattstunde. Damit
wird die Strompreisexplosion begründet. Diese Aussage
bestimmte in den letzten Wochen die Titelseiten der Zeitungen. Nun muss man aber wissen, was nicht in den
Zeitungen steht, nämlich dass die EEG-Umlage nicht
nur deshalb erhöht wird, weil wir einen Zubau von Solar- und Windstromanlagen wollen, sondern weil unter
anderem die Ausnahmeregelungen für Industrien stark
ausgeweitet wurden. Man kann sagen, dass die Industrierabatte mindestens 1 Cent ausmachen.
({1})
Es wird verschwiegen, dass der Zubau von erneuerbaren Energien zu sinkenden Preisen an der Strombörse
führt.
({2})
Das ist richtig; denn Ökostrom dämpft den Preisanstieg,
und zwar derzeit um 0,9 Prozent. Jedes Solardach und
jedes neu angeschlossene Windrad führen tendenziell
dazu, dass der Strom preiswerter wird.
Aber die Energiekonzerne klagen, dass alles so
schlimm sei. Die Preise an der Börse seien so niedrig, es
lohne sich also nicht mehr, insbesondere Gaskraftwerke
zu betreiben. Warum? Der Profit ist entscheidend und
nicht die Versorgungssicherheit. Das ist ein Skandal.
({3})
Einerseits sagt die Bundesnetzagentur, es gebe genügend Kraftwerke, um die Stromversorgung im nächsten
Winter sicherzustellen, andererseits ist die Drohkulisse
durch die Energiekonzerne so groß, dass der Bundeswirtschaftsminister sagt: In diesem Bereich verzichte ich
auf marktwirtschaftliche Mechanismen, jetzt gibt es einen Plan, ein Verbot der Stilllegung. - Dieses Stilllegungsverbot ist aber nicht umsonst. Der Staat soll dafür
zahlen, dass die Energiekonzerne ihre Kraftwerke weiterbetreiben.
({4})
Als Finanzpolitikerin frage ich mich: Welche Stilllegungsankündigung der Energieversorger ist berechtigt?
Wobei handelt es sich vor allem um eine Drohkulisse,
und wann ist es so, dass die Kraftwerke tatsächlich nicht
rentabel sind?
({5})
Dann gibt es noch die angedrohten Abschaltungen.
Hier muss ich fragen: Was wäre denn Ihrer Meinung
nach eine angemessene Entschädigung? - Herr Rösler,
es ist schön, dass Sie versuchen, zuzuhören, während Sie
von der Seite angesprochen werden. - Ich frage mich
wirklich: Wollen wir heute einen Blankoscheck ausstellen? Es soll einfach verabschiedet werden, dass die
Energiekonzerne eine Prämie zur Verhinderung der Stilllegung erhalten. Über die Höhe dieser Stilllegungsprämie reden aber nicht wir hier im Bundestag, sondern die
Festlegung soll auf dem Verordnungsweg, also am Parlament vorbei, geschehen. Das ist ein zusätzlicher Skandal.
({6})
Sie machen wieder einmal Politik am Parlament vorbei. Noch am Montag stand dieser Gesetzentwurf nicht
auf der Tagesordnung des Bundestages. Er wurde erst
am Dienstag auf die Tagesordnung gesetzt.
({7})
Am Dienstagabend erhielten die Abgeordneten des Wirtschaftsausschusses 60 Seiten mit Änderungsanträgen.
Erzählen Sie mir nicht, dass Sie sich alle intensiv damit
auseinandersetzen konnten.
({8})
Das glaubt Ihnen niemand. Wir von der Opposition
konnten das auch nicht.
({9})
Manche Energieversorger sagen, das Geschäft lohne
sich nicht mehr, alles sei so schlimm. Schauen wir uns
doch einmal an, wie es konkret aussieht: RWE hat in den
ersten drei Quartalen dieses Jahres eine Gewinnsteigerung um ein Drittel auf 1,88 Milliarden Euro erzielt. Eon
hat für 2013 seine Gewinnerwartung nach unten korrigiert. In diesem Jahr geht man von einem Gewinn von
4,1 bis 4,5 Milliarden Euro aus. Auch Eon schreibt im
nächsten Jahr noch keine roten Zahlen. Sie verzeichnen
also eine Verringerung des Profits, aber sie schreiben
keine roten Zahlen, sondern machen weiterhin Profit. Es
geht ihnen nur um Profitmaximierung, aber nicht um
Versorgungssicherheit. Das macht doch den Grundkonflikt deutlich.
({10})
Der Grundkonflikt ist folgender: Den privaten Unternehmen geht es um Gewinnmaximierung und nicht um
Versorgungssicherheit. Das kann nicht die Zielsetzung
sein. Energieversorgung ist ein Gut, auf das wir alle angewiesen sind. Deshalb gehört sie in öffentliche Hand.
Noch eines: Wenn Sie hier schon solch einen Gesetzentwurf verabschieden wollen, frage ich mich, warum
Sie zu allem Überfluss wieder viele kommunale Stadtwerke benachteiligen. Diese können nicht einfach abschalten. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Heizung
im Winter läuft und warmes Wasser da ist. Die Wärmeversorgung ist der Auftrag der Kommunen. Damit fallen
sie nicht unter das Gesetz. Das heißt, Sie wollen hier
wieder ausdrücklich die privaten Kraftwerke sponsern.
Dafür machen Sie Druck und beugen sich den Drohkulissen. Wir werden uns damit nicht einverstanden erklären und lehnen das ab.
Danke.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Krischer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Wirtschaftsminister Rösler, der Gesetzentwurf, den Sie hier vorlegen, ist keine energiewirtschaftliche Großtat, wie Sie es hier gerade vorgetragen haben,
sondern eine Bankrotterklärung. Das muss hier so einmal gesagt werden.
({0})
Wenn man es mit Ihnen gut meint, kann man sagen: Es
ist die Beseitigung der Trümmer, die Sie verursacht haben. Aber selbst das bekommen Sie nicht hin. Sie schaffen es nicht, die eigenen Fehler an dieser Stelle zu beseitigen.
({1})
Das zeigt sich daran, dass Sie monatelang gestritten und
gezetert haben, um zu diesem Gesetzentwurf zu kommen.
Frau Aigner hat sich vor Sie geschmissen, hat die verbraucherpolitische Ankündigungsministerin gemacht,
und dann ist sie als Bettvorlegerin gelandet.
({2})
- Ich merke, das Bild mit Frau Aigner und der Bettvorlegerin gefällt Ihnen. - Letztendlich sind Sie erst gestern
Morgen mit dem Gesetzentwurf fertig geworden. Das
zeigt, welche Qualität er hat.
({3})
Man muss sich einmal klarmachen, was beim Thema
Offshore los ist. Das, was Sie produzieren, ist Schilda
live. In Deutschland, in der Nordsee werden Windparks
gebaut, obwohl dort kein Netzanschluss ist, und dort, wo
ein Netzanschluss ist, haben wir keine Windparks. Wer
trägt die Verantwortung dafür? Das ist der Wirtschaftsminister, der für Netzausbau zuständig ist.
({4})
Von ihm habe ich zu diesem Thema lange nichts gehört.
({5})
Das, was wir von Rösler im Zusammenhang mit diesem Thema gehört haben, ist: Das sollen die Unternehmen
für sich regeln, das sollen sie untereinander regeln. - Das
Problem ist ja nicht vom Himmel gefallen. Er hat es geschehen lassen, er hat die Dinge so laufen lassen, und
jetzt ist das Chaos da. Die Zahlen zeigen, dass es nicht
nur um Probleme geht, die in der Zukunft auf uns zukommen. Schon jetzt sind Schäden entstanden. Es geht
um 1 Milliarde Euro, wahrscheinlich sogar 2 Milliarden
Euro. Für diese Schäden tragen dieser Wirtschaftsminister und diese Bundesregierung die Verantwortung.
({6})
Die Folgen dieser Politik kann man sich in Niedersachsen ansehen. Dort werden reihenweise Windparkprojekte abgesagt. Eine ganze Industrie droht uns verloren zu
gehen. Die hochfliegenden Pläne von 10 000 Megawatt,
von denen Herr Pfeiffer eben noch gesprochen hat, sind
schon lange nicht mehr realisierbar. Dieses Ziel werden
wir bis 2020 nicht erreichen. Sie haben aber bewirkt, dass
Sie nach der PV nun die zweite Industrie im Bereich der
erneuerbaren Energien kaputtmachen. Das ist das Resultat Ihrer Politik.
({7})
Statt selber Verantwortung zu übernehmen, tun Sie
das, was Sie immer tun.
({8})
Sie laden die Verantwortung bei den Verbraucherinnen
und Verbrauchern ab. Sie sollen für Ihre Fehler, für die
Schäden, die Sie verursacht haben und auch in Zukunft
weiter verursachen werden, zahlen. 0,25 Cent pro Kilowattstunde soll jeder Privatverbraucher zahlen. Alle Verbraucher, die mehr als 100 000 Kilowattstunden verbrauchen, sind wieder größtenteils ausgenommen; so kennen
wir das. Es geht nicht mehr nur um die energieintensive
Industrie - da könnte man das vielleicht noch nachvollziehen -, sondern praktisch um alle Unternehmen. Jede
mittlere Sparkassenfiliale ist ausgenommen. Sie laden die
Probleme wieder allein bei den Privatverbrauchern, beim
Kleingewerbe und beim Handwerk ab.
({9})
Das ist Ihre Politik.
({10})
Das passt zu alledem, was wir bei der EEG-Umlage, bei
den Netzentgelten und bei der Stromsteuer erleben: Dieser Wirtschaftsminister erteilt Befreiungen und verteilt
Privilegien wie Kamellen im Kölner Karneval. Das ist
die Realität.
({11})
Meine Damen und Herren, die sinnvollste Lösung
wäre, Sie würden hier die Verantwortung übernehmen,
sprich: der Bund würde für die Haftung einstehen. Da
könnten wir einen guten Weg gehen - der Kollege Heil
hat ihn eben schon erläutert -: Wir könnten, wenn wir
die Haftung für TenneT übernehmen und dem Unternehmen das Risiko abnehmen würden, die Chance nutzen,
um Anteile von TenneT zu übernehmen und eine Deutsche Netz AG zu gründen.
({12})
Dies haben Sie in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart;
aber Sie haben nichts gemacht. In Ihren Antworten auf
Anfragen schreiben Sie, dass die Deutsche Netz AG
nicht mehr kommen wird, weil die Übertragungsnetzbetreiber sie nicht wollen. An dieser Stelle hätten Sie die
Chance, eine Deutsche Netz AG zu gründen, um diesen
Bereich zu ordnen.
({13})
Es kann ja nun wirklich nicht sein - das muss man sich
auf der Zunge zergehen lassen -, dass der wichtigste deutsche Netzbetreiber, die Firma TenneT, von der Bundesnetzagentur keine Zertifizierung bekommt. Wenn man
sich anschaut, was dazu auf der Homepage der Bundesnetzagentur steht, dann erfährt man, dass der Netzbetrieb
von TenneT eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Das muss
man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Der
wichtigste deutsche Netzbetreiber begeht beim Netzbetrieb eine Ordnungswidrigkeit. Das ist die Realität Ihrer
Politik. So kann man eine Energiewende nicht machen.
({14})
In Ihrem Gesetzentwurf geht es allerdings nicht nur
um Offshore und den Anschluss an die Netze, sondern
auch um das Thema, das Sie beschönigend „Winterreserve“ nennen. Wir sagen dazu: Das ist ein Kraftwerkszwangsbetrieb. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich
hätte mir nicht vorstellen können, dass eine christlich-liberale Koalition - so nennen Sie sich ja - in der Energiewirtschaft eine Planwirtschaft einführt, bei der Herr
Honecker - Gott hab ihn selig - im Grab hüpfen würde.
Das ist genau das, was Sie da gemacht haben. Das ist
doch wirklich ein Armutszeugnis.
({15})
Das zeigt, dass Sie beim Thema Energiewende jeden
Kompass verloren haben.
Herr Brüderle, Sie reden ja neuerdings immer so
gerne vom Mao-Jäckchen. Ich glaube nur, Sie verschweigen uns, wer in Wirklichkeit das Mao-Jäckchen
trägt.
({16})
Das ist nämlich der Wirtschaftsminister; denn er führt in
der Energiewirtschaft die Planwirtschaft ein.
({17})
Das, meine Damen und Herren, ist die Realität.
({18})
Ich könnte mir ja noch vorstellen, dass man eine solche Lösung für ein bis zwei Jahre vorsieht. Aber Sie
wollen, dass diese Lösung bis 2017 gilt. Ursprünglich
hatten Sie sogar vor, sie bis 2019 zu verankern. Das ist
keine kurzzeitige Lösung. Das ist eine auf Dauer angelegte Lösung.
Geht es um die Frage, wie wir bei der Versorgungssicherheit marktwirtschaftliche Instrumente einsetzen,
verweigern Sie sich der Debatte vollständig. Wir brauchen in diesem Land Kapazitätsmärkte, um die Versorgungssicherheit marktwirtschaftlich zu regeln. Schauen
Sie einmal ins europäische Ausland: Die Briten reden
über Kapazitätsmärkte, in Holland wird über Kapazitätsmärkte geredet, die EU-Kommission bereitet eine Verordnung zum Thema Kapazitätsmärkte vor. Was erleben
wir? Die Bundesregierung hat zu diesem Thema wieder
einmal keine Meinung. Sie verpennen auch dieses
Thema. Sie versagen, wie auch bei der Energiewende.
({19})
Nun noch ein Wort zur Lastabschalt-Verordnung. Sie
ist im Prinzip ein richtiges Instrument. Über dieses
Thema streitet man sich - das hat, wie ich habe lernen
müssen, wohl schon in der Großen Koalition angefangen - seit mittlerweile vier Jahren. Jetzt legen Sie auf
einmal einen Entwurf vor. Wir werden ihn uns sehr genau ansehen und prüfen, ob er ein Instrument ist, das geeignet ist, die Lasten zu verschieben. Aber eines sage ich
Ihnen: Wir werden nicht dabei mitmachen, eine neue
Subventionsmaschine für eine Handvoll Industriebetriebe zu schaffen. Wir werden uns Ihren Entwurf, wie
gesagt, sehr genau ansehen. Für uns gilt das Prinzip:
Wenn es eine Förderung und eine Entlohnung gibt, dann
muss dem auch eine Leistung gegenüberstehen. Anders
kann es nicht gehen.
({20})
Ich möchte abschließend einen Punkt ansprechen, der
nicht so sehr im Fokus der Debatte steht: den § 46 des
Energiewirtschaftsgesetzes, in dem es um die Kommunen und um Konzessionsverträge geht. Das Ziel meiner
Fraktion ist - ich weiß, dass dies auch für die Kollegen
von den Sozialdemokraten ein wichtiges Thema ist -,
den Kommunen zu ermöglichen, selbst zu entscheiden,
was mit den Verteilnetzen vor Ort passiert und wer sie
betreibt. Wir wollen hier Entscheidungsfreiheit für die
Kommunen.
({21})
Was Sie machen, haben Sie 2011 im Energiewirtschaftsgesetz schon schlecht geregelt. Sie sind leider unseren
Vorschlägen nicht gefolgt, das besser zu machen. Sie haben eine völlige Rechtsunsicherheit produziert, die dazu
führt, dass Kommunen heute nicht entscheiden können,
weil sie in jedem Fall Angst haben müssen, sie müssten
einen Prozess gegen Energiekonzerne führen. Das ist
nicht in Ordnung. Das ist gegen die Kommunen gerichtet. Das ist gegen die Interessen der Energiewende. Das
kann so nicht sein. Das sollten Sie ändern.
({22})
Ich kann Ihnen eines sagen: Spätestens im September
2013 wird das einer der ersten Punkte sein, die wir ändern.
({23})
Wir werden § 46 des Energiewirtschaftgesetzes so gestalten, dass das eine kommunalfreundliche Regelung
wird, der Sie sich die ganze Zeit verweigern.
({24})
Meine Damen und Herren, zusammenfassend kann
man sagen: Dieser Gesetzentwurf ist kein Beitrag zur
Energiewende. Er ist untauglich, er ist Flickschusterei,
um eigene Fehler und Unvermögen dieser Bundesregierung zu kaschieren. Er löst kein einziges Problem, er beantwortet keine einzige Frage der Energiewirtschaft und
der Energiewende.
Ich danke Ihnen.
({25})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Klaus Breil für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Was Herr Heil - wo ist er, ist er nicht mehr da? - für
wünschenswert hält, ist bereits Realität. In vielen Teilen
der Welt wird deutsche Erneuerbare-Energien-Technologie angewendet - bis hin zu den Antipoden, zum Beispiel in der Atacama-Wüste in Chile. Ich bin gern bereit,
Ihnen nähere Auskünfte zu erteilen. Das können wir
gern bilateral machen.
Die Koalition beschließt heute im Wesentlichen zwei
bedeutende Änderungen im Energiewirtschaftsgesetz.
Erstens. Wir lösen das Problem bestehender Rechtsunsicherheiten beim Ausbau der Offshorewindenergie - immerhin eine der Grundfesten bei unserem Ausstieg aus
der Kernenergie und auf unserem Weg hin zu 80 Prozent
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien im Jahr
2050. Wir haben uns in unserem Energiekonzept dazu
bekannt, bis 2020 rund 10 Gigawatt Stromerzeugungskapazitäten an den Küsten unseres Landes anzuschließen. Bis 2030 sollen es 25 Gigawatt werden.
Bedingt durch Lieferengpässe der Industrie, die nicht
vorhersehbar und nicht beeinflussbar gewesen sind,
konnten Fristen nicht eingehalten werden. In der Folge
wackelten mit den Finanzierungszusagen auch die Ausbauziele. Es drohte eine Situation, in der Windparks installiert sind und der dort produzierte Strom aufgrund
fehlender Anschlüsse nicht abtransportiert werden kann.
Herr Krischer, Offshorewind ist komplizierter als
EUROSOLAR.
({0})
Wer hätte da noch investieren sollen?
Zur Rettung der Situation wird jetzt ein Teil der ausfallenden Vergütung durch die Verbraucher getragen.
Dabei bleibt das Geschäft attraktiv für Genossenschaften, Bürgerfonds, Kapitalsammelstellen wie zum Beispiel Pensionfonds, Versicherungen und Energieversorger. Eigentümer dieser Institutionen ist eine große
Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern.
Im Gesetzgebungsverfahren haben wir versucht, den
Zeitraum der Belastung für die Verbraucher so kurz wie
nötig zu halten. Ich persönlich gehe davon aus - Herr
Krischer, hören Sie gut zu! -, dass diese Umlage in Höhe
von 0,25 Cent pro Kilowattstunde nur für die kommenden drei, vielleicht maximal vier Jahre erhoben wird.
({1})
Um dem gerecht zu werden, haben wir keinem der Wünsche der Branche, die die Umlage in die Höhe getrieben
hätten, nachgegeben.
({2})
Es wundert mich nicht, dass ich all diese Forderungen in
den Entschließungsanträgen der Opposition wiederfinde.
({3})
Zum Beispiel sollen - eine Forderung der Grünen - ausgefallene Vergütungen auch dann, wenn die zentrale Anschlusskomponente noch nicht installiert ist, bereits
kompensiert werden. Zum Beispiel soll - eine Forderung
der Grünen - eine Vermaschung der Anschlüsse die Absicherung jedes einzelnen Windparks erhöhen, auch
wenn damit jede teure Anbindungsleitung doppelt errichtet würde.
({4})
Zum Beispiel soll - eine Forderung der SPD - das Stauchungsmodell im EEG verlängert werden, auch wenn
dadurch die EEG-Umlage nochmals erhöht wird.
({5})
Herr Krischer, Sie fordern mehr Markt, andererseits aber
auch Kapazitätsmärkte. Wie Sie diesen Widerspruch auflösen wollen, müssen Sie mir einmal erklären.
({6})
Das darf es alles nicht geben. Die Politik muss verantwortungsvoll mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger
umgehen.
({7})
Darum, Herr Heil - hören Sie gut zu! -, sind die Bürgerinnen und Bürger froh, dass wir regieren und nicht RotGrün.
({8})
Zweiter wesentlicher Punkt. Wir sorgen mit der Gesetzesänderung dafür,
({9})
dass in Deutschland die Lichter nicht ausgehen. Der
hohe Grad der Versorgungssicherheit trägt bedeutend zu
unserem Wohlgefühl bei und ist ein wichtiger Standortfaktor für die ansässigen Unternehmen. Die Verlässlichkeit der Stromversorgung ist ein wesentlicher Grund
dafür, warum sich Unternehmen trotz der hohen Strompreise weiter bevorzugt in Deutschland niederlassen.
({10})
Es ärgert mich sehr, wenn ich in den Medien Worte
wie Kraftwerkabschaltverbotgesetz lesen muss.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der Politik
gibt es immer einen sauren Apfel, in den man beißen
muss.
({12})
Wir haben es nämlich bis heute nicht geschafft, die erneuerbaren Energien mit steuerbaren Back-up-Kapazitäten unter einen Hut zu bringen. Ebenso wenig haben wir
es schon erreicht, den Netzausbau und den Ausbau der
erneuerbaren Energien aufeinander abzustimmen. Hier
stehen wir noch am Anfang.
({13})
Die ersten Schritte sind in dieser Legislaturperiode gemacht worden.
Solange wir aber kein neues Marktdesign unter Einbeziehung der fluktuierenden erneuerbaren Energien mit
Systemverantwortung haben, also eine Reform des EEG,
({14})
so lange gleicht der Schritt, den wir mit diesem Gesetz
gehen, einem minimalinvasiven Eingriff.
({15})
Die Notwendigkeit liegt auf der Hand: Selbst neuere
Gaskraftwerke, deren Betrieb durch die wenigen Betriebsstunden im Jahr nicht mehr rentabel ist, waren und
sind Gegenstand von Stilllegungsankündigungen. In
Bayern, wo ich herkomme, haben Ankündigungen wie
diese manche Politiker auf einen Schlag um Jahre altern
lassen.
Herr Kollege, Sie achten bitte auf die Zeit.
Der Stromausfall in München vor wenigen Tagen sitzt
den Münchenern noch gut im Gedächtnis: 450 000 Bürgerinnen und Bürger ohne Strom, das zeigt die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft.
({0})
Zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger und zum
Wohle unserer Industrie mussten wir handeln. Mit dem
neuen Gesetz werden Betreiber verpflichtet, die Stilllegung eines Kraftwerks mit einer Leistung von mehr als
50 Megawatt ein Jahr im Voraus anzukündigen. Wird
dieses Kraftwerk als systemrelevant eingestuft, kann es
durch die Bundesnetzagentur in eine Netzreserve überführt werden.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Damit laufen diese Anlagen bei regionalen Engpässen auf Anweisung des zuständigen Übertragungsnetzbetreibers. Vom Prinzip her
ist das nichts Neues, es ist nur transparenter
({0})
und hat eine vom Deutschen Bundestag legitimierte
Grundlage.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Beckmeyer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin ein wenig entsetzt über den Stand der Erkenntnis, den dieser Bundeswirtschaftsminister uns
heute und in den letzten Tagen vermittelt hat. Man fragt
sich eigentlich: Wo war er die ganzen letzten drei Jahre?
War diese Bundesregierung in dieser Frage in den letzten
drei Jahren auch nur irgendwie aktiv? Was muss eigentlich alles passieren, damit die Windkraftbranche, die
Offshorebranche in Deutschland überhaupt noch eine
Zukunft hat?
({0})
Ich komme aus einer Stadt, in der mindestens 25 Unternehmen in der Windkraftbranche tätig sind: REpower
Systems, PowerBlades, Areva Wind, WeserWind, alles
große Unternehmen. All diese Unternehmen haben in
den letzten fünf, sechs Jahren dreistellige Millionenbeträge investiert. Die setzen darauf, dass sie in der Bundesrepublik Anlagen zur Erzeugung von Offshorewindenergie unter guten Rahmenbedingungen entwickeln,
bauen und verkaufen können. Für die Rahmenbedingungen sind ausschließlich Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, in dieser Regierung zuständig.
({1})
Aber wo sind diese Rahmenbedingungen? Wer hat eigentlich diese Rahmenbedingungen in den letzten Jahren
nicht geschaffen? Das ist diese Bundesregierung.
Wir haben inzwischen Insolvenzen von großen Unternehmen an der Küste, die dort bisher in der Windkraftbranche tätig waren. Das zarte anfängliche Anklopfen
der Ministerpräsidenten ist in diesem Herbst inzwischen
zu einem Sturm geworden, weil die Unternehmen dort
oben an der Küste erkennen: Diese Regierung handelt
nicht. Diese Regierung verschläft das Problem. Sie sind
ein Planlosigkeitsminister, nichts anderes.
({2})
Ich darf an dieser Stelle ganz zurückgenommen sagen: Wir haben eine enorme Chance in diesem Feld. In
den nächsten Jahren können locker Investitionen von
mehreren Milliarden, manche reden von 75 Milliarden,
getätigt werden. Aber was erleben wir? Da kündigt
EnBW an, dass der dritte Windpark jetzt im November
gestoppt wird, weil unsichere Rahmenbedingungen vorhanden sind. Da fragt man sich doch: Sind das eigentlich
noch nicht genügend Weckrufe, damit diese Bundesregierung endlich handelt?
Das Problem TenneT ist seit mindestens zwei Jahren
in der Szene bekannt. Die haben zu wenig Kohle und zu
wenig Investitionskraft. Jetzt kommt die Bundesnetzagentur und attestiert das, was gerade vom Kollegen der
Grünen gesagt worden ist. Und was macht diese Bundesregierung? Gar nichts. Wo sind Ihre Gespräche mit
TenneT? Wo sind Ihre Initiativen, dass TenneT seine
Aufgaben als Investor für die Netze auch im Offshorebereich wahrnehmen kann? Wo sind sie?
({3})
Wenn Sie zur niederländischen Regierung fahren und
dort erfahren, dass sie den TenneT-Leuten nicht unter die
Arme greifen will, dann müssen Sie als Bundeswirtschaftsminister für Deutschland doch selbst tätig werden, um in dieser Frage endlich Klarheit zu erringen.
({4})
Sie produzieren hier Trümmer, eine Trümmerlandschaft der Energiepolitik. Ich finde, das ist unverzeihlich; denn es gibt Tausende von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, die hoffnungsvoll in diese Branche eingestiegen sind und die sich hier engagieren, junge Ingenieure, die darin eine Zukunft sehen. Alle Menschen dort
werden zurzeit verunsichert, weil sie genau sehen, was
in ihrem Betrieb los ist. Sie fahren momentan auf Volllast und wissen, dass sie Mitte nächsten Jahres aufgrund
von nicht erfolgten weiteren Bestellungen in eine Unterbeschäftigung geraten. Da kann ich nur fragen: Wer trägt
dafür die Verantwortung? Diese Bundesregierung
schweigt zu diesem Problem. Diese Bundesregierung ist
nicht einmal in der Lage, das Instrument der KfW-Förderbank so einzusetzen, dass sie auch tatsächlich helfen
kann. Nein, Sie nehmen dieser Förderbank auch noch die
letzten Reserven.
({5})
Bei diesem Punkt merkt man: Das, was Sie mit dieser
Politik betreiben, passt nicht zusammen. Alle Bauteile,
die ordentlich zusammengestellt werden müssen, werden von Ihnen zerstört. Die einzelnen Instrumente, die
eine Regierung hat, die sie schärfen und einsetzen kann,
werden von Ihnen leider nicht genutzt.
Ich bin traurig darüber,
({6})
weil die Menschen bei uns im Grunde etwas Besseres
verdient haben. Sie haben die Phase des Niedergangs der
deutschen Werften erlebt. Sie sehen jetzt plötzlich die
Chance, eine Industrie zu etablieren, die wieder eine Perspektive bietet. Aber gleichzeitig setzt diese Bundesregierung Rahmenbedingungen, die das alles wieder infrage stellen. Sie sind in dieser Frage - ich sage einmal kein verlässlicher Partner. Sie sind in dieser Frage von
der Bevölkerung inzwischen als unzuverlässig, als nicht
nach vorne gerichtet identifiziert worden. Zwei Drittel
der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik trauen
Ihnen nichts mehr zu. Das ist leider Gottes eine so ernste
Situation, dass man nur hoffen kann, dass die Monate bis
zum September wirklich schnell vergehen, damit wir
endlich einmal wieder eine ordentliche Orientierung bekommen, eine Industriepolitik, die stimmig ist, eine
Politik, die nach vorne weist und die auch in der Energiefrage endlich Klarheit schafft.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Themen
Wirtschaftswachstum, Versorgungssicherheit und Stromkosten sind bei Ihnen ausgesprochen schlecht aufgehoben.
Herzlichen Dank.
({8})
Thomas Bareiß ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Nach den Rednern von Rot, Grün und ganz links
außen möchte ich doch ein paar wenige Vorbemerkungen machen.
Sie haben mir den Vorwurf gemacht, dass wir planwirtschaftlich vorgehen.
({0})
Ich habe mir jetzt einmal kurz aufgeschrieben, was Sie
alles in Ihren Anträgen fordern und was wir heute zu
späterer Zeit auch noch diskutieren.
({1})
Sie wollen Kapazitätssubventionen und eine dauerhafte Zementierung des EEG für die nächsten Jahre. Sie
wollen - das haben wir heute gehört - eine staatliche
Netzgesellschaft
({2})
und dafür die Netzbetreiber anscheinend enteignen. Sie
wollen eine Stromflatrate, staatliche Stromtarife und
Zwangsquoten hinsichtlich der Energieeffizienz. Das,
was Sie wollen, ist Planwirtschaft und Staatswirtschaft,
und das wollen wir eben nicht.
({3})
Zu Beginn dieser Debatte ist es für mich wichtig,
noch einmal zu sagen: Wir haben uns enorm hohe Ziele
gesetzt, die Sie sich so nicht gesetzt haben. Wir wollen
den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung bis 2020 auf 35 Prozent und bis 2030 auf
50 Prozent erhöhen.
({4})
Wir wollen das mit Ziel und Maß sowie mit Markt und
Wettbewerb erreichen. Von diesem Geist ist auch die
Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes getragen.
Deshalb glaube ich auch, dass wir den richtigen Weg
für die nächsten Jahre eingeschlagen haben und dass das
die richtige Grundlage für den Offshorenetzausbau ist.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Krischer?
Ja gerne, natürlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Bareiß, Sie haben sich hier eben gegen
eine deutsche Netzgesellschaft ausgesprochen.
({0})
Können Sie mir erklären, wie es möglich ist, dass im
Jahre 2009 im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb vereinbart worden ist, eine solche deutsche Netzgesellschaft
anzustreben? Können Sie mir auch erklären, warum Sie
jetzt, da wir Probleme mit TenneT haben, nicht die Gelegenheit ergreifen, wie 2009 vereinbart, in eine solche
deutsche Netzgesellschaft einzusteigen?
Was ist Ihre Alternative? Sie kritisieren das, was wir
vorschlagen, haben aber keine Alternative. Sie lassen zur
Lösung dieser Frage allein die Verbraucher zahlen.
({1})
Lieber Herr Krischer, im Gegensatz zu Ihnen respektieren wir die Eigentumsrechte. Wir haben im Koalitionsvertrag zwar gesagt, wir wollen prüfen, ob eine
Netzgesellschaft möglich und sinnvoll ist - das haben
wir auch getan -, aber wir können nicht in Eigentumsrechte eingreifen und sagen: Wir nehmen den Eigentümern die Netze weg und überführen sie in staatliche
Hände. Das ist nicht unser Modell.
({0})
Mit den Vorgaben, die wir jetzt im Energiewirtschaftsgesetz eingebaut haben, werden wir es, wie ich
glaube, schaffen, die Offshorewindparks, die wir brauchen, aufzubauen; und mit dem Netzentwicklungsplan,
den wir in dieser Woche gemeinsam im Beirat in der
Bundesnetzagentur besprochen haben, werden wir es
schaffen, ebenfalls die Netze Stück für Stück aufzubauen, die wir brauchen - und das nicht in staatlicher
Hand, sondern in privatwirtschaftlicher Hand. Ich
glaube, das ist der richtige Weg, und er wird langfristig
auch zum Erfolg führen.
Kollege Bareiß, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal des Kollegen Heil?
Nein, ich glaube, das Thema haben wir jetzt durch.
Ich möchte jetzt nicht weiter auf die Netze eingehen,
sondern zu dem eigentlichen Punkt kommen, nämlich
zum Thema Offshoreausbau, und mich der Frage widmen, welche Rolle die Offshorewindparks in den nächsten Jahren spielen werden. Das ist nämlich die zentrale
Frage, die wir heute diskutieren müssen.
Die Offshorewindparks - ich glaube, es ist wichtig,
das auch noch einmal herauszustellen, weil das vorhin
teilweise falsch dargestellt worden ist - sind enorm leistungsfähig und haben das höchste Potenzial in Deutschland.
({0})
Sie sind viermal leistungsfähiger als Photovoltaikanlagen, also die Solarenergie, und sie sind zweimal leistungsfähiger als Onshorewindräder. Das muss man doch
noch einmal sagen, Herr Heil, weil es in dieser Woche
im Ausschuss durchaus auch andere Stimmen gab, und
zwar aus Ihrem Lager,
({1})
die gesagt haben: Wir brauchen diesen Ausbau der Offshorewindkraft, den sich die Koalition vorgenommen
hat, nicht. - Wir brauchen ihn aber doch, weil wir auch
in den nächsten Jahren leistungsfähige Stromerzeugungsanlagen brauchen und weil wir die Kostendegression in den nächsten Jahren Stück für Stück stärker angehen wollen, als wir das bisher getan haben.
({2})
Offshorewindenergie - auch das wird in der Debatte
immer falsch dargestellt - ist eine relativ günstige Art
der Energieerzeugung und wird in den nächsten Jahren
noch günstiger werden. Wir sind schon heute, wenn man
das einmal mit den Kosten für die Förderung von Solarenergie und anderen Energiearten im Rahmen des EEG
vergleicht, bei 9,7 Cent je Kilowattstunde. Im Vergleich
zur Onshorewindenergie mit 9,2 bzw. 9,3 Cent je Kilowattstunde sind wir fast schon wettbewerbsfähig und
fast auf gleichem Niveau. Wenn man das einmal mit den
Preisen für den Ausbau der Solarenergie vergleicht, die
Sie, Herr Krischer, ständig zu verteidigen versuchen,
stellt man fest, dass wir sogar bei der Hälfte der Kosten
liegen. Ich glaube, allein das zeigt schon, dass wir im
Bereich von Offshorewindenergie und im Bereich von
Windenergieausbau ganz allgemein mehr tun müssen.
Weil wir davon überzeugt sind, dass das die richtige
Energieart ist, um zu einer Säule unserer Energieversorgung zu werden, wollen wir bis 2020 - auch das muss
noch einmal gesagt werden - eine Leistung von 10 Gigawatt bei Offshorewindanlagen erreichen. Das heißt, in
zehn Jahren werden 8 bis 9 Prozent unserer Stromerzeugung von Offshorewindenergieanlagen kommen. Bis
2030 wird knapp ein Viertel unserer kompletten Stromerzeugung von Windrädern in Nord- und Ostsee erzeugt
werden. Das wird eine große Herausforderung werden.
Um diese große Herausforderung meistern zu können,
müssen wir jetzt die Rahmenbedingungen setzen, um
entsprechend schnell voranzukommen. Wir stehen ja
- auch das müssen wir verstehen - noch ganz am Anfang dieser Technologie. Derzeit haben wir 40 Windräder in Nord- und Ostsee stehen. Das heißt, wir brauchen hier relativ zügig eine richtige Rahmensetzung,
damit wir hier schneller vorankommen. In den nächsten
sieben Jahren müsste jeden Tag ein neues Windrad in der
Nord- und Ostsee gebaut werden, damit wir überhaupt
die Ziele erreichen können, die wir erreichen müssen,
um unser Energiekonzept erfolgreich umzusetzen.
Herr Heil, Sie haben es am Anfang Ihrer Rede richtigerweise gesagt, dass dies ein zentraler Bestandteil der
Wachstums- und Wohlstandsstrategie für unseren
Industriestandort sein muss und dass die Offshoretechnologie gerade für unsere Wirtschaft ein enormes Potenzial bietet.
({3})
- Warum machen Sie denn nicht mit, wenn Sie sagen:
„Das ist gut“?
({4})
- Dann hören Sie einmal auf Ihre Ministerpräsidenten.
Auch das ist ein Punkt: Sie müssen einmal mit Ihren
Ministerpräsidenten reden.
({5})
- Lesen Sie doch einmal den Brief Ihres Bremer Oberbürgermeisters, der uns geschrieben hat, dass wir diese
Regelung dringend brauchen, damit es mit der Offshoretechnologie vorangeht und damit sie in den nächsten
Jahren zu der Erfolgsstory wird, die wir in diesem Bereich haben wollen.
({6})
Insofern: Machen Sie mit! Wenn Sie sich heute verweigern und die Neuregelungen zum EWG ablehnen,
gefährden Sie 15 000 Arbeitsplätze,
({7})
nicht nur in Niedersachsen, sondern auch in den von
Ihnen regierten Bundesländern. Ich sage ganz bewusst
als Baden-Württemberger: Ein großer Teil der Arbeitsplätze, die in den nächsten Jahren entstehen werden,
gerade aufgrund des Ausbaus der Offshorewindanlagen,
wird nicht nur in den Küstenregionen entstehen, sondern
vor allen Dingen auch bei den starken Anlagen- und Maschinenbauern im Süden unseres Landes, die die Technologie liefern, um diesen Ausbau zu bewerkstelligen.
Ich sage noch einmal: Machen Sie mit dabei, jetzt den
Rahmen für diese Technologie zu setzen, damit wir mit
dieser Technologie, bei der wir am Anfang stehen, loslegen können,
({8})
indem die Risiken so verteilt werden, dass die nächsten
Jahre auch entsprechend investiert wird. Das ist doch der
Grund, warum wir dieses Gesetz machen, damit in den
nächsten Jahren investiert wird.
({9})
Deshalb haben wir - jetzt machen wir es einmal konkret - erstens dafür gesorgt, die Netzanschlüsse besser
zu koordinieren. Es wird jetzt einen Netzentwicklungsplan für Offshore an Nord- und Ostsee geben.
Deshalb haben wir zweitens dafür gesorgt, dass es für
beide Seiten, für den Windparkbetreiber auf der einen
Seite, aber auch für die Netzbetreiber auf der anderen
Seite, klare Fristen gibt, wann wer was machen muss.
Das war notwendig, um hier schnell voranzukommen.
Auch hier haben wir klare Regelungen geschaffen.
Ein dritter Punkt. Wir haben versucht, die Risiken fair
auf die unterschiedlichen Akteure zu verteilen. Es gibt in
den nächsten Jahren Risiken; diese können wir nicht
wegdiskutieren. Diese Risiken können nicht allein von
Windparkbetreibern und Netzbetreibern übernommen
werden.
Der Windparkbetreiber wird seinen Teil dazu beitragen, indem er auf einen Teil seiner Vergütung verzichtet.
Der Netzbetreiber wird durch einen entsprechenden
Selbstbehalt im Rahmen der Haftungsregelungen in der
Haftung sein und wird nach meiner Prognose in den
nächsten zwei Jahren 10 bis 15 Prozent der Risiken tragen. Der Verbraucher allerdings wird - das tut auch uns
weh - in den nächsten vier bis fünf Jahren einen Großteil
übernehmen müssen. Dies geschieht durch eine Umlage,
die aber, wie es Minister Rösler gesagt hat, auf 0,25 Cent
pro Kilowattstunde gedeckelt ist.
({10})
Das ist aber wesentlich günstiger als viele andere Ausbaukosten, die auf uns in den nächsten Jahren zukommen werden. Auch hier wird der Verbraucher von uns
geschützt, und wir versuchen, diese Kosten in den nächsten Jahren erträglich auf alle Schultern zu verteilen.
({11})
Wenn die Risiken beherrschbar und auch versicherbar
sind, wollen wir von dieser Umlage wegkommen. Dass
sich das System selbst trägt, das muss das Ziel sein.
({12})
Es muss das Ziel sein, dass sich ein Markt bildet und
sich die Kosten durch Wettbewerb selbst tragen, zum
Beispiel indem sich entsprechende Kapitalgeber finden,
die in die Bereiche investieren, ohne dass wir staatliche
Umlagemechanismen brauchen. Nur dann macht Offshore langfristig Sinn, wenn die Technologieförderung,
die wir jetzt einbauen, auch zu einem langfristig tragfähigen System führt.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich könnte
jetzt noch viel zu Maßnahmen sagen, die wir im Bereich
Netzstabilität ergriffen haben. Auch hier haben wir
Dinge getan, die uns nicht immer nur Freude gemacht
haben, die auch durchaus Markteingriffe verlangten. Wir
haben auch im Bereich der Pumpspeicherkraftwerke
etwas gemacht,
({14})
was zu etwas mehr Kosten führen wird, dann aber auch
dafür sorgen wird, dass Pumpspeicherkraftwerke in den
nächsten Jahren weiter am Netz belassen werden.
Aber all die Maßnahmen, lieber Herr Krischer,
zeigen, dass wir uns jetzt Zeit nehmen müssen, um in
den nächsten Monaten gemeinsam zu überlegen, wie wir
die Systeme, die wir unter Ihrer und unserer Ägide aufgebaut haben, zusammenbinden. Wir müssen also Möglichkeiten finden, wie wir das Energiewirtschaftsgesetz
und das Erneuerbare-Energien-Gesetz verbinden, wie
wir die fossile, die konventionelle Welt mit den erneuerbaren Energien verbinden, um daraus einen Gesamtmarkt im Wettbewerb zu machen. Denn nur so wird die
Energiewende gelingen: mit mehr Markt und mehr
Wettbewerb.
({15})
Das muss unser Ziel sein für die nächsten zwölf Monate.
Deshalb: Packen wir das gemeinsam an! Dazu ist das
Energiewirtschaftsgesetz ein kleiner Baustein, den wir
jetzt brauchen.
Herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({16})
Das Wort hat nun Johanna Voß für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ergebnislose Investorensuche
des Netzbetreibers TenneT hat gezeigt: Trotz der garantierten Rendite von 9,05 Prozent finden sich keine
privatwirtschaftlichen Lösungen für den Bau von Stromnetzen. Anstatt dieses Scheitern aber einzugestehen,
setzt die Bundesregierung alles daran, auf Biegen und
Brechen doch noch eine privatwirtschaftliche Lösung zu
finden.
Bei natürlichen Monopolen wie den Stromnetzen
kann es aber keinen Wettbewerb geben. Diese privatwirtschaftlichen Lösungen gehen zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das darf nicht sein!
({0})
Aber genau so ist es. Die kleinen Verbraucher, sie allein
- nicht die Großverbraucher - dürfen noch eine Umlage
zahlen: Noch einmal 0,25 Cent pro Kilowattstunde, noch
einmal 10 Euro mehr pro Familie im Jahr; bei 1 Million
Kilowattstunden wird die Umlage auf 0,05 Cent gedeckelt.
Immerhin, die Politik der Regierung ist konsequent.
Befreiungen für die großen Unternehmen, wo man nur
hinschaut: EEG, Netzentgelte, KWK-Umlage, Ökosteuer - da sind Sie wirklich konsequent. Und die Bundesregierung weitete die Befreiungen auch noch aus.
2011 mussten die Verbraucherinnen und Verbraucher
allein wegen der Netzentgeltbefreiung 229 Millionen
Euro mehr bezahlen. Vor dieser Ausweitung waren es
33 Millionen Euro. Die Befreiung der Industrie von der
EEG-Umlage macht nun schon 1 Cent vom Strompreis
aus. Das tragen die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Konsequent, aber trotzdem falsch. Das ist die Politik der
Bundesregierung.
({1})
Zu den Entschädigungszahlungen: Im ersten Entwurf
waren es noch 100 Millionen Euro Eigenbehalt für die
Netzbetreiber, jetzt sind es gerade einmal 17,5 Millionen
Euro. Das Lobbying der Netzbetreiber war also höchst
erfolgreich. Das erhöht natürlich die Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Aber das ist ja auch
wiederum nur konsequentes Handeln der Regierung.
Die Bundesregierung sagt, die jetzige Lösung sei
alternativlos.
({2})
- Hören Sie einmal auf Ihren Kommissar Günther
Oettinger. Er forderte nämlich zumindest eine Teilverstaatlichung der Stromnetze, die auch - das hat Oliver
Krischer schon gesagt - Bestandteil des Koalitionsvertrags war.
Es ist langsam auch für die krampfhaft an Marktdogmen Festhaltenden offensichtlich: Stromnetze gehören
in die öffentliche Hand.
({3})
Sie lassen sich nicht effizient im Wettbewerb betreiben.
Handeln Sie endlich!
Stattdessen versuchen Sie nun, irgendwelchen Investoren bzw. der Allianz den Einstieg in renditesichere
Stromnetze so angenehm wie möglich zu machen - wiederum auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({4})
Das Unternehmensrisiko wird auf die Verbraucher umgelegt; die Gewinne bleiben natürlich beim Unternehmen. Das machen wir nicht mit.
({5})
Das eigentliche Problem ist aber die Fixierung der
Bundesregierung auf die Offshoreparks. In der Anhörung zur Gesetzesänderung wurde klar, dass die Ausbauziele der Bundesregierung für die Offshoreparks nicht
mehr einzuhalten sind. Und nicht nur das: Sie gehören
dringend überarbeitet.
Der Zubau von Onshorewindenergie im Süden hat
schon zugenommen und wird noch erheblich zunehmen.
Das wird bisher im Energiekonzept der Bundesregierung
überhaupt nicht berücksichtigt. Solange im Netz an Land
Engpässe herrschen - auf See braucht niemand Strom und solange Abregelung droht, sind weitere Offshoreparks ohnehin nicht sinnvoll.
({6})
Außerdem ist die Offshorewindenergie teuer. Die
Baukosten sind viermal so hoch wie die Baukosten für
die Onshorewindenergie. Damit ist sie nur für die großen
Energiekonzerne interessant. Offshorewindparks erfordern riesige Investitionen. Die Technik ist nicht erprobt,
zum Teil nicht einmal vorhanden, und von daher sehr
teuer. Deshalb muss man noch abwarten.
Offshorewindkraft wird auch noch mit einem höheren
Satz gefördert als die Onshorewindkraft, nämlich bis zu
19 Cent pro Kilowattstunde. An Land sind es gerade einmal 9 Cent pro Kilowattstunde.
({7})
Bei der Onshorewindkraft bezahlt man die Leitung zur
Anbindung an den nächsten Einspeiseknotenpunkt auch
selbst.
({8})
Bei der Offshorewindkraft braucht man nicht für die eigene Leitung zu bezahlen. Und sie trägt massiv zum geplanten Netzausbau bei.
Wir setzen stattdessen auf den Ausbau der erneuerbaren Energien, und zwar dezentral. Es geht nicht darum,
den vier großen Energiekonzernen die Profite zu sichern.
Die Stromversorgung gehört demokratisiert. Dazu gehört auch die Überführung der Stromnetze zurück in die
öffentliche Hand. Wenn dann die dezentrale Erzeugung
in naher Zukunft durch Speichertechnologien und
Schwarmstrom ergänzt wird, dann minimiert das den
Netzausbaubedarf ungemein.
({9})
Solche Ansätze gibt es bei der Bundesregierung nicht.
Sie macht weiter Politik zugunsten großer Unternehmen
auf Kosten aller.
Lernen Sie von unserem Projekt „PLAN B - für den
sozialökologischen Umbau“! Mit PLAN B kommen Sie
weiter.
({10})
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Voß hat mein Weltbild wieder ein bisschen zurechtgerückt. Nachdem verzweifelt versucht wurde, es zu erschüttern und der Seite des Hauses, zu der ich gehöre,
Planwirtschaft zu unterstellen, hat die Linke immerhin
klar gezeigt, dass sie für Staatswirtschaft ist.
Aber in einem Punkt, liebe Kollegin Voß, war Ihre
Rede sehr ehrlich. Daran können sich insbesondere die
Grünen ein Beispiel nehmen. Sie haben nämlich gerade
gesagt, dass die Befreiungen nach dem EEG, um die in
jeder energiepolitischen Debatte heftig gestritten wird,
1 Cent von den 5,227 Cent EEG-Umlage ausmachen.
({0})
Das ist ein Punkt, den Sie endlich einmal ehrlich formuliert haben. Insbesondere die Grünen tun nämlich immer so, als würden die 5,227 Cent praktisch komplett
auf unsere Befreiungen zurückgehen.
({1})
Wenn man das noch weiter detailliert, lieber Herr
Krischer, dann muss man sagen, dass 0,1 Cent von dem
1 Cent auf unsere zusätzliche Ausweitung zurückzuführen ist und der Rest auf eine Befreiung, die Sie damals
gesetzlich geregelt haben.
({2})
Außerdem möchte ich darauf verweisen, dass Sie damals bei einer EEG-Umlage von 0,2 Cent gesagt haben,
dass wir eine Härtefallregelung brauchen, weil wir sonst
die Industrie aus dem Land vertreiben. Wenn wir uns darüber einig sind, dass das richtig ist, dann füge ich hinzu:
Es war richtig, die Härtefallregelung auszudehnen, weil
wir jetzt beim 26-Fachen dieser Umlage sind,
({3})
und auch, noch ein paar andere Unternehmen mit einzubeziehen.
({4})
730 Unternehmen sind von der EEG-Umlage befreit,
weil sie in einem internationalen Wettbewerb stehen.
({5})
Wenn Sie sagen, der internationale Wettbewerb ist das
Kriterium, dann erklären Sie bei der Gelegenheit auch,
inwieweit die Straßenbahnen, der Schienenverkehr im
internationalen Wettbewerb um Strom stehen.
({6})
Das sollten Sie einmal erklären, wenn Sie über diese
Kriterien diskutieren.
Sie gerieren sich jetzt an einer Stelle als Marktwirtschaftler, an der es nicht um Marktwirtschaft geht - das
muss man klar sagen -, sondern darum, das zu korrigieren, was letztendlich hier seine Ursache hat. Es war
Sigmar Gabriel - das meine ich nicht einmal als Vorwurf; ich möchte nur den Zusammenhang darstellen -,
({7})
der in der Großen Koalition ausgehandelt hat, dass man
den Windparkprojektanten die Anschlussverantwortung
abnimmt und zu den Übertragungsnetzbetreibern verlagert.
({8})
- Moment, ich kritisiere es nicht. Mit Blick auf das Ziel
war das vielleicht richtig. Aber wir haben uns damit ein
Problem eingehandelt, das ich hier gerade beschreibe.
Und das lösen wir nun. Ich würde mich dann freuen,
wenn die SPD, die diese Problematik mit verursacht hat,
({9})
an unserer Seite stehen würde und sich dafür einsetzen
würde.
({10})
Das ist der Punkt. Sie müssen doch sagen: Jawohl, wir
haben den Schnitt gemacht; statt des Projektanten ist
jetzt der Übertragungsnetzbetreiber verpflichtet, den Anschluss bereitzustellen. Jetzt schafft die Koalition die
Voraussetzungen dafür, dass der Übertragungsnetzbetreiber das ohne Insolvenzrisiko machen kann.
Es kann doch nicht sein, dass wir Übertragungsnetzbetreiber zu etwas verpflichten und sie über diese Verpflichtung in die Insolvenz treiben. Es kann aber auch
nicht sein, dass wir für die Beteiligten in dem Bereich einen Business Case schreiben, der für jeden aufgehen
muss, nur nicht für den Verbraucher. Die Grünen haben
hier heute, wie immer, große Töne gespuckt. Aber wenn
man Ihren diesbezüglichen Antrag liest,
({11})
stellt man fest, sie haben sich von den Übertragungsnetzbetreibern die Feder führen lassen. Dort stehen haarklein
die Forderungen, die Ihnen die Übertragungsnetzbetreiber diktiert haben. An Ihrer Stelle wäre ich ganz, ganz,
ganz kleinlaut.
({12})
Zu Ihrem großartigen Vorschlag, dass nicht die Verbraucher am Schluss die von uns gedeckelte Umlage von
0,25 Cent tragen sollten, sondern der Staat, sage ich Ihnen: Das sind am Ende auch wieder die Steuerzahler.
Wir alle werden es am Schluss wieder bezahlen müssen.
({13})
- Ihre Rede vom Gegenwert basiert doch auf dem genialen Vorschlag, in diesem Rahmen eine kalte Enteignung
zu organisieren. Das ist doch Ihre Idee.
({14})
Sie sagen: Treibt die Übertragungsnetzbetreiber, organisiert eine kalte Enteignung und zieht die Netze an euch!
({15})
- Kaufen? Sie sagen: Übernehmt ein Risiko! Wenn das
Risiko nicht bedient wird, wofür man staatlich vielleicht
sorgen kann,
({16})
dann gehören uns die Netze wieder. Sie geben auch zu,
dass Sie diese Netze haben wollen.
({17})
Der entscheidende Unterschied zwischen dem, was Sie
wollen, und dem, was in unserem Koalitionsvertrag zur
deutschen Netzgesellschaft steht,
({18})
besteht darin, dass wir eine kapitalmarktfähige Gesellschaft wollen,
({19})
an der nicht der Staat die Mehrheit hält,
({20})
sondern die Übertragungsnetze organisiert zusammenfasst. Das ist bislang am Widerstand derjenigen gescheitert, die die Netze haben.
({21})
Das steht klipp und klar in unserem Koalitionsvertrag.
Sie dürfen davon ausgehen, dass ich weiß, was in unserem Koalitionsvertrag steht.
({22})
Das müssen Sie mir nicht sagen. Das, was die Grünen
wollen, ist etwas anderes, nämlich eine staatliche Gesellschaft; denn sonst könnten Sie einen solchen Finanzierungsvorschlag nicht machen.
({23})
Nein, meine Damen und Herren, ich entgegne Ihnen:
Wir haben einen wohlüberlegten Entwurf vorgelegt,
({24})
aber keinen garantierten Business Case. Er war hart umkämpft, insbesondere in der Frage, wie man die Altfälle
mit einbezieht. Das wurde in der Koalition hart diskutiert. Wir haben gesagt: Die Unternehmen haben auf anderer Grundlage investiert und sind ein Risiko eingegangen. Wir liefern jetzt gesetzlich eine neue Grundlage
nach. Darüber muss man reden.
Den Fall, dass die pleitegegangen wären, dass damit
das Projekt ins Stocken gekommen wäre - Sie hätten
dann natürlich plötzlich ganz anders argumentiert, sich
an der Stelle wie das Fähnlein im Wind gedreht und gesagt: Da sieht man wieder mal, die wollen gar keine
Energiewende, die machen alles kaputt -, mussten wir
also berücksichtigen. Deshalb haben wir die Altfälle mit
einbezogen, aber nicht so, wie Sie es gerne hätten. Wir
haben es nicht bar jeder Haftung gemacht. Vielmehr ist
einfache Fahrlässigkeit als Haftungstatbestand weiterhin
gegeben, um Anreize für die Übertragungsnetzbetreiber
zu schaffen, eben keine Schadensfälle zu produzieren
oder diese, wenn es sie schon gibt, schnell zu beheben.
Irritiert hat mich auch das - das muss ich ganz ehrlich
sagen -, was hier zur Winterreserve gesagt wurde. Es ist
ein untauglicher Versuch, uns hier in die Ecke der Planwirtschaft zu drängen.
({25})
Diese Winterreserve ist eine Notreserve. Sie ist unumstritten ein markiger Eingriff. Was wir in der Energiewende aber jetzt gar nicht gebrauchen könnten - das
müsste doch auch in Ihrem Interesse liegen -, wäre ein
Blackout. Über die Winterreserve stellen wir sicher, dass
es dazu nicht kommt. Das sage ich als bayerischer Abgeordneter in vollem Bewusstsein, wen es am Ende treffen
würde, nämlich Süddeutschland, wo der Strom gebraucht wird.
({26})
Aber dass Sie, Herr Krischer, nun sagen, dass man
jetzt plötzlich das Umlagesystem aufgeben sollte, weg
vom Umlagesystem, hin zum Bundeshaushalt, finde ich
bemerkenswert. Sie waren doch bisher einer der Protagonisten des Umlagesystems des EEG. Man sollte doch
seine bisherige Argumentation nicht schlagartig ins Umgekehrte drehen,
({27})
insbesondere dann nicht, wenn es um den kleinen Splitter im Auge geht und nicht um den großen Balken, über
den wir hier reden. Der große Balken ist die EEG-Umlage. Dazu habe ich das Nötige vorhin schon gesagt.
({28})
Hier muss es uns darum gehen, das Ganze wieder in die
richtige Richtung zu bringen.
({29})
Im Übrigen: Sie sagen, wir brauchen einen Kapazitätsmarkt. Ja, lassen Sie uns darüber reden. Ich habe von
Ihrer Seite allerdings noch keine Vorschläge dazu gehört.
({30})
Außer Subventionen fällt Ihnen nichts ein. Ich sage Ihnen, wir müssen Folgendes tun: Wir müssen in Zukunft
diejenigen, die große, fluktuierend einspeisende EEGAnlagen bauen, dazu verpflichten, Ersatzkapazitäten in
einem noch zu definierenden Umfang bereitzuhalten.
Das werden die Nachfrager sein. Die müssen Zertifikate
an den Gaskraftwerken kaufen. Auf diese Art und Weise
kriegen wir auf der einen Seite eine marktgerechte Lösung - für die waren Sie; ich bin gespannt, ob Sie auch
dann noch dafür sein werden, wenn man die zwei Dinge
zusammenbringt - und auf der anderen Seite eine Kombination von erneuerbaren Energien und fossilen Ersatzkapazitäten. Letztere brauchen wir, auch wenn die Grünen so tun, als ob das morgen zu 100 Prozent mit
erneuerbaren Energien zu schaffen wäre.
Wir stellen uns den Problemen, die es an der Stelle
gibt. Ich würde mich freuen, wenn Sie es auch tun; Sie
haben es lange genug nicht gemacht.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Herr Präsident, schlagartig. - Ihre Energiewende bestand aus der Formulierung dessen, was Sie nicht wollen, nämlich die Kernenergie,
({0})
und dem undifferenzierten und extrem teuren Aufbau
von erneuerbaren Kapazitäten. Ansonsten haben Sie
dazu bisher keinen Beitrag, außer Verweigerung, geleistet. Hören Sie damit auf!
({1})
Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe mal gelernt, Herr Nüßlein: Wer so laut schreit wie
Sie, der hat eigentlich erkannt, dass er einen Fehler gemacht hat. Das ist ja dann immerhin schon mal ein Fortschritt. Das ist auch eine Basis, auf der wir uns verständigen können.
({0})
Sehr geehrter Herr Minister Rösler, Sie haben hier
heute noch einmal das gesagt, was auch der ehemalige
Bundesumweltminister Röttgen hier mehrfach behauptet
hat. Aber auch bei ihm hat es nicht zur Steigerung seiner
Glaubwürdigkeit beigetragen. Sie beide sagten nämlich,
dass Rot-Grün mit Energiewende nichts am Hut gehabt
habe, jedenfalls mit dem Systemumbau nicht begonnen
habe, und dass Sie jetzt damit anfingen, die richtige Arbeit zu leisten.
({1})
Richtig ist: Die Energiewende hat im Jahre 2000 begonnen, und zwar mit einem nie beklagten einvernehmlichen Ausstieg aus der Atomenergie, im Einvernehmen
auch mit den betroffenen Unternehmen, und mit dem
gleichzeitigen Aufwuchs der erneuerbaren Energien, der
dank des EEG möglich wurde.
({2})
Der Systemumbau - das heißt im Wesentlichen der
Ausbau der Netze, aber sicherlich auch ein erster Ausbau von Speicherkapazitäten - und der Ausbau des Lastmanagements, also die Sicherstellung von Flexibilität
mit Blick auf die Nachfrageseite, konnten damals nicht
erfolgreich beginnen. Warum? Weil Ihre Vorgänger von
Schwarz-Gelb damals ankündigten: Wenn wir an die Regierung kommen, dann sorgen wir für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke.
({3})
Unsere Fraktion hat in den letzten Wochen Gespräche
unter anderem mit den Betreibern von Atomkraftwerken
geführt. Dabei haben wir interessante Einschätzungen geliefert bekommen. In nuce: Es wäre besser gewesen - so
sagen die Vertreter dieser großen Unternehmen -, man
hätte nicht auf diese im Jahr 2000 hingehaltene Wurst
geschaut, sondern man hätte zu dem gestanden, was man
unterschrieben habe, nämlich den Atomausstieg.
({4})
Es hätte im Ergebnis dazu geführt, dass diese vier
Energieversorgungsunternehmen schon im Jahr 2000 damit begonnen hätten, einen konstruktiven Beitrag für
eine Energiewende zu leisten, ihr Geschäftsmodell zu
überprüfen, in Speicher, in Netze, in Lastmanagement zu
investieren. Das ist nicht geschehen. Dafür tragen Sie
und Ihre Vorgänger die Verantwortung.
({5})
Dann haben Sie im Jahr 2010 etwas beschlossen, von
dem Sie damals überzeugt waren und von dem viele von
Ihnen auch heute noch überzeugt sind, nämlich die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke. Ein halbes
Jahr später ist genau das Gegenteil passiert. Wenn ich
heute mit einigen von Ihnen rede - manche sind ja bei
einem Glas Bier oder einem Glas Wein ehrlich -, dann
erfahre ich, dass viele von Ihnen nach wie vor der Auffassung sind, dass der Beschluss von 2010 richtig und
der von 2011 falsch war.
({6})
Wenn dem so ist, wenn also so wenig Überzeugung
hinter der Energiewende steht, dann dürfen wir uns nicht
wundern, dass Sie kein Konzept haben.
({7})
Sie haben kein energiepolitisches Konzept, kein Konzept
zum Systemumbau. Deswegen reagieren Sie nur; Sie
agieren nicht. Immer dann, wenn sich ein Problem auftut, betreiben Sie Flickschusterei.
({8})
Das zeigt sich beispielhaft an dem Gesetzentwurf, den
Sie uns heute vorlegen. Bei Offshore - einer Technologie, zu der wir stehen und von der wir sagen, dass wir sie
brauchen - haben Sie den Karren vor die Wand gefahren.
700 Arbeitsplätze werden beispielsweise bei den Nordseewerken wegfallen. Viele Hundert Arbeitsplätze sind
gefährdet, weil Unternehmen Insolvenz anmelden mussten. Das hat mit den Rahmenbedingungen zu tun, die Sie
gesetzt haben und die Sie jetzt durch Flickschusterei zu
ändern versuchen.
({9})
Meine Damen und Herren, diesen Schuh müssen Sie
sich schon anziehen. Wir haben ein Gespräch mit dem
Bankenverband geführt. Der sagt: Was Sie in den letzten
Jahren gemacht haben, führt jetzt dazu, dass Kapital für
die Projekte im Offshorebereich aus Deutschland abgezogen wird und zum Beispiel an die britische Küste gelenkt wird, also dahin, wo der Staat offenbar Rahmenbedingungen setzt, die attraktiver sind als das, was Sie
unternommen haben.
({10})
Jetzt versuchen Sie, Lösungen anzubieten, bei denen
wieder einmal insbesondere der Kunde zur Kasse gebeten wird. Wir haben vorgeschlagen - erinnern Sie sich
einmal daran, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht -, die
Basis für eine deutsche Netz AG zu schaffen. Dabei geht
es nicht um Enteignung. Ihre Reaktion ist doch der VerRolf Hempelmann
such, einen Vorschlag zu desavouieren, der eigentlich
schon einmal Ihr eigener war.
({11})
Die Union, insbesondere Ihre beiden Wirtschaftsminister in der damaligen Legislaturperiode, war nicht
kraftvoll genug, diesen Vorschlag in der Großen Koalition voranzutreiben. Anschließend haben Sie diesen Vorschlag trotzdem in Ihren Koalitionsvertrag hineingeschrieben. Jetzt wollen Sie das Ganze wiederum nicht
umsetzen, obwohl Herr Homann von der Bundesnetzagentur am letzten Montag deutlich gemacht hat, dass
eine Netz AG mindestens Plan C ist. Wenn Ihr Vorhaben
scheitert, dann muss man ernsthaft darüber reden, dass
der Staat über die KfW an einer solchen Netzgesellschaft
sukzessive beteiligt wird. Stellen Sie sich dieser Aufgabe!
({12})
Auch die Art und Weise, wie Sie mit Blick auf die
Versorgungssicherheit im Kraftwerkspark vorgehen, ist
genau die gleiche Reaktion auf Probleme, die Sie offenbar gar nicht erwartet haben. Wie Sie hier agieren, das ist
schon erstaunlich. Das müssen sich die Liberalen schon
anhören: Wenn es in diesem Zusammenhang um Stilllegungsverbote geht, also um einen Zwangsbetrieb, dann
ist das eine Handschrift, die man gerade von den Liberalen nicht erwartet hätte. Das wird man in diesem Hause
wohl sagen dürfen.
({13})
Es gab bei Ihnen sogar Überlegungen, den Unternehmen in die Vertragsgestaltung reinzureden: Sie wollten
Gaskraftwerksbetreiber zwingen, von relativ lukrativen
Verträgen mit unterbrechbarem Gasbezug Abstand zu
nehmen und auf eine konstante Belieferung umzuschwenken, die nun einmal teurer ist. Die Koalitionsfraktionen haben Gott sei Dank erkannt, dass dies keine
Problemlösung gewesen wäre, sondern nur eine Problemverlagerung in jeweilige Nachbarregionen, weil
nämlich die Transportkapazitäten im Gasnetz überhaupt
nicht gereicht hätten, um alle Gaskraftwerke konstant
mit Gas zu beliefern. Zumindest ist dieser Unsinn jetzt
aus dem Gesetz heraus.
Herr Rösler, Sie selbst haben heute Morgen gesagt:
Wir brauchen einen Masterplan für die Energiewende. Herzlichen Glückwunsch, dass Sie das jetzt, nach Jahren, feststellen. Wir haben ihn seit Jahren gefordert.
({14})
Legen Sie einen solchen Masterplan dann auch vor!
Schlagen Sie der Bundeskanzlerin bitte gleichzeitig vor,
eine Stelle einzurichten, die die Energiewende koordiniert.
({15})
Das können Sie nicht, das kann Herr Altmaier nicht;
denn Sie verstehen sich als Konkurrenten. Das kann
auch kein anderer Bundesminister. Das muss der Kanzleramtsminister machen, der die Koordinierung der
Energiepolitik im Kanzleramt übernimmt, der die Regierung in dieser Frage zusammenhält, der mit den Bundesländern dafür sorgt, dass es eine stimmige Energiepolitik
in unserem Land gibt, und der in Brüssel in Sachen
Energiepolitik mit einer Stimme für Deutschland spricht
({16})
und damit dafür sorgt, dass unsere und die europäische
Energiepolitik zusammenpassen. Passiert dies nicht,
werden nicht mehr Sie Energiepolitik machen, sondern
dann macht Brüssel das für Sie. Das konnten wir in dieser Woche schon eindrücklich nachlesen. Also handeln
Sie endlich! Kündigen Sie nicht nur an und reden nicht
nur!
Vielen Dank.
({17})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Kollege Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner hat man die Chance, mit ein paar Unwahrheiten aufzuräumen; denn es gibt Punkte, die sich als offensichtlich völlig falsch erwiesen haben und die daher
nicht zu einer redlichen Argumentation passen.
({0})
Herr Hempelmann, Sie glauben ja wohl selbst nicht,
dass im rechten Teil dieses Hohen Hauses Kollegen sitzen, die der Meinung sind, dass der Ausstiegsbeschluss,
also der Beschluss zur Energiewende, vom 30. Juni vergangenen Jahres rückgängig zu machen ist. Das ist nicht
der Fall, und wenn ich das sage, dann können Sie mir
das auch glauben.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, es wurde auch schon mit
dem Märchen aufgeräumt, welches die Grünen hier in
der vergangenen Debatte verbreitet haben. Herr
Krischer, hoffentlich haben Sie jetzt verstanden, dass Ihr
Argument falsch ist; denn die Befreiung der mittelständischen Unternehmen von der EEG-Umlage spielt bei
der Erhöhung dieser Umlage auf 5,277 Cent je Kilowattstunde so gut wie keine Rolle.
({2})
- Sie werden es auch nicht verstehen, weil Sie es nicht
verstehen wollen. 25652
({3})
Das, was Sie betreiben, ist Volksverdummung in Reinkultur.
({4})
Nach neuesten Berechnungen fallen nur 0,1 Cent je Kilowattstunde aufgrund der Tatsache an, dass 730 mittelständische Unternehmen, die überwiegend im internationalen Wettbewerb stehen, eine Vergünstigung erhalten mehr nicht. Was Sie erzählen, ist einfach nicht seriös.
({5})
Kolleginnen und Kollegen, wenn ich die ganze Debatte Revue passieren lasse, dann fällt mir Folgendes
ein: Die gesamte Opposition hat am 30. Juni 2011 der
Energiewende zugestimmt
({6})
und stiehlt sich jetzt, wo die Folgen sichtbar werden, aus
der Verantwortung gegenüber den Bürgern; die Strompreiserhöhungen und weitere negative Effekte waren damals absehbar.
({7})
Es war doch nicht so, dass wir nicht wussten, wie sich
alles entwickeln wird.
Wir wussten doch, dass wir mit den Märkten größte
Probleme bekommen.
({8})
Wir wussten, dass die Betreiber fossiler Kraftwerke auf
Basis von Gas und Kohle Probleme bekommen werden;
denn wenn sie aufgrund des Ausbaus der erneuerbaren
Energien nur zeitweise ihren Betrieb aufnehmen müssen,
dann geraten sie in existenzielle Nöte.
({9})
Das alles wussten wir, und trotzdem haben wir dem zugestimmt, weil wir der Überzeugung waren und heute
noch sind, dass es - wenn auch nur unter Opfern - möglich ist, den Umstieg von der herkömmlichen Energieerzeugung in das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu
schaffen. Wenn wir aber den Bürgerinnen und Bürgern
den Eindruck vermitteln, dass die Umstellung billig
wird, dann ist das falsch. Das zeigt sich jetzt an den gestiegenen Energiepreisen.
Lassen Sie mich etwas Thema Bundesnetzagentur sagen. Die Probleme, die zum Beispiel TenneT hat, sind
zum Teil ökonomischer Natur,
({10})
sie sind zum Teil aber auch technischer Natur. Wenn die
Lieferanten nicht liefern können, weil die Produktion der
Leitungen nicht vorankommt, dann kann man das
schlecht dem Betreiber anlasten.
({11})
Wir müssen uns sehr genau überlegen, wie die Netzanschlüsse für die Offshorewindparks gewährleistet werden können.
Nebenbei bemerkt, Herr Beckmeyer: Wir sind der
Überzeugung, dass die Energiewende nur gelingen kann,
wenn wir den Ausbau der Offshorewindparks so hinbekommen, wie die Kollegen der CDU/CSU das vorhin
beschrieben haben. Deswegen haben wir im Gesetzentwurf für Planungssicherheit für diejenigen gesorgt, die
Offshorewindparks bauen wollen. Ihnen müssen wir die
Unsicherheit nehmen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis,
dass eine Garantie über einen Zeitraum von vier oder
fünf Jahren den planenden Unternehmen wenigstens
mittelfristig hilft, ihre Anlagen in Betrieb nehmen zu
können.
({12})
Mit Sicherheit werden in diesem Bereich keine Arbeitsplätze wegfallen.
({13})
Was haben Sie uns nicht schon alles über die Gefährdung von Arbeitsplätzen erzählt! Herr Heil, lesen Sie
nach, welchen Unfug Sie in Bezug auf den Photovoltaikausbau behauptet haben. Dabei wurde in den Zeiträumen, in denen wir die Reduzierung der Vergütungssätze
vorangetrieben haben, der Bereich Photovoltaik in einem Ausmaß ausgebaut wie noch nie zuvor.
({14})
Der Ausbau hat sich deutlich verstärkt. Trotzdem
kommen Sie mit Ihrem Argument von den Arbeitsplätzen. Ich sage Ihnen: Wer von der produzierenden deutschen Wirtschaft nur auf den deutschen Markt, auf die
deutsche Gesetzgebung und möglicherweise auf eine
rot-grüne Mehrheit setzt, der setzt auf das falsche Pferd.
({15})
Zu einer rot-grünen Mehrheit wird es aber nicht kommen.
({16})
Ich bin felsenfest davon überzeugt: Das Gesetz, das
wir heute beschließen, gibt der Industrie Planungssicherheit. Dieses Gesetz steigert die Versorgungssicherheit für
den deutschen Verbraucher. Herr Minister, es ist ein gutes Gesetz, und deswegen werden wir es jetzt beschließen.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neurege-
lung energiewirtschaftlicher Vorschriften. Der Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11705,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sachen 17/10754 und 17/11269 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag
der SPD auf Drucksache 17/11720. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken abgelehnt.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/11721. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen
Mehrheitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d sowie
die Zusatzpunkte 3 a und b auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({0}), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Menschenwürde von Flüchtlingen ist
migrationspolitisch nicht relativierbar - Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz ziehen
- Drucksache 17/11663 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Markus Kurth, Josef Philip Winkler, Fritz
Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
- Drucksache 17/1428 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
- Drucksache 17/10198 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Markus Kurth
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Menschenwürdiges Existenzminimum für alle -
Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen
- Drucksachen 17/4424, 17/10198 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Markus Kurth
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Auf Flüchtlingsproteste reagieren - Residenzpflicht abschaffen
- Drucksache 17/11589 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({4})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Menschenwürdige Lebensbedingungen für
Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie
Geduldete sicherstellen - Asylbewerberleistungsgesetz reformieren
- Drucksache 17/11674 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Rüdiger Veit,
Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende
und Geduldete
- Drucksachen 17/5912, 17/11716 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({7})Ulla JelpkeJosef Philip Winkler
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat zu ihrem
Gesetzentwurf einen Entschließungsantrag eingebracht,
über den wir später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem
Sommer war es wie so oft: Initiativen der Bundesregierung finden beim Bundesverfassungsgericht meistens
keine Unterstützung. Das ist gut so. Im Juli dieses Jahres
hat das Bundesverfassungsgericht in einer bahnbrechenden Entscheidung ganz klar gesagt: Auch für Asylbewerber gilt, dass das menschenwürdige Existenzminimum irgendwelchen migrationspolitischen Zielen nicht
zugänglich ist. Es sagte auch: Die Menschenwürde darf
migrationspolitisch nicht relativiert werden.
({0})
Das heißt: Das menschenwürdige Existenzminimum ist
immer das gleiche, egal ob es sich um Deutsche, Nichtdeutsche, Flüchtlinge oder um wen auch immer handelt.
Ich fand diese Entscheidung beachtlich. Ich meine,
dass der Grundsatz der Nichtrelativierbarkeit der Menschenwürde auch für viele andere flüchtlingsrechtliche
Fragen gelten muss. Diesem Grundgedanken trägt unser
heutiger Antrag Rechnung.
Ich will des Weiteren die Residenzpflicht nennen, ein
in Europa einzigartiges System. Angesichts der deutschen Geschichte kann man zu einer solchen Aufenthaltsbeschränkung, die mit Blick auf Gesundheitsversorgung, kulturelle Feste und Religionsausübung eine
Einschränkung darstellt, nur sagen: So geht man mit
Flüchtlingen nicht um.
({1})
Das muss man schon feststellen: In Deutschland unterliegen die Schutzsuchenden und Flüchtlinge wirklich
einschneidenden Beschränkungen.
Was mich dabei besonders ärgert, ist, dass Frau
Merkel, die Bundeskanzlerin, immer mal wieder so tut,
als sei das nicht so. Bei der Eröffnung des Mahnmals für
die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma
sagte die Bundeskanzlerin - ich zitiere -:
Sinti und Roma leiden heute erneut unter Ausgrenzung und Ablehnung. Nicht nur die Politik, jeder
Einzelne ist aufgerufen, sich jedweder Art von Diskriminierung zu widersetzen.
Folgen wir doch diesen Sätzen, und fangen wir hier und
heute bei der Politik an.
({2})
Der Bundesinnenminister war wieder ignorant. Er hat
nämlich faktisch am gleichen Tag diesen Sätzen zuwidergehandelt. ({3})
Wie ich sehe, hat er es nicht nötig, heute hier zu sein - er
ist ja auch „nur“ für Flüchtlinge zuständig -; das wundert uns bei diesem Bundesinnenminister kaum, oder?
({4})
Dazu gehört schon ein gehöriges Maß an Chuzpe.
({5})
- Ja, aber der Staatssekretär ist der Staatssekretär, und
der Bundesinnenminister ist der Bundesinnenminister.
So viel darf schon sein.
({6})
Das sage ich auch, weil Herr Friedrich zeitgleich am Tag
der Rede von Frau Merkel Flüchtlingen aus Serbien und
Mazedonien, die zum überwiegenden Teil der Minderheit der Roma angehören, pauschal Asylmissbrauch vorgeworfen hat.
({7})
Fangen wir bei der Politik an. Ich sage Ihnen: Den
Worten müssen auch Taten folgen. Man kann nicht argumentieren, das Boot sei voll, wie Herr Friedrich das tut.
Man kann auch nicht behaupten, bei den Sinti und Roma
handele es sich um Wirtschaftsflüchtlinge.
({8})
Das ist nicht nur falsch, es ist auch verfassungswidrig,
wenn er daraus ableiten will, dass die Rechte dieser
Menschen, anders als das Bundesverfassungsgericht es
gesagt hat, beschränkt werden sollen.
Schauen wir uns doch einmal an, wie es den Menschen dort geht. Wir wissen, dass Europas Institutionen
tatsächlich sagen: Wenn man wegen seiner Herkunft diskriminiert und verfolgt wird, dann ist das auch ein Asylgrund. - Der Dritte Bericht zur Visaliberalisierung der
Europäischen Kommission hat erneut festgestellt, dass
die Roma in der EU und auch außerhalb der EU in Serbien und Mazedonien ständigen Diskriminierungen ausgesetzt sind.
Meine Damen und Herren, gucken Sie sich das einmal an: Kindern und Jugendlichen wird der Zugang zu
Bildung verweigert. Menschen leben in irgendwelchen
Hütten, die garantiert nicht würdevoll sind und - besonders im Winter - kein gesundes Leben zulassen. Da gibt
es Menschen, die von Arbeit ausgeschlossen werden.
Die Diskriminierung von Roma geht in Europa so weit,
dass man sagen kann: Es gibt pogromartige Ausschreitungen gegen diese Minderheit.
({9})
Wer dann noch sagt, das sei Asylmissbrauch und es
seien Wirtschaftsflüchtlinge, der liegt schlicht und einfach falsch.
({10})
Ich gönne Ihnen eine Reise nach Serbien und Mazedonien. Fahren Sie in östliche EU-Mitgliedstaaten. Dann
erleben Sie, was Menschen dort widerfährt. Ich habe
ganz normale Bürger aus diesem Land erlebt, die gesagt
haben, dass ihnen die Tränen in den Augen standen, weil
so etwas in Europa möglich ist. Ursache für diesen Missstand ist die Herkunft dieser Menschen.
Deshalb ist eines klar: Das Asylbewerberleistungsgesetz relativiert in der Praxis die Menschenwürde. Es
muss weg. Denken Sie allein daran, dass Gutscheine
ausgegeben werden, mit denen Asylsuchende nur in bestimmten Läden einkaufen dürfen, wobei sie nicht einmal das Wechselgeld zurückerhalten. Denken Sie daran,
dass Asylsuchende bei akuten Erkrankungen zwar eine
ärztliche Notfallversorgung bekommen, aber in dem
Fall, dass sie traumatisiert sind, keine entsprechende
Grundversorgung erhalten. So geht man mit Menschen
nicht um.
Deshalb muss dieses Asylbewerberleistungsgesetz
weg. Asylsuchende sind Menschen mit gleicher Würde
und mit den gleichen Bedürfnissen, was das Existenzminimum angeht. Sie sollen sich in diesem Land bewegen können. Sie sollen eines Tages auch erwerbstätig
sein. Man muss ihnen eine Perspektive bieten. Wem sage
ich das? Sie haben das „C“ für „christlich“ in Ihrem Parteinamen. Lassen Sie dem auch Taten folgen!
({11})
Das Wort hat nun Peter Tauber für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Künast, Dinge werden meistens nicht richtiger, wenn
man sie pauschal formuliert und einfach so in den Raum
stellt. Diesen Eindruck hatte ich bei vielen Ihrer Ausführungen, denen ich eben zuhören durfte. Ehrlich gesagt,
man hat nicht immer den Eindruck, dass Sie hier Redlichkeit an den Tag legen und dass es Ihnen wirklich nur
um die Flüchtlinge und um die Asylbewerber geht. Sie
machen hier eine ganz schöne Show; das müssen Sie
sich an dieser Stelle deutlich sagen lassen.
({0})
Die Bundesregierung misst diesem Thema allein deshalb eine hohe Bedeutung bei, weil nicht nur der Staatssekretär aus dem Innenministerium anwesend ist, sondern auch die für das Asylbewerberleistungsgesetz
zuständige Ministerin. Das zeigt, dass wir das Thema
sehr ernst nehmen und uns diesem Thema mit Sachlichkeit zuwenden.
({1})
Damit bin ich bei meinem ersten Punkt. Es ist klar:
Unsere Verfassung, das Grundgesetz, gibt uns den Handlungsrahmen vor. Das Recht auf Asyl für Menschen, die
aus Gründen der Herkunft, aus religiösen oder politischen Gründen verfolgt werden, hat nicht nur für uns in
der Bundesrepublik historisch einen hohen Stellenwert.
Diesen Stellenwert hat es auch in Europa. Es ist ein
Grundrecht, das wir Menschen gemeinsam in Europa gewähren wollen, die aus den genannten Gründen unter
Verfolgung leiden oder von Verfolgung bedroht sind.
Ich glaube - an der Stelle haben Sie vielleicht recht -,
dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland erwarten, dass wir, wenn wir den Rahmen setzen, dieses
Grundrecht ernst nehmen und die Rahmenbedingungen
dafür schaffen, dass Menschen, auf die diese Voraussetzungen zutreffen, in Deutschland Hilfe finden. Die Bürger erwarten aber eben auch, dass wir eine Antwort darauf geben, was wir mit Menschen machen, die sich zu
Unrecht auf das Asylrecht berufen.
({2})
Deswegen muss man sich genau anschauen, wie eine
Regelung aussieht, die den betroffenen Menschen auf
Dauer hilft - das ist ganz wichtig -, aber die darüber hinaus eine Antwort auf diese von mir formulierte Frage
gibt.
Es tut ganz gut, sich einmal an den Ursprung der jetzt
gültigen Regelung zurückzuerinnern. Warum gibt es das
Sachleistungsprinzip? Warum gibt es die Residenz25656
pflicht? Sie ist zum Teil bereits gelockert und wurde in
manchen Bundesländern abgeschafft. Das Sachleistungsprinzip gibt es, weil wir Anfang der 90er-Jahre, als
fast eine halbe Million Asylbewerber pro Jahr zu uns kamen,
({3})
festgestellt haben, dass das an sie ausgezahlte Geld nicht
von den Flüchtlingen und Asylbewerbern selbst genutzt
wurde, sondern dass sie es an diejenigen, die sie ins
Land geschleppt hatten, abgeführt haben.
({4})
Es waren oft Menschen, die sich nicht auf das Asylrecht
berufen konnten, weil die entsprechenden Gründe nicht
vorlagen.
({5})
- Sie können „Bodenlos“ dazwischenrufen, so oft Sie
wollen.
Reden Sie einmal mit den Kommunalpolitikern, die
Anfang der 90er-Jahre dafür zuständig waren.
({6})
Reden Sie einmal mit denjenigen, die sich damals in den
Kommunen bemüht haben, für Asylbewerber und
Flüchtlinge menschenwürdige Rahmenbedingungen zu
schaffen.
({7})
Reden Sie einmal mit denjenigen, die sich in den 90erJahren ehrenamtlich um Flüchtlinge bemüht haben.
({8})
- Herr Präsident, ich glaube, jemand möchte eine Zwischenfrage stellen. - Reden Sie einmal mit diesen Personen. Dann werden Sie genau das berichtet bekommen.
Wie viele Menschen haben damals ehrenamtlich geholfen, weil die staatlichen Leistungen, die wir den Flüchtlingen gewährt haben, gar nicht bei ihnen ankamen, weil
sie das Geld an andere abgeliefert haben? Das gehört zur
Wahrheit dazu.
({9})
Jetzt so zu tun, als ob das Sachleistungsprinzip ein reines
Gängelungsinstrument sei, ist falsch.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Beck?
Ja, gerne. - Vielleicht könnten Sie jetzt einmal Ihre
Zwischenrufe unterlassen, damit ich die Zwischenfrage
verstehen kann. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.
({0})
Herr Kollege, manchmal tut es dem Deutschen Bundestag ganz gut, wenn es noch ein paar ältere Kollegen
im Haus mit einem historischen Gedächtnis gibt.
({0})
Sie haben von der Situation zu Beginn der 90er-Jahre
gesprochen. Ist Ihnen bewusst, dass die großen Zugangszahlen von Flüchtlingen, die wir in der Tat Anfang der
90er-Jahre hatten, eine Folge des Zerfalls und der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Westbalkan
waren,
({1})
und insofern diese hohen Zugangszahlen in Deutschland
eine Folge des Krieges vor der eigenen Haustür waren
({2})
und nicht etwa der regelmäßig, jährlich wiederkehrende
Zugang von Flüchtlingen aus aller Welt in Größenordnungen von Hunderttausenden?
({3})
Frau Kollegin, ich bin für die Frage sehr dankbar.
Auch ich habe durchaus ein gewisses historisches Wissen, das ich einbringe, weil ich in der Zeit ehrenamtlicher Kommunalpolitiker war. Ich kann mich daran erinnern, dass es in meiner Region nicht nur in den
Kommunen sehr große Bemühungen gab, Flüchtlinge
und Asylbewerber unterzubringen, sondern dass es auch
große zentrale Sammellager gab.
({0})
Ich kann zumindest nicht in Abrede stellen, dass Ihre
Ausführungen für einen Teil dieser Menschen zutreffen,
aber eben nur für einen Teil. Ein ganz großer Teil kam
aus anderen Regionen dieser Welt. Insofern stimmen Ihren Ausführungen nicht ganz.
({1})
- Wir können nachher gern die Zahlen nebeneinander legen und vergleichen, Frau Kollegin. - Ich kann also das
nicht bestätigen, was Sie hier ausgeführt haben. Sie versuchen, damit einen bestimmten Eindruck zu erwecken.
Worum geht es jetzt? Jetzt geht es darum, dass wir etwas tun,
({2})
um die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts - es
geht um ein Urteil aus dem Juli dieses Jahres - umzusetzen. Das Arbeits- und Sozialministerium hat sehr gute
Erfahrungen damit gemacht, Regelbedarfe zu entwickeln, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
entsprechen. Sie hätten das alles unter Rot-Grün machen
können; Sie haben es aber nicht gemacht.
({3})
Insofern sollte man sich, wenn man mit dem Finger auf
andere zeigt, immer auch fragen, wie viele Finger der eigenen Hand auf einen selbst zurückzeigen.
({4})
Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Ministerin gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen eine Regelung
vorlegen wird,
({5})
die den Vorgaben des Gerichts gerecht wird, sodass wir
dann einen Regelsatz haben werden, der die Bedarfe der
betroffenen Menschen genau abbildet
({6})
und der - ich glaube, das kann man schon jetzt sagen deutlich höher sein wird als der bisherige.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Veit?
Nein, jetzt nicht; herzlichen Dank.
({0})
Es bleibt dabei: Was das Asylbewerberleistungsrecht
betrifft, werden wir Ihnen eine Regelung vorlegen,
({1})
die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht und die Bedarfe der Menschen genau abbildet.
Wir wollen ermöglichen, dass die Menschen für die
Dauer ihres Asylverfahrens in Deutschland Zuflucht finden und ein Auskommen haben.
Aus meiner Sicht mangelt es Ihnen in dieser Debatte
an Redlichkeit. Sie erwecken nämlich permanent den
Eindruck, als ginge es Asylbewerbern und Flüchtlingen
in Deutschland schlechter als in den Ländern, aus denen
sie zu uns gekommen sind.
({2})
Das geht, wie ich finde, an der Wirklichkeit vollkommen
vorbei. Nach wie vor gibt es unheimlich viele ehrenamtliche Initiativen, die Flüchtlinge begleiten. Die Bürgermeister und die kommunalen Verantwortlichen, die ich
kenne, kümmern sich mit großer Mühe und Sorgfalt darum, die notwendigen Rahmenbedingungen in ihrer
Kommune zu schaffen, dabei auch die Bevölkerung mitzunehmen und für die notwendige Sensibilität und das
entsprechende Bewusstsein vor Ort zu sorgen; auch das
ist, glaube ich, ein wichtiges Signal. In der Diskussion
ist ja ständig die Rede davon, dass hier verschiedene
politische Ebenen ineinandergreifen: Auf der einen Seite
dürfen wir die Kommunen bei der Bewältigung der Herausforderungen, die mit steigenden Flüchtlingszahlen
einhergehen, nicht alleine lassen, auf der anderen Seite
müssen auch wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen.
Am Ende bleibt es dabei: Wir bemühen uns, für die
Menschen, die aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen zu uns kommen und um Asyl bitten, die
richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Es gibt auf
diesem Globus nicht viele Länder, die solch gute Rahmenbedingungen schaffen und mit so viel Empathie für
diese Menschen einstehen wie Deutschland.
({3})
Wenn man Empathie für diese Menschen empfindet
und sich um sie kümmert, gehört dazu auch, dass man
auch über diejenigen redet, die sich fälschlicherweise
auf das Grundrecht auf Asyl berufen und die, wenn in einem Verfahren festgestellt wurde, dass kein Asylgrund
vorliegt, in ihre Heimat zurückgeführt werden.
({4})
Das, liebe Frau Künast, sollte man nicht als unchristlich
brandmarken.
({5})
- Da können Sie sich aufwallen und schreien, so viel Sie
wollen, liebe Frau Künast; das finde ich immer hochspannend. - Ich glaube, ich als Christ brauche von jemandem, von dem ich nicht weiß, wie intensiv er sein
Christsein lebt - wenn er denn überhaupt Christ ist -,
({6})
an dieser Stelle keine Nachhilfe.
({7})
Liebe Frau Künast, diese Frage in die politische Diskussion hineinzuziehen, ist Parteipolemik und unredlich.
({8})
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute
mit den schwierigen Lebensbedingungen von mehr als
150 000 Flüchtlingen in Deutschland, und wir geben
Antworten auf das vernichtende Urteil der Bundesverfassungsrichter zum bestehenden Asylbewerberleistungsgesetz. Es gibt dazu sieben Anträge und Gesetzentwürfe der Opposition. Das ist viel und zeigt, wie wichtig
uns dieses Thema ist.
({0})
Leider haben weder die Bundesregierung noch Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
auch nur einen einzigen Buchstaben zur Lösung beigetragen. Dabei hatten Sie verdammt viel Zeit. Deutschland wartet seit fast drei Jahren auf Ihre Taten ({1})
seit fast drei Jahren vergeblich. So, meine Damen und
Herren, sieht die traurige Wirklichkeit aus.
({2})
Schon im Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt: Die Regelsätze der Grundsicherung
sind zu niedrig und müssen transparent und nachvollziehbar neu berechnet werden.
Dies betraf natürlich auch damals schon das Asylbewerberleistungsgesetz. Wir haben Sie immer wieder darauf hingewiesen. Menschen erster und zweiter Klasse
darf es nach dem Karlsruher Richterspruch von 2010 bei
der Sicherung des Existenzminimums in unserem Staat
nicht mehr geben.
({3})
Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP, nehmen diese Verfassungswidrigkeit jedoch
bis heute billigend in Kauf. Das ist für Sie und für Ihre
Regierung ein beschämendes Armutszeugnis.
({4})
Sie haben es noch nicht einmal für nötig befunden, auf
den zweiten Bugschuss der Verfassungsrichter zu reagieren. Im Juli dieses Jahres legten die Karlsruher Richter
ihr vernichtendes Urteil über die derzeitige Existenzsicherung von Asylbewerbern in Deutschland auf den
Tisch. Die Richter forderten eine sofortige Heraufsetzung der Regelsätze und eine unverzügliche Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Doch immer
noch stehen die niedrigen verfassungswidrigen Regelleistungen im Gesetz.
Es ist allein dem Engagement der Bundesländer zu
verdanken, dass es nicht zum offenen Verfassungsbruch
kam. Die Länder haben sich als Zwischenlösung ohne
bundesgesetzliche Regelung untereinander auf einheitliche neue Sätze verständigt. Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, hingegen haben nichts getan und
damit die Länder voll im Regen stehen lassen. Es ist
schlimm, wie Sie unsere Verfassung mit Füßen treten.
({5})
Sogar Ihre eigene Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Frau Böhmer, hatte das Sozialministerium zu raschem Handeln aufgefordert. Bereits
im Herbst 2011 verlangte sie wegen des verfassungswidrigen Zustands des Asylbewerberleistungsgesetzes eine
schnelle Reform. Geholfen hat auch das nichts. Deshalb
frage ich Sie, Frau Ministerin von der Leyen: Wann werden Sie die vom Verfassungsgericht geforderte unverzügliche Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes endlich umsetzen?
({6})
Da Sie selbst in dieser Sache offensichtlich nichts auf
die Reihe bringen, haben wir Ihnen in unserem Antrag
aufgeschrieben, wie ein verfassungskonformes Gesetz
aussehen könnte. Die Initiative der von SPD und Grün
regierten Länder zur Abschaffung der Asylbewerberleistungsgesetzes im Bundesrat
({7})
ist ja gerade gescheitert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen, Ihren gleichlautenden Anträgen wird es heute hier im Bundestag genauso ergehen.
Wir setzen uns deshalb für eine Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes ein. Wir wollen die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in unserem Land verbessern.
Wir fordern verfassungsfeste Regelsätze. Wir wollen die
Dauer des Leistungsbezugs wieder auf zwölf Monate zurückführen. Der Kreis der Leistungsberechtigten muss
wieder auf die Personen beschränkt werden, für die das
Asylbewerberleistungsgesetz 1993 einmal geschaffen
wurde, nämlich auf Asylsuchende und Geduldete.
Die Residenzpflicht muss gekippt werden. Asylsuchende sind schließlich keine Gefangenen.
({8})
Es ist unmenschlich, was hier passiert.
Wir wollen den Arbeitsmarktzugang erleichtern.
Das diskriminierende Sachleistungsprinzip einschließlich der Gemeinschaftsunterkünfte muss beendet werden.
Denn weder Essenspakete noch Gutscheine für Kleidung
oder Lebensmittel sind ein würdiger Umgang mit den
Hilfebedürftigen und darüber hinaus teuer.
Unmenschlich ist auch die Zwangsunterbringung in
Gemeinschaftsunterkünften. Hierfür sind ja die Länder
zuständig. Ich habe mir einmal die bayerische Asyldurchführungsverordnung angesehen. Da steht, dass die
Unterbringung in Sammelunterkünften - ich zitiere „die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern“ soll. So, meine Damen und Herren, sehen die Unterkünfte dort auch aus. Beschämend ist das.
({9})
Asylsuchende und ihre Kinder brauchen eine bessere
Gesundheitsversorgung. Das gilt insbesondere für die
psychologische Behandlung der oftmals traumatisierten
Flüchtlinge. Die UN-Behindertenrechtskonvention muss
natürlich auch für Flüchtlinge gelten, und natürlich müssen alle Kinder und Jugendlichen einen Rechtsanspruch
auf das Bildungs- und Teilhabepaket erhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Forderungskatalog zeigen wir einen Weg auf, wie sich erstens
die Lebensbedingungen von schutzsuchenden Menschen
in unserem Land verbessern lassen, wie wir zweitens
wieder zu den Buchstaben unserer Verfassung zurückkommen und wie wir drittens die Zustimmung der Länder erreichen können. Diese brauchen wir; ohne sie geht
nichts.
Herr Tauber, Sie haben auf die vergangenen Jahre
hingewiesen. Dass sich da nichts bewegt hat, lag daran,
dass Sie damals mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat alles
ausgebremst haben, was man für die Flüchtlinge und für
die Asylsuchenden in unserem Land positiv hätte verändern können.
({10})
Das Asylbewerberleistungsgesetz muss endlich auf
verfassungsfeste Füße gestellt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, tun Sie es
endlich!
({11})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hier
von SPD, Linken und Grünen immer wieder vorgetragene Unterstellung, die Koalition relativiere in irgendeiner Weise die Menschenwürde,
({0})
ist schlicht eine Unverschämtheit.
({1})
Die Grünen und die SPD haben in sieben Jahren Regierungszeit selbst kein einziges Mal den Versuch unternommen, die jetzt von ihnen bemängelten angeblichen
Menschenrechtsverletzungen durch deutsches Recht zu
ändern.
({2})
Das Asylbewerberleistungsgesetz - Frau Beck, Sie wissen ganz genau, wovon ich rede - existiert seit 1993.
({3})
Was hat denn der in Ihrer Regierungszeit zuständige
Bundesarbeitsminister, Herr Müntefering, unternommen? Nichts.
({4})
Wenn es den Grünen tatsächlich so um Humanität geht,
muss man fragen: Was hat denn die damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, unternommen? Was hat Frau Künast unternommen? Nichts.
Da sieht man: So wichtig war Ihnen das, worüber Sie
hier und heute im Zusammenhang mit Ihrem Antrag
Krokodilstränen vergießen.
({5})
Fortschritte unter der Regierung von SPD und Grünen, zum Beispiel beim Arbeitsmarktzugang für Ausländer, waren nicht existent. Hier herrschte in rot-grüner
Zeit Arbeitsmarktprotektionismus.
Im Gegensatz dazu handelt die christlich-liberale Koalition.
({6})
Die Residenzpflicht, die der rot-rot-grüne Block zur Zeit
der rot-grünen Regierung immer unangetastet gelassen
hat, hat die Koalition aus Union und FDP in Hessen gerade abgeschafft.
({7})
Meine Damen und Herren, weitere Verbesserungen
im Ausländer- und im Asylrecht sind immer wieder zu
erwägen und auch zu prüfen. Auch hier wird es noch
Veränderungen und Verbesserungen geben.
({8})
Dabei darf es aber nicht allein um die gefühlte gute Absicht gehen, sondern wir müssen immer auch die Folgen,
die das für alle Beteiligten hat, im Blick haben.
({9})
Hartfrid Wolff ({10})
In diesem Zusammenhang kann ich feststellen: Diese
Regierungskoalition hat die Weichen für eine Kultur des
Willkommens gestellt.
({11})
In der christlich-liberalen Koalition haben wir gemeinsam wichtige Weichenstellungen in der Zuwanderungsund Integrationspolitik vorgenommen.
({12})
Aber auch hier gilt: Fördern und Fordern gehören zusammen.
Offenkundig passt das einigen aus dem Oppositionslager nicht. Aber wir haben in den vergangenen Tagen ja
mehrfach gehört, wie die Oppositionsfraktionen sich
einfach nur gegen das stellen, was die Koalition macht unabhängig davon, ob die eigene Position kürzlich noch
eine andere war.
({13})
Wir halten Wort.
({14})
Die christlich-liberale Koalition eröffnet Perspektiven
für Menschen, die in unser Land gekommen sind.
({15})
Im Vergleich zu den Vorgängerregierungen schneidet
diese Koalition auf diesem Politikfeld sehr gut ab.
({16})
Wir haben die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen geändert, um den Schulund Kindergartenbesuch von Kindern zu gewährleisten.
Wir haben die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewerber auf Bundesebene gelockert,
({17})
um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. „Bildung ermöglichen“ heißt hier
das Stichwort, meine Damen und Herren.
Wir haben die Stabilisierungszeit für Opfer von Menschenhandel auf drei Monate ausgedehnt - ein dringendes Petitum gerade von Opferverbänden und auch der
Polizei. Wir haben es ermöglicht, dass Abschiebehäftlinge auf ihren Wunsch hin Nichtregierungsorganisationen hinzuziehen können. Zudem haben wir die Bedingungen für die Abschiebehaft signifikant verbessert.
({18})
Liebe Kollegen von den Grünen, wir haben erstmals
ein eigenständiges Wiederkehr- und Rückkehrrecht für
ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geschaffen und auch den eigenständigen Straftatbestand der
Zwangsheirat eingeführt. Das ist aktiver Opferschutz
und ein klarer Appell an unsere freiheitliche Werteordnung.
({19})
Im Gegensatz zu Rot-Grün, Frau Künast, gibt es dank
dieser Koalition inzwischen eine dauerhafte bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung. Erstmals wurde für minderjährige und heranwachsende geduldete Ausländer ein
vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen.
({20})
Das nenne ich humanitäre Rechtssicherheit.
Ich habe mich über die Einigung der Unionsinnenminister zu einer weiter gehenden ständigen Bleiberechtsregelung gefreut. Ich bin mir sicher, dass wir auch hier
noch fruchtbare Gespräche führen werden. Wir hoffen
auf die Konstruktivität der A-Länder, darauf, dass sie
endlich aufhören, im Bundesrat zu blockieren, und sich
bei der Bleiberechtsregelung konstruktiv einbringen.
Nichts dergleichen hat seinerzeit die rot-grüne Koalition zustande gebracht.
({21})
Die rot-grüne Regierung war bei diesen Themen geradezu inaktiv, obwohl sie im Grunde genommen schon
damals akut waren. Frau Hiller-Ohm, das sollten Sie eigentlich wissen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hiller-Ohm?
Frau Hiller-Ohm, Sie hatten gerade die Gelegenheit,
Ihre Positionen darzustellen. Daher brauchen Sie jetzt
keine Zwischenfrage zu stellen. - Dass Sie jetzt noch
mehr fordern, obwohl Sie selber so inaktiv waren, wirft
wirklich ein sehr schräges Bild auf Ihre damalige Regierungszeit und auch auf Ihre jetzige Lage.
Die Landesregierungen mit rot-rot-grüner Beteiligung
halten sich bei allen Forderungen, die Sie hier jetzt vortragen - das ist nicht wirklich überraschend -, bedeckt.
Das, was Sie hier vortragen, hat keine wirkliche Rückkopplung.
Die christlich-liberale Koalition hingegen tut etwas:
Wir haben die Zuwanderung für Fachkräfte deutlich rationaler gestaltet und die Verfahren entbürokratisiert.
({0})
Hartfrid Wolff ({1})
Wir werden alsbald auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz umsetzen.
({2})
Wir haben mit dem Bundesinnenminister schon erreicht,
dass die Dauer der Asylverfahren deutlich verkürzt wird.
Damit schaffen wir Klarheit für die Betroffenen.
({3})
Wir Liberalen haben uns immer dafür eingesetzt, dass
jeder, der sich rechtmäßig in Deutschland aufhält, hier
arbeiten und lernen kann. Je früher gearbeitet wird, je
schneller gelernt werden kann, desto besser, solange
keine Anreize für Asylmissbrauch geschaffen werden.
({4})
Arbeit statt Stütze, liebe Kollegen von den Sozialdemokraten, also arbeiten zu dürfen, nicht zur Untätigkeit
verdammt zu sein und nicht zahlungsabhängig zu sein,
ist gerade für ein selbstbestimmtes Leben wichtig und
kann zudem die Kostenträger entlasten.
({5})
Diese Koalition hat gehandelt. Diese Koalition hat
Deutschland mit Fördern und Fordern gerade in der Integrationspolitik vorangebracht. Deutschland verändert
sich. Diese Bundesregierung gestaltet dies. Die Opposition hingegen macht nur wohlfeile Vorschläge.
({6})
Das Wort hat nun Ulla Jelpke für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein
Flüchtling kommt nach Deutschland ohne Not. Kein
Flüchtling kommt aus Spaß hierher.
({0})
Flüchtlingsleben in Deutschland bedeutet Sammellager, die weit weg vom gesellschaftlichen Leben eingerichtet werden, keine Individualität, weil die Räume in
der Regel überbelegt sind, keine Bildung, keine Arbeit
und ein menschenunwürdiges Dasein mit Gutscheinen,
zum Teil mit 1-Euro-Jobs oder ähnlichen Dingen. Ich
meine, dass diese Schikane und diese Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen in Deutschland endlich
aufhören müssen.
({1})
Hinsichtlich der Residenzpflicht gibt es eine Länderinitiative. Es gibt einige Bundesländer wie Brandenburg,
Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen und andere, die
endlich dazu übergegangen sind, die Residenzpflicht wenigstens in den Ländern aufzuheben.
({2})
Aber was heißt denn das? Wenn für Menschen in einem
Land die Residenzpflicht besteht, müssen sie zur Behörde gehen und fragen, ob sie einen Verwandten in einem benachbarten Bundesland besuchen dürfen. Sie
haben einen unglaublichen Aufwand an Bürokratie usw.
Selbst die Referatsleiter der Ausländerbehörden, die in
der letzten Woche den Innenausschuss besucht haben,
haben gesagt: Die Residenzpflicht führt vor allen Dingen
zu Verwaltungsaufwand, zu Bürokratie, zur Beantwortung von Klagen usw. Sie sind der Meinung, sie gehört
abgeschafft. Das sollte sich die Regierung einmal hinter
die Ohren schreiben.
({3})
Man kann als Fazit sagen: Fachlich ist die Residenzpflicht überflüssig, politisch ist sie eine entwürdigende,
diskriminierende Schikane der Schutzsuchenden. Sie gehört im Namen der Menschenwürde ersatzlos abgeschafft.
({4})
Auch 20 Jahre nach der faktischen Abschaffung des
Asylrechts gibt es in der Asylpolitik leider weitere Schikanen. Wir haben schon vom Asylbewerberleistungsgesetz gehört.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Sommer bestätigt, dass dieses Gesetz die Menschenwürde verletzt,
weil es zu geringe Leistungen vorsieht. Das war für uns
schon lange klar, aber die Regierung tat nichts. Frau
Hiller-Ohm hat es eben schon angesprochen: Es gab eine
Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Eckpunkte für einen
Gesetzentwurf vorlegen sollte. Auf Ihre Taten warten
wir seit drei Jahren. Gestern ist uns das letzte Ergebnis
mitgeteilt worden. Es lautet: Ein abschließendes Eckpunktepapier ist wieder nicht beschlossen worden.
({5})
Meine Damen und Herren von der Regierung, ich bin
der Meinung: Das, was Sie sich hier leisten, ist eine unglaubliche Ignoranz gegenüber den Asylbewerbern und
durch nichts mehr zu überbieten.
({6})
Der Bundesinnenminister hat sogar angekündigt, gegen das Urteil des Verfassungsgerichts zu verstoßen. Das
Verfassungsgericht hat gesagt:
Auch migrationspolitische Erwägungen … können
… kein Absenken des Leistungsstandards unter das
physische und soziokulturelle Existenzminimum
rechtfertigen.
Herr Friedrich fordert dagegen, Asylbewerbern aus
vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten das Taschengeld
komplett zu streichen.
({7})
- Genau. - Dieses Geld brauchen sie aber, um ihr soziokulturelles Existenzminimum zu decken.
Aus diesem perfiden Grund wollen Sie hier wieder erneut Abschreckungspolitik betreiben. Dabei nehmen Sie
sogar in Kauf - und das mit Ansage -, Verfassungsbruch
zu begehen. Ich kann Sie hier nur auffordern, von diesen
populistischen Plänen endlich Abstand zu nehmen.
({8})
Eine weitere Schikane ist zum Beispiel das Arbeitsverbot. Die EU-Kommission sagt immerhin: Asylbewerber sollen nach einem halben Jahr Aufenthalt arbeiten
gehen dürfen. Auch das macht Deutschland nicht mit.
Durch die Regelung eines nachrangigen Zugangs zum
Arbeitsmarkt und die Residenzpflicht wird diesen Menschen praktisch keine Chance gegeben, eine Arbeit zu
finden. Sie bleiben von Sozialleistungen abhängig, und
das wird ihnen dann wieder vorgehalten, wenn sie ein
Bleiberecht beantragen. So kann es meiner Meinung
nach nicht gehen.
({9})
Gerade bei den sogenannten Geduldeten führen die
Rechtslage und die Praxis immer wieder zu regelrechten
Familientragödien. Familien, die seit Jahren in Deutschland leben und sich trotz aller Widrigkeiten ein Zuhause
geschaffen haben, müssen in ständiger Angst leben, mitten in der Nacht von einem Polizeiaufgebot aus den Betten gerissen und 30 Minuten später, nachdem sie ihre Sachen gepackt haben, zum Flughafen gebracht zu werden.
Besonders Kinder werden durch diese Art und Weise der
Abschiebepraxis traumatisiert.
Ich will hier ganz deutlich sagen: Das findet nicht nur
in CDU- und CSU-regierten Ländern und unter Beteiligung der FDP, sondern leider auch in SPD-regierten
Ländern statt. Das ist wirklich ein Skandal!
({10})
Deswegen fordert die Linke ein humanitäres Bleiberecht
und kein bürokratisches Bleiberecht, wie wir es bislang
haben.
Das Verfassungsgericht hat verboten, dass die Menschenwürde zum Zweck der Flüchtlingsabschreckung
unterlaufen wird. Das Regime der Schikanen und der
systematischen Ausgrenzung gegenüber Flüchtlingen
muss jetzt ein für alle Mal beendet werden.
({11})
Meine Damen und Herren, kommen wir noch einmal
zu den Fakten; denn die Presse und die Bundesregierung
sprechen in der Öffentlichkeit gerne sehr unsachlich
über die Zahlen. Zweifellos gibt es in diesem Jahr mehr
Flüchtlinge: Im Jahr 2003 sind knapp 20 000 Flüchtlinge
nach Deutschland gekommen, 2010 waren es 41 000,
und 2011 waren es 45 000 Flüchtlinge. Die Zahlen steigen.
({12})
Aber erstens steigen sie nicht dramatisch, Herr Grindel,
und zweitens steigen die Zahlen bei den Asylanträgen
insgesamt. Das hat auch etwas mit Ihrer Politik zu tun.
({13})
Dieser leichte Anstieg ist zum Großteil hausgemacht,
nicht weil Flüchtlinge das Asylrecht missbrauchen, sondern weil der Westen immer mehr Fluchtgründe schafft.
Die Flüchtlinge kommen zum Beispiel aus dem Balkan,
aus Afghanistan, aus dem Irak. Diese Herkunftsländer
der Flüchtlinge waren vom sogenannten Krieg gegen
den Terror am stärksten betroffen. Ich erinnere an das
Gespräch mit Flüchtlingen vorige Woche, in dem ein
Flüchtling gesagt hat: Ich bin ein Produkt eurer Politik,
auf unser Land fallen NATO-Bomben. - Das gilt übrigens für viele Flüchtlinge.
({14})
Von dort, wo Kriege geführt werden, kommen auch
Flüchtlinge. Kriege sind Fluchtursachen, die Sie mit
schaffen, Herr Grindel.
({15})
Die reichen Staaten beuten die sogenannte Dritte
Welt aus, halten sie in Armut und Abhängigkeit, und natürlich kommen von dort Flüchtlinge. Die ODA-Quote,
der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen - wir haben es letzte Woche hier im Bundestag
diskutiert -, wird nicht, wie vereinbart, auf 0,7 Prozent
erhöht, sondern die Mittel sind wieder einmal gesenkt
worden, und damit liegt die Quote unter 0,4 Prozent.
Ihre Entwicklungspolitik ist einfach ein Skandal.
({16})
Also, wundern Sie sich nicht, wenn Flüchtlinge kommen. Sie, meine Damen und Herren, tragen dazu bei,
Fluchtursachen zu schaffen, statt sie abzustellen. Das ist
eine ewige Debatte hier im Haus; es passiert nichts. Solange Sie Panzer und Maschinenpistolen exportieren und
eine entsprechende Politik betreiben - davon können wir
immer wieder in den Zeitungen lesen -, haben Sie kein
Recht, Flüchtlinge zu Kriminellen zu erklären. Es ist
wirklich ein Skandal, dass das hier überhaupt versucht
wird.
({17})
Ganz nebenbei: Deutschland ist bei weitem nicht das
Land, das am meisten Flüchtlinge aufnimmt. In Deutschland kommen auf 100 000 Einwohner 65 Flüchtlinge. In
Schweden sind es schon 315 Flüchtlinge; in Malta, ZyUlla Jelpke
pern und Luxemburg sind es schon 450. Auch Italien
und Griechenland nehmen, bezogen auf die Bevölkerung, mehr Flüchtlinge auf als Deutschland. Das heißt,
wer behauptet, das Boot sei voll, redet meines Erachtens
Unsinn.
({18})
Wir werden vielmehr in die Pflicht genommen werden,
in Europa solidarische Hilfe zu organisieren, eine vernünftige Umverteilungspolitik zu machen, was die
Flüchtlingsprobleme angeht, und vor allen Dingen die
Ursachen zu bekämpfen.
({19})
Ich komme zur aktuellen Debatte zum Asylmissbrauch - hierzu sind schon einige Punkte genannt worden -: Das Problem sind nicht die Asylbewerber, wie bestimmte Politiker behaupten, um damit ganz gezielt
Ängste zu schüren und bestimmte Vorurteile zu bestätigen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zum Asylbewerberleistungsgesetz sagte Bundesinnenminister Friedrich:
Das wird dazu führen, dass die Asylbewerber-Zahlen noch weiter steigen,
({20})
denn es wird für Wirtschaftsflüchtlinge noch attraktiver zu uns zu kommen,
({21})
und mit Bargeld wieder abzureisen.
({22})
Ihr Innenminister Schünemann aus Niedersachsen
legte noch eins drauf:
Das ist klarer Asylmissbrauch. Ganze Dörfer kommen …
Ich darf Ihnen etwas verraten, was Ihnen bestimmt
nicht gut gefallen wird: Mit diesen Zitaten - Sie sehen es
hier auf diesem Flugblatt - warb die NPD für den 9. November zu einem Fackelmarsch gegen Asylmissbrauch
und nutzte Ihre Stellungnahmen,
({23})
um das rechte Potenzial zu mobilisieren. Ich kann dazu
nur sagen: Kommen Sie zu einer sachlichen Debatte zurück, und hören Sie auf mit dieser puren Stimmungsmache, die Sie seit Wochen betreiben. Sie liefern damit
den Neofaschisten die Munition für rassistische Hetze.
({24})
Was sich hier anbahnt - darauf hatten schon einige
hingewiesen -, ist im Grunde genommen eine Neuauflage des Szenarios von 1992. Es werden Ängste geschürt. Es wird mit Unterstellungen gearbeitet. Es wird
gehetzt. Damals brannten am Ende die Wohnheime für
Asylbewerber. Meine Damen und Herren, wir müssen
alles tun, damit das nicht wieder geschieht.
({25})
Die Linke sagt auch deswegen ganz klar, dass das Asylrecht reformiert werden muss.
Gerade zu dem Beispiel Roma kann ich jetzt keine
weiteren Ausführungen machen - Frau Beck hat es aber
schon gesagt -, aber so viel: Sie sind nicht einfach Wirtschaftsflüchtlinge, wie Sie das hier darstellen wollen.
Die EU, die UN, der Europarat sprechen von massiver
Diskriminierung.
({26})
Ich will Sie daran erinnern, dass die Flüchtlinge, die zurzeit aus dem Balkan kommen, zur Hälfte Kinder sind Kinder und ganze Familien!
Zum Schluss möchte ich sagen, dass die Linke mit
den vorliegenden Anträgen zum Asylbewerberleistungsgesetz und zur Residenzpflicht die Konsequenzen aus
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezogen hat.
Beides gehört sofort abgeschafft!
({27})
Wir wollen die Würde der Asylsuchenden genauso
schützen, wie wir die Würde aller Menschen in der Bundesrepublik schützen wollen.
({28})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja.
Eine wichtige Besonderheit in unseren Anträgen ist
- ansonsten werden wir allen Anträgen zustimmen -:
Wir wollen auf die Wohnortzuweisung verzichten. Unserer Meinung nach ist es wichtig, für Flüchtlinge Wohnungen und keine Lager zu schaffen. Es gibt ja das Meldegesetz; sie sind erreichbar.
Frau Kollegin!
Es ist nicht nötig, dass wir diese Einschränkung haben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen! Mit Ihren
Anträgen fordern Sie - das haben Sie in den Reden auch
deutlich gemacht - faktisch die Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
({0})
- Da können Sie ruhig schon einmal klatschen, das passt
schon. Das Klatschen wird Ihnen gleich vergehen.
Zunächst ist es in dieser Diskussion erforderlich, dass
man auf den Tatbestand schaut, auf Art. 16 a unseres
Grundgesetzes. Darin steht, dass politisch Verfolgte Asyl
genießen. Das heißt aber auch - auch das haben die Väter unseres Grundgesetzes bedacht -, dass nicht politisch
Verfolgte keinen Anspruch auf Asyl haben.
({1})
- Liebe Frau Künast, in unserem Grundgesetz steht
nichts von Diskriminierung. Da muss man die Kirche etwas im Dorf lassen - im wahrsten Sinne des Wortes und sagen: Es kann auch nicht sein, wie Sie am Ende
Ihrer Rede ausgeführt haben, Frau Künast, dass die Menschen berufstätig sein oder einen Beruf erlernen sollen,
weil sie ohnehin später bei uns arbeiten werden.
({2})
Unser Asylrecht geht davon aus, dass die Prüfung
zeitnah stattfindet - da ist sicher noch Luft drin, da kann
man sicher noch manches verbessern -, dass aber diejenigen, die keinen Anspruch auf politisches Asyl haben,
tatsächlich auch wieder zurückgeschickt werden müssen.
({3})
- Ja, dass sie abgeschoben werden müssen.
Frau Jelpke, wenn Sie, wie Sie ausführen, ein dauerhaftes Bleiberecht einführen wollen, würde das - auch
das muss man den Leuten klar sagen - in der Konsequenz dazu führen, dass wir die Zuwanderung über das
Asylrecht regeln. Das kann doch niemand ernsthaft wollen. Das ist doch nicht der richtige Ansatz.
({4})
Ich möchte ganz klar betonen, dass wir dem aus
Art. 16 a des Grundgesetzes folgenden Grundrecht auf
Asyl für Menschen, die aus politischen, religiösen oder
rassistischen Gründen verfolgt werden, gerecht werden.
Menschen, die unseren Schutz wirklich brauchen, können sich darauf verlassen, dass ihnen bei uns geholfen
wird. Das war so in der Vergangenheit, und das wird
auch in Zukunft so sein.
Im europaweiten Vergleich steht Deutschland bei den
Asylanträgen ganz vorn an erster Stelle. In den vergangenen Jahren haben wir immer mehr Asylsuchende aufgenommen. Sie wissen, dass sie sich bei uns auf den
Rechtsstaat verlassen können, anders als in vielen ihrer
Herkunftsländer.
Das Asylbewerberleistungsgesetz stellt für die Asylsuchenden in jedem Fall ein menschenwürdiges Dasein
sicher.
({5})
Der notwendige Lebensbedarf einschließlich der Unterbringung, erforderlicher medizinischer Behandlungen
sowie etwaiger persönlicher Bedürfnisse wie denen von
Kindern wird befriedigt.
({6})
Aber das verfassungsrechtlich garantierte Asylrecht
soll weder wirtschaftliche noch soziale Unterschiede
ausgleichen - das kann es nicht - und somit auch keine
Inanspruchnahme aus wirtschaftlichen Erwägungen fördern - auch die muss angesprochen werden -, sondern es
soll umfassenden Schutz vor Verfolgung jeglicher Art
bieten.
Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde im Jahr 1992
von den Fraktionen CDU/CSU und FDP sowie SPD gemeinsam verabschiedet, da im besagten Jahr 95 Prozent
der Asylsuchenden überhaupt nicht politisch verfolgt
waren, sondern andere, häufig auch wirtschaftliche Beweggründe für den Aufenthaltswunsch in Deutschland
ausschlaggebend waren. Diesem somit in vielen Fällen
bestehenden Missbrauch des Asylrechts mussten und
müssen wir entgegentreten. Die Zahl der Asylbewerber
aus Mazedonien und Serbien beispielsweise - es wurde
bereits darauf hingewiesen - steigt seit einiger Zeit
sprunghaft an. Zusammenhänge mit der seit 2009 erfolgten Visaliberalisierung und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli dieses Jahres sind nicht von
der Hand zu weisen, zumal die Anerkennungsquote in
diesem Bereich nahe null liegt, da diese Menschen gerade nicht politisch verfolgt werden.
Ich will nicht verkennen, liebe Frau Künast, dass die
Lebensverhältnisse in vielen Herkunftsregionen unter
hygienischen, gesundheitlichen wie auch unter beschäftigungspolitischen Aspekten schlicht nicht hinnehmbar
sind. Es müssten die Probleme indes in den Herkunftsländern gelöst werden.
Die Lage in den Asylbewerberunterkünften ist angespannt und stellt die Kommunen vor eine große Belastungsprobe. Diese Entwicklung gibt Anlass zur Sorge.
Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen ein zügiges und effizientes Asylverfahren gewährleisten,
({7})
das zu sachgerechten Entscheidungen führt. Dies ist im
Sinne der Asylsuchenden selbst und berücksichtigt
gleichzeitig auch die Bereitschaft der Bevölkerung in
Deutschland zur Aufnahme.
({8})
Daher sage ich ganz deutlich, dass zu einer erfolgreichen
Integrationspolitik der unionsgeführten Bundesregierung
als wichtige Bausteine die Residenzpflicht und das Sachleistungsprinzip gehören, was in den Verantwortungsbereich der Länder gehört.
Die Residenzpflicht - das wurde bereits von einigen
Vorrederinnen und Vorrednern kritisiert - ist mitnichten
eine Schikane der Asylsuchenden, wie Sie es hier darzustellen versuchen.
({9})
Sie dient vielmehr der Beschleunigung des Asylverfahrens und entlastet zeitgleich die Kommunen.
Mit der von Ihnen geforderten Aufhebung der Residenzpflicht würden Sie nicht nur die ohnehin schon angespannte Lage in den Unterkünften vor Ort in den
Kommunen verschärfen, sondern auch die dringend benötigte Verkürzung des Asylverfahrens beeinträchtigen.
({10})
Im Gegenteil: Sie würden sogar die Aufnahme verlangsamen. Denn eine problemlose Erreichbarkeit ist Grundvoraussetzung für ein zügiges und effektives Verfahren.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass wir im
Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach
dem SGB II von den Leistungsempfängern fordern, dass
sie erreichbar sind. Nichts anderes kann daher nach meiner Meinung auch für Asylsuchende gelten.
({11})
Zudem wurde die Residenzpflicht in der Vergangenheit bereits an verschiedenen Stellen - der Kollege Wolff
hat schon darauf hingewiesen -, zum Beispiel in den Bereichen Beschäftigung, Ausbildung und Schulbesuch,
gelockert. Meine sehr geehrten Damen und Herren von
den Linken und den Grünen, Sie sollten daher bei Ihren
Anträgen die Realität nicht aus den Augen verlieren und
kein Szenario an die Wand malen, das überhaupt nicht
existiert.
Der Antrag der SPD, der eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vorsieht, enthält sicherlich das
eine oder andere Erwägenswerte, insbesondere zu Bildung bzw. frühkindlicher Bildung und zu Sprachkursen.
Das sollten wir uns genau anschauen, um zu sehen, wie
wir Verbesserungen insbesondere für die bei uns lebenden Asylbewerberkinder erreichen können. Denn es soll
kein Nachteil sein, wenn ein Asylbewerberkind bei uns
Deutsch lernt - selbst in dem Fall, dass seine Eltern abgeschoben werden und es wieder in sein Herkunftsland
zurück muss.
Im Bereich Bildung bin ich also gerne gesprächsoffen,
({12})
im Übrigen auch bei den Gutscheinen und bei Gutscheinlösungen, die in die Zuständigkeit der Länder fallen. Auch da ist schon einiges passiert.
Im Übrigen - Sie haben vorhin danach gefragt, Frau
Ferner - arbeitet die Bundesregierung derzeit mit Hochdruck an einem Gesetzentwurf,
({13})
um die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, auf die
Sie schwerpunktmäßig Ihren Antrag stützen, zügig umzusetzen und für den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes eine Neuregelung zu treffen.
Die Diskussion wird mit großer Aufmerksamkeit von
unserer Bundesarbeitsministerin verfolgt.
({14})
Sie sieht den dringenden Handlungsbedarf natürlich
auch, liebe Frau Ferner. Wir werden das in der von der
christlich-liberalen Koalition gewohnten Zügigkeit und
Gründlichkeit - auch hier geht Gründlichkeit vor
Schnelligkeit - auf den Weg bringen
({15})
und ein ordentliches Asylbewerberleistungsgesetz hinbekommen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Spätestens nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen im Frühjahr 2010 hätte es der
Bundesregierung klar sein müssen, dass auch das Asylbewerberleistungsgesetz einer Überprüfung durch das
Verfassungsgericht nicht standhalten wird.
({0})
Dafür, Frau von der Leyen, brauchte man keine Hellseherin zu sein. Sie haben bisher aber nichts getan,
nichts nach dem Verfassungsgerichtsurteil von 2010,
nichts bis zum Verfassungsgerichtsurteil 2012 und auch
danach nichts.
Das Verfassungsgericht hat offenbar eine Ahnung von
der Geschwindigkeit und dem - wie sagten Sie, Herr
Lehrieder? - Hochdruck, mit dem diese Bundesregierung arbeitet. Denn es hat vorsorglich verfügt, dass es
Übergangsregelungen gibt, und klar Recht angeordnet,
weil es weiß, dass die christlich-liberale Bundesregierung es nicht so eilig hat, wenn es um die Achtung der
Menschenwürde geht.
({1})
Wir haben vom Verfassungsgericht eine klare Regelung vorgegeben bekommen. Alle Leistungsberechtigten, die bisher Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsrecht bekommen haben, erhalten jetzt Leistungen
nach dem SGB II bzw. nach dem SGB XII. Das Verfassungsgericht hat sogar für die nicht rechtskräftigen Bescheide eine Rückwirkung zum Januar 2011 verfügt. Das
ist einmalig. Frau von der Leyen, so etwas kann man nur
als ordentliche Klatsche bezeichnen.
({2})
Auch die Leitsätze des Verfassungsgerichts lassen an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Würde des
Menschen ist nicht nur unantastbar; sie ist auch nicht
teilbar, weder nach Nationalitäten, weder nach Aufenthaltsstatus noch nach Dauer des Aufenthaltes. Die Höhe
des menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht
evident unzureichend sein und muss realitätsgerecht in
einem transparenten und sachgerechten Verfahren bestimmt werden. Da Sie damit schon bei der Festsetzung
der Regelsätze nach dem SGB II Probleme hatten, frage
ich mich, wie Sie ein Verfahren für nur 150 000 Leistungsberechtigte hinbekommen wollen. Da sind wir gespannt.
Wichtig ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht
gesagt hat: Wenn für unterschiedliche Personengruppen
unterschiedliche Methoden für die Feststellung des Bedarfs angewandt werden, muss dies sachlich begründet
sein. Das Existenzniveau muss sich an den hiesigen Lebensverhältnissen orientieren und nicht an denen des
Herkunftslandes. Das Verfassungsgericht sagt weiter:
Das menschenwürdige Existenzminimum
umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur
Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein
Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Leben.
Das sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes einheitlich zu sichernde Bedarfe.
Das Ob und das Wie der Festsetzung eines geringeren
Bedarfs bei existenznotwendigen Leistungen für Menschen mit einem vorübergehenden Aufenthaltsrecht in
Deutschland hängt allein davon ab, ob wegen eines kurzfristigen Aufenthaltes konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfeempfängern und Personen mit dauerhaftem
Aufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden können. Das Verfassungsgericht sagt auch
ganz klar, dass diese Minderbedarfe dann nicht mehr gerechtfertigt sind, wenn der tatsächliche Aufenthalt länger
dauert. Wie lange die Aufenthaltsdauer ist, wissen Sie
besser als ich. Insofern braucht man diesen klaren Ansagen des Bundesverfassungsgerichtes nichts hinzuzufügen.
Man fragt sich natürlich: Warum handelt diese Regierung nicht? Warum verstecken Sie sich hinter Nichtstun?
Es ist wahrscheinlich wie immer, dass sich die schwarzgelbe Koalition nicht auf eine gemeinsame Position verständigen kann. Dann ist es Ihnen auch relativ egal, ob
das Grundgesetz und die Grundrechte damit mit Füßen
getreten werden.
({3})
Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde - Herr
Lehrieder, das ist richtig - 1993 im Rahmen der Reform
der Asylgesetzgebung eingeführt - auch mit unseren
Stimmen; mit meiner persönlichen nicht, aber die Mehrheit meiner Fraktion hat damals zugestimmt. Allerdings
ist es auch richtig, dass der von der Union und der FDP
damals eingebrachte Gesetzentwurf zunächst einen unbefristeten Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehen hat und es auf unsere Intervention zunächst auf zwölf Monate begrenzt wurde.
Dann haben 1997 CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD-Bundestagsfraktion beschlossen, dass der
Betroffenenkreis ausgeweitet wird und dass die für eine
Dauer von drei Jahren eingeführte Kürzung der Sachleistungen und die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sogar unbefristet vorgenommen werden können.
2007 - da waren wir leider auch mit dabei - ist diese Regelung auf Ihren Wunsch von 36 auf 48 Monate ausgeweitet worden. Wir haben nur deshalb mitgemacht, weil
im Gegenzug Verbesserungen bei Altfallregelungen und
der Erteilung von Arbeitserlaubnissen erzielt wurden.
Ich bin froh, dass das Bundesverfassungsgericht die
Leitplanken in diesem Jahr ganz klar beschrieben hat.
Ich bin auch froh, dass es künftig nicht mehr möglich ist,
die Bezugsdauer der Verfahrensdauer anzupassen und
eine Sozialleistung, die das Existenzminimum absichert,
nahezu 20 Jahre unangepasst zu lassen.
({4})
Wir haben in unserem Antrag die Vorgaben des Verfassungsgerichtes aufgegriffen. Wir fordern die Bundesregierung auf, dass die Leistungen nach den Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichtes neu ermittelt werden.
Wir warten auf die Vorlagen. Wir fordern, dass Kinder
bis zur Volljährigkeit aus dem reduzierten Leistungsbezug auszunehmen sind. Die Kinder können am wenigsten dazu, dass sich ihre Eltern, aus welchen Gründen
auch immer, auf die Reise in ein fremdes Land gemacht
haben.
({5})
Wir wollen, dass alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Rechtsanspruch auf die Bedarfe
von Bildung und Teilhabe bekommen. Ich finde - Herr
Lehrieder hat das ja schon angedeutet, und ich hoffe,
dass das auch eine Mehrheitsmeinung in Ihrer Fraktion
ist -, dass zumindest für Kinder und Jugendliche das
Gebot der christlichen Nächstenliebe ausreichen sollte,
um ihnen eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu
gewähren.
({6})
Wir wollen die medizinische Versorgung sicherstellen
- das betrifft auch die psychologische Behandlung von
durch Vergewaltigung oder durch schwere Gewalttaten
traumatisierten Flüchtlingen -, und wir wollen den Kreis
- Frau Kollegin Hiller-Ohm hat das eben gesagt - der
Leistungsempfänger auf den ursprünglichen Kreis derjenigen, die um Asyl nachsuchen, eingrenzen und
beschränken. Außerdem wollen wir die Unterbringung
in Gemeinschaftsunterkünften nicht mehr zur Regel,
sondern zur Ausnahme machen. Schließlich wollen wir
den Arbeitsmarktzugang erleichtern, weil es in der Tat
besser ist, dass sich die Menschen durch ihrer Hände
Arbeit ernähren können statt durch eine soziale Transferleistung.
({7})
Im Übrigen, Frau von der Leyen, wollen wir auch die
Bezugsdauer auf zwölf Monate begrenzen.
Ich finde, es ist ziemlich peinlich, dass alle Oppositionsfraktionen eigene Vorschläge machen, während sich
die Regierung mal wieder in die Büsche schlägt. Ich
kann Ihnen nur zurufen: Wenn Sie nicht regieren
können, dann hören Sie einfach auf, so zu tun, als wenn
Sie regieren würden. Lassen Sie es bleiben. Ab dem
Herbst nächsten Jahres wird das sowieso nicht mehr der
Fall sein.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden am heutigen Vormittag in der Kernzeitdebatte über
das Asylbewerberleistungsgesetz.
({0})
Ich glaube, dies ist eine gute Gelegenheit, noch einmal
dankbar festzustellen, dass wir alle, die wir hier sitzen,
in einer Zeit leben, in der es glücklicherweise keine
Gründe gibt, ins Ausland zu gehen, um Asyl zu beantragen, weil es politische Verfolgung, rassische Verfolgung
oder religiöse Verfolgung in Deutschland gäbe.
({1})
Das sollte uns alle verbinden, und dafür sollten wir
dankbar sein. Das war nicht immer so in Deutschland.
Ich glaube, wir sind auch dankbar für jeden Einzelnen, der aus Deutschland hat fliehen müssen und der in
einem anderen Land Aufnahme gefunden hat.
({2})
Deshalb ist das Asylbewerberleistungsrecht ein sensibles
Thema. Es eignet sich auch nicht für pauschale Vorwürfe, vereinfachte Betrachtungen oder parteipolitische
Profilierung,
({3})
auch deshalb nicht, Frau Ferner, weil Sie ebenso wie wir
alle - mit Ausnahme der Linken, die glücklicherweise
noch nie Gestaltungsmöglichkeiten auf Bundesebene
hatten - an der Gesetzgebung, so wie sie gegenwärtig
vorliegt, aktiv beteiligt waren und wir alle den jetzigen
Zustand zu verantworten haben.
({4})
Zur Wahrheit, liebe Frau Ferner und liebe Grüne, gehört doch auch, dass es diese Bundesarbeitsministerin
Frau Dr. Ursula von der Leyen war, die mit Unterstützung dieser Regierungskoalition schon vor dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts aktiv auf die Länder
zugegangen ist,
({5})
um mit ihnen eine Neuordnung des Asylbewerberleistungsgesetzes auf den Weg zu bringen.
({6})
Es ist ein Ausweis von Fairness dieser Bundesarbeitsministerin und dieser Regierungskoalition, dass wir das
Gespräch mit den Ländern vorab gesucht haben; denn es
ist ja beim Asylbewerberleistungsgesetz so: Der Bund
beschließt, die Kommunen zahlen. Es ist ein Ausweis
von Fairness, das Gespräch mit den Ländern zu suchen,
um gemeinsam zu einer Regelung zu kommen.
({7})
Mir ist nicht zu Ohren gekommen, Frau Ferner, dass
ausgerechnet die Roten und die Grünen in den Ländern,
in denen sie Verantwortung tragen, versucht hätten, die
Gespräche durch konstruktives Mitwirken an Geschwindigkeit zu befördern und einer Lösung zuzuführen.
({8})
Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, und
wir als Regierungskoalition haben klargestellt, dass wir
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeitnah umsetzen werden.
({9})
Frau Ferner, der Unterschied zwischen dieser Regierungskoalition mit dieser Bundesarbeitsministerin und
Vorgängerregierungen ist allerdings, dass wir die Dinge
gründlich tun.
({10})
Gerade wenn es um Verfassungsgerichtsurteile und verfassungsrelevante Fragen geht, ist es notwendig, dass
man intensiv darüber berät
({11})
und eine Lösung zustande bringt, die nicht wenige
Wochen oder Monate später wieder vom Bundesverfassungsgericht kassiert wird.
({12})
Sie, liebe Frau Ferner, erinnern sich doch ganz besonders gut an die Debatte um das Arbeitslosengeld II.
Auch dazu gab es ein Bundesverfassungsgerichtsurteil,
und auch damals haben Sie immer auf Geschwindigkeit
gedrängt.
({13})
Wir haben gesagt: Hierüber muss man lange und klug
beraten, damit man kein Risiko eingeht und dem Willen
des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird.
Tatsache ist, dass bisher noch kein Gericht in
Deutschland die Lösung, die wir gefunden haben, kritisiert hat. Diese Lösung wurde allerseits begrüßt. Auch
das ist Zeichen einer guten Regierungspolitik - wie diese
Regierungskoalition sie zu leisten in der Lage ist -, nämlich dass wir uns ausreichend Zeit nehmen, dann aber
auch zu substanziellen Lösungen kommen, die Bestand
haben.
({14})
Klar ist - wir sind dem Bundesverfassungsgericht
dankbar, dass es das klargestellt hat -, dass das Asylrecht
ein Grundrecht ist und nicht durch migrationspolitische
Erwägungen relativiert werden darf. Das war auch nie
die Absicht dieser Bundesregierung. Dem werden wir
uns selbstverständlich verpflichtet fühlen.
Wir werden in Kürze Regelsätze zu Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz vorlegen, die transparent und nachvollziehbar berechnet sind und die jeder
Debatte und jeder Diskussion standhalten werden. Diese
Regelsätze werden hier beraten werden. Sie werden
sehen, dass das, was wir Ihnen vorlegen werden, in der
Sache überzeugend sein wird.
({15})
Wichtig ist aber auch - auch dazu bekennt sich diese
Bundesregierung -, dass die Gewährung von Asyl immer nur die zweite Wahl ist, wenn Sie so wollen.
Entscheidend ist vielmehr, dass wir die Situation der
Menschen in ihren Heimatländern so gut wie möglich
verbessern.
({16})
Auch da hat diese Bundesregierung mit Außenminister
Guido Westerwelle und Bundesentwicklungsminister
Dirk Niebel entscheidende Wegmarken gesetzt. Sie hat
die Entwicklungszusammenarbeit gerade unter
Menschenrechtsgesichtspunkten neu gestaltet und neu
ausgerichtet
({17})
und ist in einer Weise für die Menschenrechte in dieser
Welt verantwortlich tätig, wie es bisher jedenfalls nicht
der Fall war.
({18})
Wir werden im Zuge der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes auch über den Arbeitsmarktzugang
sprechen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass auf der europäischen Ebene eine Frist von neun Monaten im Grunde
schon konsentiert ist. Wir nehmen zur Kenntnis, dass die
Staatsministerin Frau Böhmer sich auch eine kürzere
Frist beim Arbeitsmarktzugang vorstellen kann. Wir
werden das in der Koalition diskutieren und dann eine
Lösung vorschlagen, die allen Beteiligten gerecht wird.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir sind
hier auf einem guten Weg, so wie es diese Bundesregierung in allen politischen Fragen ist.
({20})
Wir werden diese Regierungskoalition in Ruhe und mit
der notwendigen Sachlichkeit zu Ende bringen und ab
September auch wieder die Regierung stellen und die
gute Arbeit fortsetzen.
({21})
- Lieber Herr Trittin, dass Sie sich jetzt plötzlich zu
Wort melden, zeigt doch, dass Sie nervös werden. Das
freut mich. Wir machen eine gute Politik, Herr Trittin.
({22})
Sie werden noch länger von der Opposition aus zuschauen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was wir hier von den Rednern der Regierungsfraktionen
hören, offenbart ein wirklich historisches Ausmaß von
Verletzungen von Rechtstreue und von Ignoranz gegenüber dem Bundesverfassungsgericht.
({0})
Dieses Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz ist
von einer Klarheit, wie man sie nur selten antreffen
kann.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Die Leistungen sind evident unzureichend. Es hat sofortigen Handlungsbedarf angemeldet. Das Bundesverfassungsgericht
hat eindeutig klargestellt, dass die Grundaussage unserer
Verfassung: „Die Menschenwürde ist unantastbar“ für
den gesamten Geltungsbereich des Grundgesetzes gilt.
Das ist die entscheidende Rechtsgrundlage.
({2})
Dass Sie, Herr Lehrieder, hier wiederum mit dem
Asylrecht aus Art. 16 Grundgesetz als Grundsatz argumentieren, dass die Zwischenrufe von den Innenpolitikern der Union - ich habe sie gehört - einfach ignorieren, dass migrationspolitische Gründe für die
Bemessung des Existenzminimums keine Grundlage
sein dürfen - es ist wirklich unerhört, wie Sie mit der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umgehen.
({3})
Natürlich sind unsere Länder tätig geworden. Die rotgrün regierten Länder haben einen Antrag zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes in den Bundesrat eingebracht. Daraus kann man Sätze zitieren, denen
eigentlich nichts hinzuzufügen ist - ein entsprechender
Entschließungsantrag wird nachher zur namentlichen
Abstimmung stehen -:
Auch wenn sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts … in erster Linie zur Verfassungsgemäßheit der Höhe der Grundleistungssätze geäußert hat,
lassen die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts
nur den Schluss zu, dass die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes überfällig ist …
Vorher heißt es:
Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung
außerhalb der Sozialgesetzbücher für Leistungen an
Asylbewerber … besteht nicht mehr.
Wir reden hier nicht nur über Asylbewerber, die Bürgerkriegsflüchtlinge sind. Wir reden über Geduldete, bei
denen es handfeste Abschiebehindernisse gibt. Wir
reden über einen großen Kreis von Personen, deren
Menschenwürde Sie durch das fortgesetzte Ignorieren
des Verfassungsgerichtsurteils herabsetzen.
({4})
Über eine Sache müssen wir hier noch einmal reden;
ich kann Ihnen diesen wichtigen Punkt nicht ersparen:
Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen, haben keinen Zugang zu unserem Gesundheitssystem. Nur bei akuten Erkrankungen
und Schmerzzuständen gibt es Hilfe. Konkret heißt das:
keine Prävention, keine Untersuchungen; es muss schon
so schlimm sein, dass ein Krankenwagen kommt. Dann
erst gibt es Hilfe.
({5})
Überlegen Sie einmal, welche Situationen in Ihrem
Leben bei einer solchen medizinischen Versorgung ganz
anders hätten ausgehen können.
({6})
Vielleicht hätten dann einige gute Chancen, diese
Debatte aus dem Jenseits zu betrachten.
({7})
Besonders unmenschlich ist, dass die Bundesregierung die sogenannte EU-Aufnahmerichtlinie bewusst
nicht umsetzt. Auch deshalb wird von physischer,
psychischer oder sexueller Gewalt Betroffenen kein
Therapieanspruch garantiert; es soll ihn nur geben. Die
Menschen sind also auf den guten Willen angewiesen.
Knapp 20 Jahre nach Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes ist es Zeit, einen Schlussstrich zu
ziehen, Schluss zu machen mit einem Gesetz, das
Menschen ausgrenzt.
({8})
Auch Sie von den Sozialdemokraten haben die Chance,
dem Entschließungsantrag zuzustimmen, der den Text
der rot-grünen Landesregierungen eins zu eins wiedergibt.
({9})
Ich kann tatsächlich nicht verstehen, warum Sie das
nicht machen wollen; das ist mir wirklich unerklärlich.
Wir haben uns seit Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes für eine Änderung eingesetzt. Wir
standen in bestimmten Situationen, auch zu der Zeit, als
wir regiert haben, gegen eine komplette gesellschaftliche
Mehrheit. Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten während
der rot-grünen Regierungszeit nichts gemacht - ({10})
- Herr Wolff, Sie wissen, wie die Bundesratsmehrheiten
waren. Sie haben überhaupt nichts unternommen, und
jetzt stellen Sie sich hier hin und machen wohlfeile Vorwürfe. Das ist unredlich und schäbig.
({11})
Ich sage Ihnen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Berücksichtigen Sie das!
({12})
Das Wort hat nun Hans-Peter Uhl für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Das linke Lager hier im Hause fordert mit lautem Gebrüll: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss
weg.
({0})
Das war sehr eindrucksvoll.
Vielleicht ist es gut, dass es in diesem Parlament einige gibt, die sich noch daran erinnern können, wie dieses Gesetz entstanden ist,
({1})
ungetrübt und nicht von einem etwas selektiven Wahrnehmungsvermögen geprägt wie bei Frau Marieluise
Beck; sie kann sich nur noch an einen Teil erinnern.
({2})
Ich erinnere mich deswegen sehr genau, weil ich in den
90er-Jahren für die Unterbringung von Zehntausenden
Asylbewerbern in München verantwortlich war. Ich
weiß noch, wie der SPD-Oberbürgermeister Kronawitter
und ich beieinandersaßen und gerätselt haben: Wie
schaffen wir es, dass es zu einer Grundgesetzänderung
und zur Schaffung des damit zusammenhängenden Asylbewerberleistungsgesetzes kommt?
({3})
Wir, ein vernünftiger SPD-Oberbürgermeister und ich,
wir von der CSU waren uns einig. Erst als es ihm gelang,
meine Damen und Herren von der SPD - Frau Ferner
kann sich daran erinnern; das habe ich gerade bei ihrer
Rede gemerkt -, dass Oberbürgermeister aus den RheinRuhr-Städten mit ihm zusammen an einem Strang zogen
und gesagt haben: „So kann es mit dem ungelösten
Problem des zehntausendfachen Asylmissbrauchs nicht
weitergehen; die Republikaner sind in den Landesparlamenten erstarkt; so kann es nicht weitergehen; wir arbeiten ja den Rechtsradikalen zu“, erst als der vernünftige
Teil der SPD das erkannt hat, kam es zum Asylbewerberleistungsgesetz, und das wollen Sie abschaffen.
({4})
Ich möchte nicht das Geschäft der Rechtsradikalen
betreiben.
({5})
Ich bedanke mich bei Frau Ferner, dass sie an die Genesis dieses Gesetzes erinnert hat. Die Grünen fordern:
Wer diskriminiert wird auf dieser Welt, muss nach
Deutschland kommen dürfen - das hat Frau Künast hier
gesagt -, und das - nach Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes - mit Anspruch auf die volle Sozialhilfe. Es wäre gut, Sie würden den Wählern mitteilen, was sie bekommen, wenn sie Grün wählen.
({6})
Die Residenzpflicht ist von uns gesetzlich geändert
und in die Obhut der Länder gelegt worden. Auch in diesem Zusammenhang ist es gut, mit der Heuchelei aufzuhören und die Dinge beim Namen zu nennen. Die Residenzpflicht ist gelockert worden. Das heißt, die Länder
können mit ihren Nachbarländern Abkommen darüber
schließen, dass ein Asylbewerber ins Nachbarland gehen
kann.
({7})
- Das tun sie auch. - Aber als Brandenburg den Antrag
stellte, dass Brandenburger Asylbewerber auch nach
Berlin gehen können, hat Herr Wowereit darauf mit einem schroffen Nein geantwortet.
({8})
So viel zum Thema Heuchelei.
({9})
Als Niedersachsen beim Hamburger Bürgermeister Olaf
Scholz angeklopft hat: „Dürfen unsere Asylbewerber angesichts der Lockerung der Residenzpflicht auch in die
Nachbargroßstadt Hamburg kommen?“, hat Herr Scholz
darauf mit einem schroffen Nein geantwortet. So viel
zum Thema Heuchelei.
({10})
Auch der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt ab dem
ersten Tag, ab Ankunft in Deutschland, wird im linken
Lager diskutiert. Es gibt Menschen, die sich Sorgen um
unsere Arbeitslosen machen, die sich freuen, dass es
nach neuesten Zahlen nur noch 2,7 Millionen sind. Aber
auch das ist zu viel. Wir haben eine Schutzfunktion gegenüber unseren Arbeitslosen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Billiglöhner aus aller Herren Länder zu uns
kommen, um hier zu arbeiten.
({11})
Die Gemeinschaftsunterkunft ist eine vernünftige
Einrichtung, und zwar deswegen, weil bei einem Asylverfahren nicht klar ist, ob der Bewerber bleiben kann
oder nicht. Die derzeitigen Zahlen besagen, dass 99 Prozent der Ankommenden aus Mazedonien oder Serbien
nicht bleiben dürfen. Deswegen ist es wichtig, dass sie
sich in der Gemeinschaftsunterkunft aufhalten, nicht untertauchen können und von der Verwaltung dort sofort
angetroffen werden können, um ausgewiesen zu werden.
({12})
Das ist der Sinn der Gemeinschaftsunterkunft. Diese Regelung ist vernünftig.
Auf das Thema Sachleistungen wird sicher noch eingegangen.
Ich meine, wir sollten das Asylbewerberleistungsgesetz nicht abschaffen. Wir sollten klarmachen, dass jeder
Rechtsstaat Ausländergesetze hat und zwischen Inländern und Ausländern unterscheidet. Er regelt, wer aus
dem Ausland ins Land kommen darf und wer aus dem
Ausland bei uns bleiben darf. Die Ausnahme von dieser
Regel ist das Asylrecht; denn der zivilisierte Rechtsstaat,
der die Menschenwürde achtet, sagt: Wer politisch, rassisch oder religiös verfolgt ist, der darf ausnahmsweise
kommen und bleiben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Frau Kollegin Bulling-Schröter?
Ja, von mir aus.
Sie haben die Formulierung gehört. Das hat übersetzt
ein Ja bedeutet.
({0})
Ein lustloses Ja.
Danke schön, Herr Uhl. - Sie haben gesagt: Wir wollen unsere Jugendlichen vor den Billiglöhnern aus dem
Ausland schützen. Ich habe genau zugehört, und ich
kann auch bayerisch.
({0})
Ich glaube, wir alle wollen Jugendliche vor Billiglohn
schützen; im Übrigen möchte ich auch Ältere davor
schützen. Ich frage Sie daher: Wieso führen wir dann
nicht gemeinsam einen Mindestlohn oder zumindest eine
Mindestlohnuntergrenze ein?
({1})
Sie wissen genauso gut wie ich, dass sich Menschen,
die illegal bei uns arbeiten, nicht wehren können. Sie haben keine Chance. Es gibt immer mehr davon. Auch in
der Oberpfalz gibt es viele Vorfälle mit ausländischen
Firmen, zum Beispiel aus Ungarn, die Menschen dazu
bringen, für 3,50 Euro zu arbeiten. Das ist den Behörden
bekannt; sie tun aber nichts dagegen. Warum gehen Sie
nicht auch gegen solche Dinge vor, wenn Sie so viel kritisieren?
({2})
Wenn ich gewusst hätte, dass Sie diese alte, etwas abgegriffene Schallplatte vom flächendeckenden Mindestlohn bringen, hätte ich die Frage natürlich nicht zugelassen.
({0})
Ein flächendeckender Mindestlohn ist mit Sicherheit
nicht die Lösung unserer Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Im Einzelfall können Mindestlöhne sinnvoll sein.
Ein flächendeckender Mindestlohn, den Sie fordern, ist
aber nicht die Lösung.
Im Übrigen wissen wir doch genau, wie die Dinge
laufen, Frau Kollegin. - Wenn Sie bitte stehen bleiben,
dann kann ich kurz auf den Irrglauben, dass der Mindestlohn das Allheilmittel ist, eingehen. - Die Wirklichkeit
sieht doch ganz anders aus: Wir haben einen ständig
wachsenden Schwarzarbeitsmarkt, auf dem eine Vielzahl von Menschen, die unqualifiziert oder schlecht qualifiziert sind, unangemeldet arbeitet. Da können Sie mit
Ihren Mindestlohnregeln überhaupt nichts erreichen.
({1})
Man muss vielmehr dafür sorgen, dass auf den Großbaustellen eine bessere Überwachung stattfindet. Selbst im
Bereich der öffentlichen Hand wird mit Schwarzarbei25672
tern gearbeitet. Dieses Problem müssen wir angehen,
aber nicht mit Ihrem Mindestlohn; denn der würde im
Grunde nur auf dem Papier existieren. Das ist nicht das
Thema.
({2})
Ich glaube, wir sollten uns daran erinnern, dass es Zeiten gab, in denen wir nicht nur annähernd 100 000 Asylbewerber hatten - in diesem Jahr werden wir wohl annähernd so viele Asylbewerber haben -, sondern über
400 000 Asylbewerber.
({3})
Wir sollten uns daran erinnern, dass wir aus diesem
Grund das Grundgesetz geändert haben. Aus diesem
Grund haben wir auch dieses Gesetz geschaffen. Das
Gesetz war segensreich für Deutschland, es war segensreich für den sozialen Frieden, und es hat uns von SPD,
CDU/CSU und FDP den Rechtsextremismus gemeinsam
bekämpfen lassen. Deshalb sollten wir daran festhalten.
({4})
Vielen Dank, Kollege Hans-Peter Uhl. - Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Rüdiger Veit. Bitte schön, Kollege Rüdiger Veit.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal will ich eine Sache klarstellen: Der Kollege Dr. Uhl hat von den vernünftigen SPD-Kommunalpolitikern gesprochen. Er meinte damit diejenigen, die
für den Asylkompromiss gewesen sind. Im Sinne Ihrer
Definition war ich damals ein unvernünftiger Kommunalpolitiker,
({0})
weil ich dafür Sorge getragen haben, dass sich der SPDLandesparteitag in Baunatal gegen den Asylkompromiss
ausgesprochen hat.
({1})
Zu der praktischen Seite kommen wir nachher, Herr
Grindel.
Man langweilt sich ja schon fast selber, wenn man Ihnen hier immer das Gleiche erzählen muss.
({2})
Ich habe aber gehört, dass die Pädagogik es als ganz
wichtiges Element der Vertiefung ansieht, den Lernstoff
zu wiederholen.
({3})
Auch wenn ich kein Pädagoge bin, muss ich das einmal
mehr tun und Ihnen zur Residenzpflicht Folgendes sagen: Am letzten Mittwoch haben wir Parlamentarier ein
Gespräch mit etwa 40 Sachbearbeitern und Leitern von
Ausländerbehörden geführt; das war kurz nach dem Gespräch mit den Flüchtlingen. Ihre erste Frage lautete:
Wann schafft ihr endlich die Residenzpflicht ab?
({4})
Warum sie das gefragt haben? Das haben sie uns gleich
gesagt: Sie sehen es in der Praxis als unnötigen Verwaltungsaufwand an, jede Entfernung eines zur Residenzpflicht verpflichteten Ausländers aus dem Zuständigkeitsbereich ihrer Ausländerbehörde extra genehmigen
zu müssen. Die Praktiker haben das abgelehnt, weil das
umständlich und zu teuer ist.
({5})
Das sehen offenbar auch einige Bundesländer so - das
ist hier vielleicht noch nicht bekannt -: Von den 16 Bundesländern haben mittlerweile 10 die Residenzpflicht abgeschafft bzw. innerhalb des jeweiligen Bundeslandes
gelockert. Herr Kollege Grindel, Ihnen sage ich mit besonderer Bitte um Aufmerksamkeit: Ihr Bundesland Niedersachsen, bekanntlich nicht von Rot-Grün regiert, hat
diese Änderung zum 30. Januar 2012 beschlossen. Es
hat gesagt: Die Betreffenden dürfen sich im gesamten
Land aufhalten. - Letzte Woche Mittwoch hat sogar
Hessen beschlossen - das ist eines der zehn Länder -,
die Residenzpflicht von den Regierungsbezirken auf das
ganze Land auszudehnen.
Einige Ausführungen muss ich bei dieser Gelegenheit
noch einmal richtigstellen, obwohl das, wie gesagt, langsam mühsam ist. Viele von Ihnen verwechseln die Frage
der Wohnsitznahme mit der Residenzpflicht.
({6})
- Natürlich kann man das trennen, Herr Kollege Grindel.
Das offenbart Ihre Sachunkenntnis. - Wenn ich Menschen eine Wohnung in einem bestimmten Bundesland,
in einem bestimmten Kreis, in einer bestimmten Gemeinde zuweise, dann ist das das eine. Dort ist dann die
ladungsfähige Anschrift, dorthin kann ich Bescheide zustellen. Gleichzeitig aber zu sagen: „Ihr dürft niemals
diesen Landkreis oder diese kreisfreie Stadt verlassen,
egal aus welchem Grund“, ist das andere. Das ist unnötig, und das ist Schikane.
({7})
Ich will noch einige Worte zum Asylbewerberleistungsgesetz verlieren. Wir können dem Antrag der Grünen leider deshalb nicht zustimmen, weil wir eine Modifikation des Gesetzes vorschlagen, mit der aber möglich
bleibt, dass die Betreffenden in den ersten sechs Wochen
bis maximal drei Monaten in Gemeinschaftsunterkünften bleiben. Wir tun das nicht aus Schikane, sondern
weil wir glauben, dass es für Menschen dann, wenn sie
aus einem völlig anderen Kulturkreis kommen, besser
ist, sich zunächst einmal unter zeitnaher und räumlich
enger Beratung und Anleitung zu orientieren.
({8})
Im Übrigen erleichtert dies die spätere Verteilung auf
normale Wohnquartiere. - Damit das klar ist: Wir haben
einen eigenen Gesetzentwurf. Deshalb stimmen wir Ihrem Antrag nicht zu.
({9})
Herr Tauber, wir sind aber ganz klar dagegen, dass
Menschen ausgebeutet werden. Gestern waren wir mit
einer Delegation aus unserer Fraktion in Neukölln. Wissen Sie, was wir dort zum Thema Ausbeutung gehört
haben? Dort gibt es jemanden, der in Neukölln in erheblichem Umfang Häuser erworben hat, um sie vorzugsweise an Roma zu vermieten und einen maßlosen Profit
zu erzielen.
({10})
- Der Kollege Grindel sagt Ja. Vorsicht! Ich komme
noch dazu, wer das war. - Der Betreffende vermietet sozusagen Matratzen für teures Geld. Zum Thema „Wahrhaftigkeit und Heuchelei“ will ich Ihnen jetzt sagen, wer
das ist. Der Mann heißt Thilo Peter. Er war CDU-Verordneter in der Bezirksversammlung Charlottenburg, bis
er dieses Mandat unter dem öffentlichen Druck, sich an
Flüchtlingen bereichern zu wollen, niedergelegt hat.
({11})
So viel zu den Fingern der eigenen Hand, die auf einen
selbst zeigen.
({12})
- Nein, Sie werden nicht alle solche Mietshäuser haben.
Das macht aber deutlich, in welcher Weise das Schicksal
von Flüchtlingen ausgebeutet werden kann.
Herr Grindel, zum Thema Sachleistungen will ich Ihnen noch einen anderen Widerspruch vorhalten. Laut
Verlautbarungen der Passauer Neuen Presse vom
23. November hat es den bayerischen Innenminister,
Herrn Herrmann, umgetrieben. Er hat gesagt: Asylbewerbern Geldleistungen zu gewähren, wäre wie Benzin
ins Feuer gießen. Die Abschaffung oder Modifikation
des Asylbewerberleistungsgesetzes wäre politischer
Wahnsinn. - Ich frage Sie: Wer hat das verfasst? Das waren doch keine Wahnsinnigen. Das ist die Koalitionsvereinbarung von FDP und CDU/CSU.
({13})
Da steht sinnvollerweise:
Das Asylbewerberleistungsgesetz werden wir im
Hinblick auf das Sachleistungsprinzip evaluieren.
Das ist eine gute Idee. Machen Sie das! Sie werden zu
den gleichen Ergebnissen kommen wie wir.
({14})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf einen
Gesichtspunkt muss ich aufgrund eigener Erfahrungen
aus der Zeit Anfang der 90er-Jahre, als die drei großen
Migrationswellen Asylbewerber, Spätaussiedler und
Übersiedler aus der vormaligen DDR zu uns ins Land
kamen, hinweisen: Die Unterbringung in Wohnungen
und die Gewährung von Geldleistungen statt Sachleistungen, Gutscheinen und anderem Unsinn, den es da
gab, ist allemal billiger. Diese persönliche Erfahrung
habe ich als Landrat im Haushalt meines Kreises gemacht. Wenn aus Ihren Reihen jetzt der Wunsch kommt,
man möge das beibehalten, die Gemeinschaftsunterkünfte seien gut und richtig und man bräuchte sie in
Bayern zur Abschreckung vielleicht in ganz besonderem
Maße, dann kann ich Ihnen nur sagen: Ich halte es nicht
für verantwortbar, öffentliches Geld vermehrt und überflüssigerweise dafür einzusetzen, um Menschen zu schikanieren. Deshalb gehört dieses Gesetz modifiziert oder
sogar abgeschafft.
({15})
Vielen Dank, Kollege Rüdiger Veit. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Reinhard Grindel. Bitte schön, Kollege Reinhard
Grindel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Künast, Sie haben den Bundesinnenminister wegen seiner Äußerungen zum Asylmissbrauch
durch Roma angegriffen
({0})
und haben gesagt, das seien böse Unterstellungen.
({1})
Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, und
die Wirklichkeit ist, dass von den Asylbewerbern dieses
Jahres, die aus Serbien zu uns gekommen sind, 95 Prozent Roma sind; bei den Bulgaren beträgt der Anteil
85 Prozent. Die Ablehnungsquote liegt bei über 99,5 Prozent. Asylmissbrauch in diesem Bereich ist Realität. Ich
sage Ihnen: Die Integration in Deutschland - das muss
eine der Lehren aus der Debatte sein - gerät in Gefahr,
wenn wir uns durch eine ungesteuerte Zuwanderung zusätzliche Probleme im Bereich der Integration nach
Deutschland holen. Dadurch werden wir auch insgesamt
unserer Verantwortung gegenüber den Ausländern, die
seit Jahren bei uns leben und ein Anrecht auf Integration
haben, nicht gerecht. Das sage ich ganz deutlich.
({2})
Frau Künast, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Natürlich ist das Leben von Roma auf dem Balkan beschwerlich. Deswegen hat die EU sowohl für Rumänien
und Bulgarien als auch für Serbien und Mazedonien Hilfen in Milliardenhöhe zur Verfügung gestellt. Das Problem ist, dass diese Hilfen viel zu zurückhaltend in Anspruch genommen werden. Wir als Union sagen: Hilfe
für die Roma und Sinti ist richtig; aber die Hilfe muss
vor Ort in ihrer Heimat stattfinden. Das können wir nicht
in der Bundesrepublik Deutschland leisten. Das ist der
falsche Weg.
Sie, Frau Kollegin Beck, haben gesagt, die Zugangszahlen der Asylbewerber 1992 beruhten auf der Situation auf dem Balkan. Das ist nicht richtig. Im Jahr 1992
- ich habe mir die Zahlen gerade noch einmal angesehen - kamen 103 000 Asylbewerber aus Rumänien und
31 500 Asylbewerber aus Bulgarien. Fast alle von ihnen
waren Roma. Das viel Wichtigere ist: 1995, nur drei
Jahre später, kamen 3 000 Asylbewerber aus Rumänien
und 1 000 Asylbewerber aus Bulgarien zu uns, obwohl
sich an der politischen Situation in diesen Ländern nichts
ernsthaft geändert hatte. Die Gründe waren die hier
schon angesprochene Grundgesetzänderung
({3})
und ein Rückführungsabkommen mit Rumänien. Kürzere Verfahren haben geholfen. Es hatte sich vor Ort herumgesprochen, dass es nichts bringt, Schleppern und
Schleusern Geld zu geben, weil man sich nur wenige
Wochen in Deutschland aufhalten kann. Das muss die
Lehre für die aktuelle Debatte sein. Mich besorgt der Zustrom von Asylbewerbern aus Serbien und Mazedonien.
Wir brauchen kurze Verfahren. Es muss sich in der Heimat herumsprechen, dass es keinen Sinn macht, Schleppern und Schleusern das Geld in den Rachen zu werfen;
({4})
denn man kann nicht lange in Deutschland bleiben. Das
ist die richtige Reaktion.
Nun will ich Ihnen eines sagen: Frau Jelpke hat hier
im Zusammenhang mit der Diskussion über das Sachleistungsprinzip die Kinder angesprochen. Bei dem
Thema können wir gerne einmal bleiben und uns die
Frage stellen, wie es denn den Kindern aus diesen Familien, die zu uns kommen, geht. Seien wir ehrlich: Wir
brauchen nur einmal in die Großstädte in unserem Land
zu schauen. Dort sehen wir, wie die Kinder - das haben
Journalisten recherchiert - zum Teil vollgepumpt mit
Psychopharmaka ihr Dasein fristen. Das Sachleistungsprinzip wollen auch wir; denn es sichert, dass die ganze
Familie versorgt wird. Die Sozialleistung, Frau Jelpke,
ist nicht nur für Väter und Schleuser. Wir müssen alle,
die in unserem Land sind, anständig versorgen. Das ist
Menschenwürde.
({5})
Das schließt gerade Kinder und Frauen mit ein; sie profitieren vom Sachleistungsprinzip. Das ist die Wahrheit.
({6})
Angesichts der Forderungen nach Abschaffung des
Asylbewerberleistungsgesetzes und der Residenzpflicht
in Deutschland möchte ich auf eines aufmerksam machen: Natürlich hätte dies Konsequenzen für die Lastenverteilung. Natürlich wäre die Folge, dass die Asylbewerber in die Städte gehen, die ohnehin besonders
belastet sind; der Zustrom würde nicht mehr gesteuert
werden. Was nicht geht, ist, dass im Lokalteil der Zeitungen steht, dass rot-grün regierte Kommunen den
Bund auffordern, jetzt etwas zu tun, um bei den Unterbringungsproblemen zu helfen und den ungesteuerten
Zustrom von Asylbewerbern zu begrenzen, und im Bundesteil der Zeitungen steht, dass Rot-Grün fordert, das
Asylbewerberleistungsgesetz und die Residenzpflicht
abzuschaffen
({7})
und damit die Zuwanderung noch weniger zu steuern.
Diese Doppelzüngigkeit ist nicht in Ordnung, und sie
kritisieren wir.
({8})
Natürlich ist es richtig: Wenn wir die Residenzpflicht
nicht hätten, dann gäbe es keine Nachfragemöglichkeiten der Ausländerbehörden, dann gäbe es keine kurzen
Verfahren, und dann gäbe es Probleme bei der Rückführung. Ich sage das nicht in Richtung der SPD, sondern
insbesondere an Herrn Kurth und die Vertreter der Linken gerichtet: Ihnen geht es in Wahrheit um eine ungesteuerte Zuwanderung. Sie wollen eine Politik nach dem
Motto: Wer politisch verfolgt ist, der darf in Deutschland
bleiben, und wer nicht politisch verfolgt ist, der darf
auch in Deutschland bleiben. - Das macht Integrationspolitik unmöglich, um Ihnen das einmal ins Stammbuch
zu schreiben.
({9})
Wir müssen das Umfeld unserer Debatte betrachten.
Wir haben - darüber ist in dieser Diskussion überhaupt
noch nicht gesprochen worden; Herr Veit hat dieses
Thema mit dem Beispiel aus Neukölln gestreift - einen
Zustrom von Roma aus Rumänien und Bulgarien zu verzeichnen. Leute kommen mit vorgefertigten Kindergeldanträgen und Anträgen auf Gewerbezulassung nach
Deutschland, und sie haben einen Schlafplatz. Das ist organisierte Kriminalität, die sich in Deutschland täglich
abspielt,
({10})
der wir wegen der Freizügigkeit aber kaum etwas entgegensetzen können.
Ich sage Ihnen: Wenn wir jetzt nichts gegen den Zustrom von Asylbewerbern aus Serbien und Mazedonien
tun, die wegen der Visafreiheit ungesteuert zu uns kommen können, dann wird die Integrationspolitik schwierig. Dann werden wir insbesondere Schwierigkeiten haben, die Roma und diejenigen aus Rumänien und
Bulgarien, die bei uns sind und auf Dauer bei uns bleiben werden, so zu integrieren - das gilt gerade für die
Kinder und die Mütter -, wie es ihrem Anspruch entspricht und wie es soziale Verpflichtung in unserem
Land ist. Wir müssen uns der ganzen Tragweite des Problems ein bisschen sachlicher nähern, als es insbesondere Grüne und ganz Rote hier gemacht haben.
Herzlichen Dank.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die nächste
Rednerin, Kollegin Heike Brehmer, verdient unsere Aufmerksamkeit. Sie ist die letzte Rednerin vor der Abstimmung. Ich bitte Sie sehr herzlich, ihr zuzuhören. - Bitte
schön, Frau Kollegin Heike Brehmer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, so
steht es in Art. 16 a Abs. 1 unseres Grundgesetzes geschrieben. Lassen Sie mich deshalb gleich zu Beginn
meiner Ausführungen etwas Entscheidendes deutlich
machen: Das Recht auf Asyl - darüber dürften sich alle
Anwesenden in unserem Hohen Haus einig sein - ist ein
wesentliches Grundrecht unserer Verfassung. Menschen,
die aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt
werden, sollen sich in Deutschland auf das Asylrecht berufen können. Allein im Zeitraum von Januar bis Oktober 2012 wurden in Deutschland 50 344 Erstanträge auf
Asyl gestellt; das sind 13 761 Anträge mehr als im Vorjahr. Das geht aus dem aktuellen Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hervor. Im EU-weiten
Vergleich liegt Deutschland damit an der Spitze.
Dem Recht auf Asyl begegnen wir mit einem hohen
Maß an politischer Verantwortung.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, den
Grünen und den Linken, aus dem Kern Ihrer Anträge
geht diese politische Verantwortung nicht hervor. Im
Kern Ihrer Anträge stehen die Reformierung oder Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und die
Aufhebung der Residenzpflicht für Asylsuchende und
Geduldete.
Wir haben hier im Deutschen Bundestag in den vergangenen Monaten bereits viele umfassende Debatten zu
diesem Thema durchgeführt. Sie kritisieren das Asylbewerberleistungsgesetz bereits, seit es 1993 eingeführt
wurde. Zur Wahrheit gehört, dass es zu Zeiten der rotgrünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 keinerlei
Initiativen zum Asylrecht gegeben hat.
({1})
In diesen sieben Jahren haben Sie das Asylbewerberleistungsgesetz unangetastet gelassen. Das sollte hier einmal
gesagt werden.
({2})
Verehrte Kollegen von den Grünen, Sie bezeichnen
das Asylbewerberleistungsgesetz in Ihrem Antrag als
diskriminierend. Ich möchte noch einmal betonen, dass
Sie sich in der Zeit, als Sie Regierungsverantwortung
trugen, nicht um die Regelsätze für die Asylbewerber
und Geduldete geschert haben.
({3})
Mein Kollege Dr. Uhl hat bereits darauf hingewiesen
- zur Erinnerung wiederhole ich es -: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist kein überflüssiges und unverhältnismäßiges Gesetz, wie Sie es in Ihrem Antrag bezeichnen.
Im Gegenteil: Das Gesetz wurde 1992 auf den Weg gebracht, zu einer Zeit, als erstmals über 400 000 Menschen
einen Antrag auf Asyl stellten. 95 Prozent dieser Anträge
wurden damals abgelehnt. Um einem Missbrauch des
Asylrechtes vorzubeugen, einigten sich CDU/CSU, FDP
und SPD gemeinsam im Dezember 1992 im damaligen
Asylkompromiss auf Regelungen zum Mindestunterhalt
von Asylbewerbern. Kurz darauf folgte das Asylbewerberleistungsgesetz. Dieses Gesetz war ein richtiger und
wichtiger Ansatz.
Nun wollen Sie die bestehenden Regelungen nicht
nur ändern, sondern sich selbst übertreffen. Sie wollen
das Asylbewerberleistungsgesetz aufheben und bewährte Regelungen für Asylsuchende und Geduldete abschaffen. Sie wollen sich - ganz einfach - in einem
1 000-Meter-Lauf dreimal selbst überholen. Das wurde
in Ihren Redebeiträgen mehr als deutlich.
Der Antrag der SPD ist wohl der am weitestgehenden
ausformulierte Antrag. Darin gehen Sie auf das Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Juli 2012 ein.
Sie formulieren zunächst richtigerweise:
Der Gesetzgeber hat ein Einschätzungsvorrecht. Er
muss aber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten Verfahren ermitteln. Die
zugrunde liegenden Berechnungen muss er nachvollziehbar offenlegen.
Ich kann mich noch ganz genau an die Erarbeitung
der Hartz-IV-Regelsätze und des Bildungs- und Teilhabepaketes erinnern, als es darum ging, wie das Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes umgesetzt werden kann. Es
waren damals sehr zähe und lange Verhandlungen, bei
denen sich die Kollegen der Grünen - anders als die Kollegen der SPD - am Ende aus der Verantwortung gestohlen haben.
({4})
Wie Sie wissen, hat das Bundesverfassungsgericht am
18. Juli 2012 ein wichtiges Urteil im Asylrecht gefällt.
Die SPD hat dazu in der Begründung ihres Antrags weiter ausgeführt:
Das Verfahren muss sachgerecht, realitätsgerecht
sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren
bemessen sein. Insbesondere muss er offenlegen,
auf Grundlage welcher Zahlen er ein im Grundsatz
taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat und,
falls er im Einzelnen von diesem Verfahren abweicht, dies rechtfertigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden das Urteil
der Karlsruher Richter umsetzen und dazu einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Die Verantwortung
liegt vor Ort in den einzelnen Bundesländern. Diesem
Gesetz - das wurde schon gesagt - muss der Bundesrat
zustimmen.
Ich erinnere noch daran, dass die rot-grün geführten
Bundesländer derzeit im Bundesrat die milliardenschweren Steuerentlastungen blockieren, welche unsere Bürgerinnen und Bürger um 6 Milliarden Euro entlasten würden. Sie müssen den Bürgern erklären, warum Sie das
Asylbewerberleistungsgesetz im Eiltempo einbringen
wollen und die steuerlichen Entlastungen für unsere Bürger blockieren.
({5})
Frau Kollegin, Sie denken an die Redezeit? Bitte
kommen Sie zum Schluss.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss kurz auf die Residenzpflicht eingehen.
Zum Schluss!
Liebe Frau Künast, Sie sind in Baden-Württemberg in
der Regierungsverantwortung. Dort ist die Residenzpflicht teilweise gelockert. Fangen Sie doch dort an, wo
Sie Verantwortung haben!
Meine Damen und Herren, wir lehnen die Anträge
von den Linken, von den Grünen und von der SPD ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 17/11663, 17/11589 und 17/11674 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Vorlage auf Drucksache 17/11663 - Tagesord-
nungspunkt 4 a - soll federführend an den Innenausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor wir zur namentlichen Abstimmung kommen,
kommen wir noch zu einer anderen Abstimmung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Aufhe-
bung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10198, den
Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1428 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um Handzei-
chen. - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der So-
zialdemokraten. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Keine.
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11707. Wir stimmen über den Entschlie-
ßungsantrag auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men. Ich weise darauf hin, dass zur Abstimmung auch
schriftliche Erklärungen vorliegen.1)
Vorne links fehlen noch Schriftführer. - Nun sind alle
Plätze an den Urnen besetzt. Ich eröffne die Abstim-
mung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2) - Darf ich Sie jetzt herzlich bitten, die
Plätze wieder einzunehmen?
Wir setzen die Abstimmungen fort.
Tagesordnungspunkt 4 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Menschenwürdiges
Existenzminimum für alle - Asylbewerberleistungsge-
setz abschaffen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10198, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/4424 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! -
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 3 b. Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und
Geduldete“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 25681 D
Vizepräsident Eduard Oswald
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11716, den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5912 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das
sind die Sozialdemokraten und die Bündnis 90/Die Grü-
nen. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 51 a bis 51 g sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 c auf:
51 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Aktiengesetzes ({0})
- Drucksache 17/8989 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Protokoll vom 16. Mai 2012 zu den Anliegen
der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon
- Drucksache 17/11367 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})-
Auswärtiger Ausschuss -
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes
- Drucksache 17/11368 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung versicherungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/11469 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({4})-
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitsrechts
({5})
- Drucksache 17/11632 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({6})-
Innenausschuss -
Sportausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Kultur und Medien -
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Cornelia Behm, Harald Ebner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Haltungsbedingungen für Puten verbessern
- Drucksache 17/11667 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Cornelia Behm, Dorothea
Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Havarie des Containerschiffs MSC Flaminia Aus den Fehlern von Seeunfällen lernen
- Drucksache 17/11668 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Markus Tressel, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verkehrsträgerübergreifende Fahrgastrechte
stärken
- Drucksache 17/11375 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({8})Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Tourismus -
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner
Simmling, Birgit Homburger, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Projektbeiratsbeschluss bei der Rheintalbahn
umsetzen
- Drucksache 17/11652 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Tourismus -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktionsplan Soziale Sicherung - Ein Beitrag
zur weltweiten sozialen Wende
- Drucksache 17/11665 25678
Vizepräsident Eduard Oswald
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist.
Zusatzpunkt 4 a. Interfraktionell wird Überweisung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11375 zu verkehrsträgerübergreifenden
Fahrgastrechten an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist je-
doch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
wünschen Federführung beim Rechtsausschuss. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtwicklung,
abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist
abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federfüh-
rung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Op-
positionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Über-
weisungsvorschlag ist angenommen.
Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen.
Das sind die Tagesordnungspunkte 51 a bis 51 g sowie
die Zusatzpunkte 4 b und 4 c. Interfraktionell wird vor-
geschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ha-
ben wir dies so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 52 sowie die Zu-
satzpunkte 5 a bis 5 e auf. Es handelt sich um Beschluss-
fassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache
vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 52:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Heinz Paula,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Ag-
rarstruktur und des Küstenschutzes an ak-
tuelle Herausforderungen anpassen
- Drucksache 17/11653 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Das ist die Fraktion
der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das sind
die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke.
Enthaltungen? - Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Der Antrag ist abgelehnt.
Zusatzpunkt 5 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Dem Antrag Palästinas auf erweiterten Be-
obachterstatus in der UNO zustimmen
- Drucksache 17/11678 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Frak-
tion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialde-
mokraten. Der Antrag ist abgelehnt.
Zusatzpunkte 5 b bis 5 e:
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({13})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11618 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Jörg van Essen
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({14})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11619 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Jörg van Essen
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({15})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11620 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Jörg van Essen
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({16})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11621 Berichterstattung:Abgeordneter Jörg van Essen
Zunächst erteile ich nach § 31 der Geschäftsordnung
unserem Kollegen Dr. Diether Dehm das Wort. Bitte
schön, Kollege Dr. Diether Dehm.
({17})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich werde gegen den Antrag zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen meinen Fraktionskollegen Jan
van Aken und andere stimmen und mich auch weiterhin
dagegen einsetzen; denn der Vorwurf, wonach das Unterzeichnen der „Castor Schottern!“-Erklärung einen
Aufruf zu einer Straftat darstellt, ist juristisch unhaltbar.
({0})
Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern
offensichtlich auch die der Staatsanwaltschaft Lüneburg,
die den Unterzeichnern, unter anderem Jan van Aken,
Inge Höger, Sevim Dağdelen und mir, zwischenzeitlich
angeboten hat, gegen Zahlung einer Spende das Ermittlungsverfahren einzustellen.
Den anderen Fraktionen im Hause bietet sich hier
aber offensichtlich die Möglichkeit, einen Akt von zivilem Ungehorsam durch Linke zu kriminalisieren.
({1})
Da sie nicht anerkennen, dass die breite Mehrheit in unserem Volk für den Atomausstieg und gegen die lebensgefährlichen AKW ist, dem nun Sie alle und auch Frau
Merkel beigetreten sind, dass dieser Ausstieg ohne den
zivilen Ungehorsam und den Protest gegen die strahlenden Castortransporte nie möglich gewesen wäre,
({2})
dass die Atomenergie noch längst nicht Geschichte ist.
Weil sie nicht einmal damit angefangen haben, die Geschichte dieser Proteste, zum Beispiel in Gorleben, aufrichtig zu schreiben. So besteht die Gefahr weiterhin.
Den Energiekonzernen wird noch ordentlich Steuergeld zugeschustert, Euratom fördert AKW auf EUEbene, die Deutsche Bank, die mit 12 Prozent an Tepco,
dem Betreiber des Atomkraftwerks in Fukushima beteiligt ist, kreditiert in einem westindischen Erdbebengebiet gerade eben ein neues AKW, und die Zeitbombe
Asse II tickt weiter. Niedersachsen ist weiterhin ein
Atomklo. Solange die Endlagerfrage ungelöst ist, werden mit jedem weiteren Castortransport Fakten geschaffen. Es sind nach wie vor Protest und ziviler Ungehorsam bitter nötig.
({3})
Die Grünen haben im Immunitätsausschuss auch für
unsere Strafverfolgung gestimmt und werden das hier
jetzt auch wieder tun, mit dem wohlfeilen Argument, wir
linken Abgeordneten sollten doch nicht das Privileg der
Abgeordnetenimmunität ausnutzen.
({4})
Wohlgemerkt: Der Vorwurf des Staatsanwalts gegen uns
lautet „Gefahr für Leib und Leben“. Was bedeutet mehr
Gefahr für Leib und Leben, die lebensgefährdenden
Atomkonzerne oder die Fortführung der Proteste dagegen
({5})
bzw. ein Schottern, das nicht einmal stattgefunden hat?
Schottern bedeutet laut Duden übrigens „Aufhäufen von
Schotter“.
Die politische Immunität von Abgeordneten ist in der
Parlamentsgeschichte ja gerade dafür da, dass sich Abgeordnete mehr an unbequemen politischen Wahrheiten
auch gegen „die da oben“ leisten können als jemand, der
in einem Abhängigkeitsverhältnis steht und vielleicht
um seinen Arbeitsplatz fürchten muss. Deswegen gewährt das Europäische Parlament bei jedem Fall des Protests - bei jedem Fall des Protests! -, selbst bei der illegalen Demonstrationsanmeldung, generell Immunität.
({6})
Ihr Mittun, liebe Grüne, im Immunitätsausschuss ist
damit immer auch ein Stück Beteiligung an Kriminalisierung und Einschüchterung der Proteste.
({7})
Ich sage es gerne noch einmal: Ihre Beteiligung im
Immunitätsausschuss daran, dass nun die Strafverfolgung gegen meine Kollegen und mich stattfinden kann,
ist immer auch ein Stück Kriminalisierung und Einschüchterung der Proteste.
({8})
Wenn Sie noch weiter schreien, dann werde ich es noch
ein drittes Mal sagen.
So oder so: Mein Gewissen als Abgeordneter käme
nicht zur Ruhe, wenn der Widerstand gegen die skrupellosen Atomkonzerne zur Ruhe käme.
Ich danke Ihnen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir liegt noch die
Erklärung unseres Kollegen Wolfgang Gehrcke nach
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor. 1)
Nun erteile ich das Wort dem Vorsitzenden des
1. Ausschusses, dem Kollegen Thomas Strobl.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Als Vorsitzender des Immunitätsausschusses möchte ich
ein paar Punkte klarstellen. Das Immunitätsrecht hat den
Zweck, die Arbeits- und Funktionsfähigkeit unseres
Parlamentes als Ganzes sicherzustellen. Es ist nicht da-
für da, einzelne Abgeordnete vor ihrer gerechten Strafe
für begangene Straftaten zu bewahren.
1) Anlage 3
Thomas Strobl ({0})
({1})
Wir Abgeordnete sollen also durch das Immunitätsrecht, Herr Kollege Dehm, nicht besser gestellt werden
als alle anderen Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land.
({2})
Es gibt keine Privilegien eines Abgeordneten gegenüber
normalen Bürgerinnen und Bürgern, wenn er Straftaten
begeht, und es darf solche Privilegien auch nicht geben.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn eine
Staatsanwaltschaft gegen Mitglieder des Hauses wegen
des Verdachts einer Straftat ermitteln möchte, prüft der
Immunitätsausschuss daher, ob der beim Präsidenten
eingereichte Antrag nachvollziehbar und begründet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vorhin war es ruhig,
als die Erklärung vom Kollegen Dehm abgegeben
worden ist.
({0})
Es war auf allen Seiten ruhig. Ich glaube, es ist eine
Frage der Fairness, dass auch der Vorsitzende des Ausschusses in Ruhe seine Erklärung abgeben kann.
({1})
Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident. - Insbesondere prüft der Ausschuss, ob es sich um einen Akt staatsanwaltschaftlicher Willkür aus politischen Motiven
gegen einen Abgeordneten handelt, also ob ein Kollege
Beschuldigter durch eine Staatsanwaltschaft deswegen
wird, weil er Abgeordneter ist, und nicht, weil er sich
möglicherweise einer Straftat schuldig gemacht hat.
Dies hat der Ausschuss, wie immer, auch in jedem
einzelnen der vorliegenden Fälle und nach dem seit
langem bewährten Verfahren getan. Diesem Verfahren
haben übrigens zu Beginn der Legislaturperiode alle
- ich betone: alle! - Fraktionen zugestimmt, auch Ihre
Fraktion.
({0})
Sie können das in Anlage 6 der Geschäftsordnung nachlesen, Herr Kollege Dehm. Danach achtet der Ausschuss
bei der Prüfung der Anträge vor allem darauf, dass das
Vorgehen der Staatsanwaltschaft in jedem einzelnen Fall
frei von sachfremden Erwägungen, frei von politischen
und frei von willkürlichen Motiven ist. Das hatten wir
auch in diesem Fall getan.
Weiter ist im Übrigen geregelt, dass der Ausschuss
nicht in eine Beweiswürdigung eintritt und dass die Entscheidung über die Aufhebung oder Wiederherstellung
der Immunität auch keine Feststellung von Recht oder
Unrecht, von Schuld oder Unschuld bedeutet. Das ist
nicht Sache des Immunitätsausschusses, sondern das ist
nach unserer Verfassung aus guten Gründen den Gerichten vorbehalten.
({1})
Ich betone es noch einmal: Wir urteilen nicht darüber,
weder im Ausschuss noch hier, ob sich die betroffenen
Kolleginnen und Kollegen tatsächlich strafbar gemacht
haben. Wir stellen lediglich fest, dass die Staatsanwaltschaft im konkreten Fall nicht willkürlich handelt, wenn
sie ein Verfahren anstrebt, das auch gegen jeden Bürger
und gegen jede Bürgerin so angestrengt worden wäre.
Wer die Aufhebung der Immunität in diesem Fall als
„Kriminalisierung“ bezeichnet,
({2})
der hat unseren Rechtsstaat nicht verstanden, Herr Kollege Dehm.
({3})
Im konkreten Fall hat der Ausschuss die Anträge wie
üblich ausführlich beraten und die Staatsanwaltschaft
darüber hinaus sogar um zusätzliche Informationen zum
Sachverhalt und zur rechtlichen Begründung der Anträge gebeten. Im Ergebnis bestand im Immunitätsausschuss Einigkeit bei den Fraktionen CDU/CSU, SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP, dass die Bewertung
des Verhaltens der betroffenen Abgeordneten als Straftat
nach § 111 des Strafgesetzbuches - Öffentliche Aufforderung zu Straftaten - durch die Staatsanwaltschaft
nachvollziehbar und willkürfrei begründet worden ist.
({4})
Da also keine immunitätsrechtlichen Gründe für eine
Wiederherstellung der Immunität der Betroffenen vorliegen, hat der Ausschuss entschieden, dass - wie üblich die Frage der Strafbarkeit und die Frage der Schuld oder
Unschuld durch die zuständigen Gerichte zu klären ist.
Dafür haben wir den Weg jetzt freigemacht.
Thomas Strobl ({5})
({6})
Daher hat der Ausschuss - wie üblich - die Beschlussempfehlungen so vorgelegt, für die ich um Ihre
Zustimmung bitte.
Herr Kollege Dehm, ich muss Ihnen schon klar entgegenhalten: Die Aufforderung, Gleisanlagen der Bahn zu
schottern, also das Gleisbett der Bahn auszuhöhlen,
({7})
ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat nach § 111
des Strafgesetzbuches, die in Fällen wie den hier vorliegenden mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren
bestraft werden kann.
({8})
Insofern muss ich auch darauf hinweisen, dass im
Ausschuss allgemein von allen Fraktionen - mit
Ausnahme der Fraktion Die Linke ({9})
die Überzeugung herrscht, dass Kollegen, die bewusst
diese Art der Aufforderung zur Begehung von Straftaten
wählen, sich dann auch der strafrechtlichen Konsequenz
stellen müssen und nicht über das Immunitätsrecht privilegiert werden können.
({10})
Sie können und dürfen nicht besser behandelt werden als
andere Bürgerinnen und Bürger auch.
({11})
Was wäre das auch für ein Signal an die Bürgerinnen
und Bürger, beispielsweise an die über 1 000 Bürgerinnen und Bürger, gegen die im Zusammenhang mit dem
Castortransport durch die Staatsanwaltschaft Lüneburg
ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde?
({12})
Über 1 000 Bürgerinnen und Bürger! Was wäre das für
ein Signal, wenn diese Bürgerinnen und Bürger strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden, der Kollege
Dehm aber nicht, nur weil er ein Abgeordneter ist? Wer
hätte für eine solche Vorzugsbehandlung eigentlich Verständnis? Wir würden kein Verständnis ernten, und zu
Recht würden wir kein Verständnis ernten.
({13})
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bitte
ich um Zustimmung für die mit großer Mehrheit im
1. Ausschuss gefassten Beschlüsse, es bei der Aufhebung der Immunität der betroffenen Kollegen zu
belassen.
Herzlichen Dank.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen jetzt
zur Abstimmung über die vier Beschlussempfehlungen.
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung empfiehlt in seinen Beschlussempfehlungen, die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens jeweils zu erteilen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11618? - Das sind die Koalitionsfraktionen,
Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das ist die Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11619? - Das sind die Koalitionsfraktionen,
Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11620? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11621? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Keine.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme nun zu
dem von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnis unserer namentlichen Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des
Asylbewerberleistungsgesetzes: abgegebene Stimmen
579. Mit Ja haben gestimmt 131, mit Nein haben gestimmt 438, Enthaltungen 10. Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt. So weit das Ergebnis dieser namentlichen
Abstimmung.
Vizepräsident Eduard Oswald
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon
ja: 131
nein: 438
enthalten: 11
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({0})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({1})
Volker Beck ({2})
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({3})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({4})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({5})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({6})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({7})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Ernst-Reinhard Beck
({8})
Manfred Behrens ({9})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({10})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({11})
Axel E. Fischer ({12})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({13})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Andreas Jung ({14})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({15})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({16})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({17})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({18})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({19})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({20})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({21})
Anita Schäfer ({22})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({23})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({24})
Dr. Kristina Schröder
({25})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({26})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({27})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({28})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({29})
Peter Weiß ({30})
Sabine Weiss ({31})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({32})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({33})
Hubertus Heil ({34})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({35})
Dr. Eva Högl
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({36})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({37})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({38})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({39})
Marlene Rupprecht
({40})
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({41})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({42})
Werner Schieder ({43})
Ulla Schmidt ({44})
Carsten Schneider ({45})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({46})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({47})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({48})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({49})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({50})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({51})
Michael Link ({52})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({53})
Dr. Martin Neumann
({54})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({55})
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({56})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({57})
Enthalten
SPD
Elvira Drobinski-Weiß
Angelika Graf ({58})
Kerstin Griese
Petra Hinz ({59})
Dietmar Nietan
Michael Roth ({60})
Dr. Carsten Sieling
Christoph Strässer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahl der Mitglieder des Beirates der Stiftung
Datenschutz
- Drucksache 17/11637 Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/11637? Das sind die Koalitionsfraktionen. - Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Fraktion
Die Linke. Der Wahlvorschlag ist angenommen. Vielen
herzlichen Dank.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Unterschiedliche Auffassungen der Koalitionsfraktionen über ihre Pläne zur Einführung
von Gutscheinen für Haushaltshilfen
Erste Rednerin unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Caren Marks. Bitte schön, Frau Kollegin Caren Marks.
({61})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch
wenn der Vorschlag zu Gutscheinen für Putzhilfen von
der Fraktionsspitze am Dienstag im wahrsten Sinne des
Wortes einkassiert wurde, so bleibt Ihnen, meine Damen
und Herren von Schwarz-Gelb, nicht die Kritik an der
Konzeptlosigkeit Ihrer Familienpolitik erspart.
({0})
Die Diskussion der letzten Tage zeigt erneut, dass dieser
Bundesregierung, in diesem Falle insbesondere der
Union, der Kompass in der Familien- und der Gleichstellungspolitik komplett fehlt.
({1})
Das nervige Betreuungsgeld, das einen Anreiz setzt,
Kinder von öffentlich geförderten Kitas und Einrichtungen der Kindertagespflege fernzuhalten, ist kaum durch
den Bundestag, da kommen Sie mit einem Vorschlag um
die Ecke, der Anreize genau in die entgegengesetzte
Richtung setzen soll. Wir finden: Das ist mehr als
absurd.
({2})
Wie widersprüchlich Ihre Familienpolitik ist, erleben
wir bei vielen Themen immer wieder. Mal kündigt die
Bundesfamilienministerin an, das Elterngeld weiterentwickeln zu wollen, kürzt dann aber stattdessen munter
drauflos. Mal behauptet die Bundesfrauenministerin, die
sie ja auch sein sollte, Frauen mehr Chancen im Beruf
und in Führungspositionen eröffnen zu wollen, steht
dann aber der gesetzlichen Frauenquote entgegen und
definitiv auf der Bremse. Mal gibt Frau Schröder vor,
sich für den Ausbau der Krippen einzusetzen, führt dann
aber ein Betreuungsgeld ein, das diesen Ausbau konterkariert.
Die Koalition hat in wichtigen gesellschaftspolitischen Bereichen definitiv keinen Fahrplan. Sie sagt mal
hü und mal hott und wundert sich dann, dass jeder über
diese Politik nur noch den Kopf schüttelt. Dabei ist gerade für Familien Verlässlichkeit ein hohes Gut, damit
Familien in diesem Land ihren Alltag und ihre Zukunft
planen können.
({3})
Verlässlichkeit brauchen Familien vor allem bei der
sozialen Infrastruktur. Erfahrungen in den skandinavischen Ländern zeigen im Übrigen, meine Kolleginnen
und Kollegen von Schwarz-Gelb, dass eine solche InfraCaren Marks
struktur eine wirklich wichtige Voraussetzung für ein gutes Aufwachsen von Kindern und für eine gelingende
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist.
Ein bedarfsgerechtes Angebot an Krippenplätzen und
an Ganztagsangeboten für kleinere und größere Kinder
ist in unserem Land längst noch nicht vorhanden. Sowohl die EU als auch OECD mahnen immer wieder an,
dass es in Deutschland einen dringenden Nachholbedarf
gibt. Das in der Union nun diskutierte Gutscheinmodell
für Haushaltshilfen soll offensichtlich von diesem Nachholbedarf ablenken. Oder sollten mit dem Vorschlag
vielleicht schnell ein paar Wahlgeschenke an eine gutverdienende Klientel verteilt werden, die sich ohnehin
schon Haushaltshilfen leisten kann?
({4})
Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, glauben
Sie ernsthaft, diese billigen Taschenspielertricks bekommt niemand mit?
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, abgesehen davon, finde ich bemerkenswert, dass Sie an Gedächtnisverlust zu leiden scheinen, was die Rechtslage
angeht; denn es gibt längst Steuervorteile für haushaltsnahe Dienstleistungen. Es gibt sie längst für haushaltsnahe Beschäftigungsverhältnisse und auch für Kinderbetreuungskosten. Beispielsweise gibt der Staat jährlich
etwa 400 Millionen Euro dafür aus, dass Dienstleistungen
wie Hausreinigung, Fensterputzen oder Bügeln steuerlich gefördert werden können. Ist Ihnen von der Koalition das alles ganz plötzlich entfallen? Oder wollen Sie
mit Blick auf die Bundestagswahl den Wettbewerb „Wer
fordert mehr?“ eröffnen? Viel Spaß!
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns hoffentlich alle einig darüber, dass Frauen nach der Geburt
eines Kindes, wenn sie es wünschen, bald wieder die
Chance auf den Wiedereinstieg in das Erwerbsleben haben müssen. Doch wir unterscheiden uns bereits bei der
Analyse der Situation von Familien ganz deutlich; denn
wir haben Mütter und Väter im Blick.
({5})
Die Union dagegen hat nur Mütter und keine Väter im
Blick,
({6})
wenn es um die Organisation des Haushalts und des Familienalltags geht. Ihr Haushaltshilfenvorschlag bezieht
sich nur auf Frauen. Wir dagegen sehen nicht allein die
Frauen in der Verantwortung, sich den Kopf über die
Vereinbarkeitsfrage zu machen. Diese Frage geht auch
Männer etwas an. Putzhilfegutscheine nur für Frauen
wären schon aus diesem Grund der falsche Weg. Wir
bauen bei der Familienpolitik auf Gleichberechtigung
und Partnerschaftlichkeit. Das haben wir beim Ausbau
der Betreuungsangebote, bei Arbeitszeitmodellen und bei
der Weiterentwicklung des Elterngeldes im Blick. Uns
geht es darum, dass Mütter und Väter bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Unterstützung brauchen sowie dass Frauen und Männern gleiche Chancen im Erwerbsleben einzuräumen sind.
Abschließend möchte ich noch einmal darauf hinweisen: Art. 3 unseres Grundgesetzes zielt darauf ab, die
Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern. Ich hoffe sehr, dass auch diese Koalition nicht weitere Überraschungen in der Schublade hat, die genau
diesem Ziel elementar zuwiderlaufen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Caren Marks. - Nächste
Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unsere Kollegin Ingrid Fischbach. Bitte
schön, Frau Kollegin Ingrid Fischbach.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe Germanistik studiert und glaube, zu verstehen, was ich lese. Da ich mich auf diese Aktuelle Stunde
und meine Rede vorbereiten wollte, habe ich den Titel
der Aktuellen Stunde mehrfach gelesen. Aber, liebe Frau
Marks, mir war gar nicht klar, worüber Sie reden wollen.
Ihre Rede hat zur Erhellung auch nicht beigetragen.
({0})
Sie haben zur Familienpolitik der Bundesregierung geredet. Darüber kann man reden. Ihre Aktuelle Stunde trägt
den Titel „Unterschiedliche Auffassungen der Koalitionsfraktionen über ihre Pläne zur Einführung von Gutscheinen für Haushaltshilfen“.
({1})
- Jetzt sagen Sie Ja. - Mich hat verwundert, dass Sie
über die Pläne Bescheid wussten, aus dem Antrag zitiert
haben, obwohl selbst die Regierungsfraktionen diesen
Antrag nicht kennen.
({2})
Das ist wunderbar.
({3})
- Ich habe ihn geschrieben. Das ist ein Unterschied. Man muss immer überlegen: Worüber redet man, und
was will man mit einer Aktuellen Stunde erreichen? Ich
finde es schön, in 15 Jahren endlich einmal eine Aktuelle
Stunde zu verantworten zu haben. Das ist mir bisher
noch nie gelungen. Sie haben mir dazu verholfen. Das
mache ich besonders gerne.
({4})
Ich kann Ihnen auch erklären, warum es keine einheitlichen Auffassungen geben kann. Das liegt daran, dass
dieser Antrag noch gar nicht eingebracht worden ist.
({5})
Dieser Antrag stammt von einer kleinen Gruppe. Das
unterscheidet uns von der SPD, Frau Ferner: Wir dürfen
auch in kleineren Gruppen denken.
({6})
Wir haben in einer kleinen Gruppe darüber nachgedacht,
wie man Eltern unterstützen kann. Deswegen stimmt
das, was Sie, Frau Marks, sagen, nicht. Den Antrag können Sie gar nicht haben; den haben Sie auch nicht. Darin
ist außerdem nicht nur von Frauen, sondern auch von
Vätern die Rede.
({7})
Wir wollen genauso wie andere Fraktionen, dass Eltern,
die zum Beispiel längere Zeit aus dem Beruf heraus sind,
die 30, 40 Jahre und älter sind und nun in den Beruf zurückkehren wollen, eine Hilfe bekommen.
Dass haushaltsnahe Hilfen und haushaltsnahe Dienstleistungen gar nicht so falsch sind, haben zum Beispiel
die Grünen mit einem Antrag im Landtag NRW belegt.
Jetzt habe ich bei Ihrer Rede, Frau Marks, den Eindruck
gewonnen, das alles sei nur eine Idee von FDP und
CDU/CSU. Kennen Sie die Arbeitsgemeinschaft der
Frauen der SPD Unterfranken?
({8})
Diese haben zum Beispiel auf einem Parteitag der SPD
gefordert - ich zitiere -:
Haushaltsnahe Dienstleistungen, die über Wohlfahrtsverbände, Agenturen und die Kommune …
angeboten werden, sollen vom Land Bayern für
max. 20 Stunden im Monat gefördert werden.
({9})
Die Forderung muss an sozial Schwache weitergegeben werden, damit die Inanspruchnahme der
Dienstleistungen durch Familien, Alleinerziehende
und SeniorInnen finanzierbar bis zu kostenfrei ist.
({10})
Die Frauen sind klug, Frau Ferner. Wissen Sie, warum?
({11})
Weil die steuerlichen Entlastungen, von denen Ihre Kollegin Marks eben gesprochen hat, nur denjenigen zugutekommen, die viele Steuern zahlen.
({12})
Wir denken auch an die Familien mit kleinen und mittleren Einkommen.
({13})
Meine Damen und Herren, Sie haben doch selber
- selbst Frau Ferner, deren Homepage ich hier zitieren
könnte - die Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen
gelobt,
({14})
die wir in der Großen Koalition auf den Weg gebracht
haben, weil sie Entlastung bringt.
({15})
- „Wer schreit, hat noch lange nicht recht“, hat meine
Mama immer gesagt.
({16})
Meine Damen und Herren, wir reden heute in einer
Aktuellen Stunde über ein Problem, das gar keines ist.
Wir haben in einer kleinen Runde Ideen gehabt, haben
den Finanzpolitikern schon vor einiger Zeit unsere Ideen
vorgetragen und haben gemerkt, dass sie im Moment
nicht finanzierbar sind. Auch darin unterscheiden wir
uns von Ihnen: Wir wollen den Menschen helfen, wir
wollen ihnen aber auch eine Zukunft geben. Wer nur
Forderungen in zweistelliger Milliardenhöhe aufstellt,
Frau Marks, ohne zu sagen, wie es finanziert werden
soll, der tut den Menschen keinen Gefallen.
({17})
Der sorgt auch dafür, dass gerade unsere Familien, unsere Jugend, unsere Kinder keine Zukunft haben. Wir
stehen dazu.
({18})
Wir sind die Partei, wir sind die Regierungskoalition für
Familien. Wir haben alle Familien im Blick. Wir haben
die Väter und Mütter im Blick, und - das erfreut mich
am meisten - wir dürfen noch frei denken
({19})
und unsere Ergebnisse in die Öffentlichkeit bringen.
Vielleicht, Frau Marks, sollten wir einmal darüber
nachdenken, ob es - den Vorschlag werde ich meiner
Fraktion unterbreiten - einen Bildungsgutschein für die
SPD geben kann, damit sie in Zukunft Aktuelle Stunden
so tituliert, dass jeder weiß, worum es geht.
Danke schön.
({20})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ingrid Fischbach. Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser
Kollege Jörn Wunderlich. Bitte schön, Kollege Jörn
Wunderlich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum die SPD auf dieser Aktuellen Stunde besteht,
kann auch ich nicht ganz nachvollziehen; denn aktuell ist
das Thema ja nicht mehr. Ausgelöst hatte die Debatte
Frau Fischbach als stellvertretende Fraktionschefin der
CDU/CSU. Sie hat in einer Art Vorlaufantrag gefordert,
dass monatlich bis zu 15 Stunden für die Beschäftigung
einer Haushaltshilfe mit bis zu 6 Euro pro Stunde bezuschusst werden, und zwar für die Dauer von 18 Monaten.
Dies war in etwa der Inhalt, wenn ich richtig informiert
bin. Frau Schröder fand das ganz toll.
({0})
Das Ganze sollte für junge Eltern gelten, die wieder in
den Beruf zurückkehren. Warum nur für junge Eltern,
das weiß ich nicht. Frau Schröder fand es jedenfalls ganz
toll. Das kommentiere ich jetzt lieber nicht weiter, sonst
flippt Frau Bär wieder aus und vergreift sich im Ton. Jedenfalls hat Frau Fischbach gesagt:
Wenn wir wollen, dass insbesondere Frauen vermehrt in den Beruf zurückkehren, müssen wir sie
unterstützen.
Das Gutscheinmodell sei deshalb ein guter Ansatz. So
hat sie es gesagt.
({1})
Inzwischen ist das Betreuungsgeld verabschiedet
worden.
({2})
Zunächst sollen Frauen - denn es betrifft ja zunehmend
Frauen - mit 100 Euro monatlich dazu gebracht werden,
zu Hause zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern,
({3})
und dann sollen sie - jetzt werden noch einmal 90 Euro
draufgelegt - zurück an den Arbeitsplatz gelockt werden.
({4})
Diese Denkweise hat sich auch gestern im Familienausschuss bestätigt. Dort war nur von jungen Frauen die
Rede. - Herr Pols, waren Sie gestern dabei? Wenn ja,
dann haben Sie nicht aufgepasst.
({5})
Frau Granold hat es gesagt.
Man fragt sich: Warum immer nur Frauen? Gibt es
denn in CSU- und CDU-Familien keine Männer, die ihre
Frauen im Haushalt unterstützen können?
({6})
Oder helfen CDU/CSU-Männer grundsätzlich nicht im
Haushalt?
({7})
Oder ist es bei CDU/CSU-Familien so, dass die für eine
Familie überhaupt keine Männer brauchen? So etwas hat
es schon einmal vor circa 2 000 Jahren gegeben.
Der Bundesfinanzminister hat sich skeptisch zu dem
Vorstoß geäußert. Am Montag gab es bereits harsche
Kritik aus den eigenen Reihen. Da hieß es, es handele
sich um eine theoretische Diskussion, geschuldet dem
anstehenden Parteitag, aber nicht um reale Politik, so
Patrick Döring, Generalsekretär der FDP. Rainer
Brüderle nannte das Modell „nicht voll durchdacht“.
({8})
Der Vorsitzende der Seniorenunion der CDU/CSU, Otto
Wulff, warnte: Wir neigen zu Schnellschüssen, und ich
würde gern erst einmal fundierte Daten darüber haben,
um wie viele Frauen - wieder einmal Frauen - es hier
geht und wer Hilfe benötigt.
({9})
- Ihr seid euch alle uneinig. Dazu komme ich aber noch.
Zuhören! Aufpassen!
Was ich nicht verstehe, ist, dass sich die SPD zumindest zum Teil mit dem Modell angefreundet hat. Das
kann man nachlesen. Frau Humme hat als Sprecherin
des Arbeitskreises „Gleichstellung“ in der SPD gesagt,
das könne ein gangbarer Weg für Geringverdiener sein.
Das hat sie in der taz gesagt.
({10})
Sie hat des Weiteren gesagt, Menschen, die eine Haushaltshilfe nicht von der Steuer absetzen können, hätten
nun ebenfalls eine Subvention für den Haushalt.
({11})
So war ihre Argumentation.
({12})
Also ist es toll, wenn arme Frauen - da sie keine Steuern
zahlen - prekäre Beschäftigung schaffen? Immerhin hat
Frau Marks die Konzeptionslosigkeit der Regierung erkannt.
({13})
- Frau Fischbach, bleiben Sie ruhig.
Mit der Subventionierung von Haushaltshilfen für auf
ihren Arbeitsplatz zurückkehrende Mütter zeigt die Bundesregierung, dass sie eben nicht bereit ist, dieses Geld
für eine gute öffentliche Infrastruktur für Familien auszugeben. Statt den Kitaausbau voranzutreiben
({14})
oder Verbesserungen im Unterhaltsvorschuss zu ermöglichen, werden die gesellschaftlichen Probleme privatisiert und Minijob- und Niedriglohnsektor gefördert.
({15})
Ich sage Ihnen: Schlecht bezahlte Haushaltshilfen zu
subventionieren, ist sozialer und familienpolitischer
Schwachsinn.
({16})
Familienfreundliche Arbeitsbedingungen und gute
Kitaplätze sind der Schlüssel, um Familie und Arbeitswelt erfolgreich zu kombinieren. Die Führung der
Unionsfraktion hat am Dienstag letztlich das Ganze abgeschossen. „Keine Chance für die Umsetzung“, so hat
es Grosse-Brömer ausgedrückt.
Ich will zusammenfassen: Laut tönen, sich nicht abstimmen, Quatsch verkünden und alles anschließend
wieder schnell in die Tonne kloppen - das ist gegenwärtig die Politik dieser Regierung. Im Grunde erleben wir
derzeit ein Sternstündchen. Mist zu planen, ist ja nichts
Neues bei der Koalition. Den Mist dann aber doch zu
lassen - da hat dann vielleicht das freie Denken, das
Frau Fischbach immer wieder betont, endlich einmal
eingesetzt. Immerhin!
({17})
Das ist ein Weg in die richtige Richtung.
Danke.
Vielen Dank, Kollege Jörn Wunderlich. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin
Miriam Gruß. Bitte schön, Frau Kollegin Miriam Gruß.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Aktuelle Stunde soll nach § 106 unserer Geschäftsordnung
zu einem „Thema von allgemeinem aktuellen Interesse“
stattfinden. Dass kein allgemeines aktuelles Interesse besteht, sieht man schon daran, dass ungefähr zwölf Kollegen von der SPD anwesend sind
({0})
und der Bundestag insgesamt auch nicht gerade vor Interessierten überquillt. Suchen Sie sich aktuellere und geeignetere Themen für Aktuelle Stunden, die Sie beantragen; das ist jedenfalls keines, meine Damen und Herren
von der SPD.
({1})
Zum Inhalt kann man nur sagen: Haushaltsnahe
Dienstleistungen werden schon jetzt gefördert. Wir sind
uns inhaltlich eigentlich einig darüber, dass das gut und
richtig so ist. Auf Seite 87 des Wahlprogramms der Grünen und auf Seite 40 des Wahlprogramms der SPD von
2009 steht die Forderung nach einer Förderung der haushaltsnahen Dienstleistungen.
({2})
Ich habe, weil sich die Debatte hinzieht, darauf verzichtet, mein Skript mitzunehmen; aber ich kann Ihnen die
Zitate bei Bedarf gerne nachreichen.
Es handelt sich also um eine absurde Debatte zu einer
Zeit, zu der man wirklich Besseres diskutieren könnte
als das, was Sie jetzt hier angezettelt haben.
({3})
Ich halte es im Zuge der Anstrengungen, die wir als Parlamentarier zur Vermeidung von Politikverdrossenheit
unternehmen, für eine Zumutung,
({4})
dass Sie ständig versuchen, hier Diskussionen zu bestimmten Themen anzuzetteln und die Familienpolitik
dieser Regierung schlechtzureden.
({5})
Wir haben hier eine Erfolgsbilanz vorzuweisen, und
wir haben sie Ihnen eigentlich schon in der letzten Sitzungswoche präsentiert.
({6})
- Doch! - Wir haben die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie verbessert durch die größte Investition in Infrastruktur, die jemals eine Regierung getätigt hat.
({7})
Wir haben uns darum gekümmert, dass die Familien Zeit
bekommen. Wir haben uns mit dem Bundesprogramm
„Perspektive Wiedereinstieg“ auch um den Wiedereinstieg in den Beruf gekümmert; die BA und die Länder
sind da übrigens auf einem guten Weg. Wir haben uns
darum gekümmert, dass die Familien entlastet werden.
Last, but not least - meine Kollegin Fischbach hat es
schon angesprochen - bedenken wir im Gegensatz zu Ihnen bei all dem, dass wir einen Haushalt aufstellen wollen, der insgesamt generationengerecht und nachhaltig
ist.
({8})
Im nächsten Jahr erfahren wir die Ergebnisse der Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen. Dies
wird ein Anlass sein, zu schauen: Was brauchen die Familien? Es widerstrebt mir völlig, im Vorfeld Denkverbote auszusprechen; das sollte man nicht tun. Denn Familienpolitik muss diskutiert werden. Da gehören auch
solche Debatten dazu; das ist richtig. Allerdings ist es
wirklich Unsinn, diese Debatte in das Parlament zu tragen. Wir sollten über wichtigere Themen diskutieren.
Dazu sind wir gerne bereit, aber nicht zu dem Unfug,
den Sie hier angezettelt haben.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Miriam Gruß. - Nächste
Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Kerstin Andreae.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
hatten gestern eine Aktuelle Stunde zur Vermögensteuer.
Dazu lagen Konzepte der Grünen und der SPD vor.
Wenn ich mich richtig erinnere, waren da weniger Kolleginnen und Kollegen anwesend, zumindest seitens der
Koalition.
Wir sollten Aktuelle Stunden schon ernst nehmen und
jetzt hier über eine Idee sprechen, die nun einmal zumindest im Raum steht. Es müssen andere beurteilen, ob es
sich um eine Nebelkerze handelt, die schon verraucht ist.
Aber die Idee der Gutscheine für Haushaltshilfen steht
im Raum. Es ist gar nicht unser Problem, dass es jetzt
seitens der Koalition als nicht umsetzbar, als nicht voll
durchdacht oder als eine theoretische Diskussion dargestellt wird, die wohl eher dem anstehenden Parteitag der
CDU geschuldet ist. Ich finde, man darf darüber nachdenken, man soll sich etwas überlegen. Das Thema der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist sehr wichtig.
Das, was bleibt, ist, dass die Bundesregierung - darüber reden wir - kein Konzept und keinen nachvollziehbaren, durchdachten Plan beim Thema Familienpolitik
und bei der Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat.
({0})
Erst beschließen Sie den Kitaausbau und schaffen einen
Rechtsanspruch, damit mehr Mütter arbeiten gehen können. Dann haben die Regierung und die Koalition - das
werden Sie sich immer und immer wieder anhören müssen, Frau Fischbach, Sie hatten da eine andere Position gegen den erbitterten Widerstand der Fachleute das Betreuungsgeld beschlossen, das dazu führt, dass zahlreiche Mütter dann doch lieber zu Hause bleiben.
({1})
Und jetzt kommen Sie mit einem Vorschlag, dessen Umsetzung eine weitere Milliarde kosten würde, und wollen
dafür sorgen, dass Mütter wieder arbeiten gehen. Das ist
kein Plan; das ist keine geradlinige Position.
({2})
Ich würde dringend empfehlen, Konzepte, die man
entwickelt, tatsächlich einmal an ein paar Punkten zu
überprüfen. Zum einen besteht die große Gefahr von
Mitnahmeeffekten. Das wäre bei den Gutscheinen der
Fall. Mitnahmeeffekt bedeutet, dass jemand eine Leistung in Anspruch nimmt, obwohl er sich sowieso eine
Haushaltshilfe genommen hätte. Er macht etwas geltend,
was er sowieso schon geplant hat. Diese Mitnahmeeffekte sind in weiten Teilen teuer. Wir müssen unser Geld
für andere Sachen ausgeben.
({3})
Zum anderen müssen Sie sich überlegen - das ist ein
weiteres Kriterium -, ob die Leistungen unabhängig von
Einkommen und Vermögen in Anspruch genommen
werden können. Wir haben nicht mehr so viel Geld, dass
wir die Subventionen mit der Gießkanne verteilen können. Wir müssen uns nach der Bedürftigkeit richten. Wir
müssen uns überlegen: Wer braucht es? Wo kann es zielgerichtet eingesetzt werden? Ihr Konzept greift nicht,
weil die Gutscheine unabhängig von Einkommen und
Vermögen in Anspruch genommen werden können.
Sie müssen sich auch überlegen, was das an Bürokratie nach sich zieht. Sie haben ein Bildungs- und Teilhabepaket auf den Weg gebracht, das für Kinder aus einkommensschwachen Familien gedacht ist. Aber die
Leistungen kommen bei vielen bedürftigen Kindern
nicht an. Stattdessen wurde ein Verwaltungsapparat aufgebaut mit dem Ergebnis, dass ein eingesetzter Euro
30 Cent Bürokratie- und Verwaltungskosten nach sich
zieht.
({4})
Das ist wieder ein Konzept, das unlogisch und nicht
durchdacht ist und das Kriterium „bürokratiearm“ nicht
erfüllt.
({5})
Sie fordern ein Nachdenken ein. Ich entwickele meine
Gedanken weiter und frage: Welche Kriterien müssen
zugrunde gelegt werden? Wo versagen Sie im Bereich
der Familienpolitik?
({6})
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist der entscheidende Punkt. Wir müssen uns fragen: Wie bekommen wir es in den nächsten Jahren hin, dass sich junge
Mütter und Frauen für beides entscheiden: für Familie
und für den Beruf?
({7})
Aber die Maßnahmen, die Sie von der Koalition ergreifen, reichen nicht aus. Sie sind teilweise auf dem falschen Weg und setzen falsche Anreize wie mit dem Betreuungsgeld. Wir erkennen keine Linie.
({8})
Es ist nicht zu erkennen, dass Sie sich wirklich dafür entschieden haben: Wir wollen den jungen Müttern, den
jungen Eltern eine Chance auf dem Arbeitsmarkt geben.
({9})
Wir wollen sie unterstützen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirklich zu leben. - Das können wir bei Ihnen nicht sehen.
({10})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zur
Forderung des Arbeitgeberpräsidenten Hundt sagen, die
Elternzeit auf ein Jahr zu begrenzen.
({11})
Das ist absoluter Blödsinn.
({12})
Herrn Hundt muss man sagen: Die Arbeitswelt hat sich
an den Familien zu orientieren, und nicht die Familien
an der Arbeitswelt.
({13})
In diesem Sinne: Vielen Dank.
({14})
Vielen herzlichen Dank, Frau Kollegin Kerstin
Andreae. - Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten: unsere Kollegin Elke Ferner. Bitte
schön, Frau Kollegin Elke Ferner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich
habe es kaum für möglich gehalten, dass die Fernhaltebzw. Herdprämie noch zu toppen ist, aber das scheint locker zu gehen. Jetzt kommt eine Putzprämie, zumindest
wenn es nach Frau Fischbach geht. Wir dürfen gespannt
sein, welche Prämien Ihnen bis zum Herbst nächsten
Jahres noch einfallen.
({0})
Frau Fischbach, ich hätte mir gewünscht, dass Sie wenigstens Frau genug gewesen wären, Ihr Konzept zu erläutern, doch das haben Sie nicht getan. Sie haben nur
Nebelkerzen geworfen. Noch peinlicher finde ich es,
dass für Ihre Fraktion außer Ihnen niemand das Wort ergreift.
({1})
Frau Schröder hat den Vorstoß ganz eilig unterstützt mit
den Worten:
Bezahlbare Hilfe im Haushalt erleichtert Familien
das Leben und insbesondere Frauen nach der Elternzeit die Rückkehr in den Beruf. Außerdem können hierdurch neue sozialversicherungspflichtige
Arbeitsplätze in Privathaushalten entstehen.
Ich frage mich, ob hier noch alle richtig ticken. Zuerst
werden die Frauen mit dem Betreuungsgeld bzw. der
Herdprämie von der Arbeitswelt ferngehalten, dann sollen sie mit der Putzprämie wieder in das Erwerbsleben
geschickt werden.
({2})
Ich glaube, dass Sie wirklich keine Ahnung haben, was
die Menschen in unserem Land bewegt; denn für die
Rückkehr in den Beruf ist für junge Mütter und Väter
doch nicht entscheidend, ob eine Putzhilfe subventioniert wird oder nicht. Viel entscheidender ist doch, ob es
eine gute und verlässliche Kinderbetreuung gibt, ob es
Unterstützung gibt, wenn ein Elternteil krank ist oder
wenn das Kind krank ist, ob es familienfreundliche Arbeitszeiten gibt und ob es sich finanziell unter dem
Strich, also nach Abzug aller Kosten, lohnt, arbeiten zu
gehen oder nicht. Das ist doch die entscheidende Frage.
({3})
Natürlich ist auch die Frage wichtig: Kann ich mir
eine Putzhilfe leisten, oder kann ich mir keine leisten?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Zuschuss von
6 Euro pro Stunde die Entscheidung beeinflusst. Für diejenigen, die wieder in den Beruf einsteigen, sind steuerliche Fragen - Steuerklasse V, Ehegattensplitting - viel
entscheidender als die Frage, ob sie 6 Euro pro Stunde,
maximal 90 Euro pro Monat, als Putzhilfenzuschuss bekommen.
({4})
Ich glaube auch nicht, dass dadurch mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstehen. Man muss wissen, worüber man redet, liebe Kolleginnen und Kollegen ({5})
damit meine ich vor allen Dingen Frau Schröder, die heute
wieder einmal nicht hier ist -: Um ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis überhaupt begründen zu können, muss die Beschäftigte ab dem nächsten Jahr mehr als 450 Euro Einkommen haben. Sonst ist
das Beschäftigungsverhältnis nämlich nicht sozialversicherungspflichtig. Das bedeutet, dass man bei 15 Arbeitsstunden pro Monat einen Stundenlohn von 30 Euro verdienen muss.
({6})
So viel Geld dafür hat diejenige oder derjenige, die bzw.
der wieder in den Beruf zurückgeht, aber nicht. Erst
recht bekommt keine Haushaltshilfe einen Stundenlohn
von 30 Euro.
({7})
Schauen wir uns einmal an, wie das ist, wenn man die
Dienstleistung bei einer Firma einkauft. Dann legt man
locker 25 Euro die Stunde hin, inklusive Mehrwertsteuer. Wenn es eine Subvention von 6 Euro gibt, dann
sind wir bei 19 Euro. Ich glaube, diese Subvention hilft
den Familien nicht wirklich weiter.
Ich finde es richtig, sich über die Frage auszutauschen, wie wir diejenigen, die sich eine Haushaltshilfe
nicht leisten können - ich meine nicht nur junge Eltern,
sondern auch ältere Menschen, die keine steuerliche Förderung in Anspruch nehmen können -, in die Lage versetzen können, eine Haushaltshilfe zu beschäftigen.
({8})
Das ist sicherlich eine sehr verdienstvolle Diskussion.
Eine solche Diskussion fängt man aber nicht so an, wie
Sie das gemacht haben. Ich glaube, dass diesbezüglich
Diskussionsbedarf besteht. Die Diskussion können Sie
doch nicht mit der Frage beginnen, wie wir es schaffen
können, dass junge Frauen wieder in den Beruf zurückkehren, nachdem Sie sie zuvor mit der Herdprämie aus
dem Beruf herausgelockt haben.
({9})
Ich will noch etwas zu der Bemerkung sagen, die Sie,
Herr Kollege Wunderlich, zu Frau Humme gemacht haben. Frau Humme hat gesagt: Hinsichtlich der Inanspruchnahme von haushaltsnahen Dienstleistungen könnte
so etwas von Vorteil sein. Sie hat aber auch ausdrücklich
gesagt - ich glaube, sogar im selben Interview -, dass das
für die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit überhaupt keine
Rolle spielt und sie das Vorhaben nicht gut findet. - Ich
wünsche von dieser Stelle aus Frau Humme nach ihrer OP
gute Genesung.
Letzter Punkt. Ich finde, dass diese Debatte zeigt, wie
die Arbeitsteilung durch die Brille der Union aussieht:
Im 21. Jahrhundert sind die Frauen immer noch zuständig für den Herd und für das Putzen und nicht für andere
Dinge. Ich kann Ihnen nur entgegenhalten: Wir wollen
eine partnerschaftliche Teilung der Arbeit zwischen
Männern und Frauen,
({10})
und zwar in der Familie und im Beruf, und das auf Augenhöhe. Dafür werden wir im nächsten Jahr die Mehrheiten bekommen.
Schönen Dank.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Elke Ferner. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Florian Bernschneider. Bitte schön, Kollege Florian
Bernschneider.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann es sich
in dieser Aktuellen Stunde sehr leicht machen, indem
man sagt, dass allein der Titel Ihrer Aktuellen Stunde
weit an der Realität vorbeigeht und es sich deswegen eigentlich gar nicht lohnt, darüber zu diskutieren.
({0})
Das, was Sie der Koalition unterstellen - Streit und Uneinigkeit -, gibt es eigentlich gar nicht.
({1})
Das wird deutlich, wenn man sich die Äußerungen der
Fraktionen und die Äußerungen der Ministerien in den
letzten Tagen anschaut.
({2})
Diesen Streit gibt es gar nicht. Es gibt Einigkeit in der
Koalition, zum Beispiel hinsichtlich des Ziels, einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, weil es nichts Generationengerechteres gibt, als zukünftigen Generationen
nicht ständig neue Schulden zu hinterlassen.
({3})
Es gibt Einigkeit in der Koalition über eine familienpolitische Notwendigkeit, nämlich über die Notwendigkeit,
die familienpolitischen Leistungen zu evaluieren und
nach dieser Evaluierung zu überprüfen, wie man sie effizienter aufeinander abstimmen kann.
Über eine Frage diskutieren die Kolleginnen und Kollegen in der Union, wir in der FDP und, wie ich hoffe,
auch Sie in der Opposition: Wie erreichen wir es, dass
Männer und Frauen nach einer Familienphase schnellstmöglich wieder in den Beruf zurückkehren können? Das
ist völlig legitim. Das ändert aber nichts daran, dass sich
die Antworten an den beiden genannten Kriterien orientieren müssen, nämlich an dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts und einem effizienten System familienpolitischer Leistungen.
Insoweit gibt es eigentlich gar keinen Grund, länger
über dieses Thema zu sprechen. Der wahre Hintergrund,
warum Sie diese Aktuelle Stunde anzetteln, ist auch gar
nicht dieses Thema. Der wahre Hintergrund ist, dass Sie
sich darüber ärgern, dass Ihre familienpolitische Kritik
an uns nicht gezündet hat. Das haben Sie in der Haushaltswoche nicht geschafft. Deswegen wollen Sie Ihr
Theater in dieser Woche einfach fortsetzen.
({4})
Das ist Ihr gutes Recht als Opposition. Das ist nicht besonders kreativ. Ihre Kritik wird in dieser Woche genauso wenig zünden wie in der Haushaltswoche.
({5})
Jeder hat natürlich eine zweite Chance verdient. Die
wollen wir auch Ihnen lassen, aber ich sage Ihnen: Es ist
auch das Recht der Koalitionsfraktionen, Sie an den Ansprüchen zu messen, die Sie uns hier Woche für Woche
vorhalten.
Gehen wir die Punkte doch einmal durch. Schauen
wir uns das Thema Betreuungsgeld an, mit dem die SPD
krampfhaft versucht, zu skandalisieren. Es ist nur blöd,
dass die Menschen noch wissen, dass die SPD in der
Großen Koalition der Verankerung des Betreuungsgeldes im SGB zugestimmt hat.
({6})
Das versuchen Sie jetzt vergessen zu machen. Sie sagen
den Menschen: Wenn wir jetzt die Bundestagswahl gewinnen, dann schaffen wir das Betreuungsgeld sofort ab.
({7})
Das ist das Versprechen einer Partei, die in Thüringen
Regierungsverantwortung trägt. Dort gibt es das Betreuungsgeld.
({8})
- Frau Ferner, ich frage Sie: Was haben Sie in Thüringen
eigentlich gemacht, um das Betreuungsgeld abzuschaffen?
({9})
Sie mit Ihren Genossen haben in Thüringen darauf gewartet, dass wir das Betreuungsgeld hier in Berlin verabschieden, damit Sie es in Thüringen endlich abschaffen
können, ohne jemandem dabei wehzutun.
({10})
In Thüringen wird die spannende Frage sein, ob Sie
Ihr zweites Versprechen, das Sie hier abgeben, halten,
nämlich die Einsparungen aus dem Betreuungsgeld in
den Ausbau und in die Verbesserung der Qualität der Kitaplätze zu investieren.
({11})
Ich sage Ihnen schon jetzt: Ich glaube es Ihnen nicht.
Ein Blick nach Schleswig-Holstein reicht. In SchleswigHolstein profitieren die Kommunen von einem wichtigen Schritt, den wir als christlich-liberale Koalition gegangen sind, nämlich von der Entlastung der Kommunen
durch die Übernahme der Grundsicherung im Alter. Was
machen Sie in Schleswig-Holstein?
({12})
Sorgen Sie dafür, dass die Kommunen diesen zusätzlichen Spielraum für den Ausbau und für die Qualitätsverbesserung von Kinderbetreuung zur Verfügung haben?
Nein, Sie kürzen den Länderzuschuss.
({13})
Meine Damen und Herren, wenn man die Gelegenheit
hat, Spielraum für den Ausbau der Kinderbetreuung zu
lassen, dann sollte man ihn auch geben. Es ist nicht das
erste Mal, dass Sie auf dem Rücken der Familien Einsparungen vornehmen und trotzdem keinen ausgeglichenen Haushalt hinkriegen.
Schauen wir nach Hamburg. Dort sparen Sie gerade
kräftig an der Jugendsozialarbeit. Schauen wir nach Baden-Württemberg. Dort wollen Sie in den kommenden
Jahren 11 600 Lehrerstellen streichen.
({14})
Wie passt das zu der vorsorgenden Politik von
Hannelore Kraft, die 1 Euro lieber zu früh als zu spät
ausgeben will? Ich sehe das - ehrlich gesagt - nicht. Das
müssen Sie sich vorhalten lassen, wenn Sie uns jede Woche erklären, unsere Familienpolitik sei nicht konsistent.
({15})
Da wir beim Thema sind: Hannelore Kraft stellt lieber
2 000 neue Beamte ein, als sich um das drängende
Thema des Ausbaus der Kinderbetreuung zu kümmern.
Man muss gar nicht nach Nordrhein-Westfalen gucken,
ein Blick nach Berlin reicht aus. Ihr Partybär Klaus
Wowereit schafft es nicht einmal, das Elterngeld, die familienpolitische Leistung des Bundes, an die Familien
auszuzahlen. Die Familien warten monatelang darauf,
das Geld zu erhalten, das ihnen zusteht.
({16})
Wo auch immer man in Deutschland hinsieht: Wenn
Familien sich auf Sie verlassen müssen, dann sind sie
verlassen. Schauen Sie dagegen auf diese Koalition. Auf
uns können sich die Familien verlassen.
({17})
In einem Punkt können Sie sicher sein: Diese Koalition
ist sich zu 100 Prozent einig, alles dafür zu tun, dass Sie
nach der Bundestagswahl keine familienpolitische Verantwortung in diesem Land tragen werden.
Vielen Dank.
({18})
Vielen Dank, Kollege Florian Bernschneider. Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten
Vizepräsident Eduard Oswald
ist unser Kollege Stefan Schwartze. Bitte schön, Kollege
Stefan Schwartze.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die letzte Rede
hat eines bewiesen: Getroffene Hunde jaulen auf.
({0})
Das Jaulen war sehr laut.
({1})
Ich glaube, so eine Aktuelle Stunde wie heute,
({2})
in der von der Union nur eine einzige Rednerin bereit ist,
hier nach vorn zu gehen, zeigt ganz deutlich: Die Union
hat eines erkannt. Sie haben nämlich keine Linie in der
Familienpolitik. Sie wissen überhaupt nicht, wo Sie hinwollen. Es gibt keinen, der erklären kann, worum es eigentlich geht.
({3})
Für den wichtigen Rechtsanspruch auf die U3-Betreuung fehlen in Deutschland noch 220 000 Plätze.
({4})
Dazu sollten wir hier Vorschläge machen.
({5})
- Ja, Sie tun definitiv viel zu wenig.
({6})
Stattdessen geben Sie jetzt 2 Milliarden Euro jährlich für
das Betreuungsgeld aus, eine Leistung, die nur der CSU
hilft, die nur die CSU will und die niemand in diesem
Land braucht.
({7})
Den nächsten Coup landen Sie jetzt mit dem Thema
Dienstmädchen. Es geht um Dienstmädchen für alle
Gutverdienenden. Sie schlagen vor, noch einmal 1 Milliarde Euro jährlich zur Verfügung zu stellen. Geld spielt
bei Ihnen keine Rolle.
({8})
Frau Fischbach, Sie als stellvertretende Fraktionsvorsitzende haben die Debatte hier begonnen mit der großen
Verkündigung: Die Unionsfamilienpolitiker haben sich
geeinigt. - Allein das ist eigentlich eine Nachrichtenmeldung wert.
({9})
Sie haben sich auf ein völlig unausgegorenes Gutscheinmodell für Haushaltshilfen geeinigt. Sie haben sich so
sehr geeinigt, dass man Sie hier heute allein im Regen
stehen lässt.
({10})
Die Einzigen, die sozusagen gleich auf den Zug aufspringen, sind die Familienministerin Schröder und Frau
von der Leyen. Frau Schröder findet das Vorhaben gut.
Sie ist der Meinung, dass es eine gute Maßnahme ist, um
dem Fachkräftemangel in diesem Land zu begegnen. Erstaunlicherweise springt auch Frau von der Leyen auf
den Zug.
({11})
Sie erklärt, dass es ein prima Vorhaben ist, durch das den
Menschen mehr Zeit für Familien ermöglicht wird. Es ist
sehr erstaunlich, dass sich die beiden einig sind.
({12})
Interessanterweise verwechseln sie ihre Ressorts, aber
das macht nichts.
({13})
Schon heute gibt es viele Möglichkeiten für den Umgang mit haushaltsnahen Dienstleistungen. Viele davon
sind steuerlich absetzbar. Bis zu 4 000 Euro können
Haushalte auf diese Weise sparen. Warum Sie da eine
zusätzliche Leistung einführen wollen, die im Wesentlichen Besserverdienenden zugutekommt, ist ein absolutes Rätsel.
({14})
Zu den 4 000 Euro Steuerersparnis gibt es dann - wenn
es nach Ihrem Willen geht, Frau Fischbach - obendrauf
1 080 Euro.
({15})
Die alleinerziehende Kassiererin wird sich trotz
90-Euro-Gutschein pro Monat keine Haushaltshilfe leisten können, und die Haushaltshilfe kann sich dies erst
recht nicht leisten. Die Regelung, die Sie vorschlagen,
ist schlichter Unsinn.
({16})
Uns in der SPD-Bundestagsfraktion geht es darum,
eine wirkliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinzubekommen.
({17})
Wir wollen einen flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung, wir wollen einen Rechtsanspruch auf einen
Ganztagsbetreuungsplatz,
({18})
wir wollen echte Wahlfreiheit und eine echte Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das hilft allen, egal wie
hoch ihr Einkommen ist. Diese neue Maßnahme, die Sie
vorschlagen, ist keine Antwort auf die bestehenden Probleme.
({19})
- Das zeigt, wie ernst Sie Familienpolitik nehmen. Mit
solchen intelligenten Zwischenrufen kommen wir bestimmt weiter.
({20})
Wir brauchen eine Stärkung der Partnerschaft in allen
Lebensbereichen. Klar ist, dass Sie mit Ihrem Vorschlag,
Personal für 6 Euro pro Stunde einzustellen, definitiv auf
dem falschen Weg sind.
({21})
- Ja, meine Redezeit ist gleich um. Ich kann Sie da beruhigen.
({22})
Es tut halt weh, sich Wahrheiten anhören zu müssen.
Die Proteste aus Ihrer Fraktion kamen dann sehr schnell,
auch die aus dem Finanzministerium, von den Haushaltspolitikern, von der FDP und sogar von der familienpolitischen Sprecherin. Das, was Sie vorgeschlagen haben, ist
nichts anderes als schwarz-gelbes Kasperletheater.
({23})
Vielen Dank, Kollege Stefan Schwartze. - Ich weise
darauf hin, dass der Kollege Rolf Schwanitz jetzt unser
letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist. Kollege Rolf
Schwanitz hat das Wort. Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
zum Schluss als Haushälter der SPD-Fraktion für den
Familienetat noch ein paar Sätze zu den haushaltspolitischen Aspekten dieses Vorschlages sagen. Es ist erst wenige Wochen her, dass die Koalition dieses unsinnige
Betreuungsgeld beschlossen hat und dann mit einem Änderungsantrag die finanziellen Folgewirkungen dieser
verheerenden Entscheidung auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben hat. Das, was wir da erlebt haben, war mit Blick auf den Herbst des nächsten Jahres
eigentlich schon die erste Operation Wählerbetrug.
({0})
Der Gesamtumfang des Betreuungsgeldes liegt ab
2014 - wir werden das sehen, wenn Sie nicht gestoppt
werden - bei mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr. Jetzt
wollen Sie die Putzprämie quasi hinterherschieben. Zugegeben: Wie hoch die damit verbundenen Kosten sein
werden, muss erst noch genau berechnet werden. In ersten Kalkulationen, die schon zu lesen sind, ist von einem
Betrag zwischen 600 und 900 Millionen Euro pro Jahr
die Rede. Ich habe allerdings auch gelesen, dass sogar
mit Kosten von über 1 Milliarde Euro jährlich kalkuliert
wird. Es handelt sich also um eine weitere enorme Kostenbelastung, die den Familienetat natürlich nicht unberührt lassen wird.
Allein die Herdprämie wird zu massiven Kürzungen
im Familienetat, bei den familienpolitischen Leistungen,
führen, wenn Sie nicht gestoppt werden.
({1})
Wenn die Putzprämie mit einem Volumen von rund
1 Milliarde Euro hinzukommt, dann ist völlig klar, was
die Konsequenz für den Familienetat sein wird.
({2})
Ich sage es Ihnen schon jetzt voraus - denn ich bin fest
davon überzeugt, dass Sie daran schon arbeiten -:
({3})
Sie werden das Elterngeld zerschlagen.
({4})
Das Elterngeld ist nämlich die einzige Maßnahme im Familienetat, die Sie zur Gegenfinanzierung heranziehen
können. Ich bin fest davon überzeugt, dass die FDP
schon an einem entsprechenden Modell arbeitet.
({5})
Es ist wirklich perfide: Da hat sich Frau Schröder
noch vor wenigen Tagen einen Showkampf mit Herrn
Hundt geliefert
({6})
- unter anderem ging es um das Elterngeld;
({7})
sie hat sich für den Erhalt des Elterngeldes starkgemacht -,
aber hinter dem Rücken der Öffentlichkeit werden schon
längst Modelle formuliert, deren finanzielle Belastungen
zur Folge haben werden, dass das Elterngeld fällt. Ich
halte das für unverantwortlich.
({8})
Genauso verheerend ist, dass die geplante Putzprämie
- ich sage es einmal so - das Ansehen der Familienpolitik völlig zerstört.
({9})
Ich will einige Aussagen, die teilweise schon erwähnt
worden sind, zitieren, da Kollegin Fischbach ja sagte,
das alles sei kein Thema. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Herr GrosseBrömer, sagte: Das, worüber hier diskutiert worden ist
und was vorgeschlagen worden ist, ist kein ernsthaftes
Thema.
({10})
Der Vorsitzende der Senioren-Union sagte: Wir neigen
zu Schnellschüssen. - Der Kollege Barthle, Mitglied des
Haushaltsausschusses, sagte: Das ist nicht umsetzungsfähig. - Der FDP-Generalsekretär, Herr Döring, will das
System der Familienförderung insgesamt infrage stellen.
Das ist die Situation.
({11})
Mit Frau Schröder als Ministerin und durch solche Vorschläge wird die Familienpolitik insgesamt zu einer
Lachnummer gemacht
({12})
- und zwar auf einer nach oben offenen Richterskala -,
und die FDP packt schon die Abrissbirne aus, nach dem
Motto: Was kann ich in diesem Bereich nach der Bundestagswahl als Allererstes rasieren?
({13})
Mir persönlich ist es langsam egal, ob Frau Schröder
aus Berechnung oder aus Unfähigkeit so handelt. Das
gesamte Auftreten, das Frau Schröder und ihre Helfershelfer in der Familienpolitik an den Tag legen, wirkt allerdings wie ein Satz Treibminen: Jeder weiß, dass das
Ganze explodieren wird; nur die Schadensausmaße sind
noch unklar.
({14})
Das ist die Situation.
Ich kann am Ende dieser Aktuellen Stunde nur an unsere Zuschauerinnen und Zuschauer appellieren: Sie haben es im nächsten Herbst in der Hand. Stoppen Sie bei
der nächsten Bundestagswahl diese Wahnsinnspolitik
der Koalition! Es geht um sehr viel.
Herzlichen Dank.
({15})
Kollege Rolf Schwanitz war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde, die damit beendet ist.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Max Straubinger, Peter Götz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Claudia Bögel, Dr. Edmund
Peter Geisen, Heinz-Peter Haustein, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Zukunft für ländliche Räume - Regionale
Vielfalt sichern und ausbauen
- Drucksache 17/11654 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gutes Leben, Gute Innovationen, Gute Arbeit Politik für ländliche Räume effektiv und effizient gestalten
- Drucksache 17/11031 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für Tourismus -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Ausschuss für Kultur und Medien -
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 2011
- Drucksache 17/8360 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Hans-Josef
Fell, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz
und Energiewende
- Drucksachen 17/9583, 17/11672 Berichterstattung:Abgeordnete Petra Müller ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Es sind alle damit
Vizepräsident Eduard Oswald
einverstanden. Dann haben wir dies gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Volker Kauder, der Vorsitzende der CDU/CSUFraktion. Bitte schön, Kollege Volker Kauder.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir legen heute einen Antrag zur Entwicklung der ländlichen Räume vor. Die Bundespolitik ist für die Entwicklung der ländlichen Räume nur begrenzt zuständig. Eigentlich liegt diese Aufgabe bei den Ländern und den
Kommunen. Es gibt eine ganze Reihe von Förderprogrammen, mit denen Einfluss auf die Politik - die, wenn
es gut läuft, ausgewogene Politik - und die Entwicklungen in der Stadt und auf dem Land genommen werden
kann.
Wir wollen mit unserem heutigen Antrag keinen Keil
zwischen ländliche Räume und urbane Entwicklungszentren bzw. Ballungsgebiete treiben. Beide haben ihre
Berechtigung und ihre Besonderheiten. Deshalb gibt es
nicht nur die Koalitionsarbeitsgruppe „Ländliche
Räume“ - ich war sehr froh darüber, dass wir gleich zu
gemeinsamen Ergebnissen kommen konnten -, sondern
auch eine Arbeitsgruppe, die sich mit den besonderen
Herausforderungen der großen Städte beschäftigt. Auch
darüber werden wir reden. Ein Unterschied zwischen
den ländlichen Räumen und den großen Städten ist allerdings, dass die großen Städte mit ihren Sorgen eher gehört werden, weil es dort mehr Menschen gibt als in den
ländlichen Räumen.
Warum sind wir jetzt in besonderer Weise mit dem
Thema ländlicher Raum befasst? Von der demografischen Entwicklung sind die ländlichen Räume viel stärker betroffen als die großen Ballungsgebiete. Deshalb
sind besondere Antworten nötig.
Für unser Land war kennzeichnend, dass wir immer
gleichwertige Lebenschancen, Arbeitschancen und
Ausbildungschancen in Stadt und Land hatten, dass es
eben kein Gefälle gab, das von eigentlich unbewohnbaren, unzumutbaren Gebieten bis hin zu den bevorzugten
Ballungsgebieten reichte, dass wir keine Situation wie in
Frankreich haben, wo eine zunehmende Entleerung
ländlicher Räume stattgefunden hat; bei uns sind die
ländlichen Räume vielmehr stark und bieten Lebenschancen für Generationen.
Aufgrund der immer geringer werdenden Zahl junger
Menschen stehen die ländlichen Räume jetzt vor besonderen Herausforderungen. Mit der demografischen Entwicklung werden wir die nächsten 30 Jahre leben müssen; denn so lange wird es auf jeden Fall so bleiben, wie
es jetzt ist. Deswegen müssen wir auf die Fragen, die
sich in diesem Zeitraum stellen, Antworten geben.
({0})
Wenn wir wollen, dass es gleichwertige Lebensverhältnisse in den ländlichen Räumen und den Ballungsgebieten gibt, müssen wir alles dafür tun, um die Lebensmöglichkeiten zu stärken.
({1})
- Es ist sehr schön, dass aus den Reihen der Grünen ein
zustimmendes Nicken kommt. - Ich muss aber sagen:
Für die ländlichen Räume ist es nach wie vor unerlässlich, dass wir dort Straßen bauen. Das machen wir nicht
zum Spaß. Die Menschen können dort nur über gut funktionierende Straßen zu den Einrichtungen kommen, die
sie für ihr Leben brauchen. Wissen Sie, die Grünen sind
eine typische Großstadt- und Universitätsstadtpartei.
({2})
Bei uns gibt es nicht in jedem Dorf eine U-Bahn.
({3})
Ich lade Sie gern einmal zu mir auf die Schwäbische Alb
ein. Da können Sie im Winter nicht mit Ihrem Fahrrädle
von einem Dorf zum anderen fahren. Da brauchen Sie
etwas Anständiges.
({4})
- Ich will Ihnen jetzt einmal Folgendes sagen:
({5})
Auf der Schwäbischen Alb eine Bahnverbindung - hin
und her -, das ist geradezu lächerlich. Machen wir uns
doch nichts vor.
({6})
Einen schöneren Beweis als diesen einen Satz dafür,
dass Sie keine Ahnung vom ländlichen Raum haben,
gibt es gar nicht.
({7})
Wir brauchen die Straßenverbindungen, und wir brauchen
etwas, worum wir uns wirklich bemühen - das steht in
diesem Antrag, zu dem nachher gesprochen wird -, nämlich die modernen „Straßenverbindungen“, das schnelle
Internet. Wir wollen junge Menschen im ländlichen
Raum halten.
({8})
- Wenn Sie einen Posten als Brüllaffe brauchen, können
Sie sich nachher bei mir bewerben. Seien Sie jetzt einmal ein bisschen friedlich.
({9})
Wir brauchen diese schnelle Internetverbindung, damit sich junge Menschen selbstständig machen können.
Der ländliche Raum lebt stark vom Mittelstand. Für
viele mittelständische Unternehmen ist es in den
Ballungsgebieten zu teuer, Grund und Boden zu kaufen.
Ein großer Teil des Mittelstandes besteht aus der Zulieferindustrie. Er braucht heute eine schnelle Internetverbindung, um mit dem Betrieb, den er beliefern will, zu
kommunizieren. Da gibt es junge Menschen, die sich als
Konstrukteure selbstständig machen und das schnelle
Internet brauchen. Da sind wir in der Koalition auf dem
richtigen Weg; aber es muss noch schneller und konsequenter daran gearbeitet werden, dass dies zum Erfolg
führt.
({10})
Die Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Antrag
erfolgreich gearbeitet haben, werden nachher noch auf
die Einzelheiten eingehen. Ich will ein Thema herausstellen, bei dem wir, wie ich finde, im Verlauf der
Diskussion der nächsten Monate doch noch etwas konkreter werden müssen.
Eine große Sorge der Menschen im ländlichen Raum
betrifft die Gesundheitsversorgung. Gerade die älter
werdenden Menschen fragen sich: Wird es noch eine
entsprechende Gesundheitsversorgung geben? Deswegen müssen wir Antworten darauf geben: Wie können
wir erreichen, dass auch in Zukunft Ärzte bereit sind, im
ländlichen Raum eine Praxis aufzumachen? Ich will die
freie Praxis nach wie vor unterstützen; aber es wird
Situationen geben, wo wir ohne Medizinische Versorgungszentren nicht weiterkommen.
({11})
Deswegen müssen wir Alternativen anbieten. Beides
muss möglich sein. Wir müssen uns fragen, ob die Zahl
der Mediziner, die wir ausbilden, wirklich ausreicht oder
ob nicht mehr Mediziner ausgebildet werden müssen.
Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass heute
80 Prozent der Absolventen von medizinischen Fakultäten Frauen sind, die eben andere Wünsche und Vorstellungen haben als der typische Landarzt früherer Jahre.
Wir sind die Partei des ländlichen Raumes und der
Großstädte.
({12})
Wir werden in beiden Fällen die richtigen Antworten geben.
({13})
Ich danke allen, die in dieser Arbeitsgruppe die
konkreten 105 Vorschläge gemacht haben. Das zeigt:
Die wahre Partei des ländlichen Raumes und der Großstädte, das ist die Union
({14})
- und die FDP, diese Koalition.
({15})
Dies war unser Kollege Volker Kauder für die Fraktion der CDU/CSU. Nächster Redner für die Fraktion
der Sozialdemokraten ist unser Kollege Willi Brase.
Bitte schön, Kollege Willi Brase.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kauder, wenn das
so schön wäre mit der Union in den Großstädten, dann
wären die letzten Wahlergebnisse - schauen Sie sich
diese einmal an - anders ausgefallen; die sprechen für
sich.
({0})
Man sollte manchmal den Mund nicht zu voll nehmen.
({1})
- Sie haben einen Vergleich gezogen.
Ich finde es sehr gut, dass wir hier über die Entwicklung der ländlichen Räume diskutieren. Ich kann nur
sagen, dass wir in der SPD-Bundestagsfraktion sehr intensiv darüber beraten haben und heute auch einen entsprechenden Antrag vorlegen.
({2})
- Nein, der ist besser als Ihrer; aber dazu kommen wir
noch.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass ländlicher
Raum nicht gleich ländlicher Raum ist. Ländlicher
Raum heißt auch nicht automatisch Landwirtschaft. Auf
der einen Seite haben wir ländliche Räume, die industriepolitisch sehr stark sind, die strukturpolitisch hervorragend dastehen, auf der anderen Seite haben wir ländliche Räume, in denen Entvölkerung und demografischer
Wandel schon teilweise brutal zugeschlagen haben.
Darauf müssen Antworten gegeben werden: Wie ist
es mit der Daseinsvorsorge? Wie ist es mit der medizinischen Versorgung? Wie ist es mit den Möglichkeiten,
Bildung für die jungen Leute zu organisieren? Wie gehen wir damit um, dass, vor allen Dingen aus bestimmten Ländern, aus bestimmten ländlichen Regionen, viele
junge Frauen wegziehen, in die Metropolen ziehen? Da
vermisse ich Antworten. Die gibt es auch noch nicht.
Deshalb sollte man vorsichtig sein und bei aller Kritik
nicht meinen, man habe das allein selig machende Konzept.
({3})
Wir sind der Auffassung, dass wir einen Ansatz brauchen, bei dem die Dinge im Zusammenhang betrachtet
werden. Derzeit wird in Brüssel eine Debatte über die
Weiterentwicklung der Gemeinsamen europäischen
Agrarpolitik geführt. Dort ist vorgeschlagen worden, die
verschiedenen Fonds, die es gibt - Sozialfonds, Kohäsionsfonds, Agrarfonds, Regionalfonds -, stärker zusammenzuführen. Wir sagen: Jawohl, dieses muss stärker
miteinander verbunden werden, damit wir eine entsprechende Politik in den Regionen umsetzen können. Wir
sind der Auffassung, dass auch die GAK und die GRW
zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Entwicklung ländlicher
Räume“ zusammengeführt werden müssen.
({4})
Des Weiteren wollen wir den Menschen in den Regionen eine Perspektive geben, und zwar dadurch, dass wir
Zivilgesellschaft, Politik vor Ort, Kommunalpolitik,
Verbände und Institutionen zusammenbringen, damit
über die regionale Entwicklung diskutiert wird und die
Regionen sich fragen: Wo stehen wir? Wohin wollen
wir? Wo haben wir unsere Schwerpunkte? - Dies möchten wir mit einem Regionalbudget versehen, bei dem die
Regionen aber selbst entscheiden, wo ihr Weg ist, wohin
sie gehen wollen und wie sie möglichst viele mitnehmen.
Ich kann Ihnen aus meinem Bundesland Folgendes
berichten: Wir haben so etwas Ende der 80er-, Anfang
der 90er-Jahre mithilfe eines regionalen Entwicklungskonzepts auf den Weg gebracht. Vom Bauernverband
über die Gewerkschaften und Arbeitgeber bis zur
Kommunalpolitik haben alle zusammengesessen. Heute
tragen wir die Frucht davon: Wir haben blühende ländliche Regionen, in denen sich die Menschen, die dort leben, zusammengetan und gesagt haben, wo es langgeht.
Da wollen wir als SPD-Bundestagsfraktion hin.
({5})
Es ist richtig, dass in ländlichen Regionen Infrastrukturpolitik eine wichtige Rolle spielt, dass wir eine vernünftige Finanzierung der Kommunen brauchen - ohne
die geht es nicht -, dass wir eine Weiterentwicklung des
Breitbandsektors brauchen und vieles mehr.
Ich möchte einen Punkt ansprechen, der in der
Debatte häufig zu kurz kommt. Wir haben auch ländliche Regionen, wo es eine Veränderung in der Agrarwirtschaft gibt. Damit spreche ich die großen Schweinemastbetriebe an. Ich habe dieser Tage die wunderbare
Überschrift „Protest am Hähnchen-Highway“ gesehen.
Das betrifft die Gegend um Celle und Uelzen. Wir
bekommen mit, dass sich mittlerweile sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche dagegen wehren,
dass in Schlachthöfen, in Schlachtbetrieben, in Großschlachtbetrieben vor allen Dingen Werkvertragsarbeitnehmer teilweise für 3, 4 oder 5 Euro die Stunde beschäftigt sind.
({6})
Ich will es einmal so sagen: Das ist Dumping. Mittlerweile ist diese Region zum Dumpingland der europäischen Schlachtbranche geworden. Es ist nicht akzeptabel, dass wir zulassen, dass Menschen in Deutschland, in
einem der reichsten Länder der Welt, für 3,50 Euro die
Stunde arbeiten und ihnen vom Lohn auch noch Geld für
Kost und Logis abgezogen wird. Es gibt noch viele
andere Beispiele mehr. Sie können das inzwischen fast
wöchentlich in den Zeitungen lesen. Da vermisse ich
eine Reaktion der Bundesregierung. Was tut sie dagegen?
({7})
Kollege Brase, Sie haben gemerkt, es kommt eine
Zwischenfrage aus der Fraktion der CDU/CSU.
Bitte.
Bitte schön, Kollege.
Sehr geehrter Herr Kollege Brase, Sie haben gerade
für die SPD-Fraktion eine Lobhudelei für Ihre Politik in
den ländlichen Räumen betrieben. Was sagen Sie denn
dazu, dass Ihr Spitzenkandidat in Niedersachsen den
Flächenfaktor aus dem kommunalen Finanzausgleich
herausnehmen möchte? Dies würde dazu führen, dass
gerade die ländlich geprägten Landkreise Mindereinnahmen von zum Teil mehr als 7 bis 8 Millionen Euro zu
verkraften hätten. Wie verträgt sich das mit dem, was Sie
hier in diesem Hause gerade den Koalitionsfraktionen
immer vorwerfen, nämlich dass sie angeblich nicht genug für den ländlichen Raum tun würden?
({0})
Ich glaube, hierzu sollten Sie sich einmal äußern. Wie
stehen Sie dazu?
Ich habe den Koalitionsfraktionen nicht vorgeworfen,
dass sie nichts für den ländlichen Raum tun. Ich habe nur
gefragt: Was macht diese Koalition bezogen auf die unzumutbaren Zustände von Werkvertragsarbeitnehmern
in der Schlachthofindustrie in Deutschland? Das habe
ich massiv kritisiert. Ich werde nicht aufhören, das auch
weiterhin zu kritisieren.
({0})
- Das ist unredlich, Herr Kauder. Wenn wir über den
ländlichen Raum reden, dann reden wir auch darüber, in
welchen Bereichen, in welchen Betrieben Menschen
beschäftigt sind, und dort werden sie unter unwürdigen
Zuständen beschäftigt.
Das war die Beantwortung der Frage des Kollegen
Andreas Mattfeldt. - Jetzt gibt es eine weitere Zwischenfrage von der Fraktion der Grünen. Herr Kollege Willi
Brase, gestatten Sie diese?
Ja, gerne.
Sie ist auch gestattet. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Brase, nur eine Frage: Anfang Januar steht das
Bauordnungsgesetz auf der Tagesordnung. Dann haben
wir die Möglichkeit, die Massentierhaltung einzudämmen. Bringen auch Sie einen entsprechenden Vorschlag
dazu ein?
({0})
Wir haben, wenn ich das richtig im Kopf habe, einen
Vorschlag in die Debatte eingebracht. Wir werden diesen
Vorschlag vervollständigen und die Debatte weiterverfolgen.
Wenn Sie mit den Menschen vor Ort reden, auch in
den ländlichen Regionen, wo es eine starke Landwirtschaft und auch immer mehr Einrichtungen für Massentierhaltung gibt, dann merken Sie, dass die Menschen
diese Einrichtungen nicht wollen. Wenn ich sehe, was
sich in Niedersachsen in den letzten Jahren teilweise entwickelt hat, dann muss ich sagen, dass das schon eine
Menge ist.
Die Menschen wollen ein Stück weit mitgestalten. Sie
wollen wissen: Was wird dort angebaut? Wie viel haben
wir schon? Müssen noch mehr Massentierbetriebe dazukommen oder nicht? Deshalb sagen wir: Wir wollen ihnen die Chance geben, mitzugestalten, und zwar sowohl
über das von Ihnen angesprochene Bundesbaugesetz als
auch dadurch, dass sie sich in den Regionen mit anderen
zusammensetzen und überlegen, wie sie dies auf den
Weg bringen können. Das halten wir für richtig.
({0})
Wir gehen davon aus, dass wir gleichwertige Lebensverhältnisse in unserem Land insgesamt weiter voranbringen werden. Das bedeutet keine Gleichheit, sondern
das ist das Erzielen und Aufrechterhalten von Mindeststandards im ländlichen Raum. Wir brauchen vernünftige Daseinsvorsorge, Infrastruktur und Erwerbsmöglichkeiten.
Eines dürfen wir jedoch nicht vergessen: Die demografische Entwicklung zwingt uns in unterschiedlichen
Bereichen zu unterschiedlichen Reaktionen und unterschiedlichen Verhaltensweisen in Bezug auf das, was
dort politisch zu machen ist. So haben wir auf der einen
Seite starke industriell geprägte ländliche Regionen, die
gut nach vorne marschieren und in denen es sogar Bevölkerungszuwachs gibt. Auf der anderen Seite haben
wir Regionen, aus denen immer mehr Menschen weggehen und in denen die Löhne nach unten abweichen. Dagegen wollen und müssen wir vorgehen. Deshalb freuen
wir uns auf die Debatte mit Ihnen, aber wir können es Ihnen nicht ersparen: Das, was im Bereich der Schlachtbetriebe läuft, können und wollen wir als SPD nicht akzeptieren.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Claudia Bögel für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Für mich ist Provinz nichts Negatives“ - das
ist ein Zitat von Rainer Brüderle zur Eröffnung unseres
Kongresses „Ländliche Räume, regionale Vielfalt - wie
gestalten wir die Zukunft?“ mit über 500 Teilnehmern.
Meine Heimat ist das Münsterland, und für mich gilt
auch: „Provinz ist nichts Negatives“; denn ich weiß, wie
lebens- und liebenswert das Landleben ist.
Die ländlichen Regionen sind auf der einen Seite Lebens- und Wirtschaftsraum, auf der anderen Seite stecken
ihre Potenziale in Kultur, Tradition und einer lebendigen
Bürgergesellschaft. Das ist also weit mehr als das stark
ideologisch geprägte Bild der grünen Auen und glücklichen Kühe. Sie sind geprägt von mittelständischer
Wirtschaftsstruktur, von den Hidden Champions, die mit
ihren Unternehmen ohne viel Aufhebens zur Regionalität beitragen und sehr nah am Menschen sind. Dies
zeichnet diese Unternehmen aus, und sie bieten Arbeitsplätze in der Region und erhalten somit soziale Strukturen.
Aber gerade auch die ländlichen Regionen sind durch
den demografischen Wandel, die ökonomischen Anforderungen und die ökologischen Bedingungen der Gegenwart vor große Herausforderungen gestellt. Erfreulich
ist, dass viele ländliche Räume diese Probleme eigenständig bewältigen können. Sie sind attraktive Lebensund Wirtschaftsräume mit guten Zukunftsperspektiven.
Anderen Regionen hingegen fällt es sehr schwer, diese
Herausforderungen zu bewältigen, vor allem strukturschwachen Gebieten mit starkem demografischem Wandel. Wir dürfen es nicht zulassen, dass aus diesen Regionen am Ende karges, verödetes Niemandsland wird.
Daher dürfen wir nicht nur auf Veränderungen reagieren,
nein, wir müssen sie aktiv mitgestalten. Es ist Aufgabe
der Politik, dass die Attraktivität ländlicher Räume erhalten bleibt.
Die schwarz-gelbe Koalition hat schon viele wichtige
Punkte für die ländlichen Regionen umgesetzt.
({0})
Wir haben das Landärztegesetz auf den Weg gebracht.
Wir haben das KWK-Gesetz auf den Weg gebracht. Wir
haben die landwirtschaftliche Sozialversicherung neu
geregelt. Wir haben das Telekommunikationsgesetz novelliert.
({1})
Ein Meilenstein; denn investitionsfreundliche Regelungen, ein wettbewerbsorientierter Ausbau, Hochleistungsnetze und die Funktechnik LTE sind gerade für ländliche
Räume von großer Bedeutung. Damit haben wir vielen
mittelständischen TK-Unternehmen gerade in der Fläche
Investitionssicherheit gegeben. Dies trägt regional deutlich zur Arbeitskräftesicherung bei.
Wir bleiben am Ball. Wir haben erkannt, dass noch
vieles getan werden muss, damit die ländlichen Regionen nicht abgekoppelt werden. Sie sind vielfältig, individuell und von unterschiedlicher Struktur und politischer
Historie geprägt. Deshalb ist es nicht eine Maßnahme,
die ergriffen werden muss. Aber es gibt ein klares Ziel:
Wir stärken die ländlichen Räume! Wir müssen dafür
sorgen - und diese Forderung in unserem Antrag ist ein
Novum -, dass zuständigkeitsübergreifend Bund, Länder, Kreise und Kommunen gemeinsam die Maßnahmen
umsetzen.
Als mittelstandspolitische Sprecherin meiner Fraktion
freut es mich besonders, dass wir unter anderem in den
Bereichen wirtschaftliche Entwicklung und Telekommunikation gute und praktikable Handlungsoptionen zusammengestellt haben. Die Breitbandversorgung ist ein
wichtiger Standortfaktor, vor allem für die Wirtschaft.
Es ist daher unser Ziel, eine flächendeckend gleichwertige Teilhabe von städtischen und ländlichen Regionen
am schnellen Internet zu erreichen. Die digitale Spaltung
müssen wir verhindern.
({2})
Die Wirtschaftsstruktur in ländlichen Regionen
Deutschlands ist vom Mittelstand geprägt. Viele Handwerksbetriebe, viele landwirtschaftliche Betriebe, oft in
traditionsreichem Familienbesitz, sind dort zu Hause,
viele IT-Unternehmen sind hinzugekommen. Wir wollen
die Kooperation von Wirtschaft und Forschung fördern.
Wir wollen ihre Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit
sicherstellen und, wenn möglich, verbessern. So setzen
wir uns dafür ein, dass die GRW- und GAK-Mittel mit
entsprechender Zweckbindung verstetigt werden. Das steigert die Innovationsfähigkeit vor allem mittelständischer
Unternehmen.
Meine Damen und Herren, Provinz ist nichts Negatives. Mit dem vorliegenden Antrag zeigen wir, dass uns
die ländlichen Regionen am Herzen liegen, dass wir uns
in unserer politischen Arbeit für starke, lebenswerte
ländliche Räume und eine gleichberechtigte Entwicklung von Stadt und Land einsetzen. Wir nehmen die Probleme der ländlichen Bevölkerung ernst. Wir schwelgen
nicht in ideologischen Fantasien. Wir setzen in unserem
Antrag konkrete handlungsorientierte Impulse. Der Antrag der SPD hingegen ist unkonkret, verwässert, ideologisch und fantasielose Prosa. Das, was Sie hier vorgelegt
haben, ist zu dünn.
({3})
Provinz ist alles andere als ein Schimpfwort. Im Gegenteil: Unser Land profiliert sich durch Regionalität,
durch kommunale Selbstverwaltung, durch starke ländliche Regionen. Diese Potenziale gilt es zu unterstützen;
denn sie reflektieren positiv auch auf die Ballungszentren, die oftmals hoch verschuldet sind.
Meine Damen und Herren, wir lassen unsere Zukunft
nicht durch ideologische Mauern verbauen. Wir lassen
unsere Zukunft nicht durch kurzfristige Denke zerstören.
Unser Antrag denkt Zukunft für ländliche Räume. Wenn
auch Sie so denken, müssen Sie einfach nur zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Alexander Süßmair für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich muss ganz ehrlich sagen: Als ich den Antrag
der Koalition zu den ländlichen Räumen das erste Mal
durchgelesen habe, habe ich mir auf gut Bayerisch gedacht: Ja, is’ denn heut scho’ Weihnachten?
({0})
Man weiß wirklich nicht so genau, ob man jetzt lachen oder weinen soll. Sie legen in Ihrem Antrag über
100 Forderungen zum ländlichen Raum vor und wollen
das Ganze in einer Sofortabstimmung durchs Parlament
peitschen, anstatt uns darüber in Ruhe und in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages gemeinsam fachlich beraten zu lassen. Das finde ich keine ernsthafte parlamentarische Arbeit; das muss ich ganz ehrlich sagen.
({1})
Daran sieht man vielleicht auch, was Ihnen der ländliche
Raum und die Menschen, die dort leben, wirklich wert
sind.
Aber wahrscheinlich sind Sie getrieben von der Angst
vor den anstehenden Wahlen. Bisher hatten Sie in den
Debatten zum ländlichen Raum ja nicht mehr als ein
paar warme Worte übrig und vertraten ansonsten die
Auffassung, die Menschen und die Kommunen im ländlichen Raum sollten selbst sehen, wo sie bleiben.
In Ihrem Antrag schreiben Sie nämlich zum Beispiel,
dass Bund, Länder, Kommunen und nichtstaatliche Akteure in einer gemeinsamen Verantwortung stehen. - Ja,
das mag schon sein. Nur, das Problem ist, dass vor allem
Kommunen und nichtstaatliche Akteure ihre Verantwortung überhaupt nicht mehr wahrnehmen können, und
zwar deshalb, weil die Kassen leer sind und weil die Einkommen niedrig sind.
({2})
Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik, aber leider auch der
Politik der vergangenen Bundesregierungen von RotGrün und Schwarz-Rot.
Dann machen Sie noch einen Vorschlag, den ich besonders eigenartig finde. Sie schreiben in Ihrem Antrag,
dass Kommunen zur Kofinanzierung von Fördermitteln,
zum Beispiel der Europäischen Union, private Gelder
oder Mittel aus Bürgerfonds akquirieren sollten, um
diese Kofinanzierung aufzubringen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich finde es wirklich
dreist, dass die Kommunen bei den Menschen auf dem
Land, die sowieso schon ihre Steuern bezahlen und im
Verhältnis zu den Menschen in den städtischen Zentren
weniger verdienen, auch noch entsprechende Gelder eintreiben sollen.
({4})
Sie sollten stattdessen lieber die Kriterien für Förderprogramme so umgestalten und den Bundesländern so helfen, dass sie diese Förderung auch wahrnehmen können,
weil sie diese Förderung am dringendsten brauchen.
({5})
Aber nein, was machen Sie? - Sie verpulvern lieber die
Milliarden, um Zockerbanken zu helfen, statt den Menschen in den ländlichen Räumen und den Kommunen
mit den leeren Kassen.
({6})
- So ist es aber.
Ich möchte Ihnen nicht absprechen - das gilt übrigens
auch für den Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur
Entwicklung ländlicher Räume vom Bundesministerium
von Frau Aigner -, dass die Analyse der Probleme richtig ist. Die Analyse ist bei Ihnen häufig richtig, aber die
Konsequenzen, die Sie daraus ziehen, sind häufig falsch,
ebenso wie die Maßnahmen, die Sie einleiten.
({7})
Ich möchte hier einige Beispiele bringen.
Erstens. Sie wollen zum Beispiel die Bundesverkehrswege ausbauen. Nun ist es meiner Meinung nach nicht
so, dass wir nicht schon genügend Straßen hätten!
({8})
Das Problem ist aber doch, dass es sich sowohl Bürger
als auch Kommunen leisten können müssen, auf diesen
Straßen etwas fahren zu lassen. Dazu kommt eben noch,
dass durch die Privatisierung der Deutschen Bahn - wo ist
Herr Kauder? - in den vergangenen Jahren viele Strecken
im ländlichen Raum stillgelegt wurden. So schaut es
doch aus. Dann ist Schluss mit der „schwäb’sche Eisebahne“. Das ist die Wahrheit, so schaut es aus im ländlichen Raum.
({9})
Als zweiten Punkt möchte ich erwähnen, dass auch
Sie Forschung und Wissenschaft im ländlichen Raum erhalten und fördern wollen.
({10})
Dann muss ich Sie fragen: Warum gibt es dann immer
noch das seit 1996 existierende und unter Helmut Kohl
eingeführte Konzept der Zentralisierung von Ressortforschung? Das haben Sie auch nicht abgeschafft. Stattdessen haben Sie in den vergangenen Wochen bei den Haushaltsberatungen auch noch gesagt, das Bundesinstitut für
Risikobewertung komme nicht nach Neuruppin in Brandenburg, also in den ländlichen Raum. Das ist doch unglaubwürdig, was Sie hier machen!
({11})
Dritter Punkt: Sie wollen den Fahrradtourismus und
das Fahrradwegenetz erweitern.
({12})
Da frage ich Sie, warum Sie die Mittel dafür im Haushalt gestrichen haben. Das ist doch absurd, wenn Sie das
dann hier hineinschreiben.
({13})
Dann geht es noch um das Ehrenamt bzw. die Förderung des Ehrenamtes.
({14})
Sie wollen das Rentenrecht ändern, damit Rentnerinnen
und Rentner etwas mehr dazuverdienen können, wenn
sie ehrenamtlich engagiert sind. Was ist aber mit den
ALG-II-Empfängern? Da wird nämlich bei ehrenamtlicher
Tätigkeit das ganze Einkommen voll auf die Bezüge angerechnet. Das könnten Sie auch einmal ändern, das gilt
nämlich auch für kommunale Ämter.
({15})
Da tun Sie aber nichts. Diese Menschen haben genauso
das Recht, sich ehrenamtlich zu engagieren.
({16})
Dann gibt es noch Forderungen zum Ehrenamt generell, zur freiwilligen Feuerwehr und zum Katastrophenschutz. Da könnten Sie auch einmal etwas ändern, denn
ehrenamtliche Tätigkeit - auch bei der Feuerwehr - ist
bei Arbeitgebern nicht so gern gesehen und teilweise sogar ein Einstellungshinderungsgrund. Da könnten Sie
auch einmal aktiv werden, anstatt hier nur warme Worte
zu finden.
({17})
Eines ist wirklich dreist: Was machen Sie, nachdem
Sie Ihre über 100 Forderungen aufgestellt haben? - Sie
stellen das Ganze ganz unverschämt wegen der Haushaltslage sofort unter Finanzierungsvorbehalt. Man
müsse die Konsolidierung berücksichtigen, den Fiskalpakt, 1 Prozent maximal für die EU. Warum stellen Sie
denn keine Mittel ein, wenn Sie 100 Vorschläge machen? Sie müssen doch auch sagen, wie Sie die Vorschläge umsetzen wollen! Das ist völlig unglaubwürdig.
({18})
Dann kam noch der absolute Kracher. Da könnte man
fragen: Is’ denn heut scho’ Silvester? Sie haben gesagt,
einer der Parlamentarischen Staatssekretäre solle Koordinator für die ländlichen Räume werden. Ist das wirklich Ihr Ernst? - In anderen Ländern beschäftigen sich
ganze Ministerien mit der Entwicklung des ländlichen
Raums. Aber vielleicht ist ja der Parlamentarische Staatssekretär einer der Weihnachtswichtel, die am Nordpol
die Geschenke zusammenbauen.
({19})
An der Stelle sage ich Ihnen, Herr Staatssekretär Müller
und Herr Staatssekretär Bleser: Ziehen Sie sich schon
einmal warm an!
({20})
Für die Förderung von bürgerschaftlichem Engagement in der Zivilgesellschaft möchten Sie eine Akademie oder eine Bundesstiftung gründen. Dazu habe ich einen guten Vorschlag an Sie. Anfang September haben
die Kollegin Frau Behm und ich im Auftrag des Deutschen Bundestages als Abordnung das 12. Dorfparlament in Schweden besucht.
({21})
Von der FDP, CDU und CSU war leider niemand dabei.
Sie hätten dort vor Ort sehen können, dass uns andere
Länder Lichtjahre voraus sind. Dort sind über 700 Menschen zusammengekommen, die die Interessen des ländlichen Raumes vertreten und über dessen Anliegen beraten haben. Minister haben sich die Klinke in die Hand
gegeben, und die Beschlüsse, die dort gefasst werden,
werden direkt in die Ministerien eingespeist. So etwas
gibt es in vielen anderen europäischen Staaten. Auch in
Deutschland gibt es schon Initiativgruppen, zum Beispiel in Brandenburg. Das sollten Sie unterstützen: ein
Dorfparlament und eine Dorfbewegung für zivilgesellschaftliches Engagement in den ländlichen Räumen.
({22})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Meine Damen und Herren, es tut mir leid: Ihre Wunschliste ist für die Menschen im ländlichen Raum leider nichts wert. Es bleibt
dabei: gute Arbeit, gute Löhne, eine lebenswerte Umwelt und eine öffentliche Daseinsfürsorge, die nicht unter finanziellen und fiskalischen Vorbehalten steht - dafür ist die Linke; das brauchen die Menschen im
ländlichen Raum. Warme Worte reichen nicht.
({0})
Das Wort hat nun Cornelia Behm für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Zustimmung schwindet - nicht nur für die
FDP, sondern auch für die Union, nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Raum.
({0})
Da waren die Bauern seit Jahren die treuesten Parteigänger, die die schwarzen Regierungen im Sattel hielten,
und nun das: Flächenländer wie Nordrhein-Westfalen,
({1})
Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein werden rotgrün und Baden-Württemberg gar grün-rot regiert. Das
war wohl der Anstoß dafür, in der Koalition mal über
eine Strategie für den ländlichen Raum nachzudenken.
Dass die Ursachen für die verlorenen Wahlen in der
verfehlten Politik der letzten Jahre liegen könnten,
({2})
wurde dabei wohl offensichtlich völlig außer Acht gelassen: verzweifelte Milchbauern, Imker, die ihren Honig
nicht vermarkten können, weil Gentechnik drin ist,
Mais, soweit das Auge reicht, und Schweine- und Geflügelställe im Fabrikdesign.
({3})
Das ist nicht Schicksal. Das ist auch nicht dem erbarmungslosen internationalen Wettbewerb geschuldet. Das
ist einzig und allein Folge einer völlig verfehlten Agrarpolitik und einer fehlenden Strategie für den ländlichen
Raum.
({4})
Während manche Medien und große Nahrungsmittelkonzerne mit ihrer Werbung ein romantisches Bild vom
Landleben malen, verlassen junge, kreative und flexible
Menschen das Land und fliehen in die Städte, Gott sei
Dank nicht überall; es werden aber immer mehr.
({5})
Die Ursachen habe ich Ihnen beschrieben.
Wer das Land nur als Produktionsstandort für die
Agrarindustrie statt als Lebensraum sieht, der stellt von
vornherein die Weichen falsch.
({6})
Die grüne Bundestagsfraktion will die Weichen umstellen. Anknüpfend an die rot-grüne Regierungszeit und
mit den Erfahrungen der vergangenen Jahre haben wir
an Konzepten für den ländlichen Raum gearbeitet, die
den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt
stellen: den Menschen, seinen Lebensraum und seine
Lebensgrundlage.
Was wir in den letzten Jahren im Detail dazu erarbeitet haben, kann man nachlesen. Ob es unser Handlungskonzept zur Stärkung der regionalen Wertschöpfung ist
oder die Positionierungen zur Gesundheitsversorgung,
zur sozialen und technischen Infrastruktur oder zum
Tourismus in ländlichen Räumen sind: Sie funktionieren
nur mit einem Politikwechsel.
({7})
Nicht mehr Investitionen in Beton, sondern in Köpfe,
nicht mehr Alimentierung, sondern Unterstützung für
Forschung und Bildung, Innovation und Kooperation,
({8})
nicht mehr Wachsen oder Weichen, sondern Chancen für
Gründerinnen und Gründer, auch in der Landwirtschaft.
Der Green New Deal soll auch auf dem Land stattfinden.
({9})
Wir haben dafür Maßnahmen vorgeschlagen, und wir
haben sie durchgerechnet. Wir versprechen nichts, was
wir nicht halten können, wenn wir wieder regieren. Das
beweisen Grüne aktuell in den Ländern, in denen sie das
Ressort für den ländlichen Raum besetzen.
({10})
Nach den zahlreichen Wahlschlappen in der Vergangenheit hat die Koalition nun auch erkannt, dass sie im
ländlichen Raum etwas tun muss. Sie hat im März dieses
Jahres eine Koalitionsarbeitsgruppe „Ländliche Räume,
regionale Vielfalt“ eingesetzt. Die Kolleginnen und Kollegen haben schnell gearbeitet. Schon heute legen sie einen elfseitigen Antrag zur sofortigen Abstimmung vor.
Hut ab vor so viel Selbstvertrauen!
({11})
Elf Seiten und um die 100 Maßnahmen.
Wir sehen - hier stimme ich dem Kollegen Süßmair
zu - durchaus einige Übereinstimmungen hinsichtlich
der Analyse der Situation, auch bei den Herausforderungen und bei den Maßnahmen. Die allerdings haben bei
Ihnen meist empfehlenden Charakter und stehen unter
Haushaltsvorbehalt.
({12})
Zu so viel Selbstvertrauen hätte auch mehr Mut gepasst.
Es mangelt nicht nur an Mut, sondern auch an Ehrlichkeit.
({13})
Interessant ist beispielsweise, dass die Kolleginnen
und Kollegen der Koalition die GAK zu einem Förderinstrument für den ländlichen Raum entwickeln wollen.
Unseren Antrag dazu haben sie seinerzeit abgelehnt.
({14})
Und: Was soll die Vergabe von Prüfaufträgen bewirken,
wenn gehandelt werden muss?
Das schnelle Internet für alle bleibt ein Traum, wenn
wir uns auf diese Koalition verlassen. Breitband als Universaldienstleistung wie Post und Telefon - also die Verpflichtung der Telekommunikationsanbieter, einen Anschluss mit einer Bandbreite von vorerst 6 Mbit pro
Sekunde bereitzustellen - hätte aus dem Traum Wahrheit
werden lassen.
({15})
Unser Antrag hierzu - von Schwarz-Gelb abgelehnt.
Heute lehnen wir ab; denn wir brauchen keine Versprechungen, sondern Politik. Politik für die Menschen
im ländlichen Raum heute und für die, die dort künftig
leben wollen.
({16})
Das Wort hat nun Ingbert Liebing für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
ländlichen Räume in Deutschland stehen vor einer besonderen demografischen Herausforderung. In den
nächsten 40 bis 50 Jahren wird Deutschlands Bevölkerung nicht nur älter werden, sondern auch deutlich
schrumpfen. 12 bis 17 Millionen Menschen weniger in
Deutschland: Das ist die Bevölkerung von ganz Nordrhein-Westfalen oder den neuen Ländern. Alle weg.
Menschenleer. Diese Entwicklung findet nicht überall
gleichermaßen statt. Während manche Städte, manche
Metropolen noch wachsen, drohen ländliche Regionen
leerzulaufen.
Manche empfehlen ein einfaches Rezept. Die Starken
stärken, heißt es oft genug, gerade bei den Sozialdemokraten. Man müsse die Metropolen stärken, und das
helfe automatisch dem ländlichen Umland. Oder: Dem
ländlichen Raum sei ohnehin nicht zu helfen.
({0})
Das, meine Damen und Herren, kann nicht unsere Antwort sein. Wir haben ein anderes Ziel. Unser Ziel ist es,
auch die ländlichen Regionen lebensfähig und zukunftsfähig zu halten.
({1})
Dabei ist das kein Gegensatz zu den Anforderungen,
die die Städte an die Politik stellen. Natürlich brauchen
wir auch für die Probleme der großen Städte, der Metropolen, passgerechte Antworten auf bevorstehende Veränderungen. Es kann aber auch nicht im Interesse der
Städte liegen, wenn die ländlichen Räume ausbluten.
Schließlich klagen wir heute schon über steigende Immobilienpreise und steigende Mietkosten in den Städten.
Ungesteuerter Zuzug vom Land in die Städte würde
diese Probleme in den Städten noch mehr verschärfen.
Also ist es doch allemal sinnvoller, den Menschen dort
Zukunft zu geben, wo sie heute leben, als sie abzuschreiben.
({2})
Dafür brauchen wir eigenständige Entwicklungsstrategien für die ländlichen Räume. Dazu haben wir mit unserem Antrag und unserem Maßnahmenprogramm einen
wesentlichen Beitrag geleistet. Die Entwicklung der
ländlichen Räume werden wir nicht allein von der Bundesebene gestalten können. Wichtig sind die Kräfte vor
Ort, die wir wecken und unterstützen wollen. Wir brauchen starke Partner vor Ort. Wir brauchen auch die
Kommunen als Partner. Sie müssen zunehmend Aufgaben übernehmen,
({3})
gerade im Bereich der Daseinsversorgung, weil der
Markt es allein nicht mehr regelt.
In vielen Dörfern stellt sich doch heute gar nicht mehr
die Frage, ob etwas privat oder kommunal angeboten
werden soll. Die private Wirtschaft hat sich schon längst
aus manchen Bereichen zurückgezogen. Der Kaufmann
im Dorf hat schon lange dichtgemacht, und der Landarzt
findet keinen Nachfolger. Aus einem als unattraktiv
empfundenen Umfeld ziehen junge Familien weg in die
Stadt. Die Folge: keine Kinder, keine Schulen, keine
Kindergärten. Dies ist die Teufelsspirale, die wir durchbrechen wollen. Wir wollen alles tun, was möglich ist,
um das Leben auf dem Lande zu stärken und attraktiv zu
halten.
({4})
Ein Schlüsselthema ist hierbei die Telekommunikation. Wir brauchen schnelles Internet, und zwar überall,
auch im kleinen Dorf. Denn gerade dann, wenn Straßen
und Schienen nicht direkt vor der Haustür liegen, kommt
dem Internet, kommt der Datenautobahn eine besondere
Bedeutung zu. Die Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, bis 2018 Deutschland flächendeckend mit Breitband mit mindestens 50 MBit pro Sekunde zu versorgen.
Dieses Ziel wollen auch wir erreichen. Aber dafür
braucht es neue Anstrengungen. Viele regionale und
kommunale Initiativen haben sich bereits auf den Weg
gemacht, und die wollen wir mit zielgerichteten Förderprogrammen noch unterstützen.
Ein weiteres zentrales Thema für die ländlichen
Räume ist auch die Landwirtschaft, die auch heute noch
die Landschaft und die Menschen prägt. Wir wollen gerade jungen Menschen Mut machen, Familienbetriebe
fortzuführen. Aber die Landwirtschaft kommt heute
auch unter Druck: Siedlungsbau, Verkehrsinfrastruktur,
in jüngster Zeit insbesondere die Energiegewinnung auf
der Fläche schaffen neue Konkurrenz zur produzierenden Landwirtschaft. Pachtpreise steigen, Eigentümer erzielen höhere Preise durch Verkauf von Ausgleichsflächen als über die Landwirtschaft. Hier wollen wir helfen,
indem wir Flächenkonkurrenz abbauen, und wir wollen
bei der Ausgleichsthematik mit bundeseinheitlichen
Standards und Flächenaufwertung statt Flächenstilllegung der Landwirtschaft Zukunftsperspektiven sichern.
({5})
Die ländlichen Räume dürfen nicht zur Ausgleichsfläche
für wirtschaftliche Dynamik in den Städten missbraucht
werden. Die ländlichen Räume sind auch Wirtschaftsregion, meine Damen und Herren.
({6})
Gerade die Energiewirtschaft bietet den ländlichen
Räumen neue Chancen. Unsere Energiewende bedeutet
dezentralere Strukturen bei der Energieerzeugung. Wenn
wir das alles gut organisieren, dann bietet dies gerade
den Menschen in den ländlichen Räumen neue Chancen
der Wertschöpfung. In meiner Heimat in Nordfriesland
haben wir das mit den Bürgerwindparks seit inzwischen
mehr als 20 Jahren praktiziert. Wir haben gute Erfahrungen gesammelt; denn so bleibt Wertschöpfung in der Region, und dies steigert die Akzeptanz.
Wir haben insgesamt 105 Maßnahmen in unserem
Antrag aufgeführt, ein gutes kompaktes Bündel.
Nun hat aber auch die SPD-Fraktion einen Antrag
vorgelegt.
({7})
Dieser Antrag zeigt jedoch, dass die SPD wenig mit den
ländlichen Räumen anzufangen weiß. Das ist eine ganz
dünne Suppe, die Sie da servieren, meine Damen und
Herren.
({8})
Wenn Ihnen zum Thema Breitband nichts anderes einfällt als ein einziger Satz, Sie aber nicht einen einzigen
Vorschlag parat haben, was man denn tun kann, um den
Ausbau zu forcieren, dann zeigt das nur Ihre Ideen- und
Konzeptionslosigkeit.
Wir als Koalition haben uns an die Arbeit gemacht
und haben geliefert. Etliche Punkte sind schon im Gesetzgebungsgang über verschiedenste Gesetze. Heute hat
der Deutsche Bundestag die Chance, mit dieser Debatte
und mit einer klaren Beschlussfassung ein klares Bekenntnis zu den ländlichen Räumen abzulegen. Wir reden nicht nur über dieses Thema, wir handeln auch.
({9})
Tun Sie dies auch, stimmen Sie unserem Antrag zu.
Dann geben wir den Menschen gemeinsam Zukunft auf
dem Lande.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Florian Pronold für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ländliche Räume sind für viele Menschen Heimat und sind Orte der Verwurzelung. Gerade
in Zeiten, in denen das Leben immer schneller wird, in
denen die Menschen immer mehr dazu gezwungen werden, der Arbeit hinterherzuziehen, ist es besonders wichtig, dass man ländliche Räume stärkt, dass man diese
Heimat erhält, dass man Menschen nicht dazu zwingt,
von dort wegzugehen, wenn sie von dort nicht wegwollen.
({0})
Wir haben in dieser Debatte ein paar Punkte über die
Unterschiedlichkeit von ländlichen Räumen gehört, dass
es welche gibt, die mit den Herausforderungen gut umgehen können, die gute Bedingungen haben, und dass es
welche gibt, die vor wirklich großen Herausforderungen
stehen. Der ländliche Raum ist eben vielschichtig. Auch
die Probleme und Herausforderungen, die es dort gibt,
brauchen unterschiedliche Antworten. Man muss auch
aufpassen, dass man ländliche Räume nicht schlechtredet.
({1})
Ich war vor kurzem bei mir zu Hause in Niederbayern
bei einem Hidden Champion, einem kleinen Unternehmer, der aus München in den ländlichen Raum gezogen
ist. Er hat gesagt: Ich kann dort arbeiten, wo andere Urlaub machen. - Das ist toll, das ist schön und das macht
Spaß. Das ist eine Stärke von ländlichen Räumen, die
man auch hervorheben muss. Ländliche Räume sind attraktiv und bedeuten eben nicht nur Problemfelder.
({2})
Trotzdem gibt es Herausforderungen, denen man sich
zuwenden muss.
Ich hatte gedacht, dass dieses Thema jetzt endlich
ernst genommen würde.
({3})
Die Debatte wurde zunächst innerhalb der Kernzeit
angesetzt. Herr Kauder hat gesprochen.
({4})
Es hat sich dann aber mit seinen Kollegen unterhalten
und die Debatte nicht mehr weiter verfolgt.
({5})
- Doch, die ganze Zeit hat er geredet; ich habe ihn
beobachtet.
Außerdem vermisse ich einen Minister hier.
({6})
Am Anfang der Legislaturperiode, 2009, hat die CSU
darüber gestritten, welcher Minister die Zuständigkeit
für die ländlichen Räume erhalten solle. Ilse Aigner will
ich loben; sie ist anwesend. Aber derjenige, der die Zuständigkeit für die ländlichen Räume für sich reklamiert
hat, war Dr. Peter Ramsauer. Er hat sogar eine eigene
Abteilung für diesen Bereich gegründet, aber er ist heute
nicht hier.
({7})
Da frage ich mich schon: Wo bleibt denn da die Wertigkeit für die ländlichen Räume, wenn der Minister, der für
sich die Zuständigkeit am lautesten reklamiert hat, in der
Debatte heute nicht einmal anwesend ist?
({8})
Sie haben in Ihrem Antrag 105 Forderungspunkte
aufgestellt. Die wenigsten davon betreffen den Bund selber. Viele sind einfach nur nette Anregungen und Ideen
hinsichtlich geänderter Zuständigkeiten für Länder und
Kommunen. Das ist auch schön, das kann man machen.
Die spannendste Frage ist jedoch: Was haben Sie denn
für die ländlichen Räume in diesen drei Jahren getan, in
denen Sie die Verantwortung getragen haben? Was
waren Ihre Worte, und was sind Ihre Taten?
({9})
Herr Liebing, Sie haben gerade das Thema „Breitbandausbau“ angesprochen. Das ist wirklich ein großes
Problem in ländlichen Räumen. Ich habe einige Pressemitteilungen von Wirtschaftsministern dabei, die für
diesen Bereich zuständig waren - angefangen von Glos
über zu Guttenberg bis hin zu den FDP-Wirtschaftsministern - und die seit 2007 jedes Jahr eine neue
Initiative für den Breitbandausbau ankündigt haben, um
den ländlichen Raum mit Breitbandanschlüssen zu
versorgen.
Dann stellt sich zum Schluss der Herr Brüderle hin
und sagt: Die Probleme sind schon gelöst; 98,5 Prozent
der Bevölkerung in den ländlichen Räumen haben doch
einen Breitbandanschluss. - Ja, aber nur mit 1 Megabit
pro Sekunde. Wissen Sie, wie die Realität im Bayerischen Wald ausschaut? Da bin ich schneller, wenn ich
meine Daten auf eine CD brenne und sie von Haus zu
Haus trage, als wenn ich versuche, sie über das Internet
zu verschicken.
({10})
Das ist die Realität in vielen ländlichen Räumen. Das
liegt in Ihrer Verantwortung. Das haben Sie verpennt.
Sogar der Herr Kauder hat noch 2012 erklärt: Wenn
man die Stromversorgung in den ländlichen Räumen genauso angepackt hätte wie den Breitbandausbau, dann
gäbe es heute Tausende von Höfen im Schwarzwald, die
noch mit einer Kerze für Licht sorgen müssten, weil sie
keine Stromversorgung haben.
({11})
Das ist ein Zitat von Herrn Kauder, das Sie nachlesen
können. Da hat er recht. Dort, wo Sie Verantwortung getragen haben für ländliche Räume, haben Sie versagt.
Ein weiterer Punkt: Stärkung der Kommunen.
Nehmen Sie die Städtebauförderung. Sie haben einen
Extratopf für ländliche Räume geschaffen. Das schaut
zunächst gut aus. Aber wenn man sich einmal ansieht,
wohin die Mittel fließen, dann erkennt man: 40 Prozent
der Mittel für Städtebauförderung gehen wie bisher in
ländliche Räume. Aber diese Regierung hat im Vergleich
zu sozialdemokratisch geführten Bauministerien die
Städtebauförderung um 120 Millionen Euro gekürzt.
Das heißt: Unter dem Strich steht heute weniger Geld für
ländliche Räume zur Verfügung, obwohl es jetzt einen
eigenen Topf dafür gibt. Das ist Voodoo-Ökonomie, aber
keine Unterstützung für ländliche Räume, die eine
solche dringend benötigen.
({12})
Viele Menschen wollen gerne in den ländlichen
Räumen wohnen bleiben, müssen aber leider ihren Arbeitsplätzen hinterherziehen. Was ist die Antwort des
Bundesverkehrsministers, der heute nicht da ist? Seine
glorreiche Idee seit über drei Jahren ist eine Pkw-Maut,
die die Pendlerinnen und Pendler insbesondere in den
ländlichen Räumen, die lange Wege zur Arbeit in Kauf
nehmen, zusätzlich bestrafen würde. Wir müssen aber
doch die Menschen unterstützen, die in der Heimat bleiben wollen und dafür lange Wege zur Arbeit auf sich
nehmen. Man darf sie doch nicht noch zusätzlich bestrafen. Das ist aber Ihre Idee.
({13})
Wenn wir uns mit Problemregionen beschäftigen und
mit der Frage, was man gegen diese Probleme tun kann,
dann ist der Dreh- und Angelpunkt die Verbesserung der
Infrastruktur, zum Beispiel der Ausbau bei der Breitbandversorgung. Außerdem stellt sich die Frage, wie es
mit Arbeitsplätzen aussieht.
Wenn man heute Fachkräften einen Arbeitsplatz anbietet, muss man ihnen, um sie zu gewinnen, auch eine
gute Kinderbetreuung bieten.
({14})
Wenn die Kinderbetreuung nicht gut ist, dann gewinnt
man auch keine Fachkräfte. Es geht also um die Kinderbetreuung, um Fachhochschulen und Universitäten. Wir
müssen die Bildung wieder in die ländlichen Räume
tragen
({15})
und dürfen nicht alles in den Metropolen bündeln. Mit
Ihrem Betreuungsgeld nehmen Sie aber wieder einen
Anschlag auf die ländlichen Räume vor; denn damit
verschlechtern Sie die Infrastruktur in den Bereichen
Bildung und Kinderbetreuung.
({16})
Damit erweisen Sie den ländlichen Räumen wieder einen Bärendienst.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der schwarz-gelben Koalition, Sie
werden im nächsten Jahr mit der Kanzlerin einen großen
Kongress durchführen, um das Thema ländliche Räume
gemäß seiner Wichtigkeit zu behandeln.
({17})
Wenn Sie diesen Kongress so wichtig nehmen wie die
heutige Debatte, dann können Sie ihn gleich absagen.
({18})
Nehmen Sie das Thema ernst! Bieten Sie echte Lösungen an, nicht nur 105 Punkte aus dem Wolkenkuckucksheim!
({19})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Volker Kauder.
Herr Pronold, ich habe ja für vieles Verständnis; aber
Sie müssen den Frust, den Sie wegen Ihrer SPD in
Bayern haben, nicht hier abreagieren.
({0})
Kümmern Sie sich erst einmal um Ihre eigenen Sachen.
Ich wollte nur eine Bemerkung zu einem total falschen Satz von Ihnen machen. Jemandem, der einen so
falschen Satz in seiner Rede sagt, kann man unterstellen,
dass auch der Rest nicht richtig ist. Sie haben nämlich
geäußert, dass dort, wo wir für ländliche Räume Verantwortung getragen hätten, nichts passiert sei. Es ist nun
einmal Fakt - das bestreiten nicht einmal die Sozis -,
dass wir in Baden-Württemberg unter der CDU-geführten Landesregierung eine super Politik für ländliche
Räume gemacht haben; das Gleiche gilt für Bayern.
({1})
- Hören Sie einmal zu; es wird noch besser. - Jetzt
haben Sie das große Problem, dass der stellvertretende
Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der ein Sozi
ist, gesagt hat, es sei für die ländlichen Räume völlig
wurscht, „ob es einen Bauern mehr oder weniger“ gebe.
Er hat damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Dort, wo Sozialdemokraten über die Entwicklung von
ländlichen Räumen entscheiden, geht es so aus wie in
Baden-Württemberg: verheerend, furchtbar. Die Sozialdemokraten im ländlichen Raum schämen sich für den
stellvertretenden Ministerpräsidenten, der Mitglied der
Sozialdemokraten ist. - So viel zur Verantwortung für
ländliche Räume.
({2})
Kollege Pronold, wollen Sie darauf reagieren? - Bitte
schön.
Herr Kauder, wenn Sie anderen vorwerfen, dass sie
falsch zitieren, sollten Sie selber richtig zitieren. Ich
habe hier gesagt, dass Sie dort, wo Sie auf der Bundesebene für ländliche Räume Verantwortung tragen - das
habe ich an mehreren Beispielen deutlich gemacht -, das
Gegenteil gemacht haben: Sie haben in der Städtebauförderung die ländlichen Räume benachteiligt. Sie haben
bei der Breitbandversorgung der ländlichen Räume versagt; das ist so.
({0})
Das gilt auch für viele andere Bereiche. Nehmen Sie
die Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, also die Mittel für den ÖPNV im ländlichen Raum:
Die Zuschüsse werden jetzt um die Hälfte gekürzt. Das
wird in den nächsten Jahren in den ländlichen Räumen
Katastrophen auslösen, und dafür tragen Sie die Verantwortung.
Ich kenne mich mit den Details zu Baden-Württemberg nicht so gut aus wie Sie. Aber ich kann Sie bitten,
die Kollegen von der CSU zu fragen - Herr Hinsken
sitzt dort -, was Herr Seehofer mit der von ihm initiierten „Zukunftskommission Landwirtschaft“ ausgelöst
hat. Er hat in diesem Zusammenhang genau das gefordert, was uns Herr Liebing fälschlicherweise vorgehalten
hat; er hat nämlich gefordert, die Starken zu stärken.
Damit hat er einen Proteststurm in Niederbayern und im
ganzen ländlichen Raum ausgelöst. Herr Seehofer
musste extra fünf Stunden mit den Menschen dort sprechen, um die Gemüter zu beruhigen. Er hat dort einen
großen Forderungskatalog entgegengenommen, aber
nichts davon ist umgesetzt.
Insofern gilt: Nicht reden, sondern handeln! An ihren
Taten sollt ihr sie erkennen. Deswegen sage ich: Machen
Sie doch hier kein großes Buhei, sondern sorgen Sie
dort, wo Sie die Verantwortung tragen, dafür, dass wirklich etwas für die Stärkung ländlicher Räume getan wird.
({1})
Das Wort hat nun Edmund Geisen für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Gäste! Die Bedeutung der ländlichen
Räume ist unschätzbar groß, und zwar viel größer als gemeinhin angenommen. Herr Pronold, Sie haben gesagt,
dass Sie hier einige Minister vermissen. Ich möchte Ihnen sagen: Ich vermisse Ihren Fraktionsvorsitzenden und
sogar Ihren Kanzlerkandidaten.
({0})
- Wenn Sie dem Thema eine entsprechende Bedeutung
beimessen, dann lassen Sie mich das ebenfalls tun.
Herr Pronold, ich muss Sie korrigieren: Die schwarzgelbe Regierung hat das getan, was Sie eben zu vermissen meinten. Sie hat ein Städtebauprogramm für
Gemeinden und Kleinstädte aufgelegt, das bereits wirkt.
Das wussten Sie anscheinend noch nicht.
({1})
Es ist beispielhaft und zukunftsweisend, dass der
ländliche Raum durch den vorliegenden Antrag der
christlich-liberalen Koalition deutlich wie nie zuvor in
den Fokus gerückt wird. Wir setzen mit diesem Antrag
die Rahmenbedingungen für eine gute Zukunft. Wir
haben nicht wie andere Fraktionen schnell einen Antrag
geschrieben, wie Herr Süßmair oder wer auch immer es
eben erwähnte.
({2})
Wir haben seit dem Frühjahr 2012 in vielen Sitzungen
mehr als 40 oder 50 Experten angehört. Ich weise die
Unterstellung zurück, dass wir nicht sorgfältig gearbeitet
hätten.
({3})
Die ländlichen Räume sind für mich die Stützpfeiler
und das Rückgrat unserer Gesellschaft.
({4})
In funktionierenden ländlichen Räumen kann man noch
von einer intakten Gesellschaft sprechen. Hier übernehmen die Bürgerinnen und Bürger Verantwortung und
zeigen großes ehrenamtliches Engagement. In den ländlichen Räumen, die ich gut kenne, ist das so.
({5})
Kurz gesagt: Die sozialen Probleme dort sind gering, es
gibt keine sozialen Brennpunkte und weniger Arbeitslose. Die Sozialbudgets werden hier am geringsten
belastet. Immerhin wohnen mehr als 50 Prozent unserer
Bevölkerung in den ländlichen Räumen.
Funktionierende ländliche Räume müssen attraktiv
bleiben, um einer Ausdünnung der Bevölkerung entgegenzuwirken. Das heißt, die Multifunktionalität - Stichworte dazu sind: Nahrungsmittel- und Energieproduktion, Wirtschaftsfaktor, Erholungsgebiet, Klimaschutz
usw. - muss erhalten bleiben. Die Landwirtschaft mit
ihren vor- und nachgelagerten Bereichen muss prosperierend bleiben und zukunftsfähig sein. Mittelstand und
Tourismus sind zu erhalten und zu stärken. Die Daseinsvorsorge ist selbstverständlich attraktiv und zukunftsfähig auszugestalten. Die Infrastruktur - Breitband,
Schienen- und Straßenverkehr - muss gleichwertig mit
der der Städte zukunftsgerecht ausgebaut werden.
Die Nahrungsmittel- und Energieversorgung wird in
Zukunft die wichtigste Anforderung an die ländlichen
Räume sein.
({6})
Lassen Sie mich das als Agrarier unserer Fraktion sagen.
Deshalb müssen wir besonders darauf achten, dass keine
weiteren wertvollen Flächen mehr aus der Produktion
genommen werden.
({7})
Deshalb wendet sich meine Fraktion klar gegen die
unsinnigen Greening-Beschlüsse aus Brüssel, die uns
bisher vorliegen.
({8})
Auch wir von der FDP-Fraktion plädieren schon lange
eindeutig dafür, dass im Bundesnaturschutzgesetz das
Ersatzgeld als gleichrangige Kompensationsmaßnahme
für den Flächenausgleich zu verankern ist.
({9})
Wir müssen vor allen Dingen darauf achten, dass die
Symbiose von Land und Stadt erhalten und zukunftsfest
gemacht wird. Sie wissen, wovon ich spreche: Die
Städte geben dem Land etwas, das Land gibt den Städten
etwas. Statt für eine stetige Vergrößerung der Ballungsgebiete zu sorgen, sollten wir aus meiner Sicht vielmehr
dafür sorgen, dass die Menschen in attraktiven ländlichen Gebieten wohnen bleiben.
({10})
Dies dient der gebotenen Entzerrung und hat mit gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Vorteilen
zu tun, auch rechnerisch.
({11})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Vielen Dank, Herr Präsident, für diesen Hinweis. Gestatten Sie mir noch einen Satz.
Bei der Zukunftsplanung - das merken Sie heute besonders - drückt die christlich-liberale Koalition auf das
Tempo. Mit dem vorliegenden Antrag „Zukunft für ländliche Räume - Regionale Vielfalt sichern und ausbauen“ haben CDU/CSU und FDP den Grundstein gelegt. Erste
Schritte zur Umsetzung sind übrigens schon gemacht
worden: beim Ehrenamt, im TKG und im Baugesetzbuch.
Herr Kollege, Sie wollten doch nur einen Satz sagen.
Verehrter Herr Präsident, was wir hier machen, ist Zukunftspolitik. Deswegen kam ich nicht ganz so schnell
zum Schluss.
({0})
Das ist jetzt aber wirklich der letzte Satz.
Das ist Zukunftspolitik der christlich-liberalen Koalition. Ich bin sicher, dem können alle zustimmen.
({0})
Das Wort hat nun Bettina Herlitzius für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Liebing, Sie haben mit Ihrem Antrag und gerade mit Ihrer
Rede gezeigt, dass Sie ein paar grundlegende Sachen noch
nicht verstanden haben. Sie reden über Städte und über
ländliche Räume. So einfach ist das aber nicht. Mit einem
einfachen Schwarz-Weiß-Bild lassen sich ländliche
Räume und Raumentwicklung nicht mehr beschreiben.
({0})
Wir haben Siedlungsbereiche; wir haben Ballungsbereiche. Schrumpfende und wachsende Regionen liegen oft
nur ein paar Kilometer auseinander. Sie polarisieren hier
beim Thema ländlicher Raum. Das, was Sie sagen, entspricht aber nicht mehr der Realität in unserem Land.
({1})
Da Sie den Raumordnungsbericht hier angehängt haben, könnte man denken, dass Sie es verstanden haben;
denn die Raumordnung ist das Instrument, mit dem Sie
steuernd eingreifen können. Mit diesem Instrument können Sie versuchen, die Vorgabe des Grundgesetzes,
gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, umzusetzen. Sie können Raumordnungspläne für die Bereiche
Energie, Mobilität und Wohnen erstellen. Das machen
Sie aber nicht.
Sie bleiben bei Ankündigungen stehen, auch in diesem Antrag. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe,
habe ich gedacht, er kommt von der anderen Seite des
Parlaments.
({2})
- Ich habe uns alle von der Opposition damit gemeint. Er enthält viele schöne anerkennende Worte, Sie machen
aber nichts. Sie reden über die Städtebauförderung, die
Sie auf hohem Niveau halten wollen. Ihr Minister kürzt
die Mittel aber. Sie sagen, das Programm „Altersgerecht
Umbauen“ solle verstetigt werden, der Mittelansatz solle
erhöht werden, und das Programm solle auch für den Bereich der öffentlichen Gebäude Anwendung finden. Ihr
Minister hat das Ganze aber schon wieder auf null gesetzt.
({3})
- Natürlich! Das Ganze ist in den Haushaltsdebatten auf
null gesetzt worden. Erzählen Sie hier doch nicht irgendwelchen Unsinn.
In Ihrem Antrag steht, dass im Bundesverkehrswegeplan auch die ländlichen Räume berücksichtigt werden.
Sagen Sie das doch einmal Ihrem Minister. Der geht
streng nach dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit vor.
({4})
Entflechtungsgesetz, ÖPNV im ländlichen Raum - geben Sie Geld dazu. Erzählen Sie uns doch nicht das Gegenteil.
Genau das Problem haben wir hier: Dieser Antrag enthält viele Ankündigungen. Das ist vielleicht ein Wünschdir-was-Wahlprogramm für Niedersachsen, aber kein
Antrag, der dem Anspruch einer Regierung entspricht,
die handeln kann.
({5})
- Zwei Minuten, das reicht für Sie.
({6})
Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! An Ihre Adresse, Herr Pronold, sage ich - das
gilt aber auch für meine Vorrednerin, Frau Herlitzius -:
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Bayern heute an der
Spitze steht,
({0})
und zwar ohne Mithilfe der SPD. An der Spitze wollen
wir auch bleiben.
({1})
Ich bin im ländlichen Raum geboren, dort aufgewachsen, und ich stehe zum ländlichen Raum. - Dieser Satz
könnte von mir stammen, aber er stammt von unserer
Bundeskanzlerin Angela Merkel.
({2})
Ich bin stolz, dass wir diese Debatte heute nicht nur eröffnen, sondern auch deutlich machen, dass wir die ländlichen Räume schätzen. Für uns sind sie ein wertvolles
Stück Deutschland mit wunderbaren Menschen.
Was sagt Kanzlerkandidat Steinbrück, der heute abwesend ist, dazu?
({3})
Ich zitiere aus der FAZ vom Sonntag. Dort wird
Steinbrücks Haltung zum ländlichen Raum wie folgt
wiedergegeben:
Die Cleveren gingen da weg, sagt er, das seien die
Frauen. Bleiben würden nur die doofen Männer.
„Die Frauen sagen: Ich gehe dahin, wo die besseren
Jobs sind und außerdem sind mir die hiesigen Knacker eh zu blöd.“
({4})
Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Ich
stimme damit überein, dass es nicht den ländlichen
Raum gibt. Aber die Hälfte der Menschen wohnt dort.
Offenbar haben Ihr Kanzlerkandidat und Sie den ländlichen Raum schon abgeschrieben. Offenbar mangelt es
Ihnen auch an Respekt vor der Lebensleistung der Menschen im ländlichen Raum.
({5})
Deshalb lautet mein dringender Rat: Schärfen Sie Ihren Blick auch für Themen jenseits der Finanzmärkte!
Bevor nämlich mit Lebensmitteln an der Börse spekuliert wird - das ist sicher ein Thema, über das man reden
muss -, werden sie immer noch produziert, und das passiert Gott sei Dank noch immer in der realen Welt durch
unsere Bauern und Bäuerinnen.
({6})
Dafür gebührt ihnen Respekt und Anerkennung. Wir
können in unserem Leben auf vieles verzichten, aber
nicht auf Essen und Trinken.
({7})
Deshalb ist für mich jeden Tag Erntedank. Wir brauchen unsere Bauern als Garant für hochwertige und vielfältige Lebensmittel und als Garant für regionale Produkte,
({8})
aber auch als Garant für eine einmalige, vielfältige und
gepflegte lebens- und liebenswerte Kulturlandschaft.
({9})
Frau Behm, in der Opposition kann man natürlich alles versprechen.
({10})
Es ist aber schon dreist, wenn Sie hier so tun, als könne
man die Gemeinsame Agrarpolitik zurückdrehen. Es ist
vielmehr so: Die Agrarpolitik ist die einzige vergemeinschaftete Politik in Europa. Wir wollen, dass das auch so
bleibt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der SPD-Fraktion?
Ich will erst meine Rede beenden.
({0})
Wir wollen konkret eine Imagekampagne pro Landwirtschaft starten. Warum? Hier reden Sie positiv über
die Landwirtschaft. In den nichtöffentlichen Ausschüssen und anderswo schimpfen Sie über die Landwirte und
nennen sie „Massentierhalter“ und „Umweltverschmutzer“.
({1})
Die Schlachtbetriebe, die Sie erwähnt haben, liegen in
den Ballungsräumen.
({2})
Also sind hier eher die Städte gefordert als der ländliche
Raum. Pro Landwirtschaft heißt für uns: Mehr Nachwuchs für landwirtschaftliche Familienbetriebe. Das
heißt aber auch: Mehr Akzeptanz und Aufklärung innerhalb unserer Bevölkerung.
({3})
Der Kollege Liebing hat angesprochen, dass wir in
Zusammenarbeit mit den Bundesländern das sogenannte
Grundstücksverkehrsgesetz anpassen müssen. Warum?
Es ist aus unserer Sicht dringend erforderlich, dass das
Vorkaufsrecht zugunsten aktiver Land- und Forstwirte
weiter gestärkt wird und dass sie noch vor Investoren
und Grundstückskäufern zum Zuge kommen. Das ist
eine absolute Zukunftsfrage.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Behm?
Herr Präsident, ich will erst meine Rede beenden.
({0})
Ich darf zum Schluss kommen. Zur Energie ist schon
viel gesagt. Ich sage noch: Der ländliche Raum ist der
Schauplatz der Energiewende. Uns ist der Rohstoff Holz
auch deshalb wichtig, weil er einen großen Beitrag zur
Biomasse und damit zur Energiewende, aber auch zur
Wertschöpfung in den ländlichen Räumen leistet.
Sie reden immer über Mais; das ist ein Kampfthema
für Sie. Mais ist für uns die Pflanze, die die meiste Energie liefert. Mais ist ein Superfuttermittel und eine
Pflanze, die am meisten CO2 speichert, nämlich mehr,
als dies 1 Hektar Buchenwald könnte. In meinem Landkreis beträgt der Anteil der Waldfläche 50 Prozent. Kein
Mensch käme auf die Idee, im Zusammenhang mit Wald
von „Verwaldung“ zu sprechen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deshalb wollen wir hier als Reaktion auf den Klimawandel ein Forschungsprojekt für holzstandortgerechte
Baumartenwahl auf den Weg bringen.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss
kommen.
Ich weiß, Herr Präsident.
Na, dann machen Sie es doch auch.
({0})
Ich schließe mich den Worten von Herrn Geisen an:
Wenn es um die Zukunft geht, dann lassen wir uns von
niemandem übertreffen. Ländliche Räume brauchen und
haben Zukunft. Die besten Zukunftsaussichten haben sie
mit der Politik der christlich-liberalen Koalition. Wir
sorgen dafür, dass Stadt und Land im Gleichgewicht
bleiben. - Herr Präsident, ich bitte vielmals um Entschuldigung.
({0})
Ich bin mir nicht sicher, ob es so wichtig war, auch
noch den letzten Satz abzulesen, und ob alle gleichermaßen davon begeistert sind.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Florian
Pronold.
Frau Mortler, ein Tipp: Wir wollten mehrere Zwischenfragen stellen, die Ihre Redezeit unheimlich verlängert hätten.
({0})
Vielleicht wäre es das nächste Mal ganz klug, die Zwischenfragen zuzulassen.
Erstens. Ich will im Zusammenhang mit dem Thema
Schlachthöfe auf Folgendes hinweisen: Schauen Sie sich
zum Beispiel die Probleme und die Arbeitsbedingungen
an, die beim Schlachthof in Waldkraiburg herrschen.
Hierbei handelt es sich nicht um einen Schlachthof in einer Metropolregion. Das wollte ich Ihnen an dieser
Stelle aufgrund meiner bayerischen Kenntnis sagen.
Zweitens. Wenn Sie den ländlichen Raum ernst nehmen, dann würde ich Sie einmal einladen, mit mir dorthin zu gehen. Kommen Sie nach Niederbayern, kommen
Sie in den Bayerischen Wald, und reden Sie dort mit Unternehmern und mit Landwirten, zum Beispiel über die
Politik auf der Landesebene, die für ungleiche Lebensverhältnisse in Bayern gesorgt hat. In keinem anderen
Flächenstaat in Deutschland sind die Lebensbedingungen der Menschen und die wirtschaftlichen Bedingungen
so unterschiedlich wie in Bayern.
Bayern geht es gut. Darüber freue ich mich. Es gibt
dort viele Dinge, die positiv sind. Aber kommen Sie einmal mit zu den Menschen, und hören Sie gerade den
Menschen im ländlichen Raum zu. Sie werden Ihnen sagen, wo die Probleme liegen. Das betrifft die Bereiche
Kinderbetreuung, Fachhochschulstruktur und Bildung
sowie Fragen des Internetzugangs, der Hausärzteversorgung usw. Sie können nicht einfach sagen, dass dort alles
gut ist. Es gibt dort eine Menge Herausforderungen, auf
die Sie heute keine Antwort gegeben haben.
({1})
Frau Kollegin Mortler, Sie können reagieren.
Herr Kollege Pronold, mit den Menschen zu reden,
das ist für mich nicht nur Daueraufgabe, sondern auch
Dauerzustand. Ich bin regelmäßig im Land unterwegs,
vor allem im ländlichen Raum. Seien wir ehrlich: Wir
fangen ja nicht bei Adam und Eva an. Unser Ziel mit
diesem Antrag heute ist, Lücken und Defizite, die es dort
gibt, im positiven Sinne zu korrigieren.
Noch einmal: Bayern ist und bleibt an der Spitze,
wenn es um die wirtschaftliche und die Arbeitsmarktentwicklung geht. Wenn Sie sich ab und zu an dieser Landesregierung ein Beispiel nehmen, können Sie eigentlich
gar nichts falsch machen.
({0})
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Pronold, ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern. Sie können mir eines glauben: Unsere Menschen würden sich einen Entwicklungsstand
der ländlichen Regionen wie in Bayern wünschen.
({0})
Sechs Jahrzehnte zuvor war Bayern das rückständigste
Agrarland in Deutschland.
({1})
Heute ist es an der Spitze. Ihre Sorgen, Herr Pronold,
möchten wir in Mecklenburg-Vorpommern wirklich einmal haben.
({2})
Herr Kollege Süßmair, für die Länder und Kommunen in Deutschland ist und war in den letzten vier Jahren
Weihnachten. Denn wir als CDU/CSU- und FDP-Koalition haben dafür gesorgt,
({3})
dass die Länder in den Jahren 2010 bis 2013 36 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen hatten bzw. haben
werden.
({4})
36 Milliarden Euro in vier Jahren, das gab es noch nie in
der Bundesrepublik. Die Kommunen werden in diesem
Zeitraum ein Mehr an Steuern von 15 Milliarden Euro
haben. Zusammengerechnet sind das 51 Milliarden
Euro, die durch unsere gute Politik in Länder und Kommunen transferiert werden.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Priesmeier?
Sehr gerne.
Herr Kollege Rehberg, ich bewundere ja die Zahlen,
die Sie genannt haben, und die Tatsache, dass Sie dafür
gesorgt haben, dass so viel Liquidität in die Länder und
Kommunen geflossen ist. Aber wie bewerten Sie denn
die Situation in Niedersachsen - vor zehn Jahren hat
man die Verbundquote im kommunalen Finanzausgleich
geändert; das hat dazu geführt, dass in zehn Jahren pro
Jahr ungefähr 300 Millionen Euro nicht in den kommunalen Finanzausgleich und an die Kommunen geflossen,
sondern beim Land verblieben sind - und den Umstand,
dass die Kassenkredite der Kommunen vom Beginn des
Haushaltsjahres 2003 bis zum 30. Juni des Haushaltsjahres 2012 von 2 Milliarden Euro auf 5 Milliarden Euro
gestiegen sind?
Herr Kollege, wenn ich die Situation in meinem eigenen Heimatland, wo SPD und CDU gemeinsam regieren,
betrachte, muss ich sagen: Die Finanzzuweisungen sind
massiv gesunken, die Steuereinnahmen aber massiv gestiegen. Ich, der ich 15 Jahre Landespolitik gemacht
habe, weise immer wieder darauf hin: Egal in welcher
parteipolitischen Konstellation ein Land regiert wird,
entscheidend ist, dass die Steuermehreinnahmen, die der
Bund durch seine Politik generiert - die Steuerhoheit hat
nämlich der Bund -, letztendlich auch bei den Kommunen ankommen.
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen. Ich finde,
eine der wichtigsten Entscheidungen dieser Legislaturperiode war, dass wir dafür gesorgt haben, dass der Bund
bei der Grundsicherung im Alter die Lasten der Kommunen übernimmt.
({0})
Noch einmal: Der Bund übernimmt die Lasten der Kommunen.
({1})
Ich kann Ihnen Bundesländer mit Regierungen jeglicher
politischer Couleur nennen, in denen von den dafür vorgesehenen 4,5 Milliarden Euro nicht alles bei den Kommunen landet. Manche Länder haben klebrige Finger.
({2})
Ein weiteres Beispiel. Ich finde es gut, dass Frau
Ministerin Schröder so sehr dafür gekämpft hat, dass die
580 Millionen Euro, die für den Krippenausbau zur Verfügung gestellt werden, von den Ländern verbindlich zu
diesem Zweck eingesetzt werden müssen. So lässt sich
verhindern, dass dieses Geld irgendwo in einem Landeshaushalt verschwindet und die Mittel für den Krippenausbau nicht bereitgestellt werden. Denn wir haben eine
Absprache getroffen: Ein Drittel der Kosten des Krippenausbaus trägt der Bund, ein Drittel tragen die Länder
und ein Drittel die Kommunen. Wenn Sie sich die Situation in den Ländern ansehen, können Sie feststellen, wie
viel von diesem Geld letztendlich wirklich bei den Kommunen angekommen ist. Die Länder machen sich hier
oft einen schlanken Fuß, Herr Kollege.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Kelber?
({0})
Sehr gerne.
Sie haben gerade über die Grundsicherung im Alter
und die mit der getroffenen Regelung einhergehende
Entlastung der Kommunen gesprochen. In der Tat wird
es zu einer schönen Entlastung kommen. Meine Heimatstadt Bonn zum Beispiel
({0})
wird dadurch um fast 20 Millionen Euro im Jahr entlastet.
Meine Frage an Sie lautet: Lügen denn die deutschen
Journalisten, wenn sie im Zusammenhang mit diesem
Thema berichten, dass die gefundene Regelung das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zwischen Bundestag und Bundesrat war und dass die Regelung, dass der
Bund die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter
übernimmt, dort von den SPD-regierten Bundesländern
vorgeschlagen wurde und Ihnen abgerungen werden
musste?
({1})
Herr Kollege Kelber, Sie sind gut, wenn es darum
geht, Märchen zu erzählen und Legenden zu bilden.
({0})
Ich habe das ganz anders in Erinnerung. Das war eine
Initiative von CDU, CSU und FDP.
({1})
- Ja, klar. Das waren der Herr Kollege Kauder, die Frau
Hasselfeldt und der Herr Kollege Brüderle, und das waren unsere Fraktionen.
({2})
Es wäre, glaube ich, besser - ehe wir uns über Märchen
und Legenden unterhalten -, wenn Sie mit dafür sorgen
würden, dass auch in dem Land, aus dem Sie kommen,
das Geld bei den Kommunen ankommt und die Landesregierung keine klebrigen Finger bekommt.
({3})
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Hinsken. Wollen
Sie sie gestatten?
Sehr gerne.
Das ist dann aber die letzte Zwischenfrage, die ich
diesem Redner zumute.
({0})
Verehrter Herr Kollege Rehberg, Sie haben einige
Persönlichkeiten genannt, die sich speziell dafür eingesetzt haben, dass wir eine akzeptable Regelung zur
Grundsicherung im Alter hinbekommen haben. Einen
Namen haben Sie aber vergessen - derjenige, den ich
meine, war allerdings ausschlaggebend, weil er diesen
Vorschlag eingebracht hat -: den des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer.
({0})
Ich möchte Sie bitten, unseren sozialdemokratischen
Freunden ins Gedächtnis zu rufen, dass sich die Bayerische Staatsregierung - das zeigt sich an dieser Maßnahme, aber auch an verschiedenen weiteren Maßnahmen - in Sachen ländlicher Raum von niemandem
übertreffen lässt,
({1})
dass verschiedene Teile Bayerns vom Armenhaus
Deutschlands zu einer Spitzenregion Europas geworden
sind - das gilt zum Beispiel für meinen Wahlkreis ({2})
und dass die SPD in den Teilen Bayerns, die in wirtschaftlicher Hinsicht so gut dastehen, bei Wahlen 9 bis
10 Prozent bekommt. Herr Kollege Pronold, kommen
Sie einmal dorthin und erklären Sie den Leuten, dass Sie
es besser machen wollen. Vielleicht bekommen Sie dann
1 oder 2 Prozentpunkte mehr; aber das bezweifle ich.
({3})
Herr Kollege Hinsken, ich möchte mich bei Ihnen
ganz herzlich für die Sachdarstellung bedanken. Ich
habe dem überhaupt nichts hinzuzufügen. Herzlichen
Dank!
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gelegentlich meint der eine oder andere - die Linken, die
Grünen -, es sei genug in Beton investiert. Dann kommt
immer wieder das Thema: Wir brauchen keine Räume
mehr zu erschließen. Ich komme aus einem Land, das
1939 von 1 Million Menschen bewohnt war. Nach
Kriegsende waren es 2 Millionen, 1989, zur Wende,
knapp 2 Millionen, und heute sind es 1,6 Millionen.
Wenn nicht zu Beginn der 90er-Jahre Entscheidungen
gefällt worden wären, bei denen die Erschließungsfunktion des Raumes eine ganz wesentliche Rolle gespielt
hat, dann hätten wir erstens nicht die A 20, die Lebensader von Mecklenburg-Vorpommern,
({1})
zweitens würde keine A 14 gebaut werden, und drittens
würden wir heute nicht die B 96 nach Rügen bauen. Deswegen sage ich für mein Land ganz deutlich - dies ist eines der wichtigsten Teile unseres Antrages -, dass die
Erschließungsfunktion bei zukünftigen Infrastrukturplanungen eine ganz wesentliche Rolle spielen muss.
({2})
Wenn ich den gesamten norddeutschen Raum betrachte, stelle ich fest: Viele Infrastrukturanbindungen
führen durch Räume, die nicht so hoch verdichtet sind
wie die in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg. Aber dies sind Anbindungen an die Seehäfen, und
die Seehäfen haben nationale Bedeutung.
({3})
Deswegen darf man im Zusammenhang mit Infrastruktur
nicht kurzfristig oder kleinkariert diskutieren, sondern
muss in größeren Dimensionen denken.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns wurde
immer wieder der Vorwurf gemacht, wir investierten
nicht in Forschung und Bildung. Wir werden in diesen
vier Jahren insgesamt 13,3 Milliarden Euro für Bildung
und Forschung ausgeben. Wir haben uns 12 Milliarden
Euro vorgenommen. Ich kann Ihnen Dutzende Beispiele
aus Mecklenburg-Vorpommern nennen, wo gerade benachteiligte Jugendliche in Jugendschulen, in Produktionsschulen, bei Bildungsträgern gefördert werden. Es
gibt bei jungen Menschen eine Quote von 14,4 Prozent,
die ihren Schulabschluss aus unterschiedlichen Gründen
nicht schaffen. Sie werden dort herangeführt. Es ist gerade für den ländlichen Raum wichtig, dieses Segment
zu fördern; denn uns fehlen Arbeitskräfte. Uns fehlen im
ländlichen Raum mittlerweile nicht nur Fachkräfte, sondern auch Arbeitskräfte. Der ländliche Raum wird nur
dann eine Zukunft haben, wenn wir dieses Problem der
demografischen Entwicklung bewältigen.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss ein kommunales Problem ansprechen. Ich wohne in einer Stadt, die flächenmäßig die drittgrößte in Mecklenburg-Vorpommern ist:
4 700 Einwohner, 28 Ortsteile, nur noch ein Bürgermeister; dies ist eine freiwillige Entscheidung von acht Altgemeinden Ende der 90er-Jahre.
({6})
Meine Erfahrung in den letzten 22 Jahren ist: Dort, wo
Menschen keinen Bezug mehr zu Verantwortung haben,
wo sie sich nicht zur Übernahme eines Ehrenamtes in die
Pflicht genommen fühlen, brechen viele Dinge auseinander.
({7})
Das, was bei uns früher der ehrenamtliche Bürgermeister
gemacht hat, muss heute die Verwaltung tun. Deutschland ist seit vielen Jahrzehnten - seit 1806, Freiherr vom
Stein - gerade auch vom Ehrenamt geprägt. Dies ist
nicht mit Geld zu bezahlen. Deswegen sind die sozialen
Strukturen im ländlichen Raum, wo der Bezug der Menschen zueinander viel stärker ausgeprägt ist als in den
Städten, deutlich besser.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/11654 mit dem Titel „Zukunft für ländliche Räume -
Regionale Vielfalt sichern und ausbauen“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkte 3 b und 3 c. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
17/11031 und 17/8360 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz und Ener-
giewende“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11672, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9583
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von
Linken und Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr
die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Gustav
Herzog, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes und ein moder-
nes Wasserstraßenmanagement
- Drucksachen 17/9743, 17/11592 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Matthias Lietz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Heinz-Joachim Barchmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert
Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kein Personalabbau bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung - Aufgaben an ökologischer Flusspolitik ausrichten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie
Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung reformieren
- Drucksachen 17/4030, 17/5548, 17/5056,
17/8330 Berichterstattung:Abgeordnete Matthias LietzTorsten Staffeldt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Enak Ferlemann.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Heute ist die Reform der Wasserund Schifffahrtsverwaltung hier im Deutschen Bundestag das Thema. Ich nutze diese Gelegenheit, um zuallererst den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sehr herzlich für
ihre hervorragende Aufgabenerfüllung zu danken.
({0})
Mit Nord- und Ostsee sind wir Anrainer eines der am
meisten befahrenen Schifffahrtsgebiete der Welt. Sehr
viel Verkehr herrscht auch auf den deutschen Binnenwasserstraßen. Es läuft dort alles sehr problemlos, sehr
geordnet, so wie wir uns das wünschen. Dafür tragen die
vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung die Verantwortung, und sie machen das sehr gut.
Wir haben zu diesem Thema eine Reihe von Anträgen
der Oppositionsfraktionen zu beraten. Dazu muss man
feststellen, dass die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, wie wir sie vorgeschlagen haben, im
Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages zustimmend zur Kenntnis genommen wurde, im Haushaltsausschuss ebenso, mit der Maßgabe, die Reform umzusetzen, die Kosten- und Leistungsrechnung schneller
einzuführen und die Ämterstruktur bei der Trennung von
Verkehrsämtern einerseits und Bau- und Unterhaltungsämtern andererseits noch einmal zu überprüfen. Das
werden wir tun.
Warum eigentlich haben wir diese Reform gemacht?
({1})
Seit über 20 Jahren wird über eine Reform diskutiert.
Passiert ist leider nichts,
({2})
außer dass viele Gutachten in Auftrag gegeben wurden
und es viele Diskussionen gegeben hat. Keiner der Vorgängerverkehrsminister hatte den Mut, diese Reform anzugehen, weil sie in der Tat eine nicht ganz einfache Reform darstellt. Insofern wundere ich mich, lieber Uwe
Beckmeyer, dass diejenigen, die viele Jahre Verantwortung getragen haben, diejenigen, die es nie geschafft haben, eine solche Reform ins Werk zu setzen, jetzt als die
größten Kritiker auftreten.
({3})
Sicherlich kann man das eine oder andere kritisieren.
Man kann über das eine oder andere immer diskutieren.
Das ist ja keine feststehende Reform, sondern sie wird
sich bis 2020 entwickeln. Und keiner von uns behauptet,
dass alles, was wir gemacht haben, schon richtig ist.
Aber jahrelang gar nichts gemacht zu haben,
({4})
alles verschlafen zu haben und dann nur zu kritisieren,
kann nicht die richtige Antwort sein.
({5})
- Ich bin leider noch nicht zehn Jahre in diesem Amt. Es
wäre Deutschland besser bekommen, wenn es so gewesen wäre.
({6})
Aber was nicht ist, kann ja noch kommen.
Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes
hatte einmal 19 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Inzwischen sind es noch circa 13 500 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter auf etwa 12 500 Stellen. Dieser Abbau
hat sich vollzogen, wie sich der Abbau von Stellen in der
Verwaltung häufig vollzieht: relativ ungeordnet. Wo ein
Kollege in den Ruhestand gegangen ist, ist er nicht ersetzt worden. So hat man nach und nach auch Kompetenzen verloren. So wurde nach und nach auch die
Stärke der einzelnen Ämter geschwächt; denn wenn einige Abteilungen nur noch aus einer Person bestehen
- die irgendwann Urlaub machen muss und die auch einmal krank werden darf -, dann ist das eben schwierig.
Deswegen ist es angezeigt, dass wir zu einer Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung kommen.
Diese Reform hat ihre Grundlage in einer neuen Netzstruktur. Das heißt, es ist, was für alle Verkehrsträger kommen wird - auch für die Schiene, auch für die Straße -, ein
Kernnetz, ein Hauptnetz, ein Nebennetz und ein Netz,
das wir als Bund so nicht mehr brauchen, zu definieren.
Die Europäische Union hat es uns vorgemacht. Auch
sie hat jetzt in ihren TEN-Leitlinien die Strukturen in ein
Kernnetz und ein Grundnetz - danach folgen nationale
Netze - eingeteilt. Dies ist sicherlich richtig und sinnvoll. Dies wird eine Basis für den neuen Bundesverkehrswegeplan bei allen Verkehrsträgern sein.
Bei dieser Netzstruktur gibt es naturgemäß viele Diskussionen: Was kommt hinein? Was kommt nicht hi25716
nein? Mit welchen Verkehren rechnen wir? Wir haben
das Ganze anhand der aktuellen Verkehrsdaten, aber
auch auf der Grundlage der Prognosen bis zum Jahr
2025 versachlicht. So haben wir das Ganze in ein A-, B-,
C- und D-Netz eingeteilt - allerdings nur nach der Maßgabe, was Güterverkehr und Logistik brauchen. Denn
die Hauptaufgabe unseres Ressorts ist, für Güterverkehr
und Logistik in diesem Land zu sorgen.
Daneben gibt es die touristischen Wasserstraßen.
Hierfür wird es ein gesondertes Konzept geben, weil die
Tourismuswasserstraßen andere Anforderungen und Voraussetzungen haben als die Wasserstraßen, die hauptsächlich dem Güterverkehr und der Logistik zur Verfügung stehen müssen.
Darauf haben wir die Verwaltungsstruktur aufgebaut.
Ich glaube, es ist sinnvoll und richtig, dass wir die Ämterstruktur etwa um ein Drittel reduzieren und dass wir
die Wasser- und Schifffahrtsdirektionen von sieben auf
eine Generaldirektion zusammenlegen.
({7})
Denn wir können mit weniger Personal wesentlich effizienter und effektiver arbeiten.
In diesem Zusammenhang wird uns häufig der Vorwurf gemacht, man wäre dann zu weit von den Dingen
entfernt.
({8})
Wenn Sie die Ämterstruktur stärken, dann können Sie
auch eine Zentraleinheit sehr gut darstellen. Wir werden
sie in Bonn haben. Auch das wird häufig kritisiert. Ich
finde, dass Bonn eine sehr schöne Stadt ist.
({9})
Bonn war jahrelang Bundeshauptstadt und hat einen guten Job gemacht. Der überwiegende Teil meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist in dieser schönen Stadt
beheimatet. Deswegen verstehe ich die Diskussion in
ganz Deutschland nicht, man dürfe in Bonn keine Behörde schaffen.
({10})
Wir finden den Standort sehr gut. Unsere Abteilung ist
schon dort. Vier Wasser- und Schifffahrtsdirektionen
sind im Umfeld von zwei Autostunden entfernt, sodass
wir dort ohne große Verwerfungen in den einzelnen Mitarbeiterschaften sehr schnell eine Generaldirektion zusammenbekommen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
uns ist ein guter Wurf gelungen.
({11})
Sicherlich wird es im Laufe der Zeit noch Diskussionen
geben. Aber ich glaube, dass die Reform angesichts der
viel zu knappen Ressourcen, die uns vom Parlament
über viele Jahre hinweg zur Verfügung gestellt wurden,
sinnvoll und richtig ist.
Wir haben Anlagen, die zum Teil 80, ja 100 Jahre alt
sind. Wir können nur froh und dankbar sein, dass damals
so gut gearbeitet wurde und die Anlagen heute noch betriebsbereit sind. Aber wenn wir sie einmal ersetzen
müssen, brauchen wir eine Priorisierung für Ausbauund Neubaumaßnahmen, weil wir nicht überall alles
gleichzeitig machen können.
Bevor Peter Ramsauer das Ressort übernahm, gab es
eine etwas unkoordinierte Investitionsstrategie. Heute
hingegen priorisieren wir und bilden mit einem ganz klaren Konzept Schwerpunkte, um mehr Verkehr von der
Straße auf die Wasserstraße zu holen und diesen Verkehrsträger, der noch die größten Reserven hat, viel effizienter und besser zu nutzen. Dazu dient die Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Dazu wird sie einen
wesentlichen Beitrag leisten.
Ich bin den Koalitionsfraktionen sehr dankbar für die
kritische Begleitung, aber auch für die wohlwollende
Unterstützung unserer Reform. Ich bedanke mich ausdrücklich auch bei den Grünen für das Verständnis für
unsere Reform. Von der SPD bin ich noch immer enttäuscht - von den Linken habe ich nichts anderes erwartet -, wie sie auf unsere Reform reagiert. Insgesamt ist
festzustellen: Die Anträge der SPD, der Linken und der
Grünen müssen heute abgelehnt werden.
Ich freue mich auf eine weitere konstruktive Beratung
und Unterstützung und hoffe, dass wir alle zum Wohle
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in diesem Lande
gemeinsam weiter um einen guten Weg ringen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Begründung des Staatssekretärs für
das hört, was er hier verantwortet, dann denkt man, dass
alles in Ordnung ist.
({0})
Heute Nachmittag findet eine Sitzung statt, zu der Ihr
Chef, Herr Minister Ramsauer, alle Ländervertreter eingeladen hat. Weshalb eigentlich?
({1})
- Ach, Sie haben eingeladen. - Es wurden alle Ländervertreter eingeladen, weil aus allen Ländern dieser Republik heftiger Widerstand und Zweifel an Ihrer Aktion
der Änderung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
gekommen sind.
({2})
Mit Genehmigung des Präsidenten darf ich einmal vorlesen. Erstes Zitat:
Mit Erstaunen und Unverständnis habe ich zur
Kenntnis genommen, dass unter anderem eine zentrale Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn geschaffen sowie über 2 600 Stellen
bei den Wasser- und Schifffahrtsverwaltungen abgebaut werden sollen.
Zweites Zitat:
Das Abziehen wesentlicher Entscheidungsbefugnisse aus den betroffenen Regionen führt zu einheitlichen, den örtlichen Gegebenheiten nicht mehr
optimal angepassten Entscheidungen.
Drittes Zitat:
Eine effiziente regionale und integrierte Aufgabenerledigung wird dadurch übermäßig erschwert und
schlimmstenfalls in vielen Fällen sogar unmöglich
gemacht.
({3})
Viertes Zitat:
Die Reform setzt nach meiner Einschätzung zu
große Erwartungen in die Privatisierung. Dabei hat
ja bereits die in den letzten Jahren in der Wasserund Schifffahrtsverwaltung zunehmend gepflegte
Vergabepraxis gezeigt, dass diese keine Einsparungen zur Folge hätte.
({4})
- Seehofer, Ministerpräsident des Freistaates Bayern.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Ministerpräsident der CDU-Landesorganisation, der anzugehören
Sie, Herr Ferlemann, ja das Vergnügen haben, McAllister,
hat mit seiner Koalition - daran ist die Sozialdemokratie
nicht beteiligt - den Beschluss im Landtag herbeigeführt,
dass die beiden Wasser- und Schifffahrtsdirektionen in
Aurich und Mitte erhalten bleiben müssen. Was sagen Sie
eigentlich dazu, Herr Ferlemann?
({6})
Das scheint an dieser Bundesregierung und auch an
Ihnen als CDU-Mann in Niedersachsen völlig vorbeigegangen zu sein. Eine Landesregierung fordert den Bund
auf, dass diese Direktionen erhalten bleiben, aber Sie
machen genau das Gegenteil. So viel zu dem „doppelten
Ferlemann“, der auch hier wieder auftaucht.
({7})
Die Verkehrsministerkonferenz hat am 4./5. Oktober
2012 in Cottbus beschlossen:
Nach Auffassung der Verkehrsministerkonferenz
wird die geplante organisatorische Umgestaltung
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung den Anforderungen der Länder nicht gerecht.
({8})
Wir erleben, dass inzwischen nicht nur aus den Bundesländern und aus den Landesregierungen, sondern
auch aus der Wirtschaft zunehmend Widerstand kommt.
({9})
Die Handelskammern im norddeutschen Raum, die ja in
der IHK Nord miteinander verbunden sind, haben sich
eindeutig gegen Ihre Reform - in Anführungsstrichen ausgesprochen. Die Wirtschaftsunternehmen am Mittellandkanal - dazu gehören unter anderem auch ganz
große, deren Einfluss man einfach einmal berücksichtigen muss, nämlich VW und andere - sagen: Halt, stopp,
liebe Freunde, was ihr macht, ist gefährlich.
Ich habe durch Zufall einen Zettel bekommen.
Herr Kollege Beckmeyer, bevor Sie zitieren: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Staffeldt?
Nein, jetzt nicht. Er hat gleich Zeit; er darf ja nach mir
reden. - Auf diesem Zettel steht, dass die liberale Fraktion dieses Hauses der Meinung ist, dass noch einmal
klargestellt werden muss, dass nach der Vergabe- und
Vertragsordnung auch langfristige Standardaufgaben
vergeben werden können, und insofern die pauschale
Behauptung, die derzeit noch im Entwurf steht, dass hier
keine rechtlichen Vorbehalte bestehen usw., richtig ist.
Genau das befürchten wir: Sie wollen auf Betreiben
des liberalen Partners die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung so umstrukturieren, dass Standardaufgaben am
Ende komplett vergeben werden können. Dadurch bauen
Sie die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ab. Die gesamte Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wird am Ende
des Tages eine Struktur haben, mit der sie ihren regionalen Aufgabenstellungen nicht mehr gerecht werden
kann.
({0})
Zum nächsten Punkt. Dieser Vorgang, den Sie uns
hier präsentieren, ist kein Ergebnis einer ergebnisoffenen
Untersuchung gewesen. Es ist eine Bankrotterklärung
Ihres Ministeriums, dass Sie sagen, die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung sei nicht funktionsfähig. Weshalb ist denn das so?
({1})
Geben Sie denen doch ein paar ordentliche Vorgaben!
Warum sagt dieses Ressort der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung denn nicht, wie ein solches Steuerungsdefizit
aufgelöst werden kann? Geben Sie denen doch endlich
parlamentarische und administrative Vorgaben! Auch
das tun Sie nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe
noch eine Dreiviertelminute Redezeit.
({2})
Sie sagen, Sie hätten bei der Kategorisierung aktuelle
Verkehrsdaten berücksichtigt. Die Daten der Wasserund Schifffahrtsverwaltung in Nord, West und Mitte sind
aber zum Beispiel bei der Beurteilung der Kategorie der
Mittelweser und Unterweser komplett ausgeblendet worden. Woher Sie Ihre Daten haben, weiß keiner. Die Daten des eigenen Hauses nutzen Sie bei der entsprechenden Kategorisierung jedenfalls nicht. Ich sage es einmal
so: Die sträfliche Verbrämung von Interessen und gleichzeitig die Bewertung falscher Fakten haben dazu geführt, dass Sie dies hier so auf den Weg gebracht haben.
Ich habe die Hoffnung, dass sich die Länder sehr genau
anschauen werden, was alles in Ihrem Artikelgesetz, das
irgendwann kommen muss - sonst können Sie diesen Reformprozess nicht fortsetzen -, steht. Wir als Sozialdemokraten werden genau prüfen, in welcher Form wir uns
dazu einbringen werden. Diese Reform, die keine ist,
werden wir jedenfalls nicht akzeptieren. Wir werden sie
mit den Beschäftigten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Deutschland weiterhin bekämpfen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Torsten Staffeldt für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Beckmeyer wird nach der heutigen Debatte sicherlich als Zitatekönig in die Geschichte eingehen.
({0})
Nachdem er ein Zitat nach dem anderen geliefert hat,
kam mir der Gedanke: Er hätte von vornherein seine
ganzen Presseartikel kopieren, lochen und uns zum Abheften geben können. Dann hätten wir es einfacher gehabt und hätten uns das alles nicht anhören müssen.
({1})
Ich möchte jetzt auf das Thema eingehen. Der Kollege Ferlemann hat es eben schon richtig dargestellt:
Über Jahrzehnte hinweg wurden unter sozialdemokratischer Führung
({2})
die notwendigen Schritte zur Erhaltung der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung nicht vollzogen.
({3})
Es wurden nur Gutachten erstellt. Aber die Vorgaben des
Bundesrechnungshofes wurden einfach ignoriert usw.
({4})
Diese Bundesregierung und diese Koalition nehmen
sich der Aufgabe an, die sozialdemokratische Verkehrsminister über Jahrzehnte haben schludern lassen.
({5})
Wir machen das, was Sie hätten tun müssen. Das ist
nicht ganz einfach, weil Sie eben über Jahrzehnte hinweg diese Aufgaben nicht in der Form angegangen sind,
wie es notwendig gewesen wäre. Aus diesem Grunde
brauchen wir dafür ein bisschen Zeit.
Bis 2020 - darauf hat der Kollege Ferlemann schon
hingewiesen - wird diese Reform, deren Zielsetzung es
ist, dafür zu sorgen, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zukunftsfähig und demografiefest gestaltet
wird, dazu führen, dass diese Verwaltung handlungsfähig bleibt. Die Ziele, die Sie im 5. Bericht zur Reform
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung und auch in anderen Berichten nachlesen können, sind folgende: Sicherung einer leistungsfähigen, effizienten und vor allen
Dingen für die Steuerzahler kostengünstigen Wasserund Schifffahrtsverwaltung und nachhaltige Absicherung der Fachkompetenz - das ist ein wesentlicher und
wichtiger Punkt -, und zwar trotz Stellenabbau.
Die bisherige Vorgehensweise unter sozialdemokratischer Führung in den letzten Jahrzehnten war, die Vorgaben des Stellenabbaus einfach über die natürlichen Abgänge zu realisieren. Wir machen das so, wie es
vernünftig ist.
({6})
Wir schauen nämlich: Wo brauchen wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Wo brauchen wir das Personal?
Wie schulen wir es entsprechend? Das ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Vorgehensweise. Wir verschlanken die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, indem wir
({7})
unter anderem die fünf Direktionen, die es bisher gab, in
eine Generaldirektion übergehen lassen, die dafür sorgt,
dass die Aufgaben konzentriert, fokussiert und effizient
umgesetzt werden.
Zu der Frage, wohin die Generaldirektion kommt.
Bonn ist eine schöne Stadt; darauf hat auch der Kollege
Ferlemann hingewiesen. Ich sage Ihnen: Die schönsten
Städte der Welt fangen vorne mit B an und hören mit N
auf. Das ist Berlin. Das kann auch Bingen sein. Auch
Bremen, meine Heimatstadt, ist sicherlich eine von den
Städten, in denen man eine Generaldirektion ansiedeln
könnte.
({8})
- Okay, auch über Bremerhaven kann man noch reden.
Aber kommen wir lieber wieder zur eigentlichen Thematik zurück.
({9})
Mit den vorliegenden Anträgen soll verhindert werden, dass wir diese Reform zukunftsfähig gestalten. Das
ist der entscheidende Punkt. Von den Sozialdemokraten
und den Linken haben wir nichts anderes erwartet.
Schließlich waren sie jahrelang in der Verantwortung,
zwar nicht die Linken, aber die Sozialdemokraten.
({10})
Dass die Sozialdemokraten, die über Jahre hinweg in der
Verantwortung waren und hier nichts geschafft haben,
schlecht eingestehen können, dass wir die Reform auf einen vernünftigen Weg bringen, ist klar. Insofern ist die
Abwehrreaktion in den vorliegenden Anträgen nachvollziehbar. Aber, wie gesagt, die Anträge werden heute mit
großer Mehrheit abgelehnt werden. Dann hat diese Debatte hoffentlich endlich ein Ende,
({11})
sodass wir diese Reform so weiterführen können, wie es
notwendig ist.
Die Grünen haben aus meiner Sicht eine sehr gute
und interessante Position eingenommen und begleiten
diesen Reformprozess konstruktiv, was ich an dieser
Stelle ausdrücklich würdigen möchte. Es ist aber, wenn
man die Ergebnisse der Beschlussfassungen in den einzelnen Ausschüssen betrachtet, an der einen oder anderen Stelle schon ein wenig verwunderlich, dass die Grünen unsere Anträge in fast allen Ausschüssen abgelehnt
haben.
Nur im Ausschuss für Arbeit und Soziales haben die
Grünen diesen Anträgen zugestimmt. Insofern muss man
da vielleicht in der Grünenfraktion Überzeugungsarbeit
leisten und dafür sorgen, dass dort von allen Mitgliedern
erkannt wird, dass es vernünftig ist, was wir in diesem
Bereich machen.
({12})
Das ist übrigens auch einer der Punkte, der mir wichtig ist. Wir haben gerade über die Verkehrsministerkonferenz gesprochen. Dass sie sagt, es solle sich nichts ändern, ist nachvollziehbar.
({13})
Nichtsdestotrotz ist es vielleicht auch eine Frage der
Kommunikation; es ist die Frage, wie man diese Reform
kommuniziert, wie man sie auch den Ländern gegenüber
kommuniziert.
({14})
Ich kann mir vorstellen, dass das Verkehrsministerium
da noch Überzeugungsarbeit zu leisten hat, die wir als
Parlamentarier gerne begleiten wollen.
({15})
Wenn Sie, Herr Beckmeyer, als Zitatekönig in die
Geschichte eingehen wollen und die IHK Nord zitieren
- Sie wissen, dass ich auch Mitglied des Plenums der
Handelskammer Bremen bin -, dann sollten Sie nicht
nur die Teile zitieren, die Ihnen passen, sondern Sie sollten es komplett zitieren. Es steht nämlich unter anderem
darin, dass die IHK die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung begrüßt, weil sie genau das macht, was
Unternehmerinnen und Unternehmer auch tun: Sie stellt
die Prozesse auf den Prüfstand; sie schaut, was verbessert und effizienter gemacht werden kann, und dann setzt
sie das um.
({16})
Genau das macht die Reform. Deswegen sollten Sie
bei den Zitaten vorsichtig sein. Dass es in Ihren Medien
anders dargestellt wird, wundert mich persönlich nicht.
Zu den TEN-Leitlinien. Wir können jetzt noch auf die
Flüsse eingehen und auf das, was dort gemacht werden
muss.
({17})
Die Priorisierung ist ein Kind, dessen Vaterschaft
oder auch Mutterschaft - das sei dahingestellt - aus meiner Sicht nicht ganz klar ist. Wir haben sie, und sie ist
auch sinnvoll; das ist gar keine Frage. An dem einen
oder anderen Fluss werden wir sicherlich noch nachsehen müssen, ob die Priorisierung dort dem entspricht,
was jetzt schon Tatsache ist. Vielleicht ist ja die Faktenlage schon eine andere als das, was durch die Prognose
vorhergesagt wird.
({18})
Aber dafür haben vor allem wir als christlich-liberale
Koalition gekämpft und gearbeitet. Wir haben dafür gesorgt, dass es auch Aufstiegs- und Abstiegsregelungen
für die einzelnen Flussabschnitte gibt.
({19})
Aus dem Grunde bin ich zuversichtlich, dass wir zusammen mit dem Ministerium konstruktiv dafür sorgen
werden, dass die wesentlichen Aufgaben der Wasserund Schifffahrtsverwaltung sowohl auf See wie auch auf
den Binnenwasserstraßen,
({20})
nämlich Schifffahrt zu ermöglichen, sie einfach und effizient zu machen,
({21})
in der Zukunft auch mit reduziertem Personal effizient
erledigt werden. Deswegen begrüßen wir die Vorgehensweise des Ministeriums an dieser Stelle ausdrücklich
und lehnen die Anträge der Opposition ab.
Herzlichen Dank.
({22})
Das Wort hat nun Herbert Behrens für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Begrüßen einer Aktion oder einer Aktivität wäre ja ganz
sinnvoll, aber begründet sollte sie dann doch schon sein,
Herr Staffeldt.
({0})
Wir stellen heute fest: Zwei Jahre debattieren wir über
den Sinn und vor allen Dingen über den Unsinn der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Ich finde,
es sind zwei verlorene Jahre für die Belegschaften, die
Jahr um Jahr Kolleginnen und Kollegen verlieren, weil
deren Stellen nicht wiederbesetzt werden. Das sind zwei
Jahre Unsicherheit auch für Unternehmen, die ganz gern
wissen wollten, mit wem sie künftig zusammenarbeiten
müssen. Da sind auch Unsicherheiten bei den Freizeitkapitänen, bei den Tourismusverantwortlichen in den
Kommunen, die nicht genau wissen, wie es weitergehen
soll.
Nur eines ist sicher für alle Beteiligten: Wer so Politik
macht, macht deutlich, dass Sachverstand hier nicht gefragt ist. Meine Meinung ist: Wer so Politik macht, der
wird damit scheitern.
({1})
Was hören wir von den Koalitionsfraktionen, von
Herrn Staatssekretär Ferlemann, von Herrn Staffeldt?
Starke Sprüche über Tatkraft und Reformwillen der
Bundesregierung. Aber das wollen die Kolleginnen und
Kollegen, die dieses tagtäglich hören müssen, nicht mehr
hören. Sie wollen, dass ihre Fragen und insbesondere
ihre Vorschläge für eine zukunftsfähige WSV ernst genommen und registriert werden.
Der Bundesverkehrsminister ist dabei, Strukturen zu
zerschlagen, die in den vergangenen Jahren gewachsen
sind, aufgebaut und immer wieder umgebaut worden
sind. Geschäftsführung und Belegschaften waren mit dabei. Direktion oder Personalräte, egal auf welcher Seite
man gestanden hat, Ämter, Betriebsteile und Personal,
haben es geschafft, dass beispielsweise die eben angesprochenen 80 Jahre alten Schleusen noch funktionieren.
Sie haben auch dafür gesorgt, dass neueste Technologie
eingeführt worden ist und von Anfang an funktioniert
hat, und sie haben dafür gesorgt, dass junge Menschen
eine sehr gute Ausbildung bekommen konnten und gut
auf den Arbeitsmarkt vorbereitet sind.
({2})
Dafür haben sie Anerkennung verdient statt Bedrohung mit Versetzung oder dem Entzug von Aufgaben.
Ich will den Betroffenen allerdings keine Illusionen
machen, dass ab jetzt gute Argumente stark genug sind,
um den Bundesverkehrsminister überzeugen zu können.
Ich glaube, was wir zuletzt vom Kollegen Staffeldt gehört haben, zeugt davon, dass das vergebene Liebesmüh
ist.
({3})
Wir haben festgestellt: In Niedersachsen werden Hannoversch Münden, Verden, Rheine, Meppen, Uelzen,
Aurich und Hannover Kompetenzen und Know-how
verlieren. Sie werden zu Außenstellen, Betriebs- oder
Unterhaltungsämtern und müssen ihre Aufgaben und ihr
Personal mit anderen Dienststellen neu sortieren und
aufteilen.
Die CDU-Mitglieder vor Ort raufen sich die Haare
und die CDU/FDP-Landesregierung - das wurde vorhin
erwähnt - druckst zwar herum, hat sich aber zumindest
davon überzeugen lassen, einen entsprechenden Beschluss zu fassen und diese Reformpläne abzulehnen.
Ich habe ein Zitat mitgebracht:
Eine Reform, die ohne jede Rücksicht auf die speziellen Belange der Schifffahrt und Hafenbetreiber
eine Kategorisierung der Bundeswasserstraßen vornimmt und auf dieser Grundlage alle betroffenen
Akteure vor vollendete Tatsachen stellt, kann nach
Auffassung
- hört! Hört! der Kreis-CDU
- also des CDU-Kreisverbandes Aurich auf Dauer keinen Erfolg haben.
Das sagte der dortige Kreisvorsitzende Sven Behrens.
Sven Behrens hat recht: Der Verkehrsminister und die
Regierungsfraktionen werden auf Dauer keinen Erfolg
haben. Schon am 20. Januar, dem Wahltag in Niedersachsen, wird sich das zeigen.
({4})
Die Linke macht Vorschläge, welche Aufgaben eine
zukünftige WSV übernehmen kann. Wir wollen nicht,
dass alles so bleibt, wie es ist. Das wäre dummes Zeug.
Im Gegenteil: Wir wollen, dass die Kolleginnen und
Kollegen vor Ort, mit denen wir auch gesprochen haben,
weitermachen können mit ihren Reformvorschlägen,
dass sie wirklich zukunftsfähige WSV-Arbeit machen
können. Sie haben sehr gute Vorschläge vorgelegt bekommen, egal ob in Schweinfurt, Berlin oder Magdeburg. Das hört man auch in Emden oder Aurich.
Die Betroffenen haben keine Angst davor, sich zu
verändern. Sie nehmen diesen Veränderungsprozess auf
und wollen die Reform gestalten, wenn es denn eine
Reform wäre statt eines Projekts, das ausschließlich
darin mündet, die WSV zu zerschlagen. Was jetzt vorgesehen ist - in Bonn wird eine zentrale Bürokratie aufgebaut, und es wird ein neues Organigramm erstellt, in
dem die Behördenstruktur neu zusammengestellt wird -,
reicht ihnen nicht aus.
Das sind keine Maßnahmen, die eine moderne Wasser- und Schifffahrtsverwaltung gestalten. Sie werden
nicht dazu beitragen, dass wir zu einer ökologischen Bewirtschaftung der wichtigen Schifffahrtswege kommen.
Unternehmen oder ökologische Ansprüche werden mit
dem, was Sie auf den Weg bringen wollen, nicht zufriedengestellt werden.
Nein, der Umbau der WSV in dieser Weise bringt
überhaupt nichts auf den Weg. Sie soll lediglich darauf
reduziert werden, Aufträge zu vergeben. Das Stichwort
„Privatisierung“ wurde genannt. Das ist schlecht für die
Kompetenzen, die die WSV heute noch hat. Das ist
schlecht für eine ökologische Flusspolitik. Da gehen wir
nicht mit.
Ich vermute, spätestens ab September 2013 werden
die Karten neu gemischt. Darauf können die Kolleginnen und Kollegen vertrauen, die zurzeit mit der
Zerschlagung ihrer WSV zu tun haben. Ich freue mich
darauf, diese Prozesse mit zu begleiten.
({5})
Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Auf Sie mit Gebrüll, Herr
Beckmeyer: Ich glaube, wir sollten zu einer sachlichen
Debatte finden.
({0})
Denn es geht immerhin um 12 000 unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Behörde des Bundes und
um deren Arbeitsplätze. Das ist das Entscheidende.
({1})
Diese Beschäftigten sorgen vor allen Dingen auch dafür,
dass die Wasserstraßen instand gehalten werden, damit
wir sie nutzen können. Das ist die Aufgabe, die wir als
Staat erledigen müssen. Das ist Daseinsvorsorge.
({2})
Dazu gehört auch die Zurverfügungstellung der Infrastruktur. Das ist eine der Aufgaben, die wir haben. Wir
brauchen unsere Wasserstraßen für die Bewältigung von
etwa 10 Prozent des gesamten Güterverkehrsaufkommens.
Lassen Sie uns zu der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zurückkehren. Wir haben 12 000 nach
meinem persönlichen Erleben hoch engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den einzelnen Ämtern vor
Ort, in den Außenstellen, Außenbezirken und anderen
Dienststellen. Ich habe das am Wochenende bei einer
Veranstaltung wieder erlebt.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehen, dass es
bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung Probleme
bei der Abwicklung gibt, dann nämlich, wenn wir so
weitermachen wie bisher, wie es bestimmte Teile des
Hauses wollen. Wir haben eine Bremse vonseiten des
Haushaltsausschusses bekommen - Herr Kollege Kahrs
ist anwesend -, dass wir 1,5 Prozent der Stellen einsparen müssen.
({3})
- Herr Kahrs, Sie wissen es ganz genau. Dies führt dazu,
dass die Stellen mit dem Rasenmäher abgebaut werden;
das heißt, die Stellen derjenigen, die in Pension gehen,
werden nicht wieder besetzt. Irgendwann haben wir ein
System erreicht, das nicht mehr ausreichend leistungsfähig ist.
({4})
Da bewegen wir uns so langsam an der Grenze. Wenn
Sie mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort
reden, dann stellen Sie das auch fest.
Wir brauchen also einen Reformprozess, sonst geht es
immer so weiter. Wenn wir mit diesen pauschalen Kürzungen so weitermachen, dann sind wir irgendwann bei
null. Dann hilft uns das gar nicht mehr. Deswegen müssen wir uns darüber klar werden, was wir langfristig für
die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erreichen
wollen, damit wir die Aufgabe, Wasserstraßen zur Verfügung zu stellen, erfüllen können. Darum halten wir einen
Reformprozess für zwingend erforderlich. Dazu gehört
zum einen die Priorisierung. Wir haben nur begrenzte
Haushaltsmittel, und die müssen wir an der Stelle einsetzen, wo es sinnvoll ist. Zum anderen - das ist ein Grundsatzproblem - müssen wir unterscheiden zwischen den
hoheitlichen und den betrieblichen Aufgaben. Das wird
in vorliegenden Ansätzen auch getan. Vor allen Dingen
- das ist ein ganz wichtiger Punkt, den ich bei meinen
Besuchen vor Ort immer wieder erlebt habe - müssen
wir endlich aus dem Wildwuchs herauskommen. Wir
sind weit entfernt von einer Standardisierung. Es gibt
Schleusentore, die von außen zwar gleich aussehen, sich
aber nicht tauschen lassen. Am Neckar sind die Schleusentore nicht tauschbar. Jede Direktion hat ihr eigenes
Schleusenfernsteuerungssystem entwickelt, weil nicht
direktionsübergreifend zusammengearbeitet wird.
({5})
Das ist ein Problem. Das Ganze müssen wir in eine
moderne Verwaltungsstruktur überführen, wie wir sie
zum Beispiel aus dem kommunalen Bereich kennen.
({6})
Damit fangen wir jetzt an. Das Problem, das ich sehe
- jetzt wende ich mich an die Regierung; Herr
Ferlemann, Sie wissen das auch; wir haben schon oft genug darüber gesprochen -, ist: Man kann das Ganze
nicht von oben, „top down“, herunterbrechen. Das Entscheidende bei einem solchen Modernisierungsprozess,
den wir überall erleben - auch in den Betrieben -, ist,
dass ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitnehme.
Ich muss es ihnen erklären. Es hilft überhaupt nichts,
wenn sie es von irgendwelchen Abgeordneten erfahren.
Es hilft auch nichts und ist sehr schädlich, wenn sie bestimmte Entscheidungen aus der Presse erfahren. Nutzen
Sie jetzt bitte die Möglichkeiten, die ein modernes
Change Management - um diesen Begriff einfach in den
Raum zu stellen; auch hier im altehrwürdigen Parlament bietet!
({7})
Die Regierung sollte sich eine Kommunikationsstrategie
überlegen, und nicht nur wir Abgeordnete sollten in den
Ämtern auftauchen; vielmehr sollten Entscheidungen
auch von der Verwaltungsseite nach unten weitergegeben werden.
({8})
Nehmen Sie in der Verwaltungsspitze des Ministeriums
einmal den Blickwinkel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein. Das wäre sehr hilfreich.
Lassen Sie mich zusammenfassen, was ich bei einer
solchen Reform für wichtig erachte: Wir brauchen maximale Transparenz nach innen, wenn wir den Startschuss
gegeben haben; das ist ja in den Ausschüssen passiert.
Wir müssen das Engagement der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter aufgreifen. Wir müssen auf die Ängste der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort eingehen.
({9})
- Herr Kollege Kahrs, es hilft nichts, wenn Sie sich
echauffieren.
({10})
Wir als Politiker müssen uns Gedanken darüber machen,
ob wir mit irgendwelchen neuen Aufregern in das
System hineingehen wollen. Wir sollten uns jetzt heraushalten und die Arbeitsgruppen, die eingerichtet worden
sind, arbeiten lassen. Dann schauen wir uns die Lösung
an.
({11})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin schon fast am Schluss, Herr Präsident. - In
dem Sinne würde ich gerne ernsthaft an einer modernen
Aufstellung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
weiterarbeiten.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Matthias Lietz für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits im
Dezember 2010 sowie im Mai 2011 stand ich hier an
diesem Pult und habe über die unterschiedlichsten Anträge zur Zukunft der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung berichtet. Schon in meinen damaligen
Redebeiträgen habe ich einiges zur zeitlichen Entwicklung dieser Reform berichtet,
({0})
und auch heute ist unsere Debatte so begonnen worden.
Es war mir damals wie auch heute ein wichtiges Anliegen, klarzustellen, dass eine Reformierung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung bereits über Jahrzehnte
hinweg aufgeschoben worden ist. In dieser Zeit hätten
alle Parlamentarier tatkräftig mitarbeiten können, um
tatsächlich eine Reform auf den Weg zu bringen.
So kam es denn auch, dass schließlich der Haushaltsausschuss im Oktober 2010 - ich sage: mit Rückenwind
des Bundesrechnungshofs - die Notbremse zog und das
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aufforderte, einen Vorschlag für die Reformierung
zu machen.
({1})
Mittelpunkt des nunmehr fünften vom Ministerium
vorgelegten Berichtes hierzu ist vor allem eine Untersuchung des Netzes, der Personalstruktur und eine Aufgabenkritik der Verwaltung. Einmal abgesehen von diesen
gutachterlichen Ergebnissen, die wir in diesem fünften
Bericht zur Kenntnis nahmen, möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass dieser Beschluss des Haushaltsausschusses die Reformierung einer bundeseigenen Verwaltung anstieß, in der sich seit Jahrzehnten - auch das ist
heute mehrfach erwähnt worden - bis auf den planlosen
Stellenabbau nichts getan hat.
Vor allem mit Blick auf diesen Punkt frage ich mich,
was sich die Damen und Herren der Opposition an dieser
Stelle eigentlich vorstellen. Soll dies so weitergeführt
werden, oder was ist Ihre Alternative zur Reform? Ich
sage - und da stimme ich voll mit meiner Vorrednerin
überein -:
({2})
Wir müssen doch einmal ehrlich gemeinsam Politik machen und dürfen uns nicht gegenseitig Verschulden vorwerfen.
({3})
Ich sage das auch in Richtung der Bundesländer; denn
auch die Länder sind gefordert, sich am Prozess zu beteiligen. Das heißt für mich nicht nur Kritik an den Aufgaben, sondern möglicherweise auch Beteiligung an der
Finanzierung.
({4})
Meine Damen und Herren, uns liegen in dieser verbundenen Debatte mehrere Anträge vor. Lassen Sie mich
auf einige Hauptkritikpunkte eingehen.
Ich beginne dabei mit der Netzkategorisierung. Das
ist ein Schuh - wenn ich es einmal so ausdrücken darf -,
der auch mich beim ersten Hinsehen deutlich drückte.
Man hört es, ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern.
Maritimwirtschaftlich gesehen haben wir sicherlich nur
kleinere Häfen und vor allem Marinas, deren Erhalt mir
allerdings ein großes persönliches Anliegen ist. Dennoch
muss auch ich den Tatsachen ins Auge sehen, dass gerade die Flüsse in unserem Land hinsichtlich der Transportmenge und der Umschläge in keinem Vergleich zum
Rhein-Main-Gebiet, der Donau oder der Mosel stehen.
Aber, meine Damen und Herren - wir haben es in der
Debatte zum vorherigen Tagesordnungspunkt gehört -,
wenn ich über die Entwicklung der Strukturen der
Räume in unserem Land aus Sicht der Raumordnung
spreche, dann weiß ich: Wir werden sicherlich auch in
den kommenden Jahren gerade diese Prioritäten neu setzen müssen. Die Kategorisierung, die Priorisierung der
Wasserstraßen ist dennoch nicht falsch. Wenn das Geld
- auch das haben wir in der letzten Haushaltsberatungswoche wieder alle deutlich erkannt - nicht ausreicht für
alle Maßnahmen, für alle Wünsche, dann muss es letztendlich nach Dringlichkeit vergeben werden.
({5})
Sinnvoll erfolgt dies zukünftig vor allem durch den
Vorschlag - das lesen wir in dem fünften Bericht -, alle
fünf Jahre eine erneute Bewertung vorzunehmen, damit
das an sich ändernde Bedingungen angepasst werden
kann.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen Blick zu meinen Kollegen zur Linken werfen. Sie
fordern in Ihrem Vorschlag nicht nur mehr Geld, sondern
wollen die Kategorisierung auch mit mehr Renaturierung verbinden.
({7})
Ich sage Ihnen: Wenn das Projekt eines Flusses, eingeteilt in die Kategorien A, B, C oder D, auch noch mit einer Renaturierung verbunden werden soll, dann wäre das
für mich Stuttgart 21 auf dem Wasser.
({8})
Die Personal- und Verwaltungsstruktur ist ein weiterer Punkt. Hier möchte ich auf Folgendes hinweisen: Es
ist kein Geheimnis, dass seit 1993 bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung Stelleneinsparungen erfolgen.
({9})
Der Staatssekretär hat deutlich darauf hingewiesen, dass
bereits eine Reduzierung auf etwa 12 000 Beschäftigte
erfolgt ist.
Ich habe mit den Verwaltungen vor Ort, vor allen Dingen an den WSV-Standorten, mit den Betreibern der
Häfen und den Binnenschiffern gesprochen. Ich kann bestätigen, dass die Menschen dort einer Reform offen gegenüberstehen
({10})
und die Mitarbeiter daran interessiert sind, das Ganze
geregelt auf den Weg zu bekommen.
Das sage ich auch aus eigener Erfahrung: Ich selbst
habe in den letzten Jahren in meinem Land auf der kommunalen Ebene Reformen in der Verwaltung erlebt. Ich
könnte mir vorstellen, dass sich der eine oder andere Betrieb in meinem Bundesland, der nach 1990 reformiert
wurde, einen solchen Zeitraum, eine solche Umsetzung
und eine Begleitung der Personalräte und der Gewerkschaften gewünscht hätte.
({11})
Die Umsetzung der Reform wird schrittweise bis in
das Jahr 2020 erfolgen. An dieser Stelle möchte ich noch
einmal ausdrücklich erwähnen: Es ist klar vereinbart,
dass es keine Kündigung und keine Versetzung gegen
den Willen der Mitarbeiter geben wird.
({12})
Es wird das Möglichste versucht, um die wichtigste Ressource der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - das
sind die sachkundigen Mitarbeiter - nicht auf der Strecke zu lassen.
({13})
Ein letztes Wort zur Vergabekritik. Ich sage deutlich:
Eine Privatisierung darf nicht zum Kompetenzverlust
des Staates führen. Die Privatisierung staatlicher Aufgaben findet ihre Grenze in der Verantwortung für das Gemeinwohl.
({14})
Das gilt auch für die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Hoheitliche und sicherheitsrelevante Aufgaben
werden daher auch weiterhin von der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes erledigt werden.
Zur Frage der Finanzierung und der notwendigen Einstellung der Mittel in den Haushalt: Auch hier kann ich
Ihnen deutlich sagen, dass allen klar ist, dass die Bundeswasserstraßen mehr finanzielle Unterstützung benötigen.
({15})
Das sollte für uns der Anlass sein, sich konstruktiv für
diesen Punkt einzusetzen. Es ist unumgänglich, den Verkehrsetat in diesem Bereich in den nächsten Jahren zu
steigern,
({16})
aber auch eine Prioritätensetzung und eine Effizienzsteigerung in der Verwaltung zu erreichen. Vergabepolitik
und Investitionen in der Binnenschifffahrt sind eindeutig
zu verbessern.
Der Verkehrsträger Wasserstraße verfügt über ein
enormes Kapazitätspotenzial. Um den Anforderungen
der nächsten Jahre gerecht zu werden, muss es endlich
verlässliche Konzepte geben. Wir aus der christlich-liberalen Koalition wollen Platz für eine sichere und leistungsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung schaffen und gleichzeitig - das sei hier noch einmal versichert
- die Fachkompetenz der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erhalten.
Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie zu! Den Anträgen
der Opposition werden wir eine Ablehnung erteilen.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat nun Gustav Herzog für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Ferlemann hat ganz zu Beginn seiner
Rede etwas Richtiges gesagt: Die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes leisten eine hervorragende Arbeit und haben unseren Dank verdient.
({0})
Aber, Herr Ferlemann, der Beitrag der Bundesregierung
dazu, dass sie diese gute Arbeit leisten können, liegt im
negativen Bereich: Sie leisten keine Unterstützung, sondern erschweren den Kolleginnen und Kollegen die Arbeit, die sie draußen zu leisten haben.
({1})
Es gibt einen Unterschied zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der WSV einerseits und der
Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen andererseits: Auf die WSV kann man sich verlassen, auf die
rechte Seite des Hauses eben nicht.
({2})
Seit dem „Herbst der Entscheidungen“ im Jahr 2010
leisten Sie keinen Beitrag zur Stärkung des Verkehrsträgers Wasserstraße, sondern schmeißen immer wieder
Steine in den Kanal und Bäume in den Fluss, um den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Leben noch
schwerer zu machen, als es so schon ist.
Ich will das an ein paar Beispielen belegen. Ich war
am Montag auf Einladung von Kommunalpolitikern, der
IHK, des Vereins „Weitblick“ und einer Reihe von Betrieben in Eisenhüttenstadt. Sie haben mir gesagt: Herr
Herzog, versuchen Sie doch einmal, uns zu erklären, warum die Bundesrepublik Deutschland 3 Milliarden Euro
in das ostdeutsche Wasserstraßennetz investiert und bei
den letzten 74 Millionen Euro, die für den Ausbau der
Schleusen in Fürstenwalde und Kleinmachnow und die
Hebung zweier Brücken benötigt würden, sagt: „Das
Geld gibt es aber nicht mehr“, weil die entsprechenden
Wasserstraßen in die Kategorie „Sonstige Wasserstraßen“ eingruppiert worden sind. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, was das mit Wirtschaftlichkeit im volkswirtschaftlichen Sinne zu tun hat, ist mir völlig schleierhaft
und war nicht zu erklären.
({3})
Natürlich stellt sich die grundsätzliche Frage: Warum
haben Sie mit all dem begonnen? Es ging nicht im Verkehrsausschuss, sondern im Haushaltsausschuss los, wo
die FDP nun unbedingt eine große Privatisierung haben
wollte, worauf das Ministerium mit der Einführung der
Kategorien geantwortet hat. Murks und Murks ergibt zusammen eben nur Murks und nichts Vernünftiges.
({4})
Dann wurden wir hier im Parlament mit den Berichten 1 bis 5 konfrontiert; ein Hin und Her hatten wir zu
erwarten. Ich will es am Beispiel des Wasser- und
Schifffahrtsamtes Hannoversch Münden deutlich machen. Herr Kollege Staatssekretär, Sie nicken mit dem
Kopf. Ja, Sie haben im April 2011 dortigen CDU-Kommunalpolitikern, auch einer Landratskandidatin, gesagt:
Der Standort ist nicht gefährdet. - Ich habe dann den
Staatssekretär Mücke hier im Plenum gefragt - er ist da -:
Herr Staatssekretär, ist die Organisationsüberprüfung ergebnisoffen, oder gibt es Vorfestlegungen? - Er hat mir
gesagt: Die Prüfung ist natürlich ergebnisoffen. - Der
eine schreibt also Briefe, und der andere erzählt hier im
Parlament: Alles ist offen. - Dann stand fest, dass das
Wasser- und Schifffahrtsamt zur Außenstelle wird:
Standort erhalten, Amt gestrichen. Irgendwann hörten
wir von Ihrem Abteilungsleiter: Die Außenstellen werden bis 2020 dichtgemacht; sie bleiben noch ein bisschen, aber dann ist irgendwann Schluss. - Meinen Sie
denn, dass Sie mit einem solchen Verhalten Vertrauen
bei den Beschäftigten erwecken? Nein, das Gegenteil ist
der Fall: Sie verbreiten Unsicherheit.
({5})
Ich will jetzt aus einem Brief, den uns Verdi vor dieser Debatte in die Hand gedrückt hat, zitieren:
({6})
Die Beschäftigten der WSV haben Angst um ihre
Zukunft, Angst vor weiterem Personalabbau und
damit einhergehenden Schließungen von Dienststellen. Die Beschäftigten wollen sich mit ihrer
Kompetenz und Erfahrung an einer nachhaltigen
Reform der WSV beteiligen.
Sie verhindern das mit Ihrem Hin und Her.
({7})
Lassen Sie mich ein schönes Bild bringen: Ein Wollknäuel ist im Verhältnis zu Ihrer Wasserstraßenpolitik
eine gerade Linie.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um eine Reform, von der 12 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen sind; 1 800 Millionen Euro sind auszugeben. Und hat es diese Koalition, hat es diese Regierung
bisher nötig gehabt, das Parlament mit einem Antrag
oder einem Gesetzentwurf zu befassen? Nein, Sie
wurschteln sich mit Berichten im Haushaltsausschuss
und Entschließungen dazu durch. Das ist keine Wertschätzung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Abgeordneter Fischer, herzlichen Glückwunsch
zum Geburtstag.
({9})
Ich frage mich, wie es ein gestandener Verkehrspolitiker
wie Sie schafft, sich drei Jahre lang so durchzuwurschteln. Sorgen Sie doch endlich dafür, dass in Ihrem Laden
vernünftige Politik gemacht wird und dass sich der Bundestag in angemessener Weise damit beschäftigt! Das
werden wir spätestens dann tun, wenn der Gesetzentwurf
beraten wird.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt: Er befindet sich
in der Ressortabstimmung und wird bald eingebracht.
Sie wollten noch in diesem Herbst - es fängt bald an, zu
schneien ({10})
einen Infrastrukturbericht über die Wasserstraßen vorlegen. Sie haben zu liefern. Machen Sie es aber bitte nicht
so wie die FDP; denn sonst kommt das Päckchen nie an.
Danke schön.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für eine zu-
kunftsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes und ein modernes Wasserstraßenmanagement“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/11592, den Antrag der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/9743 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion der Grünen gegen die Stimmen von SPD und
Linken.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/8330. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/4030 mit dem Titel
„Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenver-
hältnis angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/5548 mit dem Titel „Kein Personalabbau bei
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - Aufgaben an
ökologischer Flusspolitik ausrichten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Zustim-
mung aller übrigen Fraktionen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/5056 mit dem Titel „Neue Netz-
struktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung reformieren“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und Zustimmung aller übrigen Fraktionen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung, eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen
und Patienten
- Drucksache 17/10488 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- Drucksache 17/11710 -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Berichterstattung:-
Abgeordnete Erwin Rüddel-
Dr. Marlies Volkmer-
Christine Aschenberg-Dugnus-
Kathrin Vogler-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Mechthild
Rawert, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies
Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Patientenrechte wirksam verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mehr Rechte für Patientinnen und Patienten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria KleinSchmeink, Ingrid Hönlinger, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte von Patientinnen und Patienten
durchsetzen
- Drucksachen 17/9061, 17/11008, 17/6489,
17/6348, 17/11710 Berichterstattung:Abgeordnete Erwin RüddelDr. Marlies VolkmerChristine Aschenberg-DugnusKathrin VoglerMaria Klein-Schmeink
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Über
einen Teil des Antrags der Fraktion der SPD zu Patientenrechten werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Mechthild Dyckmans von der FDPFraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die christlich-liberale Koalition bringt heute
ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zum Abschluss: Wir verbessern die Rechte von Patientinnen und
Patienten. Mit diesem Gesetzentwurf erfüllen wir aber
auch Forderungen, über die seit langem diskutiert wird
und die sogar fraktionsübergreifend von allen Parteien
erhoben werden.
Der Opposition geht dieser Gesetzentwurf wieder einmal nicht weit genug. Sie hat eigene, weiter gehende Anträge vorgelegt.
({0})
Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, ich
wundere mich nur, warum in den Jahren, in denen Sie
die Regierungsverantwortung trugen, in diese Richtung
nichts rechtlich Verbindliches geschehen ist.
({1})
In den Koalitionsvereinbarungen von 1998 und 2002
wurden zwar entsprechende Forderungen aufgestellt.
Aber was ist geschehen? Zunächst haben Sie ein Sachverständigengutachten eingeholt. Dann haben Sie eine
Arbeitsgruppe beauftragt.
({2})
Aber haben Sie Rechtsverbindlichkeit hergestellt? Fehlanzeige. Das gilt auch für die Zeit der Großen Koalition. Ich erinnere Sie von der SPD: Die SPD stellte sowohl die Justizministerin als auch die Gesundheitsministerin. Es gab zwar einige Verbesserungen für Patientenvertreter auf institutioneller Ebene; aber den Forderungen nach Zusammenführung der bislang zersplitterten
und undurchsichtigen Rechte der Patientinnen und Patienten in einem Gesetz, nach einer stärkeren Fehlervermeidung und nach einem Risikomanagement wurde in
Ihrer Regierungszeit nicht nachgekommen. Nach elf
Jahren Regierungsbeteiligung fand man diese Forderung
nur in Ihrem Wahlprogramm wieder.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, diese
christlich-liberale Koalition erfüllt mit dem Patientenbeauftragten - Herr Zöller, herzlichen Dank für die Arbeit,
die Sie bisher geleistet haben -,
({4})
dem Gesundheitsminister Daniel Bahr und der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
({5})
auch Forderungen aus Ihrem Wahlprogramm.
({6})
Deshalb wird es niemand verstehen, wenn Sie diesem
Gesetzentwurf heute nicht zustimmen.
({7})
Künftig können Patientinnen und Patienten auf einen
Blick sehen, welche Rechte und Pflichten sie haben. Wir
haben dies im BGB, im Bürgerlichen Gesetzbuch, verankert. Da gehört es hin. Wir haben uns an den Problemen
orientiert, die in der Praxis aufgetreten sind und anhand
von Einzelfällen gelöst worden sind. Künftig muss der
Patient aber nicht mühsam die obergerichtliche Rechtsprechung durchforsten. Nein, alle Rechte sind klar und
transparent und für alle verbindlich geregelt. Das ist ein
ganz wesentlicher Fortschritt.
({8})
Wir haben auch die Sachverständigenanhörung ausgewertet und infolgedessen einige, wie ich meine, ganz
wesentliche Änderungen vorgenommen. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass die jetzt normierte Beweislastverteilung bei Haftung für Behandlungs- und
Aufklärungsfehler eine Weiterentwicklung durch die
Rechtsprechung gerade nicht ausschließt.
Ich komme jetzt zu den Änderungen. - Eine ganz wesentliche Änderung hat § 630 e BGB erhalten - hier geht
es um die Aufklärungspflicht -: Minderjährige, die noch
nicht in die Behandlung einwilligen können, und einwilligungsunfähige volljährige Patienten sollen stärker in
das Behandlungsgeschehen einbezogen werden. Sie sind
immer Subjekt der Behandlung und daher immer über
Art und Umfang der Behandlung so zu unterrichten, dass
sie entsprechend ihrem Vermögen die Behandlung verstehen können. Das ist auch Ausfluss der UN-Behindertenrechtskonvention.
({9})
Wir stärken auch noch einmal die Rechte von Patientinnen und Patienten auf Einsicht in ihre Patientenakte.
Wurden dem Patienten in der Vergangenheit oftmals nur
Auszüge der Akte zugänglich gemacht, so schreibt das
Gesetz jetzt eindeutig und klar vor, dass ihm Einsicht in
die vollständige Akte zu gewähren ist. Wir regeln auch,
enger als in dem Regierungsentwurf, unter welchen Voraussetzungen die Einsichtnahme versagt werden darf.
Wenn die Einsichtnahme versagt wird, ist das zu begründen.
Das sind wesentliche Verbesserungen hinsichtlich der
Rechte von Patientinnen und Patienten. Wir schaffen
durch dieses Gesetz gute Voraussetzungen für Patientinnen und Patienten.
Vielen Dank.
({10})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Marlies Volkmer
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Dyckmans, ich sage es gerne noch einmal: Ohne
die SPD gäbe es das Amt des Patientenbeauftragten gar
nicht, und Herr Zöller könnte dieses Amt gar nicht wahrnehmen.
({0})
Ich finde es auch nicht falsch, wenn man ein Patientenrechtegesetz machen will, dass man erst einmal eine Arbeitsgruppe einrichtet und mit den Expertinnen und Experten sowie mit den Patientenvertretern spricht, damit
man weiß, was man in ein solches Gesetz schreiben
muss, damit etwas Besseres herauskommt als das, was
wir heute haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Gesundheitssystem orientiert sich immer noch nicht am tatsächlichen
Bedarf von Patientinnen und Patienten. Patientinnen und
Patienten fühlen sich häufig als Bittsteller, sei es, wenn
es um einen Arzttermin oder um einen Operationstermin
geht, wenn sie ihre vollständigen Unterlagen haben wollen oder wenn es um die Versorgung mit Hilfsmitteln
geht, weil sie gleichberechtigt am Leben teilhaben wollen. Auch im Konfliktfall sind Patientinnen und Patienten gegenüber Ärzten, anderen Leistungserbringern und
den Krankenkassen häufig die Unterlegenen. Ebenso
sind die Mitwirkungsrechte von Patienten sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene nicht ausreichend.
Ein modernes Patientenrechtegesetz muss an diesen
Stellen ansetzen. Es genügt bei weitem nicht, das Recht,
das bisher auf viele Gesetze verteilt war, in einem Gesetz
zu bündeln.
({1})
Das tun Sie aber. So ist es auch kein Wunder, dass zum
Beispiel der Präsident der Bundesärztekammer, Herr
Montgomery, festgestellt hat: Mit diesem Gesetz können
wir Ärzte gut leben. Es ändert sich nichts. - Wenn sich
für sie nichts ändert, dann ändert sich wahrscheinlich
auch für Patientinnen und Patienten nichts.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, Sie versuchen, durch rhetorische Tricks über die
Tatsache hinwegzukommen, dass sich für Patientinnen
und Patienten substanziell nichts ändert. Dieser Gesetzentwurf ist wie eine schillernde Seifenblase, die zerplatzen wird. Zurück bleiben enttäuschte Patientinnen und
Patienten.
({3})
Wir haben deutlich weitergehende Vorschläge im Interesse von Patientinnen und Patienten in den Bundestag
eingebracht. Ich wende mich jetzt noch einmal extra an
die Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU: Sie
haben sicher manchen unserer Vorschläge für durchaus
sinnvoll gehalten, zum Beispiel unsere Ideen für mehr
Sicherheit bei Medizinprodukten oder für die Einführung eines Härtefallfonds. Es fehlen Ihnen aber die Courage und das Durchsetzungsvermögen, solche neuen
Wege zu gehen.
({4})
So finden sich im Gesetz nun keinerlei Regelungen
zur Verbesserung der Sicherheit bei Medizinprodukten.
Hier gibt es deutliche Missstände. Das betrifft nicht nur
die gegenwärtige Zulassungspraxis in Europa. Der britische Gesundheitsminister hat sich übrigens bereits dafür
ausgesprochen, diese gefährliche Schwachstelle anzugehen. Von Ihnen von der Koalition hat man dazu leider
nichts gehört.
({5})
Es ist aber auch in unserem Land dringend notwendig,
etwas zu tun. Wir haben mit unserem Antrag „Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten“ den Weg aufgezeigt.
Zum Beispiel wäre ein verpflichtendes Register für alle
implantierbaren Medizinprodukte wie künstliche Gelenke oder Stents für Herzkranzgefäße ganz wichtig für
die Versorgungsforschung. Damit würde die Qualität der
Patientenbehandlung deutlich verbessert. Erklären Sie
den Patienten und den Ärzten, warum Sie hier nichts
tun!
({6})
Wo ist Ihr Änderungsantrag geblieben, der beinhaltet,
dass Krankenhäuser künftig Bonusvereinbarungen mit
den Chefärzten bei Erreichung ökonomischer Zielgrößen
offenlegen müssen? Wir alle hören immer wieder, dass
in Krankenhäusern aus rein wirtschaftlichen Gründen
auch unnötige Operationen durchgeführt werden. Das ist
ein unhaltbarer Zustand.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, noch
am Wochenende hat Ihr gesundheitspolitischer Sprecher
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung groß angekündigt, dass die Offenlegung der Bonusverträge in den
Qualitätsberichten der Krankenhäuser schon beschlossene Sache sei. Sind Sie jetzt der Meinung, dass Patientinnen und Patienten nicht mehr wissen müssen, ob in
dem Krankhaus, in das sie gehen, solche Bonusverträge
existieren? Oder war die Krankenhauslobby erfolgreich,
die gesagt hat: „Brauchen wir nicht“? Oder war es die
FDP?
({8})
Was ist mit dem Härtefallfonds? Herr Zöller, Sie ziehen seit Jahren durch die Lande und fordern einen solchen Fonds. Die Union fordert seit dem Frühjahr eine
entsprechende Stiftung. Trotzdem bekommen Sie keine
Regelung hin. Sie stellen sich vor die Presse und schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Woran
lag es? Lag es an der Unfähigkeit, nach drei Jahren ein
Konzept zu präsentieren? Scheiterte es am Willen der
FDP, auch einmal etwas für Patientinnen und Patienten
zu tun?
({9})
- Wir haben sehr wohl eines. Sie haben unseren Antrag
anscheinend nicht gelesen.
({10})
Frau Kollegin Volkmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aschenberg-Dugnus?
Immer gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Stimmen Sie mit mir
überein, dass das, was in Ihrem Antrag steht, mit dem
Wiener Härtefallfonds überhaupt nichts zu tun hat?
Stimmen Sie mit mir überein, dass sich der Wiener Härtefallfonds ausschließlich aus Beiträgen der Patienten
finanziert? Stimmen Sie mit mir überein, dass Haftpflichtversicherungen oder Steuergelder dort überhaupt
nicht vorkommen? Stimmen Sie mit mir überein, dass
dieser Fonds, den Sie in Ihrem Antrag als Modell heranziehen, nur für Krankenhausaufenthalte gilt? Stimmen
Sie mit mir überein, dass er eine ganz andere Zielsetzung
hat, dass es da überhaupt nicht um Behandlungsfehler
geht? Sie haben diesen Wiener Härtefallfonds herangezogen, aufgebläht, ad absurdum geführt und wollen ihn
auf unser System übertragen, das aber ganz anders funktioniert. In unserem Schadensersatz- und Haftungssystem geht es um individuelle Verantwortung und um individuelle Haftung.
({0})
Stimmen Sie mit mir überein, dass das Placebo, das Sie
hier der Öffentlichkeit geben wollen, überhaupt nicht zu
unserem System passt?
Liebe Frau Aschenberg-Dugnus, recht herzlichen
Dank für diese Frage. Dies gibt mir Gelegenheit, unser
Modell eines Härtefallfonds noch deutlicher zu erläutern. Sie haben recht: Wir haben das Wiener Modell
nicht eins zu eins übernommen. Warum sollten wir das
tun? Uns geht es darum, dass wir bei bestimmten Härtefällen eine Entschädigung zahlen wollen.
({0})
- Die sind nicht unbestimmt. - Das Haftungsrecht ist davon überhaupt nicht betroffen. Die individuelle Haftung
eines jeden Arztes bleibt erhalten. Die Patienten sollen
sogar klagen. Wenn sie mit einer Klage erfolgreich gewesen sind, zahlen sie Geld in den Fonds zurück.
({1})
- Wenn nicht, dann entschädigt der Fonds.
({2})
- Ja. Das ist in dem österreichischen Fonds auch so; das
wüssten Sie, wenn Sie sich damit beschäftigt hätten. Aus diesem Grunde halten wir es für berechtigt, dass die
Patientinnen und Patienten an der Finanzierung beteiligt
sind.
({3})
Ebenso halten wir es für berechtigt, dass diejenigen, die
einen solchen Behandlungsfehler verursachen - das sind
in der Regel die Leistungserbringer -, über die Haftpflichtversicherung in diesen Fonds einzahlen. Das ist
die Grundidee, und diese ist richtig.
({4})
Sie haben im Grunde genommen noch einmal deutlich gemacht, dass Sie nicht willens sind, etwas zu tun.
Sie hätten ja etwas vorlegen können. Sie hatten Zeit. Die
CDU hat im Frühjahr über ein Stiftungsmodell diskutiert. Wo ist es denn? Es gibt nichts, worüber wir hätten
diskutieren können. Etwas mehr Mühe sollten Sie sich
bei Ihrer Argumentation schon geben, wenn Sie schon
nicht den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit ist: Sie wollen etwas im Interesse der Versicherungswirtschaft tun, und Sie wollen nichts im Interesse der Patientinnen und Patienten tun.
({5})
Sie haben leider die Chance verpasst, hier fraktionsübergreifend etwas zu tun und ein wirklich modernes Patientenrechtegesetz vorzulegen; das wäre nämlich möglich gewesen. Dadurch wäre von diesem Haus ein
starkes Signal ausgegangen: an alle Leistungserbringer
im Gesundheitssystem und an alle Patientinnen und Patienten. Dies hätte nicht nur die Rechte der Patientinnen
und Patienten verbessert, sondern wäre auch im Interesse der Ärztinnen und Ärzte gewesen, deren übergroße
Mehrheit ein Interesse an einer guten Versorgung der Patientinnen und Patienten hat. Chance verpasst - leider.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Wolfgang Zöller.
({0})
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jeden Tag lesen wir Schlagzeilen und Beschwerden: Rollstuhl erst nach sechs Monaten genehmigt. Keiner half mir beim Behandlungsfehlerverdacht.
Ich darf als Arzt keinen Fehler melden, weil mir sonst
arbeitsrechtliche Sanktionen drohen. Ich weiß nicht, wo
steht, dass man ein Recht auf Einsicht in die Krankenakte hat. Ich erfuhr erst nach der Behandlung, dass ich
etwas zuzahlen muss, weil die Kasse die Kosten nicht
voll übernimmt. Man hat mich vor dem Eingriff nicht
richtig aufgeklärt, und Behandlungsalternativen wurden
keine benannt. - Das Patientenrechtegesetz schafft jetzt
für all diese Problemfälle eine gesetzlich verbindliche
Lösung. Das ist ein Mehrwert für die Patienten.
({0})
Deshalb ist heute ein guter Tag. Wir legen den Grundstein für eine neue Kultur in den Praxen und den Häusern der Gesundheitsversorgung, für eine Kultur der
Partnerschaft, der Transparenz und der Rechtssicherheit.
Wie Sie wissen, wollen wir kein Gesetz gegen irgendjemanden, sondern ein Gesetz mit den Beteiligten, das
sich an den Problemlagen der Realität orientiert, sodass
praktikable Lösungen gefunden werden.
({1})
Nach diesem Motto haben wir im Vorfeld über 300 Gespräche geführt und einen Konsens ausgelotet. Ich erinnere mich noch an Äußerungen wie: Eine Kodifizierung
der bestehenden Rechte wird nie gelingen. Wir brauchen
kein Gesetz; eine Broschüre reicht. Wir wollen eine totale Beweislastumkehr.
({2})
Wir brauchen keine mündigen Patienten; wir brauchen
nur mehr Geld im System. - Es ist gelungen, zwischen
diesen Polen zu vermitteln und ein gutes, umsetzbares
Patientenrechtegesetz vorzulegen.
({3})
Dafür möchte ich recht herzlich danken, und zwar dem
Gesundheitsminister, der Justizministerin und allen Mitarbeitern.
({4})
Ich darf an dieser Stelle auch den persönlichen Referenten ein recht herzliches Dankeschön sagen.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Gesetz
verringert das Wissensungleichgewicht zwischen Behandler und Patient, stellt niemanden an den Pranger,
nimmt aber alle an unserem Gesundheitssystem Beteiligten ausgewogen in die Pflicht. Das Vertrauensverhältnis
Arzt/Patient ist für uns ein sehr hohes Gut.
Wenn man die Diskussion, die zurzeit geführt wird,
verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, als gehe es
beim Patientenrechtegesetz nur um den sogenannten Härtefallfonds. Das Patientenrechtegesetz ist Gott sei Dank
- Gott sei Dank! - wesentlich mehr. Von der Kollegin ist
es schon angesprochen worden: Der Behandlungsvertrag
wird im Bürgerlichen Gesetzbuch ausdrücklich verankert. Patienten müssen demnach verständlich und umfassend informiert werden, etwa über erforderliche Untersuchungen, Diagnosen, beabsichtigte Therapien und
deren Alternativen; dies gilt im Übrigen auch für die
IGeL-Leistungen. In Zukunft muss auch die Höhe zusätzlich anfallender Kosten im Voraus schriftlich fixiert
werden. Die Patienten erhalten das Recht auf Einsichtnahme in ihre Patientenakte; sie können auch elektronische Abschriften ihrer Patientenakte verlangen. Nach
diesem Gesetz besteht auch die Pflicht, nachträgliche
Änderungen und Ergänzungen in der Dokumentation
kenntlich zu machen. - Das alles sind Vorteile für die
Patienten.
Fehlt eine Dokumentation oder ist sie unvollständig,
geht dies im Falle eines Prozesses zulasten des Behandelnden. Besteht ein Behandlungsfehlerverdacht, müssen die Kassen in Zukunft ihre Versicherten mit kostenfreien Gutachten unterstützen.
({6})
Behandlungsfehlern möglichst vorzubeugen, hat bei uns
Priorität. Das Qualitätsmanagement im stationären Bereich umfasst künftig verpflichtend auch ein Beschwerdemanagement. Es wird bei der Einführung von Fehlermeldesystemen in Kliniken finanzielle Anreize geben.
Die Verpflichtung zur Veröffentlichung in den Qualitätsberichten wird flächendeckend eine neue Fehlerkultur
befördern. Ein sehr hoher Nutzen für die Patienten ist:
Die Wartezeit bei einer Entscheidung der Kassen zur Bewilligung von Leistungen wird auf drei Wochen begrenzt. Das heißt, wird der Antrag nicht innerhalb von
drei Wochen bearbeitet, gilt er als genehmigt.
({7})
Die Patientenbeteiligung wird weiter ausgebaut. Patientenorganisationen werden insbesondere bei der Bedarfsplanung vor Ort einbezogen, damit die Strukturen
stärker an den Patientenbedürfnissen ausgerichtet werden. Eingeführt werden auch Widerrufsmöglichkeiten
bei besonderen Versorgungsformen. Da unser Gesundheitssystem und die bestehenden Rechte und Pflichten
sehr umfassend sind, übernehme ich gerne die im Gesetz
verankerte Pflicht, dass der Patientenbeauftragte die
Bürger in Zukunft verständlich über ihre Rechte informieren muss.
({8})
So weit nur stichpunktartig eine Aufzählung neuer,
konkreter, praktischer Verbesserungen für unsere Patienten.
({9})
Bei der Einbringung des Gesetzes hatte ich den
Wunsch geäußert, die Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss zu stärken. Ich bin sehr froh und
dankbar, dass dieser Punkt aufgenommen wurde. Durch
die Fristsetzung für eine Beratung von Anträgen der Patientenvertreter wird künftig eine zügige Befassung sichergestellt.
({10})
Wörtlich heißt es:
Für eine Beratung genügt ein … Aufsetzen auf die
Tagesordnung … nicht. Erforderlich ist eine materiell-inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Anliegen der Patientenvertretung.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine über
20 Jahre dauernde Diskussion ist damit nicht beendet;
({12})
aber sie hat ein sehr gutes Ergebnis gefunden. Denn mit
all diesen Regelungen, die wir getroffen haben, stärken
wir die Position der Patienten auf dem Weg vom Bittsteller zum Partner im Gesundheitswesen.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Kathrin Vogler das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Zöller, das, was Sie gerade erzählt
haben, glauben Sie doch selber nicht. Sie wissen alle,
was ein Placebo ist. Genau das ist leider dieses Patientenrechtegesetz, das uns die schwarz-gelbe Bundesregierung hier vorgelegt hat.
({0})
Ein Placebo ist ein Scheinmedikament, ein Medikament
ohne Wirkstoff. Leider fehlt Ihrem Patientenrechtegesetz
so mancher wichtige Inhaltsstoff im Sinne der Patientinnen und Patienten, der nützlich gewesen wäre. Ja, den
Krankenkassen erlegen Sie die eine oder andere neue
Pflicht auf. Manches bleibt aber vage. Zum Beispiel ist
die Unterstützung der Versicherten bei Behandlungsfehlern nur eine Soll-Regelung und keine Muss-Regelung.
Selbst da bleiben Sie im Vagen.
({1})
- Ja, ich habe es schon gelesen.
({2})
Die Frankfurter Rundschau schreibt heute völlig zu
Recht, das sei kein Patientenrechtegesetz, sondern ein
„Ärzteschutzprogramm“,
({3})
und die Aussage, die Beweislasterleichterung führe zu
einer Defensivmedizin, wie der Gesundheitsminister so
gerne sagt, sei barer „Unsinn“. Das kann ich nur unterschreiben.
({4})
Herr Zöller, wenn Sie jetzt sagen, der Gesetzentwurf
sei mit den Beteiligten im Konsens ausgehandelt worden, dann schließt Ihr Konsens wohl sehr viele Patientenorganisationen aus; sie sind - das ist bei der Anhörung
sehr deutlich gesagt worden - mit dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung überhaupt nicht zufrieden.
Frau Dyckmans hat hier schon wieder einen Mythos
verbreitet, und zwar den, dass Sie die Patientenrechte in
einem Gesetz bündelten. Auch da Fehlanzeige: Statt dass
Sie ein Patientenrechtegesetzbuch aus einem Guss vorlegen, wird jetzt am Bürgerlichen Gesetzbuch, am SGB V,
an der Patientenbeteiligungsverordnung und am Krankenhausfinanzierungsgesetz herumgedoktert. Das muss
einmal gesagt werden; das ist die Wahrheit.
({5})
Sie schreiben nur fest, was Richterinnen und Richter
bereits im Sinne der Patientinnen und Patienten entschieden haben,
({6})
Sie gehen kaum darüber hinaus.
({7})
Im Gegenteil, Sie riskieren, dass eine Weiterentwicklung
durch Richterrecht nicht mehr möglich ist.
Worüber reden wir hier eigentlich,
({8})
was sind denn die wichtigsten Dinge, die fehlen? Angenommen, ein Patient bekommt einige Monate nach seiner Hüftoperation Probleme, weil sich das künstliche
Hüftgelenk lockert, der Patient hat Schmerzen, kann sich
nicht mehr bewegen, kann nicht mehr laufen, kann nicht
arbeiten, muss neue Untersuchungen, neue Behandlungen über sich ergehen lassen, muss wieder ins Krankenhaus und vielleicht noch mehrfach operiert werden. In
dieser Situation ist doch der Betroffene, der Patient, ohnehin schon belastet. Und dann muss er noch selber die
Beweiskette führen. Sie besteht aus drei Elementen: erstens dass er den Schaden hat, zweitens dass es einen Behandlungsfehler gegeben hat und drittens dass dieser Behandlungsfehler ursächlich für das lockere Hüftgelenk
ist. Als medizinischer Laie ist er gegenüber der Ärztin,
dem Arzt oder dem Klinikkonzern mit seiner juristischen
Abteilung hundertprozentig im Nachteil.
Deswegen sagen wir als Linke: Ein Patientenrechtegesetz, das diesen Namen verdient, muss für die Patientinnen und Patienten bei der Beweislast deutliche Erleichterungen bringen. Das hat die Bundesregierung
leider versäumt. Deswegen ist ihr Gesetzentwurf für uns
nicht zustimmungsfähig.
({9})
Wir haben einen Entschädigungsfonds gefordert. Fast
alle Fraktionen des Hauses haben in irgendeiner Form
über einen solchen Entschädigungs- oder Härtefallfonds
nachgedacht. Wir haben unterschiedliche Auffassungen
darüber, wie er ausgestaltet werden könnte, sind uns aber
einig im Ziel: dass Patientinnen und Patienten in so einer
schwierigen Situation schnell und unbürokratisch geholfen werden muss.
Das hat die FDP leider im Sinne der Ärztelobby verhindert. Sie haben gemauert und damit einen weiteren
Fortschritt im Sinne der Patientinnen und Patienten verhindert. Auch deswegen können wir dem Gesetzentwurf
nicht zustimmen.
({10})
Auch den SPD-Antrag zum Härtefallfonds halten wir
für politisch unverdaulich.
({11})
Wir unterstützen zwar Ihr Anliegen, die Diskussion über
den Härtefallfonds wiederzubeleben, halten aber Ihre
Finanzierungspläne für nicht ausgegoren und nicht geeignet. Sie wollen, dass dieser Härtefallfonds unter anderem über die Zuzahlungen der Patientinnen und Patienten zum Krankenhausaufenthalt bezahlt wird.
({12})
Wir sind der Auffassung: Diese Zuzahlungen sind noch
unsozialer als die Praxisgebühr, die wir vor kurzem alle
gemeinsam abgeschafft haben. Deswegen können wir
auch Ihrem Antrag nicht zustimmen.
({13})
Was wir allerdings gut finden und wofür ich der SPD
ausdrücklich danken möchte, ist der Antrag, die sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen besser zu
regulieren und einzudämmen. Wir unterstützen das. Bei
den IGeL-Leistungen wird in den Arztpraxen allerlei
Schindluder und Beutelschneiderei betrieben. Davor
müssen wir - wir alle gemeinsam - die Patientinnen und
Patienten schützen.
({14})
Auch bei der Sicherheit der Medizinprodukte wollen
wir etwas unternehmen. Auch dazu findet sich im Gesetzentwurf der Bundesregierung nichts wieder. Wir alle
erinnern uns an den Betrug mit defekten Brustimplantaten. Vor kurzem hat eine britische Medizinzeitschrift
aufgedeckt, dass die 80 Zertifizierungsstellen in Europa,
die Medizinprodukte zertifizieren, doch nicht so gut ar25732
beiten, wie man es von ihnen erwarten müsste. Diese
Zeitschrift hat in mehreren Fällen herausgefunden, dass
diese Zertifizierungsstellen bereit waren, Hüftprothesen,
die offensichtlich unsicher waren und die Patientensicherheit gefährdeten, zu zertifizieren. Das ist bei privatwirtschaftlichen Einrichtungen, die im Auftrag der
Industrie tätig werden und Aufträge akquirieren müssen,
auch kein Wunder.
Deshalb fordern wir mit unserem Entschließungsantrag eine EU-weite zentrale Behörde zur Zertifizierung von Medizinprodukten. Denn es kann doch nicht
angehen, dass Medizinprodukte, die in den Körper eingesetzt werden, unsicher sind. Dagegen müssen wir gemeinsam etwas unternehmen.
({15})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie verspielen hier leider eine große Chance. Wieder einmal hat
Ihnen der Mut gefehlt, sich mit mächtigen Lobbygruppen anzulegen. Stattdessen enttäuschen Sie die Patientinnen und Patienten und ihre Selbsthilfeorganisationen.
Das machen wir nicht mit. Deswegen werden wir Ihren
Gesetzentwurf ablehnen.
({16})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die
Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Patientenbeauftragter Zöller, ich habe mit Interesse vernommen, dass Sie durchaus mit Stolz über
dieses Werk geredet haben, aber durchaus auch mit einem, sagen wir einmal, gewissen verhaltenen Stolz;
denn Sie wissen im Grunde genommen am besten, dass
dieses Gesetz so, wie es heute verabschiedet werden
wird, eine Enttäuschung bleiben wird.
({0})
Das ist sehr deutlich. Sie haben viele Aspekte gelobt und
haben durchaus noch einige Verbesserungen im Gesetzgebungsprozess eingebracht. Aber der Kern der Aufgabe, der hier zu bewältigen war, ist nicht bewältigt worden. Deshalb ist das Gesetz eine Enttäuschung.
({1})
Das liegt daran, dass Sie sich schon vorweg entschieden hatten, dass Sie für die Opfer von Behandlungsfehlern keine durchgreifende Regelung im Gesetzbuch
schaffen werden. Das war im Koalitionsvertrag von
vornherein ausgeschlossen. Das war die große Hürde
und die schwere Last, die auf diesem gesamten Gesetzgebungsprozess gelegen hat.
({2})
Es war völlig klar: Mit der FDP ist eine Besserstellung
von Patienten vor Gericht in Arzthaftungsprozessen
nicht zu machen.
({3})
Das war die Ausgangsvoraussetzung, mit der Sie umgehen mussten. Das heißt in der Konsequenz für die
Patienten und für die Patientenorganisationen: Es wird
bei den hohen Hürden vor Gericht bleiben. Es wird bei
den langen Prozesszeiten bleiben. Es wird bei den hohen
Prozessrisiken bleiben. Es wird dabei bleiben, dass sehr
viele ihr Recht vor dem Gesetz nicht durchsetzen können, nicht weil die Richter nicht wollen, sondern weil die
Anforderungen an die Beweislast zu hoch sind. Das wird
leider so bleiben.
({4})
Weil Ihnen das alles klar war, haben Sie als CDU, gerade Sie, Herr Zöller, den Vorschlag der Einrichtung eines Härtefallfonds durchaus wohlwollend aufgenommen, der von unserer Seite, von der SPD und von den
Linken in die Diskussion gebracht worden ist. Sie haben
den Vorschlag aufgenommen, weil Sie erkannt haben: Es
gibt Leute, die auf der Strecke bleiben, die mit ihren
Schäden ohne irgendeine Entschädigung, ohne irgendeine Unterstützung weiterleben müssen. Das war doch
der Punkt.
Dann haben Sie versucht, diesen Härtefallfonds
durchzusetzen, und dann ist er wieder an der FDP gescheitert, wieder an den Gruppen wie den Haftpflichtversicherern, die genau diesen Fonds nicht haben wollten.
({5})
Das ist das Problem, und daran können Sie nicht vorbeireden.
({6})
Frau Aschenberg-Dugnus, Sie haben gerade sehr
deutlich gemacht, dass es Ihnen letztlich nicht um den
Patienten geht,
({7})
dass es Ihnen nicht um die Opfer von Behandlungsfehlern geht, sondern dass es Ihnen um die schlichte Abwehr eines Projekts selbst der CDU gegangen ist. Das
war eine ganz klare Argumentation.
({8})
Kommen wir zur nächsten Enttäuschung. Es geht
auch in Ihren Papieren um Risikovermeidung. Es geht
um eine neue Fehlervermeidungskultur in den Kliniken.
Aber was tun Sie materiell dafür, außer den Krankenhäusern einen Anreiz zu geben? Etwas anderes haben Sie
materiell nicht neu in die Gesetzgebung gebracht. Wir
meinen, das ist zu wenig. Bei unserem Kenntnisstand
von heute, da wir alle um die Risiken von hochkomplexen medizinischen Verfahren wissen, ist das zu wenig.
Wir meinen: Hier muss nachgebessert werden.
({9})
Kommen wir zu einem Bereich, der in der Sachverständigenanhörung auch eine große Rolle gespielt hat.
Was ist mit den Menschen mit nicht ausreichenden
Sprachkenntnissen? Warum sind Sie nicht bereit, den
dann notwendigen Dolmetscherdienst auch kostenfrei zu
stellen? Ein Arzt wird doch in die Situation kommen,
eine Behandlung verweigern zu müssen, weil er sich sicher ist, dass der Patient das, was er zur Aufklärung gesagt hat, überhaupt nicht verstanden hat. Muss er tatsächlich seine Putzfrau oder irgendeine andere Person
heranholen, die die Aufklärung, die ja eigentlich fachkundig vorgenommen werden muss, eventuell sicherstellen kann? Wieso sind Sie nicht bereit, hierfür eine gesetzliche Regelung zu schaffen? Das ist mir und uns
nicht verständlich.
({10})
Ich komme nun zu den Menschen mit psychischen
Erkrankungen und zum Bereich Zwangsbehandlung.
Warum ist es nicht möglich, den guten Vorschlag aufzunehmen, eine Behandlungsvereinbarung als Pflicht für
die Krankenhäuser vorzusehen?
({11})
Das wäre ein präventives Angebot, das die Behandlungssituation im Vorhinein entlasten würde. Warum ist
es nicht möglich, den Krankenhäusern ein solches Instrument vorzuschreiben? Ich verstehe es nicht und kann
es nicht nachvollziehen.
Dies tun Sie nicht, obwohl wir alle wissen, dass eine
schwierige Diskussion über das Thema Zwangsbehandlung vor uns liegt. Hierbei wird es um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff gehen. Alles, was wir im
Vorhinein tun können, um eine solche Härte zu vermeiden, sollten wir auch tun.
({12})
Ich komme zu den Anträgen, die hier noch im Raum
stehen.
Es wäre schön gewesen, wenn wir die hier im Raum
vorhandene Mehrheit für einen Härtefallfonds tatsächlich hätten nutzen können, um diesen auf den Weg zu
bringen. Eine Diskussion über die Ausgestaltung wäre ja
noch möglich gewesen. Darüber hätten wir uns doch einigen können. Wir hätten als Ausschuss nach Österreich
reisen und dort Anregungen aufnehmen und gucken können, wie das eigentlich geht.
({13})
Wir hätten hier viele Dinge in Angriff nehmen können.
Er war aber nicht gewollt, und das ist ausgesprochen
schade.
Trotz unserer Bedenken aufgrund der konkreten Ausgestaltung, die die SPD hier vorgenommen hat, werden
wir diesem Antrag in der namentlichen Abstimmung zustimmen.
({14})
- Ja, wir haben das von verschiedenen Seiten prüfen lassen,
({15})
und Sie wissen auch, dass sich die rot-grün regierten
Länder im Bundesrat ausdrücklich und ausführlich mit
diesem Ansatz beschäftigt haben.
({16})
- Nein, es gibt ein Konzept, und es gibt sogar eine finanzielle Ableitung darüber, wie viel dieser Fonds letztlich
kosten würde.
({17})
- Doch, er würde funktionieren; Sie wissen das auch.
({18})
Sie versuchen nur, sich aus dieser Situation herauszuschleichen.
({19})
Wir müssen sagen: Es ist schade, dass Sie hier viele
gute Möglichkeiten, die wir über alle Fraktionen hinweg
zugunsten der Patienten hatten, zerschlagen haben.
({20})
Man sieht: Wir müssen auf andere politische Verhältnisse warten, bis ein echtes Patientenrechtegesetz mit einer wirklichen Verbesserung gerade für die, die es am
deutlichsten brauchen, tatsächlich durchsetzbar ist.
Vielen Dank.
({21})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Klein-Schmeink, Sie haben vorhin gesagt, dass der Kollege Zöller mit Stolz von diesem
Gesetzentwurf gesprochen hat. Ich sage: Ja, er kann auch
stolz auf diesen Gesetzentwurf sein; denn wir erreichen
hier wirklich einen großen Fortschritt für die Patienten in
unserem Land.
({0})
Wir setzen damit ein Ziel der christlich-liberalen Koalition um. Wir stärken die Rechte der Patientinnen und
Patienten, wir fördern die Orientierung zwischen den
vielfältigen Gesetzen und unzähligen Gerichtsurteilen,
und wir schaffen Transparenz. Sie haben dagegen jahrelang, ja jahrzehntelang nur geredet. Wir handeln! Ihre
Kritik ist an dieser Stelle überhaupt nicht glaubwürdig.
({1})
Man muss auch einmal sagen: Wir nehmen hier eine
umfassende Kodifizierung der Patientenrechte in einem
einheitlichen Rechtsrahmen vor, nämlich im Bürgerlichen Gesetzbuch. Dadurch erhält dort jeder verlässliche
Informationen über die vorhandenen Rechte und Pflichten. Allein diese Transparenz, die wir hier schaffen, dass
jeder Patient seine Rechte nachlesen und sich informieren kann, ist ein großer Mehrwert. Deswegen geht all
das, was Sie sagen, es handele sich um eine schillernde
Seifenblase, hier sei kein Wirkstoff vorhanden, sondern
das Ganze sei nur ein Placebo, und es würde sich nichts
ändern - das hat die Kollegin Volkmer gesagt -, mit Verlaub gesagt, an der Sache vorbei. Wir machen hier einen
großen Schritt in Richtung von mehr Rechten für die Patienten in unserem Land.
({2})
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf vor allen Dingen das Selbstbestimmungsrecht der Patienten stärken.
Wir tragen dazu bei, dass die Menschen frei und eigenverantwortlich über ihre medizinischen Behandlungen
entscheiden können. Damit setzen wir auf das Leitbild
des mündigen Patienten, der umfassend über seine
Rechte informiert ist und weiß, in welche Behandlung er
einwilligt. Das, möchte ich sagen, ist eines der Dinge,
die wir in den parlamentarischen Verhandlungen noch
geändert haben und die zu einem Fortschritt führen.
Ich möchte mit der Einsicht in die Patientenakte anfangen. Man muss klar sagen: Nur das, was in einer
Patientenakte hinreichend dokumentiert ist, lässt sich im
Nachhinein ohne Probleme nachvollziehen. Insofern soll
es so sein, dass die Patientenakte alle wesentlichen Informationen über den Patienten, über seine Beschwerden
und über die erfolgte Behandlung beinhaltet. Sie muss
zum Wohle des Patienten und auch zur Absicherung des
Behandelnden besondere Anforderungen erfüllen und
bedarf des Schutzes durch den Gesetzgeber. Deswegen
legen wir jetzt fest, dass die Patientenakte sorgfältig geführt werden muss, dass sie vollständig sein muss und
dass vor allen Dingen nachträgliche Änderungen oder
Berichtigungen nur noch dann zulässig sind, wenn nicht
nur der ursprüngliche Inhalt erkennbar ist,
({3})
sondern dass auch erkennbar ist, wann diese Änderungen vorgenommen worden sind. Wenn man später in einem Prozess die Behandlung nachvollziehen möchte,
dann gibt es an dieser Stelle die meisten Schwierigkeiten.
({4})
- Diese Erkennbarkeit ist sehr wohl etwas Neues.
Wenn Sie sich die Rechtsprechung genau ansehen,
liebe Kollegin von der Opposition, dann werden Sie feststellen, dass wir die Folgen dieser Rechtsprechung hier
klar und dezidiert festhalten, dass wir einen umfassenden Anspruch auf Einsicht verankern, der im Übrigen
nicht mehr ohne Weiteres vom Arzt abgelehnt werden
kann. Diese Einsichtnahme kann nur aus therapeutischen
Gründen abgelehnt werden oder wenn dem erhebliche
Rechte Dritter entgegenstehen. Der Arzt muss seine Ablehnung begründen. Er kann sich nicht mehr hinter irgendwelchen Floskeln verstecken. Das wird es dem Patienten in Zukunft ermöglichen, seine Rechte zur Not
vor Gericht durchzusetzen. Diese Regelung ist ein wesentlicher Fortschritt und geht weiter über das hinaus,
was wir derzeit haben.
({5})
Mit diesem grundsätzlichen Anspruch auf Einsichtnahme erreichen wir erhöhte Akzeptanz und Nachvollziehbarkeit beim Patienten. Auch das führt letztlich
dazu, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und
Patient, das wir alle miteinander wollen, gestärkt wird.
Da ich beim Vertrauensverhältnis bin, möchte ich
noch etwas anderes sagen. Es wurde hier von Fehlerkultur gesprochen und davon, dass es hier keine Fortschritte
gibt. Auch an dieser Stelle regeln wir im Bürgerlichen
Gesetzbuch sehr klar, dass ein Arzt zukünftig Fehler eingestehen kann, ohne dass er Angst haben muss, hinterher
von einem Staatsanwalt behelligt zu werden. Wir geben
ihm einen Anreiz, den Fehler anzugeben, ohne dass das
hinterher in einem gerichtlichen Verfahren gegen ihn
verwendet werden kann. Damit ermöglichen wir es ihm,
seine Fehler tatsächlich einzugestehen: zum Wohle des
Patienten, sodass schnell gegen die Folgen möglicher
Fehler vorgegangen werden kann.
({6})
Ich möchte etwas zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts sagen, die auch Ziel und Zweck dieses Gesetzentwurfes ist. Wir sind der Auffassung, dass auch
das Selbstbestimmungsrecht von Kindern und einwilligungsunfähigen Personen Beachtung verdient; das hat
hier die Kollegin Dyckmans schon ausgeführt. Auch
wenn diese Personen natürlich formal nicht in eine medizinische Behandlung einwilligen können - das müssen
immer die Eltern oder die Betreuer machen -, sollen sie
in das Behandlungsgeschehen einbezogen werden. Wir
legen deswegen mit diesem Gesetzentwurf fest, dass
auch Kindern und einwilligungsunfähigen Personen, die
eine Art natürliche Einsichtsfähigkeit haben, entsprechend ihren Verständnismöglichkeiten und entsprechend
ihrem Entwicklungsstand die wesentlichen Umstände
der medizinischen Behandlung erläutert werden müssen.
Wir erreichen einen wesentlichen Fortschritt für diese
Patienten, weil wir an dieser Stelle ihr Selbstbestimmungsrecht achten.
({7})
Wir haben neben der Stärkung der Rechte von Patientinnen und Patienten an vielen Stellen auch darauf geachtet, dass wir den Anforderungen in der Praxis gerecht
werden. Wir haben sehr darauf geschaut, dass unsere Regelungen, etwa im Alltag von Krankenhäusern, nicht zu
unnötigen Erschwernissen führen.
Deswegen haben wir zum Beispiel bei der Aufklärung, die vor jedem Eingriff in verständlicher Weise erfolgen muss, damit in die medizinische Behandlung eingewilligt werden kann, festgelegt, dass diese nun auch
durch eine Person durchgeführt werden kann, die aufgrund einer abgeschlossenen fachlichen Ausbildung die
notwendige theoretische Befähigung zur Durchführung
dieser Maßnahme hat.
({8})
Das knüpft sozusagen an den Krankenhausalltag an, wo
es in aller Regel so ist, dass Assistenzärzte die Aufklärung vornehmen, die tatsächliche Operation aber durch
Fach- oder Oberärzte erfolgt.
({9})
Die haben aber natürlich im Krankenhausalltag nicht die
Zeit, alle Patienten aufzuklären. Deswegen sagen wir an
dieser Stelle: Auch Assistenzärzte, die aufgrund ihrer
medizinischen Ausbildung die fachliche Kompetenz haben, sollen die Aufklärung vornehmen dürfen. Sonst
würden unnötig Bürokratie und Erschwernisse im Krankenhaus geschaffen.
({10})
Unter dem Strich - das muss man sagen - war es ein
gesetzgeberischer Drahtseilakt, den wir vornehmen
mussten, weil wir die vorhandene Judikatur - das
Richterrecht - kodifizieren wollten, aber wir wollten natürlich nicht verhindern, dass sich das Richterrecht auch
zukünftig fortentwickeln kann.
({11})
Deswegen haben wir bei der Formulierung der einzelnen
Regelungen sehr darauf geachtet, dass wir Freiräume
und Möglichkeiten lassen, dass Gerichte im Einzelfall
sach- und interessengerechte Urteile fällen können.
Denn das Richterrecht ist eine wesentliche Stärke unserer deutschen Rechtsordnung, und das soll in Zukunft
auch so bleiben.
Unter dem Strich sage ich: Es war ein Drahtseilakt, es
war schwierig, wir haben es aber geschafft, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in wesentlichen Teilen zu
stärken. Wir schaffen klare und transparente Regelungen. Das ist ein großer Fortschritt. Ich muss an dieser
Stelle auch einen Dank an die Ministerien, das Justizministerium und das Gesundheitsministerium, aussprechen. Das waren gute Beratungen. Wir haben ein gutes
Gesetz vorgelegt. Ich bitte dafür um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({12})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Mechthild
Rawert das Wort.
({0})
Herr Luczak, das war ja wohl der Versuch des Scharfschießens. Er ist allerdings gescheitert. Ihre Ausführungen zum Richterrecht haben ganz deutlich gemacht, dass
das Patientenrechtegesetz eigentlich wenig klärt. Denn
wenn Sie jetzt in der abschließenden Beratung schon darauf setzen, dass die Zukunft aufgrund unklarer gesetzlicher Regelungen aus Urteil an Urteil an Urteil an Urteil
besteht, kann ich nur sagen: Gesetz gescheitert!
({0})
Es ist das Gesetz der vertanen Chancen. SchwarzGelb stellt sich nicht auf die Seite der Patientinnen und
Patienten, sondern es ist so - die Berliner Zeitung hat
heute so getitelt, es ist vorhin auch schon zitiert worden -,
dass hier ein Ärzteschutzprogramm verabschiedet wird.
Nicht, dass uns hinterher wieder vorgeworfen wird, wir
als Opposition seien gegen die Mediziner. Nein, dem ist
nicht so. Wir sind aber gegen Regelungen, die Patienten
nicht schützen und die vor allen Dinge ihre Rechte nicht
stärken.
({1})
Denn wir müssen eines wahrnehmen, und zwar das
Leben und die Wirklichkeit des Lebens. Die Fehlerquote
liegt im Promillebereich, ja. Nach seriösen Schätzungen
sterben andererseits rund 17 000 Menschen im Jahr an
Kunstfehlern. Darauf gibt Ihr Gesetz null Komma null
Antwort.
({2})
Minister Bahr, Sie selber haben es auch schon angesprochen: Sie haben von einer generellen Beweislastumkehr gesprochen, die Sie nicht wollen. Frau
Aschenberg-Dugnus wird sicherlich gleich darauf noch
eingehen. Ich frage mich: Wo ist denn der Sturm der
Ärzte und Ärztinnen? Ich hätte erwartet, dass sich auch
die Mediziner viel stärker auf die Seite der Patienten und
Patientinnen gestellt hätten, um deren Rechte zu stärken.
Deswegen sage ich - auch als Antwort auf die erste
Rednerin -: Dieses Gesetz zerstört Vertrauen, und dieses
Vertrauen ist ein kostbares Gut. Hier haben Sie versagt.
({3})
Ich komme auf einen speziellen Punkt zurück, nämlich auf die individuellen Gesundheitsleistungen. Wir
reden hier von einem Markt, der schon 2010 1,5 Milliarden Euro umfasste. Wir Sozialdemokraten hatten diesbezüglich einen Antrag zur Eindämmung der individuellen Gesundheitsleistungen vorgelegt. Es geht nicht nur
um 1,5 Milliarden Euro, sondern um 18,5 Millionen Einzelgeschäfte in Praxen. Das ist also ein Markt, den es
sich genauer anzuschauen und vor allen Dingen zu regulieren lohnt.
Was war am Anfang in Ihrem Patientenrechtegesetzentwurf zu IGeL-Leistungen enthalten? Null Komma
null. Nichts!
({4})
Insofern hat unser Antrag Sie noch ganz schön auf Trab
gebracht. Darüber bin ich froh, und darauf bin ich stolz,
auch aus der Sicht der Opposition heraus.
({5})
Denn die individuellen Dienstleistungen, für die nach Ihren Vorstellungen in den Praxen gezahlt werden soll, berühren das, was mancher Mann meint, wenn er sagt:
Man will nur mein Bestes, nämlich das Portemonnaie.
Wir wollten eine Bedenkzeit und die Trennung der
Leistungen insofern, dass IGeL-Leistungen nicht zusammen mit gesetzlich versicherten Leistungen verkauft
werden,
({6})
weil wir sicherstellen wollen, dass der Arzt oder die Ärztin vertrauenswürdig bleiben und nicht plötzlich als Anbieter von Selbstzahlerdienstleistungen auftreten.
({7})
Der Patient oder die Patientin soll nicht plötzlich zum
Kunden oder zur Kundin degradiert werden.
All das beantworten Sie ausschließlich damit, dass es
jetzt eine bessere Aufklärung hinsichtlich der Finanzierung dieser individuellen Gesundheitsleistungen geben
soll.
({8})
- Ja, ich danke Ihnen für dieses Stichwort. - Das Stichwort mündiger Patient oder mündige Patientin hat bei
dem gesamten Theater, wie ich es nennen möchte, eine
große Rolle gespielt, als es darum ging
({9})
- Sie können das noch besser -, dass das Wirtschaftsministerium die Schulungen für Ärzte und Ärztinnen bezahlt hat, damit auch das medizinische Fachpersonal
mehr Marketingschulungen erhält. In den Antworten des
Ministeriums auf meine Fragen war ständig vom mündigen Patienten und der mündigen Patientin die Rede.
Aber davon, dass die einen geschult werden - sogar mit
öffentlichem Geld -, damit der Patient besser ausgenommen werden kann und mehr Abzocke möglich ist, sagen
Sie nichts, wenn es um Ihr Lieblingsbild des mündigen
Patienten und der mündigen Patientin geht.
({10})
Ich glaube, ich bin eine mündige Frau. Wenn ich
krank bin, geht es mir aber nicht darum, vorher noch ein
medizinisches Studium in Kurzfassung abzulegen, sondern dann möchte ich geheilt werden.
({11})
Dann bin ich gerne bereit, nicht nur hilfsbedürftig zu erscheinen, sondern auch Hilfe in Anspruch zu nehmen.
({12})
Mit anderen Worten: Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wurde leider auch von der Verbraucherschützerin verraten, um es so zu sagen. Frau
Aigner als oberste Verbraucherschützerin hat eine Studie
„Untersuchungen zum Informationsangebot zu Individuellen Gesundheitsleistungen“ vorgelegt. Wen wundert
es, dass in dieser Studie jede Kritik und jede Annahme,
die Grundlage für unseren Antrag „Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen“ war, bestätigt worden ist?
Auch Herr Zöller fordert eigentlich eine Bedenkzeit.
Was ist aus der Bedenkzeit geworden? Null Komma
null.
Frau Kollegin Rawert.
Einen Moment.
({0})
Die Informationen in den Arztpraxen sind nicht aussagekräftig genug und haben zu viele Defizite. Das einzig Wertvolle ist derzeit der IGeL-Monitor. Darauf verweisen wir alle. - Entschuldigung.
Erlauben Sie jetzt noch eine Nachfrage, wie man in
diesem Fall sagen muss, des Kollegen Dr. Lotter von der
FDP?
Er steht ja schon.
({0})
Schon die ganze Zeit.
Wir sind ja beide nicht so hochgewachsen.
Ich bin ja so unscheinbar. Danke, dass Sie die Frage
noch zulassen. - Frau Kollegin Rawert, wenn ein Patient
zu mir kommt, um sich von mir behandeln zu lassen,
und er mich bei der Behandlung fragt: „Herr Doktor, gegen meine Kniegelenksarthrose habe ich mal homöopathische Spritzen bekommen, die mir hervorragend geholfen haben. Könnte ich sie wieder bekommen?“ - das
ist eine sogenannte IGeL-Leistung -, dann muss ich ihm
sagen: Ja, das können wir machen, aber warten Sie bitte
erst 24 Stunden; kommen Sie morgen um 17 Uhr wieder,
dann kann ich es machen. - Dann denkt der Patient
doch: Ich glaube, mein Doktor spinnt jetzt völlig.
Würden Sie mir zustimmen, dass das, was Sie fordern, völlig unrealistisch ist?
({0})
Ich bin sehr erfreut, dass Sie als Arzt einem Patienten
von heute auf morgen einen Termin um 17 Uhr anbieten.
({0})
Das ist eine absolute Ausnahme und hat überhaupt nichts
mit der alltäglichen Praxis zu tun. Die individuellen Gesundheitsleistungen werden in der Regel - wir reden hier
nicht von sportmedizinischen oder reisemedizinischen
Untersuchungen - von Ärztinnen und Ärzten angeboten.
Das zeigt: Ihr Beispiel ist lebensfremd und nicht Grundlage dieser Diskussion.
({1})
- Herr Lanfermann, auch Ihnen wünsche ich noch viele
Arztbesuche und so gute Erfahrungen, wie sie Herr
Lotter gemacht hat.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine AschenbergDugnus von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das, was wir bisher von der Opposition gehört haben, ist
ein geradezu schicksalhafter Reflex. Wenn Vorschläge
von der Regierung gemacht werden, müssen Sie sie kritisieren, egal ob etwas dahintersteckt oder nicht. Das ist
besonders eigentümlich für die SPD, die in ihrer Regierungszeit eine kleine Broschüre zu den Patientenrechten
aufgelegt hat. Zehn dünne Seiten über die Patientenrechte! Auf ihnen steht nichts Großartiges. Wenn Sie von
vertanen Chancen sprechen, dann ist das lächerlich.
({0})
Sie haben in Ihrer Regierungszeit überhaupt nichts geleistet. Jetzt werfen Sie uns das vor? Das kann ja wohl
nicht wahr sein.
Liebe Frau Rawert, wenn Sie sagen, die Ärzte würden
nicht an der Seite ihrer Patienten stehen, dann ist das
eine Unverschämtheit. Die Ärzte stehen an der Seite
ihrer Patienten.
({1})
Ich finde, Sie sollten das zurücknehmen. Welches Bild
haben Sie überhaupt von den Ärzten in unserem Land?
Ich empfinde das als persönliche Beleidigung.
Meine Damen und Herren, jetzt kommen wir endlich
zu den Inhalten unseres hervorragenden Patientenrechtegesetzes. Meine Kollegin Frau Dyckmans hat schon über
die Änderungen im BGB referiert. Ich möchte Ihnen aufzeigen, welche konkreten Verbesserungen das SGB V
für die Patientinnen und Patienten in unserem Lande
vorsieht.
Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, Frau Kollegin
Klein-Schmeink würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Ich habe zwar noch drei Minuten, aber machen Sie
mal.
Es ist mehr eine Anfangsfrage.
Sie waren gerade dabei, über das Verständnis der
Rolle des Arztes und über das Misstrauen den Ärzten
gegenüber zu sprechen. Ich habe heute in der Presse
gelesen, dass gerade Sie und auch Minister Bahr als ein
Argument gegen den Härtefallfonds angeführt haben,
dass dann der Anreiz für die Ärzte entfiele, sorgfältig
und fehlerfrei zu arbeiten. Welches Verständnis von ärztlicher Kunst und der ärztlichen Rolle spricht daraus?
({0})
Liebe Frau Kollegin, Sie haben wieder einmal etwas
völlig missverstanden. Es geht darum, dass jemand im
deutschen Schadensersatzrecht für sein individuelles
Handeln individuelle Haftung übernehmen muss. Das
führt dazu, dass er besonders rücksichtsvoll agiert.
Warum wir gegen den Härtefallfonds sind, ist eine ganz
andere Sache. Wir haben hier noch nicht gehört, wie es
rechtlich fundiert umgesetzt werden soll. Die SPD hat
einen Antrag vorgelegt, der grob vom Wiener Modell
ausgeht. Im Ergebnis ist es aber anders. So sollen alle
- Versicherte, Steuerzahler und Patienten - zur Finanzierung herangezogen werden. Dann wird gesagt, dass es
gar nicht um Behandlungsfehler, sondern nur um Härtefälle geht. Es ist überhaupt nicht geklärt, wer das entscheidet. Es ist überhaupt nicht geklärt, in welcher Zeit
das geschehen soll. Es ist überhaupt nicht geklärt, ob es
rechtlich angreifbar ist. Dazu hat niemand in diesem
Hohen Hause etwas vorgelegt. Wir sind ein Rechtsstaat
und können nur das ins Gesetz schreiben, was auch
wirklich umsetzbar ist. Solange Sie nichts Entsprechendes vorlegen, können Sie von uns nicht erwarten, dass
wir für einen Härtefallfonds sind. So viel zu diesem
Thema.
({0})
Meine Damen und Herren, jetzt würde ich gerne den
Patientinnen und Patienten erklären, welche positiven
Maßnahmen wir für sie im SGB V ergriffen haben. Der
erste Punkt, der mir persönlich ganz wichtig ist, ist die
Bewilligung von Leistungen durch die Krankenkassen.
Durch dieses Gesetz wird sie beschleunigt. Wir hören es
doch tagtäglich: Die Patienten beschweren sich darüber,
dass sie ewig auf eine Leistung ihrer Krankenkasse, auf
die sie angewiesen sind, warten und dass sie sich selber
darum kümmern müssen. Deswegen steht jetzt im
Gesetz: Wenn sich die Kasse nicht innerhalb von drei
Wochen nach Antragstellung meldet, kann sich der Patient beispielsweise das nötige Mittel oder den Rollator
selbst besorgen und bekommt die Kosten später erstattet.
Das heißt, die Leistung ist automatisch genehmigt, wenn
sich die Krankenkasse nicht rührt.
({1})
Meine Damen und Herren, das sind ganz konkrete
Verbesserungen im Alltag der Patienten und für unsere
medizinische Versorgung.
Auch der zweite Punkt ist sehr wichtig. Das Gesetz
sieht die Förderung einer Fehlervermeidungskultur in
der medizinischen Versorgung vor. Wir verpflichten per
Gesetz die Krankenhäuser zur Einführung eines
Beschwerdemanagements und zur Einführung eines
Fehlermeldesystems. Das ist ganz wichtig, weil wir den
Nährboden für Fehler weitgehend austrocknen wollen.
({2})
Sicher, da, wo Menschen arbeiten, passieren auch
Fehler. Wir können Fehler nie ausschließen. Deswegen
geben wir den Betroffenen eine zusätzliche Hilfe an die
Hand. In Fällen, in denen Fehler passiert sind, werden
die Versicherten zukünftig auf die verpflichtende Unterstützung ihrer Krankenkasse bauen können. Das ist positiv für die Menschen in unserem Lande.
({3})
Eben wurde über IGeL gesprochen; dazu möchte ich
noch etwas sagen. Im Gegensatz zu Frau Rawert halte
ich IGeL nicht per se für schlecht. Man darf sie nicht als
reine Umsatzsteigerungsinstrumente der Ärzte abtun.
Ich finde, das wird dem überhaupt nicht gerecht und ist
absolut unredlich. Was man machen kann - da bin ich
wieder beim mündigen Patienten, Frau Rawert -, ist Folgendes: Wir müssen den Patienten bestmöglich aufklären. Dann kann er auf der Grundlage der ihm gegebenen
Auskünfte seine Entscheidung treffen. Er wird darüber
informiert, was für ihn sinnvoll ist und was es kostet.
Dann kann er sich ausführlich darüber Gedanken
machen. Zum Beispiel die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die unabhängigen Patientenberatungen und die
Kassen haben auf ihren Internetseiten Informationen
über IGeL. Alle verweisen auf den IGeL-Monitor. Es
gibt genügend Informationsmöglichkeiten für die Patienten.
Natürlich kann der IGeL-Monitor auch kritisch betrachtet werden, Frau Rawert. So werden manche Maßnahmen als nicht nützlich bewertet, obwohl das nach
meiner Meinung nicht der Fall ist. Zum Beispiel wird die
professionelle Zahnreinigung als nicht nützlich bewertet.
Das ist natürlich völlig fragwürdig.
({4})
- Das steht im IGeL-Monitor als IGeL.
Meine Damen und Herren, die von Ihnen geforderte
Regelung zur Bedenkzeit, um sich für eine IGeL zu entscheiden, ist doch völlig unpraktikabel und unsinnig. Wenn
ein Patient eine Leistung nicht will, muss er sie ja nicht in
Anspruch nehmen. Aber als Regelfall eine 24-stündige Bedenkzeit vorzuschreiben, ist doch völlig patientenfeindlich und praxisfern. Das ist doch gegen die Patienten.
Das können Sie doch nicht ernsthaft wollen.
({5})
Meine Damen und Herren, in unserem Gesetz stehen
der Patient und die Verbesserung seines ganz konkreten
Alltags im Mittelpunkt. Das erreichen wir. Das, was in
Ihrer kleinen, dünnen Broschüre skizziert war,
({6})
haben wir jetzt in einem sehr guten Patientenrechtegesetz zusammengefasst. Ich glaube, die Patientinnen
und Patienten werden merken, dass das viel mehr wert
ist als diese kleine Broschüre.
Vielen Dank.
({7})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Erwin Rüddel von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Unsere erfolgreiche Gesundheitspolitik der vergangenen drei Jahre
({0})
wird heute mit einem Gesetz abgerundet, das die Rechte
der Patientinnen und Patienten stärkt und übersichtlich
zusammenfasst. Dabei haben wir sehr sorgfältig darauf
geachtet, dass das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht beschädigt wird.
Mit dem Patientenrechtegesetz verankern wir das
Arzt-Patienten-Verhältnis erstmals im Bürgerlichen Gesetzbuch. Durch das Gesetz sind Betroffene künftig
nicht mehr davon abhängig, ob der jeweilige Richter in
einem möglichen Prozess sattelfest und mit der gesamten bisherigen Rechtsprechung vertraut ist. Schon alleine
diese Tatsache bedeutet einen entscheidenden Fortschritt; denn der künftig im Bürgerlichen Gesetzbuch
normierte Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient garantiert klare Regeln bei möglichen Verstößen.
Zusätzlich werden die Informations-, Aufklärungsund Dokumentationspflichten für die Ärzte klar geregelt.
Das bringt mehr Sicherheit für die Patienten und stärkt
deren Position. Im Falle eines Behandlungsfehlers werden Verfahren und Schuldfeststellung dadurch erheblich
erleichtert. Bei Rechtsstreitigkeiten ist die Patientenakte
das wichtigste Dokument. Wir regeln, dass Patienten in
ihre Akte Einsicht nehmen und Kopien anfertigen
können. Das darf nur in begründeten Ausnahmefällen
untersagt werden.
Bei groben Behandlungsfehlern muss der behandelnde Arzt darlegen, dass er alles richtig gemacht hat,
und nicht der Patient nachweisen, dass der Arzt einen
Fehler begangen hat. Die Krankenkassen werden ihre
Mitglieder künftig bei Verdacht auf Behandlungsfehler
unterstützen, um eventuelle Schadensersatzansprüche
durchzusetzen.
Ferner wird den Kassen bei der Genehmigung beantragter Leistungen künftig eine kurze Frist gesetzt. Entscheiden sie nicht innerhalb dieser Frist, gilt ein Antrag
automatisch als genehmigt. Diese Regelung haben wir
im Sinne der Patienten nochmals präzisiert und verschärft.
({1})
Eine generelle Beweislastumkehr lehnen wir ab. Der
Arzt soll zuerst an seinen Patienten denken und nicht an
seine Rechtsschutzversicherung.
({2})
Besonders bedeutend ist eine ausreichende Berufshaftpflicht für Ärzte. Wir schaffen klare Regelungen in
der Musterberufsordnung. Wichtig ist aber eine regelmäßige Überprüfung der Versicherung. Hier sind die
ärztlichen Zulassungsbehörden und die Bundesländer
aufgefordert, zeitnah Regelungen zu treffen, die dies ermöglichen.
Stark ausgebaut wird das Beschwerdemanagement in
den Krankenhäusern. Gleiches gilt für das Risikomanagement und die Fehlerberichtskultur - Stichwort
„zielführendes Fehlermanagement ohne gleichzeitiges
Schuldeingeständnis“. Wer einen Fehler meldet, soll
dadurch keine Konsequenzen fürchten müssen. Das Ziel
ist, aus Fehlern zu lernen. Außerdem stärken wir die
Stellung der Patientenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss durch die Pflicht zur zeitnahen Beratung
ihrer Anträge.
({3})
Für die individuellen Gesundheitsleistungen werden
klare Vorschriften beschlossen. Damit ist zweifelsfrei
sichergestellt, dass die Patientinnen und Patienten ihre
Entscheidung für oder gegen eine individuelle Gesundheitsleistung ohne Druck und Zwang treffen können
({4})
und wirkungsvoll vor unnötigen Maßnahmen geschützt
werden.
Eine Reihe von Vorschlägen aus der Opposition haben wir im Ausschuss ablehnen müssen, wie ich meine:
aus gutem Grund. Denn wir wären sonst unweigerlich an
einen Punkt gekommen, wo aus Verrechtlichung eine
Überreglementierung geworden wäre, mit möglicherweise fatalen Folgen für das Vertrauensverhältnis
zwischen Patient und Arzt,
({5})
ganz abgesehen davon, dass ein deutlich höherer Verwaltungsaufwand mit einem erheblichen Zeitverlust und
damit zwangsläufig mit einer Einschränkung der eigentlichen Patientenversorgung einhergegangen wäre.
({6})
Noch ein Wort zum Thema Härtefallfonds. Auch
wenn man sich eine Stiftungslösung vorstellen kann, um
in Härtefällen zeitnah und unbürokratisch Unterstützung
zu leisten, ohne die Schuldfrage in den Vordergrund zu
stellen, vertrauen wir auf die verschärfte Überprüfung
der Berufshaftpflicht. Die Zukunft wird zeigen, ob und
inwieweit weiterer Handlungsbedarf für den Gesetzgeber besteht. Meine Fraktion wird dies in jedem Fall
sehr genau im Auge behalten.
({7})
Meine Damen und Herren, das Gesetz stellt insgesamt
einen Wendepunkt für unser Gesundheitswesen dar. Die
Patientinnen und Patienten werden ihre Rechte künftig
besser kennen und besser durchsetzen. Das bedeutet für
die Versicherten mehr Qualität, mehr Transparenz, mehr
Sicherheit und damit mehr Souveränität gegenüber
Ärzten, Kliniken und Krankenkassen. Wir halten unser
Versprechen und machen die Patientinnen und Patienten
zu Partnern auf Augenhöhe.
({8})
Mir ist es ein Bedürfnis, abschließend unserem Kollegen Wolfgang Zöller zu danken.
({9})
Als Patientenbeauftragter der Bundesregierung hat er
sich seit Jahren in unzähligen Gesprächen mit allen Beteiligten für dieses wichtige Gesetz engagiert. Dass wir
dieses Vorhaben, an dem frühere Bundesregierungen gescheitert sind, nunmehr unter Dach und Fach haben, ist
nicht zuletzt ihm, seiner Arbeit und seinem ganz persönlichen Einsatz zu verdanken. Vielen Dank, lieber
Wolfgang.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11710, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10488 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der
Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11722.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken und
der Grünen.
({0})
- Das habe ich auch gesagt.
({1})
- Ich kann Sie nicht verstehen. Entschuldigung.
({2})
- Ich habe gesagt, dass die Koalitionsfraktionen und die
SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgestimmt haben.
({3})
- Dann wiederhole ich die Abstimmung. Ich bitte, aufzupassen, weil ich kaum noch Überblick habe. Sonst muss
ich Sie bitten, wieder Platz zu nehmen. Ich hoffe, dass es
auch so gehen wird.
Es geht um den Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/11722. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Genauso habe ich es vorhin festgestellt, aber ich bestätige es jetzt noch einmal. Dann ist
das so protokolliert.
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
17/11710 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9061
mit dem Titel „Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11008 mit dem Titel „Patientenrechte wirksam
verbessern“. Die Fraktion der SPD hat beantragt, dass
über Ziffer II Nrn. 2 bis 4 des Antrags einerseits und
über den übrigen Antrag andererseits getrennt abgestimmt werden soll. Wir stimmen daher zunächst über Ziffer II Nrn. 2 bis 4 des Antrags auf Drucksache 17/11008
ab. Die Fraktion der SPD hat dazu namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die Plätze einzunehmen? - Ich eröffne die
Abstimmung über Ziffer II Nrn. 2 bis 4 des Antrags.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das scheint
nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des
Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche
ich die Sitzung.
({4})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich
bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen.
Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem Antrag der SPD-Fraktion
„Patientenrechte wirksam verbessern“ auf der Drucksache 17/11008 bekannt: abgegebene Stimmen 558. Mit
Ja haben gestimmt 195, mit Nein haben gestimmt 303,
Enthaltungen 60. Der Antrag ist abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 558;
davon
ja: 195
nein: 303
enthalten: 60
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({0})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({1})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({2})
Hubertus Heil ({3})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({4})
Frank Hofmann ({5})
Dr. Eva Högl
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({6})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({7})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({8})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({9})
Michael Roth ({10})
Marlene Rupprecht
({11})
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({12})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({13})
Werner Schieder ({14})
Ulla Schmidt ({15})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({16})
Ewald Schurer
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({17})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({18})
Volker Beck ({19})
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({20})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({21})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({22})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({23})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({24})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Ernst-Reinhard Beck
({25})
Manfred Behrens ({26})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({27})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({28})
Axel E. Fischer ({29})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({30})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Andreas Jung ({31})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({32})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({33})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({34})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({35})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({36})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Katherina Reiche ({37})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({38})
Anita Schäfer ({39})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({40})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({41})
Dr. Kristina Schröder
({42})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({43})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({44})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({45})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({46})
Peter Weiß ({47})
Sabine Weiss ({48})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({49})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({50})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({51})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({52})
Michael Link ({53})
Oliver Luksic
Jan Mücke
Petra Müller ({54})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({55})
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({56})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({57})
Enthalten
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({58})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
Wir kommen zur Abstimmung über den übrigen Teil
des Antrags auf Drucksache 17/11008. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung
von Linken und Grünen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit
unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/6489 mit dem Titel „Mehr Rechte für
Patientinnen und Patienten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei
Zustimmung der Linken und Enthaltung der Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6348 mit dem Titel „Rechte von Patientinnen
und Patienten durchsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Grünen und der Linken bei Enthaltung der SPDFraktion.
({59})
- Ich glaube nicht, dass das falsch aufgenommen worden
ist, das war richtig.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf:
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Energiewende sozial gestalten - Stromsperren
gesetzlich untersagen
- Drucksache 17/11655 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({60})Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({61})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Federführung strittig
ZP 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Strompreiserhöhung aussetzen - Faire Strom-
preise für alle
- Drucksache 17/11656 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({62})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({63}), Rolf
Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Für ein konzeptionelles Vorgehen der Bundesregierung bei der Energiewende - Masterplan Energiewende
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kosten und Nutzen der Energiewende fair
verteilen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bezahlbare Energie sichern durch Einsparung, Erneuerbare und mehr Verbraucherrechte
- Drucksachen 17/9729, 17/11004, 17/11030,
17/11719 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Caren Lay von der Fraktion
Die Linke.
({64})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Stellen Sie sich das einmal vor: Sie kommen
heute Abend nach Hause, das Licht geht nicht an, und
Sie können sich weder einen Tee noch eine warme
Suppe kochen. Sie können weder fernsehen noch lesen,
und Sie waschen sich und Ihre Kinder mit kaltem Wasser. Die Wäsche waschen Sie mit der Hand. Das Telefon
funktioniert nicht, und an das Smartphone ist erst recht
nicht zu denken. Auch das Backen für Weihnachten
muss in diesem Jahr leider ausfallen. Das ist kein Film
über das Leben im 19. Jahrhundert, das ist für über
300 000 Haushalte in Deutschland leider bittere Realität;
denn diesen Haushalten wurde im letzten Jahr der Strom
gesperrt. Ich finde das einfach unmenschlich.
({0})
Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass in
Belgien und in Frankreich Stromsperren zumindest im
Winter verboten sind. Wir als Linke finden, dass diese
massenhaften Stromsperren auch in Deutschland endlich
ein Ende haben müssen.
({1})
Die Presse berichtet über bereits acht Tote, die infolge
von Stromsperren ums Leben gekommen sind. Die Bundesregierung sieht tatenlos zu. Sie weigert sich sogar,
eine EU-Richtlinie umzusetzen, durch die zumindest
schutzbedürftige Kunden vor Stromsperren bewahrt
werden sollen. Ich finde, das ist einfach unmöglich. In
keinem anderen Bereich befinden sich die Anbieter in
solch einer starken Stellung wie die Stromanbieter. Nach
nur einer einzigen Mahnung und einer Ankündigung
kann der Strom gesperrt werden, und das ohne Gerichtsbeschluss. Wir finden: So geht es einfach nicht.
({2})
Deswegen wollen wir, dass Hilfe für die Betroffenen im
Mittelpunkt steht. Deswegen wollen wir die Sozialbehörden zwischenschalten.
Ich komme zu einem anderen Thema, das jeden und
jede von uns betrifft. Wir alle haben in den letzten
Wochen einen Brief von unserem Stromanbieter bekommen. Wieder einmal werden die Strompreise erhöht. Im
Schnitt werden sie um 12 Prozent erhöht, in einigen Fällen sogar um 32 Prozent. Das ist nur der traurige Höhepunkt; denn die Strompreise sind in den letzten Jahren
explodiert. Seit dem Jahr 2000 haben sie sich verdoppelt.
Die Ausgaben für Strom, Heizung und Benzin belasten
das Haushaltsbudget, insbesondere von Haushalten mit
geringen Einkommen.
Darunter leiden vor allen Dingen die Langzeitarbeitslosen. Im Hartz-IV-Regelsatz wurden gerade einmal
30 Euro für Energiekosten angesetzt. Der Durchschnittsverbrauch liegt deutlich höher. Das heißt, allein die
Strompreiserhöhung frisst die Erhöhung um lächerliche
8 Euro bei Hartz IV im nächsten Jahr wieder auf.
Während die einen im Dunkeln sitzen, gibt es woanders Grund für eine Festbeleuchtung. Allein drei der vier
großen Energiekonzerne, Eon, RWE und EnBW, haben
in sieben Jahren über 100 Milliarden Euro Gewinne eingefahren. In dieser Situation ist es ausgerechnet Bundesumweltminister Altmaier, der die Schuld für die Strompreiserhöhung allein auf die erneuerbaren Energien
schiebt. Er schweigt zu den massenhaften Gewinnen der
Konzerne. Auch hier sagen wir als Linke: So geht es einfach nicht.
({3})
Schnelle Hilfe ist nötig, und sie ist auch möglich. Wir
fordern, dass diese Strompreiserhöhungen ausgesetzt
werden, bis die Bundesregierung endlich ein vernünftiges Konzept auf den Tisch legt. Wir haben unsere
Vorschläge eingebracht. Stoppen Sie zum Beispiel die
Stromgeschenke an die Industrie. Diese betragen über
9 Milliarden Euro, für die die Verbraucherinnen und Verbraucher aufkommen müssen.
({4})
Senken Sie die Stromsteuer in dem Ausmaß, in dem
die EEG-Umlage steigt. Hier könnten die Verbraucherinnen und Verbraucher endlich einmal von Ihrer Politik
profitieren.
({5})
Haben Sie den Mut, endlich einmal eine effektive
staatliche Preisaufsicht einzuführen. Das wäre das beste
Mittel, um an diese leistungslosen Konzerngewinne heranzukommen.
({6})
Strom ist kein Luxusgut, Stromversorgung ist ein
Grundrecht. Niemand darf davon ausgeschlossen werden. Strom muss bezahlbar bleiben.
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Thomas Bareiß.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Kollegin Lay, Ihre Rede und Ihr Antrag
„Energiewende sozial gestalten - Stromsperren gesetzlich untersagen“ zeigen deutlich, dass Sie immer noch
nicht in der Marktwirtschaft angekommen sind.
({0})
Ihr Feldzug gegen die soziale Marktwirtschaft ist fast
schon unerträglich. Deshalb sage ich zu Beginn meiner
Rede: Wenn jemand in unserem Land eine Leistung in
Anspruch nimmt, muss er für diese Leistung auch zahlen. Wenn er das nicht tut, dann wird ihm der Anspruch
auf diese Leistung versagt.
({1})
Außerdem verhält er sich gegenüber all denjenigen, die
für diese Leistung bezahlen, unsozial und unsolidarisch.
({2})
Ein solches Verhalten entspricht nicht unserem Bild von
einer sozialen Marktwirtschaft, und es entspricht auch
nicht unserem Bild von richtiger und sozialer Energiepolitik.
Wir wollen keinen Freifahrtschein erteilen, sondern
wir wollen einen Sozialstaat, der denjenigen, der sozial
schwach ist, in die Lage versetzt, seine Stromrechnung
zu bezahlen. Deshalb haben wir einen ausgedehnten
Sozialstaat.
({3})
Deshalb werden in Deutschland beispielsweise die
höchsten Sozialleistungen in ganz Europa gezahlt; sie
machen über 55 Prozent des Bundeshaushalts aus. Da
Sie immer davon reden, dass die Besserverdienenden
keinen Beitrag leisten, sage ich Ihnen: Die 10 Prozent
der Steuerzahler mit dem höchsten Einkommen tragen
über 55 Prozent zum gesamten Einkommensteueraufkommen bei.
({4})
Wer trotzdem behauptet, dass die Besserverdienenden in
unserem Staat nichts für die Leistungsschwachen tun,
der ist auf dem Holzweg.
({5})
Wir wollen den mündigen und freien Bürger.
({6})
Deshalb steht die Energiepolitik bei uns im Zentrum.
({7})
Wir wollen die Bürger beispielsweise dazu bringen,
Strom zu sparen und sich effizienter zu verhalten, und
wir wollen, dass dies belohnt wird. Deshalb kann ich nur
begrüßen, dass Bundesumweltminister Peter Altmaier
die Stromsparinitiative auf den Weg gebracht und durch
ganz konkrete Maßnahmen verstärkt hat. Die Mittel werden um weitere 30 Millionen Euro für die nächsten zehn
Jahre erhöht, sodass jeder Haushalt in die Lage versetzt
wird, sich zu überlegen, wo er Strom einsparen, sich effizienter verhalten und damit Geld sparen kann.
({8})
Dadurch haben wir auch etwas für die Sozialpolitik
getan. Durch die Teilnahme am Stromspar-Check kann
jeder Haushalt mit geringfügigem Einkommen Strom
und somit Geld sparen. An 80 Standorten wurden rund
200 Langzeitarbeitslose zu Energieberatern ausgebildet.
Pro Haushalt investieren wir auf diesem Wege 65 Euro,
sparen aber jedes Jahr pro Haushalt 86 Euro ein. Das ist
ein Modell, das einerseits Langzeitarbeitslosen dabei
hilft, sich zum Energiesparer ausbilden zu lassen, das andererseits aber auch Geringverdienern hilft, Strom und
somit Geld zu sparen. Das ist ein Modell, das, wie ich
glaube, Schule machen und in den nächsten Jahren sogar
ausgebaut wird; die Mittel sollen verdoppelt werden.
Das ist sinnvoll und richtig. Ich glaube, die Energiepolitik ist der richtige Ansatzpunkt, um auch die Sozialpolitik ein Stück weit mitzugestalten.
({9})
Eine weitere Maßnahme, mit der wir versuchen, dem
mündigen Bürger dabei zu helfen, Strom und Energie zu
sparen, ist das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das
wir weiter voranbringen werden. Der Eigentümer wird
für seine Anstrengungen Stück für Stück belohnt. Beim
CO2-Gebäudesanierungsprogramm haben wir schon viel
erreicht.
({10})
In einem nächsten Schritt gehen wir die Mietrechtsnovelle an. Wir fordern Sie von Rot-Grün auf, in den
Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, dafür zu
sorgen, dass die Möglichkeiten der steuerlichen Abschreibung in den nächsten vier Wochen endlich auf den
Weg gebracht werden,
({11})
damit die Investitionsblockade aufgelöst wird, sodass
wir beim Thema Energieeffizienz eine Politik aus einem
Guss machen und unsere Ziele erreichen können.
Eine weitere Maßnahme, mit der wir etwas für die
Verbraucher tun, ist die EEG-Umlage. In den letzten
Jahren haben wir - im Gegensatz zu Ihnen - den Kostentreiber Nummer eins angepackt. Wir haben dafür
gesorgt, dass die Kosten der Photovoltaik bzw. der Solarenergie, die in den letzten Jahren massiv gestiegen
sind, Stück für Stück reduziert werden.
({12})
Herr Kollege Bareiß, die Kollegin Binder von den
Linken würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, danke.
Keine Zwischenfrage.
Die grünen Umweltminister haben es in sieben Jahren
Rot-Grün nicht geschafft, die Kosten der Photovoltaik
zu senken.
({0})
Die Einspeisevergütung haben Sie nur um knapp 10 Prozent reduziert. Wir haben es geschafft, sie in drei Jahren
um über 50 Prozent zu reduzieren. So haben wir dafür
gesorgt, dass der Anteil der Solarenergie auf ein gesundes Maß zurückgeführt wurde. Für die Förderung, die
Sie damals aufgebaut haben, muss ein durchschnittlicher
Vier-Personen-Haushalt noch heute 100 Euro im Jahr
bezahlen. Das war der falsche Weg. Deshalb haben wir
dieses Thema angepackt.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum
Schluss möchte ich sagen: Markt und Wettbewerb lohnen sich. Jeder Stromkunde sollte sich seine Stromrechnung anschauen und die Möglichkeiten des Wettbewerbs
und des Marktes nutzen.
Ich kann nur jeden darauf aufmerksam machen: Die
Linken haben geschrieben, dass der Regelsatz für Strom
bei einem Verbrauch von 1 500 Kilowattstunden bei
30,42 Euro monatlich liegt. Wenn Sie den billigsten Anbieter in Berlin nehmen, liegen Sie bei 27 Euro monatlich. Auch hier zeigt sich: Wenn man vergleicht, wenn
man den Wettbewerb auf dem Markt nutzt, dann steht
man auf der richtigen Seite und kann Geld sparen. Das
ist der richtige Weg.
Herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({2})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dirk
Becker das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Lay, in der Tat ist es ein ernstes Thema. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede sehr plastisch dargestellt, wie
im Land die Realität für Familien aussieht. Umso bedauerlicher ist allerdings, dass Ihr Antrag Ihr Anliegen letztlich auf eine einzige, sehr populistische Forderung verkürzt, nämlich darauf, dass wir, der Deutsche Bundestag,
doch beschließen mögen, Strompreiserhöhungen auszusetzen. Das ist eine sehr einfache, eine sehr verkürzte
Antwort. Es ist der falsche Weg, den Menschen zu sagen, es liege an uns. Wir müssen den Menschen doch
deutlich machen, was zum Beispiel diese Regierung gemacht hat, damit die Strompreise steigen und nicht sinken. Das deutlich zu machen, sollte unsere Aufgabe sein.
({0})
Herr Bareiß, bei all dem, was Sie sich schönrechnen
und schönreden - ich kann diese PV-Geschichte nicht
mehr hören -:
({1})
Es gibt eine Reihe von politischen Entscheidungen dieser Regierung. Ich brauche nicht einmal die Vergangenheit zu bemühen. Was Sie hier heute Morgen beschlossen haben, ist Röslers Preissteigerungsgeschenk an die
Wählerinnen und Wähler. Das ist Ihre Verantwortung.
({2})
Frau Lay, ich finde es schade, dass Sie den Eindruck
erwecken, es liege an uns. Sie haben in Ihren Ausführungen durchaus richtige Ansätze signalisiert.
Ich möchte eines in Richtung der Grünen sagen. Ich
finde die Passage in Ihrem Antrag, wie man mit dem
Thema Stromsperren umgehen muss, sehr gut. Wir unterstützen Ihren Antrag an dieser Stelle; denn er geht ins
Detail, er greift die Probleme auf und setzt auf die richtigen Lösungsansätze.
({3})
Aber, Kolleginnen und Kollegen, Strom bezahlbar zu
machen, heißt auch, erst einmal den Verbrauch in den
Griff zu bekommen. Ich kann die Sonntagsreden zu
Energieeffizienz nicht mehr hören. Hier werden uns ein
paar Miniprogramme schmackhaft gemacht, aber es
wird völlig verdrängt, dass es diese Regierung und dieses Wirtschaftsministerium waren, die alles unternommen haben, damit wir beim Thema Energieeffizienz
nicht vorankommen. Deutschland ist Bremser Nummer
eins in Europa.
({4})
Gerade das Thema Energieeffizienz - das weiß auch
so ein ausgewiesener Wirtschaftsexperte wie Herr
Nüßlein - käme nicht nur den Privathaushalten zugute,
sondern auch der Wirtschaft. Darum kritisiert die WirtDirk Becker
schaft Sie für Ihre Politik im Bereich der Energieeffizienz.
({5})
- Dazu komme ich gleich. Das ist das Einzige, was Sie
haben.
({6})
Wichtig für uns ist, dass wir das Thema Energieeffizienz als Win-win-Situation zwischen den Verbrauchern
und der Wirtschaft begreifen. Die Wirtschaft fordert Sie
auf, mehr für die Energieeffizienz zu tun und
({7})
ambitioniertere Ziele vorzusehen. Sie sagt: Wir sind
stark genug, wir haben die Technologie, ihr müsst uns
nur den Rahmen geben. - An der Stelle haben Sie total
versagt.
({8})
Durch die Politik von Herrn Rösler zieht sich ein roter
Faden, angefangen beim Armutsgericht bis hin zur Energieeffizienz. Was aus seinem Haus kommt, ist einfach
regierungspolitischer Murks. Damit kommt dieser
Minister die Leute einfach teuer.
Ich sage Ihnen nur ein paar Punkte. Wir versuchen
seit längerem, Sie zu bewegen, etwas zu tun. Gebt den
Leuten nicht nur eine Energieberatung, sondern über Mikrokredite und Zuschüsse auch das Geld, um in Energieeffizienz investieren zu können, habt aber auch den Mut,
die Befreiung der Unternehmen von gewissen Umlagen
an die Einführung von Energiemanagementsystemen zu
koppeln. Das alles sind Maßnahmen, die wir schon
längst hätten haben können,
({9})
die unbestritten wirksam wären. Sie bremsen und blockieren.
({10})
Meine Damen und Herren, wir haben beim Thema
Energieeffizienz keine allzu gute Bilanz. Daher kommen
wir jetzt zum Strombereich.
({11})
Herr Bareiß hat ja versucht, deutlich zu machen, was
diese Regierung alles getan habe, um den Strompreis
oder die EEG-Umlage in den Griff zu bekommen. Doch
man kann das durchrechnen, Kolleginnen und Kollegen,
man kann sich anschauen: Wie kommen diese 5,2 Cent
EEG-Umlage zustande? Warum ist denn die EEG-Umlage für das laufende Jahr eigentlich geschönt worden?
Warum sind 2 Milliarden Euro nachzuholen? Warum hat
es eine Ausweitung der Befreiungstatbestände gegeben?
Das hat weder etwas mit internationalem Wettbewerb
noch mit Arbeitsplätzen zu tun,
({12})
sondern war - das sage ich Ihnen - nur darauf angelegt,
die Basis derjenigen, die die EEG-Umlage zahlen müssen, zu verkleinern. Sie wollen, dass die Leute von der
Energiewende angesichts steigender Preise irgendwann
die Nase voll haben. Das steckt doch bei Ihnen dahinter.
({13})
Auch aus Gründen der Energieeffizienz ist es einfach
widersinnig, beispielsweise die Obergrenze für die Befreiung von der EEG-Umlage von 10 Gigawatt auf 1 Gigawatt abzusenken. Die Befreiung von der EEG-Umlage
hat zur Folge, dass Unternehmen heute mehr Strom verbrauchen, weil das für sie günstiger ist, als in Energieeffizienz zu investieren. Ihre Politik wirft uns um vier
Jahre zurück; das ist einfach so.
({14})
- Vorsätzlich die Kosten hochtreiben? Wir müssen jetzt
nicht erneut über die Haftungsfrage bei Offshorewindparks und andere Dinge reden. Sie verlagern die Kosten
auf die Kleinen
({15})
und halten hier Sonntagsreden, was Sie für die Menschen tun. Das glaubt Ihnen doch keiner nach dem heutigen Tag. Lesen Sie doch die Schlagzeilen der Zeitungen
über das, was heute Morgen hier beschlossen wurde! Lesen werden Sie noch können.
({16})
Jetzt zum Thema Gebäudesanierung.
({17})
- Die FDP sagt: Endlich kommt er zum Thema Gebäudesanierung. - Dabei haben Sie bis heute verhindert,
dass im Wärmegesetz überhaupt etwas dazu vorliegt.
({18})
Sie bremsen beim Wärmegesetz von vorne bis hinten.
({19})
Jetzt zum Thema Bundesrat. Die Bundesregierung sagt:
Wir geben weniger Geld aus für die Gebäudesanierung,
die Hälfte sollen künftig die Länder bezahlen; wir machen das über Abschreibungen, über Steuermodelle. Und dann wundern Sie sich, wenn die Länder sagen:
Stopp! Halt an der Bahnsteigkante! Könnt ihr vielleicht
vorher mit uns darüber reden?
({20})
Jetzt frage ich Sie, welches Land, das von CDU bzw.
CSU und FDP regiert wird, hat denn an der Stelle gesagt: „Das ist das böse Spiel der Sozis; die Roten blockieren“? Warum waren denn Ihre Ministerpräsidenten
dabei, als gesagt wurde: „Stopp! So geht es nicht“?
({21})
Das ist keine Frage der Farbenlehre, das hängt mit der
Art und Weise zusammen, wie Sie an das Thema herangegangen sind.
({22})
Das können die Länder insgesamt nicht mittragen. Es
passt hier nicht in dieses Wahlkampfgetöse, das sei eine
typische Aktion sozialdemokratisch regierter Länder.
({23})
Ich will zum Thema Gebäudesanierung eines ganz
klar sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in
Zukunft auch das Instrument der steuerlichen Abschreibung prüfen müssen.
({24})
Ich bin dabei, wenn gesagt wird, dass wir einen Instrumentenmix brauchen werden. Aber dieser Instrumentenmix heißt auch, dass die anderen Instrumente, für die Sie
als Bundesregierung Verantwortung haben, ernst genommen werden.
Wie ist es denn mit dem Wärmegesetz? Sie haben den
Erfahrungsbericht bis heute nicht vorgelegt. Sie blockieren die Fortentwicklung des Wärmegesetzes, weil Herr
Rösler, Herr Altmaier und Herr Ramsauer sich nicht einig werden. Das heißt, im Bereich der Fortentwicklung
des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes ist null passiert. Sie blockieren an dieser Stelle. Auch hier steht die
deutsche Wirtschaft, stehen die Unternehmen der Heizungstechnologien Gewehr bei Fuß und sagen: Wann
kommt ihr endlich mit diesem Gesetz? Wir haben riesige
Potenziale. - Mit modernen, ökologischen Wärmesystemen können wir die Menschen von steigenden Kosten
für fossile Brennstoffe unabhängig machen.
({25})
An dieser Stelle bremsen Sie die Menschen aus. Damit
tragen Sie Verantwortung dafür, dass die Menschen ihre
Heizkosten nicht in den Griff bekommen können.
Ich danke der Fraktion der Linken, dass wir über das
Thema debattieren können. Ihrem Antrag können wir,
wie ich schon sagte, leider nicht folgen. Ich werbe aber
für die Unterstützung des Antrags der SPD.
Mein dringender Appell an diese Regierung: Nehmen
Sie dieses Thema ernster, als Sie es hier eben getan haben!
({26})
Ein bisschen Larifari - ein Salatblatt hier, ein Salatblatt
da - reicht nicht, um den Menschen deutlich zu machen:
Wir nehmen euch mit euren Problemen bei den Energiekosten ernst.
Vielen Dank.
({27})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Professor Dr. Erik Schweickert.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Keiner wird abstreiten, dass
steigende Strompreise ein Problem sind. Natürlich wären niedrigere Strompreise besser. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, die wahren
Strompreistreiber sitzen in Ihren Reihen;
({0})
denn die hohen Strompreise sind das Resultat einer verfehlten Energiepolitik von Rot und Grün. Die EEG-Umlage ist Ihr Werk. Die Verbraucher müssen heute die Zeche dafür bezahlen.
({1})
Deshalb bin ich der Meinung: Das EEG ist nicht zukunftsfähig. Wir müssen weg von der Überförderung der
erneuerbaren Energien; denn die Energiewende darf
nicht auf dem Rücken der Verbraucherinnen und Verbraucher ausgetragen werden.
({2})
Frau Lay, die Antwort auf die Überförderung der erneuerbaren Energien kann aber nicht sein, auf der anderen Seite Sozialtarife für sozial schwache Verbraucher zu
subventionieren
({3})
oder gar Stromsperren zu unterbinden; denn es kann
nicht sein, dass derjenige, der noch ordentlich bezahlt,
am Ende der Dumme ist. Es kann nicht sein, dass man
sich ohne Konsequenzen einen schlanken Fuß machen
kann. Das trifft die Mitte unserer Gesellschaft, jene Leistungsträger, die jeden Tag ordentlich arbeiten, ordentlich
zahlen und das Land voranbringen.
Die Verbraucherzentrale NRW hat als Alternative zur
Stromsperre einen Prepaid-Zähler ins Gespräch gebracht. Ich finde, diese Idee ist sehr überlegenswert;
denn dies würde nicht nur einen Betrag zur Kosten- und
Verbrauchstransparenz leisten, sondern es könnten auch
die Kosten für die Sperrung und die Wiederanmeldung
vermieden werden, die nicht selten deutlich höher sind
als die Stromschuld an sich.
Von diesem besonderen Problem einmal abgesehen:
Wir wollen das System reformieren, um aus dieser Energieplanwirtschaft endlich eine effiziente und verbraucherfreundliche Energiemarktwirtschaft zu machen.
({4})
Für den weiteren Zubau an erneuerbaren Energien
muss dann klargestellt werden, dass sie sich am Markt
beweisen müssen und dass sie den Strompreis langfristig
über staatliche Dauersubventionen nicht künstlich verteuern dürfen.
({5})
Unsere Vorschläge stehen bereit. Kurzfristig schlägt
Ihnen die FDP vor, die Stromsteuer in Höhe der auf die
EEG-Umlage entfallenden Mehrwertsteuereinnahmen
aufkommensneutral abzusenken. Das schafft dann eine
schnelle Entlastung für die Verbraucher.
({6})
Wir Liberale gehen aber noch weiter. Wir haben im
Gegensatz zu denen, die lauthals rufen, ein Alternativkonzept vorgelegt. Wir schlagen Ihnen die Umstellung
auf ein Mengenmodell vor; denn wir wollen, dass Energieerzeuger, Stromhändler und Endkunden verpflichtet
werden, einen festgelegten Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energien zu erzeugen bzw. zu beziehen.
Herr Kollege Schweickert, Frau Kollegin Lay würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege. Sie haben ja von der
Energiemarktwirtschaft gesprochen. Ich möchte gerne
von Ihnen wissen, wie es sich mit der Energiemarktwirtschaft verträgt, dass die vier großen Energiekonzerne
noch immer über 80 Prozent des Marktes monopolisieren. Wie verträgt es sich mit der Marktwirtschaft, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher für die massenhaften Industrierabatte zugunsten der energieintensiven
Industrie aufkommen müssen? Wie verträgt es sich mit
der Energiemarktwirtschaft, dass jetzt die Unternehmen
von der Haftung - wir haben das heute Morgen im Zusammenhang mit den Offshoreanlagen beschlossen - befreit werden und die Kosten ebenfalls den Verbraucherinnen und Verbrauchern aufgebürdet werden? Wie
verträgt sich all das mit Ihren Vorstellungen von einer
Marktwirtschaft?
({0})
Frau Kollegin Lay, nach Fukushima haben wir in diesem Haus mit einer sehr breiten Mehrheit die Energiewende beschlossen. Das war gesellschaftlicher Konsens.
({0})
Diese Energiewende kann nur dann vorankommen,
wenn wir auch dafür sorgen, dass zum Beispiel Strom
aus Windkraft aus dem Offshorebereich, der grundlastfähiger ist als Strom aus dem Onshorebereich, in das Netz
kommt. Wir sehen, dass hier Risiken vorliegen. Wenn
wir wollen, dass dieser Umstieg gelingt, dann müssen
wir da herangehen.
Sie haben gefragt - das war Ihre zweite Frage -, wie
sich das Ganze mit den Ausnahmen verhält. Darauf sage
ich Ihnen ganz offen: Auch mir sind die Ausnahmen, die
es gibt, zu viele. Deswegen überprüft ja gerade die Bundesnetzagentur, inwieweit man hier die Kriterien neu berechnen kann. Aber es waren doch nicht wir, die diese
Ausnahmen in das EEG geschrieben haben. Der TrittinSoli und die Ausnahmen vom Trittin-Soli wurden zu rotgrünen Zeiten beschlossen.
({1})
Ich sage Ihnen: Wir müssen dafür sorgen, dass die
Kunden kein unnötiges Geld ausgeben; denn wir haben
den Zustand, dass durch die Anlagen im Bereich der erneuerbaren Energien zwar Strom erzeugt wird, dieser
aber nie in das Netz eingespeist wird und nie bei den
Kunden ankommt. Das, liebe Frau Lay, wird der Punkt
sein, an dem wir ansetzen; denn dieser untragbare Zustand muss beendet werden. Dann fallen die Probleme
weg, die wir hier oft genug beklagen und für die wir als
christlich-liberale Regierung die Lösungen haben.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich
2005 in den Bundestag gekommen bin, habe ich gesagt:
Ich nehme mir die Energiepreise vor und gucke mir sehr
genau an, wie sich die Gewinne der großen Energiekonzerne entwickeln. Die Gewinne der großen Energiekonzerne, Herr Schweickert, sind in der Tat explodiert. 2002
erzielten die vier großen Energiekonzerne einen Gewinn
von insgesamt 6 Milliarden Euro, 2010 waren es 30 Milliarden Euro. Das ist die Situation, das ist der Grund, warum die Preise gestiegen sind - nicht mehr und nicht weniger.
({0})
Ich finde, wir mussten diesen Anstieg beenden, und es
ist gut, dass wir ihn beendet haben - gerade auch durch
den Ausstieg aus der Atomkraft.
Herr Schweickert, Sie haben sich hier hingestellt und
gesagt, das EEG sei durch uns so aufgebläht worden,
dass der Strom so teuer geworden sei. Gucken Sie doch
einmal hin! 2005, als die rot-grüne Regierung beendet
worden ist, lag die EEG-Umlage bei unter 1 Cent pro
Kilowattstunde.
({1})
Heute, unter Ihrer Regierung, liegt sie bei über 5 Cent
pro Kilowattstunde. Hören Sie also auf, uns für die überzogenen Kosten Ihres Wirtschaftsministers Rösler verantwortlich zu machen! Dafür sind Sie allemal selbst
verantwortlich.
({2})
Deswegen will ich auch sehr wohl etwas zu den Ausnahmen sagen.
Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schweickert?
({0})
Ja, gerne.
Frau Kollegin Höhn, vielen Dank. - Ich habe eine
Frage an Sie. Sie bekommen für Ihre Wohnung hier in
Berlin doch sicherlich auch eine Rechnung von Vattenfall; das ist ja hier ein großer Anbieter.
Nein, anders als Sie bin ich nicht bei Vattenfall.
Okay. - Wenn Sie sie bekämen, könnten Sie anhand
einer Auflistung erkennen, wie sich die Stromkosten
aufteilen.
Deswegen lautet meine Frage an Sie: Ist es richtig,
dass die Ausnahmen, die Sie hier jetzt anprangern, einen
marginalen Anteil von 0,x Prozent an den Stromkosten
ausmachen, während im Gegensatz dazu die EEG-Umlage einer der Hauptpreistreiber ist? Stimmen Sie mir
hier zu, oder stimmen Sie mir nicht zu?
Nein, da stimme ich Ihnen keineswegs zu. Als RotGrün im Jahre 2005 die Ausnahmen eingeführt hat, gab
es für 250 Unternehmen Ausnahmen. Diese Zahl ist aufgebläht worden. Für nächstes Jahr haben über 2 000 Unternehmen eine Ausnahme beantragt.
({0})
Die Zahl wird von 250 auf 2 000 steigen. Das ist der
Politik Ihres Wirtschaftsministers Rösler geschuldet nicht mehr und nicht weniger.
({1})
Für 50 Prozent des Wirtschaftsstroms wird mittlerweile keine EEG-Umlage mehr gezahlt, da die entsprechenden Unternehmen davon ausgenommen sind. Deshalb ist das nicht mehr die Ausnahme, sondern die
Regel. Sie belasten die kleinen, mittelständischen Unternehmen, die Handwerker.
({2})
Das ist die Politik der FDP - nicht mehr und nicht weniger.
({3})
- Es geht nicht um Beantragung und sonst etwas, sondern schon jetzt sind es 800 Ausnahmen, und im nächsten Jahr werden es mindestens 1 800 bis 2 000 sein.
Deshalb sage ich zu den Durchleitungsgebühren für
die Nutzung der Netze: Auch das, was Herr Rösler in
diesem Punkt macht, ist eine absolute Unverschämtheit.
In diesem Jahr gibt es für 1 400 Unternehmen eine Ausnahme, für das nächste Jahr haben weitere 1 600 Unternehmen eine Ausnahme beantragt. Ich sage: Hier erleben wir eine Klientel- und Lobbypolitik zulasten der
Verbraucher.
({4})
Kollegin Höhn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, in diesem Fall von der Kollegin Homburger?
Aber bitte, gerne, Frau Homburger.
({0})
Frau Kollegin Höhn, meine erste Frage: Stimmen Sie
mir zu, dass es einen Unterschied zwischen einer Genehmigung und einer Beantragung gibt?
Meine zweite Frage: Sind Sie sich sicher, dass es derzeit 800 Unternehmen sind? Ist es nicht vielmehr richtiger, dass es exakt 735 Unternehmen sind?
Meine dritte Frage, Frau Kollegin Höhn: Trifft es zu,
dass diese 735 Unternehmen, für die derzeit eine entsprechende Ausnahme gilt, ausschließlich auf der
Grundlage eines Rechts ausgenommen sind, das Sie beschlossen haben?
({0})
Nein, Frau Homburger, da stimme ich Ihnen nicht zu;
denn das, was wir damals beschlossen haben, war etwas
wesentlich anderes. Wir haben damals wirklich nur die
energieintensiven Betriebe ausgenommen, indem wir einen Verbrauch von mindestens 10 Gigawattstunden und
einen Anteil der Stromkosten an der Bruttowertschöpfung von mehr als 20 Prozent gefordert haben. Sie haben
die Grenze von 10 Gigawattstunden dagegen auf 1 Gigawattstunde gesenkt und nur einen Anteil der Stromkosten von über 14 Prozent verlangt. Das führt genau dazu,
was Herr Becker angesprochen hat. Wenn Unternehmen
merken, dass sie knapp unter der 14-Prozent-Schwelle
liegen, dann lassen sie die Motoren über Weihnachten
wirklich wie verrückt laufen, um über diese 14 Prozent
zu kommen. Dann können sie für beispielsweise 3,5 Gigawatt, die sie verbrauchen, die Ausnahmen beantragen.
Das ist die Situation. Das ist der Punkt: Es geht nicht um
Energieeinsparung, sondern darum, Energie zu verschwenden, um in den Genuss der Ausnahmeregelung
zu kommen. Dafür sind Sie verantwortlich.
({0})
Was wir nicht machen können, ist, dass wir bei jeder
Strompreiserhöhung hingehen und sagen: Wir werden
helfen, indem wir die Erhöhung durch Subventionen gegenfinanzieren. - Der Antrag der Linken scheint auf den
ersten Blick den Betroffenen zu helfen. Das wird aber
nicht funktionieren. Es wird sogar zu einem Effekt führen, der dem entgegengesetzt ist, den sie erzielen wollen.
In der Summe wird das dazu führen, dass die großen
Energieversorger genau das, was durch Subventionen
gegenfinanziert wird, in die eigene Kasse wirtschaften,
sich bei den Verbrauchern aber kein positiver Effekt einstellt.
({1})
Wir haben in mehreren Studien - ich freue mich, dass
Sie unsere Studien so gut lesen; Sie haben ja die entsprechenden Zahlen präsentiert - nachgewiesen, dass die
großen Energiekonzerne Ersparnisse aus Kostensenkungen gerne für sich behalten, aber Kostenerhöhungen immer gern an die Verbraucher weitergeben. Deshalb wird
eine solche Subventionierung nicht funktionieren. Sie
wird am Ende den Staat sogar überfordern;
({2})
denn nach der ersten Subventionierung wird sofort die
nächste Preiserhöhung kommen. Dagegen kommen Sie
nicht an. Die Lösung ist einfach: „Einsparen, einsparen,
einsparen“. Jede eingesparte Kilowattstunde ist besser
und billiger als eine verbrauchte Kilowattstunde.
({3})
Deshalb muss ich auch sagen, Herr Bareiß: Das, was
Sie hier von der Bundesregierung Richtung Einsparungen gemacht haben, ist unter aller Sau.
({4})
De facto haben Sie das ganze Thema Energieeffizienz
nicht angepackt. Wir müssen ja im Prinzip davon ausgehen, dass es bei den Leuten, die von den Energiekosten
verstärkt betroffen sind, nicht nur um die Kosten für
Strom geht, sondern auch um die Kosten für Kraftstoff
und auch um die Kosten für Wärme geht. Wenn man
sich all das einmal ansieht, dann kann man nur sagen:
Sie haben die Energieeffizienzrichtlinie nicht richtig umgesetzt. Herr Rösler hat sie verwässert. Das ist der
Punkt. Die Energieeffizienzrichtlinie ist nicht ehrgeizig
umgesetzt worden.
Ein anderes Thema ist die Besteuerung des CO2-Ausstoßes bei Autos. Sie sind diejenigen, die für die
Spritschlucker aus Deutschland kämpfen.
({5})
Und bei dem Energieeffizienzfonds, den Sie eingerichtet haben, werden die Mittel noch nicht einmal
vollständig abgerufen. 2011 standen Haushaltsmittel in
Höhe von 70 Millionen Euro zur Verfügung, davon sind
3 Millionen Euro abgerufen worden. 2012 standen Haushaltsmittel in Höhe von 35 Millionen Euro zur Verfügung, davon sind nur 3 Millionen Euro abgerufen worden. Warum wurde nicht mehr abgerufen? Weil die
Förderrichtlinie nicht verabschiedet worden ist. Sie wollen keine Energieeffizienz. Das ist doch der Punkt. Das
geht so nicht weiter.
({6})
Auch wir wollen in der Tat den Betroffenen helfen,
aber nicht mit Sozialtarifen, sondern wir wollen Spartarife. Wir wollen immer eine Einsparkomponente dabeihaben; denn wir werden nur dann das Problem lösen,
wenn wir wirklich sagen: Wir wollen einsparen. Wir
wollen weg vom Öl. Wir müssen uns von den teuren
Energiekosten abkoppeln. Das können wir nur dadurch,
dass wir wirklich Energie einsparen. Das muss der Weg
sein; denn nur er wird zum Erfolg führen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!
Liebe Frau Höhn, „unter aller Sau“ ist nun nicht die Formulierung, die ich hier an diesem Pult wählen würde.
({0})
Aber wenn ich sie wählen würde, würde ich sie auf diese
Haltet-den-Dieb-Debatte beziehen, die die Grünen hier
abziehen, auf diese Feigenblattdiskussion, die Sie hier
führen. Uns die Kostensteigerungen aus dem Bereich der
erneuerbaren Energien einfach so mir nichts, dir nichts
in die Schuhe schieben zu wollen,
({1})
das ist, wenn Sie so wollen, unter aller Sau.
({2})
Zunächst einmal komme ich zu dieser Mär, die im
Zusammenhang mit der EEG-Umlage verbreitet wird:
Es geht um 5,227 Cent. Von diesen 5,227 Cent geht
1 Cent auf die Befreiungen von der EEG-Umlage zurück. Von diesem 1 Cent geht 0,1 Cent zurück auf die
Befreiungstatbestände, die wir zum 1. Januar dieses Jahres neu beschlossen haben.
({3})
Die übrigen 0,9 Cent beziehen sich ausschließlich auf
die Rechtsgrundlage, die Sie seinerzeit unter Herrn
Trittin geschaffen haben.
({4})
So viel Anstand muss doch sein, dass man das zunächst
einmal zur Kenntnis nimmt und dass man dann sagt: Jawohl, das haben wir richtig gemacht. - Im Übrigen haben das Herr Trittin und andere mehrfach so gesagt.
Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höhn?
Herzlich gerne.
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben zu Recht eben die
richtige Zahl genannt. Die Kosten für die gesamten Ausnahmen im EEG betragen 4,4 Milliarden Euro. Das entspricht ungefähr 1 Cent. Geben Sie mir recht, dass die
Aufblähung um 4 Milliarden Euro auf jetzt 4,4 Milliarden Euro Wirtschaftsminister Glos, sein Nachfolger zu
Guttenberg, der Wirtschaftsminister Brüderle und sein
Nachfolger Rösler verursacht haben? Ist das richtig, ja
oder nein?
({0})
Wenn Sie formulieren, dass wir das nicht geändert haben, was Sie seinerzeit ins Gesetz geschrieben haben,
({0})
weil es richtig war, was Sie ins Gesetz geschrieben haben,
({1})
dann würde ich das an Ihrer Stelle nicht beklagen. Da
geht es nicht um die Frage, wer verantwortlich ist. Wir
sind dafür, diese Befreiungen zu machen. Dahinter stehen wir auch, mit Verlaub. Es ist doch richtig, die energieintensive Industrie in diesem Land zu befreien.
({2})
- Sie dürfen gern noch stehen bleiben, ich bin immer
noch bei der Beantwortung Ihrer Frage.
({3})
Es ist also richtig, die energieintensive Industrie von den
Kosten für die Umlage zu befreien. Wenn die Wirtschaftsminister das mittragen, ist es doppelt richtig. Das
ist Aufgabe eines Wirtschaftsministers, für entsprechende Befreiungen zu sorgen.
Sie geben auch zu, dass wir über diesen 1 Cent reden.
Sie tun aber so, als seien die 5,227 Cent Ausnahmetatbeständen geschuldet. Das ist eben falsch. Geschuldet sind
diese 5,227 Cent im Wesentlichen eben der Tatsache,
dass Sie mit der Photovoltaik zu früh und zu teuer an den
Markt gegangen sind.
({4})
Ich sage nicht, dass die Photovoltaik darin nichts verloren hätte, aber Sie haben es zu früh und mit 50 Cent zu
teuer gemacht. Davon wieder herunterzukommen, ist das
mühsame Unterfangen, dem wir uns die ganze Zeit stellen mussten. Wir mussten dafür sorgen, dass das ging gegen Widerstände, gegen Schwierigkeiten.
({5})
Wir standen auch vor der Problematik, dass - das sehen wir selbst - man nicht mittendrin einen Stopp machen kann, weil dann, wenn man alles infrage stellt, man
die Branche an die Wand fahren ließe. Aber wenn Sie es
nicht zu früh und zu teuer gemacht hätten, wäre die Welt
in dieser Hinsicht eine ganz andere, und wir würden
nicht über die - wenn Sie so wollen - 4,2 Cent reden.
({6})
Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Fell? Das hätte den Vorteil, dass
ich die Uhr wieder anhalten könnte, weil sich die Kollegin Höhn hingesetzt hatte und ich die Uhr weiterlaufen
lassen musste.
Herzlich gern, aber ich wundere mich, dass sich die
Kollegin während der Beantwortung ihrer Frage einfach
hinsetzt und sagt: Aus meiner Sicht ist die Frage jetzt beantwortet. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
({0})
Lassen Sie mich den einen Gedanken noch formulieren, dann darf der Kollege Fell die Frage stellen.
Sie haben eine Befreiung für die energieintensive Industrie bei Differenzkosten von 0,2 Cent eingeführt.
Heute sind wir beim 26-fachen dessen. Und Sie lamentieren, dass wir zusätzlich noch einen kleinen, energieintensiven Teil des Mittelstands in die Ausnahmeregelung
aufgenommen haben.
Kollege Fell, jetzt freue ich mich auf Ihre Frage.
Dann hat jetzt der Kollege Fell das Wort.
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben gerade behauptet,
dass die Struktur des EEG, das damals unter Rot-Grün
gesetzt und verabschiedet wurde und das bis heute weitergilt, die derzeitigen Preissteigerungen verursachen
würde.
Ist Ihnen bekannt, dass es, seitdem Rot-Grün nicht
mehr an der Regierung ist, mehrfach Gesetzesnovellen
gab? Unter anderem wurde beispielsweise der Umlagemechanismus 2009 verändert, was dazu geführt hat, dass
der Ökostrom an der Börse aufläuft und damit die Merit
Order sinkt. Indem also die Basis für die Berechnung der
EEG-Umlage um 0,9 Cent gesenkt wurde, kam es zu einem Aufschlag bei der EEG-Umlage um 0,9 Cent. Dies
ist nicht unter Rot-Grün gemacht worden.
Ist Ihnen bekannt, dass es eine Befreiung von Eigenstromerzeugungsanlagen gegeben hat, wodurch sogar
ganze Unternehmen Dreckschleudern wie Kohlekraftwerke ans Netz genommen haben? Auch solche Befreiungstatbestände haben zu einer deutlichen Erhöhung der
EEG-Umlage geführt.
Ist Ihnen bekannt, dass die Liquiditätsreserve auf ein
Maß erhöht wurde, das nicht notwendig ist, aber wodurch die EEG-Umlage nach oben getrieben wurde?
Es gibt eine große Menge zusätzlicher Folgen, die Sie
seit dem Ende von Rot-Grün in Ihren verschiedenen
EEG-Novellen verursacht haben. In einem Jahr ist die
EEG-Umlage nun um etwa 1,7 Cent gestiegen, wobei
der Zubau erneuerbarer Energien davon nur 0,5 Cent
ausmacht. Die restlichen 1,2 Cent gehen auf Ihre verfehlten Novellierungen der EEG-Umlage zurück und
sind damit eindeutig der Preistreiberei der schwarz-gelben Koalition geschuldet.
({0})
Herr Kollege Fell, ich hätte mich sehr gefreut, wenn
Sie den entscheidenden Punkt, den EEG-Berechnungsmechanismus, angesprochen hätten, ohne dabei unnötigerweise Schuldzuweisungen vorzunehmen.
({0})
Ich bin nämlich der Überzeugung, dass der EEGBerechnungsmechanismus überarbeitet werden muss,
({1})
weil mit dem zusätzlichen Aufkommen an erneuerbaren
Energien in der Tat der Druck auf die Börse wächst. Das
ist der Merit Order bzw. der Tatsache geschuldet, dass
wir bei Wind- und Solaranlagen keine variablen Kosten
haben. Der Druck auf die Börse, der dabei entsteht, führt
dann dazu, dass sich die Differenzkosten auch in
Zukunft auseinanderentwickeln, egal wie stark der
Druck ist, den wir auf die Vergütungssätze ausüben.
Deshalb muss in diesem Punkt in der Tat eine Überarbeitung stattfinden.
({2})
- Wenn Sie das wissen, ist das schön. Der entscheidende
Punkt ist aber: Wir müssen es letztendlich auch machen.
({3})
Das ist nicht einfach, weil sofort die Sorge entsteht, wir
wollten an der Stelle tricksen. Das wollen wir nicht, sondern wir wollen letzten Endes, wie es der Kollege Fell,
den ich als sehr honorig schätze, die richtigen Differenzkosten benennen. Das muss unser Anliegen sein. Es darf
nicht automatische Strompreiserhöhungen durch die
Versorger geben. Deshalb nehme ich diesen Ball gerne
auf, spiele ihn weiter und sage: Lassen Sie uns das
Thema weiter verfolgen. Mit mir kann man immer reden, meine Damen und Herren, wenn man das Thema
fair angeht.
Aber uns wie heute Morgen in der Offshoredebatte in
die Schuhe zu schieben, wir seien erkennbar die Kostentreiber,
({4})
ist - darin geben Sie mir doch sicherlich recht - Quatsch.
({5})
Wer hat denn, mit Verlaub, seinerzeit dafür gesorgt? Das
war doch Sigmar Gabriel. Ich war bei den Verhandlungen dabei. Er hat dafür gesorgt, dass wir die Verpflichtung zum Anschluss von den Projektanten weg zu den
Netzbetreibern verlagert haben. Die Netzbetreiber wurden zwangsweise beauflagt, das zu tun. Jetzt können wir
doch nicht einfach darauf verzichten, Risikoteilungsregelungen zu schaffen, und sie in Insolvenz gehen lassen.
Ich kann mir vorstellen, was Sie dann zu dem Thema
gesagt hätten. Ein Aufschrei wäre durch die Reihen gegangen: Da sieht man es mal wieder! Die wollen die
Energiewende nicht! - So einfach machen Sie es sich
nämlich üblicherweise.
Das ist alles komplett Nonsens. Sie wissen, dass es
technisch sehr aufwendig ist, wenn man Offshorewindkraftanlagen bis zu 150 Kilometer vor der Küste errichtet - das macht übrigens niemand außer uns so -, und
Geld kostet. Wenn man dafür ist, die Anlagen so weit
draußen zu errichten, dann kann man doch nicht so tun,
als könne man nichts für die Kosten. Das muss man auch
in aller Klarheit sagen.
({6})
Was die ganze Debatte um Einsparungen beim Strom
angeht, sollten Sie einen Blick in die Statistiken werfen,
die die Realität zeigen. Die Einsparungen beim Strom
sind minimal und vernachlässigbar.
({7})
Ich bin froh, dass es uns gelingt, Wirtschaftswachstum
und Anstieg beim Stromverbrauch zu entkoppeln. Das
ist schon eine grandiose Leistung.
In der Tat - das stimmt - liegt das große Potenzial der
Energieeffizienz bei der Wärme. Ich will es nicht ständig
wiederholen - Sie haben es schon oft genug gehört -,
aber weil Sie offenkundig nichts tun, sage ich Ihnen:
Wenn Sie etwas für die Energieeffizienz tun wollen,
dann sorgen Sie dafür, dass sich die Länder an der Stelle
bewegen und dass das steuerlich endlich vorankommt.
({8})
Noch ein paar Sätze zu dem, was ich von der Linken
gehört habe. Ich hatte schon lange gewartet, dass die
Ideen kommen, was man jetzt alles tun müsste, etwa
Sozialtarife einzuführen und anderes. Jetzt kommt der
Druck von unten, von der anderen Seite. Auch da führen
wir eine Verteilungsdiskussion. Ich kann an Ihren Ausführungen nicht erkennen, nach welchen Kriterien Sie
regeln wollen, dass die einen den Strom bezahlen und
die anderen nicht.
({9})
Vielleicht müssen diejenigen, die die Linke wählen,
nicht bezahlen. Ich weiß es nicht. Erklären Sie es mir!
Nach welchem Kriterium soll der eine Blödmann den
Strom bezahlen, während der andere sagen darf: Das
mag ich nicht; das kann ich nicht; das tue ich nicht. Das erschließt sich mir in keinster Weise.
({10})
- Ein Blödmann ist in dieser Geschichte der eine, der
zahlt, wenn der andere nicht zahlen muss. Das bezeichne
ich in meiner Sprache als Blödmann, und das ist er nur
nach Ihrem System. Ich bin der Meinung, dass diejenigen, die ordnungsgemäß zahlen, die Anständigen sind.
Denjenigen, die eine Mahnung mit entsprechender Androhung bekommen - so ist nämlich die Rechtslage und nach vier Wochen immer noch nicht zahlen, klemmt
man in Deutschland kurzfristig den Strom ab. Ich sage
ausdrücklich „kurzfristig“, weil das relativ schnell zurückgenommen wird.
Ich weiß nicht, warum Sie jetzt plötzlich Energieversorger zu Sozialhilfeträgern deklarieren wollen.
({11})
Das erschließt sich mir in keinster Weise. Nach unserem
Verständnis ist der Sozialhilfeträger für diejenigen zuständig, die nicht zahlen können. Das ist beim Arbeitslosengeld II bzw. bei der Sozialhilfe einkalkuliert und
wird mit überwiesen. Mit dem Geld kann man dann den
Strom bezahlen.
({12})
Die Energieversorger und andere sind dafür nicht verantwortlich.
Ich wünschte mir, dass wir zum Thema Zahlungsmoral eine andere Einstellung entwickeln.
({13})
Bei manchen Herrschaften in dieser Republik fehlt es da
gewaltig - das muss man einmal sagen -, weil man es
nicht sanktioniert. Die Versorger haben die Chance, dieses Verhalten zu sanktionieren, indem sie den Strom
kurzfristig abschalten. Dann wird bezahlt. Das zeigt die
Erfahrung. Das ist auch gut so, weil die anderen auch bezahlen müssen.
({14})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Klaus Breil
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition versucht, uns mit ihrem Antrag
weiszumachen, dass allein die Befreiung für Unternehmen Grund für die hohen Strompreise ist.
({0})
Auch Herr Kelber - leider ist er nicht mehr anwesend;
vorhin saß er hier noch - hat das diese Woche schon wieder per Twitter in die Welt posaunt. Diese Causa Kelber
möchte ich Ihnen einmal erklären.
Herr Kelber vermischt - wahrscheinlich weil er es
nicht besser weiß - zwei Sätze in Abs. 2 der besagten
Verordnung. Der eine, der zweite Satz, räumt tatsächlich
eine komplette Befreiung für solche Unternehmen von
Netzentgelten ein, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Sie müssen 7 000 Stunden pro Jahr Strom abnehmen
und das in einem Umfang von 10 Gigawattstunden. Damit erbringen diese Unternehmen eine Dienstleistung.
Sie stabilisieren das Netz durch eine bessere Vorhersehbarkeit. Durch das wiederholte Behaupten von Herrn
Kelber aber, dass der Golfplatz, von dem er immer
spricht, vollständig von den Netzentgelten befreit wäre,
glaubt heute jeder, ein Golfplatz verbrauchte so viel
Strom wie eine Aluminiumhütte.
({1})
Glauben sie mir: Das ist nicht so.
({2})
Das, was Herr Kelber meinte, wovon sein Golfplatz
Nutzen hatte, ist der erste Satz von Abs. 2 der Verordnung. Danach können die Unternehmen, die durch Lastmanagement bei ihrer Höchstlast Hochlastzeiten des
Netzes vermeiden, individuelle Netzentgelte mit ihren
Verteilnetzbetreibern aushandeln. Diese individuellen
Netzentgelte variieren je nach Spannungsebene und Beitrag zur Stabilisierung zwischen 20 und 99 Prozent der
veröffentlichten Netzentgelte.
Herr Kelber kann jetzt argumentieren, dass sein Einwand bestehen bleibe und der Golfplatz keinem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sei. Das trifft aber auf
das Amos-Comenius-Gymnasium in Bonn, den Caritasverband für die Stadt Bonn, das Seniorenheim ELIM in
Bonn und die Bonner Zeitungsdruckerei auch nicht zu.
Diese vier Unternehmen aus dem Wahlkreis von Herrn
Kelber haben ebenso wie besagter Golfclub einen Antrag auf individuelle Netzentgelte gestellt. Ich möchte
sehen, was Herr Kelber als Aufsichtsratsmitglied beim
Mutterunternehmen SWB des Netzbetreibers, der diese
Verträge abschließt, den Menschen vor Ort sagen wird.
Sagt er wirklich: „Ihr, Schule, Kirche, Seniorenheim,
Printmedien, auch wenn ihr mit euren Maßnahmen zur
Stabilisierung des Netzes beitragt, bekommt keine Ermäßigung“? Wer ist denn immer für Dezentralität? Hier
können auch kleinere Einrichtungen oder Betriebe ihren
Beitrag zur Energiewende leisten.
Demjenigen, der sagt, dass er eigentlich nur die Komplettbefreiung für Großverbraucher so unerhört findet,
dem sage ich, dass die städtische Abfallverwertung in
Bonn auch nicht im internationalen Wettbewerb steht.
Erstaunlich! Trotzdem profitiert sie von der Regelung
und damit jeder Steuerzahler der Stadt Bonn.
({3})
Freuen Sie sich doch! Seien Sie nicht so doppelzüngig. Oder Herr Kelber stelle sich vor die 200 Mitarbeiter
im Glaswerk Weck in Bonn-Duisdorf und erkläre ihnen,
dass er deren Arbeitgeber ebenso verurteilt, wie er es mit
jedem anderen Unternehmen tut, das von dieser Regelung profitiert.
({4})
Herr Becker, bitte geben Sie meine Erläuterungen speziell an Herrn Kelber weiter.
Danke sehr.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11655 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Die Linke wünscht
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11656 mit dem
Titel „Strompreiserhöhung aussetzen - Faire Strompreise für alle“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
abgelehnt.
Zusatzpunkt 7 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/11719.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9729 mit dem Titel
„Für ein konzeptionelles Vorgehen der Bundesregierung
bei der Energiewende - Masterplan Energiewende“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11004 mit dem Titel „Kosten und
Nutzen der Energiewende fair verteilen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11030 mit dem Titel „Bezahlbare Energie
sichern durch Einsparung, Erneuerbare und mehr Verbraucherrechte“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des
EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 in der
Rechtssache C-284/09
- Drucksache 17/11314 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/11717 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding ({1})Dr. Barbara HöllDr. Thomas Gambke
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11718 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider ({3})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({4})
Interfraktionell ist vereinbart, die Reden zu Proto-
koll zu nehmen.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom
20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11717, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/11314 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Dr. Hermann E. Ott, Bärbel
Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimakonferenz Doha - Kein internationaler
Erfolg ohne nationale Vorreiter
- Drucksache 17/11651 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({6}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Andreas Jung ({7}), Marie-Luise Dött, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Michael Kauch, Horst
Meierhofer, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die UN-Klimakonferenz in Doha - Globalen
Klimaschutz wirksam vorantreiben
- Drucksachen 17/11514, 17/11714 Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung ({8})-
Frank Schwabe-
Michael Kauch-
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan Anpassung der Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel
- Drucksache 17/6550 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
({10})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir zwei Vorbemerkungen.1) Anlage 4
Erste Vorbemerkung. Wir wollen einmal abwarten,
was bei der Konferenz in Doha herauskommt. Was auf
jeden Fall herauskommen wird, ist Kioto II, eine Verlängerung des Kioto-Abkommens. Ich will an dieser Stelle
schon einmal für die Sozialdemokratie sagen: Wir werden im nächsten Jahr eine Ratifizierung vornehmen müssen. Unser Ziel ist sicherlich, dass das möglichst schnell
im deutschen Parlament geschieht. Wir werden vonseiten der SPD alles tun, damit es schnell dazu kommt und
damit wir ein positives internationales Signal aussenden
können.
Umso absurder ist es - da sind wir uns jedenfalls bei
den Umweltpolitikern bestimmt einig -, dass keine Delegation des Deutschen Bundestages in Doha dabei sein
wird. Es werden lediglich einzelne Abgeordnete vor Ort
sein. Ich finde es schon ziemlich absurd, was ich heute
dazu in der Presse lesen konnte, dass nämlich das Präsidium des Bundestages behauptet, es handele sich um
eine Regierungskonferenz, bei der Parlamentarier an den
Verhandlungen gar nicht teilnehmen könnten. Das ist sozusagen die Begründung dafür, dass keine Delegation
des Deutschen Bundestages vor Ort ist.
Ich bin es langsam wirklich leid. Wir führen jetzt seit
sieben Jahren immer wieder dieselben Debatten. Wir
brauchen einmal eine grundsätzliche Diskussion darüber, wann Reisen eigentlich sinnvoll sind. An dieser
Stelle wäre die Reise einer Delegation garantiert sinnvoll. Die Debatten, die man in Doha führen könnte - sozusagen im Hotspot der internationalen Klimadiplomatie -,
kann man sonst nirgends führen. Gerade weil dieses Parlament auch das Abkommen noch ratifizieren soll,
macht es doch erst recht Sinn, dass wir mit dabei sind.
({0})
Zweite Vorbemerkung. Wir diskutieren hier über den
Begriff der Energiewende. Wir haben unterschiedliche
Interpretationen darüber, wer wann für welche Energiewende verantwortlich war. Ich will Ihnen trotzdem zusagen, dass wir in Doha gemeinsam versuchen werden, die
deutsche Energiewende zu erklären. An dieser Stelle
hört allerdings die Gemeinsamkeit auf, weil ich glaube,
dass wir die Energiewende deutlich konsequenter und
eindeutiger vertreten, als Sie es in den Reihen der
schwarz-gelben Koalition tun.
({1})
Am Wochenende konnte man - ich kann jetzt nicht alles zitieren, was da geschrieben wurde - in der Süddeutschen einen Kommentar von Herrn Bauchmüller lesen.
Eine Zwischenüberschrift lautete: „Erderwärmung?
Nicht so dringend. Erst mal die FDP retten“. An dieser
Stelle möchte ich in Richtung der Freien Demokratischen Partei sagen: Dieses Maß an Verantwortungslosigkeit, mit der Sie ein so wichtiges Themas für Ihr parteipolitisches Interesse in Geiselhaft nehmen, hätte ich
selbst Ihnen nicht zugetraut.
({2})
Es ist eine absurde Situation: Wir beraten hier im
Deutschen Bundestag Anträge zur Klimakonferenz in
Doha. Eigentlich müssten Sie von der Koalition Herrn
Altmaier den Rücken für die Reise nach Doha stärken.
Ich bin mir ziemlich sicher: Wenn er die Wahl hätte zwischen den Anträgen, die auf dem Tisch liegen - dem rotgrünen Antrag und dem Antrag der Koalition -, dann
würde er sich den rot-grünen Antrag aussuchen. Das ist
bezeichnend für Ihre Politik.
Sie stehen in der Europäischen Union für eine Blockadepolitik in allen Energiefragen und in allen Klimaschutzfragen. Sie blockieren die Energieeffizienzrichtlinie. Sie
blockieren das Zustandekommen einer vernünftigen Lösung im Bereich der Teersande. Mittlerweile geht in
Europa das Wort um - zumindest bei klimapolitischen
Fragen -, dass Deutschland das Land der Enthaltungen
sei. Eine Vorreiterrolle, die wir alle einmal für Deutschland reklamiert haben, ist längst passé. Das hat mit Ihrer
Regierung zu tun, mit der schwarz-gelben Blockadepolitik und Ihrer Unfähigkeit.
({3})
Man könnte die Themen jetzt weiter durchgehen. Es
geht hier aber um die internationale Klimapolitik. Auch
beim Fracking und anderen Themen gibt es Kleinkriege
zwischen dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium; es sind keinerlei Fortschritte zu verzeichnen. Ich
frage mich wirklich, wie Sie es verantworten können, einen Umweltminister wie Herrn Altmaier, der sich redlich bemüht - das will ich ihm unterstellen -, nach Doha
zu schicken und ihn dort sozusagen rückgratlos stehen
zu lassen.
({4})
Es gibt einen Zehn-Punkte-Plan von Herrn Altmaier,
mit dem man sich einmal im Einzelnen auseinandersetzen könnte. Vieles ist nicht eingehalten worden. Er hatte
angekündigt, dass es bis Ende September eine abgestimmte Haltung der Bundesregierung zu den Themen
Klimaschutz und Emissionshandel gebe. Ende September ist lange vorbei. Nun stehen Entscheidungen in der
Europäischen Union an, aber wir haben eine heillos zerstrittene Bundesregierung.
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern - die Kanzlerin würde wahrscheinlich sagen: der kundige Thebaner
weiß es; sie selbst kann es übrigens auch wissen -: Der
Emissionshandel der Europäischen Union funktioniert
nicht. Er kann so auch gar nicht funktionieren. Dies ist
die Ursache dafür, dass Ihre dahingestolperte Energiewende vollkommen unterfinanziert ist. Er setzt keine
Anreize für eine effiziente Klimapolitik in Europa. Er
lässt die europäische Wirtschaft - wenigstens diese
müsste Ihnen eigentlich am Herzen liegen - zurückfallen
im weltweiten Wettbewerb um eine zukunftsfähige und
effiziente Energieproduktion.
Wirklich pervers daran ist, dass Herr Rösler mit seiner Art von Wirtschafts-, Klima- und Energiepolitik dafür sorgt, dass die Zweifel an der Funktionsfähigkeit eines marktwirtschaftlichen Instrumentariums wie des
Emissionshandels generell wachsen.
({5})
Der italienische Umweltminister ist mittlerweile so weit,
zu sagen: Der Emissionshandel ist gescheitert. Wir brauchen eine CO2-Steuer, um in der Europäischen Union
vernünftige Signale zu senden. - Das ist das Ergebnis
der Politik Ihres Umweltministers.
Ihr Haushalt ist unterfinanziert. Sie korrigieren ständig Ihre eigenen Ziele. Der Handelspreis für ein Emissionszertifikat liegt mittlerweile nur noch bei gerade einmal 6 Euro. Sie hatten einmal 17 Euro veranschlagt,
dann 10 Euro, jetzt sind wir bei 6 Euro. Ihre Energiewende kann damit nicht vernünftig finanziert werden.
Am Ende geht es aber nicht um Herrn Rösler und
auch nicht um Herrn Altmaier, sondern es geht um die
Kanzlerin. Wir können uns alle an die Bilder erinnern,
wie sie mit Sigmar Gabriel im Eis war, wie sie Pirouetten auf unterschiedlichen Gipfeln gedreht hat - dies alles
zu einem Zeitpunkt, als das Thema Klima ausreichend
öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat. Jetzt, zu einem Zeitpunkt, zu dem zugegebenermaßen die Öffentlichkeit nur noch bedingt hinschaut, ist ihr das Thema
ziemlich egal. Ich finde, das ist eine prinzipienlose Politik. Am Ende ist die Kanzlerin dafür verantwortlich, dass
Herr Altmaier als gerupftes Huhn nach Doha fahren
muss.
({6})
Absurd wird es, wenn mittlerweile Unternehmen die
Bundesregierung auffordern, tätig zu werden und für
eine effizientere und ambitioniertere Klimapolitik in der
Europäischen Union einzutreten.
({7})
Ich bin weit davon entfernt, dass ich hier bestimmte
Energieversorger besonders loben möchte. Ich finde
aber, man sollte es schon einmal erwähnen: EnBW sagt,
dass es aus Sicht von EnBW wesentlich sei, das EU-Klimaziel für 2020 auf 30 Prozent anzuheben.
Es gibt ein gemeinsames Papier von einer Reihe von
Unternehmen, die für ein 30-Prozent-Ziel in der Europäischen Union eintreten. Zu den Unterzeichnern gehören
unter anderem die Vorstandsvorsitzenden von EnBW,
Vattenfall Europe, Deutsche Bahn, Deutsche Telekom,
Otto Group, Burda und Puma. Außerdem gibt es eine gemeinsame Position zum sogenannten Backloading. Ich
will das hier nicht ausführlich erläutern; denn das ist viel
zu kompliziert.
({8})
Es ist zwar kein ausreichendes Mittel hinsichtlich des
europäischen Klimaschutzes, aber immerhin eine Maßnahme, um den Preis vorübergehend zu stabilisieren.
Das ist unterschrieben worden von Shell, Eon und
Alstom.
Bei Ihnen allerdings verfängt das nicht. Ich muss das
wirklich sagen. Herr Rösler führt sich auf wie ein kleiner
beleidigter Junge, dem man jedes Argument vortragen
kann, ohne dass es ihn interessiert. Es ist absurd, dass die
Kanzlerin ihn nicht zur Ordnung ruft und auch keine Anstalten unternimmt, dies zu tun.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Nehmen Sie den Antrag von Rot-Grün, Herr Altmaier. Damit können Sie in
Doha mit gutem Gewissen auftreten. Mit dem Antrag
von Schwarz-Gelb werden Sie sich nur blamieren.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Andreas Jung für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Weltklimakonferenz in Doha hat begonnen. Wir
können sagen: Es hat wieder einmal eine Weltklimakonferenz begonnen. Wir stellen ein Stück weit mit Enttäuschung und Frustration fest, dass das rasante Fortschreiten des Klimawandels einerseits nicht passt zu den
kleinen Schritten andererseits, die im internationalen
Klimaprozess in den vergangenen Jahren gemacht werden konnten.
Für mich ist nur wichtig, dass diese Enttäuschung,
diese Frustration nicht in Resignation umschlägt, sondern dass wir sie in positive Energie umwandeln und daraus den Schwung mitnehmen und sagen können: Wir
wollen auch bei dieser Konferenz das Bestmögliche herausholen.
({0})
Wir wollen so große Schritte machen wie möglich. Das
kommt in dem vorliegenden Antrag zum Ausdruck.
({1})
Unterstützen wir den Bundesumweltminister Peter
Altmaier in dem, was er bei dieser Konferenz erreichen
will.
Erstens. Das Langfristziel bleibt in allererster Linie
der Abschluss eines international verbindlichen Abkommens,
({2})
bei dem alle mitmachen: die großen Emittenten, die Industriestaaten, die Schwellenländer und die EntwickAndreas Jung ({3})
lungsländer. Wir haben das letzte Jahr verstreichen lassen, ohne dass energisch genug verhandelt wurde. Jetzt
muss das Signal sein: Es muss mit Priorität verhandelt
werden. Es darf keine weitere Zeit verloren gehen. 2015
kommt schneller, als man denkt.
({4})
Zweitens geht es darum, kurzfristig dafür Sorge zu
tragen, dass es nach der ersten Kioto-Periode einen geordneten Übergang gibt. Wir brauchen die zweite Verpflichtungsperiode. Sie muss acht Jahre dauern, damit
bis 2020 eine Brücke geschlagen werden kann. Es muss
eine Brücke sein, die durch Ambition und durch Umweltintegrität gekennzeichnet ist und nicht durch heiße
Luft. Deshalb dürfen überschüssige Zertifikate aus dieser Periode nicht in die nächste Periode mitgeschleppt
werden. Nur dann kann Klimaschutz mit dem notwendigen Nachdruck fortgeführt werden. Auch dafür hat der
Bundesumweltminister unsere Unterstützung.
Drittens geht es um das Thema Finanzen. Der Klimafonds wurde auf den Weg gebracht, aber jeder Klimafonds ist nur so gut, wie das Geld, das drin ist. Deshalb
erwarten wir, dass auf der Konferenz klargemacht wird:
Die Industriestaaten stehen zu ihren Zusagen. - Damit
steht und fällt im Übrigen auch die Glaubwürdigkeit.
Deshalb muss sichergestellt werden, dass bis 2020
100 Milliarden US-Dollar tatsächlich in dem Topf enthalten sind. Da haben Deutschland und Europa eine besondere Verantwortung.
({5})
Herr Ott hat gerade auf die kontrovers diskutierten
Punkte hingewiesen. Die Bundesregierung hat unsere
Unterstützung. Gleichzeitig haben wir die klare Erwartung an die Bundesregierung, dass die Vorreiterrolle, die
Deutschland und Europa immer hatten, konsequent fortgeführt wird, und zwar mit glasklaren Positionen.
Ich will zwei Aufgaben nennen. Da ist erstens die Anhebung des CO2-Zieles auf 30 Prozent in Europa. Dieses
Ziel wurde immer noch nicht vereinbart. Wir, jedenfalls
die Kolleginnen und Kollegen im Umweltausschuss,
werben seit langer Zeit dafür. Es muss jetzt passieren.
Wir haben jetzt schon 18 Prozent von 20 Prozent erreicht, das heißt, es geht um 2 Prozentpunkte in den verbleibenden acht Jahren bis 2020. Das ist nicht ehrgeizig,
das ist nahezu lächerlich. Dieses Ziel würde man ohne
weitere Anstrengungen beim Klimaschutz erreichen. Es
muss jetzt etwas passieren. Deshalb unterstützen wir
Peter Altmaier und fordern die Bundesregierung insgesamt auf, diesen Schritt zu tun. Er muss so schnell wie
möglich erfolgen.
({6})
Zweitens möchte ich den europäischen Emissionshandel ansprechen. Wir waren uns über alle Fraktionen
hinweg einig, dass der europäische Emissionshandel das
Herzstück der Klimapolitik der Europäischen Union ist.
Frank Schwabe hat es angesprochen: Dieses Herz
schwächelt im Moment. Man ist von ungefähr 18 Euro
pro Zertifikat ausgegangen, jetzt sind wir am unteren
Ende der Leiter angekommen und liegen mittlerweile bei
8 Euro oder 6 Euro, Tendenz weiter fallend. Bei 4 Euro
- und das sind die Prognosen - wäre der Emissionshandel faktisch tot. Das wäre eine Katastrophe, weil auf internationaler Ebene nicht das Signal ausgesendet würde:
Wir wollen ambitionierten Klimaschutz, wir wollen unser System mit den anderen verbinden. Vielmehr wäre es
ein Signal, dass der Klimaschutz möglicherweise weniger wichtig ist.
({7})
Es wäre im Übrigen auch deswegen fatal, weil dadurch
die notwendigen Investitionsanreize für die Wirtschaft
fehlen würden,
({8})
um tatsächlich in den Klimaschutz zu investieren.
Ein Scheitern des Emissionshandels wäre fatal, weil
wir aus diesen Einnahmen unsere Energiewende finanzieren. Der Energie- und Klimafonds - mit seiner Hilfe
werden die Gebäudesanierung und die Elektromobilität
finanziert und wichtige Aufgaben, die für das Gelingen
der Energiewende essenziell sind, umgesetzt - hat schon
jetzt Federn lassen müssen. Er würde infrage gestellt
werden. Deshalb brauchen wir jetzt ein klares Signal:
Wir wollen an diesem Emissionshandel festhalten.
Am 13. Dezember findet eine Tagung des europäischen Klima-Komitees statt. Wie sich das im Moment
- noch - darstellt, müsste Deutschland sich enthalten,
weil der Bundesumweltminister und der Bundeswirtschaftsminister unterschiedliche Positionen vertreten.
Ich finde, die klare Botschaft muss lauten: Ein Vorreiter
enthält sich nicht.
({9})
Deshalb erwarten wir, dass Deutschland dort eine
klare Position vertritt,
({10})
auch weil wir wissen, dass andere europäische Staaten
auf uns schauen. Es wird gefragt: Wie verhält sich die
Bundesrepublik Deutschland denn jetzt? Deshalb brauchen wir ein klares Signal, das zeigt, dass wir bereit sind
und uns dafür einsetzen, dass ein Teil der überschüssigen
Zertifikate schon jetzt herausgenommen wird. Das ist
der erste, wenn auch minimale Schritt. Der zweite
Schritt ist, dass diese Zertifikate tatsächlich eingestampft
werden, sodass sie nicht wieder auf den Markt kommen
können. Der dritte Schritt sind die strukturellen Reformen, die ein Überleben des Emissionshandels garantieren. Die Alternative - CO2-Steuer und Planwirtschaft
sind vorhin schon genannt worden - wäre nicht besser.
Andreas Jung ({11})
Das kann auch nicht im Interesse des Bundeswirtschaftsministers liegen.
Unsere klare Botschaft lautet: Wir unterstützen Bundesumweltminister Peter Altmaier in all den Punkten,
die ich genannt habe. Er vertritt eine sehr konsequente
Position. Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung
sehr schnell zu einer einheitlichen Position und zu einer
klaren Festlegung in diesen Fragen kommt. Das ist das,
was wir brauchen, um in der Klimapolitik weiterhin als
Vorreiter auftreten und wirken zu können.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Und täglich grüßt das Murmeltier - so könnte
man diese vorweihnachtliche Klimadebatte überschreiben. Die Koalition beschwört jedes Jahr im November
die Vorreiterrolle Deutschlands. Die Opposition rückt
das dann immer wieder gerade. Dann kommt die UNKlimakonferenz, die natürlich zum großen Durchbruch
führen soll, welcher in zwei bis fünf Jahren zu besichtigen wäre. Mitte Dezember wird dann allerorts das Scheitern bedauert.
Parallel dazu steigen Jahr für Jahr die globalen Treibhausgasemissionen. 40 Prozent mehr Klimakiller werden heute in die Atmosphäre geblasen als 1990. Die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen, ist leider kaum
noch zu schaffen. Was das an Hungertoten, Überflutungen und Sturmschäden bedeutet, das wissen inzwischen
die meisten. Ich denke, nicht nur unsere Enkel, sondern
vor allem die Menschen im globalen Süden werden uns
irgendwann dafür verfluchen; denn nur wenige Prozent
der globalen Wirtschaftsleistung hätten ausgereicht, diesen Wahnsinn, der die Erde für immer verändern wird,
zu stoppen.
({0})
Stattdessen werden Banken und Spekulanten gerettet,
werden Reiche immer reicher und Arme immer ärmer. In
der Wachstums-Enquete-Kommission des Bundestages
ist weiterhin schillernder Exot, wer den profitgetriebenen Wachstumswahn auch nur infrage stellt.
({1})
Und jetzt kommen Sie mir nicht mit der tollen Energiewende hierzulande und den steigenden Emissionen in
China auf der anderen Seite des Globus. Denn rund
80 Prozent aller CO2-Emissionen seit der Industrialisierung gehen auf das Konto Europas und der USA. Letztere interessiert das bis heute nicht; das wissen wir ja.
Vor diesem Hintergrund sollte sich die Bundesregierung vielleicht einmal die Frage stellen, ob es bislang
eine gute Strategie Europas war, in den UN-Verhandlungen ständig zu pokern.
({2})
Ob Minderungsverpflichtungen oder Klimaschutzfinanzierungen - die EU ging noch nie in Vorleistung. Es ist
also kein Wunder, dass ein umfassendes Klimaschutzabkommen immer noch in den Sternen steht und Vertrauen
zusehends verspielt wird. Wie ernst sollen uns denn die
anderen nehmen, wenn die EU weiter an dem lächerlichen Ziel einer Minderung um 20 Prozent festhält?
Schließlich sind gegenüber 1990 bereits 18 Prozent erreicht, mit meinem „geliebten“ CDM sogar über 21 Prozent. Acht Jahre lang keinen Klimaschutz betreiben zu
wollen - bis 2020 sind es noch acht Jahre -, Herr
Altmaier, das ist kein Verhandlungsangebot, sondern
eine ganz brutale Provokation.
({3})
Ich sage es noch einmal: Die Verschärfung des EUKlimaschutzzieles auf 30 Prozent ist überfällig.
Deutschland verhindert das, weil sich die FDP der Reform des EU-Emissionshandels verweigert; wir haben es
gerade gehört. Es geht nicht um eine Reform, die die
Wirtschaft - das konnten wir hören - irgendwie erdrosseln würde. Es geht schlicht um die Stilllegung überschüssiger Emissionsrechte, damit die CO2-Preise endlich aus dem Keller kommen.
({4})
Zudem sind die jährlichen Minderungen der Anlagen
an das 30-Prozent-Ziel anzupassen. Doch genau dagegen
wenden sich die Liberalen. Für Wirtschaftsminister
Rösler kommt bereits die Stilllegung der 2 Milliarden
überschüssigen Emissionsrechte nicht infrage. Er will
das Versagen des Emissionshandels zementieren. Sie
sind also mit schuld.
Man muss es ganz klar sagen: Die Blockade der FDP
verhindert die Erreichung des Ziels und damit den Fortschritt. Man muss sich das einmal vorstellen. Dabei ist
die FDP eine Splitterpartei mit Wohlhabenden als Mitglieder, die es, wie Umfragen zeigen, seit Monaten nicht
mehr schaffen würde, im Bundestag vertreten zu sein.
({5})
Ich kann nur hoffen, dass die Kanzlerin endlich aufwacht und ihren Koalitionspartner in die Schranken
weist.
({6})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die internationale Klimapolitik ist hier im Parlament eine Gemeinschaftsaufgabe. Wir haben sie immer so verstanden,
dass wir auf den internationalen Konferenzen gemeinsam aufgetreten sind, unabhängig davon, wer gerade in
der Regierung und wer in der Opposition ist. Vor allen
Dingen aber haben wir in den letzten Jahren immer Präsenz gezeigt. Deshalb halte ich diesen Beschluss des Ältestenrates weiterhin für ein absolutes Missverständnis;
denn es wird nicht berücksichtigt, was auf solchen Konferenzen passiert.
({0})
Wenn wir als Deutscher Bundestag eine immer stärkere Beteiligung an Entscheidungen der Europäischen
Union einfordern, wenn wir selbstbewusst in der Europäischen Union auftreten, dann frage ich mich, warum
das Präsidium und der Ältestenrat dieses Parlaments
glauben, dass man dies auf UN-Konferenzen nicht tun
muss. Die Ergebnisse dieser Konferenzen muss am Ende
schließlich der Bundestag ratifizieren. Deshalb ist es
eine Frage des Selbstbewusstseins dieses Parlaments,
dass man offizielle Delegationen des Deutschen Bundestags und nicht einzelne Abgeordnete zu den Konferenzen entsendet. Das muss sich in diesem Parlament wieder ändern.
({1})
Meine Damen und Herren, was steht in Doha an? Das
erste Ziel ist das Arbeitsprogramm 2015 für das Abkommen, das 2020 in Kraft treten soll. Es ist also eine Zwischenstation des Verhandlungsstranges.
({2})
Das zweite große Ziel, das wir in Doha erreichen
müssen, ist, dass Kioto II am Ende nicht allein aus der
Europäischen Union, Norwegen, der Schweiz und Australien besteht; denn das wäre ein Kioto-Protokoll, das
aufgrund seines beschränkten Wirkungsbereiches auf
weniger als 20 Prozent der Emissionen definitiv keine
Wirkung in der Welt hätte. Deshalb muss es zentrales
Ziel der Bundesregierung sein, dass insbesondere die
großen Volkswirtschaften Russland und die Ukraine ins
Boot geholt werden. Das ist aus meiner Sicht eine zentrale Aufgabe, damit Kioto II zum Erfolg wird.
({3})
Meine Damen und Herren, das dritte Ziel ist: Die Industriestaaten müssen die Finanzierung des Klimaschutzes ernst nehmen. Hier sind wir beim Beitrag Deutschlands. Die Umweltverbände haben im Vorfeld der
Konferenz im Gespräch mit den Abgeordneten des Deutschen Bundestages erfreulicherweise darauf hingewiesen, dass die klimarelevanten Ausgaben im Haushalt
2013 auch nach ihren Berechnungen gegenüber 2012 um
100 Millionen Euro gestiegen sind. Das heißt, Deutschland nimmt seine Verpflichtungen ernst. Wir machen
nicht nur Zusagen, sondern wir schreiben sie auch in den
Bundeshaushalt. Das hat diese Koalition geschafft und
nicht die Opposition mit ihren Forderungen.
({4})
Deshalb haben die Liberalen überhaupt keine Probleme, selbstbewusst in diese Konferenz zu gehen; denn
die meisten dieser Mittel sind im Haushalt von Bundesminister Niebel etatisiert. Das ist ein positives Zeichen
für Doha.
Das zweite positive Zeichen, mit dem wir nach Doha
gehen, ist die deutsche Energiewende. Nicht Prozentzahlen von Ankündigungen sind faszinierend, sondern faszinierend ist die Vision, die Deutschland in die Praxis
umsetzt, nämlich von dem nuklear-fossilen Zeitalter in
das regenerative Zeitalter überzugehen, und zwar ohne
das Wachstum abzuwürgen. Das macht die Energiewende sexy und im internationalen Kontext zu einer Erfolgsgeschichte.
Der Bundesumweltminister fährt hier einen guten Ansatz. Er hat gesagt: Wir wollen mehr Staaten mitnehmen,
die im Bereich der erneuerbaren Energien vorangehen
wollen. Das ist mindestens genauso wichtig wie die anderen Verhandlungsstränge in Doha. Wir müssen mehr
Länder auf dem Weg der Energiewende, die wir in
Deutschland begonnen haben, mitnehmen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition! Herzlichen Glückwunsch, dass Sie pünktlich
zum Ende des Jahres das Klimathema wiederentdeckt haben! Der Umweltminister bekannte letzte Woche, endlich
habe die Klimapolitik wieder den Stellenwert, den sie
lange nicht hatte. Auch Ihnen sei gratuliert, lieber Herr
Altmaier, zu der Erkenntnis, dass der Klimaschutz kein
Kuschelthema alljährlich zur Adventszeit sein darf. Nein,
das Weltklima muss das ganze Jahr und die ganze Legislaturperiode über oberste Priorität haben. Das ist der Anspruch, der heutzutage an jede Bundesregierung gestellt
wird.
({0})
In Ihrem Antrag mit der Überschrift „Globalen Klimaschutz wirksam vorantreiben“ ist technisch so ziemlich alles enthalten; das ist keine Frage. Das BMU hat
gute Vorarbeit geleistet. Aber jenseits der Details, da, wo
die politische Musik spielt, ist Ihr Antrag schönfärberisch und in den konkreten Maßnahmen absolut unzureichend.
({1})
Es ist schon kaum mehr auszuhalten. Sie bezeichnen die
Bundesrepublik wider besseres Wissen als treibende
Kraft in den Klimaverhandlungen
({2})
und behaupten, Deutschland werde seine Vorreiterrolle
im Klimaschutz weiterführen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, Unwahrheiten werden nicht
dadurch wahr, dass man sie ständig wiederholt.
({3})
Lassen Sie es mich ungeschminkt sagen: Ihr Antrag ist
eine unerträgliche klimapolitische Selbstbeweihräucherung.
({4})
Wenn es nach den letzten Jahren der Klimadiplomatie
eine Lehre geben muss, dann die, dass es ein stupides
Weiter-so nicht geben darf. Denn damit kann die globale
Erwärmung nicht in Schach gehalten werden. Ihr Ziel im
Antrag, es müsse wieder ein umfassendes Klimaabkommen mit allen Emittenten verabschiedet werden, zeigt:
Sie befinden sich weiterhin sehenden Auges auf einem
Blindflug. Wenn Sie mit aller Kraft versuchen, es wieder
allen, vor allen Dingen den USA, recht zu machen, werden Sie wie schon 2009 auf dem Klimagipfel in Kopenhagen scheitern. Das darf nicht sein. So etwas darf nicht
noch einmal vorkommen.
Grüne und SPD schlagen deshalb in einem gemeinsamen Antrag ein wirklich modernes Klimaregime vor. An
dieser Stelle vielen Dank den Kollegen von der SPD und
Dank an unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bei
uns ist der Begriff „modernes Klimaregime“ jedoch
keine bloße Worthülse wie bei Ihnen. Um die düsteren
Prognosen einer um 4 Grad wärmeren Welt nicht Wirklichkeit werden zu lassen, sagen wir: kein internationaler
Erfolg ohne nationale Vorreiter.
({5})
Aber wie soll Deutschland mit einem Wirtschaftsminister Rösler Vorreiter sein, der sich allen Ernstes gegen eine Verknappung der Emissionszertifikate ausspricht, was nach Aussage der EU-Kommission zu einem
Zertifikatepreis von circa 4,50 Euro führen würde?
Meine Damen und Herren von der Koalition, das ist nicht
nur klimapolitischer, sondern auch ökonomischer Irrsinn.
({6})
Nein, glaubwürdige internationale Klimapolitik fängt
zu Hause an. Sie geht damit weiter, dass man sich Partner sucht, um gemeinsam voranzugehen. Wir fordern
deshalb, nicht länger auf die Langsamsten zu warten.
Herr Jung, Ihre Forderung von gerade eben ist absolut
widersinnig. Wir dürfen nicht auf die Langsamsten warten, sondern müssen vorangehen und eine Klimapolitik
der unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorantreiben.
Anders werden wir nicht vorankommen.
Unsere Überzeugung ist, dass Deutschland und die
EU den Kern einer solchen progressiven Allianz, eines
Klimaklubs der Pioniere, bilden können. Anders werden
wir den Klimawandel nicht erfolgreich bewältigen
können. Die Zeit des Schönredens vor internationalen
Klimakonferenzen ist vorbei. Es ist an der Zeit, klimapolitisch zu handeln.
Noch eines, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU: Wenn Sie sich in dieser Schicksalsfrage
weiterhin von der FDP am Nasenring herumführen
lassen, werden Sie von ihr auch mit in den Abgrund gezogen.
({7})
Lassen Sie es nicht dazu kommen. Sie sind zwar nicht
unbedingt für die Rettung der FDP verantwortlich. Aber
Sie sind ganz unbedingt für den Schutz der Lebensgrundlagen unserer Zivilisation verantwortlich.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Josef Göppel für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich frage mich: Wie stellen wir es an, dass der Klimaschutz wieder den Stellenwert bekommt, den er verdient? Lieber Kollege Altmaier, was die Konferenz in
Doha betrifft, haben Sie auf jeden Fall die Unterstützung
aller Mitglieder des Umweltausschusses. An dieser
Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei den Mitgliedern
der FDP-Fraktion bedanken,
({0})
die in der gestrigen Sitzung deutlich zum Ausdruck gebracht haben, dass sie die Position des Bundesumweltministers unterstützen. Selbstverständlich ist jetzt
das Kanzleramt gefordert.
({1})
Das Kanzleramt muss in einer Streitfrage zwischen zwei
Fachministerien die Richtlinien der Politik bestimmen.
Das bedeutet hier eine klare Vorgabe für den Klimaschutz.
({2})
Anders geht es wirklich nicht.
Es ist komisch, dass gerade der Teil der Welt, der seit
1990 deutliche CO2-Einsparungen zu verzeichnen hat,
jetzt zu zaudern beginnt. Wegen der Energiewende steht
Deutschland in der Welt unter Beobachtung. Viele sind
davon fasziniert, manche sind skeptisch. Von 1990 bis
Ende 2011 haben wir den Ausstoß von Klimagasen um
26 Prozent reduziert. Dabei muss man natürlich berücksichtigen, dass zwei Drittel davon auf den Umbau der
Industrie in Ostdeutschland und ein Drittel auf das EEG
zurückzuführen sind; alles Übrige kann man fast vergessen.
({3})
Natürlich ist es für uns auch unter innenpolitischen
Gesichtspunkten wichtig, zu wissen, welche Faktoren
wirklich zu dieser Senkung geführt haben.
({4})
Herr Kollege Altmaier, bei einem Thema können Sie
schon jetzt sehr selbstbewusst auftreten - der Kollege
Kauch hat das zu Recht erwähnt -: 2012 haben wir im
Bundeshaushalt einen Betrag von 1,8 Milliarden Euro
für bilaterale Zusagen im Bereich des Klimaschutzes
und für Einzahlungen in internationale Töpfe bereitgestellt. In der letzten Woche wurden von uns 100 Millionen Euro zusätzlich bewilligt, wenn auch auf verschiedene Ministerien verteilt. Deutschland kann in
Doha, was die finanziellen Verpflichtungen angeht, sehr
glaubwürdig auftreten; ich füge hinzu: wenigstens das.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ein Zeichen für
den Durchhänger des Klimaschutzes ist natürlich die
Ablehnung der Delegationsreise durch den Ältestenrat.
Als Obmann der CDU/CSU im Umweltausschuss sage
ich: Da eine Delegationsreise von Abgeordneten zur
Klimakonferenz abgelehnt wird, erwarte ich, dass der
Ältestenrat in Zukunft immer dann, wenn ein Minister
irgendwohin fährt und verhandelt, aus keinem anderen
Fachbereich mehr Abgeordnete mitfahren lässt. Das
wäre die logische Konsequenz.
({5})
Daran zeigt sich, dass dieses Thema noch einmal überdacht werden muss.
Zusammenfassend kann man sagen: Wir Deutschen
können, was die Fakten angeht, gut und selbstbewusst
auftreten. Es ist deshalb politisch für Deutschland und
auch für die Zukunftschancen unserer Wirtschaft auf den
internationalen Märkten nur schädlich, wenn derjenige,
der von den anderen als Vorreiter angesehen wird, nun
selber zu zaudern beginnt. Deswegen - ich sage es noch
einmal - erwarten wir eine klare Festlegung des Kanzleramtes zur Rückenstärkung des Umweltministers für
die nächste Woche in Doha.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11651 und 17/6550 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen damit so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 11 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP mit dem Titel „Die UN-Klimakonferenz in
Doha - Globalen Klimaschutz wirksam vorantreiben“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/11714, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/11514 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPDFraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische
Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 ({0}) und 1373
({1}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/11466 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({2})RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Entgegen den verteilten
Redelisten erteile ich jetzt dem Minister der Verteidigung, Herrn Dr. Thomas de Maizière, das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Staatsminister Link und ich haben vereinbart, heute
innerhalb der Regierung die Rednerreihenfolge zu
tauschen. Daraus ist weiter nichts zu schließen, außer
dass wir beide das vereinbart haben.
({0})
- So ist das.
({1})
Allerdings ist das, was wir jetzt erörtern, kein Grund
zum Spaßen. Wir denken an den 11. September. Ich
glaube, es gibt wenige Daten, die wir so im Kopf haben
und zu denen jeder von uns weiß, was er da gemacht hat.
Dazu gehört der 9. November, dazu gehört der 11. September, dazu gehört sicherlich auch der eine oder andere
private Tag. Politisch gibt es ganz wenige solcher Tage.
Der 11. September gehört dazu.
Die terroristischen Anschläge in Washington und
New York haben unser Leben verändert, unser persönliches, aber auch die Sicherheitslage. Auch das bis dahin
scheinbar ungefährdete Amerika und Europa haben gelernt, dass das Leben täglich Gefahren ausgesetzt sein
kann. Einen Tag später, am 12. September 2001, und
etwas später, am 4. Oktober 2001, stellte der Nordatlantikrat fest, dass die terroristischen Angriffe auf die USA
als Angriff auf alle Bündnispartner im Sinne des Art. 5
des NATO-Vertrages, als Bündnisfall, anzusehen seien.
Damit wurde erstmalig der Bündnisfall festgestellt, dem
auch Deutschland, damals unter Bundeskanzler
Schröder, zugestimmt hat.
Damit war auch die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung zu Maßnahmen der Bündnispartner gegen den Terrorismus beizutragen. Dies begründete den Einsatz
bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen
die USA auf der Grundlage des Art. 51 der Satzung der
Vereinten Nationen und des schon genannten Art. 5 des
NATO-Vertrages. Dies begründet auch unser Engagement im Rahmen der Operation Active Endeavour, die
wir heute diskutieren.
Der Einsatz hat zum Ziel, im Mittelmeerraum zum
Schutz vor möglichen terroristischen Aktivitäten beizutragen. Es geht um die Verteidigung gegen den internationalen Terrorismus.
In diesem Rahmen übernimmt die Bundeswehr folgende Aufgaben: militärische Präsenz in und über See;
Aufklärung, Überwachung und Lagebilderstellung in
und über See; Austausch und Abgleich von Lageinformationen mit anderen Akteuren; Kontrolle des Seeverkehrs und schließlich Unterstützung von NATOOperationen in Reaktion auf mögliche terroristische
Aktivitäten im Mittelmeer.
Über elf Jahre nach Erklärung des Bündnisfalls haben
wir uns natürlich die Frage zu stellen - das wird sicher
gleich diskutiert werden -, ob der Einsatz in seiner
derzeitigen Ausrichtung noch notwendig ist.
({2})
Im Bündnis besteht weiterhin Einigkeit darüber, dass der
Angriff im Sinne des Art. 51 der Satzung der Vereinten
Nationen mit den Anschlägen des 11. September 2001
nicht abgeschlossen war. Vielmehr fand dieser Akt des
Terrorismus in weiteren Anschlägen und Anschlagsversuchen - in London, Madrid und Detroit - eine Fortsetzung. Die Bedrohung dauert bis heute an. Wir gehen
von einer Fortsetzung der terroristischen Gefahr aus,
auch für uns.
Die Operation Active Endeavour leistet einen Beitrag
dazu, hier unser Lagebild zu verbessern. Sie entfaltet
durch ihre abschreckende Funktion auch eine präventive
Wirkung. Gerade deshalb erkennen wir weiterhin das Erfordernis einer bündnisgemeinsamen Präsenz im Mittelmeer und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen militärischen Aufklärung und Überwachung in dieser
Region.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir streben
eine Fortentwicklung dieses Mandats an. Angeregt
durch Deutschland wird über die Weiterentwicklung der
immer stärker netzwerkgestützten Active Endeavour in
der NATO diskutiert. Auch eine Diskussion über die
Notwendigkeit der Beibehaltung des Bündnisfalls als
Grundlage für diesen Einsatz wurde durch Deutschland
initiiert. Aber wenn wir den Bündnisfall gemeinsam erklären, dann werden wir den Bündnisfall auch gemeinsam beenden ({3})
und nicht einseitig; damit das ganz klar ist.
Die NATO begegnet dem internationalen Terrorismus
durch einen zunehmend netzwerkbasierten Ansatz mit einem Schwerpunkt auf Informationsgewinnung und -verarbeitung. Dieser Ansatz soll ausgebaut werden.
Partner der NATO haben bereits das Angebot zur
Teilnahme an Active Endeavour genutzt. Die Operation
führt damit die Prinzipien der kollektiven Verteidigung
unter den NATO-Mitgliedern und der kooperativen
Sicherheit mit Partnern zusammen. Dies bietet einen
Ansatz zur kooperativen Umsetzung der aktuellen maritimen Strategie der NATO.
Die internationale Gemeinschaft darf in ihren umfassenden Anstrengungen zur wirksamen Beseitigung der
gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen
Umstände, die das Entstehen von Terrorismus begünstigen, nicht nachlassen. Ein wichtiger Bestandteil dieser
Anstrengungen bleibt weiterhin die Bereitstellung
entsprechender militärischer Fähigkeiten, auch durch
Active Endeavour im Mittelmeer.
Dafür gebührt unseren Soldatinnen und Soldaten und
ihren internationalen Kameraden unser ausdrücklicher
Dank und unsere Anerkennung.
({4})
Die Bundesregierung beantragt eine Fortsetzung des
Einsatzes unter Beibehaltung der personellen Obergrenze von derzeit 700 Soldatinnen und Soldaten bis
zum 31. Dezember 2013, also um ein weiteres Jahr. Ich
bitte Sie - auch im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten - um eine breite Unterstützung für diesen in der
Weiterentwicklung befindlichen, aber immer noch und
weiterhin richtigen und notwendigen Einsatz.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Dr. Rolf Mützenich hat nun für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts einer außenpolitischen Debatte zu dieser Zeit
ist es schon notwendig, auch ein paar Blicke auf einen
anderen Ort zu richten. Heute wird vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen über den Antrag der
Palästinensischen Autonomiebehörde für einen Beobachterstatus abgestimmt. Die Bundesregierung hat
heute bekannt gegeben, dass sie sich in der Generalversammlung der Stimme enthalten wird. Herr Staatsminister Link, ich glaube, das ist das Mindeste, was Sie tun
konnten, um Präsident Abbas in einer wirklich schwierigen Situation nicht weiter zu schwächen. Jede andere
Entscheidung vonseiten der Bundesregierung hätte in
diesem Parlament mit Unverständnis quittiert werden
müssen. Eine etwas frühere Verlautbarung aus Ihrer
Sicht hätte vielleicht das eine oder andere innerhalb der
Europäischen Union besser ordnen können.
({0})
Wir vonseiten der Sozialdemokratischen Partei hätten
uns schon gewünscht, dass alle 27 Mitgliedstaaten ein
gemeinsames Votum in der Vollversammlung der Vereinten Nationen abgegeben hätten.
({1}),
Da hätte ich mir schon gewünscht, dass Deutschland
eine Führungsrolle übernommen hätte.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich gehe jetzt auf das Mandat ein, zu dem der
Bundesverteidigungsminister heute erneut einen Antrag
auf Fortsetzung eingebracht hat. Ich glaube, wir konnten
hier im Plenum spüren, wie er mit den Argumenten gerungen hat, insbesondere als es um die Begründung der
Bündnissolidarität gegangen ist. Ihm war doch sehr unwohl, weil er wusste, dass auch der Bundesaußenminister in den letzten Debatten sein Unbehagen geäußert und
gegenüber dem Deutschen Bundestag verlautbart hat, er
würde im Bündnis für eine andere Rechtsgrundlage
streiten. Das hätte zu einer deutlichen, zu einer klaren
Außenpolitik gehört. Denn Sie können die Bündnissolidarität und das Vorliegen eines Bündnisfalls nicht endlos
wiederholen und mit den gleichen Worten begründen
- damit entkleiden Sie sozusagen das, was Art. 5 des
NATO-Vertrages hergibt -, weil Bündnissolidarität etwas Besonderes ist. Sinn und Zweck ist, dies in einer besonderen Situation zu nutzen.
Ich glaube, elf Jahre sind letztlich genug, um vonseiten der Bundesregierung zu einer anderen Begründung
zu kommen. Bei einer selbstbewussten Außenpolitik und
insbesondere angesichts der Frage, wie der Terrorismus
bekämpft werden kann, hätte es letztlich einer anderen
Begründung bedurft.
({2})
Herr Bundesverteidigungsminister, im Grunde genommen haben Sie gar nichts über die Aktivitäten dieser
Mission im letzten Jahr berichtet. Wer einmal aufmerksam in die Unterrichtungen des Parlaments geschaut hat,
hat feststellen müssen, dass es im Berichtszeitraum nur
einen Einsatz gegeben hat, nämlich im September, als
die Fregatte „Bayern“ einen Rettungseinsatz durchgeführt hat. Ich finde es sehr anerkennenswert, dass auch
die Bundesmarine, wie es üblich ist, in solchen Fällen
aktiv wird. Aber ich glaube, Herr Bundesverteidigungsminister, das hat mit dem Mandat überhaupt nichts zu
tun, sondern das hat sozusagen etwas mit dem Recht auf
der hohen See zu tun. Ich meine, der Rettungseinsatz ist
richtig gewesen, aber dafür hätte es dieses Mandat nicht
gebraucht.
({3})
Weiterhin hätten Sie dem Deutschen Bundestag berichten müssen, wieso alle paar Monate rund 600 Bundeswehrsoldaten für das Mandat benannt worden sind.
Wir haben einmal überprüft, warum das der Fall war.
Das war deswegen der Fall, weil Schiffe in Richtung der
Mission Atalanta gefahren sind und dann im Mittelmeer
für dieses Mandat umgewidmet wurden. Ich meine, ein
bisschen Zielgerichtetheit wäre für dieses Mandat notwendig gewesen. Ich finde, auch Ehrlichkeit gegenüber
dem Bundestag und gegenüber der Bundeswehr, der
Bundesmarine, wäre angebracht gewesen.
Nun zu einem weiteren Punkt, der in dieser Debatte
ebenfalls Berücksichtigung finden muss. Da ist das Außenministerium gefordert; Herr Staatsminister Link, Sie
werden ja gleich reden. Ich würde mich wirklich darüber
freuen, wenn Sie uns etwas ausführlicher begründen
könnten, warum die Umbrüche in der arabischen Welt
- dies steht zu Beginn der Begründung des Antrages dafür genutzt werden, dieses Mandat zu rechtfertigen.
Ich habe die Diskussion im Deutschen Bundestag und
vonseiten der Bundesregierung immer so verstanden,
dass erst einmal die mutigen Menschen dort, die versuchen, ihre Regime zu stürzen und für demokratische Legitimation einzutreten, von uns unterstützt werden sollen
und dass das nicht mit dem Terrorismus verwechselt
werden darf. Ich glaube, das gehört zur Ehrlichkeit dieses Mandates genauso dazu.
Wir wissen, das Risiko in Bürgerkriegen ist immens;
aber Sie können hier in einer allgemeinen Begründung
nicht die terroristische Gefahr sozusagen herbeireden.
Ich glaube, dieser Hinweis in der Begründung ist falsch
und wird den gesellschaftlichen Umbrüchen, der zeitgeschichtlichen Erosion, gerade in der arabischen Welt
überhaupt nicht gerecht. Ich finde, das gehört nicht in ein
Mandat hinein.
({4})
Herr Bundesverteidigungsminister, Sie plädieren immer für Mandatsklarheit; wir haben das in den letzten
Tagen bei der Diskussion über den Patriot-Einsatz und
viele andere Dinge gehört. Ich glaube, genau bei diesem
Mandat hätten wir Klarheit und Wahrheit gebraucht. Das
haben Sie nicht geleistet. Sie haben das im letzten Jahr
angekündigt, aber auch in diesem Jahr waren Sie dazu
nicht bereit. Deswegen kann ich Ihnen vonseiten meiner
Fraktion nur sagen: Einem solchen Mandat können wir
nicht zustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Michael Link.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich gehe zunächst auf die beiden konkreten Punkte ein,
die Herr Mützenich angesprochen hat.
Sie haben erwähnt, dass in der Begründung des Antrags der Bundesregierung auf das Gesamtumfeld hingewiesen wird. Die Umbrüche in der arabischen Welt sind
natürlich kein kausaler Grund für diesen Einsatz. Was
haben aber die Umbrüche gebracht? Sie haben natürlich
einen Gewinn an Demokratie gebracht. Nehmen wir das
Beispiel Libyen, wo die Wahlen erstaunlich gut verlaufen sind. Das war hinterher. Vorher war dort alles
schwierig; wir wissen das. Das war ein Gewinn an Demokratie.
Ich denke, wir alle sind uns einig, dass jetzt eine
enorme Anzahl von Waffen aus den Beständen der
Gaddafi-Armee auf dem Markt ist, die natürlich auch
von denjenigen genutzt werden, die in das Vakuum hingestoßen sind, das dort nach dem Abtritt der diktatorischen Herrschaft teilweise entstanden ist. Mit diesen
Waffen sorgen sie jetzt verstärkt für Unsicherheit.
Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen
sagen: Hier ist zunächst einmal nicht mehr Sicherheit erreicht worden. In Mali ist das konkret geworden, aber
das gilt auch für andere Länder. Deshalb ist diese Begründung sehr sinnvoll. Wir sagen ganz ausdrücklich:
Jawohl, es gehört zur Ehrlichkeit dazu - und ehrliche
Mandate erteilt diese Bundesregierung -, auf diesen Zusammenhang hinzuweisen.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr in Auslandseinsätze geschickt
werden, dann haben sie einen Anspruch auf besonders
sorgfältig getroffene Entscheidungen unter Abwägung
aller Risiken und Härten; das ist entscheidend. Wir alle
wissen: Es gibt Mandate für Auslandseinsätze, die weitgehend unumstritten sind, und es gibt umstrittene Mandate. Dieses OAE-Mandat, das Mandat für die Operation
Active Endeavour, dessen Verlängerung wir heute beantragen, ist unter allen unseren NATO-Bündnispartnern
vollkommen unumstritten. Das muss man auch einmal
deutlich aussprechen.
OAE ist ein Überwachungseinsatz. Der Einsatz bringt
bei vergleichsweise geringem Aufwand einen großen Ertrag. Durch OAE verdichten wir unser Lagebild insbesondere zum südlichen Umfeld. Die militärische Präsenz
der OAE-mandatierten Schiffe im Mittelmeer entfaltet
eine stark abschreckende Wirkung gegen Terroristen.
Faktisch wirkt sie auch weit darüber hinaus stabilisierend. OAE ist insofern zu einem präventiven Ordnungsfaktor im Mittelmeer geworden und genießt gerade als
solcher auch bei den südlichen Mittelmeeranrainern wie
Marokko, Tunesien oder Algerien eine ganz hohe Akzeptanz.
Insgesamt beteiligen sich gegenwärtig nicht weniger
als 63 Nationen am Austausch von Lagedaten im Rahmen von OAE. Auch das ist ein wenig bekanntes Faktum.
Die sicherheitspolitische Relevanz der NATO-Mission ist im Vergleich zum vergangenen Jahr ohne Zweifel gestiegen. Ich habe das mit dem Hinweis auf die Umbrüche in der arabischen Welt schon erwähnt. Die
Aktivitäten von al-Qaida sind ebenfalls bereits erwähnt
worden. Es besteht deshalb aus unserer Sicht weiter ganz
konkret die Gefahr, dass Al-Qaida-Ableger oder lokale,
der al-Qaida nahestehende Gruppen unkontrollierte Gebiete als Rückzugsräume nutzen. In Syrien und darüber
hinaus hat die Krise längst auch eine regionale Dimension angenommen. Terroranschläge sind Bestandteil der
bewaffneten Auseinandersetzung im syrischen Bürgerkrieg. Auch von al-Qaida anerkannte Terrorgruppierungen profitieren zunehmend von der unübersichtlichen
Lage.
Nicht nur unsere NATO-Partner, sondern die gesamte
Völkergemeinschaft meint daher, dass der Schutz vor
und die Abwehr gegen den internationalen Terrorismus
weiter geführt werden muss. Der Sicherheitsrat bekräftigt dies in aktuellen Resolutionen. International herrscht
Übereinstimmung: Eine defensiv ausgerichtete Mission
wie OAE, die vor allem dem Schutz, der Verteidigung
und der Abschreckung dient, trägt in legitimer Weise zur
Bekämpfung und Verhinderung möglicher Terroraktivitäten bei.
Unsere Bündnispartner - Verteidigungsminister de
Maizière hat darauf hingewiesen - schätzen die Mission
auch, weil es sich um eine vertrauensbildende Maßnahme im Sinne der kooperativen Sicherheit handelt. Ich
möchte darauf hinweisen, dass auch wichtige NichtNATO-Mitgliedstaaten an der OAE bereits teilgenommen haben. Denken wir zum Beispiel an den russischen
oder den ukrainischen Beitrag.
Wir setzen uns - auch darauf hat Kollege de Maizière
hingewiesen - schon seit längerem dafür ein, dass in der
NATO eine Weiterentwicklung des Einsatzes diskutiert
wird.
({1})
Thema Bündnisfall. OAE ist bislang als robustes
Mandat ausgestaltet. Wir halten das für den Erfolg des
Einsatzes für nicht zwingend. Aus unserer Sicht könnte
und sollte OAE auf nichtexekutive Befugnisse beschränkt werden. Wir treffen mit dieser Forderung allerdings nicht auf die Zustimmung unserer NATO-Partner.
Wir können das nicht einseitig ändern. Wir bleiben aber
hartnäckig. Wir verzeichnen auch erste Erfolge.
Bislang ist rechtliche Grundlage für diese Mission
Art. 5 des NATO-Vertrages, also der erklärte Bündnisfall. Dieser Bezug kommt jetzt auf den Prüfstand. Wir
nehmen damit die Forderungen, die insbesondere in dem
Antrag der Fraktion der Grünen erwähnt sind, vorweg:
Ja, die Bundesregierung setzt sich aktiv und engagiert in
der NATO dafür ein, dass der Bündnisfall als Grundlage
für den OAE-Einsatz der NATO im Mittelmeer künftig
entfallen kann. Wir müssen aber erst unsere Partner dafür gewinnen. Wir können und dürfen das nicht alleine
tun. Hier kann ich ebenfalls nur auf das verweisen, was
der Verteidigungsminister eben ausgeführt hat: Wir rufen den Bündnisfall gemeinsam aus, und wir beenden
ihn gemeinsam.
({2})
Auf das Umfeld in Verbindung mit dem heutigen Geschehen in New York ist hingewiesen worden. Ich selbst
hatte die Gelegenheit, gemeinsam mit dem Außenminister und teilweise in seiner Vertretung am letzten Außenministerrat teilzunehmen. Ich möchte noch einmal ganz
ausdrücklich sagen: Wir haben, gerade der Außenminister selbst, wahrlich nichts unversucht gelassen, eine gemeinsame Position in der EU herbeizuführen.
({3})
- Das wissen Sie; exakt. - Aber was tun Sie in einer Situation, wenn sich andere EU-Partner bereits lange vor
der Abstimmung öffentlich eindeutig auf ein Ja festlegen, und zwar nicht nur einer, sondern zwei oder drei,
und damit die Gelegenheit, dass die EU hier gemeinsam
auftritt, in den Wind schlagen? Das ist in der Tat ein Problem, was nun wahrlich nicht die Bundesregierung zu
vertreten hat.
Wir erinnern deshalb an der geeigneten Stelle alle
Partner in der EU sehr kritisch daran, dass sie durch ihre
frühe, einseitige Festlegung auf ein Ja exakt das verhindern, was genau diese EU-Partner in Sonntagsreden immer anmahnen, nämlich eine gemeinsame EU-Position.
Da gibt es eine bunte Schar von Staaten - Sie wissen das
genau -, die sich früh eindeutig auf ein Ja festgelegt haben und dadurch diese Abstimmung, die man mit gutem
Willen und mit einer koordinierten Aktion durchaus
noch einmal hätte verschieben können, zur Unzeit ohne
Not haben eskalieren lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung
beantragt die Fortsetzung der OAE. Auch namens des Auswärtigen Amtes danke ich ausdrücklich unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Dienst im Rahmen dieses Einsatzes. Wir beantragen die Fortsetzung dieses Einsatzes.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Paul
Schäfer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Winston Churchill hat nach 1945
auf die Frage, was denn nun aus dem Münchener Abkommen von 1938 werden solle - das war zwar schändlich, aber völkerrechtlich gültig -, geantwortet: So tun,
als ob es das nicht gäbe!
Vor zwei Jahren habe ich den damaligen Vorsitzenden
des Militärausschusses der NATO, Herrn Di Paola, gefragt, wann und wie denn die NATO den 2001 ausgerufenen Bündnisfall beenden wolle. Er hat mich erstaunt
angesehen und lapidar geantwortet, das sei für die
NATO kein Thema, es habe sich schließlich um einen
auf die Situation bezogenen Akt der politischen Solidarität gehandelt. Das klang nach „Schwamm drüber“ à la
Churchill, wenn nicht der kleine Nachsatz gefolgt wäre:
Außerdem bestünden ja doch die Gefahren des internationalen Terrorismus fort. - Manche sagen: Noch Jahrzehnte. - Der Minister hat es genauso wiederholt.
Das heißt, man kann nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen die Frage stellen, worum es eigentlich
heute bei der Militäroperation Enduring Freedom und
dem NATO-Einsatz Active Endeavour geht. Beide beziehen ihre Legitimation aus den Anschlägen vom
11. September 2001. Der Punkt ist der: Die NATO beruft
sich auf den Verteidigungsfall gegen eine angenommene
globale Bedrohung und leitet daraus die grundsätzliche
Legitimation für den Einsatz von militärischer Gewalt
weltweit ab, präemptiv, präventiv, reaktiv - egal. Das ist
keine abstrakte Theorie, das ist kein linkes Hirngespinst,
das ist blutige Realität: Capture-or-Kill-Operationen in
Afghanistan, Einsatz von Kampfdrohnen in Somalia,
dem Jemen und Pakistan, maritime Taskforce im Indischen Ozean, deren Auftrag völlig unklar ist, Piratenjagd
am Horn von Afrika oder die Jagdkommandos auf AlQaida-Anhänger in Nordafrika im Rahmen von OEF
Trans Sahara.
Enduring Freedom und Active Endeavour sind - man
kann es so sagen - Instrumente zur Etablierung eines
Damoklesschwertes globaler Gewaltandrohung. Ich
finde, das kann so nicht weitergehen.
({0})
Man beruft sich auf Art. 51 UN-Charta und Art. 5 des
Nordatlantikvertrags, aber diese Einsätze in ihrer ganzen
Breite haben mit Verteidigung und Bündnisfall nichts
oder wenig zu tun. Der Schein der Rechtmäßigkeit soll
gewahrt werden, während man sich gleichzeitig unter
dem Vorzeichen dieses Antiterrorkampfes Pauschalermächtigungen für eben diese geografisch nicht begrenzten Militäreinsätze holt.
Paul Schäfer ({1})
Wir sagen dazu ganz eindeutig: Der Krieg gegen den
Terror hat die Welt nicht sicherer gemacht, eher im Gegenteil.
({2})
Er führt zur Fixierung auf militärische Scheinlösungen
und blockiert das Nachdenken über zivile Möglichkeiten, den Ursachen der Konflikte in der Welt zu Leibe zu
rücken.
({3})
Das ist doch der Punkt.
({4})
Wir sagen: Terror muss man entgegentreten, lieber
Kollege Mißfelder, aber der sogenannte Krieg gegen den
Terror muss beendet werden.
({5})
Die Ausrufung des Bündnisfalls, die wirklich eine
Pauschalermächtigung für diese praktisch globalen Militäreinsätze ist, muss ebenfalls zurückgeholt und beerdigt
werden.
({6})
Deshalb werden wir auch dem Antrag der Grünen zustimmen. Der greift eine Kernforderung auf, die wir
schon lange haben.
Was den hier zu verhandelnden Einsatz der Marineverbände im Mittelmeer betrifft, so war schon lange klar,
dass es mit Terrorabwehr nichts zu tun hat.
({7})
Es geht um eine umfassende Überwachungsmission,
zu der die NATO sich selbst mandatiert hat. Der Passus
im Mandat „Unterstützung spezifischer Operationen der
NATO oder weiterer Partner in Reaktion auf mögliche
terroristische Aktivitäten im Mittelmeer“ lässt genug
Spielraum zur Stützung möglicher NATO-Operationen
auch in Nordafrika. Das finde ich alles andere als harmlos.
Jetzt haben Sie eine neue Begründung für die Mittelmeermission entdeckt: die islamischen Terroristen in
Mali. Entschuldigung, das ist ein bisschen sehr weit weg
von der afrikanischen Mittelmeerküste. Und über die
maritimen Fähigkeiten von al-Qaida ist nichts bekannt.
Trotzdem sagen Sie, wir werden davon irgendwie bedroht. Für wie dumm halten Sie eigentlich die deutsche
Öffentlichkeit? OAE ist und bleibt eine Amtsanmaßung
der NATO, der eine solche weltpolizeiliche Aufgabe
nicht zukommt.
({8})
Dafür käme höchstens ein multilaterales Regime der
Anrainerstaaten unter dem Dach der Vereinten Nationen
infrage.
({9})
Aber die NATO agiert im Mittelmeer frei nach dem
Motto: Wir machen, was wir wollen, weil wir es können.
({10})
Dieser Art von Bündnispolitik, die auch noch gefährlich werden kann, muss die Solidarität verweigert werden. Der Antrag der Bundesregierung ist abzulehnen.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katja Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Alle Jahre
wieder kommt das OAE-Mandat, von dem wir sonst
über das Jahr wirklich nicht viel hören. Alle Jahre wieder fragen wir uns, was das eigentlich für eine bewaffnete Auseinandersetzung sein soll, für die wir 700 Soldaten mandatieren. In der letzten Woche waren
tatsächlich faktisch 5 davon im Einsatz. Was sind das für
terroristische Aktivitäten, die im Mittelmeerraum bekämpft werden? Informationsgewinnung ist völlig okay,
Herr Minister, aber dafür brauchen wir keinen bewaffneten Einsatz.
({0})
Völkerrechtliche Grundlage für das Mandat ist immer
noch das Selbstverteidigungsrecht der USA elf Jahren
nach den Angriffen auf das World Trade Center. Dieser
Angriff im Sinne des Art. 51 der Charta der Vereinten
Nationen soll angeblich - der Minister hat es gesagt bis heute andauern. Damit machen Sie sich die Auffassung unseres Bündnispartners zu eigen, die lautet, seit
dem 11. September 2001 befinde man sich durchgehend
und weltweit im Krieg, im sogenannten War on Terror.
Vor diesem Hintergrund meint die amerikanische Regierung, weltweit bewaffnete Einsätze ohne Mandat des
Sicherheitsrates durchführen zu können, inklusive der
gezielten Tötung verdächtiger Personen und ihrer Angehörigen in Pakistan, im Jemen, in Somalia und überall,
wo man diese vermutet. So sehr wir uns alle über den
Wahlausgang in den USA gefreut haben - aber das müssen sich unsere amerikanischen Freunde einfach sagen
lassen: Diese Auffassung ist keine Interpretation des
Völkerrechts; es ist die Negierung des Völkerrechts.
({1})
Gerade unter Freunden und Bündnispartnern muss man
einmal ehrlich zueinander sein, auch wenn es schwerfällt.
Wie lange soll der Bündnisfall, der am 11. September
2001 festgestellt wurde, denn eigentlich noch dauern?
Niemand hat bisher darüber nachgedacht, wie ein solcher Bündnisfall wieder beendet wird. Das war zu Zeiten
des Kalten Krieges vielleicht noch nachvollziehbar, da
man den Bündnisfall für abschreckend genug hielt, dass
er niemals eintritt. Jetzt, wo er eingetreten ist, muss er
aber auch wieder beendet werden. Das kann unseres
Erachtens nur durch einen entsprechenden Beschluss der
NATO geschehen.
Wir haben daher einen Antrag in den Bundestag eingebracht, mit dem wir die Bundesregierung auffordern,
sich im Bündnis für einen solchen Aufhebungsbeschluss
einzusetzen. Diesen Antrag werden wir dann zur zweiten
Lesung dieses Mandats zur Abstimmung vorlegen.
Dem Mandat fehlt es aber nicht nur an völkerrechtlicher Legitimation, sondern auch an einer sinnvollen Begründung. Letzes Jahr hieß es dazu noch, die Operation
Active Endeavour biete einen Ansatzpunkt zur Implementierung der aktuellen maritimen Strategie der NATO.
Offensichtlich ist Ihnen inzwischen selbst aufgefallen,
dass dies nicht zur Legitimierung eines bewaffneten Einsatzes geeignet ist.
({2})
Stattdessen werden jetzt die Lage in Syrien und die
Islamisten in Mali herangezogen. Wörtlich heißt es in
der Begründung:
In Nordafrika sind Aktivitäten terroristischer Gruppierungen festzustellen, insbesondere der al-Qaida
im Maghreb.
Außerdem habe die Krise in Syrien mittlerweile eine
regionale Dimension angenommen.
Diese Begründung macht es nicht besser: Wie sollen
der Bürgerkrieg in Syrien und die Krise in Mali mit UBooten im Mittelmeer bekämpft werden?
({3})
Weiter heißt es in der Begründung wörtlich:
Die Operation Active Endeavour … entfaltet durch
ihre abschreckende Funktion eine präventive
Wirkung.
Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst.
({4})
Die Tatsache, dass deutsche Fregatten auf dem Weg
zum Horn von Afrika auf ihrer Durchfahrt durchs Mittelmeer vorübergehend unter OAE-Mandat fahren, hat in
den letzten Jahren offensichtlich wenig Abschreckung
auf die terroristischen Aktivitäten von al-Qaida in der
südlichen Sahara gehabt,
({5})
wo sie erstmals ein Gebiet kontrollieren, dass doppelt so
groß ist wie die Bundesrepublik.
({6})
Ohne eine sinnvolle Begründung und ohne eine
völkerrechtliche Legitimation fällt meiner Fraktion ein
geschlossenes Abstimmungsverhalten endlich einmal
leicht. Wir lehnen dieses Mandat ab. Wenn Sie Ihrem
Außenminister bei den erforderlichen Gesprächen mit
den Amerikanern den Rücken stärken wollen - dass
diese Gespräche stattfinden, haben wir gerade vom
Staatsminister gehört -, dann sollten Sie das vielleicht
auch tun.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Minister hat zu Recht mit der Erinnerung an
den 11. September begonnen. Ich möchte daran anschließen. Zwar war es nicht die Union, die den Begriff
„uneingeschränkte Solidarität“ im Munde geführt hat,
sondern es waren Vertreter anderer Parteien, aber nichtsdestotrotz müssen wir uns auch deshalb an diese
schrecklichen Ereignisse erinnern, weil wir die Verpflichtung haben, präventiv tätig zu sein.
Deshalb haben wir diesen Aspekt auch in der
Mandatsbegründung besonders betont. Man kann nicht
einfach sagen: Der Bündnisfall ist erledigt. - Erstens haben wir das im Bündnis nicht alleine zu entscheiden. Es
ist schließlich ein Bündnis. Herr Staatsminister Link hat
deutlich dargestellt, weshalb die Situation im Bündnis
nicht so simpel ist.
Zweitens frage ich Sie: Woher wollen Sie wissen,
dass die Bedrohungslage nicht gegeben ist? Die weltpolitische Situation ist schwieriger geworden. Mali und
Syrien sind erwähnt worden. Der arabische Frühling hat
viel Gutes gebracht; er hat aber auch neue Herausforderungen, insbesondere in der Region des Mittelmeers,
gebracht. Vor diesem Hintergrund schafft Präsenz
Sicherheit und verhindert sie nicht. Daher werben wir
für das Mandat, was wir uns gut überlegt haben. Wie bei
jedem Mandat - Herr Schäfer hat in einem Parforceritt
die Mandate miteinander verknüpft - stehen wir natürlich für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land ein. Natürlich sind auch wir froh, dass es
keinen Terroranschlag gegeben hat. Aber warum sind
wir bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus
in den letzten Jahren so erfolgreich? Gerade weil wir
aktiv sind und weil wir die Hände nicht in den Schoß
legen.
({0})
Die schwierige Situation in Mali wird uns in den
nächsten Wochen beschäftigen. Gerade weil die Situation in politischer Hinsicht, aber auch, was die Strukturen in den einzelnen Ländern angeht, so kompliziert ist,
sind die Antworten, die wir geben, kompliziert und nicht
einfach. Der kleine Beitrag, den wir im Rahmen dieser
Mission aktuell leisten, passt zu dem Ansatz, den wir in
der Terrorismusbekämpfung insgesamt gewählt haben:
Präsenz und Abschreckung - auch das sind Mittel zur
Terrorbekämpfung. Für ein Land wie Deutschland, das
als Exportnation ein hohes und gesteigertes Interesse an
sicheren Seewegen hat, ist das ein wichtiger Aspekt. Vor
diesem Hintergrund kann ich Ihre Absage an das Mandat
überhaupt nicht verstehen. Ich bin sogar erstaunt, dass es
der Russischen Föderation leichterfällt, bei diesem Mandat mitzumachen,
({1})
dass es der Ukraine leichtfällt, bei einem NATO-Einsatz
mitzumachen, aber die Opposition hier das geschlossen
für Unfug erklärt. Deshalb sage ich: Wenn ein breiter
Konsens besteht, gegen den internationalen Terrorismus
vorzugehen, dann verstehe ich nicht, warum Sie sich aus
dieser guten Koalition verabschieden.
({2})
Gerade Sie haben den Kampf gegen den internationalen
Terrorismus 2001 unter Rot-Grün, unter Schröder/Fischer
angeführt, indem Sie nach Afghanistan gegangen sind.
Wir sind bemüht, den Bündnisfall in Verantwortung wieder zu beenden und die Truppen abzuziehen.
({3})
Gerade dieser Aufgabe fühlen sich die Regierungsfraktionen verpflichtet. Vielleicht sollte man sich generell - das gilt sowohl für diesen Einsatz als auch für andere; es ist von den Regierungsvertretern ja auch kritisch
angesprochen worden - bei zukünftigen Einsätzen überlegen, wie man Einsätze auch wieder beenden kann. Nur,
wir machen die Arbeit, die Sie nicht erledigt haben, um
das ganz deutlich zu sagen. Das Werben des Auswärtigen Amtes ist in dieser Debatte zur Sprache gekommen.
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass die Präsenz der internationalen Gemeinschaft, eine geschlossene Präsenz auch der NATO,
notwendig ist, um gegen den internationalen Terrorismus vorzugehen. Ich glaube, auch wenn unsere Soldatinnen und Soldaten nur zu einem geringen Teil dort beteiligt sind, gebührt ihnen Dank für das, was sie geleistet
haben. Unserer deutschen Marine - Vertreterinnen und
Vertreter sind heute anwesend - gebührt Dank dafür,
dass sie diese wichtige Aufgabe übernehmen, ob an Feiertagen, ob an Geburtstagen, oder in schwierigen Lagen:
({4})
Die deutsche Marine leistet dort einen hervorragenden
Einsatz.
Es gehört zum Selbstverständnis einer immer erwachsener werdenden Nation wie unserer dazu, dass wir
bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, dass wir uns
nicht wegducken, sondern dass wir auch im Bündnis zu
unserer Verantwortung stehen und dann versuchen, politische Ansätze zu finden, um gemeinsam mit Bündnispartnern - vielleicht bei späteren und weitergehenden
Einsätzen - schon am Anfang zu überlegen, wie man
diese zu einem guten Ende führen kann, um nicht kopflos in Dinge hineinzugehen, aus denen man später nur
schwierig herauskommt, wie wir in Afghanistan sehen.
Das ist eine Lehre, die sowohl für die Regierungskoalition als auch für diejenigen gilt, die diese Einsätze angeführt haben, nämlich für Sie von der Opposition.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11466 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie Zusatzpunkt 8 auf:
13 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Roth ({1}), René Röspel, Dr. Sascha
Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Für eine Generation frei von Aids/HIV bis
2015 - Anstrengungen verstärken und Zusagen in der Entwicklungspolitik einhalten
- Drucksachen 17/10096, 17/11711 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({2})Karin Roth ({3})Helga DaubNiema MovassatUwe Kekeritz
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Petra Pau
Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen
- Drucksachen 17/8493, 17/9713 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({5})Karin Roth ({6})Helga DaubNiema MovassatUwe Kekeritz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich würde jetzt zu gern die Aussprache eröffnen.
({7})
- Gut. Dann gehe ich davon aus, dass mir der Geschäftsführer der FDP-Fraktion bis zum Ende des Tagesordnungspunktes den Beitrag der Kollegin Helga Daub zu
Protokoll gibt.
Das Wort hat nun die Kollegin Karin Roth für die
SPD-Fraktion.
({8})
Ja, Frau Präsidentin, so ist das mit der FDP: Das
Ministerium ist auch nicht da.
({0})
Es ist ja nicht nur die Berichterstatterin. Vielmehr sind
auch Herr Niebel, der Minister, und die Staatssekretärin
offensichtlich nicht in der Lage, diese wichtige Diskussion hier mitzuverfolgen. Immerhin geht es um den
Welt-Aids-Tag am 1. Dezember. Das ist für uns ein guter
Anlass, beispielsweise auch über die parlamentarischen
Aktivitäten bei uns zu diskutieren und darüber, was das
Ministerium macht. Ich finde, das ist eigentlich nicht in
Ordnung.
({1})
Aber so sind wir es bei diesem Minister gewohnt.
({2})
Lassen Sie mich nach dieser schlechten Botschaft zunächst die guten Botschaften nennen: Dank der gemeinsamen internationalen Anstrengungen in den letzten Jahren von Regierungen in den Industriestaaten und den
Entwicklungsländern kann der UN-Aids-Bericht von
2012 feststellen, dass durch die Aids-Politik in den letzten Jahren, seit 2005, ein Rückgang von Todesfällen um
24 Prozent zu verzeichnen ist. Das ist wahrlich eine gute
Botschaft. Immerhin mehr als 600 000 Menschen können jetzt leben; ansonsten hätten sie sterben müssen.
({3})
Dies ist vor allem auch dem verbesserten Zugang zu
den Medikamenten zu verdanken. Dies war auch nur
möglich, weil die Weltgemeinschaft für die Initiative des
Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose
und Malaria seit 2001 Milliarden Dollar zur Verfügung
gestellt hat. Auch Deutschland war von Anfang an dabei
und hat mit seinen Beiträgen Betroffenen geholfen. An
der Stelle ist auch ein Dank an den Globalen Fonds zu
richten; denn immerhin 3,6 Millionen Menschen wurden
mit lebensnotwendigen Aids-Medikamenten versorgt.
Das ist ein gutes Beispiel für internationale Politik.
({4})
Es gibt noch eine weitere gute Botschaft. Die Neuinfektionen sind weltweit auf dem niedrigsten Stand seit
dem Höhepunkt der Epidemie in den 90er-Jahren. Auch
das ist wichtig, dass man sieht: Man kann etwas bewirken. Immerhin - das ist leider eine Tatsache - haben sich
noch immer 2,5 Millionen Menschen neu infiziert. Aber
in Malawi, Botswana und Äthiopien sind die Neuinfektionsraten um 50 Prozent gesunken. Das ist für uns Ermutigung, um auf diesem Weg weiterzumachen.
({5})
Das heißt, die Präventionsmaßnahmen, die Aktionen
in den Ländern zur Verteilung von Kondomen, müssen
weiter unterstützt werden. Wir tun so lange, bis ein
Impfstoff entwickelt ist, gut daran, diese Kampagne
- übrigens auch in unserem Land mit 78 000 Infizierten weiter fortzusetzen und nicht nachzulassen.
({6})
Deshalb ist der Welt-Aids-Tag so wichtig: Wir sollen
von dieser Krankheit nicht ablenken und sollen sie nicht
vergessen. Ohne die von Deutschland aus weltweit agierenden Nichtregierungsorganisationen hätten wir diese
Erfolge jedoch nicht erreicht. Sie sind es, die uns immer
wieder darauf hinweisen und das oftmals verschwiegene
Thema HIV/Aids auf die Tagesordnung setzen. Darüber
sind wir sehr froh. Sie zwingen uns dadurch auch zum
Handeln, weil sie unermüdlich in der Sache kämpfen.
Das ist auch gut so.
({7})
Ich danke deshalb den ehrenamtlichen und den hauptamtlichen Akteuren dafür, dass sie mit diesen Aktionen
letztlich auch an unsere Verantwortung appellieren und
34 Millionen Menschen, die HIV-infiziert sind, immer
wieder zum Gegenstand von Debatten machen.
Sie rütteln auf, trotz Euro-Krise und trotz Nahostkonflikt, damit wir an dieser Stelle die Menschen nicht vergessen. Ohne ein „Aktionsbündnis gegen Aids“ in
Deutschland und weltweit, ohne „Ärzte ohne Grenzen“,
ohne „ONE“, „World Vision“, die „Stiftung Weltbevölkerung“ und viele andere Aktionsgruppen mehr hätten
wir diese Erfolge nicht erreicht. Das muss an diesem
heutigen Tag auch gesagt sein.
Karin Roth ({8})
({9})
Ihre Expertise und ihre Kompetenz sind für wissenschaftliche und politische Debatten unerlässlich. Im Dialog mit ihnen und der Wissenschaft erhalten wir wichtige Impulse, und unsere Strategien und Maßnahmen
werden dadurch verbessert. Es ist auch kein Wunder,
dass der Globale Fonds Vertreter dieser Zivilgesellschaft
in das Board, also in die Entscheidungsgremien, aufgenommen hat. Wir können uns daran ein Beispiel nehmen, indem wir und auch die Entwicklungsländer die
Kompetenzen dieser Zivilgesellschaft aufgreifen.
({10})
Zu guter Letzt gibt es eine weitere gute Nachricht. Bis
2015 können wir eine aidsfreie Generation erreichen,
wenn wir alle Kräfte zusammennehmen und sie bündeln.
Weltweit leben 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren mit
HIV/Aids, weil Mutter und Kind nicht behandelt wurden. Immer noch sind 58 Prozent der Infizierten Frauen;
denn es gibt nicht genügend Medikamente für diese Personengruppen.
Deshalb geht es darum, dass wir die guten Medikamente, die jetzt entwickelt wurden, endlich einsetzen,
beginnend bei der Schwangerschaft über die Geburt bis
zur Stillzeit, also für den gesamten entscheidenden Zeitraum. Anschließend sind die Kinder aidsfrei. Was für
eine Chance, was für eine Möglichkeit! Wir dürfen diese
Chance nicht vertun.
({11})
Bisher bekommen nur 28 Prozent der infizierten Kinder Medikamente. Das müssen wir ändern, und wir können es ändern. Lassen Sie uns, so wie 2001 international
beschlossen, alles tun, um den Zugang der infizierten
Schwangeren zu medizinischer Versorgung zu verbessern. Eine aidsfreie Generation ist keine Vision. Es ist
möglich. Es kann Wirklichkeit werden.
({12})
Dafür tragen wir die Verantwortung.
Eine aidsfreie Generation bedeutet auch, dass wir die
Menschen nicht im Stich lassen. Ohne zusätzliche finanzielle Aktivitäten ist das nicht möglich. Ich bin froh,
dass meine Fraktion aus gutem Grund die Erhöhung der
Mittel für den Globalen Fonds von 200 Millionen Euro
auf 400 Millionen Euro jährlich vorgeschlagen und in
unseren Antrag eingebracht hat.
({13})
Darüber freue ich mich sehr. Damit soll gewährleistet
werden, dass die drei großen Krankheiten - Malaria, Tuberkulose und Aids - bekämpft werden. Denn an diesen
drei großen Krankheiten sterben die meisten Menschen.
Hier hilft auch kein Kartenspielertrick vom Minister,
der nicht anwesend ist. Der Minister hat vor zwei Tagen
eine Presseerklärung mit der Ankündigung „1 Milliarde
Euro für den Globalen Fonds“ herausgegeben. Er hat lediglich vergessen, dazuzuschreiben, dass sich diese
Summe auf fünf Jahre erstreckt. Ich habe nachgeschaut:
Zum Glück ist kein Journalist darauf hereingefallen.
({14})
So klug sind in der Zwischenzeit auch die Journalisten,
etwas genauer hinzuschauen, wenn es um Herrn Niebel
geht, der mit Niebel-Kerzen wirft. Mit Seriosität hat das
nichts zu tun.
Es kommt darauf an, diese Geißel der Menschheit
ernst zu nehmen. Es geht immerhin um Millionen Menschen. Es geht um Kinder, die heute von dieser Krankheit betroffen sind oder es morgen sein können.
Wir wissen, dass es nach wie vor die Stigmatisierung
von bestimmten Gruppen gibt, insbesondere von Sexarbeiterinnen - das sind die Frauen - und Homosexuellen. Wir müssen alles tun, damit auch bei diesen Gruppen enttabuisiert und entkriminalisiert wird. Das ist eine
große Aufgabe, auch in den Entwicklungsländern. Dort
gibt es noch sehr große Vorbehalte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen daher
Sie unseren Antrag „Für eine Generation frei von Aids/
HIV bis 2015“! Dazu brauchen wir politische und finanzielle Unterstützung. Wenn wir das schaffen, tragen wir
Hoffnung in die Länder, in denen Aids-Waisen und Aids
Alltag sind. Enttäuschen wir deshalb diese Hoffnungen
nicht; denn sie sind das eigentlich Wichtige, das wir den
Menschen in diesen Zeiten bringen können.
Ich danke und hoffe, dass Sie unseren Antrag unterstützen.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mich erreichte gerade die Nachricht, dass Frau Parlamentarische Staatssekretärin Kopp auf dem Weg hierher war, aber erkrankt
ist. Sie ist damit für diese Debatte entschuldigt. Das will
ich an dieser Stelle der Vollständigkeit halber sagen. Ich
denke, wir alle wünschen ihr gute Besserung.
Wir setzen die Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin
Sabine Weiss für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Das erste Mal ist mir so richtig bewusst geworden, mit welch furchtbarer Kraft und auch Endgültigkeit
Aids Leben zerstört, als ich vor vielen Jahren als Rechtsanwältin einen Fall für die Aidshilfe übernommen habe.
Ich habe damals die Verteidigung einer jungen aidskranken Frau übernommen, die wiederholt vor Gericht stand.
In dem seinerzeitigen Verfahren ging es um den Diebstahl eines Lippenstiftes. Da die junge Frau aber schon
Sabine Weiss ({0})
mehrfach straffällig geworden war, drohte nun eine Haftstrafe von insgesamt anderthalb Jahren. Mein Hauptargument in der Verteidigung war, dass die Verbüßung einer
nun anstehenden 18-monatigen Haftstrafe faktisch
gleichzusetzen sei mit einer lebenslänglichen Haft; denn
die Lebenserwartung der Frau betrug aufgrund ihrer
Aids-Erkrankung keine 18 Monate mehr.
Das alles ist mittlerweile deutlich mehr als 15 Jahre
her. Seitdem hat sich glücklicherweise viel getan. Dank
guter Therapien ist die Lebenserwartung von HIV/AidsPatienten um Jahrzehnte gestiegen. Dank einer Medikamentenkombination kann mittlerweile sogar die Übertragung des HI-Virus von der werdenden Mutter auf das
Kind verhindert werden.
Dass diese lebensrettenden Medikamente nicht nur in
den reichen Industrieländern zur Verfügung stehen, sondern auch den Menschen in den Entwicklungsländern,
ist eine großartige Leistung. Solche Erfolge hätte vor
Jahren noch kaum jemand für möglich gehalten.
Auch die neuesten Zahlen der Vereinten Nationen
machen Mut und Hoffnung - Frau Kollegin Roth, Sie
haben es gesagt -, dass nach all den Jahren mit immer
höheren Zahlen von Neuinfektionen und Todesfällen
endlich ein Scheitelpunkt erreicht sein könnte. Damit
rückt die Vision einer HIV-freien Generation in erreichbare Nähe. Das sind endlich zunächst einmal gute Nachrichten im Kampf gegen diese heimtückische Krankheit.
Doch: Jeder Aids-Tote ist natürlich einer zu viel. Der
Weg zu einer aidsfreien Generation ist noch lang und
steinig; denn die Gesamtbilanz der Krankheit ist nach
wie vor verheerend. Jedes Jahr infizieren sich immer
noch 390 000 Neugeborene durch die Mutter mit dem
Virus. Immer noch hat rund die Hälfte der Infizierten
keinen Zugang zu lebensrettenden Medikamenten. Und
jeden Tag infizieren sich 7 000 Menschen neu mit HIV.
Es gibt also noch viel zu tun.
Die schärfste und auch beste Waffe im Kampf gegen
diese heimtückische Krankheit ist die Infektionsvorbeugung. Weitreichende Aufklärung über die Krankheit und
Ansteckungsvermeidung sind daher essenziell auf dem
Weg zu dem Ziel der Vereinten Nationen, null Neuinfektionen, null Diskriminierung und null Todesfälle durch
Aids zu erreichen. Prävention ist daher ein zentraler
Punkt des deutschen Engagements.
({1})
Deutschland gehört zu den größten Gebern im Kampf
gegen HIV/Aids. Ein wichtiges Instrument dabei ist der
Globale Fonds, dem wir viele der nun erreichten Erfolge
mit zu verdanken haben. Es ist gut, dass der Globale
Fonds mittlerweile seine Arbeitsweise reformiert hat.
Ich bin daher froh, dass Deutschland als drittgrößter Geber den Globalen Fonds mit 200 Millionen Euro jährlich
in seiner wichtigen Arbeit unterstützt.
Wir setzen aber in unserer Entwicklungszusammenarbeit nicht nur auf ein Pferd. Vielmehr engagiert sich
Deutschland auch sehr erfolgreich bilateral in der HIV-/
Aids-Bekämpfung. Einen großen Teil der 30 Forderungen in Ihrem Antrag, Frau Roth, erfüllt die Bundesregierung also bereits. Das kann man im Übrigen im Positionspapier des BMZ zu diesem Thema nachlesen.
({2})
Letzte Woche - ich hatte das im Ausschuss schon erwähnt - hat Ihr Kanzlerkandidat an dieser Stelle erklärt,
der Schuldenabbau komme nicht schnell genug voran
und mit ihm hätte es keine neuen Schulden gegeben.
({3})
Sie fordern einmal eben mehrere Hundert Millionen
Euro mehr. Woher das Geld kommen soll, dazu finde ich
in Ihrem Antrag leider nichts. Noch einmal: Niemand in
diesem Raum glaubt doch ernsthaft, dass der SPD-Kanzlerkandidat eine Erhöhung der Gelder für den Globalen
Fonds auch nur angedacht hätte.
({4})
Im Übrigen - das noch abschließend - versteht es sich
von selbst, dass ein Antrag mit Anwürfen, die jeglicher
Grundlage entbehren, nicht unsere Zustimmung finden
kann. Behauptungen wie die, die Bundesregierung ließe
im Bereich HIV/Aids ihren vollmundigen Ankündigungen keine Taten folgen,
({5})
sind schlicht und einfach falsch. Dazu gibt es nichts
mehr zu sagen.
({6})
Deutschland ist als einer der größten Geber im Kampf
gegen HIV/Aids sehr erfolgreich. Deutschland wird weiter engagiert gegen diese Geißel der Menschheit kämpfen. Ihren Antrag lehnen wir aber ab.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion der Linken hat nun der Kollege
Niema Movassat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weil wir
heute über das Thema HIV/Aids reden, möchte ich vorweg
allen Ärztinnen und Ärzten, Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit, Forschern, Krankenschwestern und
-pflegern, Hebammen, Nichtregierungsorganisationen,
dem Globalen Fonds und allen anderen danken, die so
unermüdlich dafür kämpfen, die Ausbreitung von Aids
zu beenden.
({0})
Es gibt Erfolge: Immer mehr Betroffene erhalten die
notwendigen Medikamente. Die Zahl der Neuinfektionen geht seit Jahren zurück. - Der Kampf gegen Aids
zeigt, wozu die Menschheit in der Lage ist, wenn sie sich
konsequent einem Problem stellt und Maßnahmen dagegen ergreift. Dasselbe Engagement brauchten wir bei der
Durchsetzung des generellen Menschenrechts auf Gesundheit und auch und vor allem im Kampf gegen Armut
und Hunger.
({1})
Der Kampf gegen Aids ist noch nicht gewonnen.
Noch immer infizieren sich jede Minute fünf Menschen
mit dem HI-Virus. Insbesondere die Mutter-Kind-Übertragung, der fehlende Zugang zu Prävention, beispielsweise Kondomen, und eine fehlende Behandlung in den
ärmsten Ländern der Welt gefährden das Erreichte.
Der Drogengebrauch ist heute übrigens für durchschnittlich ein Drittel aller weltweiten HIV-Neuinfektionen verantwortlich, Subsahara-Afrika ausgenommen.
Hierbei sagen wissenschaftliche Studien ganz klar: Je repressiver die Drogenpolitik, desto höher das Aids-Risiko. SPD, FDP und Union sollten deswegen ihre repressive Drogenpolitik endlich überdenken. Auch das wäre
ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen Aids.
({2})
Nun zum vorliegenden SPD-Antrag. Wir werden ihm
zustimmen. Viele ihrer Forderungen hat die Linke bereits im letzten Jahr in einem Antrag erhoben. Ich nenne
einige Beispiele: Um eine bezahlbare Medikamentenversorgung auch der ärmsten Länder zu gewährleisten,
brauchen wir unbedingt Generika, die preiswerte Kopie
des Originals.
({3})
Die Forderungen nach den dafür notwendigen Flexibilitäten beim Handelsabkommen TRIPS im Bereich der
Eigentumsrechte sind im vorliegenden Antrag fast deckungsgleich mit unseren. Auch unsere Forderung, die
Bundesregierung solle die Produktentwicklungspartnerschaften auf die Bereiche HIV/Aids und Tuberkulose
ausdehnen, haben Sie übernommen - fast wortgleich
auch: Sie wollen die Vorgabe, dass nur ein Drittel der
Entwicklungshilfegelder für multilaterale Instrumente,
also beispielsweise Organisationen der UN, ausgegeben
werden darf, aufheben. Diese Liste ließe sich fortsetzen.
Ich bin froh, dass wir uns inzwischen in so vielen
Punkten einig sind. Aber gerade deshalb finde ich es
umso unverständlicher, dass Sie von der SPD sich geweigert haben, unseren Antrag heute gemeinsam mit Ihrem zu debattieren. Man gewinnt den Eindruck, Sie wollen damit kaschieren, wie viel Sie eigentlich bei uns
abgeschrieben haben.
({4})
2010 haben wir hier einen Antrag mit der Forderung
eingebracht, die Steigerung der Entwicklungshilfequote
auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens verbindlich festzulegen. Sie von der SPD haben damals dagegen
gestimmt. Nun stellen Sie dieselbe Forderung in Ihrem
Antrag. Ein wenig schizophren ist das schon. Dank der
Koalition ist die Realisierung dieser Forderung inzwischen leider unrealistisch.
Diese Bundesregierung gibt im globalen Kampf gegen HIV/Aids eine klägliche Figur ab. Auf Worte folgen
wenige Taten. Ausgerechnet der deutsche Entwicklungsminister hat die Arbeit des Globalen Fonds, der einen
entscheidenden Beitrag zum weltweiten Kampf gegen
Aids leistet, torpediert. Zwischendurch wollte er den
deutschen Beitrag sogar gänzlich streichen. In den letzten drei Jahren hat er das Geld nur mit großer Verzögerung bereitgestellt und die finanziellen Mittel um keinen
Cent erhöht. Damit tappt Herr Niebel in die Falle, vor
der alle Experten warnen: Allein aufgrund der bisherigen
Erfolge sollte man nicht in den Anstrengungen nachlassen.
Gemessen an der deutschen Wirtschaftskraft und am
tatsächlichen Bedarf des Globalen Fonds wäre ein Beitrag von mindestens 400 Millionen Euro für Deutschland angemessen; doch Sie bleiben auch dieses Jahr bei
nur 200 Millionen Euro. So werden wir Aids nicht endgültig besiegen. Statt warmer Worte brauchen wir mehr
Taten von dieser Regierung.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Uwe Kekeritz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben jetzt sehr oft gehört, was wir alles leisten.
Frau Kollegin Weiss, es ist ja schön, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir der drittgrößte Geber für den
Global Fund sind.
({0})
Wenn wir über das Thema Entwicklungszusammenarbeit diskutieren, müssen wir aber auch auf die Prozente
schauen. Es ist klar, dass kleinere Länder nicht so viel
leisten können. Wenn ich auf die traurigen 0,38 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts schaue, die wir zurzeit zur
Verfügung stellen, wird mir bewusst, dass diese Regierung weit hinter ihrem Versprechen zurückbleibt. Die
Kürzungen, die Sie jetzt durchgedrückt haben, verschlimmern diese Situation sogar noch.
Ich denke, dass die Politik dieser Regierung alles andere als positiv ist. Das verstehe ich überhaupt nicht. Unsere Vorlagen im AwZ werden regelmäßig von Ihnen,
den Kollegen der Koalition, gelobt und für richtig befunden. Am Schluss werden sie aber einfach abgelehnt.
Kein Wunder, dass Ihre Politik solche Schwächen aufweist.
({1})
Es ist aber nicht nur Ihre Weigerung, die Ideen der
Opposition aufzugreifen, die eine bessere Politik im
Hause Niebel verhindert. Wenn ein Minister durch seine
eigenen Parteifreunde im Haushaltsausschuss kaltgestellt wird, hat er es natürlich verdammt schwer. Da nützt
es ihm auch nichts, von einer „Lebenslüge“ zu sprechen.
({2})
- Es geht um Finanzen, Frau Kollegin Pfeiffer. - Es geht
um die Lebenslüge, die er heute Morgen als solche entdeckt hat. Herr Niebel ist aber kein Opfer eines süßen
Traumes, der sich jetzt plötzlich in Luft aufgelöst hat,
sondern Herr Niebel hat mit der Kanzlerin dieses Haus
und die Öffentlichkeit seit Jahren bewusst getäuscht.
({3})
Sie haben nie daran gedacht, das 0,7-Prozent-Ziel auch
tatsächlich umzusetzen. Damit hängt aber zusammen,
wie viel Geld wir zur Verfügung haben oder eben nicht.
Dass Minister Niebel auch noch von seinem eigenen
Ausschuss gezwungen wird, der Kürzung seines Etats
zuzustimmen, zeigt, welchen Stellenwert die EZ in der
Koalition hat: einen ziemlich geringen. Dann kommt
von der Koalition immer wieder die Geschichte vom
halb vollen Glas.
({4})
- Frau Pfeiffer, wenn Sie den Mut dazu haben, dann stellen Sie doch eine Zwischenfrage.
({5})
- Aha.
({6})
Möchten Sie die Zwischenfrage zulassen? - Bitte
schön.
Herr Kollege, es ist mir eigentlich zu albern, das immer und immer wieder zu wiederholen:
({0})
Seitdem die Bundeskanzlerin Angela Merkel heißt, haben wir den Haushalt verdoppelt.
({1})
Oder wollen Sie das abstreiten?
({2})
Nein, das wollen wir nicht abstreiten. - Ich will das nur
noch einmal sagen, weil ich es definitiv nicht mehr hören kann. Ich brauche auch keine Antwort, Herr Kollege.
Ich stelle das nur fest, damit Sie nicht immer und immer
wieder dieselben Behauptungen aufstellen.
Frau Kollegin, so geht das nicht. Sie können hier
nicht Fragen stellen und dann sagen: Ich erwarte darauf
keine Antwort. Eine Kurzintervention macht man am
Schluss.
Sie wissen genau, dass das nicht stimmt. Der Haushalt des BMZ ist nicht verdoppelt worden, das ist definitiv nicht der Fall. Wir sind jetzt bei 7 Milliarden Euro.
Früher lag er demnach bei 3 Milliarden Euro?
({0})
Sie haben da einfach falsche Zahlen im Kopf. Das, was
ich Ihnen erzähle, hängt mit den Ausgaben zusammen.
Frau Kollegin Roth hat es gesagt: Das ist eine Frage der
Investitionen. Die Investitionen im Bereich HIV/Aids
sind die effektivsten Investitionen, die wir verzeichnen.
Können Sie mir irgendeinen anderen Bereich nennen, in
dem Geld produktiver investiert wird als in diesem Bereich? Darum sollten wir auch nicht darauf verzichten,
die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen.
({1})
Der Bereich Prävention wurde schon angesprochen.
Das ist ein sehr effektiver Bereich, der nicht nur individuelle Auswirkungen hat. Eine rechtzeitige medikamentöse Behandlung reduziert zum Beispiel auch die Übertragungswahrscheinlichkeiten erheblich; das ist eine
relativ neue Erkenntnis. Zur HIV-/Aids-Prävention gehören natürlich auch die Bereiche Bildung und Aufklärung. Dazu gehört auch der Bereich Frauen- und Mädchenrechte. Auch in diesem Bereich ist sehr viel
geleistet worden.
Meine Damen und Herren, die Anträge von SPD und
Grünen belegen, dass die Gläser halb voll sind. Wir müssen jetzt zeigen, wie wir diese Gläser ganz voll machen im Interesse der einzelnen Menschen, aber auch im Interesse der Nationen, in denen sie leben. Eine Aufstockung
des Global Fund wäre fundamental wichtig.
Bei so vielen Erfolgsmeldungen muss doch auch der
Koalition langsam der Verdacht kommen, dass die enormen Erfolge nur multilateral zustande gekommen sind.
Bilateral hätten wir diese Erfolge nie und nimmer erreichen können.
({2})
Es gibt Bereiche, in denen bilaterale EZ sinnvoll ist; aber
Ihr verbohrter und engstirniger Kampf gegen die multilateralen Ansätze gehört einfach auf den Müllhaufen der
Geschichte.
({3})
Entwicklungszusammenarbeit sollte kein Kampf sein,
sondern auf Kooperation, Transparenz und einer gemeinsamen Zielorientierung basieren. Nur so lässt sich
der Welt-Aids-Tag würdevoll und vor allem glaubwürdig begehen.
Danke schön.
({4})
Ich weise gerne darauf hin, dass es bei Zwischeninterventionen möglich ist, keine Frage zu stellen.
Ich bitte jetzt Johannes Selle, für die CDU/CSU das
Wort zu ergreifen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Lebenserwartung in den Entwicklungsländern liegt bis
zu 30 Jahre unter der in den Industriestaaten. Jedes Jahr
sterben Millionen Menschen an armutsbedingten vernachlässigten Krankheiten, deren Behandlung möglich
gewesen wäre. Das ist eine traurige Realität.
Weltweit sind mehr als 1 Milliarde Menschen an Malaria, HIV und Tuberkulose sowie an 15 weiteren bei uns
eher unbekannten Tropenkrankheiten wie Bilharziose
oder Elefantiasis erkrankt. Weltweit hungert eine gleiche
Anzahl von Menschen. Dabei wird Krankheit oft zur Ursache von Armut und Armut oft zur Ursache von Krankheit.
Seit der Verabschiedung der Millenniumserklärung
im Jahr 2000 sind die Ausgaben für Gesundheit weltweit
stark gestiegen. Die Anstrengungen waren erfolgreich,
wie man an der Senkung der Zahl der HIV-Neuerkrankungen, aber auch an der gesunkenen Kindersterblichkeit sehen kann. Anstrengungen lohnen sich; es bleibt
noch viel zu tun.
Gesundheit ist ein wichtiger Baustein unserer Politik
in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und Forschung. In Deutschland investiert das Bundesministerium für Bildung und Forschung jährlich 11 Millionen
Euro in die Forschung an Universitäten und Forschungseinrichtungen, und zwar immer stärker auch in den Bereich wenig erforschter Krankheiten. Speziell für die unerforschten Krankheiten wurde das Deutsche Zentrum
für Infektionsforschung gegründet.
Auf das Problem der vernachlässigten Krankheiten
hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung
auch durch die Förderung von Produktentwicklungspartnerschaften, sogenannten PDPs, reagiert. Seit 2011 werden bis 2014 jährlich 20 Millionen Euro ausgegeben.
PDPs sind internationale Non-Profit-Organisationen,
die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Impfstoffe, Medikamente und - das ist ganz wichtig - Präventionsmethoden gegen armutsassoziierte und vernachlässigte
Krankheiten wie die genannten Krankheiten oder eben
auch Krankheiten mit hoher Mortalität bei Kindern wie
Meningitis oder Durchfall zu entwickeln, die dann kostengünstig in den Entwicklungsländern auf den Markt
gebracht werden. Deutschland hat sich dazu verpflichtet,
an der Eindämmung der globalen HIV-Epidemie mitzuwirken.
({0})
Wir gehören zu den größten Gebern weltweit, und dabei
machen wir keineswegs eine klägliche Figur.
Die Gewährleistung eines universellen Zugangs zu
Vorsorge, Behandlung und Pflege für alle Menschen ist
und bleibt uns wichtig. Der Globale Fonds, der einen
wichtigen Beitrag leistet, wird von uns mit 200 Millionen Euro jährlich unterstützt. Wir unterstützen ebenfalls
die GAVI Alliance. Nicht unerwähnt dürfen die zusätzlichen bilateralen Projekte bleiben. Seit 2002 unterstützt
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit 47 Arbeitsplatzprogramme und -projekte, die der HIV-Prävention
und dem Zugang zur Behandlung dienen. Diese Vorhaben werden überwiegend als sogenannte Public-privatePartnership-Programme in Zusammenarbeit mit der
Wirtschaft in 15 Ländern, vor allem im südlichen Afrika,
umgesetzt.
Es gibt noch viele andere positive Beispiele: die Unterstützung von staatlichen HIV-Test- und HIV-Beratungsstellen und die Unterstützung von extrem armen
Haushalten in Malawi. Die von uns unterstützte Aufklärung und Bildung zum Thema HIV hat in Uganda Wirkung gezeigt. Dies ist sozusagen Bildung als sozialer
Impfstoff, wie es Bundesminister Niebel einmal sagte.
Einige Punkte aus den Anträgen der Oppositionsfraktionen verdienen es durchaus, verfolgt zu werden. Aber
nicht zu übersehen sind die Forderungen nach mehr
Geld. Im Antrag der Grünen sind es zum Beispiel
180 Millionen Euro, 80 Millionen Euro davon bei den
PDPs und 100 Millionen Euro beim Globalen Fonds.
Abgesehen von der im Haushalt nicht darstellbaren Erhöhung sollten wir zunächst unser Engagement evaluieren, das wir bei den PDPs eingegangen sind.
Im nächsten Jahr wird der designierte neue Chef des
Globalen Fonds, Mark Dybul, seine Arbeit aufnehmen.
Er hat angekündigt, Misswirtschaft entschieden zu bekämpfen. Immerhin ging es dabei um 34 Millionen Dollar. Wir haben unser Engagement verstetigt.
HIV/Aids gehört ausgerottet; da sind wir uns einig.
Aber leider schaffen wir es nicht einmal in Deutschland,
die Zahl der Neuinfektionen auf null zu senken. In diesem Jahr liegt die Zahl der Neuinfektionen bei 3 400,
wie wir gestern in der Süddeutschen Zeitung lesen konnten.
Insgesamt müssen wir die Anträge ablehnen. Die Diffamierung der Regierung durch die Grünen lässt erkennen, dass Sie es eigentlich auch gar nicht anders erwartet
haben.
({1})
Vielen Dank.
({2})
Aus dem Protokoll in die Wirklichkeit auferstanden
ist die Rede von Helga Daub für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Spät, aber eben nicht zu spät. - Dem Ziel, bis 2015
eine Generation frei von Aids zu haben, ist zuzustimmen. Das Ideal sollte man sich immer vor Augen halten,
um schließlich praktische Schritte einzuleiten. Zu den
praktischen Schritten komme ich noch.
Zunächst sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass es
durchaus nennenswerte Fortschritte bei der Bekämpfung von Aids und HIV gibt. Sie kennen sicherlich den
UNAIDS-Bericht, wonach die Zahl der Todesfälle in
den letzten fünf Jahren um 23 Prozent zurückgegangen
ist und die Zahl der Neuinfektionen weltweit auf dem
niedrigsten Stand seit dem Höhepunkt dieser Epidemie
ist. Das ist die gute Nachricht.
({0})
Das wollte ich zur Einleitung sagen.
Der Antrag der SPD enthält 30 Forderungen. Viel
Richtiges ist dabei; aber manches scheint mir - Entschuldigung, dass ich das so sage - ein bisschen an den
Haaren herbeigezogen. Eine kleine Kostprobe: Sie sagen, dass viele Medikamente gekühlt werden müssen,
was in armen heißen Ländern schwierig ist. Deshalb sei
Forschung nötig.
({1})
Liebe Kollegin Roth, zunächst einmal: Wir werden das
Problem, dass es in diesen Ländern heiß ist, nicht abstellen können. Also ist erst einmal Kühlung nötig; das ist
der erste Schritt. Weitere Forschung soll das natürlich
nicht ausschließen.
({2})
Eines möchte ich ganz klar und deutlich feststellen:
Der Vorwurf, Deutschland erfülle seine internationalen
Verpflichtungen nicht, ist von der Hand zu weisen.
({3})
Bestes Beispiel ist der Global Fund, bereits mehrfach
erwähnt. Deutschland ist drittgrößter Geber. Die von Ihnen geforderte Verdopplung der Mittel von 200 Millionen Euro auf 400 Millionen Euro per annum ist nicht nur
aus finanziellen Gründen utopisch.
({4})
Es fehlt auch die Absorptionsfähigkeit in den Entwicklungsländern. Sie kennen die Schwierigkeiten, die der
Global Fund beispielsweise in Uganda mit der Verteilung seiner Mittel hat.
({5})
Richtig ist: Der Eindämmung der HIV-Epidemie wird
in der deutschen Entwicklungspolitik eine herausgehobene Stellung eingeräumt. Unser wichtigstes Ziel ist es,
die Mutter-Kind-Übertragung zu verhindern. Aktuell unterstützt Deutschland in der bilateralen Zusammenarbeit
15 Partnerländer und zwei Regionen in Sachen Gesundheit, Familienplanung und HIV. Ein besonderer Fokus
liegt dabei auf den Ländern des südlichen und östlichen
Afrika. So unterstützen wir auch Partnerschaften zwischen afrikanischen und deutschen Krankenhäusern sowie Forschungseinrichtungen. Ganz konkret stärken wir
damit nationale Gesundheitssysteme. Diesen erfolgreichen Weg wollen wir natürlich weitergehen.
({6})
Daher freut es mich sehr, dass wir solche Kooperationen
ab dem kommenden Jahr auch auf den Bereich der Mütter- und Kindergesundheit ausdehnen werden.
({7})
Prävention bedeutet aber nicht nur medizinische
Maßnahmen, sondern vor allem auch Aufklärung. Damit
hatten wir in Deutschland große Erfolge; auch dort müssen wir das machen.
Wir wollen also neue Wege beschreiten. So werden
zum Beispiel subventionierte und daher für die Bevölkerung erschwingliche Kondome über den lokalen Einzelhandel vertrieben.
({8})
- Ach, Frau Roth. - Wir unterstützen im Rahmen der
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eine Vielzahl
dieser kleineren Projekte, und das mit sehr guten Ergebnissen.
Die Erfahrung zeigt, dass zivilgesellschaftliche Gruppen von der Bevölkerung in Entwicklungsländern besonders gut angenommen werden. Diese Expertise von Vertretern der Zivilgesellschaft muss man einbeziehen. Das
werden wir seitens der Bundesregierung und des Ministeriums auch tun.
Mit der Aufklärung müssen wir uns vor allen Dingen
an junge Menschen wenden, da in dieser Gruppe leider
Gottes die höchste Zahl von Neuinfektionen zu verzeichnen ist. Sehr erfolgreich ist zum Beispiel eine Initiative
in Mosambik, die ausgeweitet werden soll: Während des
Fußballtrainings werden junge Männer spielerisch über
Aids aufgeklärt; das kommt gut an. Mittlerweile soll
diese Initiative auch in anderen Provinzen durchgeführt
werden.
Wir wollen auch finanziell neue Wege gehen. Nur ein
Beispiel - im Ausschuss habe ich es schon erwähnt, Frau
Roth -: Deutschland setzt sich dafür ein - ich halte das
für eine großartige Idee -, dass Schuldnerländern Schulden erlassen werden, sofern die frei gewordenen Mittel
in die nationalen Gesundheitssysteme fließen; ich spreche von der Debt2Health-Initiative. - Ich könnte Ihnen
weitere innovative und erfolgreiche Initiativen vorstellen. Da wir im digitalen Zeitalter leben, empfehle ich Ihnen aber einen Blick auf die Homepage des BMZ. Übrigens sind viele Ihrer Forderungen in die Strategie des
BMZ eingeflossen.
Wir können zwar helfen, bessere Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern zu schaffen, und wir
können die Entwicklungsländer dabei unterstützen, den
Kampf gegen HIV zu führen. Aber die Entwicklungsländer müssen auch selbst einen Beitrag leisten; da können
wir sie nicht ganz außen vor lassen.
Jetzt komme ich zur Finanztransaktionsteuer, die, wie
immer wieder gefordert, zur Finanzierung herhalten soll.
({9})
Sie wissen, Frau Roth - ich habe es schon einmal gesagt -: Das ist ein Knochen, an dem schon viele Hunde
sind; will heißen: Auch andere haben schon ihre begehrlichen Blicke darauf geworfen. Diese Einnahmen würden also nicht nur dem Einzelplan 23 zufließen; das
muss uns leider Gottes klar sein.
Frau Daub, kommen Sie bitte zum Ende?
Ich komme zum Ende, ja.
Weil Ihr Antrag ein bisschen den Charakter eines
Wunschzettels an das Christkind hat, werden wir Ihren
Antrag ablehnen.
Danke, Frau Präsidentin.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Für eine Generation frei von Aids/HIV bis 2015 -
Anstrengungen verstärken und Zusagen in der Entwick-
lungspolitik einhalten“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11711, den
Antrag auf Drucksache 17/10096 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussemp-
fehlung angenommen bei Zustimmung durch die Ko-
alitionsfraktionen. SPD und Linke haben dagegen ge-
stimmt; Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen - Zugang
zu Medikamenten weltweit verwirklichen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/9713, den Antrag auf Drucksache 17/8493 ab-
zulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen. Bündnis 90/Die Grünen haben da-
gegen gestimmt; Linke und SPD haben sich enthalten.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a und b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 17/10771 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/11610 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Daniela Ludwig-
Gustav Herzog-
Werner Simmling-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer
({2}), Arnold Vaatz, Daniela Ludwig,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick
Döring, Michael Kauch, Birgit Homburger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Schienenlärm wirksam reduzieren - Schienengüterverkehr nachhaltig gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens Schutz der Menschen vor Straßen- und
Schienenlärm nachdrücklich verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom
Bahnlärm entlasten - Alternative Güterverkehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen
- Drucksachen 17/10780, 17/5461, 17/6452,
17/4652, 17/11610 Berichterstattung:Abgeordnete Daniela LudwigGustav HerzogWerner SimmlingDr. Valerie Wilms
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor.
Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und bitte um erhöhte Aufmerksamkeit, weil der Kollege Dirk Fischer uns jetzt
nicht nur mit seiner Rede beglücken wird, sondern auch
dadurch, dass er seinen Geburtstag, der nur noch wenige
Stunden andauert, anlässlich dieses Tagesordnungspunktes mit uns begehen wird. Ihnen herzlichen Glückwunsch und Gottes Segen!
({3})
Wir singen nicht. - Sie reden jetzt.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Vielen Dank, verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Als exportorientiertes Land
braucht Deutschland ein leistungsfähiges Schienennetz,
auf dem Waren und Güter bestmöglich transportiert werden können. Der Schienengüterverkehr ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Die Prognosen zeigen, dass diese Entwicklung anhalten wird. Ich sage
ganz deutlich: Wir wollen noch viel mehr;
({0})
denn das ist gut für Wachstum, für Wettbewerbsfähigkeit
und für Beschäftigung.
Mehr Schienengüterverkehr bringt aber auch mehr
Lärm für die Anwohner, insbesondere entlang viel befahrener Strecken mit dichter Besiedlung und engen Tälern, wie zum Beispiel im Rheintal. Dort haben wir erhebliche Probleme mit dem Schienenverkehrslärm, vor
allem weil diese Lärmbelastung nachts zwischen 1 und
5 Uhr an stark befahrenen Strecken besonders hoch ist,
weil dann besonders viel Güterverkehr ohne Einschränkung durch den vertakteten Personenverkehr abgewickelt
wird. Das heißt, der lauteste Schienenverkehr erfolgt
ausgerechnet in der Tiefschlafphase der Bevölkerung.
Das ist bei einem Universalnetz nicht anders möglich,
weil wir am Tage den vertakteten Personennah-, Regional- und Personenfernverkehr haben. Aber das gefährdet
die Gesundheit der Menschen. Deswegen müssen wir
die zunehmende Lärmbelastung durch den Schienengüterverkehr sehr ernst nehmen. Sonst dürfen wir uns nicht
wundern, wenn in der Bevölkerung der Widerstand gegen Infrastrukturprojekte zunimmt.
Zurzeit fließen jährlich 100 Millionen Euro in das
Bundesprogramm für die freiwillige Lärmsanierung an
bestehenden Schienenwegen. Durch das Pilotprogramm
„Leiser Güterverkehr“ fördert der Bund die Ausrüstung
von Güterwagen mit neuen und vor allem leiseren
Bremstechnologien. Da sind im Moment die etwas teurere K-Sohle und die deutlich günstigere LL-Sohle im
Angebot. Letztere hat ihre Dauerfestigkeit noch nicht
hinreichend bewiesen. Deswegen sind die Anwender
hier eher zurückhaltend. Wir hoffen, dass diese Bremstechnologie in wenigen Monaten voll verfügbar sein
wird. Wenn alle in Deutschland eingesetzten Güterwagen so umgerüstet werden, kann damit der Lärm an der
Quelle um 10 Dezibel reduziert und damit der wahrgenommene Schienenlärm faktisch halbiert werden. Das
wäre eine großartige Sache.
Wenn wir dann auch diese Umrüstungsverpflichtung
europaweit durchsetzen, indem die Verordnung, die
heute für neue und vollständig grunderneuerte Güterwagen gilt, auch für umgerüstete verpflichtend gemacht
wird, werden wir nicht nur in Deutschland, sondern auch
in Europa eine deutliche Verbesserung erleben.
({1})
Zum nächsten Fahrplanwechsel - am 9. Dezember wird eine lärmabhängige Spreizung der Trassenpreise
eingeführt, um den Betreibern weitere Anreize zu geben,
ihre Güterwagen lärmtechnisch umzurüsten und zu
modernisieren.
Mit Mitteln des Konjunkturpakets II wurde in innovative Lärmschutztechniken am Gleis investiert, wurden
neue Technologien ausprobiert, damit wir auch bei den
Weichen und in anderen Bereichen Verbesserungen erzielen. Bis 2014 wird die Entwicklung und Erprobung
technisch und wirtschaftlich optimierter VerbundstoffBremssohlen für den Einsatz in Güterwagen gefördert.
Da Verkehrslärm nicht an den Grenzen haltmacht, arbeiten wir auch auf EU-Ebene an Lösungen für den
grenzüberschreitenden Güterverkehr. Hinzu kommt,
dass eine solche Entwicklung auch in der Schweiz und in
anderen Nachbarländern vonstattengeht, sodass laute
Güterwagen durch verschiedene Länder nicht mehr werden fahren können. Auch deswegen ist eine Umrüstung
geboten.
Diese Beispiele zeigen, dass die Koalitionsfraktionen,
die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion, die Belastung
durch den Schienenlärm ernst nehmen und handeln.
({2})
Mit der Abschaffung des Schienenbonus machen wir
heute einen weiteren wichtigen Schritt für einen verbesserten Lärmschutz.
({3})
Dirk Fischer ({4})
Der Bonus von 5 Dezibel bei der Berechnung der
Lärmwerte für den Schienenverkehr gilt seit 1990. Diese
Privilegierung des Verkehrsträgers Schiene ist wegen
des verdichteten Schienenverkehrs schon längst nicht
mehr sachgerecht und auch nicht mehr zeitgemäß. Das
Thema ist also nicht neu, es beschäftigt uns seit Jahren.
Ich muss hier deutlich sagen, dass mir manche Kritik
der Opposition schon etwas merkwürdig erscheint. Denn
Rot-Grün hatte schon bei der Aufstellung des letzten
Bundesverkehrswegeplans, des Bundesverkehrswegeplans 2003, die Chance, den Schienenbonus abzuschaffen.
({5})
Dann brauchten wir uns mit diesem Thema heute gar
nicht mehr zu befassen.
({6})
Wenn die SPD, die Grünen und nun auch der Bundesrat
fordern, die Abschaffung deutlich früher - 2015 oder
schon früher - wirksam werden zu lassen, dann greifen
sie nach meiner Auffassung zu kurz. Ich habe das Gefühl, da offenbart sich Ihr schlechtes Gewissen; denn Sie
hätten ja seinerzeit handeln können.
({7})
- Herr Kollege Pronold, ein früheres Inkrafttreten wäre
ein Eingriff in laufende Planungen, mit dem erhebliche
bereits aufgewendete Mittel zerstört würden, und durch
die Wiederholung des Planungsverfahrens würde erneut
viel Zeit verloren gehen. Wenn dann aufgrund der erhöhten Lärmschutzanforderungen das Nutzen-KostenVerhältnis auch noch unter 1 fällt, dürften diese Projekte
ohne Nachbesserungschance gar nicht mehr realisiert
werden können.
Herr Kollege.
Frau Präsidentin. - Die Koalition hat sich für einen
vernünftigen Weg entschieden: für eine logische
Abschneidegrenze. Die Neuregelung soll mit Inkrafttreten des nächsten Gesetzes zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes mit Bedarfsplan Schiene
für Neu- und Ausbauprojekte gelten. Das wird 2016 der
Fall sein. Das ist vertretbar, das ist verkraftbar für die
Aufgabenträger.
Herr Kollege.
Ich glaube, dass wir eine gute Regelung haben. Wir
sind stolz darauf, dass diese Koalition, jedenfalls beim
Lärmschutz Schiene, eine hervorragende Arbeit geleistet
hat.
({0})
Wir hoffen, dass der Bundesrat das Beratungsverfahren
jetzt auch so zügig durchführt.
({1})
Gustav Herzog hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Kollege Fischer, auch von meiner Seite
herzliche Gratulation zum Geburtstag! Ich hätte mir aber
gewünscht, dass Ihre Fraktion mit der Redezeit heute
Abend nicht ganz so geizig ist. Dieses Thema allein
hätte schon mehr Redezeit verlangt. So sind Sie nun einmal. Aber das ist Ihre Sache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist die Zeit, zu
der sich manche Menschen schon zur Ruhe legen. Die
werden dann in der Nacht das eine oder andere Mal geweckt, insbesondere wenn sie im Mittelrheintal, in Bonn
oder in den großen Städten des Ruhrgebietes leben, wo
in der Nacht der Güterverkehr auf der Schiene durchfährt. Das treibt die Menschen um, und die ganze Politik
ist gefordert.
Deswegen gibt es in der letzten Zeit sehr ungewöhnliche Koalitionen. Da gab es zum Beispiel am letzten
Freitag im Bundesrat sehr intensive und erfolgreiche
Bemühungen von Rheinland-Pfalz und Hessen. Rheinland-Pfalz rot-grün, Hessen schwarz-gelb. Gemeinsam
organisierten sie eine Mehrheit im Bundesrat. Auch der
rheinland-pfälzische Landtag hat in der letzten Wahlperiode bei absoluter Mehrheit der SPD gemeinsam mit
der CDU und der FDP einstimmig einen Antrag beschlossen, den Schienenbonus abzuschaffen, den passiven Lärmschutz zu verbessern, die Wagen umzurüsten
und nach einer alternativen, nach einer neuen Trasse zur
Entlastung des Mittelrheintals zu suchen. Wir Sozialdemokraten haben diesen Antrag inhaltsgleich hier eingebracht. Ich bedauere, dass Sie sowohl im Ausschuss
als auch wohl heute Abend im Plenum dieses klare
Votum der Rheinland-Pfälzer ablehnen.
Ich glaube, es gibt ein großes gemeinsames Ziel:
mehr Güter auf die Schiene. Aber wir werden das nur erreichen, wenn wir die Menschen vom Lärm entlasten
und auch für mehr Akzeptanz sorgen. Deswegen ist es
schade, dass es hier nicht mehr Gemeinsamkeit gibt. Die
gibt es zum Beispiel deshalb nicht, weil die rechte Seite
dieses Hauses drei Jahre gebraucht hat, eine Formulierung aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen. Sie haben
unsere Anträge im Verkehrsausschuss blockiert, sodass
wir sogar nach der Geschäftsordnung zum Thema debattieren mussten.
Wir haben Hinweise bekommen, warum Sie sich so
schwer damit tun, nämlich weil sich Herr Ramsauer öffentlich äußert, jedes Dezibel weniger Lärm koste ihn
1 Milliarde Euro, oder ihr Kanzleramtsminister Pofalla
sagt: In dieser Wahlperiode wird der Schienenbonus
nicht abgeschafft. - Er hat ja recht; denn nach Ihrer
Konstruktion, die Sie mit Ihrer Mehrheit heute Abend
durchsetzen werden, wird der Schienenbonus erst dann
abgeschafft, wenn das Bundesschienenwegeausbaugesetz nach dem Bundesverkehrswegeplan in Kraft tritt.
Das ist aber erst in der übernächsten Wahlperiode der
Fall. Dann nehmen Sie auch noch alle Projekte heraus,
bei denen das Planfeststellungsverfahren zu diesem Zeitpunkt bereits eröffnet worden ist. Da sollten Sie den
Menschen ehrlich sagen, Ihr Versprechen im Koalitionsvertrag, den Schienenbonus in dieser Wahlperiode abzuschaffen, haben Sie gebrochen.
({0})
Frau Kollegin Ludwig, Sie werden nachher sicherlich
sagen: Jetzt redet die böse Opposition wieder alles
schlecht. - Was schlecht ist, kann man nicht schlechtreden. Sie sind nicht ambitioniert, und Sie haben auch kein
gutes Handwerk an den Tag gelegt.
({1})
Wir haben uns in unserer Fraktion nach intensiven
Beratungen mit unseren Haushältern, aber auch mit denjenigen, die die Sache letztendlich umzusetzen haben,
nämlich mit der Bahn, darauf verständigt, zu sagen: Das
Lärmprivileg der Schiene soll 2015 fallen, außer bei den
Maßnahmen, die im Planfeststellungsverfahren sind.
Wir glauben, dass das ein durchaus vertretbarer
Kompromiss zum Schutz der Menschen sowie für mehr
Planungssicherheit und Wirtschaftlichkeit ist. Der Bundesrat hat am letzten Freitag den Termin 2017 beschlossen, allerdings ohne Ausnahmen für laufende Planfeststellungsverfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich
darauf, dass wir im Zusammenhang mit dem Eisenbahnregulierungsgesetz und den Vorschlägen des Bundesrates hier noch einmal intensiv zur Sache reden werden.
Ich will etwas zu den Anträgen sagen und freue mich darüber, dass die Koalition so aufmerksam war, vieles Gute
aus rot-grüner Zeit und aus der Zeit der Großen Koalition aufzuzählen. Herr Kollege Fischer, bekennen Sie
sich doch dazu, dass Sie mit uns in der Großen Koalition
waren, weil wir damals auch viele gute Dinge gemacht
haben.
({2})
Ich fange mit 1999 an. Wir waren die Ersten, die
Mittel für die Lärmsanierung an der Schiene im Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt haben. Wir haben mit
50 Millionen Euro angefangen. - Für das Protokoll: Der
Kollege Fischer nickt mir zu.
({3})
2007 haben wir die Mittel gemeinsam auf 100 Millionen
Euro erhöht.
({4})
Seitdem ist nichts mehr passiert.
({5})
- Sie haben die Mittel nicht erhöht. Wo ist denn die
Erhöhung? Die Haushaltsberatungen sind vorbei. Es
sind weiterhin 100 Millionen Euro; Sie haben es auch
erwähnt.
({6})
Die Pilotprojekte „Leiser Güterverkehr“ und „Leiser
Rhein“ stammen auch nicht von der rechten Seite des
Hauses, sondern von sehr viel früher. Auch die
Lärmschutzpakete I und II, auf die Sie sich heute zu
Recht berufen, stammen aus einer Zeit sozialdemokratischer Bundesverkehrsminister.
Ich habe mich einmal auf die Suche danach gemacht,
welche wegweisenden Anträge Sie früher gestellt haben.
({7})
Dabei bin ich auf einen von der FDP gekommen.
({8})
2006 haben Sie einen schönen Antrag gestellt. Ich lese
Ihnen jetzt einmal vor, wie fortschrittlich und mutig Sie
waren:
({9})
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … in einer Studie zu prüfen, ob die
Anwendung des sog. Schienenbonus gemäß
Anlage 2 zu § 3 der 16. BImschV noch gerechtfertigt ist.
({10})
Das war der wegweisende Antrag der FDP.
Herr Kollege Fischer, wir haben im März 2007 gemeinsam einen Antrag eingebracht, in dem nichts von
einer Abschaffung des Schienenbonus steht; das ist
richtig. Aber auch von Ihrer Seite ist damals nichts
gekommen.
({11})
Wenn Sie also schon mit dem Finger auf uns zeigen,
dann sollten Sie bedenken, dass drei Finger auf Sie zurückzeigen.
Ich will gar nicht abstreiten, dass Sie auch etwas
Neues vorgebracht haben - schön und gut. Es gibt bei
der Rheintalbahn einen Projektbeirat. Hier stellen Sie
eine Menge Geld zur Verfügung. Dieses Geld haben aber
auch andere verdient. Es kann nicht sein, dass sich der
Bundesverkehrsminister Projekte in der Region aussucht
und das Geld nach Gutsherrenart verteilt. So nicht!
({12})
Weil Sie die lärmabhängigen Trassenpreise angesprochen haben, will ich zum Abschluss noch aus einer Mitteilung der Bundesnetzagentur vom 7. November 2012
zitieren. Auf die Frage: „Wie bewertet die Bundesnetzagentur die große Show, die Herr Ramsauer zusammen
mit Herrn Grube gefeiert hat, als sie im Juli letzten
Jahres ihr Papier unterschrieben haben?“, schreibt die
Bundesnetzagentur:
Die EU-Kommission stimmt der Förderrichtlinie
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung nicht zu. Das vorgesehene Modell kann daher nicht starten. Die Deutsche Bahn
Netz AG plant ein Alternativmodell, das jedoch
wegen höherer Systemkosten nur einen schwachen
Anreiz bieten kann.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Dann sage ich noch:
Die Inkraftsetzung, das Überarbeiten des Modells
wird sowohl im Hinblick auf das Modell als auch
auf die Einführung sehr eng getaktet sein.
Sie sehen: Das ist schlechtes Handwerk, und das haben
die Leute nicht verdient. Zu Ihnen kann man wie die
DVZ vom 6. November 2012 nur sagen: „Viel gewollt,
wenig erreicht.“ Schade für die Menschen, die den Lärm
weiter ertragen müssen.
({0})
Michael Kauch hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
am heutigen Abend eine gute Nachricht für die
Menschen in Deutschland, aber vor allen Dingen für die
Menschen in Südbaden, im Mittelrheintal und am
Niederrhein; denn wir werden dafür sorgen, dass der
Lärmschutz bei den Planungen in der Zukunft stärker
berücksichtigt wird. Das ist eine gute Nachricht und ein
Erfolg dieser Koalition.
({0})
Der Lärmrabatt der Bahn wird abgeschafft. Die
Menschen haben bei einem Projekt der Bahn jetzt den
gleichen Anspruch auf Lärmschutz wie dann, wenn eine
Autobahn gebaut wird. Es war ja wirklich ein Treppenwitz, dass bei gleicher Lärmbelastung die Menschen diskriminiert wurden, die an Bahnstrecken und eben nicht
an einer Autobahn lebten.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle hervorheben: Das ist eine
Parlamentsinitiative. Das zeigt, dass dieses Parlament
funktioniert.
({2})
Wir warten nicht nur darauf, dass die Regierung uns Vorlagen macht. Nein, wir handeln selbst. Das ist ein selbstbewusstes Parlament. Das ist eine selbstbewusste Koalition.
({3})
Die Opposition nörgelt jetzt. Das muss die Opposition
natürlich machen, weil sie uns den Erfolg nicht gönnt.
({4})
Aber diese Koalition hat sich durchgesetzt. Was haben
Sie denn gemacht? Wenn ich die SPD so reden höre,
finde ich das schon erstaunlich. Ich erinnere mich nämlich daran, dass ich damals mit genau diesem Antrag bei
einem SPD-Verkehrsminister vor die Wand gelaufen bin.
({5})
Sie haben alle Anträge der FDP, auch den, den Sie genannt haben und in dem noch vorsichtig von einer Überprüfung die Rede war, aber auch die, die danach kamen
und in denen die Abschaffung des Schienenbonus gefordert wurde, abgelehnt, und zwar ohne Alternative. Jetzt
stellen Sie sich hier hin und kritisieren uns dafür, dass
wir Initiativen in dieser Richtung ergriffen haben. Sie
haben nichts gemacht. Sie haben nichts erreicht. Deshalb
ist das an dieser Stelle ein Erfolg dieser Koalition und
der FDP.
({6})
Ich danke insbesondere der Kollegin Laurischk ganz
herzlich, die über viele Jahre in Südbaden dafür gekämpft hat, was wir jetzt erreicht haben.
({7})
Auch vor Inkrafttreten dieses Gesetzes ist es möglich,
ohne Schienenbonus zu bauen. Voraussetzung ist ein Finanzierungskonzept. Im Rheintal wird darüber verhandelt, wie hier ein Finanzierungskonzept aussehen soll.
Diese Koalition wird hier im Deutschen Bundestag einen
Antrag beschließen - wir haben ihn gerade eingebracht -,
mit dem die Finanzierung des Projekts Rheintalbahn abgesichert werden soll.
Im Übrigen ist die Abschaffung des Schienenbonus
nicht das einzige Lärmschutzprojekt, das wir bereits
durchgesetzt haben. Auch das, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, was wir hier durchgesetzt haben,
haben Sie immer abgelehnt. Wir haben bereits in der vergangenen Wahlperiode beantragt, lärmabhängige Trassenpreise einzuführen. Sie als SPD haben das abgelehnt.
Wir führen marktwirtschaftliche Anreize für guten Umweltschutz ein.
Das ist eben der Unterschied zwischen der Umweltpolitik der FDP und der der SPD: Sie reden, wir machen.
Wir machen das mit Marktwirtschaft. Das schafft diese
Koalition, das schaffen Sie nicht.
({8})
Ich glaube, heute ist ein guter Tag für den Umweltschutz und ein guter Tag für die Verkehrspolitik in
Deutschland.
Vielen Dank.
({9})
Sabine Leidig hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Wir Linken sind der Überzeugung, dass
alle Menschen in diesem Land ein Recht darauf haben,
vor krank machendem Verkehrslärm geschützt zu werden.
Es ist gut, dass eine Forderung der Bürgerinitiativen
gegen Bahnlärm nun endlich aufgegriffen wird. Die Regierungskoalition will den sogenannten Schienenbonus
abschaffen, also den Bonus, dass der Lärm auf Bahnstrecken bisher lauter sein durfte als der auf Autobahnen.
Aber wir werden diesen Gesetzentwurf trotzdem ablehnen.
({0})
Dafür will ich drei Gründe nennen.
Erstens. Sie stehen derartig auf der Bremse, dass man
nicht einmal von Schneckentempo reden kann; der Kollege hat es gerade schon angedeutet.
({1})
Erst nachdem der nächste Bedarfsplan Schiene verabschiedet ist, soll die neue Regelung gelten. Das wird
nicht vor 2016 der Fall sein. Realistischerweise wird vor
dem Jahr 2020 keine einzige Bahnstrecke in Betrieb gehen, die leiser geplant wurde. Wir fordern, dass ab sofort
keine Planung mehr ohne besseren Lärmschutz zulässig
ist.
({2})
Zweitens. Das ist noch viel wichtiger: Sie lassen die
Betroffenen völlig im Regen stehen, die an den bestehenden lauten Strecken wohnen. Da donnern immer
mehr, immer schwerere, längere und lautere Güterzüge
durch die Ortschaften, und zwar vor allem nachts; das
haben Sie richtig gesagt. Da sind viele am Rand der Verzweiflung, weil normales Leben, weil Durchschlafen
kaum noch möglich ist, weil die Häuser Risse von den
Erschütterungen bekommen. Es gibt Ortschaften, die regelrecht verkümmern - selbst übrigens am Fuß der schönen Loreley -, weil viele wegziehen und immer weniger
Touristen kommen.
Die bestehende Rechtslage gewährt relativ anspruchsvollen Lärmschutz an Verkehrswegen nur bei Neubau
oder bei erheblichem Ausbau. Dieser Umstand wird übrigens immer wieder als Druckmittel verwendet, wenn
sich Anwohnerinnen und Anwohner gegen den Ausbau
von Straßen und anderen Verkehrswegen wenden. Lärmschutz wird nur in Aussicht gestellt, wenn mehr Verkehr
akzeptiert wird.
Wir verlangen, dass alle Bürgerinnen und Bürger den
gleichen Anspruch auf Lärmschutz haben.
({3})
Konkret: In den nächsten 20 Jahren sollen alle Straßen
und Schienenwege so umgestaltet werden, dass niemand
mehr darunter leidet. Die 20 Prozent der lautesten Strecken müssten innerhalb der nächsten fünf Jahre lärmsaniert werden. Damit hätten zum Beispiel die Menschen
im Rheintal absehbar eine Perspektive und Hoffnung auf
ruhigen Schlaf. Alles andere ist eigentlich unverantwortlich.
Mein dritter und letzter Punkt. Der zusätzliche Lärmschutz ist dieser Regierung keinen zusätzlichen Euro
wert. Großzügig stellen Sie den Ländern frei, die Kosten
dafür zu übernehmen. Natürlich begrüßen wir es, dass in
Baden-Württemberg ein Programm zur Entlastung der
Anwohner am Oberrhein finanziert wird. Aber für die
Leute am Niederrhein sieht es zum Beispiel ganz anders
aus, weil Nordrhein-Westfalen kein Geld dafür hat. Das
geht nicht.
Wir haben beantragt, dass der Bund das Lärmsanierungsprogramm erheblich aufstockt. Das kostet vergleichsweise wenig, wenn man es mit den Milliarden
vergleicht, die für die Zockerbanken überwiesen werden.
({4})
Für die Schienenwege brauchte man jährlich nur etwa
120 Millionen Euro. Das aber wären Investitionen in
mehr Lebensqualität.
Ich komme zum Schluss: Die Linke hat ein alternatives Verkehrskonzept für Niedersachsen ausgearbeitet.
Das habe ich druckfrisch mitgebracht. Es ist sehr schön
geworden.
({5})
Es heißt „Sattelfest und bahnverwachsen“. Das ist der
programmatische Untertitel. Tatsächlich wollen wir viel
weniger schädlichen Lkw-Straßenverkehr, und wir wollen mehr und besseren Bahnverkehr im ganzen Land,
aber der muss leise sein.
({6})
Im Zentrum unserer Verkehrspolitik stehen Mensch,
Umwelt und Klima anstelle von Beton, Sprit und Profit.
({7})
Das Wort hat jetzt Valerie Wilms für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste, die Sie sich noch zu später Stunde bei
diesem doch gerade für die Anwohnerinnen und Anwohner von Schienenstrecken sehr wichtigen Thema hier
aufhalten! Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mich
wirklich wundert, ist, dass wir bei Fragestellungen, bei
denen wir inhaltlich nicht weit auseinanderliegen, zu
keiner für die Bürger vernünftigen, tragfähigen Lösung
kommen. Das erschüttert mich wirklich bei der Debatte,
die wir hören. Wir sind uns alle darüber im Klaren - ich
habe mich hier einmal von der Linksfraktion bis hin zur
FDP-Fraktion mit Herrn Kauch umgesehen -, dass der
Schienenbonus abgeschafft gehört, dass dieses Privileg
einfach nicht mehr relevant ist, dass wir es nicht mehr
vernünftig begründen können. Wir müssen da heran. Eigentlich war es bei der Belastung, die wir mittlerweile
auf der Schiene insbesondere durch den Güterverkehr
haben, falsch, was wir damals gemacht haben.
({0})
Schienenbonus bedeutet, dass Züge 5 Dezibel lauter
sein können. Das bedeutet de facto: mehr als doppelt so
laut wie der entsprechende Straßenverkehr. Das wird
jetzt grundsätzlich anerkannt. Dann kommt ein Gesetzentwurf - auch wenn er aus den Koalitionsfraktionen
kommt, weil Ihre Regierung an der Stelle überhaupt
nicht reagieren wollte - mit einer Regelung, die im Prinzip dazu führt, dass wahrscheinlich erst 2040 das letzte
Neubauobjekt mit Schienenbonus gebaut ist. Denn Sie
müssen sich das einmal ganz genau ansehen. Sie machen
es am Bundesverkehrswegeplan fest, der sicherlich nicht
vor 2017 einigermaßen fertig sein wird. Dann kommt
das Schienenwegeausbaugesetz. Das braucht auch wieder eine gewisse Zeit, bis es vorliegt, und dann gilt es
nur für Planungen, die danach beginnen. Sie wissen selber, wie lange eine Planfeststellung gültig ist. Dazu, wie
Sie es hinbekommen können, das Projekt mit dem ersten
Bagger anzufahren, hat das BMVBS entsprechende Erfahrungen. Ich erinnere nur an den berühmt-berücksichtigten blankgeputzten Spaten in Brunsbüttel. Wenn Sie
das Projekt gestartet haben, dann ist gerade bei Schienenprojekten mit Bauzeiten in einer Größenordnung von
20 Jahren zu rechnen. Das dauert also ewig.
Sagen Sie das den Menschen draußen vor Ort: Wir
lassen Sie noch so lange allein. - Stattdessen lassen Sie
sich feiern, als hätten Sie eine große Tat vollbracht.
Nichts haben Sie gemacht.
({1})
Wenn Sie wirklich eine große Tat für die Menschen
draußen vor Ort vollbringen wollen, dann stimmen Sie
unserem Änderungsantrag zu, dass der Schienenbonus
sofort abgeschafft wird.
({2})
Das ist der eine Punkt, was Neubau und gegebenenfalls Sanierung betrifft. Dann gibt es aber noch die andere Nummer, bei der Sie uns auch wieder etwas vorgaukeln. Sie sind als Supertiger mit der Ankündigung
gestartet: Wir wollen jetzt ein gespreiztes Trassenpreissystem mit marktwirtschaftlichen Konzepten. - Herr
Kauch, ich stimme Ihnen durchaus zu, dass wir marktwirtschaftliche Instrumente nutzen müssen, um den leisen Schienenverkehr zu bevorzugen bzw. in Gang zu setzen. Darin sind wir absolut d’accord: Das müssen wir
nicht alles über ein Regelwerk machen. Dazu gehört
aber auch, dass es wirklich wirksam ist, und dafür reicht
keine lächerliche Spreizung, wie sie jetzt vorgesehen ist,
sondern sie muss für diejenigen, die dort mit lauten
Fahrzeugen herumfahren, schmerzhaft zu spüren sein.
({3})
Auch in diesem Punkt gilt also: Sie sind als großer Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Das Einzige, das Sie mit dem Gesetzentwurf, den Sie sozusagen
in Überspielung, wie Sie es genannt haben, Ihrer eigenen
Regierung hinbekommen haben, ist die Unwirksamkeit.
Sie machen eine reine PR-Show, ausschließlich deshalb,
um noch das letzte halbe Jahr der Regierung durchzustehen.
Wenn Sie für die Menschen draußen vor Ort wirklich
etwas erreichen wollen, dann stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu! Dann haben Sie wirklich etwas erreicht. Das gilt auch für alle anderen Kolleginnen und
Kollegen. Denn wir müssen Lärmschutz machen. Anders geht es nicht.
Frau Kollegin.
Werte Frau Präsidentin, ich habe es vernommen. Ich
nehme jetzt den Lärmschutz wahr, auch hier am Mikrofon.
({0})
Danke.
({1})
Ich hingegen gebe das Wort an Daniela Ludwig für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe Sie in der ersten Beratung unseres Gesetzentwurfs gefragt, wo Sie lieber wohnen würden: an einer
Bahnstrecke oder an einer Autobahn? Sehr richtig und
nicht überraschend kam zunächst die Antwort: Am liebsten an keinem von beiden. Der geltenden Rechtslage zufolge hätten Sie aber antworten müssen - das hat Herr
Kauch auch dargestellt -: An der Autobahn wäre mir lieber, weil die Autobahn im Zweifel leiser sein muss als
der Schienenverkehr.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich lasse es
nicht zu, dass Sie nur aus purem Neid darüber, dass wir
etwas vorwärtsbringen, und aus purer Missgunst, dass
wir Dinge tun, für die Sie Jahrzehnte lang Zeit hatten,
dieses kleinreden.
({0})
Denn klar ist: Sie hatten lange Zeit, den Schienenbonus
abzuschaffen. Ich möchte ihn gar nicht als Privileg bezeichnen; er ist im Prinzip ein Dinosaurier, der eigentlich
beim Lärmschutz nichts zu suchen hat. Lärm von der
Schiene ist genauso unerträglich wie Lärm von der
Straße oder vom Flugzeug.
({1})
Sie hatten lange genug Zeit.
Wir nutzen jetzt unsere Zeit, und wir machen es so,
wie wir es für logisch, vernünftig und - auch wenn bald
Weihnachten ist - insbesondere für finanzierbar und dem
Bundeshaushalt gegenüber für verantwortbar halten.
({2})
Denn wir sind nicht in der Wünsch-dir-was-Show, sondern wir müssen als verantwortungsbewusste Politiker
letztlich entscheiden, was wir verantworten und finanzieren können, was auch für die Vorhabenträger in Ordnung ist und wann sie welche politischen Entscheidungen in ihre Planungen mit einbeziehen können. Ich
meine, dass unser Vorschlag, der jetzt vorliegt, der richtige ist.
Natürlich ist es Ihr Job, zu sagen: Es muss noch mehr
gehen; es muss noch mehr Geld und noch mehr Lärmschutz geben usw. - Aber das brauche ich mir von niemandem sagen zu lassen, der elf Jahre den Verkehrsminister gestellt hat und elf Jahre beim Schienenbonus
rein gar nichts vorwärtsgebracht hat.
({3})
Wenn es so leicht gewesen wäre, dann hätten Sie es
längst machen können, und wir brauchten die Debatte
hier nicht mehr führen. Dann hätte es schon in den letzten Jahren einen besseren Lärmschutz bei den Schienenprojekten gegeben.
Die lärmabhängigen Trassenpreise und Systeme
treten selbstverständlich zum 9. Dezember, also zum
Fahrplanwechsel in wenigen Tagen, in Kraft.
({4})
- Herr Pronold ist anscheinend nicht ausreichend informiert. Das kennen wir von ihm nicht anders.
Es wird eine beihilferechtliche Überprüfung durch die
EU-Kommission geben, was völlig normal ist. Es hat
aber nichts damit zu tun, dass ab sofort die Anträge auf
Förderung gestellt werden können. Es ist ein ambitioniertes Vorhaben; aber auch wir sind wieder diejenigen,
die es anfangen.
({5})
- Hätten Sie es doch gemacht, Herr Herzog. Es ist ja
nett, wie Sie sich hier aufregen. Eigentlich wünsche ich
mir von Ihnen mehr Freude bei diesem guten Vorhaben,
das wir endlich anpacken,
({6})
und nicht dieses ständige Genöle und Gemeckere.
Hätten Sie es besser gemacht, würde ich klatschen und
sagen: Super!
({7})
Es ist das Beste für die Anwohner. Wir machen es. Wir
sind mutig. Wir schreiten voran. Wir führen lärmabhängige Trassenpreise ein. Wir gestalten sie so, dass sie
funktionieren. Wir lassen uns dabei auch nicht von der
EU-Kommission hineinpfuschen.
({8})
Es wird zum 9. Dezember in Kraft treten. Ein bisschen
mehr Mut!
({9})
Sie sind duckmäuserisch und glauben im vorauseilenden
Gehorsam, dass das nicht klappt. Wir machen es. Wir
setzen es um. Der 9. Dezember ist der Stichtag. Die Förderung kann ab sofort beantragt werden.
({10})
Das sind die guten Nachrichten, die wir den Leuten
überbringen können. Wer nur meckert, wird keinen
bleibenden Eindruck hinterlassen. Einen bleibenden
Eindruck hinterlassen wir.
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des BundesImmissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11610,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/10771 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11708 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Die SPD hat
sich enthalten. Die Regierungsfraktionen haben abgelehnt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die
Oppositionsfraktionen haben sich enthalten. Dagegen
gestimmt hat niemand.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11709. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion. Dagegen haben Regierungsfraktionen und SPD gestimmt. Bündnis 90/Die
Grünen haben sich enthalten.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/11610 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der CDU/CSU und FDP
auf Drucksache 17/10780 mit dem Titel „Schienenlärm
wirksam reduzieren - Schienengüterverkehr nachhaltig
gestalten“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch
CDU/CSU und FDP. Enthalten haben sich Bündnis 90/
Die Grünen. Dagegen haben gestimmt SPD und Linke.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5461 mit dem Titel „Für einen neuen Infrastrukturkonsens - Schutz der Menschen vor Straßenund Schienenlärm nachdrücklich verbessern“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Opposition hat dagegen gestimmt.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6452 mit dem
Titel „Bürgerinnen und Bürger dauerhaft von Bahnlärm
entlasten - Alternative Güterverkehrsstrecke zum
Mittelrheintal angehen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen waren dagegen.
Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung
empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/4652 mit dem Titel „Schutz vor Bahnlärm verbessern Veraltetes Lärmprivileg ‚Schienenbonus‘ abschaffen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und Linke gestimmt. Die SPD hat sich enthalten.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Kapitalgesellschaften mit kommunaler Beteiligung
- Drucksache 17/11587 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden hierzu zu Protokoll gegeben.
Die Fraktion Die Linke beklagt in ihrem Gesetzentwurf einen Verlust der Steuerungsfähigkeit von Kapitalgesellschaften mit kommunaler Beteiligung zulasten
der kommunalen Vertretungskörperschaften.
Um dem entgegenzuwirken, fordert die Fraktion
Die Linke Änderungen im Gesellschaftsrecht. Der Antrag geht jedoch fehl.
Der öffentlichen Hand ist es, sofern sie die maßgeblichen verfassungsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Vorgaben beachtet, freigestellt, in welcher Rechtsform sie ihre Unternehmen führt, entweder in den
Rechtsformen des öffentlichen Rechts oder in denen
des Privatrechts. Dies entscheiden die kommunalen
Gebietskörperschaften selbstständig.
Setzt die auch verfassungsrechtlich unterlegte Ingerenzpflicht im konkreten Fall Schranken, die bei Rückgriff auf Gesellschaftsformen des Privatrechts nicht
eingehalten werden können, ist die Konsequenz keine
Veränderung des Privatrechts. Vielmehr wird die Gebietskörperschaft dann auf die ihr ohnehin zur Verfügung stehenden Rechtsformen des öffentlichen Rechts
verwiesen.
Der von der Fraktion Die Linke postulierte Reformbedarf im Bereich des Privatrechts besteht nicht. Der
Gesetzentwurf ist deshalb abzulehnen.
Die Linken sehen Defizite bei GmbHs, vor allem
aber bei Aktiengesellschaften mit kommunaler Beteiligung, weil sie befürchten, diese könnten von den
kommunalen Vertretungskörperschaften nicht richtig
gesteuert werden. Sie stellen fest, dass es bei den Aktiengesellschaften nur Weisungsmöglichkeiten gegenüber den kommunalen Vertretern in der Hauptversammlung gibt, nicht aber gegenüber dem Aufsichtsrat
oder gegenüber dem Vorstand. Bei der GmbH könne
sich die Kommune immerhin im Gesellschaftsvertrag
Weisungsrechte und Zustimmungsvorbehalte gegenüber den Geschäftsführern vorbehalten. Hier muss
schon insofern widersprochen werden, als es auch
nach aktuellem Recht durchaus möglich ist, in der Satzung einer hundertprozentig kommunalen GmbH die
Öffentlichkeit der Aufsichtsratssitzungen vorzuschreiben, aber die Gemeinden tun das nicht - ein sicheres
Indiz dafür, dass sie es offenbar nicht wollen.
Der Gesetzentwurf will deshalb Auskunfts- und
Weisungsrechte zugunsten der Kommunen einführen,
Öffentlichkeit der Sitzungen des Aufsichtsrats vorschreiben und die Amtszeit des Aufsichtsrats mit der
Wahlperiode der kommunalen Vertretungskörperschaft
synchronisieren. Bei Beteiligung Privater an der Gesellschaft soll das Ausbleiben von Überschüssen oder
zeitweiliger Wertverlust der Gesellschaftsanteile die
Interessen der Gesellschaft dann nicht verletzen, wenn
die Maßnahmen, die dazu führen, dem Zweck der Gesellschaft dienen.
Wer Unternehmen mit kommunaler Beteiligung
kaputtmachen will, öffentliche Wohnungsunternehmen,
Energieerzeugungs- und -versorgungunternehmen,
Abfallwirtschaftsbetriebe, Krankenhäuser, Messegesellschaften und überhaupt die Rekommunalisierung in
Kernbereichen der Daseinsvorsorge verhindern und
behindern will, der muss solche Vorschriften in die Welt
setzen. Wer privates Kapital in Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung am liebsten ganz unterbinden
will, der denkt sich Regelungen aus, die den Wertverlust als im öffentlichen Interesse liegend definieren.
Die Linken können sich hier mit der FDP zusammentun, die angeblich im Interesse der Transparenz öffentliche Aufsichtsratssitzungen und weitgehende öffentliche Berichtspflichten und Ähnliches mehr fordert.
Am Ende wird es keinen öffentlichen Unternehmenssektor mehr geben. Mit den kommunalen Interessenverbänden oder mit dem GdW haben die Linken offenbar nicht gesprochen.
Der vorliegende Gesetzentwurf kommt im scheinbar
sachlichen Gewande daher. Aber dieses Gewand kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass er bloß die wirtschaftliche Enteignung aller privaten Aktionäre bezweckt, die Anteile an einem Unternehmen mit kommunaler Beteiligung halten.
Die Linke möchte der öffentlichen Hand hier Sonderrechte einräumen, ungehinderte Plünderung der
Unternehmenskassen und auch noch Freistellung von
jedweder Haftung bzw. Verantwortung für solche Plünderungsaktionen per Gesetz möglich machen. Sollte
der Entwurf Gesetz werden, führte dies dazu, dass kein
Privater mehr Aktien einer einschlägigen Gesellschaft
halten oder erwerben möchte. Der Wert der Aktien
wird daher massiv fallen. Die Vermögensinteressen
der engagierten Privaten finden keinerlei Berücksichtigung. In meinen Augen verletzt der Entwurf daher
unter anderem die Eigentumsgarantie aus Art. 14 unseres Grundgesetzes.
Warum dieser harte Vorwurf zutreffend ist, möchte
ich Ihnen kurz anhand Ihres Entwurfes nachweisen:
Sie wollen jederzeit die Mitglieder der Leitungsorgane nach Gutdünken auswechseln und anweisen können. Das sehen §§ 2 und 5 Ihres Gesetzentwurfes vor.
Eigenverantwortliche Geschäftsführung im besten Interesse der Gesellschaft brandmarken Sie. Aus Vorständen sollen Erfüllungsgehilfen werden. Sie streben
an, dass die eigentliche Leitungsmacht aus dem Vorstand der Gesellschaft in die kommunalen Entscheidungsgremien wandert.
Das mag man wollen. Dann muss man aber auch
die Haftung für die unternehmerischen Entscheidungen übernehmen. Denn die Kommune wird hierdurch
quasi zum herrschenden Unternehmen in einem faktischen Konzern. Schadet hier das herrschende Unternehmen dem beherrschten Unternehmen, so korrespondiert damit ein Haftungsanspruch - insbesondere
dann, wenn das herrschende Unternehmen die Vermögensinteressen der beherrschten Gesellschaft und ihrer Aktionäre verletzt. Das normieren §§ 17, 317 AktG
ausdrücklich.
Genau diese Verantwortung, die mit jeder Leitungsmacht korrespondiert, wollen Sie aber gerade mit Ihrem § 6 ausschließen. Denn darin soll quasi per Gesetz
ausgeschlossen werden, dass die tatbestandlichen Haftungsvoraussetzungen von § 317 AktG erfüllt sind,
selbst dann, wenn die Kommunalpolitik sich an den
Überschüssen einer Gesellschaft bedient oder bewusst
verlustträchtige Maßnahmen anweist. Insbesondere
der Quersubventionierung sollen hier Tür und Tor geöffnet werden.
Die privaten Aktionäre, die sich sonst mithilfe des
§ 317 AktG wehren könnten, werden schutzlos dem Zugriff der Kommunalpolitik auf das Vermögen der Gesellschaft ausgeliefert. Ob es jemals zu Dividendenausschüttungen kommen kann, die vor dem Hintergrund
privater Investition völlig legitim sind und ja den
Grund für die Investition privaten Kapitals darstellen,
bleibt völlig offen. Der Wert von Anteilen an einer solchen Gesellschaft tendiert - jedenfalls nach Ertragswertmethode - gegen null. Genau das nenne ich eine
wirtschaftliche Enteignung der privaten Aktionäre.
Daher kann ich diesem Hohen Hause nur empfehlen, den Entwurf abzulehnen.
Die Kommunen und ihre Bürgerinnen und Bürger
verlieren zunehmend den Einfluss auf ihre Unternehmen. Der Umstand, dass kommunale Unternehmen
mittlerweile überwiegend privatrechtlich betrieben
werden, hat zur Folge, dass es immer schwieriger
wird, diese Unternehmen demokratisch zu kontrollieren und unternehmerische Entscheidungsprozesse
transparent zu machen. Häufig verfügen weder die
Bürgerinnen und Bürger noch die kommunalen Mandatsträgerinnen und Mandatsträger über ausreiZu Protokoll gegebene Reden
chende Informationen, um die Aktivitäten der kommunalen Unternehmen wirksam zu kontrollieren.
Dieses Thema war in der letzten Wahlperiode schon
einmal Gegenstand unserer Debatte. Seinerzeit hat sogar die FDP, die noch in der Opposition war, ein höheres Maß an Transparenz für kommunale Gesellschaften gefordert und einen entsprechenden Antrag
eingebracht. Seitdem sie in der Regierung ist, verfolgt
die FDP dieses Anliegen aber offensichtlich nicht weiter.
Mit dem derzeit zu beobachtenden Trend zu Rekommunalisierung wird die Bedeutung kommunaler Unternehmen in Zukunft noch ansteigen. Dabei stellt sich
auch politisch verstärkt die Frage, welche kommunalen Unternehmen wir in Zukunft wollen und wie wir
mit den ganz unterschiedlichen derzeit bestehenden
Formen kommunaler Unternehmen umgehen.
Klar ist, dass öffentliches Eigentum allein nicht
zwingend zu mehr Transparenz und demokratischer
Kontrolle führt.
Wir als Linke streiten für transparente kommunale
Unternehmen, die in demokratisch legitimierte kommunalpolitische Strukturen eingebettet sind und bei
denen die Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen
demokratischen Einfluss auf die Unternehmenspolitik
ausüben können. Diese Bedingungen ergeben sich
nach unserer Auffassung bereits aus dem öffentlichen
Zweck, den kommunale Unternehmen nach den einschlägigen Landesgesetzen erfüllen müssen.
Betrachtet man die derzeitigen bundes- und landesrechtlichen Rahmenbedingungen für kommunale Unternehmen, stellt man fest, dass es in Bezug auf Transparenz und demokratische Kontrolle große qualitative
Unterschiede gibt. Eine große Rolle spielt dabei die
Frage, ob ein kommunales Unternehmen in öffentlichrechtlicher oder in privater Rechtsform betrieben
wird. Bei Regie- und Eigenbetrieben sowie bei Anstalten des öffentlichen Rechts sind mit unterschiedlichen
Intensitätsgraden Einflussmöglichkeiten der kommunalen Organe gesetzlich vorgesehen, die immerhin
eine gewisse demokratische Kontrolle ermöglichen.
Bei kommunalen Unternehmen, die als Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung betrieben werden, vollzieht sich die unternehmerische Willensbildung in den jeweiligen Organen der
Gesellschaft. Der Einfluss der demokratisch gewählten kommunalen Vertretung ist im Vergleich zu den
kommunalen Unternehmen, die in öffentlich-rechtlicher Rechtsform betrieben werden, deutlich geringer.
Neben diesem Mangel an Einflussmöglichkeiten besteht bei privatrechtlichen Unternehmen auch ein
Mangel an Transparenz bei der unternehmerischen
Entscheidungsfindung. Die demokratische Kontrolle
scheitert in der Praxis daher auch an mangelnder Information der kommunalen Mandatsträgerinnen und
Mandatsträger über die Vorgänge in den Unternehmen
und an der Verschwiegenheitspflicht. Die Bürgerinnen
und Bürger erhalten erst recht keine Informationen.
Auch wenn Vertreter der Kommune beispielsweise im
Aufsichtsrat einer kommunalen Aktiengesellschaft sitzen, unterliegen sie in vielen Fällen einer gesetzlichen
Verschwiegenheitspflicht. Darüber hinaus besteht bei
kommunalen Unternehmen, an denen Private beteiligt
sind, grundsätzlich ein Interessenkonflikt zwischen
dem von der Kommune in erster Linie verfolgten öffentlichen Zweck und dem privaten Interesse, einen
möglichst hohen Überschuss zu erzielen.
Wegen der soeben dargestellten Nachteile von privaten Rechtsformen für kommunale Unternehmen fordern die Vertreterinnen und Vertreter der Linken in den
Kommunalvertretungen in der Regel, dass kommunale
Unternehmen in öffentlich-rechtlicher Form betrieben
werden. Wir können aber nicht die Augen davor verschließen, dass eine Vielzahl der bestehenden kommunalen Unternehmen in privater Rechtsform betrieben
wird und eine Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Form nicht immer ohne Weiteres möglich ist.
Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen Private
an den Unternehmen beteiligt sind. Es gilt daher, auch
für diesen Bereich ein Mindestmaß an Transparenz
und demokratischer Kontrolle zu schaffen.
Die sprichwörtliche Flucht ins Privatrecht darf
nicht zu einer Flucht vor den demokratisch gewählten
Gremien in den Kommunen und ihren Bürgerinnen und
Bürgern werden.
Abhilfe kann hierbei nur auf Bundesebene geschaffen werden. Die Kommunalverfassungen der Länder
enthalten zwar bereits weiter gehende Anforderungen
an die Transparenz und die demokratische Kontrollierbarkeit kommunaler Unternehmen, diese Regelungen
können aber wegen dem derzeitigen Gesellschaftsrecht
des Bundes nicht zur Anwendung kommen.
Die Linke fordert in dem vorgelegten Gesetzentwurf
die gesetzlichen Rahmenbedingungen von kommunalen Unternehmen in privater Rechtsform im Rahmen
des verfassungsrechtlich Möglichen in drei wichtigen
Fragen zu ändern:
Erstens. Die demokratisch gewählten kommunalen
Mandatsträgerinnen und Mandatsträger werden in ihren Einflussmöglichkeiten auf die kommunalen Unternehmen gestärkt.
Zweitens. Anstelle der bisher bestehenden Verschwiegenheitspflichten treten höhere Transparenzanforderungen, um sowohl die kommunalen Mandatsträgerinnen und Mandatsträger als auch die
Bürgerinnen und Bürger effektiv in die Lage zu versetzen, die Aktivitäten ihrer kommunalen Unternehmen
zu kontrollieren.
Drittens. Bei kommunalen Unternehmen, an denen
Private beteiligt sind, wird das Interesse des öffentlichen Zwecks gegenüber dem privaten Interesse,
Überschüsse zu erzielen, gestärkt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen ist
ein elementarer Bestandteil des Wirtschaftslebens in
Deutschland. Die Kommunalwirtschaft steht für Stabilität, regionale Wertschöpfung und eine sichere Daseinsvorsorge. Allerdings hat der Privatisierungswille
von Schwarz-Gelb oder auch der ökonomische Druck
in den letzten Jahren zu einer Reihe von Ausgründungen geführt. Viele Aufgaben der Daseinsvorsorge von
der Wasserversorgung bis zur Abfallbeseitigung haben die Städte und Gemeinden in den letzten Jahren in
Gesellschaften privaten Rechts überführt. Von den
1 400 Mitgliedsunternehmen im VKU sind über 50 Prozent GmbHs oder AGs. Gern werden dann die unterschiedlichen Gesellschaften unter einem Holdingdach
organisiert.
So werben die Potsdamer Stadtwerke mit ihrem Angebot: „Täglich greifen die Potsdamerinnen und Potsdamer auf Leistungen der Stadtwerke zurück. Beim
Anschalten eines elektrischen Gerätes, beim Öffnen
des Wasserhahns, beim Gang zur Mülltonne, bei der
Fahrt mit Bus und Bahn, nachts auf dem Weg nach
Hause oder beim gemütlichen Bahnenziehen in der
Schwimmhalle oder im Freibad.“ Die Stadt Potsdam
hält 100 Prozent an den Stadtwerken. Diese sind zu
100 Prozent Eigentümer der Bäderlandschaft, des
Fuhrparks, der Stadtbeleuchtung GmbH und des Verkehrsbetriebs. Mehrheitsbeteiligungen haben die Stadtwerke an der Stadtreinigung und an der Energie und
Wasser GmbH.
Wie wirkt sich ein solcher Umbau der Kommunalverwaltung auf die Demokratie in der Gemeinde aus?
Ein tragender Grundsatz der Kommunalpolitik ist die
Öffentlichkeit der Sitzungen von Ausschüssen und Rat.
Genau diese Möglichkeit zur Information und letztlich
zur Bürgerbeteiligung ist eines der wesentlichen Instrumente zur Kontrolle der Verwaltung. Eine ähnliche
öffentliche Kontrolle gibt es bei kommunalen Gesellschaften mit Verweis auf das Aktiengesetz grundsätzlich nicht. Die Öffentlichkeit fällt aus.
Der Gesetzentwurf der Linksfraktion greift zu Recht
diese fehlende Balance zwischen wirtschaftlicher Betriebsführung und öffentlichen Informations- und
Teilhabeansprüchen auf. Wir teilen die Sorge um den
Verlust von Auskunfts- und Weisungsrechten der kommunalen Parlamente. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit zentralen Punkten des vorliegenden Gesetzentwurfs wichtig und richtig. Auch sind wir für
öffentliche Aufsichtsratssitzungen und für die Beschränkung der Verschwiegenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern. Hier besteht auch aus grüner
Sicht unbedingt Handlungsbedarf.
Ähnlich wie bei den gesetzlichen Grenzen für kommunales Wirtschaften ist aber auch bei Vorschriften
zur Sicherung von Transparenz und Weisungsbefugnissen in kommunalen Unternehmen eine Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen notwendig.
Eine solche Abwägung lässt der Gesetzentwurf vermissen. Der Anwendungsbereich dieses Gesetzes ist sehr
groß. Alle Unternehmen privaten Rechts, an denen
Kommunen direkt oder indirekt mit mehr als 25 Prozent beteiligt sind, fallen unter die Regelungen des Gesetzentwurfes. Unter Beachtung dieses Anwendungsbereiches sind viele Vorschläge zu weitreichend.
In die richtige Richtung gehen die Änderungen zur
Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen und zur Befreiung von Verschwiegenheitspflichten der Aufsichtsräte. Die Amtszeit und die Abberufung von Aufsichtsräten an den kommunalen Wahlturnus auszurichten,
greift hingegen stark in die Organisation von Unternehmen ein. Gerade bei kommunalen Minderheitsbeteiligungen ist dieser Eingriff sehr weitreichend. Auch
die starke Ausweitung der kommunalen Weisungsbefugnis ist schwierig. Warum sollte nur einem Anteilseigner erlaubt sein, das Abstimmungsverhalten der eigenen Aufsichtsräte zu bestimmen?
Wirklich kritisch ist § 6. Ziel der Norm ist, „dass
auch unwirtschaftliche Geschäftsführungsmaßnahmen
durchgeführt werden können, wenn dies für die Erreichung des mit der Gesellschaft verfolgten öffentlichen
Zwecks erforderlich ist.“ Was heißt das? Hier sollten
Sie in den Ausschussberatungen einmal erläutern, was
das bedeuten kann. Laut Begründung des Gesetzentwurfes geht diese Norm in erster Linie „zulasten der
privaten Gesellschafter“. Erreicht wird dieses Ziel
durch die Aufhebung von Anfechtungsrechten und
Schadenersatzforderungen der Gesellschafter. Es führt
das aktuelle Recht ad absurdum. Der Schutz des Eigentums ist hoch. Vorgesehen sind weitreichende Mitbestimmungs-, insbesondere Sperrungsmöglichkeiten
schon ab einem Anteil von mehr als 25 Prozent. Unter
anderem können Kapitalerhöhungen, Fusionen oder
Vermögensübertragungen an die öffentliche Hand verhindert werden.
Der Gesetzentwurf ist nicht ausgereift und wird in
den Fachausschussberatungen intensiv zu diskutieren
sein.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11587 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Dazu
gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({0}), Karin EversMeyer, Maria Michalk, Cornelia Behm, Serkan
Tören und weiterer Abgeordneter
20 Jahre Zeichnung der Europäischen Charta
der Regional- oder Minderheitensprachen
- Drucksache 17/11638 Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Wolfgang Börnsen für die CDU/CSUFraktion.
({1})
Leve Fru Vörsitter! Leve Liddmaten! Vör Dag un
Dau kreeg ik düsse feine Breef vun een grote Persönlichkeit ut uns Land.
({0})
De schreef:
Sehr geehrter Herr Abgeordneter,ick heff mi bannig högt öwer den plattdütschen
Breif mit de goden Würd un de Glückwünsch.
Disse Breif hett ja een „Alleinstellungsmerkmal“,
denn ward ik mi upphangen.
Besten Dank ok, min leev Heer Börnsen, seggt Se
ehr …
Na, wer weer dat wohl?
({1})
- Immer noch nich. Nee, de heet Joachim Gauck.
({2})
Dat har ik nich dacht. Ik heff ehm schreven to sien Wahl:
Verehrter Herr Bundespräsident, leve Joachim
Gauck,
wenn dat todrapen deit, wat de Lüüd vertelln doon,
denn hemm wi mit de Präsident een Staatskaiser an
de Spitz vun uns Republik, de plattdüütsch snacken
deit.
Dat is groff gut!
Man, fast 3 Millionen Lüüd snackt noch de Spraak,
de in de Hansetiet in Nordeuropa de „Weltspraak“
weer.
Hartliche Gratulation to de Wahl mit dat imposante
Resultat. Wi Plattdüütschen hemm uns bannig freut.
Dat gelt uk för mien Mackers in de Düütsche Bundesdag.
({3})
Vör Johrestied hemm wi Plattdüütschen en Bündnis
buut för de Tokunft vun den lütten Spraken. Wat
Sorbisch, Freesch, Romanes, dat Dänische un uk
dat Plattdüütsche angahn deit, dat sall plegt un fördert warrn.
Sönnerjüsk, leve Ingwer, ok. De Spraak - un dat is mi
ganz eernst -, dat is de Mensch sien Heimat.
({4})
Un ohne Grund unner de Fööt verleert so manch een de
Wegwieser för sien Leben. Dat much uns gut gefallen,
wenn uns nüe Präsident ok en Hand un Woort för de lütten Spraken hebben deit. Un dat hett he, uns Präsident.
Schön is dat.
({5})
Der Deutsche Bundestag bekennt sich mit dieser
Debatte zur Sprachenvielfalt in unserem Land. Sprachen, gleich welcher Art, sind ein kultureller sowie ein
gesellschaftlicher Reichtum. Das gilt für die traditionellen regionalen Sprachen und die Minderheitensprachen
genauso wie für über 160 verschiedene Sprachen der
Migranten und Zuwanderer.
Wir wollen, dass auch Kleinsprachen geachtet, geschützt und gefördert werden. Wir wollen, dass es einen
bunten, vielfältigen, möglichst blühenden Sprachengarten in Deutschland gibt. Ausgangspunkt der heutigen
Sprachendebatte ist der 20. Jahrestag der Zeichnung der
Europäischen Sprachencharta, einer Art Magna Charta
für die kleinen Sprachen.
Dieses einzigartige Dokument kennzeichnet die
Bedeutung, aber zugleich auch die Bedrohung der Kleinsprachen auf unserem Kontinent. Waren 1992 bereits
50 Sprachen in ihrem Bestand gefährdet, sind es heute,
20 Jahre später, bereits 75. Dabei geht es um Sprachen
mit einer mehrtausendjährigen Geschichte, die in unserem Land gewachsen sind: Sorbisch und Friesisch,
Niederdeutsch, Dänisch und das Romani gehören bei
uns dazu.
Fast alle diese Sprachminderheiten waren in ihrer
Vergangenheit auch Verachtung, Verfolgung und anhaltender Diskriminierung ausgesetzt. Heute gehört
Sprachtoleranz zum Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Trotzdem klagen Angehörige von Sprachminderheiten - ob von autochthonen oder allochthonen - immer
noch über einen Mangel an Respekt und Verständnis.
Ich begrüße es deshalb als Sprecher unserer Initiative,
dass sich der Deutsche Bundestag zum dritten Mal in
20 Jahren solidarisch an die Seite der Kleinsprachen
stellt und ihnen eine Bühne zu mehr Beachtung und
mehr Anerkennung bietet.
({6})
Zugleich stärken wir damit auch die Sprachminderheiten in aller Welt. Das gilt auch für die deutschen
Sprachminderheiten, ob in Slowenien, Moldawien,
Lettland oder Kasachstan - immerhin 1,4 Millionen
Deutsche leben in Sprachminderheiten außerhalb unseres Landes. Dazu gehören auch 20 000 Plattsnacker in
den Vereinigten Staaten und 60 000 Plattsnacker allein
in Paraguay.
Auch für sie, die in unserer Sprache ihre Heimat
haben, tragen wir eine Mitverantwortung, indem wir
beispielgebend handeln. Aussprachen und Beschlüsse
zum Thema „Sprache“ sind nicht nur ein Thema für uns,
für die Bundesberatung. Sie sollten viel häufiger auch in
Wolfgang Börnsen ({7})
den Länderparlamenten praktiziert werden; denn Sprachenförderung gehört zu deren eigentlicher hoheitlicher
Aufgabe.
({8})
Sprache ist der Schlüssel zum Weltverstehen. Sprache
ist die Basis für Partizipation, für Integration und für sozialen Aufstieg. Mehrsprachigkeit ist das Gebot der
Stunde. Die Muttersprache gilt als Kern für kulturelle
und persönliche Identität. Für viele Bürger von Minderheitensprachen ist ihre Volksgruppensprache zugleich
Muttersprache. Für sie wie für uns alle gilt das Recht auf
sprachliche Selbstbestimmung. Es ist ein Bürger- und
ein Menschenrecht.
Der Anspruch wird jedoch fragwürdig, wenn die Existenzgefährdung der Sprache zunimmt. So sagt eine aktuelle UNESCO-Analyse: Jede Woche stirbt bei uns auf
der Welt eine Sprache. Noch haben wir 6 000 Sprachen;
in 50 Jahren werden 2 400 Sprachen nicht mehr auf unserer Welt sein. Nordfriesisch wie Saterfriesisch gehören
dazu. Das Romani der Sinti und Roma ist gefährdet. Das
Sorbische ist bedroht. Auf der Roten Liste befindet sich
jetzt auch die plattdeutsche Sprache. Alle diese Sprachen
haben an Vitalität eingebüßt.
Herr Kollege.
Ich merke schon hinter mir: Die Präsidentin rührt sich
bereits.
Leve Präsidentin, ik werd ok zum Afschluss kommen
doon. De Düütsche Bundesdag hett Masse doon för de
lütten Spraken. Wi hebbt en Staatssekretär, de is dorför
tostännig. Wi hebbt en egen.
Herr Kollege.
Un wi hebben ok en Gremium. Un ik much schon
hopen, dat wi all tosamen mehr doon för de lütten
Spraken. De hebben dat verdeent.
Danke.
({0})
Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
Geacht Frau Präsidentin! Leve Maten! Dat is goot
15 Johr her, dor hebbt de Platt-Snackers över 20 000 Ünnerschriften sammelt. Dat weer de eerste grote Börgerbewegung för Platt. De Ünnerschriften hebbt se in Kiel
un in Hannover bi de Präsidenten vun de Landdag in
Schleswig-Holsteen und Neddersassen aflevert. As Teken för de Sprakencharta. De Lüüd, de ehrn Naam op
disse List sett harrn, wussen genau: Plattdüütsch is ehr
Moderspraak und ganz bestimmt en egen Spraak. Un dat
weer ok för se kloor: De Platt-Snackers wullen nicht
mehr ankeken warrn as Döösbarthels, de nix anners
köönt as appeldwatsch hoochdüütsch snacken.
({0})
Nee, se wullen sik insetten för de Spraak, de as keen anner dat Leven, de Kultur un de Geschicht van dat nöördliche Drüttel vun Düütschland ehr Stempel opdrückt
hett. Un se wollen wiesen: Platt hett heel veel mit Idenität to doon.
Vörher hebbt se de Minschen vele Johren lang de
plattdüütsche Spraak utdreven. Vun Amts wegen verbaden weer Platt nich. Man in de Scholen un in de Behörden - also bi allens, wat offiziell weer, wat de Staat
weer -, dor hett dat heten: Plattdüütsch blifft buten. So
hebbt sik de meisten Platt-Snackers ganz lütt föhlt - ehr
Spraak weer nix weert. Ik weet noch, mien Grootöllern,
de snacken ünner’nanner platt. Mien Öllern kunnen dat
ok noch. Aber miene Grootöllern dröffen bloß mit mi
Platt snacken. Mien Öllern snacken immer hochdüütsch
mit mi, weil de Plattdüütschen ja doof weern, oder dat
maal mindestens doof. Also dat weer ganz vull mit vörardeel. För düsse Lüüd weer de Sprakencharta en grote
Schangs.
Siet de Tiet is veel in Gang kamen. Kollege Börnsen
hett dat wirklich wunnebor vertellt. Bund un Länder
hebbt Plichten övernahmen. Plichten, dat se wat doot för
dat Plattdüütsche. Wi kennt de Staatenberichten, wo
Bund un 8 Länner rinschrievt, wat se denn nu daan hebbt
for de Minderheitssprachen: bi de Bildung, Justiz, Verwaltung, Medien, Kultur und dat soziale Leven.
Man mit disse Berichten is dat ja en ganz egen Saak.
Man weet nee: Nu güng dat nich mehr üm de Fraag:
Doot wi nix - oder dot wi gor nix. Nee, nu müss sik ja
wat bewegen. Wat hebbt wi för de Spraak in de Hand
nahmen, wo hebbt wi wat maakt, un wat is dorbi rutkamen? Mi dücht: Mit de Charta stüert wi den richtigen
Kurs. Man ik weet ok, dat ok de Europarat to en Barg
Punkten seggt: „Dat langt nich. Wenn ji de Spraak
eernsthaftig Stütt un Stöhn geven wüllt, denn mööt ji
mehr doon.“
({1})
Ick segg: Uns Schipp maakt noch nich längst noog
Fohrt.
Ik will dat an en Bispeel verkloren: Siet 2008 gifft de
Beopdragte för Kultur un Medien in’t Johr 50 000 Euro
an dat Institut för nedderdüütsche Spraak - dat is för
Projekten för de 2,5 Millionen Platt-Snackers in us Land
jüst nich veel.
({2})
Hoochnödig is dat op jeden Fall.
({3})
Man ok dat is wohr: 2011 hebbt de Länner, de Geld an
dat Institut geevt - dat sünd Schleswig-Holsteen, Neddersassen, Hamborg und Bremen -, de hebbt festleggt:
Wi spoort bi dat Institut 22 000 Euro in. Dat sünd 8 Perzent vun den Huusholt. Nee, Lüüd, so geiht dat nich na
vörn.
De Staatenbericht van der Ländersiet is ok unvollständig. De Informationen sind nicht systematisch tohoopstellt un man hett de Vertreter vun de enkelten
Spraakgruppen nich na ehr Menen fraagt. Wat en groten
Fehler is. De Länder müssen endlich dorför sorgen, dat
de tostännigen Ministerien ene Person benöömt, de sik
üm dat Flach kümmert un Informationen nach wissenschaftlichen Kriterien sammelt, damit de Staatenberichte
toverlässiger ward un se miteenanner to verglieken sünd.
Denn weet wi ok würklich genau, wat los is.
Wat de Plattdüütschen in Neddersassen, SchleswigHolsteen, Mecklenborg-Vorpommern, Hamborg un Bremen - ick meen also up Bundesebene - dringend bruukt,
is en hauptamtlichen Stöhnpahl.
({4})
Dat gifft woll den Bundesraat für Nedderdüütsch, man
de arbeit blots ehrenamtlich.
Mi dücht: In de Amtsstuven sitt noch jümmers to
vele, för de Platt keen Bildungs- und Kultur-Opdrag is,
mehr so’n beten folkloristischen Speelkraam.
Dat is de eerste wichtige Punkt: Wi all, un dat sünd
nich blots de Politikers in de Länner, nee, dat is ok de
Düütsche Bundesdag, wi mööt mithelpen bi’t Ümdenken. Blots so kriegt wi dat hen, de Sprakencharta lebennig to gestalten un Platt för de Tokunft fit to maken.
({5})
De twete Punkt aver is de, op den dat ünner’n Streek
ankamen deit. Un dat is: Platt mutt wedder mehr lehrt
warrn. De Familien schafft dat allen nich. Verene un Verbänn överall in’t Land mit vele, vele Ehrenamtlers sünd
ünnerwegens in Scholen un Kinnergoorns, dat Platt wedder mehr Togo p kummt. Op lange Sicht mööt aver ganz
richtige Pädagogen ran. Noch jedenfalls hett Platt sien
Platz in de Bildung nich funnen. Noch schrievt de meisten Länner in den Staatenbericht för de Spraakencharta
rin: En Ünnerrichtsfach Plattdüütsch - dat wüllt wi nich.
Un liekers: ok hier beweegt sik wat.
({6})
In Neddersassen gifft dat siet 2011 en Erlass, wo binnensteiht: To de Opgaven vun de School höört ok dat PlattLehren mit to. En Stück wieder sünd se in Hamborg. Dor
hebbt wi siet 2010 en School-Fach Platt.
Wat hier heel un deel nee is un wat ok mi Ümdenken
to doon hett: Hier geiht dat um dat Lehren vun de Spraak
un nicht mehr üm dat Bemöten - Sprachbegegnung
hebbt wi op Hooch dor to seggt. Nee, hier geiht dat üm
dat Snacken un Verstahn. Hier geiht dat üm kognitive un
soziale Kompetenzen.
({7})
Un üm regionalkulturelle Kompetenzen. Und wenn ich
das hier so auf Hochdeutsch sage, dann merkt man, wie
schön und einfach Platt eigentlich ist.
({8})
Man, vun de 8 Länner sünd 7 noch nich so wiet. Wi
hebbt noch en langen Weg vör us. De Snackers vun Platt,
Freesch, Sorbisch, Däänsch und Romaans - se all schüllt
weten, dat de Düütsche Bunnsdag sik för ehr Spraken un
ehr Kultur insetten deit. Dorüm segg ik: Stellt Se sik
achter uns Andrag. Un stimmt Se för us Forderungen.
Bavenan steiht mit Punkt 8: Mehr Platt in de Bildung.
Dorför bruukt wi frische Konzepte för dat Sprakenlehren. Un de fallt nich vun’n Heven - vom Himmel fallen
die nicht. Hier mööt de Länner sik tohoopsetten. Un villicht kann de Bund dat Afstimmen in de Hand nehmen.
Wi bruukt en Plaan för all 8 Länner, wi bruukt en Plaan,
de dorför sorgt, dat jeedeen Platt ok in’n Kinnergoorn un
in de School lehren kann.
Denn dat is man kloor: Een vun de besten Opgaven
vun uns Volksvertreters, dat is: dat wi uns üm de Saken
kümmert, de de Minschen an’t Hart liggt. Dat is nich
blots de Arbeitsplatz un dat Geld in de Knipp. Dat is ok
de Qualität vun dat Leven dor, wo man to Huus is, won
ik mi utkenn un wo ik kloor mien Menung segg. Platt is
Alldagsleven: Dor föhl ik mi wohl. Un ik denk, wi
schullen hier en Bidrag leisten, dat sik de Minschen wieter in ehre Regional- un Minnerheitenspraken wohlföhlen köönt.
Velen Dank.
({9})
Torsten Staffeldt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Moin, verehrte Frau Präsidentin!
({0})
Moin, moin.
Hier kommt noch en Plattsnacker.
({0})
Leve Maten vun den Bunnsdag, Mannslüe und Fronslüe, ik beed Se, wenn Se wat to ropen wüllt oder Fragen
stellen wüllt, dat Se dat blots in Plattdüütsch maken
doot. Velen Dank.
Man seggt, dat de besten Plattsnackers in SleswigHolsteen leevt.
({1})
De Wolfgang Börsen hat uns das nu zeigt. Dor gifft dat
24 Perzent vun de Lüüdde in Sleswig-Holsteen seggt,
dat se goot Plattsnacken köönt. In Sassen-Anholt blots
4 Perzent un in Bayern keeneen.
({2})
Un Bremen und Mecklenborg-Vörpommern hefft enbeten wat gemeen: Dor snackt 19 Perzent Platt. Ann düsse
Tallen seht se, leve Maten, dat de Spraakbruuk länger
besteiht as de Muur us Düütsche deelt hett.
„Die Sprache eines Volkes ist seine Seele“, schreev
Johann Gottlieb Fichte.
({3})
Un Ernst Moritz Arndt seggt: „Wer sich der Sprache seines Volkes entfremdet, entfremdet sich seines Volkes
selbst.“
({4})
Dat weer also heer richtig un wichtig, dat Düütschland
1992 in Straßburg as een vun de eersten Verdragslüüd de
Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ünnerschreven hett. Se is siet 1998 in Kraft.
Dat Teel is, Regional oder Minderheitenspraken as en
Stück europääisch Kultur zu schützen.
Spraak is en geistig un kulturelle Heimat. Lengen un
Bangen, Hopen, Drööm un Troer, jo ok dat Dagdäägliche spegelt sik in de Spraak wedder. Veel kann op
Plattdüütsch klor un ohn Snörkeln seggt werrn. Als Bispiel: Das ist illusorisch. - Dor ward nix vun.
({5})
Hau ab! - Maak dat du den Dreih kriggst! Und dat
Beste: Keine Angst! ({6})
Schiet di man nich inne Büx!
({7})
Sprache is identitätsstiftend. In de Tiet vun de Hanse
weer Nedderdüütsch de allgemene Spraak in Noorddüütschland. Se weer Hannelsspraak an de Küst vun
Oost- un Noordsee. De Lüüd spreken nich blots Plattdüütsch, nee, Plattdüütsch wurr ok schreven, in de Justiz,
de Verwalten, de Wirtschopp von Noordeuropa. Twüschen London, Bergen, Danzig, Riga und Nowgorod
spreken de Kooplüüd un Kaptaine Platt; ok de Verdrääg
hett man op Platt maakt. De Sinnspröök vun de Bremer
Kooplüüd över de Hannelskamer wiest vundagen noch
darop hen: „Buten un binnen, wagen un winnen“.
Platt is en Tiefwurzler, miene Damen un Heren. Dat
heet, de Spraak hett Blädder laten, as en Boom in’n
Storm. Se hett aver ok, just so as de annern Spraken, de
wi vundagen hier to hören kriegt, depe Wutteln un överleevt siet Johrhunnerten.
So, nun hebb ik nich mehr ganz so veel Tiet.
({8})
Da mutt ik dat mal en beten körten. - Dor gifft dat en
ganze Menge an schöne Saken in Plattdüütsch. Dor gifft
dat Wettbewarbe in Dütschland, över 30 utloovt Priesen
för de nedderdüütsche Kultur. Dor heeb ik noch en poor
Bispill dorför, aber dat laat ik mal. Allens gode Saken.
Aber kennt Se Plattsounds? Dat is en Wettstriet för
Muskanten un Bands ut Neddersassen un Noordütschland.
({9})
Bands as „Fettes Brot“ un „de Fofftig Penns“ hebbt
wiest, dat Plattdüütsch un moderne Musik goot tohoop
passen doot.
({10})
Dat is ok de Grund, worüm dat bi Plattsounds all Musikrichten gifft, vun Hip-Hop, Elektro, Rock, Indie, Metal, Punk bit Reggae. Mit Reggae hebb ik en beten Probleme mit, aber - na ja.
Wi sünd Afordente, miene Damen un Heren, un wi
mööt dorför sorgen, dat man solke Verdrääg as de Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ünnerschrievt. Vele Minschen sünd freewillig
dorbi, düsse Charta Leven to geven un se an’t Leven to
holen. Düsse Minschen stütten und föddern dormit jeden
Dag Toleranz. Se sünd de Grundlaag, dat Spraken bestahn blievt, wiel se in en Minnerheitenspraak snackt.
Dorüm schüllt wi düsse Minschen nich blots an een Dag
as hüüt Dank seggen, denn ehr Engagement is grootortig.
({11})
Wat ik noch seggen will: Kinner, de neven Düütsch
noch een anner Spraak as Modderspraak lehren, hebbt
dat lichter, en Frömdspraak to lehren. - Ik heff dat sehn,
nich?
Fein!
({0})
De Stütt vun de Spraak is eenzig un alleen de Opgaav
vun de Länner un liggt in ehre Hannen. Sleswig Holsteen stütt dat Plattsnacken mehr as to’n Bispill de Bremer Senat.
Herr Kollege.
Ik bin gleich sowiet. - Ok dat is en Grund för mi as
Bremer Afordenter, Beauftrafter für die nedderdüütsche
Spraak in miene Fraktion to sien.
({0})
Herr Kollege!
Ich bin sofort fertig. Da kommt nur noch ein Snack.
Dat wi dorto mehr Geld bruukt, dat is ok kloor. In
Bremen hefft wi en Spröök, de heet:
Bin en lütten Königgiff mi nich so weniglaat mi nich so lange stohndenn ik mutt noch wietergohnHalli Halli HalloSo geiht‘t in Bremen to …
Dank di.
({0})
Raju Sharma hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das is ja
man een Fest för de Tohörer un Tokiekers, wenn een so
Plattdütsch schnackt as de Kollege Börnsen; un so
klook!
({0})
Das Problem ist aber, dass wir so viele Sprachen haben, über die wir reden. Danske doli, und wenn ich jetzt
mit Sorbisch oder mit Friesisch anfange, dann versteht
sowieso keiner etwas. Ich versuche es mal auf Hochdeutsch:
„Sprache ist eine Waffe“, schrieb der Pazifist Kurt
Tucholsky, und das ist zweifellos richtig. Sprache kann
aber auch eine Brücke und eine Grundlage für eine gelungene Verständigung sein. Sprache schafft Identität.
Wenn wir unsere Sprache verlieren, geht auch ein Stück
unserer Identität verloren. Das gilt ganz besonders für
Minderheiten. Sie zu schützen und damit einen Beitrag
zu Frieden und Völkerverständigung zu leisten, ist ein
wesentliches Anliegen der Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen,
({1})
die vor nunmehr 20 Jahren vom Europarat zur Zeichnung aufgelegt wurde. Dass der vorliegende fraktionsübergreifende Antrag dies würdigt, ist auch aus Sicht der
Linken ausdrücklich zu begrüßen.
Oft ist jedoch nicht entscheidend, was man sagt, sondern das, was man nicht sagt. So richtig die Ziele sind,
zu denen Deutschland sich mit der Unterzeichnung der
Europäischen Sprachencharta verpflichtet hat, so unzureichend ist immer noch der Stand der Umsetzung. Manche der in den vier Kontrollberichten aufgezeigten Defizite lassen sich mit zusätzlichen Anstrengungen und mit
zusätzlichem Geld beheben. Andere Probleme sind
strukturell. Wenn wir hier zu entscheidenden Verbesserungen kommen wollen, müssen wir auch diese strukturellen Mängel ansprechen und bereit sein, sie grundlegend zu verändern. Ich will das an drei Beispielen
deutlich machen:
Erstens. Der Minderheitenbegriff muss weiter gedacht werden. Derzeit bezieht die Sprachencharta sich
nur auf nationale und autochthone Minderheiten. Es gibt
in Deutschland aber noch weitere Minderheiten, deren
Sprache gefährdet ist, die aber noch keinen Schutz genießen. Die Überlegung, auch die Sprache anderer Gruppen mit jüngerem Migrationshintergrund zu schützen,
mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen.
Wenn wir aber wissen, dass in Tschechien rund 60 000
eingewanderte sogenannte Gastarbeiter aus Vietnam als
nationale Minderheit geschützt werden, dann ist die
Idee, sich aktiv für den Schutz und die Förderung der
Sprache von über 800 000 in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden einzusetzen, ganz sicher nicht mehr
so abwegig.
({2})
Zweitens. Keine Sprache ohne Sprecherinnen und
Sprecher. Wenn - wie in der Lausitz - infolge des
Braunkohleabbaus viele Menschen ihre Heimat und ihre
Arbeit verlieren, ist nicht nur die Region vom Aussterben bedroht, sondern auch die sorbische Minderheit.
Wenn sorbische Dörfer umgesiedelt und abgebaggert
werden, werden auch die Kultur und die Sprache der
Sorben zurückgedrängt. Minderheitenschutz bedeutet
hier ganz konkret, dass die Wirtschaftsregion erhalten
bleiben und gefördert werden muss. Mit dem geltenden
Bergrecht ist das kaum möglich.
({3})
Drittens. Minderheitenschutz ist auch Sache des Bundes. Viele der Verpflichtungen, die Deutschland mit der
Unterzeichnung der Europäischen Sprachencharta eingegangen ist, müssen aufgrund unseres föderalen Aufbaus
von den Ländern umgesetzt werden. Minderheiten und
ihre Kultur sind aber eine Bereicherung für die ganze
Gesellschaft. Deshalb sollte sich der Bund auch angemessen an den damit verbundenen Kosten beteiligen.
Als die frühere schleswig-holsteinische Landesregierung entgegen der mit den Bonn-Kopenhagener Erklärungen eingegangenen Verpflichtungen die Zuschüsse für die
Schulen der dänischen Minderheit massiv gekürzt hat,
({4})
ist es Regierung und Opposition auf Bundesebene gelungen, durch gemeinsame Anstrengungen und viel Kreativität die gravierendsten Folgen dieser Eingriffe abzuwenden.
({5})
Das war im Einzelfall gut und richtig. Anstelle von Notlösungen benötigen wir aber Regelungen, die den Bund
dauerhaft in die Lage versetzen, seiner Verantwortung
zum Schutz der Minderheiten gerecht zu werden.
Wenn das mit der Föderalismusreform eingeführte
Kooperationsverbot einem wirksamen Schutz der Minderheiten im Wege steht, so sollten wir das Kooperationsverbot beseitigen und nicht den Minderheitenschutz.
({6})
Am guten Willen der Länder sollte dies nicht scheitern.
Während der Schleswig-Holsteinische Landtag als erstes
Parlament mit den Stimmen aller Fraktionen einen Anspruch der Sinti und Roma auf Schutz und Förderung in
der Landesverfassung verankert hat, hat der Verfassungsminister des Bundes eine Debatte über einen angeblichen Asylmissbrauch von Sinti und Roma aus Serbien und Mazedonien angestoßen. Hier kann der Kollege
Friedrich von seinen Parteifreunden im Norden noch einiges lernen.
({7})
Minderheiten sind eine Bereicherung für das ganze
Land. Deshalb braucht es eine Minderheitenpolitik, die
Sprachen und Traditionen von Minderheiten als Teil eines Ganzen und als Bereicherung im Zusammenleben
von Menschen begreift, fördert und schützt. Die Europäische Sprachencharta hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet. Dies zu würdigen, ist gut. Sie umzusetzen,
wäre noch besser.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Cornelia Behm hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bekam dieser Tage diese Karte mit dem
Satz: „Nutze deine Zunge nicht nur zum Küssen!“ zugeschickt. Das ist eine witzige Aufforderung, die Sprache
als Ausdruck kultureller und nationaler Identität lebendig zu halten, und zwar durch Sprechen.
({0})
Sprache zu bewahren und weiterzuentwickeln, ist jedoch nicht nur eine Angelegenheit der jeweiligen
Sprachgemeinschaft, sondern auch eine Sache der Politik. Sprachenpolitik ist insbesondere dort gefragt, wo
Sprache gefährdet ist und verloren zu gehen droht. Deshalb gehört eine Sprachendebatte auch ins Parlament.
Mit unserer Kollegin Michalk wird eine Vertreterin
der sorbischen/wendischen Minderheit aus Sachsen in
dieser Debatte reden.
({1})
Im Gegensatz zum sächsischen Teil der Lausitz wird in
meiner Heimat, im brandenburgischen Teil, Niedersorbisch gesprochen. Niedersorbisch wurde 2008 vom Europarat als eine der bedrohtesten Sprachen Europas eingestuft. Vor allem infolge von Sprachverboten,
fehlendem Sorbischunterricht und der kohlebergbaubedingten Umsiedlung ist etwa ab 1930 ein Sprachwechsel
vom Niedersorbischen zum Deutschen eingetreten.
Heute sprechen nur noch die älteren sorbischen/wendischen Menschen und einige wenige Jüngere das Niedersorbische auf muttersprachlichem Niveau. Eine familiäre Weitergabe der Sprache ist so kaum möglich.
Damit aber die Kinder aller sorbischen/wendischen
Familien ihre Muttersprache erlernen können, gibt es das
sprachliche Revitalisierungsprogramm WITAJ - „Witaj“
heißt Willkommen - für Kinder in Kitas und Schulen.
Für die Ausbildung der Lehrkräfte aber, die auch für
Volkshochschulkurse und außerschulische Angebote
dringend gebraucht werden, fehlt das Geld. Hier erwarte
ich vom Land Brandenburg mehr Engagement. Ein Kurs
für fünf Erzieherinnen beispielsweise würde etwa
10 000 Euro kosten. Das sollte auch bei klammen Kassen zu realisieren sein.
({2})
Lassen Sie mich noch über eine andere Sprachgemeinschaft sprechen: die Sinti und Roma. Sie sind in
vielen Ländern Europas beheimatet. In Deutschland leben geschätzt etwa 70 000, und das seit etwa 600 Jahren.
Die Bundesrepublik Deutschland hat 1995 die auf ihrem
Territorium lebenden deutschen Sinti und Roma als autochthone nationale Minderheit anerkannt. Ihre Sprache,
das deutsche Romanes, hat viele regionale Dialekte. Es
wird mündlich weitergegeben. Lehrbücher gibt es nicht.
Für die Sprache Romanes gilt im Allgemeinen die Maxime: nur von Sinti für Sinti. Auch das hat historische
Hintergründe, waren die Sinti und Roma doch in der
Vergangenheit schlimmster Verfolgung ausgesetzt. Im
Nationalsozialismus wurden sie ausspioniert, deportiert
und in Vernichtungslagern umgebracht. Seither achten
sie streng darauf, dass alle das deutsche Romanes betreffenden Angelegenheiten, also auch die Weitergabe der
Sprache, nur innerhalb der Sprachgemeinschaft geregelt
werden.
Dennoch ist die Politik gefragt. Nach Art. 11 der
Charta verpflichten sich die Vertragsparteien, sicherzustellen, dass die Interessen der Sprecher von Regionaloder Minderheitensprachen innerhalb der Gremien, die
für die Gewährleistung von Freiheit und Pluralismus der
Medien verantwortlich sind, vertreten oder berücksichtigt werden. Doch die Beteiligung von Sinti und Roma in
Rundfunkräten und Landesmedienanstalten ist bisher
nur in Rheinland-Pfalz geregelt. Eine entsprechende Initiative auf Bundesebene wurde bisher lediglich für die
Deutsche Welle in Aussicht gestellt, jedoch nicht für einen bestimmten Zeitpunkt. Dabei wäre es außerordentlich wichtig, dass Sinti und Roma hier vertreten wären;
denn gerade diese Minderheit leidet heute erneut unter
Ausgrenzung und Ablehnung.
Frau Kollegin.
Einen Absatz bitte noch, Frau Präsidentin.
({0})
Das stellte jüngst bei der Eröffnung des Mahnmals für
die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma
auch die Kanzlerin fest. Schleswig-Holstein hat jetzt ein
Zeichen für eine bessere Politik gegenüber den Sintiund Roma-Minderheiten in ganz Europa gesetzt. Erstmals wurde der Anspruch auf Schutz und Förderung für
die Sinti und Roma in einer Verfassung verankert.
({1})
Frau Kollegin.
Dem sollten die anderen deutschen Bundesländer
baldmöglichst folgen. Sie sollten diesen Verfassungsauftrag wie auch die Sprachencharta mit Leben erfüllen.
({0})
Die Kollegin Maria Michalk hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es in meiner Muttersprache: Dobry
wječor! Das heißt: Schönen guten Abend!
Die Muttersprache ist für jeden Menschen ein wertvolles Gut und von besonderer Bedeutung. Das haben
wir heute schon sehr oft gehört, und man kann es nicht
oft genug wiederholen; denn sie ist aus der Historie heraus kulturelle Identität. Sie ist für jeden ein tief im Inneren verwurzeltes Gefühl von Heimat. Sie ist eine feste
Bindung an die eigene Sprachgemeinschaft.
Gleichzeitig kommt der Mehrsprachigkeit in unserer
offenen Welt mehr und mehr Bedeutung zu; ich denke,
auch das müssen wir in dieser Sprachendebatte erwähnen. Damit Sie sich ein bisschen in die sorbische Sprache hineinhören können, will ich Ihnen einen kleinen
Teil meiner Rede in sorbischer Sprache vortragen.
({0})
Moja maćeršćina, moja maćerna rěč je serbšćina.
Třeći raz rěču tu w Zwjazkowym sejmje serbsce.
({1})
Běchmy před 100 lětami, jako so Domowina - Zwjazk
Łužiskich Serbow załoži, po ličbje wjetši a wjetši lud.
({2})
Ale přeco zaso so naši prjedownicy wo wuwiće
serbskosće prócowachu a dźensa sej kóždy z nas sam
wuwědomi, kajka bohatosć naša maćeršćina, naša
serbšćina je a kajke lěpšiny kóždemu dwurěčnosć
přinjese.
Jako serbski lud přeco hišće eksistujemy. Bohu dźak!
Wosebje wotewrjenosć našich młodostnych k serbskej
kulturje a serbskim słowam mje we wiziji skrući, zo tež
w přichodźe jako mały lud w Europje wobstać budźemy.
Běchmy, smy a budźemy!
({3})
Wir waren, wir sind und wir werden bleiben - das ist in
Zeiten, in denen der Wind dem sorbischen Volk so richtig ins Gesicht blies, sehr oft unser Motto gewesen.
In der Lausitz, der Heimat der Sorben, heißt der Willkommensgruß „Witaj“; Frau Behm hat es schon gesagt.
Seit 14 Jahren ist „WITAJ“ auch die Bezeichnung für ein
Projekt, das den frühkindlichen Erwerb der sorbischen
und deutschen Sprache forciert. „WITAJ“ legt den
Grundstein für eine komplexe mehrsprachige Bildung
von der Kinderkrippe bis zur Universität. „WITAJ“ ist
das Eintauchen in ein sorbisches Sprachbad nach der bewährten Immersionsmethode. Sprache ist an Personen
gebunden. Deshalb spricht die eine Kindergärtnerin nur
Sorbisch mit den Kindern und die andere nur Deutsch
mit den Kindern. Es ist bewundernswert, was sich daraus
entwickelt hat; in den entsprechenden Berichten kann
man das nachlesen. Daran müssen wir weiter arbeiten.
({4})
Ich will an die vorangegangenen Sprachendebatten in
diesem Hohen Haus erinnern. Beim letzten Mal, 2009,
haben wir gefordert, einen Sprachenkongress durchzuführen. Wir wissen heute, dass sich dieser Kongress
mittlerweile in der Vorbereitungsphase befindet. Es ist
doch interessant, zu erfahren, welche RahmenbedingunMaria Michalk
gen Minderheiten beim Erlernen ihrer Sprache vorfinden, zum Beispiel die Deutschen in Polen und die Sorben in Deutschland. Ich unterstütze das Vorhaben, einen
Sprachenkongress durchzuführen, der ein wichtiger
Baustein für das Haus Europa sein kann, ausdrücklich.
({5})
Ich will auf einen anderen Aspekt hinweisen: eigene
Sprache, eigene Schriftzeichen. Die Muttersprache in
Wort und Schrift in der Lausitz zu verwenden, ist kein
Problem; alles ist da. Hat man es aber mit Institutionen
außerhalb dieses Gebietes zu tun - das ist zum Beispiel
dann notwendig, wenn es um die Eintragung in ein Vereinsregister geht -, ist das ein Problem. Die Vorsitzenden
unserer Vereine tragen nämlich häufig sorbische Namen
- wir definieren uns ja nicht über die Territorialautonomie, sondern über die Kulturautonomie -, und ihre Namen müssen in Sorbisch in das Vereinsregister eingetragen werden. Zurzeit geht das aber noch nicht, weil in
dem Vereinsportal, das modernerweise für ganz
Deutschland eingerichtet worden ist, damit jeder Vereinsvorsitzende von seinem Schreibtisch zu Hause das
Vereinsregister einsehen kann, noch keine sorbischen
Zeichen zur Verfügung stehen. Hier erleben wir ein Beispiel dafür, dass uns moderne Kommunikationstechnologien und Tradition immer wieder vor neue Herausforderungen stellen. Ich bitte Sie ausdrücklich, uns dabei zu
unterstützen, dass wir im Rahmen des Programms RegisStar die Buchstaben bekommen, die für die osteuropäische Sprachengemeinschaft und damit auch für Sorbisch wichtig sind.
({6})
Ich will auf einen Punkt hinweisen, der mir ganz
wichtig ist. Ich sage es erst einmal auf Sorbisch: Wulke
wjerški, bohate nazhonjenja a wjesoła zhromadnosć
lětušeje EUROPEADY we Łužicy su Serbam znowa pokazali, kajka wulka swójba europske mjeńšiny su a zo je
sebjewědomje za rjanu serbsku rěč samozrozumliwa
wěc.
Das heißt: Die Europiade in diesem Jahr in der Lausitz, wo die Minderheiten Europas ein kleines Fußballturnier gespielt haben, hat gezeigt, wie wichtig es ist,
dass sich die Minderheiten untereinander begegnen, in
fröhlicher Gemeinschaft ihre Kultur pflegen und ihr
Selbstbewusstsein stärken,
({7})
das wir brauchen, um weiter zu existieren.
Ich danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie mir zugehört
haben. Wutrobny dźak.
({8})
Unser Kollege Serkan Tören gibt seine Rede zu Pro-
tokoll.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag,
den Sie auf Drucksache 17/11638 finden. Noch einmal
der Titel: „20 Jahre Zeichnung der Europäischen Charta
der Regional- und Minderheitensprachen“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen. Enthalten hat sich
überwiegend die Fraktion Die Linke, zugestimmt haben
ein Abgeordneter der Fraktion Die Linke
({0})
und das gesamte übrige Haus. Damit ist der Antrag angenommen.
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und
zukunftsweisend umsetzen
- Drucksache 17/11664 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu
geben. - Hierzu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11664 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen
vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen
Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998
- Drucksache 17/10975 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe ({3})
- Drucksache 17/11583 Berichterstattung:Abgeordnete Michael FrieserChristoph SträsserMarina SchusterAnnette GrothVolker Beck ({4})
1) Anlage 5
2) Anlage 7
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Universal Periodic Review - Menschen-
rechtslage in Deutschland auf dem Prüf-
stand des UN-Menschenrechtsrates
- Drucksache 17/11675 -
Hier wird ebenfalls vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden.1)
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/11583, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10975
anzunehmen. Wer stimmt für diesen Gesetzentwurf und
erhebt sich deswegen? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Wir stimmen über den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/11675 ab. Wer stimmt für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Zustimmung von SPD und Grünen abgelehnt.
Die Linke hat sich enthalten. CDU/CSU und FDP waren
dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und
zur Stärkung der Gläubigerrechte
- Drucksache 17/11268 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({5})-
Finanzausschuss
Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto-
koll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11268 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-Sicherheitsrat
- Drucksache 17/11576 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({6})-
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Impulse
für Frieden und Abrüstung
- Drucksachen 17/4863, 17/7397 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Rainer StinnerJan van AkenKerstin Müller ({8})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Die internationale Schutzverantwortung
weiterentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller ({10}), Volker Beck
({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutzverantwortung weiterentwickeln und
wirksam umsetzen
- Drucksachen 17/8808, 17/9584, 17/10902 Berichterstattung:Abgeordnete Roderich KiesewetterHeidemarie Wieczorek-ZeulMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller ({12})
Die Reden sollen ebenfalls zu Protokoll gegeben
werden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so be-
schlossen.3)
Die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/11576
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
wird vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Im-
pulse für Frieden und Abrüstung“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7397, den Antrag auf Drucksache 17/4863
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CSU/
CSU, FDP und Linke angenommen. Dagegen haben
SPD und Grüne gestimmt.
Tagesordnungspunkt 20 c. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 17/10902. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
1) Anlage 6
2) Anlage 8 3) Anlage 9
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
SPD auf Drucksache 17/8808 mit dem Titel „Die internationale Schutzverantwortung weiterentwickeln“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP
und Linke. Dagegen haben SPD und Grüne gestimmt.
Enthaltungen gab es keine.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9584 mit dem Titel „Schutzverantwortung weiterentwickeln und wirksam umsetzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen, wiederum bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und Linke. SPD und Grüne haben wieder dagegen gestimmt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/11470 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({13})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und Medien
Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die Bundesregierung das Wort dem Kollegen Max Stadler.
({14})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ein vieldiskutiertes Thema wie das Leistungsschutzrecht für Presseverleger verdient eigentlich eine
Debatte, die nicht im Schutze der Dunkelheit stattfindet.
({0})
Aber das Internet schläft nicht. Dank der modernen
Kommunikationsmöglichkeiten wird sehr wohl aufmerksam verfolgt werden, wie das Parlament den Regierungsentwurf zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
bewertet.
Der Entwurf ist ja schon im Vorfeld im wahrsten
Sinne des Wortes verfolgt worden. Es hat eine etwas
schrille Begleitmusik gegeben, insbesondere durch die
gegen dieses Gesetz gerichtete Kampagne von Google.
In der gestrigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung
hat Heribert Prantl die richtige Antwort gegeben: Er hat
Google als „Schein-Schutzengel des Internets“ bezeichnet. Er hat betont, dass man natürlich Einwände gegen
dieses Gesetz haben könne, dass es aber jedenfalls nicht,
wie die Gegenkampagne es suggeriere, gefährlich sei.
Es ist nicht gefährlich für die Informationsfreiheit,
es ist nicht gefährlich für die Kommunikationsgrundrechte, es ist nicht einmal gefährlich für den
gewaltigen Geldbeutel von Google.
So schreibt Heribert Prantl zutreffend.
Meine Damen und Herren, bei dem bekannten Pro
und Kontra gibt es in der Abwägung ein entscheidendes
Argument: Das Urheberrechtsgesetz kennt schon jetzt
eine Vielzahl von anderen Leistungsschutzrechten. Es ist
daher im Sinne der Gleichbehandlung schwer einzusehen, warum ausgerechnet Presseverlegern ein solches
Leistungsschutzrecht verweigert werden sollte.
({1})
Verlage sollen künftig im Onlinebereich nicht schlechter
gestellt sein als andere Werkvermittler. Nicht mehr und
nicht weniger leistet unser Gesetzentwurf.
Weil Frau Rößner schon so skeptisch schaut, will ich
neben diesem etwas formalen Gleichbehandlungsargument auch noch das materielle Gerechtigkeitsargument
in die Debatte einführen. Es gibt Geschäftsmodelle, die
in besonderer Weise darauf ausgerichtet sind, für die eigene Wertschöpfung auch auf die verlegerische Leistung
zuzugreifen.
({2})
Der Regierungsentwurf beschränkt sich genau auf diesen
Aspekt. Wir schaffen nur Regelungen, die zum Schutz
der Presseverleger im Internet wirklich erforderlich sind.
Dementsprechend soll mit dem neuen Leistungsschutzrecht den Presseverlagen lediglich das ausschließliche
Recht eingeräumt werden, Presseerzeugnisse zu gewerblichen Zwecken im Internet öffentlich zugänglich zu machen. Dieses Recht können Verleger nur gegenüber Anbietern von Suchmaschinen geltend machen sowie
gegenüber den Anbietern von solchen Diensten im Netz,
die Inhalte entsprechend einer Suchmaschine aufbereiten. Presseverlage können also nur von diesen Anbietern
künftig verlangen, Nutzungen zu unterlassen, oder sie
können mit ihnen Lizenzgebühren vereinbaren.
Gesetzlich zulässig und unentgeltlich bleibt die Nutzung durch andere, wie zum Beispiel die Nutzung durch
Blogger, durch Unternehmen der sonstigen gewerblichen Wirtschaft, durch Verbände, Anwaltskanzleien oder
private bzw. ehrenamtliche Nutzer.
In seiner schlanken und ausgewogenen Fassung bildet
der Gesetzentwurf sicherlich eine sehr gute Grundlage
für die Debatte in den Ausschüssen. Deswegen hätten
wir den Schutz der Dunkelheit für diesen Gesetzentwurf
wirklich nicht gebraucht.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat Martin Dörmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD lehnt das von der Bundesregierung vorgeschlagene Leistungsschutzrecht für Presseverleger ab. Drei
Jahre hat Schwarz-Gelb gebraucht, um hierzu nach vielen Volten hin und her überhaupt einen Gesetzentwurf
vorzulegen. Es waren drei verlorene Jahre für die Medienpolitik. Am Ende ist ein Vorschlag herausgekommen,
der völlig kontraproduktiv ist.
({0})
Denn er wird der Medienlandschaft in Deutschland nicht
helfen, schafft neue Rechtsunsicherheiten und droht hilfreiche Suchmaschinenfunktionen faktisch einzuschränken.
({1})
Die Stimmen der Kritiker sind dementsprechend vielfältig. Namhafte Urheberrechtler warnen vor den negativen Folgen. Der IT-Branchenverband BITKOM und der
BDI erwarten eine Schwächung des Innovations- und Investitionsstandorts Deutschland. Der Vorsitzende der
Monopolkommission, Professor Haucap, den ich hier
ausdrücklich zitieren darf, hält das Ganze gar für eine
„Schnapsidee“. Selbst Junge Union und Junge Liberale
fordern heute mit den anderen Jugendorganisationen
politischer Parteien, den Gesetzentwurf abzulehnen, weil
sie darin einen Eingriff in die Freiheit des Internets sehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Beispiele der Frankfurter Rundschau und der Financial
Times Deutschland haben zuletzt ein schmerzliches
Schlaglicht auf die Probleme im Zeitungsmarkt geworfen. Vor diesem Hintergrund möchte ich ausdrücklich
festhalten: Qualitativ hochwertige journalistische Angebote sind von entscheidender Bedeutung für die Meinungsvielfalt und unsere Demokratie.
({2})
Guter Journalismus erfordert engagierte Journalisten, die
von ihrer Arbeit leben können. Er erfordert zugleich Recherche, Organisation und damit Geld, das letztlich von
den Presseverlegern verdient werden muss, und zwar
auch im Internet.
({3})
Es ist daher folgerichtig, dass immer mehr Verleger versuchen, Bezahlangebote im Netz zu etablieren, und dass
sie bereits heute bestehende Urheberrechte an Texten
schützen wollen.
Guter Journalismus hat einen Wert, den es zu respektieren gilt. Es ist deshalb selbstverständlich nicht hinzunehmen, wenn einzelne Portale urheberrechtlich geschützte Zeitungsartikel ohne Zustimmung von Autoren
und Verlagen selbst vermarkten und auf deren Kosten
Geld damit verdienen.
({4})
- Ich sehe, es gibt möglicherweise eine Zwischenfrage
des Kollegen Jarzombek. Ich möchte die Präsidentin bitten, diese Zwischenfrage aufzurufen.
Das war eine gewunkene Zwischenfrage. Bitte schön.
Herr Kollege Dörmann, ich muss Ihnen erst einmal
ein Kompliment machen: Sie sind frischer als das Präsidium, was das Erkennen von Zwischenfragen betrifft.
({0})
Ich habe zwei Fragen an Sie. Die erste Frage ist: Ich
würde gerne von Ihnen wissen, wo die Kollegin
Dr. Hendricks ist, die als Generalbevollmächtigte der
DDVG über, so glaube ich, 15 oder 20 Prozent des deutschen Zeitungsmarktes verfügt und Mitglied dieses Hauses ist. Dass sie an dieser Debatte nicht teilnimmt, finde
ich - ich sage es einmal vorsichtig - bemerkenswert.
Also: Wo ist die Kollegin?
Die zweite Frage an Sie ist: Sie haben erklärt, Sie
lehnten dieses Leistungsschutzrecht rundweg ab. Ihre
Partei, die SPD, hat über die Holding DDVG eine ganze
Reihe von Beteiligungen an deutschen Zeitungen. Können Sie heute eine Aussage darüber treffen, ob die Zeitungen, die der SPD gehören, Verhandlungen im Rahmen des Leistungsschutzrechtes, wenn es beschlossen
wird, aufnehmen werden, um damit Erlöse von den
Suchmaschinen zu erzielen?
Herr Kollege Jarzombek, es ist bezeichnend, dass Sie
eigentlich nicht zum Thema reden möchten, sondern ein
bisschen Ablenkungsmanöver betreiben.
({0})
Bezeichnend ist auch, dass wir diese Debatte, wie der
Kollege Stadler zu Recht gesagt hat, zu nachtschlafender
Zeit führen müssen, weil sich die Koalition für das
Ganze schon ein bisschen schämt.
({1})
Ihre Frage ist eine rein hypothetische Frage, die ich natürlich gar nicht beantworten kann. Sie wissen ganz genau, dass die DDVG in der Regel ganz kleine Minderheitsbeteiligungen hat
({2})
und sich aus redaktionellen Dingen heraushält. Hier werden also Äpfel mit Birnen verglichen. Ich kenne diese
Diskussion auch im Zusammenhang mit bestimmten
Zeitungen.
({3})
- Ich lasse gerne noch eine Nachfrage von Herrn Kollegen Jarzombek zu, der aber eigentlich nicht zur Sache
reden will.
Das ist schön. Aber wir machen jetzt keinen Dialog,
sondern Sie fahren in Ihrer Rede fort.
Die SPD ist dafür, dass es dieses Leistungsschutzrecht überhaupt nicht gibt. Insofern stellt sich diese hypothetische Frage gar nicht.
({0})
Herr Kollege, fahren Sie doch in Ihrer Rede fort.
Okay. - Dort, wo es heute Probleme bei der Rechtsdurchsetzung gibt, sind wir für verbesserte Möglichkeiten der Presseverleger, damit diese effektiv gegen solche
illegalen Geschäftsmodelle, die ich vorhin genannt habe,
vorgehen können.
Das vorgeschlagene Leistungsschutzrecht löst die bestehenden Probleme aber gerade nicht, sondern schafft
neue. Es geht letztlich darum, Suchmaschinen entgeltpflichtig zu machen und hierüber neue Einnahmequellen
zu generieren, und zwar auch dann, wenn sie nach heutiger Rechtslage völlig legal verlinken und dabei kurze
Textteile anzeigen, damit man Artikel inhaltlich zuordnen kann.
Aus Sicht der SPD-Fraktion erfüllen Suchmaschinen
aber eine wichtige Wegweiserfunktion im Internet, die
wir erhalten wollen. Mit technischem und finanziellem
Aufwand erbringen Suchmaschinen eine eigene Leistung, die für viele Internetuser hilfreich ist. Auch die
Verlage wollen nicht darauf verzichten, gelistet zu werden - sie könnten das ja technisch heute schon verhindern -; denn sie wollen ja Leser auf ihre werbefinanzierten freien Angebote ziehen. Es ist deshalb niemandem
wirklich vermittelbar, dass nun Suchmaschinen, die das
heutige Urheberrecht nicht verletzen und den Verlegern
sogar finanzielle Vorteile bringen, über ein speziell auf
sie zugeschnittenes Leistungsschutzrecht ein Entgelt
zahlen sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Fraktion
hat vor wenigen Wochen einen umfassenden Antrag zur
Sicherung der Medienvielfalt und zu qualitativ hochwertigem Journalismus in den Bundestag eingebracht. Leider hat sich die Regierungskoalition verweigert, unsere
Vorschläge aufzunehmen oder zumindest ernsthaft zu
prüfen.
Gibt man heute in eine Suchmaschine den Begriff
„schwarz-gelbe Medienpolitik“ ein, findet man leider
keinerlei Konzepte, die den Herausforderungen wirklich
gerecht werden.
({0})
Insofern ist es, denke ich, notwendig, dass wir einen Relaunch machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Einen wunderschönen guten Abend! - Der nächste
Redner auf der Rednerliste ist der Kollege Ansgar
Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wir müssen die Märkte bändigen“
…
Sie
- gemeint sind die Bürger haben den Eindruck, dass ihre „gefühlte Ordnung“
aus dem Lot geraten ist … Viele Staaten und Regionen der Welt werden auf Europa schauen, ob es in
der Lage ist, dem liberalen Kapitalismus Angloamerikas auf der einen und dem autoritären Kapitalismus Chinas auf der anderen Seite sein Modell
des demokratischen Kapitalismus in Form der sozialen Marktwirtschaft gegenüber zu stellen.
({0})
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, stammt
nicht von mir,
({1})
sondern ist einem Gastbeitrag von Sigmar Gabriel im
Handelsblatt vom 2. März 2012 entnommen,
({2})
und es geht dabei um das Bändigen der Finanzmärkte.
Was hat das nun mit dem Leistungsschutzrecht für
Presseverlage zu tun?
({3})
- Ich habe mir schon gedacht, dass der Kollege von Notz
genau über dieses Stöckchen, das ich ihm hinhalte, jetzt
springen würde.
({4})
Vordergründig hat das erst einmal gar nicht viel damit zu
tun, aber es lohnt sich vielleicht, Herr Kollege von Notz,
auch einmal ein bisschen tiefer als nur auf die Oberfläche zu schauen.
({5})
Ein Großteil dieses Hauses ist mit der Situation auf
den Finanzmärkten nicht zufrieden. Kasinokapitalismus
und eine von der Realwirtschaft abgekoppelte Finanzwirtschaft haben uns seit 2008 eine Dauerkrise auf unterschiedlichen politischen Spielfeldern beschert.
({6})
Die Wucht der Ausschläge deregulierter Märkte überrollt gnadenlos die Gestaltungskraft der Staaten weltweit, vor allem aber Europas. Bis weit in bürgerliche
Kreise hinein - ich schließe mich hier selbst mit ein wird kritisch gesehen,
({7})
dass es kaum verbindliche internationale Regeln für
Finanzmärkte gibt.
({8})
Zugeschrieben wird der Schwund staatlicher Gestaltungsspielräume dabei nicht zu Unrecht auch der fortschreitenden Globalisierung. Mit ihr ist das Spielfeld für
Deregulierung eröffnet worden. Deutschland beweist
zwar, dass es mit der sozialen Marktwirtschaft und damit
mit einem feinnervigen System der Balance zwischen
unterschiedlichen Rechten über eine leistungsfähige
Wirtschaftsordnung verfügt - unsere wirtschaftliche
Stärke zeigt das -, gleichzeitig ist die soziale Marktwirtschaft aber nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal.
Der liberale Kapitalismus Angloamerikas ist international weiter in der Vorhand.
({9})
Insofern würden sicherlich viele den eingangs zitierten
Sätzen Sigmar Gabriels zustimmen.
({10})
Wir als Bundesrepublik sind doch schon immer mit dem
Willen zum schonenden Ausgleich der Interessen gut gefahren.
Damit nun zum Leistungsschutzrecht für Presseverlage.
({11})
- Es ist schön, dass Sie da schon applaudieren.
({12})
Letztlich ist die Diskussion um dieses Recht nichts anderes als ein Abziehbild der Diskussion um die Finanzmärkte.
({13})
Die Interessenlagen sind an dieser Stelle durchaus vergleichbar.
({14})
Interessant ist nur, wie verschoben die Wahrnehmung
bei der Auseinandersetzung um das Recht auf geistiges
Eigentum ist, insbesondere, wie ich jetzt merke, auf der
linken Seite des Hauses.
({15})
Letztlich geht es nämlich um das Gleiche. Es geht um
die Frage, wie dereguliert der Wirtschaftsraum Internet
- darum geht es eigentlich, trotz aller Camouflage - sein
soll. Sollen hier die Regeln des liberalen Kapitalismus
gelten, um in der Diktion Sigmar Gabriels zu bleiben,
oder ein auf Ausgleich bedachtes System der sozialen
Marktwirtschaft? Gerade nach den Erfahrungen mit den
Finanzmärkten fällt es mir nicht schwer, darauf eine
Antwort zu geben. Zumal das Urheberrecht in ökonomischer Hinsicht soziale Marktwirtschaft par excellence
darstellt: Seine Grundlage bildet das Eigentumsrecht,
das dem Urheber oder Leistungsschutzberechtigten die
Freiheit ökonomischer Verwertung sichert. Gleichzeitig
sind aber Schranken zugunsten der Freiheit anderer essenzieller Teil der Urheberrechtsordnung. Schon seiner
Grundstruktur nach ist das Urheberrecht damit auf den
Ausgleich von Rechten und von ökonomischen Interessen orientiert.
({16})
In diese Systematik fügt sich auch das Leistungsschutzrecht für Presseverlage ein. Es ist keine neue Erfindung. Leistungsschutzrechte gibt es bereits, seit es das
Urheberrecht gibt. Wir, die christlich-liberale Koalition,
haben uns lediglich entschieden, ein weiteres Leistungsschutzrecht einzuführen. Das Ziel ist dabei - so steht es
schon im Koalitionsvertrag -, dass Verlage im Onlinebereich nicht schlechter dastehen sollen als andere
Werkvermittler.
Das vorgeschlagene Leistungsschutzrecht für Presseverlage unterscheidet sich dabei massiv von anderen
bereits bestehenden, sogenannten verwandten SchutzAnsgar Heveling
rechten. Während andere Leistungsschutzrechte meist
ein weitreichendes Ausschließlichkeitsrecht für den
Rechteinhaber beinhalten, ist das vorgeschlagene Leistungsschutzrecht für Presseverlage bewusst schmal ausgestaltet.
({17})
Es differenziert - das ist dem Urheberrecht ansonsten
eher fremd - zwischen privater und gewerblicher Nutzung, und es vermittelt dem Leistungsschutzberechtigten
seine Rechte nur für ein Jahr.
Daraus resultiert beinahe schon zwangsläufig, dass
der Gesetzentwurf auch Fragen aufwirft,
({18})
die bei einer ebenso strengen Ausgestaltung des Leistungsschutzrechtes wie bei anderen verwandten Schutzrechten nicht auftreten würden. Diesen Fragen werden
wir uns sicherlich in der Anhörung vertieft widmen können. Während sowohl die Definition des Presseerzeugnisses als auch die des Presseverlages klar konturiert
sind, ist es sicherlich angezeigt, die juristische Validität
von Begriffen wie „Suchmaschine“ oder „gewerbliche
Anbieter“ noch einmal näher zu beleuchten.
({19})
Das wird die rechtliche Regelung des Leistungsschutzrechtes indessen nicht grundsätzlich infrage stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leistungsschutzrecht für Presseverlage ist ein bereits im Vorfeld
der parlamentarischen Beratungen intensiv diskutiertes
Thema. Das liegt wohl hauptsächlich daran, dass es als
Chiffre für ganz andere Debatten dienen soll. Diese Debatten müssen wir auch führen; das ist gar keine Frage.
Das Internet muss ohne Frage ein Freiheitsraum sein und
bleiben, so wie es im Übrigen die reale Welt in unserer
Bundesrepublik Gott sei Dank auch ist.
Markenkern unserer Freiheit ist dabei aber, nicht ausschließlich das Recht des ökonomisch Stärkeren zu berücksichtigen, sondern einen sorgsamen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen herbeizuführen. Das
sollten wir uns auch bewahren. Freiheit darf auch im Internet keine einseitige Freiheit sein.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Sitte für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Das ist nicht zu toppen, was er da geboten hat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute also zu später Stunde über den Sandkastenstreit, wer wem welches Schäufelchen in der Medienwelt aus der Hand schlagen könnte. Da schreien auf der
einen Seite die Verleger: „Google verdient Geld mit unseren Inhalten!“ und wollen deshalb Geld von Google.
Google kläfft nun seinerseits zurück und sagt: „Die Verlage bekommen von uns ohne Ende Onlinekunden, sollen sie doch froh sein darüber, da nehmen sie ja auch
Geld ein.“ Gleichzeitig tun beide Seiten so, als wären sie
für Gemeinwohl, für Demokratie und Weltfrieden absolut unverzichtbar. Aber letztlich streiten sich beide Seiten nur um fette Profite.
({1})
Nun könnte man ja sagen, das sei alles kindisches Gehabe und kindisches Gezänk, das könne man eigentlich
auch ignorieren. Aber da gibt es eben sehr wohl das ungenierte einseitige Parteinehmen der Bundesregierung
für Springer & Co. Und Herr Keese vom Springer-Verlag war es, der das in den letzten Jahren vorangetrieben
hat. Deshalb gibt es also kurz vor Weihnachten hier
schon einmal eine schöne Bescherung, einerseits für den
Springer-Verlag, andererseits für das Parlament in Gestalt des Gesetzentwurfes zum Leistungsschutzrecht für
Presseverlage. Das ist, ehrlich gesagt, nicht so ganz
leicht zu verstehen.
({2})
Warum ist das so schwer zu verstehen? Ganz einfach:
Weil es heute - ach, was heißt heute? Schon seit etwa
20 Jahren! - ganz einfache, problemlose, technische
Möglichkeiten gibt, mit denen die Verlage ihre Veröffentlichungen wirksam vor Suchmaschinen schützen
könnten.
({3})
Vor allem aber - das muss ich sagen, Herr Stadler - ist
das Gesetz denkbar schlampig formuliert.
({4})
Niemand weiß nämlich am Ende, wer von diesem Gesetz begünstigt oder dadurch zu Zahlungen verpflichtet
wird. Niemand weiß genau, wie der Schutzgegenstand
aussehen soll, was er sozusagen ist.
Wir wissen aber, dass dieses Leistungsschutzgeld erfolgreich Innovationen im Netz behindern wird, und
zwar immer dann, wenn es um Informationsaufbereitung
oder Informationsaggregation geht.
({5})
Die Linke hat zu den Rechtsunsicherheiten diese Woche auch eine Kleine Anfrage gestellt.
({6})
Ich wette mit Ihnen, diese wird noch weit mehr als die
bisher bekannten Mängel des Gesetzes freilegen. Es
wird dann natürlich in dieser Anhörung, von der Sie gesprochen haben, spannend, ob sich das erklären und sauber beheben lässt.
Am Ende werden sich, wie ich glaube, die Abmahnanwälte die Hände reiben; das tun sie wahrscheinlich
schon heute angesichts des profitablen Geschäfts, das
auf sie zukommt.
({7})
Nun gibt es auch Gerüchte, dass der Gesetzestext absichtlich so schlecht geschrieben worden ist - nicht, weil
es den fleißigen Bienchen im Justizministerium an Intellekt gefehlt hätte, nö, nö. Vielleicht wollten oder sollten
die sich schlicht und ergreifend keine Mühe geben.
({8})
Immerhin gibt es offensichtlich kaum jemanden in der
Behörde ({9})
bei den Anfragen im Unterausschuss Neue Medien ist
das ganz deutlich geworden -, der dieses Gesetz am
Ende tatsächlich für sinnvoll hält. Das, meine Damen
und Herren, sind natürlich - ich höre es schon - ganz,
ganz schlimme Oppositionsspekulationen.
Keine Spekulation ist beispielsweise die Stellungnahme von 16 hochangesehenen Professorinnen und
Professoren gegen das geplante Leistungsschutzrecht.
({10})
- Ich kann das sehr wohl beurteilen, aber Sie können ruhig weiter Ihren Jahrhunderttraum von den fetten Gewinnen träumen.
({11})
Es handelt sich bei dieser Gruppe um ausgewiesene Urheberrechtsexperten. Diese stellen für das geplante Leistungsschutzrecht fest - ich zitiere an dieser Stelle -, dass
die Gefahr, die von ihm ausgeht, unabsehbare negative
Folgen in sich birgt.
Ebenfalls keine Spekulation ist, dass es selbst in den
Reihen der Koalition offensichtlich eine ganze Menge
Leute gibt, die das Gesetz ganz und gar nicht so toll finden. Im Gegenteil: Sie haben sich zu Wort gemeldet
- schwarze wie gelbe Kritiker, klug und prominent - und
in die Diskussion eingemischt.
Daher bleibt mir an dieser Stelle nur, an die Bundesregierung zu appellieren: Hören Sie einfach auf all die
schlauen Menschen! Hören Sie auf die Leute, die im Internet zu diesem Thema diskutieren! Überwinden Sie
vor der Wahl Ihre Angst vor der Bild-Zeitung und ziehen
Sie schlicht und ergreifend dieses Leistungsschutzrecht
zurück!
({12})
Das Wort erhält nun die Kollegin Tabea Rößner vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
gebe zu: Ich habe mich geirrt; denn ich habe immer gedacht, diesen Schwachsinn kriegen Sie nie durch.
({0})
Schon damals, bei Abschluss des Koalitionsvertrages,
habe ich mich gefragt, wie Sie das angekündigte Leistungsschutzrecht überhaupt umsetzen wollen. Drei Jahre
und drei Entwürfe später merke ich: Sie wissen es immer
noch nicht. Deshalb klatschen Sie uns einen halbherzigen, einen halbgaren und einen halbfertigen Gesetzentwurf hin, der von der Ausgestaltung her nicht unklarer
sein könnte. Niemand - Ihre eigenen Leute übrigens
auch nicht - kann mit Sicherheit sagen, wie weit der Entwurf greifen wird.
Sind Links nun geschützt oder nicht?
({1})
Das weiß niemand. Ich weiß aber eins: Es wäre katastrophal, wenn es so wäre. Denn das Internet heißt nicht aus
Jux Netz, sondern weil es durch das Interagieren von
Menschen, durch Kommunikation, Verweise und den
Austausch von Informationen lebt. Eine Basis dafür sind
natürlich Links.
Die Kanzlerin hat das Leistungsschutzrecht als Antwort auf die „Anforderungen einer modernen Informationsgesellschaft“ gepriesen. So wie es aussieht, kennt
sie nicht einmal die Frage.
({2})
Der Informationszugang wird nämlich durch das Leistungsschutzrecht eingeschränkt. Warum? Weil Suchmaschinen und Aggregatoren deutsche Presseerzeugnisse
und gewerbliche Blogs nicht mehr listen dürfen; es sei
denn, sie haben eine Lizenz. Sollen etwa Google oder
Rivva die Blogger alle selber abtelefonieren? Oder wie
stellen Sie sich das vor?
Apropos ahnungslos: Ganz groß war auch Ihr Auftritt
im Medienausschuss, Herr Kollege Müller-Sönksen, als
Sie für das Gesetz mit der Begründung geworben haben,
dass es den Qualitätsjournalismus in unserem Land und
die Pressevielfalt erhalten werde. Aber jeder, der für
zwei Minuten seinen Verstand hochfährt,
({3})
kann sehen: Sie bewirken das Gegenteil.
({4})
Da es für die Koalition jetzt vielleicht schon zu spät in
der Nacht ist, übernehme ich das Denken für Sie. Eine
Suchmaschine wie Google wird wohl kaum auf das kollektive Springer-Angebot verzichten wollen. Also hat
Springer in Verhandlungen Oberwasser und kann für die
Lizenzen gutes Geld verlangen, auch wenn der Verlag in
den vergangenen zwei Jahren ohnehin schon Rekordergebnisse eingefahren hat. Das Hintertupfinger Tageblatt
dagegen ist nicht so gefragt wie Bild. Denen zahlt
Google sicherlich wenig, vielleicht sogar gar nichts.
Ergo: Die Großen profitieren, die Kleinen verlieren, und
am Ende lacht Springer. Wenn Sie das wollen, dann sagen Sie das bitte hier auch so, sehr verehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition.
Noch jemand wird durch das Gesetz verdienen: die
Abmahnanwälte. Denn Leistungsschutzrecht wird Anwalts Liebling. Wissen Sie, wer das Geld dringender nötig hätte? Journalisten. Sie müssen heute nämlich Knebelverträge unterzeichnen, sofern sie überhaupt noch
Arbeit haben.
Aber an der einzigen Stelle, an der das Leistungsschutzrecht vielleicht etwas Gutes bewirken könnte,
nämlich bei der Verbesserung der Vergütung der Urheber
selbst, bleiben Sie seltsam im Vagen. Denn die Autoren
hatten Sie bestimmt nicht im Sinn, als Sie an den zig
Versionen des Gesetzentwurfs herumdokterten.
Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf ist ungenau
formuliert, rückwärtsgewandt und geht am Ziel vorbei.
Er sollte deshalb besser nie den Beratungsvorgang verlassen, geschweige denn zur Abstimmung kommen.
Sonst erleben Sie vielleicht sogar ein peinlicheres Ergebnis, als Ihnen lieb ist. Denn die Summe der Kritiker ist
groß, nicht nur auf der Oppositionsbank: Das MaxPlanck-Institut, Siegfried Kauder, Vorsitzender des
Rechtsausschusses,
({5})
die JuLis und die Junge Union, Ihre Jugendorganisationen, haben zusammen mit den anderen Parteijugendorganisationen gegen das Leistungsschutzrecht aufgerufen. Das sollte Ihnen doch zu denken geben.
({6})
Sie alle werden sich bei der Abstimmung bekennen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Justizministerin hat neulich auf einer Veranstaltung des BDZV
Frau Kollegin, Sie hatten doch die Zusammenfassung
in Aussicht gestellt.
- ich komme zum Schluss - zum Leistungsschutzrecht gesagt:
Aber es ist doch gut, wenn zu einem Thema auch
dann debattiert wird…
…
Man darf doch nicht so defensiv sein und bei Themen, wo man sagt, da gibt’s auch Kritik, dann sich
zurückziehen ins Schneckenhäuschen …
Jetzt ist es 23.18 Uhr, und im Schneckenhäuschen
hätten wir schon Platz.
({0})
Würden wir bei Twitter über den Gesetzentwurf streiten, hätte ich zwei schöne Hashtags für ihn: Fail und
Facepalm.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt hören wir Thomas Silberhorn live für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich spreche zwar live, aber der Umstand, dass
das nicht mehr live im Fernsehen übertragen wird, führt
dazu, dass ich meine Urheberrechte an dieser Rede nicht
mehr über die Verwertungsgesellschaft Wort geltend machen kann.
({0})
Ich spreche aber gerne über Leistungsschutzrechte,
die unserer Rechtsordnung ja nicht fremd sind. Es gibt
eine ganze Reihe von Leistungsschutzrechten: für Darsteller, für Produzenten, für Sendeanstalten, für Tonträgerhersteller. Hinter diesen verwandten Schutzrechten
steckt die gemeinsame Überlegung, dass kreative Leistungen von Darstellern und Produzenten, aber auch organisatorische und unternehmerische Leistungen schützenswert sind, die zwar kein neues Werk schaffen, die
aber der Vermittlung von Werken dienen. Dazu wird
künftig auch die verlegerische Leistung im Internet zählen.
({1})
Wir erweitern also das Portfolio der bereits verwandten
Schutzrechte um ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage. Darauf haben wir uns schon im Koalitionsvertrag
verständigt. Unser Ziel ist, dass wir Presseerzeugnisse
und ihre Verwertung im Internet besser schützen können.
Der Gesetzentwurf sieht deshalb im Kern vor, dass
den Presseverlagen ein ausschließliches Recht einge25806
räumt wird, Presseerzeugnisse zu gewerblichen Zwecken im Internet zugänglich zu machen. Es soll damit
schlicht sichergestellt werden, dass Verlage im Onlinebereich nicht schlechter gestellt werden als andere Werkvermittler. Es werden reine Verlinkungen weiterhin
entgeltfrei möglich sein. Das Zitierrecht des Urheberschutzes wird nicht beeinträchtigt. Die private Nutzung
bleibt möglich. Die Suchfunktion einer Suchmaschine
- anders als Sie, Herr Kollege Dörmann, es dargestellt
haben - wird in keiner Weise berührt. Es kann weiter gesucht und gefunden werden.
Das neue Leistungsschutzrecht schützt nur den Zugriff auf die verlegerische Leistung durch gewerbliche
Anbieter von Suchmaschinen oder sonstigen Diensten,
die Inhalte entsprechend aufbereiten, wie die Newsaggregatoren. Diese Anbieter müssen künftig für die Nutzung von Presseerzeugnissen Lizenzen erwerben. Der
Schutzbereich dieses Leistungsschutzrechts ist also sehr
klar definiert und begrenzt. Er umfasst das Presseerzeugnis in seiner konkreten Gestaltung und Festlegung durch
den Verleger. Es geht nicht um den Schutz der darin enthaltenen Texte, es geht nicht um Fotos oder Grafiken.
Für die gilt weiterhin das vorhandene Urheberrechtsgesetz.
Noch einmal: Nicht erfasst von diesem Leistungsschutzrecht für Presseverlage - das wird in der öffentlichen Diskussion oft ausgeklammert - sind alle anderen
als die genannten gewerblichen Nutzer,
({2})
also: Blogger, Verbände, ehrenamtliche Organisationen
aller Art, private Nutzer, auch alle Unternehmen und
sonstige gewerbliche Nutzer,
({3})
die nicht zu den Suchmaschinen oder den sonstigen
Diensten zählen, die Inhalte aufbereiten. All die werden
durch das neue Leistungsschutzrecht nicht berührt.
Wenn gerade im Bereich der gewerblichen Nutzung
noch Fragen zur Abgrenzung offen sind, werden wir versuchen, sie auszuräumen. Ich will hier anmerken, dass
wir gerne bereit sind, im weiteren Gesetzgebungsverfahren darauf ein besonderes Augenmerk zu richten, damit
das sichergestellt wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung
des Kollegen Notz?
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit würde ich zwar
gerne fortfahren, will aber keine Antwort schuldig bleiben. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit, eine
Frage zu stellen. Ehrlich gesagt, es sind zwei.
Die erste Frage ist: Sie sprachen an, dass das Vorhaben, ein solches Leistungsschutzrecht einzuführen,
schon im Koalitionsvertrag stand. Es haben sich viele
Leute darüber gewundert; denn das stand ja in keinem
Wahlprogramm. Vielleicht können Sie das Mysterium
einmal auflösen, wie der Punkt Leistungsschutzrecht in
den Koalitionsvertrag kam. Eine richtige Abstimmung in
Ihrer Partei hat es nach meinem Kenntnisstand nicht gegeben.
Die zweite Frage ist: Sie sprachen von Bloggern, die
nicht betroffen wären. Was ist der Unterschied zwischen
einem nichtgewerblichen Blogger und einem gewerblichen Blogger? Ist jemand, der bloggt und ein kleines
Werbebanner schaltet, um die Kosten für seine Homepage zu decken, ein gewerblicher Blogger? Ist er erfasst,
ja oder nein? Das sind jedenfalls die Fragen, die sich
viele Menschen stellen.
({0})
- Ihre Kollegen wissen es offensichtlich besser als Sie
selbst. Vielleicht haben sie eine Antwort auf diese Fragen.
Sie haben meine Antwort noch gar nicht gehört.
({0})
- Sie sorgen sich um Ihre Fragen, aber ich will sie Ihnen
gerne beantworten.
Zunächst: Koalitionsverträge werden bei uns nach
den Wahlen verhandelt
({1})
zwischen den Koalitionspartnern, die sich auf eine Regierungsmehrheit verständigen konnten. Diese Koalitionsverhandlungen nehmen selbstverständlich die Wahlprogramme zur Grundlage. Wir sind aber, jedenfalls in
unseren Fraktionen, immer aufgeschlossen für Erkenntnisfortschritte, für Ideen, für Kreativität, für Neues.
({2})
Deswegen schreiben wir in unseren Koalitionsverhandlungen nicht einfach bereits veröffentlichte Wahlprogramme ab, sondern wir führen einen offenen demokratischen Diskurs und präsentieren dann einen Vertrag, der
Grundlage für unsere Arbeit ist. Ich freue mich sehr,
dass es gelungen ist, die Ergebnisse dieses Koalitionsvertrages in dem Punkt Leistungsschutzrecht nach langer
dreijähriger Diskussion auch in einen Gesetzentwurf zu
gießen.
({3})
Nun zu der Frage: Wer ist erfasst? Noch einmal:
Wenn hier Abgrenzungsfragen offenbleiben, müssen wir
das ganz offen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
besprechen.
({4})
Alle gewerblichen Nutzer, die nicht Internetsuchmaschinen oder andere Dienste sind, die fremde Inhalte entsprechend aufbereiten, werden von dem Leistungsschutzrecht nicht erfasst. Alle gewerbliche Nutzung ist
möglich, die nicht in der Auswertung fremder Inhalte zu
eigenen wirtschaftlichen Zwecken besteht.
({5})
Ich hoffe, dass ich damit zur Klärung beitragen konnte;
denn Ihre Frage macht deutlich, dass eine ganze Reihe
von Unsicherheiten bestehen, die aber jeglicher Grundlage entbehren. Ich hoffe, dass wir diese Debatte dann
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens fortsetzen können.
Die Rechte der Urheber werden übrigens durch dieses
Leistungsschutzrecht in keiner Weise beeinträchtigt. Im
Gegenteil: Die Presseverlage können ihr Leistungsschutzrecht nicht zum Nachteil des Urhebers geltend
machen.
({6})
Im Gesetzentwurf ist klargestellt, dass der Urheber an einer Vergütung, die durch die Lizensierung des Leistungsschutzrechts generiert werden kann, angemessen
zu beteiligen ist.
({7})
Darüber sind sich im Übrigen die Verlegerverbände und
die Journalistengewerkschaften im Grundsatz seit langem einig.
({8})
Wir werden in den weiteren Beratungen auch intensiv
die Vorschläge des Bundesrates prüfen, etwa die Frage,
inwieweit Vergütungen für die Einräumung von Nutzungsrechten am Leistungsschutzrecht über eine Verwertungsgesellschaft eingezogen und verteilt werden
können. Da wird sicherlich auch die bevorstehende
Sachverständigenanhörung im kommenden Jahr Erkenntnisse beisteuern können.
Meine Damen und Herren, uns ist bewusst, dass dieses neue Leistungsschutzrecht national wie international
hohe Beachtung erfährt. Die hohe Aufmerksamkeit der
betroffenen Unternehmen liegt vielleicht auch darin begründet, dass ein solches Leistungsschutzrecht für Presseverlage schnell Nachahmer finden kann, wenn es in
Deutschland funktioniert.
Die lautstarken Kritiker, die für die Freiheit im Internet Sturm laufen, mögen sich bitte auch die Frage stellen, für wen sie hier in die Schlacht ziehen. Denn Freiheit im Internet kann doch nicht bedeuten, dass sich
jeder bei Leistungen, die andere erbracht haben, bedienen kann. Wenn der eine seine Marktmacht ausspielt, um
Leistungen Dritter für eigene wirtschaftliche Zwecke zu
nutzen, während der andere, der diese Leistung erbracht
hat, in die Röhre schaut und damit die Leistung auf
Dauer gar nicht mehr erbringen kann, dann hat sich hier
ein Ungleichgewicht entwickelt, das so nicht mehr hingenommen werden kann. Deswegen schaffen wir ein
Leistungsschutzrecht für Presseverlage, das hierfür einen angemessenen Ausgleich schafft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Nun hat der Kollege Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Heveling! Unmittelbar vor der
Diskussion über das Leistungsschutzrecht hat eine Kollegin in Sorbisch geredet. Ich habe diese Sprache noch
nie gehört, aber ich will offen sagen: Ich habe bei dieser
Rede mehr verstanden als bei Ihrem Beitrag zum Leistungsschutzrecht.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade die letzten
Tage haben gezeigt, mit welcher Härte gestritten wird,
wenn es darum geht, das digitale Zeitalter zu erreichen.
Wir sehen, dass auf dem Weg in die digitale Gesellschaft
radikale Umbrüche stattfinden, und wir sehen, dass Geschäftsmodelle infrage gestellt werden, dass sie aufgelöst werden, dass Machtordnungen infrage gestellt werden und sich neu sortieren.
({1})
Wir sehen eine riesige Verunsicherung, wenn es um
das Thema Urheberrecht geht. Sie alle kennen die Diskussionen mit Schülergruppen, die hier sind und ganz
viele Fragen haben. Um das Parlament herum wird die
Frage Urheberrecht groß diskutiert. ACTA war beispielhaft für die gesellschaftspolitische Dimension, die das
Urheberrecht mittlerweile angenommen hat. Aber was
ist die Antwort von Schwarz-Gelb auf die Herausforderungen, die es beim Urheberrecht gibt? Es ist das Leistungsschutzrecht.
({2})
Wie sieht eigentlich die netzpolitische Bilanz dieser
Regierung aus? Breitbandausbau? Wir liegen hinter Rumänien. Verankerung der Netzneutralität? Fehlanzeige.
Modernisierung des Datenschutzes? Fehlanzeige. Auf25808
bruch in der Internetwirtschaft? Fehlanzeige. Die netzpolitische Bilanz dieser schwarz-gelben Regierung wird
vom Leistungsschutzrecht geprägt. Ich sage Ihnen: Das
ist eine traurige Bilanz. Wir von der SPD werden alles
versuchen, um dieses Leistungsschutzrecht zu verhindern.
({3})
Das Leistungsschutzrecht ist ein Irrsinn. Sie schaffen
Unsicherheit, Sie schaffen Unklarheiten, Sie greifen in
die Informations- und Kommunikationsfreiheiten ein,
und Sie gefährden die Kreativität und den Innovationscharakter des Internets. Das Schlimmste aber ist: Sie
sind doch selbst nicht einmal überzeugt von dem, was
Sie da tun. Siegfried Kauder, der sicherlich alles andere
ist als ein Kämpfer für das freie Internet, hat bei einer
Veranstaltung des eco Mitte Oktober gesagt - so wird er
zitiert -, das Leistungsschutzrecht sei eine „Mogelpackung“ und ein „Taschenspielertrick“.
Die geschätzte Kollegin Dorothee Bär sagte in einem
Interview bei iRights.info, dass - ich zitiere - „das Leistungsschutzrecht dem Standort Deutschland massiv
schaden würde“.
({4})
Weiter heißt es dort:
… im Hinblick auf die bisweilen unlösbare Frage,
ob jemand seinen Account beruflich oder privat
nutzt, beschränkt man die User in unverhältnismäßiger Weise in ihrer Kommunikations- und Informationsfreiheit.
Heute haben sich die Jugendverbände der politischen
Parteien gemeinsam gegen das Leistungsschutzrecht
positioniert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren
nicht nur die Jusos und die Grüne Jugend, es waren auch
die Junge Union und die Jungen Liberalen. Ich frage Sie:
Warum hören Sie nicht auf die jungen Leute in Ihren
Parteien?
({5})
Warum hören Sie nicht auf die Netzpolitiker in Ihren
Parteien? Warum muss das Leistungsschutzrecht hier
mit allem Zwang und gegen jede Vernunft durch den
Deutschen Bundestag gedrückt werden?
Unabhängige Wissenschaftler am Max-Planck-Institut haben vor wenigen Tagen festgestellt: Es gibt kein
Marktversagen, es gibt keine Rechtslücke, es gibt keine
Notwendigkeit für ein Leistungsschutzrecht, und es gibt
keine Notwendigkeit für eine Lizenzpflicht bei Snippets.
Ich sage auch: Das Leistungsschutzrecht ist nicht nur
unnötig, es ist auch noch schlecht gemacht. Wenn man
zum Beispiel die Bezeichnung „suchmaschinenartige
Dienste“ liest und dann beim Justizministerium nachforscht, was das denn bedeutet, dann erhält man auf der
Homepage die Antwort: Eine juristische Einordnung
konkreter Dienste bleibt den Gerichten vorbehalten.
Hier sehen wir doch, dass Sie ein Gesetz auf den Weg
bringen, von dem Sie nicht einmal wissen, was das konkret bedeutet. Hier wird Unsicherheit gestreut. Deswegen darf dieses Leistungsschutzrecht niemals kommen.
Wenn es darum geht, den Qualitätsjournalismus zu stärken, wenn es darum geht, eine angemessene Rechtsdurchsetzung im Internet stattfinden zu lassen, wenn es
um die Ermöglichung neuer Geschäftsmodelle geht,
dann sind wir als SPD dabei - aber ohne Leistungsschutzrecht.
Ich freue mich, dass jetzt sicherlich der Kollege
Jimmy Schulz erklären wird, dass auch er nicht zustimmt.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({6})
Jedenfalls ist der Kollege Schulz der voraussichtlich
letzte Redner des heutigen Abends, und zwar für ganze
drei Minuten. Bitte schön, Sie haben das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße ganz besonders herzlich auch die
Menschen an den Bewegtbildempfängern zu Hause oder
bei Public-Viewing-Veranstaltungen.
({0})
- Es gibt tatsächlich eine.
Lars Klingbeil, zur Bilanz der Netzpolitik der
schwarz-gelben Koalition kann ich sagen: Wir mussten
ja erst einmal aufräumen mit dem Scherbenhaufen, den
die SPD zu diesem Themenbereich hinterlassen hat. Wir
haben das Internetsperren-Gesetz wieder aufgehoben.
({1})
Seitdem wir an der Macht sind, gibt es in Deutschland
keine Vorratsdatenspeicherung mehr. Wir haben ELENA
wieder abgeschafft, und wir haben ACTA verhindert.
({2})
Kommen wir jetzt aber zum Thema. Die Digitalisierung und die globale Vernetzung haben unser Leben dramatisch verändert, möglicherweise sogar revolutioniert.
Sie werden das auch noch weiter tun. Gerade im Bereich
des Urheberrechts sind diese Änderungen sichtbar, war
doch das Geschäftsmodell in der Vergangenheit das Bannen von Inhalten, von Contents, auf einen physikalischen
Träger, den man dann verkauft, gehandelt, vermietet,
weggeschmissen oder im schlimmsten Fall verbrannt hat.
Dieses Geschäftsmodell ist tot. Es wird nicht mehr
funktionieren. Es war ein Geschäftsmodell, das über die
letzten Jahrhunderte funktioniert hat, seit Gutenberg, der
das Kopieren erfunden hat.
({3})
Aber dieses Geschäftsmodell ist tot. Deswegen diskutieren wir seit Jahren intensiv insbesondere über das Problem, das die Presseverleger haben. In die Vorschläge
sind viele Verbesserungen eingeflossen. Nun hat die
Bundesregierung einen neuen Entwurf vorgelegt, den
wir hier zu diskutieren haben. Es ist die vornehmste Aufgabe des Parlaments, diesen Vorschlag zu diskutieren,
sich mit Experten zu beraten und - falls nötig - Optimierungen und Verbesserungen vorzunehmen.
({4})
Dazu habe ich vor geraumer Zeit einen neuen Vorschlag gemacht. Es gibt bereits technische Möglichkeiten, genau zu bestimmen, wer wie automatisiert auf eine
Website zugreifen kann. Dieser technische Standard, die
sogenannte robots.txt, kann sehr fein steuern, wer wo
und wie auf etwas zugreifen kann.
Dieses Modell entspricht einem wunderbaren technischen Standard, der seit ungefähr 15 Jahren existiert und
auch genutzt wird. Diesem Gentleman’s Agreement fehlt
jedoch ein rechtlicher Schutz. Deshalb schlage ich vor,
für einen solchen rechtlichen Schutz zu sorgen.
({5})
Dieses Modell bietet den Vorteil, dass es nicht nur
ausschließlich für Presseverleger gilt, sondern es würde
für alle gelten können, also auch für Blogger, für jeden,
der Inhalte im Internet bereitstellt. Ein weiterer Vorteil
wäre, dass dies sogar dem Koalitionsvertrag entsprechen
würde; denn im Koalitionsvertrag steht, dass im OnlineBereich Presseverleger nicht schlechter gestellt sein sollen als andere Werkvermittler.
Meine Haltung bleibt klar: Code is Law.
({6})
Ich schließe die Debatte, obwohl zweifellos noch
manches zu sagen und ganz sicher auch noch manches
nachzufragen wäre.
({0})
Zu Beginn hatten sich aber alle Beteiligten auf die
Dauer der Debatte verständigt. Wenn dies gewünscht
wird, kann ich den Nachweis führen, dass die Debatte
nicht kürzer, sondern länger gedauert hat als vereinbart.
({1})
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11470 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist dies
unstreitig? - Immerhin ist dies der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Dann setzen wir die Abstimmungen fort. Ich mache
von vorneherein darauf aufmerksam, dass es reichlich
abzustimmen gilt.
Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({2}), Sebastian Edathy, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Hinschauen - Dunkelfeldforschung zum Thema
Rechtsextremismus
- Drucksache 17/11366 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({3})Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die dazu angemeldeten Reden werden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
In Ihrem Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, beziehen Sie sich auf die Entschließung „Mordserie der Neonazi-Bande und die
Arbeit der Sicherheitsbehörden“ ({0}) vom November des vergangenen Jah-
res.
Diese Entschließung, die von allen Bundestagsfrak-
tionen gefasst wurde, hat für die christlich-liberale
Koalition einen besonderen Stellenwert. Er ist für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion kein bloßes Lippenbe-
kenntnis, sondern vielmehr die an uns selbst gerichtete
Verpflichtung, a) die NSU-Mordserie konsequent und
mit größter Sorgfalt aufzuklären und b) aus den Ergebnissen der Untersuchung die notwendigen Veränderungen zur Verbesserung unserer Sicherheitsarchitektur vorzunehmen.
Neben den notwendigen Reformen der Verfassungsschutzbehörden und der Optimierung ihrer Zusammenarbeit ist die Präventionsarbeit, zum Beispiel
durch die politische Bildung oder durch gesellschaftliche Projekte zur Förderung interkultureller Kompetenz, ein wichtiger Baustein im Kampf gegen den
Rechtsextremismus in unserem Land.
Seit der Entschließung hat sich auf dem Gebiet der
Bekämpfung des Rechtsextremismus vieles getan. Ich
will aus dem Bereich des Bundesinnenministeriums
zwei Beispiele benennen:
Erstens. Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus hat die christlichliberale Koalition die Rechtsgrundlage für die Errichtung einer gemeinsamen und zentralen Rechtsextremismusverbunddatei von Polizei und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder geschaffen. Im
Gegensatz zur artverwandten Antiterrordatei aus dem
Bereich des islamistischen Terrorismus ermöglicht das
Gesetz unter engen Voraussetzungen eine Recherche
zur Aufdeckung von Tatzusammenhängen. Die schreckliche NSU-Mordserie hat uns vor Augen geführt, dass
eine Verbesserung des Informationsaustausches zwi25810
schen der Polizei und den Nachrichtendiensten von
Bund und Ländern zwingend notwendig ist. Mit diesem
Gesetz hat die Bundesregierung eine wichtige Konsequenz aus der Mordserie gezogen.
Zweitens. Gleiches gilt für die Eröffnung des Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums, GETZ. Ziel ist es, die Fachexpertise aller Behörden unmittelbar zu bündeln und einen lückenlosen
und schnellen Informationsfluss sicherzustellen. Auch
aufgrund der Erfahrungen des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums, GTAZ, und des Gemeinsamen
Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus, GAR, welches nunmehr in der GETZ aufgeht, ist ein deutlicher
Mehrwert, insbesondere in den Bereichen Bündelung
der Phänomenexpertise, Stärkung der Analysekompetenz, Früherkennung möglicher Bedrohungen und bei
der Erörterung operativer Maßnahmen, zu erwarten.
Mit den benannten Beispielen zeigt sich, dass die
christlich-liberale Koalition anhand der bislang gewonnenen Erkenntnisse und mit Nachdruck daran arbeitet, einen erfolgreichen Kampf gegen den Rechtsextremismus in unserem Land zu führen.
Im Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildungsarbeit verweise ich auf die Ausgaben
des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, BMFSFJ, das jährlich 24 Millionen Euro
für Bundesprogramme im Bereich der Präventionsarbeit zur Verfügung stellt. Damit stellt diese Bundesregierung so viel Geld zur Förderung zivilen Engagements, demokratischen Verhaltens und den Einsatz für
Vielfalt und Toleranz zur Verfügung wie keine Bundesregierung bisher.
Es hat sich seit dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie in unserem Land vieles getan. Die christlich-liberale Koalition wird diesen eingeschlagenen Weg kontinuierlich weiterverfolgen und sinnvoll ergänzen.
In Ihrem Antrag stützen Sie sich, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, auf eine
„Reportage“ der Amadeu-Antonio-Stiftung mit dem
Titel „Das Kartell der Verharmloser“. Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Die darin beschriebenen Vorfälle sind durch nichts zu entschuldigen.
Sollten einzelne Polizeibeamte das Vertrauen der Mitbürgerinnen und Mitbürger nachhaltig geschädigt haben oder gar ihren Pflichten nicht nachgekommen
sein, so muss dieses Verhalten Konsequenzen für die
betreffenden Beamten nach sich ziehen. Dies obliegt
dem Föderalismusprinzip entsprechend den jeweils zuständigen Stellen.
Mit aller Entschiedenheit wehre ich mich aber gegen die Formulierungen einer „systematischen Bagatellisierung“ oder einer „bundesweiten Mauer aus
Ignoranz und Verharmlosung“ im Zusammenhang mit
der Aufklärung rechtsextremistischer Gewalttaten. Die
überwältigende Mehrheit der deutschen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten verrichtet ihren Dienst tadellos, mit großem persönlichem Einsatz und im Sicherheitsinteresse der Mitbürgerinnen und Mitbürger
in unserem Land. Die in Ihrem Antrag „mitschwingende“ generelle Verurteilung des Umgangs deutscher
Polizeibeamter mit Vorfällen im rechtsextremistischen
Bereich weise ich mit Nachdruck zurück.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht zu den
deutschen Polizeibeamten. Wir haben Vertrauen in
ihre Ausbildung, in ihre Beurteilungsfähigkeit und
auch in ihre interkulturellen Kompetenzen.
Ihr heutiger Antrag fordert zwar einen Auftrag zur
Dunkelfeldforschung, doch ist aus meiner Sicht entscheidender, dass Sie dabei ganz grundsätzlich die statistische Erfassung des Hellfeldes rechtsextremistischer Gewalt- und Propagandadelikte infrage stellen.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, Fremdenfeindlichkeit
und Rassismus würden als Tatmotive von den Polizeibehörden allzu oft negiert.
Im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes - Politisch motivierte Kriminalität - wurden dem
Bundeskriminalamt, BKA, bislang 63 Todesopfer rechter Gewalt, einschließlich der zehn Todesopfer des
„Nationalsozialistischen Untergrunds“ gemeldet,
während die Amadeu-Antonio-Stiftung mittlerweile
über 182 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland
seit 1990 berichtet.
Wie entsteht diese Differenz? Meines Erachtens
liegt dies darin begründet, dass die geltenden Statistiken deutlich trennschärfere Kriterien für die Erfassung
politisch motivierter Kriminalität und Gewalt bieten.
In den geltenden Statistiken ist die konkrete Tatmotivation entscheidend. Sie ist in Würdigung aller Umstände der konkreten Tat und der Einstellung des Täters zu ermitteln.
Nichtstaatliche Stellen nehmen als Anhaltspunkt für
das Vorliegen einer entsprechenden rechtsextremistischen Tatmotivation, dass die Täter bzw. Tatverdächtigen aus einem rechten Milieu kamen, ohne aber zu differenzieren, ob die Tat möglicherweise in Wirklichkeit
allgemeinkriminell motiviert ist. Der Polizei ist es aufgrund ihres umfassenden und oftmals Dritten nicht zugänglichen Wissens zu Tätern oder Tathergang besser
möglich, die tatsächliche Motivation der Tat zu erhellen.
Die Differenz der Zahlen ist aus meiner Sicht also
darauf zurückzuführen, dass einige nichtstaatliche
Stellen die Verortung des Täters im rechten Milieu als
einziges und ausschlaggebendes Kriterium für die Zuordnung einer rechtsextremen Tat verwenden.
Zur Erfassung der Wirklichkeit ist es aus meiner
Sicht zwingend notwendig, weitere Kriterien zur Beurteilung und Verortung einer Straftat anzulegen, um somit der Wirklichkeit einer Tat näherzukommen.
Bezogen auf Ihre erste Forderung zur Dunkelfeldforschung weise ich darauf hin, dass im Rahmen des
Gemeinsamen Abwehrzentrums Rechtsextremismus,
jetzt GETZ, eine Überprüfung aller nicht aufgeklärten
Altfälle, insbesondere Banküberfälle, Sprengstoffanschläge und Morde, seit 1990 durchgeführt wird, die
Zu Protokoll gegebene Reden
entsprechend ihrer Begehungsweise für eine Täterschaft des NSU in Betracht kommen könnten. Auch bei
bisher nicht als politisch rechts motiviert eingestuften
Taten wird dort derzeit geprüft, ob diesen möglicherweise eine rechtsextremistische/-terroristische Motivation zugrunde liegt.
Geeignete Fälle werden dabei anhand eines Erhebungsrasters identifiziert, das sich an bestimmten
Deliktkategorien sowie opferbezogenen Indikatoren
orientiert. Die Fälle werden dann im Ergebnis anhand
einer dafür eingerichteten Projektdatei auf Anhaltspunkte für einen politisch rechts motivierten Hintergrund untersucht.
Ich betrachte es als sinnvoll, die Ergebnisse dieser
Auswertung abzuwarten und mit ihnen weiterzuarbeiten. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse und
Materialien lassen sich die Prozesse der Zuschreibung
bzw. Nichtzuschreibung zum Phänomenbereich der
politisch motivierten Kriminalität - rechts - und der
dabei wirksam werdenden Faktoren näher analysieren. Auf diese Weise eröffnet sich ein Ansatz, um den
Umfang des möglicherweise bislang entstandenen
Dunkelfelds zu ermitteln.
Darüber hinaus sei an dieser Stelle bemerkt, dass
das BKA im Bereich der Dunkelfeldforschung bereits
seit den 70er-Jahren aktiv ist und dazu unzählige Publikationen herausgegeben hat.
Derzeit arbeitet man dort am „Barometer Sicherheit in Deutschland“. Das BKA leistet in diesem
Zusammenhang einen Beitrag zur Gewinnung eines
Gesamtbildes der objektiven Bedrohung durch Kriminalität und Terrorismus sowie eine Dunkelfeldforschung im Bereich der individuell wahrgenommenen
({1})Sicherheit von Kriminalitätsopfern.
Auch wenn rechtsextremistisch motivierte Taten in
dieser Studie nicht explizit untersucht werden, so sind
die Aktivitäten des BKA im Bereich der Dunkelfeldfor-
schung umfangreich. Im Kontext des Antrags sehe ich
aufgrund der gegenwärtigen Arbeit des GETZ keine
Veranlassung, eine Dunkelfeldforschung in Auftrag zu
geben.
Ihre zweite Forderung in diesem Antrag beinhaltet,
„einen Forschungsauftrag zu erteilen, in dem Hinder-
nisse und Barrieren im Engagement gegen Rechts-
extremismus, Rassismus und Antisemitismus systema-
tisch aufgedeckt werden“ sollen.
Die bestehenden Bundesprogramme gegen Rechts-
extremismus verfolgen das Ziel, zivilgesellschaftliches
Engagement gegen Rechtsextremismus zu fördern,
neue Ansätze in der präventiv-pädagogischen Arbeit
mit Kindern und Jugendlichen zu erproben sowie ak-
tive Beratungsnetzwerke als Ansprechpartner für von
rechtsextremer Gewalt betroffene Gemeinden und Per-
sonen zu unterstützen. Dabei werden sie regelmäßig
wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Dies beinhal-
tet eine Reflexion und Analyse über Hindernisse und
Barrieren des Engagements ebenso wie über das
Engagement unterstützende Faktoren.
Darüber hinaus ist auf die Förderung der „Arbeits-
und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Frem-
denfeindlichkeit“ hinzuweisen.
Aufgabe der Arbeits- und Forschungsstelle ist es,
den einschlägigen Forschungsstand und die Erfahrun-
gen der pädagogischen Praxis in diesem Feld aufzube-
reiten, um vor diesem Hintergrund Anregungen für die
Weiterentwicklung der Fachpraxis, Fachdiskussion
und der aktuellen Bundesprogramme des BMFSFJ zu
geben. Die vorhandenen Erfahrungen werden syste-
matisiert und vor dem Hintergrund fachlicher Er-
kenntnisse analysiert, um so die Voraussetzungen für
eine erfolgreiche Arbeit in der Praxis zu klären und
Herausforderungen für die Weiterentwicklung des Fel-
des zu benennen.
Ein reger Austauschprozess mit den lokalen Akteu-
ren findet überdies bereits heute statt. Die Rückkopp-
lung der mit der Betreuung und Durchführung der
Bundesprogramme beauftragten Stellen ist für dessen
erfolgreiche Arbeit unabdingbar und wird bereits
heute intensiv durchgeführt.
Aus diesen Gründen halte ich auch Ihre zweite For-
derung für entbehrlich.
Ihre dritte Forderung scheint zunächst Ausdruck Ih-
res mangelhaften Vertrauens gegenüber den Aus- und
Fortbildungsmethoden in den Polizeibehörden von
Bund und Ländern zu sein.
Die Entwicklung interkultureller Kompetenz ist in-
tegraler Bestandteil der polizeilichen Aus- und Fort-
bildung. Interkulturelle Kompetenz wird dabei in den
verschiedensten Ausbildungsfächern geschult, wie bei-
spielsweise im Staats- und Verfassungsrecht, im Ein-
griffsrecht, im Situations- und Kommunikationstrai-
ning oder aber der Psychologie.
Verantwortlich für die Ausbildung und Fortbildung
der Polizistinnen und Polizisten sind in erster Linie die
Bundesländer. Ohne an dieser Stelle für alle Länder
sprechen zu können, will ich einige Eckpunkte der hes-
sischen Ausbildung skizzieren.
Gleich im ersten Modul an der Hessischen Hoch-
schule für Polizei und Verwaltung werden unter den
Stichworten „Gleichstellung und Diskriminierungs-
verbot“ sowie unter dem Stichwort „Leitbild“ inter-
kulturelle Kompetenzen vermittelt. Im dritten Modul
geht es sodann unter dem Oberthema „Polizeiliche
Kommunikation und Interaktion“ um die Ausbildung
der interkulturellen und sozialen Kompetenz.
Noch konkreter wird es sodann in fortgeschrittenen
Modulen. Dort gehören unter anderem folgende The-
men zum Lehrplan: a) extremistische und terroristi-
sche Theorien erkennen können und als Grundlage
politisch motivierter Gewalt verstehen; b) sozioökono-
mische Hintergründe für das Entstehen von Extremis-
mus und Terrorismus kennen; c) grundlegende ethisch
relevante Elemente anderer Religionen kennenlernen
Zu Protokoll gegebene Reden
und d) sich mit ethischen Aspekten des Umgangs mit
Angehörigen anderer Religionen und Kulturen auseinandersetzen.
Wie am Beispiel Hessens aufgezeigt, bauen die
Polizeibehörden eben nicht eine Mauer der Ignoranz
und Verharmlosung, sondern sind aktiv daran beteiligt, ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz zu
vermitteln. Daher wehre ich mich nochmals entschieden gegen die Wortwahl in Ihrem Antrag. Die nicht zu
akzeptierenden Beispiele aus der benannten Reportage
erlauben es aus meiner Sicht nicht, verallgemeinernd
über die Polizeibehörden in Bund und Ländern zu urteilen.
Wie am Beispiel Hessens dargestellt, sehe ich keinerlei Defizite bei der Aus- und Fortbildung unserer
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten im Bereich der
interkulturellen Kompetenz. Dennoch muss es unser
Bestreben sein, Aus- und Fortbildungsmaßnahmen
auch in diesem Bereich kontinuierlich zu optimieren
und gegebenenfalls aufeinander abzustimmen.
Insofern trete ich einer bundesweiten Erhebung und
einem verstärkten Austausch zu den unterschiedlichen
Maßnahmen zur Entwicklung interkultureller Kompetenz in Bund und Ländern positiv gegenüber. Ein solcher Überblick ermöglicht es, voneinander zu lernen
und gegebenenfalls einzelne Ausbildungsstufen besser
aufeinander abzustimmen.
Das Thema Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft und deren Bekämpfung eignet sich keineswegs
für parteipolitische Scharmützel. Es ist mir, es ist der
christlich-liberalen Koalition daran gelegen, zweifelsfrei notwendige Verbesserungen im Bereich der deutschen Sicherheitsarchitektur sowie im Bereich der
präventiv-pädagogischen Arbeit kontinuierlich vorzunehmen.
Wenngleich ich einem Bericht über die bundesweiten Maßnahmen zur Steigerung der interkulturellen
Kompetenz in sicherheitsrelevanten Bundes- und Landesbehörden aufgeschlossen gegenübertrete und einen
Mehrwert darin erkenne, so ist Ihr Antrag in der Gesamtheit abzulehnen, da Ihre erstgenannten Forderungen bereits heute Bestandteile der alltäglichen Arbeit
der Sicherheitsbehörden und Bundesprogramme sind
und darin zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Mehrwert zu erkennen ist.
Ein Jahr ist es nun her, dass wir vom Bestehen des
sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes,
NSU, erfahren haben.
Damals wie heute bin ich - so wie wir alle hier - zutiefst beschämt und erschüttert, dass nach den ungeheuren Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes wieder rechtsextremistische Ideologie in unserem
Land eine blutige Spur unvorstellbarer Mordtaten hervorbringen konnte.
Gemeinsam mit allen Fraktionen haben wir im
Deutschen Bundestag am 22. November 2011 daher einen Beschluss gefasst. Darin haben wir uns einen
Prüf- und Handlungsauftrag gegeben. Ich zitiere:
„Wir sind entschlossen … die unabdingbaren Konsequenzen für die Arbeit der Sicherheitsbehörden rasch
zu ziehen. Dazu ist eine umfassende Fehleranalyse unverzichtbar. Aus Fehlern müssen die richtigen
Schlüsse gezogen und umgesetzt werden.“ Und: „Wir
müssen gerade jetzt alle demokratischen Gruppen
stärken, die sich gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagieren. Wir werden prüfen, wo dem Hindernisse entgegenstehen.“
Diesen Prüf- und Handlungsauftrag nehmen wir in
der SPD-Fraktion ernst. Daher diskutieren wir heute
unseren SPD-Antrag: „Hinschauen - Dunkelfeldforschung zum Thema Rechtsextremismus“. Wir wollen
das Dunkelfeld rechtsextremer Gewalt- und Propagandadelikte beleuchten, damit wir auch offiziell ein realitätsnahes Bild rechtsextremer Umtriebe in Deutschland haben. Hier reicht die bisherige amtliche Statistik
nicht aus. Die Bundesregierung, Herr Minister
Friedrich, muss endlich aktiv werden und einen Forschungsauftrag erteilen, bei dem statistisch ermittelt
wird, wie viele Menschen Opfer oder Zeuge rechtsextremer Delikte geworden sind. In einem weiteren
Schritt müssen die Ergebnisse einer solchen Dunkelfeldstudie mit der amtlichen Statistik politisch motivierter Straftaten abgeglichen werden. Erst dann
haben wir eine Annäherung an die tatsächliche Zahl
rechtsextrem und rassistisch motivierter Straften. Und
diese Annäherung ist dringend notwendig.
Fakt ist: Die jetzige Datenlage rechtsextremistisch
motivierter Vorfälle und Fälle von Hasskriminalität in
Deutschland bildet die Realität nicht vollständig ab.
Zivilgesellschaftliche Akteure zählen regelmäßig mehr
rechtsextremistische Vorfälle und Fälle von Hasskriminalität als die amtliche Statistik. Während die amtliche Statistik 47 Todesopfer rechtsextremer Gewalt im
Zeitraum von 1990 bis 2009 zählte, geben Opferberatungsstellen oder Journalistinnen und Journalisten für
die Zeit von 1990 bis 2009 bis zu 181 Todesopfer an.
Beide Zählweisen erfassen natürlich nur solche Fälle,
in denen durch Zeugenbeobachtungen ein rechtsextremistischer Bezug herzustellen ist. Das Dunkelfeld ist
dagegen überhaupt nicht erfasst. Diese Lücke zwischen amtlicher und zivilgesellschaftlicher Zählweise
muss aufgearbeitet und aufgeklärt werden. Einige
Bundesländer, beispielweise Brandenburg, haben bereits damit begonnen, Fälle auf einen rechtsextremen
Hintergrund neu zu prüfen und neu zu bewerten. Das
ist der richtige Weg.
Der statistische Abgleich alleine aber reicht nicht
aus. Die Arbeit des 2. Untersuchungsausschusses
„Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund“ der im Übrigen eine fraktionsübergreifende, hervorragende Arbeit leistet - hat mindestens diese Erkenntnis
geliefert:
Zu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({0})
Es gibt eine tiefe Kluft zwischen Politik und Ermittlungsbehörden, zwischen Abgeordneten und Beamten
in den Sicherheitsbehörden, kurzum zwischen Legislative und Exekutive. Hier blicken wir in einen tiefen
Graben. Davon können die berechtigten Sachfragen
im Klein-Klein der politischen Aufarbeitung nicht ablenken.
Das Vertrauen in Verfassungsschutz und Polizeibehörden ist in unserer Bevölkerung, mit und ohne Einwanderungsbiografie, tief erschüttert. Das hat mit dem
Umgang einzelner Ermittlungsbehörden mit den Angehörigen und Opfern des NSU damals zu tun. Ich erinnere nur an die wiederkehrenden Aussagen unterschiedlichster Zeugen im 2. Untersuchungsausschuss,
man habe ergebnisoffen ermittelt, aber keine Anhaltspunkte für einen rechtsextremen Hintergrund gehabt.
Hier müssen wir ansetzen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den deutschen Polizeibehörden kommen
aus der Mitte unserer Gesellschaft. Sie wollen gute Arbeit leisten. Trotzdem sind sie nicht ausgenommen,
wenn es um Vorurteile und Stereotype in der Gesamtgesellschaft geht. Vorurteile können die Bewertung
und Einbeziehung von Motiven und Hintergründen einer Tat beeinflussen. Allein die Bezeichnung „Soko
Bosporus“ ist hierfür beispielhaft. Die Arbeit des
2. Untersuchungsausschusses hat bis heute bereits eines sehr deutlich gemacht: dass wir die Ausblendung
rassistischer und rechtsextremer Tatmotive bei der Ermittlung von Straftaten strukturell in den Polizeibehörden angehen müssen.
Hierfür brauchen wir eine weitere Studie, die Hindernisse und Barrieren im Engagement gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus systematisch
aufdeckt und benennt. In einer solch repräsentativen
Studie sollen die Erfahrungen von Engagierten, die
sich mit rechtsextremer Propaganda und rechtsextremer Gewalt auseinandersetzen, transparent gemacht
werden. Diese neue Perspektive kann uns helfen, die
richtigen politischen Schlüsse zu ziehen und weitere
Schritte zu gehen, um entschlossen Boden gutzumachen im Kampf gegen Rechtsextremismus.
Schließlich fordern wir die Bundesregierung auf, einen Bericht vorzulegen, der einen bundesweiten Überblick über die Maßnahmen zur Steigerung der interkulturellen Kompetenz in sicherheitsrelevanten Bundesund Landesbehörden gibt. Denn sie sind ein Baustein
zur Sensibilisierung einer umfassenden und sachgerechten Polizeiarbeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft.
Täglich finden in Deutschland rechte Gewalttaten
statt. Oftmals werden sie gar nicht erst als solche benannt. Sie tauchen allenfalls als einfache Schlägereien
in der Statistik auf. Immer ist die Rede von Einzeltätern
und Einzeltaten. Das müssen wir ändern. Daher bitte
ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.
Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir im Plenum die Große Anfrage der Linksfraktion zu den Opferzahlen rechtsextremer Gewalt beraten. Damals galt
die Anteilnahme aller Parlamentarier den Opfern von
extremistischen Gewalttaten und ihren Angehörigen.
Und auch heute ist es mir wichtig, zu betonen, dass wir
als Demokraten kein Opfer des Rechtsextremismus
vergessen werden. Sie verdeutlichen uns auf schmerzliche Weise, dass wir jeden Tag aufs Neue für ein demokratisches, freiheitliches und tolerantes Miteinander
werben und kämpfen müssen.
Heute liegt uns der Antrag der SPD mit einem ähnlichen Schwerpunkt vor. Die Sozialdemokraten beklagen zum einen, dass es ein Dunkelfeld in der Statistik
zum Rechtsextremismus gebe. Die journalistisch ermittelten Opferzahlen würden nicht den amtlichen
Zahlen entsprechen. Zum anderen moniert die SPD in
ihrem Antrag, dass es aufseiten der Polizei und Strafverfolgungsbehörden Ignoranz und Verharmlosung gegenüber dem Rechtsextremismus geben würde. Beide
Argumente haben wir in der Debatte vor einem Jahr
schon einmal von den Linken gehört. Damals war der
Eindruck, die Gefahren des Rechtsextremismus nicht
ernst genug genommen zu haben, unmittelbar nach
dem Bekanntwerden der Verbrechen des NSU noch
frisch.
Ein Jahr danach ist meine Empfindung aber, dass
unsere Gesellschaft reifer und sensibler im Umgang
mit dem Problem des Rechtsextremismus geworden ist.
Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung haben die Untersuchungsausschüsse und Gremien zur
Aufarbeitung der NSU-Verbrechen geleistet. Deren
Arbeit ist längst noch nicht abgeschlossen. Die notwendigen politischen Schlussfolgerungen müssen noch
gezogen werden. Dennoch haben sie spürbar zu einem
Bewusstseinswandel beigetragen. Dieser wird auch
anhand der gestiegenen öffentlichen Sensibilität für
rechtsextreme Straf- und Gewalttaten deutlich. Und
ich denke, auch bei Polizei und den Strafverfolgungsbehörden hat es einen Lernprozess gegeben. Ich halte
es daher für falsch, den Behörden generell Ignoranz
und eine Verharmlosung des Rechtsextremismus vorzuwerfen.
Die Frage der statistischen Erfassung von rechtsextremen Straf- und Gewalttaten haben wir vor einem
Jahr schon einmal debattiert. Zunächst bin ich den
Journalisten dankbar, die uns auf die Diskrepanz zwischen offizieller und tatsächlicher Statistik beim
Rechtsextremismus hingewiesen haben. Aber es ist
auch richtig, dass sich das 2001 beschlossene Definitionssystem, auf dem die amtliche Statistik beruht,
grundsätzlich bewährt hat. Es wird kontinuierlich evaluiert. Es ist jedoch entscheidend, dass das System
auch konsequent angewandt wird. Da sind vor allem
die Länder in der Pflicht. Denn die Bewertungshoheit
für Straftaten liegt grundsätzlich bei ihnen. Das Bundeskriminalamt ist nur für die bundesweite Zusammenführung und die Analyse der von den Ländern erhobenen und gemeldeten Fälle zuständig. Insofern müssen
wir für eine verbesserte Wahrnehmung des Rechtsextremismus bei den zuständigen Behörden der Länder
Zu Protokoll gegebene Reden
werben. Ich bin überzeugt, dass sich dort das Bewusstsein für die richtige Einordnung von rechtsextremen
Straf- und Gewalttaten in letzter Zeit geschärft hat. In
den letzten Jahren hat sich die Lücke zwischen den in
der Presse genannten Fallzahlen und der offiziellen
Statistik wieder geschlossen. Daran sollte weiter gearbeitet werden. Vorwürfe an die Behörden, wie sie die
SPD in ihrem Antrag bringt, halte ich hingegen für
falsch.
Zum Schluss noch ein paar Anmerkungen zu den
beiden Forderungen der SPD nach staatlichen Forschungsaufträgen im Bereich des Rechtsextremismus.
Als Liberaler war ich schon immer skeptisch, wenn der
Staat Forschungsaufträge an die Wissenschaft erteilt
hat. Für mich ist es viel wichtiger, die Freiheit der Wissenschaft durch verbesserte Rahmenbedingungen zu
stärken. Im Bereich des Rechtsextremismus sehe ich
diese Hindernisse aber grundsätzlich nicht. Hier werden schon seit Jahren von zahlreichen wissenschaftlichen und auch zivilgesellschaftlichen Institutionen
hervorragende Studien veröffentlicht. Insofern bin ich
allgemein sehr zurückhaltend, was staatliche Forschungsaufträge betrifft.
Im Konkreten sehe ich bei der ersten Forderung der
SPD viele Schwierigkeiten, wenn externe Personen zur
Erstellung einer vergleichenden Statistik Zugriff auf
sensible polizeiliche Falldaten bekommen sollen. Die
zweite Forderung der SPD, die Hindernisse und Barrieren im Engagement gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus staatlich zu erforschen,
halte ich hingegen für nicht notwendig. Gerade in letzter Zeit sind viele Studien in diesem Bereich erschienen, die von Politik und Öffentlichkeit wahrgenommen
werden. Warum sollte ein staatlicher Forschungsauftrag da notwendig sein? Über den dritten Punkt der
SPD, einen Bericht über interkulturelle Kompetenz bei
den Sicherheitsbehörden, können wir gern im Rahmen
der Ausschussberatungen diskutieren. Dazu wäre aber
ein ganzer Antrag mit einem falschen Duktus nicht
notwendig gewesen.
Die generelle Stoßrichtung dieses Antrags, den angesichts der NSU-Mordserie von allen Bundestagsfraktionen gemeinsam beschlossenen Antrag vom November 2011 mit Leben zu füllen, ist richtig. Allerdings
sind die konkreten Vorschläge zwar sicher gut gemeint,
aber aus Sicht der Linken nicht unbedingt gut gemacht.
Ausgangspunkt des Antrags ist die umstrittene Datengrundlage der rechtsextremen Straf- und Gewalttaten. Für eine realistische Einschätzung der Gefahren
durch die extreme Rechte bedarf es einer realistischen
Grundlage, und das heißt auch: eines realistischen
Zahlenmaterials. Dass dieses vonseiten der Bundesregierung nicht erhoben wird, beklagt die Linke seit
vielen Jahren. Die vom Verfassungsschutz vorgelegten
Zahlen sind, wie jeder weiß, im besten Fall eine grobe
Annäherung an die Realität. Im Regelfall sind sie dagegen eine ideologisch motivierte Verschleierung der
realen Verhältnisse. Nicht zuletzt den seit Jahren regelmäßigen Anfragen der Linken und davor der PDS ist
es zu verdanken, dass die Bundesregierung zu bestimmten Phänomenbereichen wie antisemitischen
Straftaten, Naziaufmärschen oder Rechtsrockkonzerten überhaupt Datenmaterial erhebt und zur Verfügung stellt. Die von der Regierung zur Verfügung gestellten Daten bilden jedoch nur einen Ausschnitt der
tatsächlichen Gefahr von rechts ab. Sie basieren
schließlich auf dem eingeschränkten und der unwissenschaftlichen Extremismustheorie verpflichteten
Blick der Verfassungsschutzbehörden.
Am eklatantesten ist die Differenz in der Einschätzung bei den rechtsextrem bzw. rassistisch motivierten
Tötungsdelikten seit 1990. Während die Bundesregierung hier von 57 Todesopfern - unter Einschluss der
NSU-Opfer - ausgeht, haben unabhängige Einrichtungen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung oder die Zeitungen „Tagesspiegel“ und „Zeit“ zwischen 140 und
180 Todesopfer rechtsextrem oder rassistisch motivierter Gewalt gezählt. Diese Differenz ist so erheblich,
dass man von einer völlig unterschiedlichen Einschätzung der tödlichen Gefahr von rechts sprechen kann.
Allein die Linke hat mit zwei Großen Anfragen zu diesem Thema in dieser und der letzten Legislatur die
Bundesregierung gezwungen, sich immer wieder neu
mit den Zahlen zu befassen.
Die SPD schlägt nun vor, die Bundesregierung solle
einen Forschungsauftrag erteilen, um zu ermitteln, wie
viele Menschen Opfer oder Zeugen von rechtsextremer
Gewalt und Propagandadelikten geworden sind. Nun
stelle ich es mir schon schwer vor, genau zu bestimmen, wer Zeuge oder Opfer von Propagandadelikten
geworden ist. Was ist beispielsweise mit einem großen
Hakenkreuz im U-Bahnhof, an dem täglich Tausende
vorbeigehen? Und so bringt der SPD-Antrag insgesamt eine etwas naive Wissenschaftsgläubigkeit zum
Ausdruck. Eine vermeintliche Objektivierung durch
die Wissenschaft soll an die Stelle der Auswertung
durch Praktiker aus Opferberatungen und Journalismus treten. Was aber spricht gegen die Zahlen, die von
dieser Seite vorgelegt wurden? Sie sind einsehbar, und
über jeden einzelnen Fall und seine Beurteilung kann
öffentlich diskutiert und gestritten werden.
Letztlich wird es immer um die Frage gehen, welche
Kriterien für die Frage nach einer rassistischen bzw.
rechtsextremen Tatmotivation angelegt werden. Eine
wissenschaftliche Auftragsforschung, gar noch vonseiten einer dem ideologisch motivierten Extremismusansatz ergebenen Bundesregierung, würde Ergebnisse
zutage fördern, die ganz im Sinne der Regierung sind.
Es macht eben einen Unterschied, ob ein sogenannter
Extremismusforscher wie Eckhard Jesse oder ein ernsthafter Sozialwissenschaftler wie Wilhelm Heitmeyer
eine solche Untersuchung durchführt. Warum sollten
dann aber nicht gleich diejenigen damit beauftragt
werden, die in ihrer alltäglichen beruflichen und ehrenamtlichen Arbeit an der Basis mit den Fällen zu tun
Zu Protokoll gegebene Reden
haben oder sich intensiv und seit vielen Jahren mit der
Beobachtung der Naziszene befassen? Die Linke schlägt
seit Jahren die Einrichtung einer aus Bundesmitteln
finanzierten unabhängigen Beobachtungsstelle Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus vor. Eine
solche Stelle wäre der Ausgangspunkt für eine realistische Einschätzung der Gefahren von rechts. Natürlich
ließe sich hier auch wissenschaftliche Expertise integrieren - aber eben nicht als Regierungsauftrag.
Auch die zweite Forderung, ein Forschungsauftrag
zur Aufdeckung der Hindernisse beim Engagement gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, ist gut gemeint. Er verkennt aber, dass es bereits
zahlreiche Arbeiten aus der Begleitforschung zu
„Civitas“ und anderen Bundesprogrammen gibt. Zudem wäre es auch hier angebracht, zunächst die Praktiker der Projekte selber zu hören, die Jahr für Jahr
ihre Beschwerden zu den vorhandenen Hindernissen
vorbringen.
Der Berichtswunsch zur interkulturellen Kompetenz
in den sicherheitsrelevanten Bundes- und Landesbehörden ist sinnvoll und nützlich und findet unsere Unterstützung.
Alles in allem geht der SPD-Antrag zwar in die
richtige Richtung, er wählt aber einen aus Sicht der
Linken zu staatsfixierten Ansatz. Eine unabhängige
Beobachtungsstelle Rechtsextremismus, Rassismus
und Antisemitismus wäre der bessere Weg und würde
nach unserer Überzeugung bessere Ergebnisse bringen.
Wir müssen rechtsextreme Gewalt ganz klar beim
Namen nennen und die Opfer in jeder Hinsicht unter-
stützen und stärken. Das setzt voraus, dass menschen-
feindliche Motivationen bei Gewalttaten erkannt wer-
den. Die Statistik hängt stark von der politischen
Sensibilität der Ermittlungsbehörden und Meldestellen
ab. So kommt es, je nach Quelle, zu teilweise erhebli-
chen statistischen Abweichungen.
Die Zahl der Todesopfer extrem rechter Gewalt in
Deutschland variiert nach der Zählweise. „Tagesspie-
gel“ und „Die Zeit“ führen an, dass seit 1990 mindes-
tens 149 Menschen durch rechte Gewalt getötet wur-
den. 169 Todesopfer porträtiert die Wanderausstellung
„Opfer rechter Gewalt seit 1990“. Einige dieser
Schicksale bewegten die Öffentlichkeit; viele wurden
kaum zur Kenntnis genommen. Es ist ein Verdienst der
Ausstellung, die öffentliche Erinnerung an diese Men-
schen wachzurütteln und einzufordern. 182 Todesfälle
rechter Gewalt dokumentiert der Opferfonds Cura der
Amadeu-Antonio-Stiftung.
Unverständlich wirkt angesichts solcher zivilgesell-
schaftlichen Erhebungen die offizielle Statistik. Nur
47 Todesopfer erkannte die Bundesregierung bis 2009
an. Im Zuge der Untersuchungen zum NSU wurde die
Statistik leicht nach oben korrigiert. Im Februar 2012
galt laut Polizeilicher Kriminalstatistik immerhin als
erwiesen, dass von 1990 bis 2011 durch rechtsextrem
motivierte Täter 58 Menschen ihr Leben verloren.
Dennoch klafft zwischen staatlicher und zivilgesell-
schaftlicher Auflistung eine große Lücke, die auf ein
bedenkliches Erkenntnisproblem der staatlichen Be-
hörden hinweist.
Dieses Erkenntnisproblem wird leider von der
schwarz-gelben Koalition nicht kritisiert. Vielmehr er-
läutern manche Abgeordneten sogar, warum es gut sei,
auf dem rechten Auge blind zu bleiben. In besonders
unangenehmer Erinnerung ist mir dabei die Bundes-
tagsrede des FDP-Kollegen Hartfrid Wolff am 1. De-
zember 2011. Er bezeichnete die Statistiken aus der Zi-
vilgesellschaft als „unseriös“ und verstieg sich zu der
Behauptung, sie legten „bei ihren Bewertungen keine
rechtsstaatlichen Maßstäbe zugrunde“. Das Verfahren
der Bundesregierung hingegen hielt er für unantast-
bar, da diese nur die Straftaten als rechtsextrem zähle,
die „gerichtlich als solche verurteilt wurden“. Dass
dabei ein Problem auftritt, wenn weder Polizei noch
Justiz ausreichend für rechtsextreme Hintergründe
sensibilisiert sind, blendete er komplett aus. Seine Aus-
lassungen gipfelten in der unverschämten Anklage:
„Antifaschismusarbeit ist seit jeher Kernelement links-
extremistischer Aktivität.“ Wer mit solchen Parolen
den Rechtspopulisten in die Hände spielt, kann weder
gute Politik zum Schutz von Opfern von menschen-
feindlicher Gewalt machen noch eine realitätsgerechte
Opferstatistik fördern.
Hinzu kommt, dass in Statistiken nur die bekannt-
werdenden Fälle zum Tragen kommen. Die vorhan-
dene Dunkelziffer rechter Diskriminierungen und tätli-
cher Übergriffe wird überhaupt nicht erfasst. Dass sie
existiert, steht zweifelsfrei fest. Viele Opfer wagen es
nicht, Straftaten anzuzeigen. Einerseits befürchten sie,
dass ihnen nicht geglaubt wird und sie mit institutio-
nellem Rassismus oder anderen Vorurteilen konfron-
tiert werden könnten. Andererseits haben etliche auch
Angst vor der Rache der Täter. Diese Befürchtungen
sind leider nicht unberechtigt.
So wurden etwa die Angehörigen der NSU-Opfer
tatsächlich selbst verdächtigt, Gewalt ausgeübt zu ha-
ben, während man offenkundigen Spuren ins rechts-
extreme Milieu nicht nachging. Auf diese Art tragen
die betreffenden Behörden sogar eine Mitverantwor-
tung, indem sie weitere Straftaten des NSU nicht recht-
zeitig verhinderten.
Auch werden Angegriffene nicht immer angemessen
geschützt. Ein beschämendes aktuelles Beispiel gibt es
im sächsischen Hoyerswerda. Der Fall eines dort le-
benden Paares ging kürzlich durch die Medien. Die
beiden hatten rechte Aufkleber in der Stadt entfernt
und waren daraufhin von 15 Nazis im Treppenhaus ei-
nes Wohnblocks überfallen und bedroht worden. Die
Polizei traf verzögert ein und legte dem Paar nahe, aus
Sicherheitsgründen die Stadt zu verlassen. Das kommt
einer Kapitulation vor Nazigewalt nahe, die sich un-
sere Gesellschaft nicht leisten darf. Das späte Eintref-
fen wurde durch einen Mangel an Polizeikräften ge-
Zu Protokoll gegebene Reden
rechtfertigt. Tatsächlich hat es in Hoyerswerda seit
2009 eine Reduzierung von Polizeibediensteten von
136 auf 104 gegeben. Doch nicht nur eine zahlenmä-
ßig ausreichende, sondern vor allem auch eine Polizei
mit Problembewusstsein für rechte Straftaten ist von-
nöten.
Die Behörden müssen stärker sensibilisiert werden.
Es genügt nicht, wenn das Bundesinnenministerium
erklärt, man habe es bei abweichenden Opferzahlen
mit einer „systemimmanenten Bewertungsbreite“ zu
tun. Das Erfassungssystem zur politisch motivierten
Kriminalität muss auf den Prüfstand. Derart gravie-
rende „Ermessensspielräume“ sind bei der Bewertung
von Tötungsdelikten nicht akzeptabel. Wir fordern
nachvollziehbare und transparente Bewertungsmaß-
stäbe für politisch motivierte Kriminalität. Diese müs-
sen dann von Polizei und Justiz konsequent angewandt
werden. Vor allem aber darf die Expertise der zivilge-
sellschaftlichen Stellen nicht ausgeblendet oder gar
als unliebsame Konkurrenz abgelehnt werden.
Im kürzlich beendeten Haushaltsverfahren für 2013
wurde der Härtefonds für Gewaltopfer im Bundesjus-
tizministerium um eine halbe Million Euro erhöht.
Dies war durch gestiegene Fallzahlen notwendig. Es
ist gut, dass mehr Opfer den Schritt, eine Entschädi-
gung einzufordern, wagen. Doch so lange ein rechts-
extremer Hintergrund der Tat nicht offiziell anerkannt
ist, erhalten die Antragsteller aus diesem Geldtopf kein
Geld. Auch deshalb muss der Blick der Behörden ge-
schärft werden.
Wir begrüßen den Antrag der SPD, die Forschung
im Bereich rechter Gewalt zu vertiefen. Die Erfassung
muss verbessert, die Dunkelziffer verringert werden.
Dabei ist es wichtig, dieses Vorhaben in den Kontext
einer gesamtgesellschaftlichen Demokratieoffensive
einzubetten. Mehr interkulturelle Kompetenz und spe-
zifische Weiterbildungen in sicherheitsrelevanten Be-
hörden gehören ebenso dazu wie Projekte zur Stärkung
von Menschen mit Migrationshintergrund und anderen
potenziellen Opfern rechter Gewalt.
Unverzichtbar sind ein Ausbau der Opferberatung,
besonders in Westdeutschland, sowie eine finanzielle
Verstetigung vorhandener Strukturen im gesamten
Bundesgebiet. Allerdings setzen wir nicht, wie die SPD
in ihrem Antrag, auf das „Frühwarnsystem“ Verfas-
sungsschutz. Denn dieser hat versagt. Wir setzen da
lieber auf ein zu gründendes „Institut Demokratieför-
derung“, wie unsere Bundestagsfraktion in dieser Wo-
che beschlossen hat.
Die schwarz-gelbe Koalition hat letzte Woche für
den Haushalt 2013 die Chancen zur langfristigen För-
derung von Initiativen gegen Rechtsextremismus aus-
geschlagen und unsere guten Konzepte abgelehnt.
Bündnis 90/Die Grünen setzten sich für ein 50-Millio-
nen-Programm gegen gruppenbezogene Menschen-
feindlichkeit ein, aus dem auch Opferberatungsstellen
unbürokratisch Mittel erhalten, um ihre wichtige Ar-
beit vor Ort leisten zu können.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11366 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist jemand damit
nicht einverstanden? - Es meldet sich niemand. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten
und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts
- Drucksache 17/11468 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})-
Innenausschuss-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Friedrich Ostendorff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Baugesetzbuch wirklich novellieren
- Drucksache 17/10846 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})-
Rechtsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kirsten
Lühmann, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Barrierefreie Mobilität und barrierefreies
Wohnen - Voraussetzungen für Teilhabe
und Gleichberechtigung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch
verbindlich regeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Markus Kurth, Daniela Wagner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Barrieren abbauen - Mobilität und Wohnen für alle
- Drucksachen 17/6295, 17/9426, 17/9406,
17/11646 Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel ({3})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt werden die Reden
zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen dann zur Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11468 und 17/10846 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse. Die Vorlage auf
Drucksache 17/10846 soll federführend vom Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beraten werden.
- Einwände gibt es keine. Dann ist das so beschlossen.
Unter Tagesordnungspunkt 21 c geht es um die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/11646.
Unter Buchstabe a empfiehlt der Ausschuss in seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/6295 mit dem Titel
„Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen - Voraussetzungen für Teilhabe und Gleichberechtigung“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
({4})
- Die Beschlussempfehlung ist trotzdem angenommen.
Ich nehme aber den hartnäckigen Wunsch auf Festhalten
der Enthaltung gerne zu Protokoll.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9426 mit dem Titel „Barrierefreies Bauen im
Baugesetzbuch verbindlich regeln“. Wer möchte sich
enthalten?
({5})
- Na also. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9406 mit dem Titel „Barrieren abbauen - Mobilität und Wohnen für alle“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wiederum ein
paar Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung einer Kennzeichnungspflicht
für Angehörige der Bundespolizei
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Karin Binder, Frank Tempel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei
massiv beschränken
- Drucksachen 17/4682, 17/5055, 17/11263 Berichterstattung:Abgeordnete Günter BaumannWolfgang GunkelGisela PiltzFrank TempelDr. Konstantin von Notz
Die dazu vorbereiteten Reden werden zu Protokoll
genommen.
In ihrem Antrag verfolgt die Fraktion Die Linke die
Intention, alle Bundespolizistinnen und Bundespolizis-
ten mit einer individuellen Kennzeichnung zu verse-
hen. Gefordert wird ein rechtlicher Rahmen zur Ein-
führung von Nummerncodes oder Namensschildern,
anzubringen an den Uniformen der Beamten. Diesem
Ansinnen trete ich entschieden entgegen. Eine Kenn-
zeichnungspflicht für die Angehörigen der Bundespoli-
zei hat meines Erachtens einer Stigmatisierung der Be-
amten zur Folge. Es wird der Eindruck vermittelt,
Beamte nutzen ihre Sonderstellung, um ungesühnt
Straftaten zu begehen. So zumindest argumentiert die
Fraktion Die Linke in ihrem Antrag. Ich frage Sie,
meine Damen und Herren der Linken: Wollen Sie wirk-
lich die Beamten der Bundespolizei unter diesen Gene-
ralverdacht stellen? Ich weise darauf hin, dass Sie mit
einer solchen Aussage nicht nur die Bundespolizei in
ein schlechtes Licht rücken, sondern auch unseren
Rechtsstaat. In einem Rechtsstaat werden alle Strafta-
ten entsprechend verfolgt und untersucht - auch die
Straftaten von Angehörigen der Polizei.
Die Aufgabe der Bundespolizei ist es, die Bürgerin-
nen und Bürger vor Gefahren zu schützen und die Si-
cherheit und Ordnung zu wahren. Dieser Aufgabe,
welche oberste Priorität besitzt, widmen sich die Be-
amten tagtäglich und setzen sich somit fortwährend
Gefahren für Leib und Leben aus. Wie sollen die Be-
amten dieser wichtigen und auch schwierigen Aufgabe
gerecht werden, wenn sie befürchten müssen, unge-
rechtfertigten Vorwürfen ausgesetzt zu werden bzw. sie
unter Umständen ihre eigenen Angehörigen in Gefahr
bringen? Zudem liegen keine ausreichenden Erkennt-
nisse vor, die belegen, dass Ermittlungsverfahren ge-
gen Polizeibeamte der Bundespolizei nicht aufgeklärt
werden konnten, weil es an einer individuellen Kenn-
zeichnung fehlte.
Sind Beamte mit individuellen Kennzeichnungen
- seien es Nummerncodes oder Namensschilder - ver-
sehen, besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass hie-
rüber ihre Namen und die ihrer Angehörigen ermittelt
werden. Somit besteht eine Gefahr sowohl für die Be-
amten als auch für ihre Familien. Mit der Gewichtung 1) Anlage 10
der Aufgabe, welcher sich die Beamten der Bundespolizei gewissenhaft widmen, erhöht sich auch die
Pflicht des Staates, seine Beamten entsprechend zu
schützen. Hieraus resultiert ein Anspruch der Beamten
auf Schutz der Persönlichkeitsrechte, der gegenüber
dem Interesse der Bürger an einer individuellen Kennzeichnung höher zu bewerten ist. Zu bedenken ist zudem, dass bei den heutigen medialen Möglichkeiten Videos und Bilder während Veranstaltungen gemacht
werden, welche sich sofort im Internet wiederfinden.
Wie schwer bzw. unmöglich es ist, einmal sich im Internet befindliche Bilder und Daten zu entfernen, brauche
ich Ihnen nicht zu sagen. Mit anderen Worten: Die
Polizeibeamten, die während ihres Einsatzes zum
Schutze der Bürgerinnen und Bürger gefilmt oder in irgendeiner anderen Form aufgenommen werden, sind
samt ihrer Kennung anschließend für jeden einsehbar
und auffindbar. Dieser Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Beamten ist nicht vertretbar oder in irgendeiner Form nachvollziehbar.
Auch trete ich dem Argument entgegen, dass eine
Kennzeichnungspflicht die Transparenz staatlichen
Handelns unterstreicht. Ich betone erneut, dass die
derzeitige Gesetzeslage der Transparenz staatlichen
Handelns bereits entsprechend gerecht wird. Alles
Weitere, darüber Hinausgehende ist unsinnig und
greift über die Maßen in das Persönlichkeitsrecht der
Beamten ein. Die Beamten müssen sich, auf Nachfrage
der von staatlichen Handlungen betroffenen Personen,
ausweisen. Bei geschlossenen Einsätzen kann über die
taktische Kennzeichnung der Einheit und die Einsatzdokumentation die Legitimation erreicht werden.
Alles in allem besteht mithin keine Notwendigkeit,
den Angehörigen der Bundespolizei eine Kennzeichnungspflicht aufzuerlegen. Die Gefahren für die Beamten sind zu groß, und ein Generalverdacht in diesem
Sinne widerspricht der Fürsorgepflicht des Staates für
seine Beamten. Der Antrag ist abzulehnen.
Weiterhin kann die CDU/CSU-Fraktion auch dem
zweiten Antrag der Linken nicht zustimmen, mit welchem sie den Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei
massiv beschränkten wollen, um die erhöhte Gefahr für
Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen
oder Menschen, die unter Einfluss von Drogen stehen,
einzudämmen.
Pfefferspray ist ein Mittel, das zwischen dem
Schlagstock und der Schusswaffe liegt. Unbestritten
ist, dass der Einsatz von den vorgenannten Mitteln zu
erheblichen Verletzungen führen kann, aber nicht muss
das möchte ich betonen, wohingegen Pfefferspray lediglich ein kurzzeitiges Unwohlsein bei dem Betroffenen hervorruft. Bei dem Einsatz von Mitteln zur Gefahrenabwehr ist - und das sollten Sie wissen, sehr
geehrte Damen und Herren von den Linken - immer
auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip abzustellen. In
vielen Gefahrensituationen ist der Einsatz von Pfefferspray jenes Mittel, dessen Einsatz im Einzelfall das
mildere und zugleich das effektivste ist. Gerade bei
Demonstrationen mit einer größeren Anzahl an Menschen kann Pfefferspray eine eskalierte bzw. eine zu
eskalieren drohende Situation am effektivsten beenden,
ohne erhebliche Schäden herbeizuführen. Eine mögliche Gefahr für Menschen mit gesundheitlichen Problemen möchte ich an dieser Stelle auch nicht unbedingt
abstreiten. Aber gäbe es diese Gefahr nicht auch, wenn
die Beamten anstelle des Pfeffersprays die anderen
Einsatzmittel nutzen würden? Es kann doch nicht Ihr
Ansinnen sein, den Einsatz der anderen - aus meiner
Sicht auch gefährlicheren Mittel - zu verstärken. Denn
das wäre die Konsequenz, wenn sie die Möglichkeit
zum Einsatz von Pfefferspray verhindern. Unter welchen Möglichkeiten sollen die Beamten denn sonst
wählen, um die Ordnung und Sicherheit zu garantieren
bzw. wiederherzustellen? Für einen Polizeibeamten,
welcher eine Maßnahme vornehmen muss, ist es ein
psychologischer Vorteil, eine Auswahl an verschiedenen Einsatzmitteln zu haben. Darüber hinaus, meine
Damen und Herren von der Linken, sollten Sie mehr
Vertrauen in unsere Polizeibeamten haben. Diese üben
ihren Dienst mit höchster Vorsicht und gewissenhaft
aus. Ich verweise auch darauf, dass die Mittel zur Gefahrenabwehr nur zum Einsatz kommen, wenn dies
auch erforderlich ist. Insoweit kann es bei friedlichen
Demonstrationen - und damit auch bei unbeteiligten
Dritten - nicht zu erheblichen Beeinträchtigungen
kommen. Jeder, der die öffentliche Sicherheit und
Ordnung gefährdet, muss auch mit den Konsequenzen
leben können. Unsere Bürgerinnen und Bürger sind zudem mündig genug, um sich der Konsequenzen ihres
Handels bewusst zu sein.
Abschließend bleibt zu sagen, dass auch dieser Antrag abzulehnen ist. Die Polizeibeamten benötigen entsprechende Mittel, um ihre Arbeit entsprechend und
verhältnismäßig durchführen zu können und um die
Gefahr für Leben und Leib des Bürgers zu minimieren.
Den Einsatz von Pfefferspray halte ich daher für mehr
als gerechtfertigt.
Wir wollen Polizisten schützen und setzen hohes
Vertrauen in ihre Arbeit. Mit den beiden Anträgen der
Linken wird Misstrauen gegen Polizisten geschaffen
und sollen Straftäter geschützt werden.
Wolfgang Gunkel ({0}):
Beide Anträge der Linken wurden in einer gesonderten Anhörung des Innenausschusses des Deutschen
Bundestages im vergangenen Jahr ausführlich diskutiert.
Die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht
für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte ist auch in
der SPD-Bundestagsfraktion schon länger Debattengegenstand.
In einem Rechtsstaat darf es keine Gewalteskalationen durch die Polizei geben. Bei Straftaten durch Beamtinnen und Beamte sind umgehend strafrechtliche
Konsequenzen zu ziehen. Straftäter in der Polizei sind
sowohl für die Polizei als auch für ihr Image schlecht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wolfgang Gunkel
Dennoch verwahre ich mich gegen den eventuell
aufkommenden Eindruck, jede Demonstration werde
seitens der Polizei zu einem hemmungslosen Spannungsabbau genutzt. Es handelt sich hier um Einzelfälle, nicht um ein gesamtpolizeiliches Phänomen!
Die Kolleginnen und Kollegen sind an vielen Wochenenden in der gesamten Republik unterwegs, in unterschiedlichsten Lagen, ob Castor, Fußballspiel oder
Demonstration. Oft üben sie ihren sehr verantwortungsvollen Beruf unter schlechten Bedingungen aus.
Über die Zufriedenheit der Beamtinnen und Beamten
mit ihrem Beruf im Zusammenhang mit der StrohmeierStudie haben wir auch schon ausführlich im Innenausschuss gesprochen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke pauschalisiert
nach meiner Meinung an einigen Stellen zu stark. Andererseits fordert er auch Dinge, die bereits geregelt
sind. Als SPD-Bundestagsfraktion werden wir uns an
dieser Stelle enthalten.
Grundsätzlich hat die SPD-Bundestagsfraktion
nichts dagegen, eine Kennzeichnungspflicht für die
Bundespolizei einzuführen. In einigen Bundesländern
ist die Kennzeichnungspflicht schon Realität.
Bisher werden laut einer wissenschaftlichen Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages von circa 58 Prozent der Polizeibeamten in Deutschland auf freiwilliger Basis im
Einzeldienst und auf Streife Namensetiketten getragen.
Das Tragen von Namensschildern - oder im Bedarfsfall einer Identifikationsnummer - ist heute in einer modernen, weltoffenen und bürgernahen Polizei
ein selbstverständliches Element der Service- und
Kundenorientierung, die von den Bürgerinnen und
Bürgern erwartet werden kann. Zudem trägt es zur
Stärkung des Vertrauens in die Polizei bei, wenn die
Bürgerinnen und Bürger nicht einer anonymen Staatsmacht gegenüberstehen, sondern einer dialogbereiten
und individuell verantwortlich handelnden Polizei.
Es gibt aber auch gute Argumente gegen eine Kennzeichnungspflicht: So kann man sie als Ausdruck eines
unberechtigten Misstrauens gegen die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten werten. Zudem birgt eine individuelle Kennzeichnung die Gefahr, dass Polizistinnen
und Polizisten sowie ihre Familienangehörigen Belästigungen und Sanktionen ausgesetzt werden. Dieses
Bedrohungspotenzial darf keinesfalls außer Acht gelassen werden, gerade unter der weiter oben bereits
erwähnten Prämisse der hohen Anforderungen dieses
Berufes.
Die Fraktion Die Linke fordert in dem vorliegendem
zweiten Antrag „Einsatz von Pfefferspray durch die
Polizei massiv beschränken“, den Einsatz von Pfefferspray gegen Menschen zu verbieten, die sich in Ansammlungen, wie einer Demonstration oder bei einem
Fußballspiel, befinden. Das halte ich für übertrieben
und nich