Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte
ich dem Vizepräsidenten Dr. Hermann Otto Solms zu
seinem 72. Geburtstag gratulieren, den er vor wenigen
Tagen gefeiert hat. Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Solms. Im Namen des Hauses alle guten Wünsche.
({0})
Im Übrigen feiert heute der Direktor beim Deutschen
Bundestag, Staatssekretär Semmler, seinen 65. Geburtstag.
({1})
Das ist eine schöne Gelegenheit, ihm vor dem Hohen
Hause nicht nur zum Geburtstag zu gratulieren, sondern
für seine langjährigen Dienste in der Bundestagsverwaltung und nun an der Spitze derselben zu danken, verbunden mit allen guten Wünschen für den bevorstehenden
Ruhestand.
({2})
Nun mache ich Sie darauf aufmerksam, dass es eine
interfraktionelle Vereinbarung gibt, mit Ausnahme des
Antrages des Bundesministeriums der Finanzen auf der
Drucksache 17/11669, die Tagesordnung um die in der
Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Ökonomische und verfassungsrechtliche Auswirkungen der Vermögensteuerpläne von SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
({3})
ZP 2 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 17/10754, 17/11269 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4})
- Drucksache 17/11705 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Rolf Hempelmann
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Menschenwürdige Lebensbedingungen für
Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie
Geduldete sicherstellen - Asylbewerberleis-
tungsgesetz reformieren
- Drucksache 17/11674 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Rüdiger Veit,
Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende
und Geduldete
- Drucksachen 17/5912, 17/11716 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({6})-
Ulla Jelpke-
Josef Philip Winkler
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 51
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Markus Tressel, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verkehrsträgerübergreifende Fahrgastrechte
stärken
- Drucksache 17/11375 25630
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({7})Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Tourismus -
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner
Simmling, Birgit Homburger, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Projektbeiratsbeschluss bei der Rheintalbahn
umsetzen
- Drucksache 17/11652 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Tourismus -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktionsplan Soziale Sicherung - Ein Beitrag
zur weltweiten sozialen Wende
- Drucksache 17/11665 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({11})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 52
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Dem Antrag Palästinas auf erweiterten Be-
obachterstatus in der UNO zustimmen
- Drucksache 17/11678 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({12})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11618 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({13})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11619 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({14})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11620 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({15})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11621 -
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Unterschiedliche Auffassungen der Koalitions-
fraktionen über ihre Pläne zur Einführung
von Gutscheinen für Haushaltshilfen
ZP 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Strompreiserhöhung aussetzen - Faire Strom-
preise für alle
- Drucksache 17/11656 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({17}), Rolf
Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Für ein konzeptionelles Vorgehen der Bundesregierung bei der Energiewende - Masterplan Energiewende
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kosten und Nutzen der Energiewende fair
verteilen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bezahlbare Energie sichern durch Einsparung, Erneuerbare und mehr Verbraucherrechte
- Drucksachen 17/9729, 17/11004, 17/11030,
17/11719 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({18})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen
- Drucksachen 17/8493, 17/9713 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({19})Karin Roth ({20})Helga DaubNiema MovassatUwe Kekeritz
ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch
- Drucksache 17/11726 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({21})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
ZP 10 a)Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen
Fortschritte beim Anpassungsprogramm für
Griechenland
b) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland - Änderung der
Garantieschlüssel;
Einholung eines zustimmenden Beschlusses
des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1
i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes ({22})
- Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11469,
17/11669 ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen
- Drucksachen 17/3685, 17/9587 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Edgar Franke
ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({24}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Wohnungspolitische Verantwortung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen
sichern
- Drucksachen 17/9737, 17/10717 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Götz
Über die Aufsetzung des von mir gerade genannten
Antrages werden wir morgen früh vor Eintritt in die Tagesordnung abstimmen.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Des Weiteren werden die Tagesordnungspunkte 23,
27, 42, 46 und 48 abgesetzt. Darüber hinaus kommt es
zu den in der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Sind Sie damit einverstanden? Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 17/10754, 17/11269 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({25})
- Drucksache 17/11705 Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Hempelmann
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Philipp Rösler,
das Wort.
({26})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Montag haben wir den
Netzentwicklungsplan vorgelegt. Gestern hat das Bundeskabinett eine Verordnung für mehr Versorgungssicherheit in Deutschland beschlossen. Und heute
diskutieren wir abschließend über das Energiewirtschaftsgesetz. Allein dies zeigt: eine gute Woche zur erfolgreichen Umsetzung der Energiewende in Deutschland.
({0})
Diese Umsetzung, anders als bei Rot-Grün zu ihrer Regierungszeit, ist bei dieser Regierungskoalition aus
CDU, CSU und FDP ausdrücklich in guten Händen.
({1})
Wie war es denn zu Ihrer Zeit? Sie haben den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, aber keinerlei
Pläne vorgelegt zum Netzausbau, zum Ausbau der erneuerbaren Energien oder für mehr Speichertechnologien.
({2})
Kollege Altmaier hat berichtet: In seinem Ministerium,
das von Rot und Grün geführt wurde, gab es nicht einen
einzigen Plan zur erfolgreichen Umsetzung der Energiewende. Jetzt gegen das Energiewirtschaftsgesetz zu sein,
ist unsolide, unglaubwürdig und unseriös.
({3})
Es geht um den Ausbau der erneuerbaren Energien, ganz
konkret der Offshorewindenergie. Da muss man sich
schon sehr wundern: Es stehen Milliardeninvestitionen
an, die nicht nur Versorgungssicherheit durch eine neue
Energieerzeugungsform, sondern auch viele Hunderte,
vielleicht Tausende neue Arbeitsplätze im Norden unseres Landes schaffen, und die Grünen sind gegen dieses
Gesetz.
({4})
Also halten wir doch zuerst einmal fest: Die Grünen
sind gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien.
({5})
Sie sind gegen Offshorewindenergie. Das ist das wahre
Gesicht der Grünen in der deutschen Energiepolitik.
({6})
Bei den Roten sieht es leider nicht viel besser aus.
({7})
In seinem letzten Redebeitrag hat sich der Kollege noch
darüber beschwert, es würde bei der Offshorewindenergie nicht vorangehen. Jetzt liegt das Gesetz vor. Wir
machen den Weg frei für ebendiese Milliardeninvestitionen, und Sie sind dagegen! Gehen Sie doch einmal zu
den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen oder Niedersachsen!
Gehen Sie doch einmal an die Werkstore und sagen Sie
den Menschen dort, Sie seien gegen diese neue Form der
Industrie, Sie seien gegen die Unternehmen, Sie seien
gegen die Menschen, Sie seien gegen die Arbeitsplätze
zum Beispiel in Niedersachsen.
({8})
Ich bin sehr gespannt, ob Sie den Mut haben, hier Nein
zu sagen. Aber den Menschen hier vorzumachen, Sie
seien für erneuerbare Energien,
({9})
ist unehrlich, Frau Steiner. Sie kommen auch aus Niedersachsen, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.
({10})
Wenigstens ist hier richtig Stimmung, wenn sie da ist.
({11})
Ja, der Ausbau der erneuerbaren Energien kostet
Geld. Wenn man Kernkraftwerke abschalten will,
braucht man Ersatzkapazitäten, konventionelle Kraftwerke - Kohlekraftwerke, Gaskraftwerke -, aber eben
auch Offshorewindenergie. Das wird zu bezahlen sein.
Weil es viel Geld kostet, weil Investitionen notwendig
sind, teilen wir die Belastungen gerecht auf: auf die Offshorewindparkbetreiber, auf die Übertragungsnetzbetreiber und auch auf die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Weil wir wissen, dass die Risiken zwar klein, aber die
Kosten im Schadensfall vergleichsweise hoch sind, haben wir dafür gesorgt, dass die Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger auf 0,25 Cent je Kilowattstunde gedeckelt werden. Das ist gerade einmal 1 Prozent des
aktuellen Strompreises.
({12})
Das, was im Haftungsfall die Industrie an Erstattung
bekommt, wird am Ende der Förderlaufzeit genau dieser
Industrie auch wieder abgezogen. Das ist ein gerechtes
Verhältnis zwischen dem Investitionsnutzen und den
Kosten. Wir stellen fest: Dies ist erstmals eine Regelung,
die die Kosten für Verbraucherinnen und Verbraucher
begrenzt. Aber Rot und Grün sind gegen diese Begrenzung bei den erneuerbaren Energien.
({13})
Wir wissen: Erneuerbare Energien werden nur dann
wirtschaftlich werden können, wenn wir genügend Speicherkapazitäten zur Verfügung haben.
({14})
Deswegen unterstützen wir Pumpspeicherkraftwerke,
weil wir Speicherkapazitäten brauchen, die auch industriell nutzbar sind. Sie sagen: Ja, wir brauchen erneuerbare Energien. Ja, wir brauchen Speicher. - Das ist alles
sehr wolkig und unscharf formuliert; denn wenn es konkret wird, sind Sie wiederum dagegen.
({15})
Wir wissen, wir brauchen beides: erneuerbare Energien
und Speicher. Deswegen handeln wir und schlagen mit
dem Energiewirtschaftsgesetz den richtigen Weg ein.
({16})
Zum Energiewirtschaftsgesetz gibt es ein Wintergesetz. Hierbei geht es ganz konkret um die Versorgungssicherheit in den nächsten beiden Wintern. Ja, wir wissen, das sind ordnungspolitisch und wirtschaftspolitisch
durchaus streitige Maßnahmen.
({17})
Aber in der Abwägung zwischen diesen streitigen Maßnahmen auf der einen Seite und der Versorgungssicherheit für die Menschen in Deutschland in den nächsten
beiden Wintern auf der anderen Seite haben sich diese
Regierung und diese Koalition völlig zu Recht für die
Versorgungssicherheit der Menschen und Unternehmen
in Deutschland entschieden.
({18})
Warum müssen wir solche Maßnahmen auf den Weg
bringen, Frau Höhn? Weil es ein Gesetz zur Förderung
der erneuerbaren Energien, das EEG, gibt, das zum Beispiel durch den Einspeisevorrang konventionelle Kraftwerke immer unwirtschaftlicher werden lässt. Deswegen
muss man im Interesse der Versorgungssicherheit solche
Maßnahmen ergreifen. Sowohl unsere Maßnahmen im
Bereich der Offshorewindenergie als auch die Maßnahmen, die jetzt im Rahmen des Wintergesetzes notwendig
werden, zeigen nur eines: Wenn wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien, bei der umweltfreundlichen Produktion, bei der Versorgungssicherheit und der Bezahlbarkeit der Energie weiter vorankommen wollen, dann
brauchen wir eine grundlegende Reform des Gesetzes
zur Förderung der erneuerbaren Energien.
({19})
Wir sind in dieser Woche einen großen Schritt vorangekommen durch neue Netze, durch Versorgungssicherheit und durch dieses EnWG.
({20})
Weitere Schritte werden folgen müssen. Ein nächster
großer Schritt ist die Reform des EEG. Anders wird die
Bezahlbarkeit der Energie in Deutschland nicht sicherzustellen sein.
({21})
Dieses Gesetz, Frau Steiner, führt genau in die richtige
Richtung - zu notwendigen Reformen für eine bessere
Energieversorgung in Deutschland.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({22})
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Rösler, die Energiewende bietet, wenn man sie richtig betreibt, in allererster Linie
eine Riesenchance für das Industrieland Bundesrepublik
Deutschland. Wir können, wenn wir es richtig machen,
unseren Beitrag dazu leisten, dass wir auf diesem Gebiet
Ausrüster der Welt sein können: mit Energieeffizienz,
mit modernen Formen von Energieproduktion durch erneuerbare Energien. Wir haben in Deutschland das ingenieurwissenschaftliche Know-how dazu, wir verfügen
über die notwendigen Fähigkeiten. Was wir allerdings
nicht haben, ist eine Bundesregierung, die diese Chance
nutzt. Deshalb gerät die Energiewende, die eine Operation am offenen Herzen unserer Industriegesellschaft ist,
durch die Unfähigkeit und das Chaos in Ihrer Regierung
zu einem Riesenproblem. Sie fahren gerade die Energiewende an die Wand, Herr Rösler.
({0})
Wir können Vorreiter sein, auch in Bereichen, wo wir
Neuland oder wie in diesem Fall See betreten, gar keine
Frage. Offshorewindenergie ist nicht nur ein zentraler
Eckpfeiler einer stabilen Energieversorgung der Zukunft, sondern Offshore ist eine neue Technologie. Da
gibt es erhebliche Risiken. Da ist vieles technisch noch
nicht gelöst. Gleichwohl ist dieser Weg richtig. Wir bekennen uns dazu. Wir wollen, dass Stromerzeugung mittels Windkraftanlagen auf See einen wichtigen Beitrag
für den Energiemix der Zukunft leistet. Offshoreanlagen
erreichen eine höhere Volllaststundenzahl als andere Anlagen und sind Teil einer stabilen Energieversorgung
durch Erneuerbare. Aber ich sage noch einmal: Es ist das
Chaos in dieser Bundesregierung, das zu einer Situation
geführt hat, die sich folgendermaßen beschreiben lässt:
Noch vor ein, zwei Jahren waren immense Investitionen
von großen EVUs, aber auch von Stadtwerken im Bereich Offshore geplant. Heute jedoch müssen wir erleben, dass diese Unternehmen ihr Investment Stück für
Stück canceln, weil diese Bundesregierung die Aufgabe,
erneuerbare Energien offshore auszubauen, schlicht und
ergreifend unterschätzt hat. Sie sind dieser Aufgabe
Hubertus Heil ({1})
nicht gewachsen, und deswegen gehen die Investitionen
jetzt den Bach herunter.
({2})
Das hat Folgen für Arbeitsplätze in unserer niedersächsischen Heimat, in Norddeutschland insgesamt.
Wenn man es richtig macht, bietet Offshore eine Chance
für Industrialisierung an den Küsten des Nordens, für
Wertschöpfungsketten beispielsweise im Schiffbau. Sie
haben Planungs- und Investitionsunsicherheit geschaffen. Sie versuchen jetzt, das mühsam zu reparieren durch
ein Gesetz, das neue Ungerechtigkeiten schafft. Das alles gefährdet Beschäftigung, Arbeitsplätze und eine sichere Energieversorgung in diesem Land. Herr Rösler,
Sie sind der Aufgabe nicht gewachsen. Das ist genau das
Problem.
({3})
Was machen Sie jetzt mit diesem Gesetz? Flickschusterei! Sie wälzen im Wesentlichen die Haftungsrisiken
auf die Verbraucher ab. Herr Rösler, Sie sollten keine
Krokodilstränen über höhere Strompreise vergießen, wie
Sie es heute im Morgenmagazin getan haben, wenn Sie
gleichzeitig den Verbrauchern mit diesem Gesetz höhere
Strompreise bescheren. Das ist unglaubwürdig, Herr
Rösler.
({4})
Eine faire Lastenteilung in der Energiewende sieht anders aus. Marktwirtschaftliche Instrumente, Herr
Brüderle, sehen völlig anders aus als das, was Sie mit
diesem Gesetz vorhaben. Das ist ja reine Planwirtschaft,
nichts anderes. Das muss man einmal feststellen.
({5})
Wo sind denn Ihre Vorschläge, die dafür sorgen, dass
wir beim Netzanschluss - denn das ist die Hauptaufgabe trotz aller technisch ungelösten Probleme wirklich vorankommen? Wir hatten in Deutschland eine Riesenchance, in den Jahren 2008 und 2009 beim Unbundling
durch die Schaffung einer deutschen Netz AG mit öffentlicher Beteiligung, aber im Wesentlichen privatwirtschaftlich organisiert, die Feuerkraft für Investitionen in
diesem Bereich zu organisieren. Damals waren es der
Bundesminister Michael Glos, meine Damen und Herren
von der CSU, und später Ihr famoser Herr Guttenberg,
die sich einer solchen vernünftigen Lösung verweigert
haben. Das Ergebnis sehen wir eben heute. Wir sehen
heute, dass die Investitionen, die notwendig wären, nicht
mobilisiert werden können: Investitionen in den Netzanschluss - da gibt es Probleme - und in Leitungen an
Land, die benötigt werden, um Strom vom Norden in
den Süden zu bringen.
Lassen Sie uns doch eine Diskussion über eine deutsche Netz AG führen. Sogar Herr Homann von der
Bundesnetzagentur hält sie für eine Möglichkeit, das
Problem vernünftig zu lösen; Herr Rösler, Sie haben ihn
im Wesentlichen mit ins Amt gebracht, wenn ich mich
recht entsinne. Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob
es nicht vernünftig wäre, das Problem der Offshoreanbindung zu nutzen, um den Nukleus einer deutschen
Netz AG zu schaffen. Unser Vorschlag ist konkret. Wir
wollen, dass wir uns auf diesen Weg machen. Wir könnten dann von öffentlicher Seite, über die Kreditanstalt
für Wiederaufbau, einsteigen, um Haftungsrisiken abzusichern und sie nicht auf die Verbraucher abzuwälzen.
Herr Rösler, das ist eine Alternative zu dem, was Sie hier
vorlegen.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, Herr Rösler: Sie tragen persönlich Verantwortung für das, was im Moment
scheitert. Sie schaffen es nicht, mit Herrn Altmaier wirklich zu Lösungen zu kommen, sondern markieren lediglich für den Bundestagswahlkampf. Die Rede, die Sie
eben gehalten haben, war ein beredter Hinweis auf Ihre
Position im Wahlkampf; aber Sie werden Ihrem Amt
nicht gerecht. Ein Bundeswirtschaftsminister, der eigentlich für eine sichere, saubere und bezahlbare Energieversorgung für die Wirtschaft und für die Verbraucherinnen
und Verbraucher in diesem Land zuständig ist, muss
mehr bieten als die Rede, die wir eben gehört haben. Ich
habe heute Morgen gehört, dass Sie im Morgenmagazin
einen Masterplan zur Energiewende gefordert haben.
({6})
Da kann ich nur sagen: Gute Idee, Herr Minister! Wie
viele Jahre haben Sie eigentlich gebraucht, um auf diese
geniale Idee zu kommen?
Tatsache ist: Wir brauchen eine bessere Koordinierung. Es mag sein, dass Sie die Versorgungssicherheit im
nächsten Winter so garantieren müssen, wie Sie es jetzt
mit Ihrem Zwangsanschaltgesetz machen. Wir sind in
einer Lage, in der die Versorgungssicherheit im Winter
nicht mehr garantiert ist, weshalb Sie Zwangsmaßnahmen ergreifen müssen, die mit Marktwirtschaft nun
wirklich nichts zu tun haben. Sie zwingen die Unternehmen, konventionelle Kraftwerke im Süden anzuschalten,
die sich betriebswirtschaftlich nicht mehr rechnen. Das
wird in den nächsten drei oder vier Wintern möglicherweise notwendig sein; vielleicht gibt es gar keine Alternativen mehr, weil Sie uns in diese Situation gebracht
haben.
Sie haben aber auch keine Idee, wie es danach weitergehen soll, wie ein Strommarktdesign der Zukunft aussieht, wie wir die erneuerbaren Energien vernünftig ausbauen, sie Stück für Stück in die Vermarktung
überführen und sie mit Reservekapazitäten koppeln. Sie
haben keinen Vorschlag vorgelegt, aus dem hervorgeht,
wie ein solches Strommarktdesign aussehen könnte. Dafür hatten Sie eigentlich genug Zeit.
Ich sage Ihnen, Herr Bundesminister: Für den Offshorebereich und für die Versorgungssicherheit sind Sie
nicht der Experte.
({7})
Hubertus Heil ({8})
Sie haben es in den letzten Jahren nicht geschafft, die
Chancen Norddeutschlands und Deutschlands insgesamt
im Bereich der erneuerbaren Energien zu nutzen. Sie
schimpfen in einer Tour über die erneuerbaren Energien,
anstatt sie vernünftig auszubauen und zu fördern. Sie
sorgen nicht für die notwendige Planungs- und Investitionssicherheit. Sie sorgen nicht für eine sichere und bezahlbare Stromversorgung. Sie verspielen die Chancen,
die für das Industrieland Deutschland in der Energiewende stecken, auch die Chancen im Export unserer
Technologien. Sie schaffen keine Planungs- und Investitionssicherheit und vernichten dadurch Arbeitsplätze.
Wir müssen nach der Bundestagswahl mit diesem Chaos
aufräumen. Wir können Energiewende, und Sie nicht.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In der Tat geht es heute um
zwei zentrale energiepolitische Vorhaben beim Umbau
der Energieversorgung, die wir im Übrigen im letzten
Jahr mit großer Mehrheit und fraktionsübergreifend hier
in diesem Hause beschlossen und auch im Bundesrat
einmütig auf den Weg gebracht haben.
Um was geht es konkret? Es geht zum einen um Planungssicherheit im Offshorebereich, um den Offshorewindbereich dorthin zu bringen, wo wir ihn gemäß unserer Ziele haben wollen; ich werde gleich noch darauf
eingehen. Es geht zum anderen um die Übergangsphase,
in der die erneuerbaren Energien aufgrund von Fixkostenvergütungen, Einspeisegarantien und anderen Regelungen eine Dimension erreicht haben, die im Winter zu
der Problematik führt, dass die Erneuerbaren nicht den
Beitrag leisten können, den sie leisten sollen, weil die
Sonne nicht so scheint und der Wind nicht so weht, wie
wir uns das wünschen.
({0})
- An der Küste ist es auch nicht anders; da scheint
nachts auch nicht die Sonne. Das wird trotz fortschreitendem Klimawandel auch nicht anders werden. Mit
dem Wind verhält es sich ähnlich; das wissen Sie genau.
Wir stehen vor folgender Situation: In diesem Jahr
werden über 25 Prozent des Stroms durch erneuerbare
Energien erzeugt. Im Winter werden wir wieder die Situation haben, dass nicht genug installierte Kapazität zur
Verfügung steht. Wir mussten deshalb im letzten Winter
insbesondere in Süddeutschland auf Strom aus Österreich zurückgreifen und zeitweise Reservekraftwerke
zur Stromlieferung verpflichten, um die Versorgung sicherzustellen.
Lassen Sie mich auf folgenden Effekt eingehen. Der
Anteil an Strom aus erneuerbaren Energien wird immer
größer, aber im Spitzenlastbereich muss zusätzlich
Strom aus konventioneller Energie eingesetzt werden.
Wenn die konventionellen Kraftwerke aber über das Jahr
so wenig zum Einsatz kommen, dann sind sie nicht mehr
rentabel. Das betrifft nicht nur neu gebaute, sondern
auch bestehende Kraftwerke. Im nächsten Winter werden wir zusätzlich 2,6 Gigawatt, also 2 600 Megawatt
- das entspricht der Leistung von drei Kernkraftwerken -,
als Reserve brauchen, um die Energieversorgung zu gewährleisten.
Durch eine Übergangslösung bis 2017 - das fällt uns
nicht leicht, weil es in der Tat ein Eingriff in den Markt
ist - wollen wir ausreichend Reserven für den Winter sicherstellen. Für Mitte des Jahres 2014 ist eine Überprüfung vorgesehen. Des Weiteren haben wir gestern im
Bundeskabinett eine Verordnung zu abschaltbaren Lasten auf den Weg gebracht. Das ist eine Möglichkeit, genug Strom zu erzeugen. Die andere Möglichkeit ist, dass
man bei Spitzenlast Lasten insbesondere im industriellen
Bereich vom Netz nimmt, und zwar dort, wo es möglich
ist. Für die Übergangszeit ist das wichtig. Wir finden
hier eine Balance, um schwierige Situationen zu überbrücken.
Wir haben auch ein Problem bei den Pumpspeicherkraftwerken. Dort haben wir eine ähnliche Situation. Auf
der einen Seite brauchen wir mehr Speicherkapazität,
um den diskontinuierlich erzeugten Strom aus erneuerbaren Energien zu speichern. Auf der anderen Seite werden
Pumpspeicherkraftwerke durch den Wegfall der Mittagsspitze über das Jahr hinweg zunehmend unrentabel. Das
heißt, dass sich nicht nur neue, sondern auch bestehende
Pumpspeicherkraftwerke nicht mehr rechnen. Mit dem
Gesetz versuchen wir Anreize zu setzen, um durch den
Einsatz neuer Technik die Effizienz der bestehenden
Pumpspeicherkraftwerke zu erhöhen. Das ist die eine
Seite der Medaille.
Offshore ist ein weiteres Thema. Ich darf daran erinnern: Wir haben uns gemeinsam das Ziel gesetzt, bis
2020 10 Gigawatt und bis 2030 25 Gigawatt durch Offshoreanlagen zu produzieren. Leider wurden bisher nur
2 Prozent davon umgesetzt.
({1})
Was sind die Gründe? Die Gründe liegen in der Vergangenheit. Wir können uns jetzt darüber streiten, wer dafür
Verantwortung trägt oder nicht. Als das auf den Weg gebracht wurde, war Herr Gabriel Umweltminister.
({2})
Wir können jetzt sagen: Der ist schuld. - Das mache ich
aber nicht. Bei einer neuen Technologie sind die Gründe
vielfältig. Es gibt technische Gründe - beispielsweise
bei der Gründung -, es gibt Engpässe bei den entsprechenden Spezialschiffen, die notwendig sind; es gibt
nicht genug Kabel,
({3})
es gibt den Tidenhub, und es gibt logistische Herausforderungen. Das alles sorgt dafür, dass es nicht so umgesetzt werden konnte, wie wir uns das vorgestellt haben.
Wir haben zeitliche Verzögerungen, insbesondere
beim Netzanschluss. Wir stehen vor der Situation, dass
beispielsweise Windparks einsatzfähig sind, aber der
Strom nicht abtransportiert werden kann.
({4})
In den Jahren 2010 und 2011 haben wir bereits zwischen
20 Millionen und 35 Millionen Euro für produzierten
Strom ausgegeben, der nie beim Verbraucher ankam.
Das ist natürlich nicht Sinn der Sache.
Manche sagen: Dann machen wir halt nichts; dann
fährt das alles gegen die Wand. - Aber die Offshoreenergie hat großes Potenzial. Es besteht die Chance, bis 2020
8 bis 10 Prozent und bis 2050 25 bis 30 Prozent des gesamten Stroms offshore zu produzieren.
Offshorewindenergie leistet auch einen Beitrag zur
Systemstabilität. Die Sonne scheint eben, wie gesagt,
nicht Tag und Nacht, und auch der Wind weht onshore
nicht so kontinuierlich wie offshore. Daher haben wir in
diesem Bereich nur eine Verfügbarkeit von 2 bis 5 Prozent. Demgegenüber haben wir offshore eine Verfügbarkeit von ungefähr 4 500 Stunden. Neueste Zahlen belegen, dass die Windparks in der Ostsee im letzten Jahr
über 4 200 Volllaststunden erbracht haben. Insofern können sie einen guten Beitrag zur Systemstabilität leisten.
Offshorewindenergie kann mittelfristig auch zur Senkung des Energiepreises beitragen. Jetzt, am Anfang, ist
die Vergütung zwar vergleichsweise hoch. Die Vergütung
im Bereich Offshorewindenergie wird aber im Gegensatz zu der Vergütung in den Bereichen Onshorewindenergie und Photovoltaik nur neun Jahre lang gezahlt.
Dann läuft die Förderung aus. Das heißt, wir haben keine
20-jährige Bindung. Nach dem Ablauf von neun Jahren
beträgt die Vergütung 4,5 Cent pro Kilowattstunde, was
absolut wettbewerbsfähig ist.
({5})
Das Exportpotenzial ist bereits angesprochen worden.
Offshorewindenergie zählt nämlich nicht zum Bereich
Lowtech, sondern zum Bereich Hightech, und zwar hinsichtlich der Anlagen, der Leitungen und des sonstigen
Know-hows, das damit verbunden ist.
Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, die zeitlichen Verzögerungen zu berücksichtigen und die ungeklärten Haftungsfragen, die sich daraus ergeben, dass es sich hier
um eine neue Technologie handelt, zu klären. Bei der
Offshorewindenergie ist es nicht so wie bei der Nutzung
der Windenergie an Land oder der Nutzung anderer
Technologien, bei denen das Risiko auf dem Markt versicherbar ist. Wir müssen eine Lösung finden, damit die
bestehenden Projekte fortgeführt und zum Erfolg geführt
werden können, und gleichzeitig müssen wir für die
neuen Projekte zukunftsfähige Regeln finden. Diesen
Gordischen Knoten gilt es zu durchschlagen. Deswegen
unterbreiten wir heute diesen Vorschlag, der einen guten
Ausgleich darstellt. Damit schaffen wir einerseits Planungssicherheit für die Investoren, und andererseits wird
der Verbraucher nicht über Gebühr strapaziert.
Wie machen wir das? Wir definieren Fahrlässigkeit
klar. Die Haftungssumme bei leichter Fahrlässigkeit soll
17,5 Millionen Euro pro Projekt betragen. Das war der
große Streitpunkt: Wie hoch muss dieser Betrag sein,
damit trotzdem noch Investitionen ausgelöst werden?
Wichtig ist, dass nicht nur die Umlage ausgelöst wird,
sondern wirklich neue Projekte entstehen und auch private Investoren dabei sind. Auf der anderen Seite sehen
wir einen Selbstbehalt von 110 Millionen Euro pro Jahr
für die Netzbetreiber vor, die in diesem Bereich auf dem
Markt aktiv sind.
Jetzt geht es darum, einen Ausgleich zu schaffen. Wir
müssen nicht nur die bestehenden Projekte umsetzen,
sondern auch dafür sorgen, dass es zukünftig neue Projekte gibt. Deshalb synchronisieren wir im Offshorenetzentwicklungsplan den Ausbau der Offshorekapazitäten
mit dem Kapazitäts- und Netzausbau. Damit bringen wir
beides zusammen; das ist bisher unterlassen worden. Vor
dieser Aufgabe stehen wir heute. Heute drücken wir den
Startknopf. Ich bin gespannt, ob der Bundesrat, in dem
auch Vertreter der Oppositionsparteien vertreten sind,
diesen vernünftigen Weg mitgeht und ob Sie hier und
heute bereit sind, diesen vernünftigen Weg mitzugehen,
oder das Ganze gegen die Wand fahren lassen und damit
die Arbeitsplätze und die Energieversorgung gefährden.
Damit würden Sie letzten Endes das Gegenteil dessen erreichen, was Sie hier immer so schön propagieren.
({6})
Barbara Höll ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist der Anlass für die Debatte? Die Netzanbindung
von Windparks im Meer - dazu wird meine Kollegin
Johanna Voß sprechen ({0})
und die Tatsache, dass Energieversorgern verboten werden soll, Kohle- und Gaskraftwerke stillzulegen unter
Zahlung einer Entschädigungsleistung. Warum? Energiekonzerne drohen momentan damit, dass sie eine
Reihe von Kraftwerken stilllegen müssen, weil sie sich
angeblich nicht mehr rentieren. Diese Woche berichtet
Der Spiegel von einer vertraulichen Studie des Umweltministeriums von Nordrhein-Westfalen, nach der allein
in diesem Bundesland die Stilllegung von 29 Kraftwerken droht, und zwar vorzeitig; denn ihre technische Lebensdauer liegt noch bei 20 bis 30 Jahren.
Nun fragt sich natürlich jeder, warum das so ist. Die
Mengen an Wind- und Solarstrom hätten so stark zugenommen, dass die Großhandelspreise sinken würden. Das
mache den Betrieb von Kohle- und vor allem von Gaskraftwerken zunehmend unwirtschaftlich, so die Energiekonzerne. Sinkende Strompreise durch erneuerbare Energien - ich glaube, ganz viele Bürgerinnen und Bürger sind
nun ein bisschen verwirrt. Vor zwei Wochen erhielten sie
die Nachricht ihres Stromversorgers, dass die Strompreise wegen der Förderung der erneuerbaren Energien
zum 1. Januar 2013 steigen müssen. Die Strompreise sollen um durchschnittlich 12 Prozent ansteigen. Einige Versorger verlangen mit einem Aufschlag von bis zu 20 Prozent sogar deutlich mehr. Man fragt sich wirklich: Wie
passt das zusammen?
Richtig, die Umlage für erneuerbare Energien steigt
im nächsten Jahr um 1,7 Cent pro Kilowattstunde. Damit
wird die Strompreisexplosion begründet. Diese Aussage
bestimmte in den letzten Wochen die Titelseiten der Zeitungen. Nun muss man aber wissen, was nicht in den
Zeitungen steht, nämlich dass die EEG-Umlage nicht
nur deshalb erhöht wird, weil wir einen Zubau von Solar- und Windstromanlagen wollen, sondern weil unter
anderem die Ausnahmeregelungen für Industrien stark
ausgeweitet wurden. Man kann sagen, dass die Industrierabatte mindestens 1 Cent ausmachen.
({1})
Es wird verschwiegen, dass der Zubau von erneuerbaren Energien zu sinkenden Preisen an der Strombörse
führt.
({2})
Das ist richtig; denn Ökostrom dämpft den Preisanstieg,
und zwar derzeit um 0,9 Prozent. Jedes Solardach und
jedes neu angeschlossene Windrad führen tendenziell
dazu, dass der Strom preiswerter wird.
Aber die Energiekonzerne klagen, dass alles so
schlimm sei. Die Preise an der Börse seien so niedrig, es
lohne sich also nicht mehr, insbesondere Gaskraftwerke
zu betreiben. Warum? Der Profit ist entscheidend und
nicht die Versorgungssicherheit. Das ist ein Skandal.
({3})
Einerseits sagt die Bundesnetzagentur, es gebe genügend Kraftwerke, um die Stromversorgung im nächsten
Winter sicherzustellen, andererseits ist die Drohkulisse
durch die Energiekonzerne so groß, dass der Bundeswirtschaftsminister sagt: In diesem Bereich verzichte ich
auf marktwirtschaftliche Mechanismen, jetzt gibt es einen Plan, ein Verbot der Stilllegung. - Dieses Stilllegungsverbot ist aber nicht umsonst. Der Staat soll dafür
zahlen, dass die Energiekonzerne ihre Kraftwerke weiterbetreiben.
({4})
Als Finanzpolitikerin frage ich mich: Welche Stilllegungsankündigung der Energieversorger ist berechtigt?
Wobei handelt es sich vor allem um eine Drohkulisse,
und wann ist es so, dass die Kraftwerke tatsächlich nicht
rentabel sind?
({5})
Dann gibt es noch die angedrohten Abschaltungen.
Hier muss ich fragen: Was wäre denn Ihrer Meinung
nach eine angemessene Entschädigung? - Herr Rösler,
es ist schön, dass Sie versuchen, zuzuhören, während Sie
von der Seite angesprochen werden. - Ich frage mich
wirklich: Wollen wir heute einen Blankoscheck ausstellen? Es soll einfach verabschiedet werden, dass die
Energiekonzerne eine Prämie zur Verhinderung der Stilllegung erhalten. Über die Höhe dieser Stilllegungsprämie reden aber nicht wir hier im Bundestag, sondern die
Festlegung soll auf dem Verordnungsweg, also am Parlament vorbei, geschehen. Das ist ein zusätzlicher Skandal.
({6})
Sie machen wieder einmal Politik am Parlament vorbei. Noch am Montag stand dieser Gesetzentwurf nicht
auf der Tagesordnung des Bundestages. Er wurde erst
am Dienstag auf die Tagesordnung gesetzt.
({7})
Am Dienstagabend erhielten die Abgeordneten des Wirtschaftsausschusses 60 Seiten mit Änderungsanträgen.
Erzählen Sie mir nicht, dass Sie sich alle intensiv damit
auseinandersetzen konnten.
({8})
Das glaubt Ihnen niemand. Wir von der Opposition
konnten das auch nicht.
({9})
Manche Energieversorger sagen, das Geschäft lohne
sich nicht mehr, alles sei so schlimm. Schauen wir uns
doch einmal an, wie es konkret aussieht: RWE hat in den
ersten drei Quartalen dieses Jahres eine Gewinnsteigerung um ein Drittel auf 1,88 Milliarden Euro erzielt. Eon
hat für 2013 seine Gewinnerwartung nach unten korrigiert. In diesem Jahr geht man von einem Gewinn von
4,1 bis 4,5 Milliarden Euro aus. Auch Eon schreibt im
nächsten Jahr noch keine roten Zahlen. Sie verzeichnen
also eine Verringerung des Profits, aber sie schreiben
keine roten Zahlen, sondern machen weiterhin Profit. Es
geht ihnen nur um Profitmaximierung, aber nicht um
Versorgungssicherheit. Das macht doch den Grundkonflikt deutlich.
({10})
Der Grundkonflikt ist folgender: Den privaten Unternehmen geht es um Gewinnmaximierung und nicht um
Versorgungssicherheit. Das kann nicht die Zielsetzung
sein. Energieversorgung ist ein Gut, auf das wir alle angewiesen sind. Deshalb gehört sie in öffentliche Hand.
Noch eines: Wenn Sie hier schon solch einen Gesetzentwurf verabschieden wollen, frage ich mich, warum
Sie zu allem Überfluss wieder viele kommunale Stadtwerke benachteiligen. Diese können nicht einfach abschalten. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Heizung
im Winter läuft und warmes Wasser da ist. Die Wärmeversorgung ist der Auftrag der Kommunen. Damit fallen
sie nicht unter das Gesetz. Das heißt, Sie wollen hier
wieder ausdrücklich die privaten Kraftwerke sponsern.
Dafür machen Sie Druck und beugen sich den Drohkulissen. Wir werden uns damit nicht einverstanden erklären und lehnen das ab.
Danke.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Krischer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Wirtschaftsminister Rösler, der Gesetzentwurf, den Sie hier vorlegen, ist keine energiewirtschaftliche Großtat, wie Sie es hier gerade vorgetragen haben,
sondern eine Bankrotterklärung. Das muss hier so einmal gesagt werden.
({0})
Wenn man es mit Ihnen gut meint, kann man sagen: Es
ist die Beseitigung der Trümmer, die Sie verursacht haben. Aber selbst das bekommen Sie nicht hin. Sie schaffen es nicht, die eigenen Fehler an dieser Stelle zu beseitigen.
({1})
Das zeigt sich daran, dass Sie monatelang gestritten und
gezetert haben, um zu diesem Gesetzentwurf zu kommen.
Frau Aigner hat sich vor Sie geschmissen, hat die verbraucherpolitische Ankündigungsministerin gemacht,
und dann ist sie als Bettvorlegerin gelandet.
({2})
- Ich merke, das Bild mit Frau Aigner und der Bettvorlegerin gefällt Ihnen. - Letztendlich sind Sie erst gestern
Morgen mit dem Gesetzentwurf fertig geworden. Das
zeigt, welche Qualität er hat.
({3})
Man muss sich einmal klarmachen, was beim Thema
Offshore los ist. Das, was Sie produzieren, ist Schilda
live. In Deutschland, in der Nordsee werden Windparks
gebaut, obwohl dort kein Netzanschluss ist, und dort, wo
ein Netzanschluss ist, haben wir keine Windparks. Wer
trägt die Verantwortung dafür? Das ist der Wirtschaftsminister, der für Netzausbau zuständig ist.
({4})
Von ihm habe ich zu diesem Thema lange nichts gehört.
({5})
Das, was wir von Rösler im Zusammenhang mit diesem Thema gehört haben, ist: Das sollen die Unternehmen
für sich regeln, das sollen sie untereinander regeln. - Das
Problem ist ja nicht vom Himmel gefallen. Er hat es geschehen lassen, er hat die Dinge so laufen lassen, und
jetzt ist das Chaos da. Die Zahlen zeigen, dass es nicht
nur um Probleme geht, die in der Zukunft auf uns zukommen. Schon jetzt sind Schäden entstanden. Es geht
um 1 Milliarde Euro, wahrscheinlich sogar 2 Milliarden
Euro. Für diese Schäden tragen dieser Wirtschaftsminister und diese Bundesregierung die Verantwortung.
({6})
Die Folgen dieser Politik kann man sich in Niedersachsen ansehen. Dort werden reihenweise Windparkprojekte abgesagt. Eine ganze Industrie droht uns verloren zu
gehen. Die hochfliegenden Pläne von 10 000 Megawatt,
von denen Herr Pfeiffer eben noch gesprochen hat, sind
schon lange nicht mehr realisierbar. Dieses Ziel werden
wir bis 2020 nicht erreichen. Sie haben aber bewirkt, dass
Sie nach der PV nun die zweite Industrie im Bereich der
erneuerbaren Energien kaputtmachen. Das ist das Resultat Ihrer Politik.
({7})
Statt selber Verantwortung zu übernehmen, tun Sie
das, was Sie immer tun.
({8})
Sie laden die Verantwortung bei den Verbraucherinnen
und Verbrauchern ab. Sie sollen für Ihre Fehler, für die
Schäden, die Sie verursacht haben und auch in Zukunft
weiter verursachen werden, zahlen. 0,25 Cent pro Kilowattstunde soll jeder Privatverbraucher zahlen. Alle Verbraucher, die mehr als 100 000 Kilowattstunden verbrauchen, sind wieder größtenteils ausgenommen; so kennen
wir das. Es geht nicht mehr nur um die energieintensive
Industrie - da könnte man das vielleicht noch nachvollziehen -, sondern praktisch um alle Unternehmen. Jede
mittlere Sparkassenfiliale ist ausgenommen. Sie laden die
Probleme wieder allein bei den Privatverbrauchern, beim
Kleingewerbe und beim Handwerk ab.
({9})
Das ist Ihre Politik.
({10})
Das passt zu alledem, was wir bei der EEG-Umlage, bei
den Netzentgelten und bei der Stromsteuer erleben: Dieser Wirtschaftsminister erteilt Befreiungen und verteilt
Privilegien wie Kamellen im Kölner Karneval. Das ist
die Realität.
({11})
Meine Damen und Herren, die sinnvollste Lösung
wäre, Sie würden hier die Verantwortung übernehmen,
sprich: der Bund würde für die Haftung einstehen. Da
könnten wir einen guten Weg gehen - der Kollege Heil
hat ihn eben schon erläutert -: Wir könnten, wenn wir
die Haftung für TenneT übernehmen und dem Unternehmen das Risiko abnehmen würden, die Chance nutzen,
um Anteile von TenneT zu übernehmen und eine Deutsche Netz AG zu gründen.
({12})
Dies haben Sie in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart;
aber Sie haben nichts gemacht. In Ihren Antworten auf
Anfragen schreiben Sie, dass die Deutsche Netz AG
nicht mehr kommen wird, weil die Übertragungsnetzbetreiber sie nicht wollen. An dieser Stelle hätten Sie die
Chance, eine Deutsche Netz AG zu gründen, um diesen
Bereich zu ordnen.
({13})
Es kann ja nun wirklich nicht sein - das muss man sich
auf der Zunge zergehen lassen -, dass der wichtigste deutsche Netzbetreiber, die Firma TenneT, von der Bundesnetzagentur keine Zertifizierung bekommt. Wenn man
sich anschaut, was dazu auf der Homepage der Bundesnetzagentur steht, dann erfährt man, dass der Netzbetrieb
von TenneT eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Das muss
man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Der
wichtigste deutsche Netzbetreiber begeht beim Netzbetrieb eine Ordnungswidrigkeit. Das ist die Realität Ihrer
Politik. So kann man eine Energiewende nicht machen.
({14})
In Ihrem Gesetzentwurf geht es allerdings nicht nur
um Offshore und den Anschluss an die Netze, sondern
auch um das Thema, das Sie beschönigend „Winterreserve“ nennen. Wir sagen dazu: Das ist ein Kraftwerkszwangsbetrieb. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich
hätte mir nicht vorstellen können, dass eine christlich-liberale Koalition - so nennen Sie sich ja - in der Energiewirtschaft eine Planwirtschaft einführt, bei der Herr
Honecker - Gott hab ihn selig - im Grab hüpfen würde.
Das ist genau das, was Sie da gemacht haben. Das ist
doch wirklich ein Armutszeugnis.
({15})
Das zeigt, dass Sie beim Thema Energiewende jeden
Kompass verloren haben.
Herr Brüderle, Sie reden ja neuerdings immer so
gerne vom Mao-Jäckchen. Ich glaube nur, Sie verschweigen uns, wer in Wirklichkeit das Mao-Jäckchen
trägt.
({16})
Das ist nämlich der Wirtschaftsminister; denn er führt in
der Energiewirtschaft die Planwirtschaft ein.
({17})
Das, meine Damen und Herren, ist die Realität.
({18})
Ich könnte mir ja noch vorstellen, dass man eine solche Lösung für ein bis zwei Jahre vorsieht. Aber Sie
wollen, dass diese Lösung bis 2017 gilt. Ursprünglich
hatten Sie sogar vor, sie bis 2019 zu verankern. Das ist
keine kurzzeitige Lösung. Das ist eine auf Dauer angelegte Lösung.
Geht es um die Frage, wie wir bei der Versorgungssicherheit marktwirtschaftliche Instrumente einsetzen,
verweigern Sie sich der Debatte vollständig. Wir brauchen in diesem Land Kapazitätsmärkte, um die Versorgungssicherheit marktwirtschaftlich zu regeln. Schauen
Sie einmal ins europäische Ausland: Die Briten reden
über Kapazitätsmärkte, in Holland wird über Kapazitätsmärkte geredet, die EU-Kommission bereitet eine Verordnung zum Thema Kapazitätsmärkte vor. Was erleben
wir? Die Bundesregierung hat zu diesem Thema wieder
einmal keine Meinung. Sie verpennen auch dieses
Thema. Sie versagen, wie auch bei der Energiewende.
({19})
Nun noch ein Wort zur Lastabschalt-Verordnung. Sie
ist im Prinzip ein richtiges Instrument. Über dieses
Thema streitet man sich - das hat, wie ich habe lernen
müssen, wohl schon in der Großen Koalition angefangen - seit mittlerweile vier Jahren. Jetzt legen Sie auf
einmal einen Entwurf vor. Wir werden ihn uns sehr genau ansehen und prüfen, ob er ein Instrument ist, das geeignet ist, die Lasten zu verschieben. Aber eines sage ich
Ihnen: Wir werden nicht dabei mitmachen, eine neue
Subventionsmaschine für eine Handvoll Industriebetriebe zu schaffen. Wir werden uns Ihren Entwurf, wie
gesagt, sehr genau ansehen. Für uns gilt das Prinzip:
Wenn es eine Förderung und eine Entlohnung gibt, dann
muss dem auch eine Leistung gegenüberstehen. Anders
kann es nicht gehen.
({20})
Ich möchte abschließend einen Punkt ansprechen, der
nicht so sehr im Fokus der Debatte steht: den § 46 des
Energiewirtschaftsgesetzes, in dem es um die Kommunen und um Konzessionsverträge geht. Das Ziel meiner
Fraktion ist - ich weiß, dass dies auch für die Kollegen
von den Sozialdemokraten ein wichtiges Thema ist -,
den Kommunen zu ermöglichen, selbst zu entscheiden,
was mit den Verteilnetzen vor Ort passiert und wer sie
betreibt. Wir wollen hier Entscheidungsfreiheit für die
Kommunen.
({21})
Was Sie machen, haben Sie 2011 im Energiewirtschaftsgesetz schon schlecht geregelt. Sie sind leider unseren
Vorschlägen nicht gefolgt, das besser zu machen. Sie haben eine völlige Rechtsunsicherheit produziert, die dazu
führt, dass Kommunen heute nicht entscheiden können,
weil sie in jedem Fall Angst haben müssen, sie müssten
einen Prozess gegen Energiekonzerne führen. Das ist
nicht in Ordnung. Das ist gegen die Kommunen gerichtet. Das ist gegen die Interessen der Energiewende. Das
kann so nicht sein. Das sollten Sie ändern.
({22})
Ich kann Ihnen eines sagen: Spätestens im September
2013 wird das einer der ersten Punkte sein, die wir ändern.
({23})
Wir werden § 46 des Energiewirtschaftgesetzes so gestalten, dass das eine kommunalfreundliche Regelung
wird, der Sie sich die ganze Zeit verweigern.
({24})
Meine Damen und Herren, zusammenfassend kann
man sagen: Dieser Gesetzentwurf ist kein Beitrag zur
Energiewende. Er ist untauglich, er ist Flickschusterei,
um eigene Fehler und Unvermögen dieser Bundesregierung zu kaschieren. Er löst kein einziges Problem, er beantwortet keine einzige Frage der Energiewirtschaft und
der Energiewende.
Ich danke Ihnen.
({25})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Klaus Breil für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Was Herr Heil - wo ist er, ist er nicht mehr da? - für
wünschenswert hält, ist bereits Realität. In vielen Teilen
der Welt wird deutsche Erneuerbare-Energien-Technologie angewendet - bis hin zu den Antipoden, zum Beispiel in der Atacama-Wüste in Chile. Ich bin gern bereit,
Ihnen nähere Auskünfte zu erteilen. Das können wir
gern bilateral machen.
Die Koalition beschließt heute im Wesentlichen zwei
bedeutende Änderungen im Energiewirtschaftsgesetz.
Erstens. Wir lösen das Problem bestehender Rechtsunsicherheiten beim Ausbau der Offshorewindenergie - immerhin eine der Grundfesten bei unserem Ausstieg aus
der Kernenergie und auf unserem Weg hin zu 80 Prozent
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien im Jahr
2050. Wir haben uns in unserem Energiekonzept dazu
bekannt, bis 2020 rund 10 Gigawatt Stromerzeugungskapazitäten an den Küsten unseres Landes anzuschließen. Bis 2030 sollen es 25 Gigawatt werden.
Bedingt durch Lieferengpässe der Industrie, die nicht
vorhersehbar und nicht beeinflussbar gewesen sind,
konnten Fristen nicht eingehalten werden. In der Folge
wackelten mit den Finanzierungszusagen auch die Ausbauziele. Es drohte eine Situation, in der Windparks installiert sind und der dort produzierte Strom aufgrund
fehlender Anschlüsse nicht abtransportiert werden kann.
Herr Krischer, Offshorewind ist komplizierter als
EUROSOLAR.
({0})
Wer hätte da noch investieren sollen?
Zur Rettung der Situation wird jetzt ein Teil der ausfallenden Vergütung durch die Verbraucher getragen.
Dabei bleibt das Geschäft attraktiv für Genossenschaften, Bürgerfonds, Kapitalsammelstellen wie zum Beispiel Pensionfonds, Versicherungen und Energieversorger. Eigentümer dieser Institutionen ist eine große
Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern.
Im Gesetzgebungsverfahren haben wir versucht, den
Zeitraum der Belastung für die Verbraucher so kurz wie
nötig zu halten. Ich persönlich gehe davon aus - Herr
Krischer, hören Sie gut zu! -, dass diese Umlage in Höhe
von 0,25 Cent pro Kilowattstunde nur für die kommenden drei, vielleicht maximal vier Jahre erhoben wird.
({1})
Um dem gerecht zu werden, haben wir keinem der Wünsche der Branche, die die Umlage in die Höhe getrieben
hätten, nachgegeben.
({2})
Es wundert mich nicht, dass ich all diese Forderungen in
den Entschließungsanträgen der Opposition wiederfinde.
({3})
Zum Beispiel sollen - eine Forderung der Grünen - ausgefallene Vergütungen auch dann, wenn die zentrale Anschlusskomponente noch nicht installiert ist, bereits
kompensiert werden. Zum Beispiel soll - eine Forderung
der Grünen - eine Vermaschung der Anschlüsse die Absicherung jedes einzelnen Windparks erhöhen, auch
wenn damit jede teure Anbindungsleitung doppelt errichtet würde.
({4})
Zum Beispiel soll - eine Forderung der SPD - das Stauchungsmodell im EEG verlängert werden, auch wenn
dadurch die EEG-Umlage nochmals erhöht wird.
({5})
Herr Krischer, Sie fordern mehr Markt, andererseits aber
auch Kapazitätsmärkte. Wie Sie diesen Widerspruch auflösen wollen, müssen Sie mir einmal erklären.
({6})
Das darf es alles nicht geben. Die Politik muss verantwortungsvoll mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger
umgehen.
({7})
Darum, Herr Heil - hören Sie gut zu! -, sind die Bürgerinnen und Bürger froh, dass wir regieren und nicht RotGrün.
({8})
Zweiter wesentlicher Punkt. Wir sorgen mit der Gesetzesänderung dafür,
({9})
dass in Deutschland die Lichter nicht ausgehen. Der
hohe Grad der Versorgungssicherheit trägt bedeutend zu
unserem Wohlgefühl bei und ist ein wichtiger Standortfaktor für die ansässigen Unternehmen. Die Verlässlichkeit der Stromversorgung ist ein wesentlicher Grund
dafür, warum sich Unternehmen trotz der hohen Strompreise weiter bevorzugt in Deutschland niederlassen.
({10})
Es ärgert mich sehr, wenn ich in den Medien Worte
wie Kraftwerkabschaltverbotgesetz lesen muss.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der Politik
gibt es immer einen sauren Apfel, in den man beißen
muss.
({12})
Wir haben es nämlich bis heute nicht geschafft, die erneuerbaren Energien mit steuerbaren Back-up-Kapazitäten unter einen Hut zu bringen. Ebenso wenig haben wir
es schon erreicht, den Netzausbau und den Ausbau der
erneuerbaren Energien aufeinander abzustimmen. Hier
stehen wir noch am Anfang.
({13})
Die ersten Schritte sind in dieser Legislaturperiode gemacht worden.
Solange wir aber kein neues Marktdesign unter Einbeziehung der fluktuierenden erneuerbaren Energien mit
Systemverantwortung haben, also eine Reform des EEG,
({14})
so lange gleicht der Schritt, den wir mit diesem Gesetz
gehen, einem minimalinvasiven Eingriff.
({15})
Die Notwendigkeit liegt auf der Hand: Selbst neuere
Gaskraftwerke, deren Betrieb durch die wenigen Betriebsstunden im Jahr nicht mehr rentabel ist, waren und
sind Gegenstand von Stilllegungsankündigungen. In
Bayern, wo ich herkomme, haben Ankündigungen wie
diese manche Politiker auf einen Schlag um Jahre altern
lassen.
Herr Kollege, Sie achten bitte auf die Zeit.
Der Stromausfall in München vor wenigen Tagen sitzt
den Münchenern noch gut im Gedächtnis: 450 000 Bürgerinnen und Bürger ohne Strom, das zeigt die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft.
({0})
Zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger und zum
Wohle unserer Industrie mussten wir handeln. Mit dem
neuen Gesetz werden Betreiber verpflichtet, die Stilllegung eines Kraftwerks mit einer Leistung von mehr als
50 Megawatt ein Jahr im Voraus anzukündigen. Wird
dieses Kraftwerk als systemrelevant eingestuft, kann es
durch die Bundesnetzagentur in eine Netzreserve überführt werden.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Damit laufen diese Anlagen bei regionalen Engpässen auf Anweisung des zuständigen Übertragungsnetzbetreibers. Vom Prinzip her
ist das nichts Neues, es ist nur transparenter
({0})
und hat eine vom Deutschen Bundestag legitimierte
Grundlage.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Beckmeyer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin ein wenig entsetzt über den Stand der Erkenntnis, den dieser Bundeswirtschaftsminister uns
heute und in den letzten Tagen vermittelt hat. Man fragt
sich eigentlich: Wo war er die ganzen letzten drei Jahre?
War diese Bundesregierung in dieser Frage in den letzten
drei Jahren auch nur irgendwie aktiv? Was muss eigentlich alles passieren, damit die Windkraftbranche, die
Offshorebranche in Deutschland überhaupt noch eine
Zukunft hat?
({0})
Ich komme aus einer Stadt, in der mindestens 25 Unternehmen in der Windkraftbranche tätig sind: REpower
Systems, PowerBlades, Areva Wind, WeserWind, alles
große Unternehmen. All diese Unternehmen haben in
den letzten fünf, sechs Jahren dreistellige Millionenbeträge investiert. Die setzen darauf, dass sie in der Bundesrepublik Anlagen zur Erzeugung von Offshorewindenergie unter guten Rahmenbedingungen entwickeln,
bauen und verkaufen können. Für die Rahmenbedingungen sind ausschließlich Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, in dieser Regierung zuständig.
({1})
Aber wo sind diese Rahmenbedingungen? Wer hat eigentlich diese Rahmenbedingungen in den letzten Jahren
nicht geschaffen? Das ist diese Bundesregierung.
Wir haben inzwischen Insolvenzen von großen Unternehmen an der Küste, die dort bisher in der Windkraftbranche tätig waren. Das zarte anfängliche Anklopfen
der Ministerpräsidenten ist in diesem Herbst inzwischen
zu einem Sturm geworden, weil die Unternehmen dort
oben an der Küste erkennen: Diese Regierung handelt
nicht. Diese Regierung verschläft das Problem. Sie sind
ein Planlosigkeitsminister, nichts anderes.
({2})
Ich darf an dieser Stelle ganz zurückgenommen sagen: Wir haben eine enorme Chance in diesem Feld. In
den nächsten Jahren können locker Investitionen von
mehreren Milliarden, manche reden von 75 Milliarden,
getätigt werden. Aber was erleben wir? Da kündigt
EnBW an, dass der dritte Windpark jetzt im November
gestoppt wird, weil unsichere Rahmenbedingungen vorhanden sind. Da fragt man sich doch: Sind das eigentlich
noch nicht genügend Weckrufe, damit diese Bundesregierung endlich handelt?
Das Problem TenneT ist seit mindestens zwei Jahren
in der Szene bekannt. Die haben zu wenig Kohle und zu
wenig Investitionskraft. Jetzt kommt die Bundesnetzagentur und attestiert das, was gerade vom Kollegen der
Grünen gesagt worden ist. Und was macht diese Bundesregierung? Gar nichts. Wo sind Ihre Gespräche mit
TenneT? Wo sind Ihre Initiativen, dass TenneT seine
Aufgaben als Investor für die Netze auch im Offshorebereich wahrnehmen kann? Wo sind sie?
({3})
Wenn Sie zur niederländischen Regierung fahren und
dort erfahren, dass sie den TenneT-Leuten nicht unter die
Arme greifen will, dann müssen Sie als Bundeswirtschaftsminister für Deutschland doch selbst tätig werden, um in dieser Frage endlich Klarheit zu erringen.
({4})
Sie produzieren hier Trümmer, eine Trümmerlandschaft der Energiepolitik. Ich finde, das ist unverzeihlich; denn es gibt Tausende von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, die hoffnungsvoll in diese Branche eingestiegen sind und die sich hier engagieren, junge Ingenieure, die darin eine Zukunft sehen. Alle Menschen dort
werden zurzeit verunsichert, weil sie genau sehen, was
in ihrem Betrieb los ist. Sie fahren momentan auf Volllast und wissen, dass sie Mitte nächsten Jahres aufgrund
von nicht erfolgten weiteren Bestellungen in eine Unterbeschäftigung geraten. Da kann ich nur fragen: Wer trägt
dafür die Verantwortung? Diese Bundesregierung
schweigt zu diesem Problem. Diese Bundesregierung ist
nicht einmal in der Lage, das Instrument der KfW-Förderbank so einzusetzen, dass sie auch tatsächlich helfen
kann. Nein, Sie nehmen dieser Förderbank auch noch die
letzten Reserven.
({5})
Bei diesem Punkt merkt man: Das, was Sie mit dieser
Politik betreiben, passt nicht zusammen. Alle Bauteile,
die ordentlich zusammengestellt werden müssen, werden von Ihnen zerstört. Die einzelnen Instrumente, die
eine Regierung hat, die sie schärfen und einsetzen kann,
werden von Ihnen leider nicht genutzt.
Ich bin traurig darüber,
({6})
weil die Menschen bei uns im Grunde etwas Besseres
verdient haben. Sie haben die Phase des Niedergangs der
deutschen Werften erlebt. Sie sehen jetzt plötzlich die
Chance, eine Industrie zu etablieren, die wieder eine Perspektive bietet. Aber gleichzeitig setzt diese Bundesregierung Rahmenbedingungen, die das alles wieder infrage stellen. Sie sind in dieser Frage - ich sage einmal kein verlässlicher Partner. Sie sind in dieser Frage von
der Bevölkerung inzwischen als unzuverlässig, als nicht
nach vorne gerichtet identifiziert worden. Zwei Drittel
der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik trauen
Ihnen nichts mehr zu. Das ist leider Gottes eine so ernste
Situation, dass man nur hoffen kann, dass die Monate bis
zum September wirklich schnell vergehen, damit wir
endlich einmal wieder eine ordentliche Orientierung bekommen, eine Industriepolitik, die stimmig ist, eine
Politik, die nach vorne weist und die auch in der Energiefrage endlich Klarheit schafft.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Themen
Wirtschaftswachstum, Versorgungssicherheit und Stromkosten sind bei Ihnen ausgesprochen schlecht aufgehoben.
Herzlichen Dank.
({8})
Thomas Bareiß ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Nach den Rednern von Rot, Grün und ganz links
außen möchte ich doch ein paar wenige Vorbemerkungen machen.
Sie haben mir den Vorwurf gemacht, dass wir planwirtschaftlich vorgehen.
({0})
Ich habe mir jetzt einmal kurz aufgeschrieben, was Sie
alles in Ihren Anträgen fordern und was wir heute zu
späterer Zeit auch noch diskutieren.
({1})
Sie wollen Kapazitätssubventionen und eine dauerhafte Zementierung des EEG für die nächsten Jahre. Sie
wollen - das haben wir heute gehört - eine staatliche
Netzgesellschaft
({2})
und dafür die Netzbetreiber anscheinend enteignen. Sie
wollen eine Stromflatrate, staatliche Stromtarife und
Zwangsquoten hinsichtlich der Energieeffizienz. Das,
was Sie wollen, ist Planwirtschaft und Staatswirtschaft,
und das wollen wir eben nicht.
({3})
Zu Beginn dieser Debatte ist es für mich wichtig,
noch einmal zu sagen: Wir haben uns enorm hohe Ziele
gesetzt, die Sie sich so nicht gesetzt haben. Wir wollen
den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung bis 2020 auf 35 Prozent und bis 2030 auf
50 Prozent erhöhen.
({4})
Wir wollen das mit Ziel und Maß sowie mit Markt und
Wettbewerb erreichen. Von diesem Geist ist auch die
Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes getragen.
Deshalb glaube ich auch, dass wir den richtigen Weg
für die nächsten Jahre eingeschlagen haben und dass das
die richtige Grundlage für den Offshorenetzausbau ist.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Krischer?
Ja gerne, natürlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Bareiß, Sie haben sich hier eben gegen
eine deutsche Netzgesellschaft ausgesprochen.
({0})
Können Sie mir erklären, wie es möglich ist, dass im
Jahre 2009 im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb vereinbart worden ist, eine solche deutsche Netzgesellschaft
anzustreben? Können Sie mir auch erklären, warum Sie
jetzt, da wir Probleme mit TenneT haben, nicht die Gelegenheit ergreifen, wie 2009 vereinbart, in eine solche
deutsche Netzgesellschaft einzusteigen?
Was ist Ihre Alternative? Sie kritisieren das, was wir
vorschlagen, haben aber keine Alternative. Sie lassen zur
Lösung dieser Frage allein die Verbraucher zahlen.
({1})
Lieber Herr Krischer, im Gegensatz zu Ihnen respektieren wir die Eigentumsrechte. Wir haben im Koalitionsvertrag zwar gesagt, wir wollen prüfen, ob eine
Netzgesellschaft möglich und sinnvoll ist - das haben
wir auch getan -, aber wir können nicht in Eigentumsrechte eingreifen und sagen: Wir nehmen den Eigentümern die Netze weg und überführen sie in staatliche
Hände. Das ist nicht unser Modell.
({0})
Mit den Vorgaben, die wir jetzt im Energiewirtschaftsgesetz eingebaut haben, werden wir es, wie ich
glaube, schaffen, die Offshorewindparks, die wir brauchen, aufzubauen; und mit dem Netzentwicklungsplan,
den wir in dieser Woche gemeinsam im Beirat in der
Bundesnetzagentur besprochen haben, werden wir es
schaffen, ebenfalls die Netze Stück für Stück aufzubauen, die wir brauchen - und das nicht in staatlicher
Hand, sondern in privatwirtschaftlicher Hand. Ich
glaube, das ist der richtige Weg, und er wird langfristig
auch zum Erfolg führen.
Kollege Bareiß, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal des Kollegen Heil?
Nein, ich glaube, das Thema haben wir jetzt durch.
Ich möchte jetzt nicht weiter auf die Netze eingehen,
sondern zu dem eigentlichen Punkt kommen, nämlich
zum Thema Offshoreausbau, und mich der Frage widmen, welche Rolle die Offshorewindparks in den nächsten Jahren spielen werden. Das ist nämlich die zentrale
Frage, die wir heute diskutieren müssen.
Die Offshorewindparks - ich glaube, es ist wichtig,
das auch noch einmal herauszustellen, weil das vorhin
teilweise falsch dargestellt worden ist - sind enorm leistungsfähig und haben das höchste Potenzial in Deutschland.
({0})
Sie sind viermal leistungsfähiger als Photovoltaikanlagen, also die Solarenergie, und sie sind zweimal leistungsfähiger als Onshorewindräder. Das muss man doch
noch einmal sagen, Herr Heil, weil es in dieser Woche
im Ausschuss durchaus auch andere Stimmen gab, und
zwar aus Ihrem Lager,
({1})
die gesagt haben: Wir brauchen diesen Ausbau der Offshorewindkraft, den sich die Koalition vorgenommen
hat, nicht. - Wir brauchen ihn aber doch, weil wir auch
in den nächsten Jahren leistungsfähige Stromerzeugungsanlagen brauchen und weil wir die Kostendegression in den nächsten Jahren Stück für Stück stärker angehen wollen, als wir das bisher getan haben.
({2})
Offshorewindenergie - auch das wird in der Debatte
immer falsch dargestellt - ist eine relativ günstige Art
der Energieerzeugung und wird in den nächsten Jahren
noch günstiger werden. Wir sind schon heute, wenn man
das einmal mit den Kosten für die Förderung von Solarenergie und anderen Energiearten im Rahmen des EEG
vergleicht, bei 9,7 Cent je Kilowattstunde. Im Vergleich
zur Onshorewindenergie mit 9,2 bzw. 9,3 Cent je Kilowattstunde sind wir fast schon wettbewerbsfähig und
fast auf gleichem Niveau. Wenn man das einmal mit den
Preisen für den Ausbau der Solarenergie vergleicht, die
Sie, Herr Krischer, ständig zu verteidigen versuchen,
stellt man fest, dass wir sogar bei der Hälfte der Kosten
liegen. Ich glaube, allein das zeigt schon, dass wir im
Bereich von Offshorewindenergie und im Bereich von
Windenergieausbau ganz allgemein mehr tun müssen.
Weil wir davon überzeugt sind, dass das die richtige
Energieart ist, um zu einer Säule unserer Energieversorgung zu werden, wollen wir bis 2020 - auch das muss
noch einmal gesagt werden - eine Leistung von 10 Gigawatt bei Offshorewindanlagen erreichen. Das heißt, in
zehn Jahren werden 8 bis 9 Prozent unserer Stromerzeugung von Offshorewindenergieanlagen kommen. Bis
2030 wird knapp ein Viertel unserer kompletten Stromerzeugung von Windrädern in Nord- und Ostsee erzeugt
werden. Das wird eine große Herausforderung werden.
Um diese große Herausforderung meistern zu können,
müssen wir jetzt die Rahmenbedingungen setzen, um
entsprechend schnell voranzukommen. Wir stehen ja
- auch das müssen wir verstehen - noch ganz am Anfang dieser Technologie. Derzeit haben wir 40 Windräder in Nord- und Ostsee stehen. Das heißt, wir brauchen hier relativ zügig eine richtige Rahmensetzung,
damit wir hier schneller vorankommen. In den nächsten
sieben Jahren müsste jeden Tag ein neues Windrad in der
Nord- und Ostsee gebaut werden, damit wir überhaupt
die Ziele erreichen können, die wir erreichen müssen,
um unser Energiekonzept erfolgreich umzusetzen.
Herr Heil, Sie haben es am Anfang Ihrer Rede richtigerweise gesagt, dass dies ein zentraler Bestandteil der
Wachstums- und Wohlstandsstrategie für unseren
Industriestandort sein muss und dass die Offshoretechnologie gerade für unsere Wirtschaft ein enormes Potenzial bietet.
({3})
- Warum machen Sie denn nicht mit, wenn Sie sagen:
„Das ist gut“?
({4})
- Dann hören Sie einmal auf Ihre Ministerpräsidenten.
Auch das ist ein Punkt: Sie müssen einmal mit Ihren
Ministerpräsidenten reden.
({5})
- Lesen Sie doch einmal den Brief Ihres Bremer Oberbürgermeisters, der uns geschrieben hat, dass wir diese
Regelung dringend brauchen, damit es mit der Offshoretechnologie vorangeht und damit sie in den nächsten
Jahren zu der Erfolgsstory wird, die wir in diesem Bereich haben wollen.
({6})
Insofern: Machen Sie mit! Wenn Sie sich heute verweigern und die Neuregelungen zum EWG ablehnen,
gefährden Sie 15 000 Arbeitsplätze,
({7})
nicht nur in Niedersachsen, sondern auch in den von
Ihnen regierten Bundesländern. Ich sage ganz bewusst
als Baden-Württemberger: Ein großer Teil der Arbeitsplätze, die in den nächsten Jahren entstehen werden,
gerade aufgrund des Ausbaus der Offshorewindanlagen,
wird nicht nur in den Küstenregionen entstehen, sondern
vor allen Dingen auch bei den starken Anlagen- und Maschinenbauern im Süden unseres Landes, die die Technologie liefern, um diesen Ausbau zu bewerkstelligen.
Ich sage noch einmal: Machen Sie mit dabei, jetzt den
Rahmen für diese Technologie zu setzen, damit wir mit
dieser Technologie, bei der wir am Anfang stehen, loslegen können,
({8})
indem die Risiken so verteilt werden, dass die nächsten
Jahre auch entsprechend investiert wird. Das ist doch der
Grund, warum wir dieses Gesetz machen, damit in den
nächsten Jahren investiert wird.
({9})
Deshalb haben wir - jetzt machen wir es einmal konkret - erstens dafür gesorgt, die Netzanschlüsse besser
zu koordinieren. Es wird jetzt einen Netzentwicklungsplan für Offshore an Nord- und Ostsee geben.
Deshalb haben wir zweitens dafür gesorgt, dass es für
beide Seiten, für den Windparkbetreiber auf der einen
Seite, aber auch für die Netzbetreiber auf der anderen
Seite, klare Fristen gibt, wann wer was machen muss.
Das war notwendig, um hier schnell voranzukommen.
Auch hier haben wir klare Regelungen geschaffen.
Ein dritter Punkt. Wir haben versucht, die Risiken fair
auf die unterschiedlichen Akteure zu verteilen. Es gibt in
den nächsten Jahren Risiken; diese können wir nicht
wegdiskutieren. Diese Risiken können nicht allein von
Windparkbetreibern und Netzbetreibern übernommen
werden.
Der Windparkbetreiber wird seinen Teil dazu beitragen, indem er auf einen Teil seiner Vergütung verzichtet.
Der Netzbetreiber wird durch einen entsprechenden
Selbstbehalt im Rahmen der Haftungsregelungen in der
Haftung sein und wird nach meiner Prognose in den
nächsten zwei Jahren 10 bis 15 Prozent der Risiken tragen. Der Verbraucher allerdings wird - das tut auch uns
weh - in den nächsten vier bis fünf Jahren einen Großteil
übernehmen müssen. Dies geschieht durch eine Umlage,
die aber, wie es Minister Rösler gesagt hat, auf 0,25 Cent
pro Kilowattstunde gedeckelt ist.
({10})
Das ist aber wesentlich günstiger als viele andere Ausbaukosten, die auf uns in den nächsten Jahren zukommen werden. Auch hier wird der Verbraucher von uns
geschützt, und wir versuchen, diese Kosten in den nächsten Jahren erträglich auf alle Schultern zu verteilen.
({11})
Wenn die Risiken beherrschbar und auch versicherbar
sind, wollen wir von dieser Umlage wegkommen. Dass
sich das System selbst trägt, das muss das Ziel sein.
({12})
Es muss das Ziel sein, dass sich ein Markt bildet und
sich die Kosten durch Wettbewerb selbst tragen, zum
Beispiel indem sich entsprechende Kapitalgeber finden,
die in die Bereiche investieren, ohne dass wir staatliche
Umlagemechanismen brauchen. Nur dann macht Offshore langfristig Sinn, wenn die Technologieförderung,
die wir jetzt einbauen, auch zu einem langfristig tragfähigen System führt.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich könnte
jetzt noch viel zu Maßnahmen sagen, die wir im Bereich
Netzstabilität ergriffen haben. Auch hier haben wir
Dinge getan, die uns nicht immer nur Freude gemacht
haben, die auch durchaus Markteingriffe verlangten. Wir
haben auch im Bereich der Pumpspeicherkraftwerke
etwas gemacht,
({14})
was zu etwas mehr Kosten führen wird, dann aber auch
dafür sorgen wird, dass Pumpspeicherkraftwerke in den
nächsten Jahren weiter am Netz belassen werden.
Aber all die Maßnahmen, lieber Herr Krischer,
zeigen, dass wir uns jetzt Zeit nehmen müssen, um in
den nächsten Monaten gemeinsam zu überlegen, wie wir
die Systeme, die wir unter Ihrer und unserer Ägide aufgebaut haben, zusammenbinden. Wir müssen also Möglichkeiten finden, wie wir das Energiewirtschaftsgesetz
und das Erneuerbare-Energien-Gesetz verbinden, wie
wir die fossile, die konventionelle Welt mit den erneuerbaren Energien verbinden, um daraus einen Gesamtmarkt im Wettbewerb zu machen. Denn nur so wird die
Energiewende gelingen: mit mehr Markt und mehr
Wettbewerb.
({15})
Das muss unser Ziel sein für die nächsten zwölf Monate.
Deshalb: Packen wir das gemeinsam an! Dazu ist das
Energiewirtschaftsgesetz ein kleiner Baustein, den wir
jetzt brauchen.
Herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({16})
Das Wort hat nun Johanna Voß für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ergebnislose Investorensuche
des Netzbetreibers TenneT hat gezeigt: Trotz der garantierten Rendite von 9,05 Prozent finden sich keine
privatwirtschaftlichen Lösungen für den Bau von Stromnetzen. Anstatt dieses Scheitern aber einzugestehen,
setzt die Bundesregierung alles daran, auf Biegen und
Brechen doch noch eine privatwirtschaftliche Lösung zu
finden.
Bei natürlichen Monopolen wie den Stromnetzen
kann es aber keinen Wettbewerb geben. Diese privatwirtschaftlichen Lösungen gehen zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das darf nicht sein!
({0})
Aber genau so ist es. Die kleinen Verbraucher, sie allein
- nicht die Großverbraucher - dürfen noch eine Umlage
zahlen: Noch einmal 0,25 Cent pro Kilowattstunde, noch
einmal 10 Euro mehr pro Familie im Jahr; bei 1 Million
Kilowattstunden wird die Umlage auf 0,05 Cent gedeckelt.
Immerhin, die Politik der Regierung ist konsequent.
Befreiungen für die großen Unternehmen, wo man nur
hinschaut: EEG, Netzentgelte, KWK-Umlage, Ökosteuer - da sind Sie wirklich konsequent. Und die Bundesregierung weitete die Befreiungen auch noch aus.
2011 mussten die Verbraucherinnen und Verbraucher
allein wegen der Netzentgeltbefreiung 229 Millionen
Euro mehr bezahlen. Vor dieser Ausweitung waren es
33 Millionen Euro. Die Befreiung der Industrie von der
EEG-Umlage macht nun schon 1 Cent vom Strompreis
aus. Das tragen die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Konsequent, aber trotzdem falsch. Das ist die Politik der
Bundesregierung.
({1})
Zu den Entschädigungszahlungen: Im ersten Entwurf
waren es noch 100 Millionen Euro Eigenbehalt für die
Netzbetreiber, jetzt sind es gerade einmal 17,5 Millionen
Euro. Das Lobbying der Netzbetreiber war also höchst
erfolgreich. Das erhöht natürlich die Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Aber das ist ja auch
wiederum nur konsequentes Handeln der Regierung.
Die Bundesregierung sagt, die jetzige Lösung sei
alternativlos.
({2})
- Hören Sie einmal auf Ihren Kommissar Günther
Oettinger. Er forderte nämlich zumindest eine Teilverstaatlichung der Stromnetze, die auch - das hat Oliver
Krischer schon gesagt - Bestandteil des Koalitionsvertrags war.
Es ist langsam auch für die krampfhaft an Marktdogmen Festhaltenden offensichtlich: Stromnetze gehören
in die öffentliche Hand.
({3})
Sie lassen sich nicht effizient im Wettbewerb betreiben.
Handeln Sie endlich!
Stattdessen versuchen Sie nun, irgendwelchen Investoren bzw. der Allianz den Einstieg in renditesichere
Stromnetze so angenehm wie möglich zu machen - wiederum auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({4})
Das Unternehmensrisiko wird auf die Verbraucher umgelegt; die Gewinne bleiben natürlich beim Unternehmen. Das machen wir nicht mit.
({5})
Das eigentliche Problem ist aber die Fixierung der
Bundesregierung auf die Offshoreparks. In der Anhörung zur Gesetzesänderung wurde klar, dass die Ausbauziele der Bundesregierung für die Offshoreparks nicht
mehr einzuhalten sind. Und nicht nur das: Sie gehören
dringend überarbeitet.
Der Zubau von Onshorewindenergie im Süden hat
schon zugenommen und wird noch erheblich zunehmen.
Das wird bisher im Energiekonzept der Bundesregierung
überhaupt nicht berücksichtigt. Solange im Netz an Land
Engpässe herrschen - auf See braucht niemand Strom und solange Abregelung droht, sind weitere Offshoreparks ohnehin nicht sinnvoll.
({6})
Außerdem ist die Offshorewindenergie teuer. Die
Baukosten sind viermal so hoch wie die Baukosten für
die Onshorewindenergie. Damit ist sie nur für die großen
Energiekonzerne interessant. Offshorewindparks erfordern riesige Investitionen. Die Technik ist nicht erprobt,
zum Teil nicht einmal vorhanden, und von daher sehr
teuer. Deshalb muss man noch abwarten.
Offshorewindkraft wird auch noch mit einem höheren
Satz gefördert als die Onshorewindkraft, nämlich bis zu
19 Cent pro Kilowattstunde. An Land sind es gerade einmal 9 Cent pro Kilowattstunde.
({7})
Bei der Onshorewindkraft bezahlt man die Leitung zur
Anbindung an den nächsten Einspeiseknotenpunkt auch
selbst.
({8})
Bei der Offshorewindkraft braucht man nicht für die eigene Leitung zu bezahlen. Und sie trägt massiv zum geplanten Netzausbau bei.
Wir setzen stattdessen auf den Ausbau der erneuerbaren Energien, und zwar dezentral. Es geht nicht darum,
den vier großen Energiekonzernen die Profite zu sichern.
Die Stromversorgung gehört demokratisiert. Dazu gehört auch die Überführung der Stromnetze zurück in die
öffentliche Hand. Wenn dann die dezentrale Erzeugung
in naher Zukunft durch Speichertechnologien und
Schwarmstrom ergänzt wird, dann minimiert das den
Netzausbaubedarf ungemein.
({9})
Solche Ansätze gibt es bei der Bundesregierung nicht.
Sie macht weiter Politik zugunsten großer Unternehmen
auf Kosten aller.
Lernen Sie von unserem Projekt „PLAN B - für den
sozialökologischen Umbau“! Mit PLAN B kommen Sie
weiter.
({10})
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Voß hat mein Weltbild wieder ein bisschen zurechtgerückt. Nachdem verzweifelt versucht wurde, es zu erschüttern und der Seite des Hauses, zu der ich gehöre,
Planwirtschaft zu unterstellen, hat die Linke immerhin
klar gezeigt, dass sie für Staatswirtschaft ist.
Aber in einem Punkt, liebe Kollegin Voß, war Ihre
Rede sehr ehrlich. Daran können sich insbesondere die
Grünen ein Beispiel nehmen. Sie haben nämlich gerade
gesagt, dass die Befreiungen nach dem EEG, um die in
jeder energiepolitischen Debatte heftig gestritten wird,
1 Cent von den 5,227 Cent EEG-Umlage ausmachen.
({0})
Das ist ein Punkt, den Sie endlich einmal ehrlich formuliert haben. Insbesondere die Grünen tun nämlich immer so, als würden die 5,227 Cent praktisch komplett
auf unsere Befreiungen zurückgehen.
({1})
Wenn man das noch weiter detailliert, lieber Herr
Krischer, dann muss man sagen, dass 0,1 Cent von dem
1 Cent auf unsere zusätzliche Ausweitung zurückzuführen ist und der Rest auf eine Befreiung, die Sie damals
gesetzlich geregelt haben.
({2})
Außerdem möchte ich darauf verweisen, dass Sie damals bei einer EEG-Umlage von 0,2 Cent gesagt haben,
dass wir eine Härtefallregelung brauchen, weil wir sonst
die Industrie aus dem Land vertreiben. Wenn wir uns darüber einig sind, dass das richtig ist, dann füge ich hinzu:
Es war richtig, die Härtefallregelung auszudehnen, weil
wir jetzt beim 26-Fachen dieser Umlage sind,
({3})
und auch, noch ein paar andere Unternehmen mit einzubeziehen.
({4})
730 Unternehmen sind von der EEG-Umlage befreit,
weil sie in einem internationalen Wettbewerb stehen.
({5})
Wenn Sie sagen, der internationale Wettbewerb ist das
Kriterium, dann erklären Sie bei der Gelegenheit auch,
inwieweit die Straßenbahnen, der Schienenverkehr im
internationalen Wettbewerb um Strom stehen.
({6})
Das sollten Sie einmal erklären, wenn Sie über diese
Kriterien diskutieren.
Sie gerieren sich jetzt an einer Stelle als Marktwirtschaftler, an der es nicht um Marktwirtschaft geht - das
muss man klar sagen -, sondern darum, das zu korrigieren, was letztendlich hier seine Ursache hat. Es war
Sigmar Gabriel - das meine ich nicht einmal als Vorwurf; ich möchte nur den Zusammenhang darstellen -,
({7})
der in der Großen Koalition ausgehandelt hat, dass man
den Windparkprojektanten die Anschlussverantwortung
abnimmt und zu den Übertragungsnetzbetreibern verlagert.
({8})
- Moment, ich kritisiere es nicht. Mit Blick auf das Ziel
war das vielleicht richtig. Aber wir haben uns damit ein
Problem eingehandelt, das ich hier gerade beschreibe.
Und das lösen wir nun. Ich würde mich dann freuen,
wenn die SPD, die diese Problematik mit verursacht hat,
({9})
an unserer Seite stehen würde und sich dafür einsetzen
würde.
({10})
Das ist der Punkt. Sie müssen doch sagen: Jawohl, wir
haben den Schnitt gemacht; statt des Projektanten ist
jetzt der Übertragungsnetzbetreiber verpflichtet, den Anschluss bereitzustellen. Jetzt schafft die Koalition die
Voraussetzungen dafür, dass der Übertragungsnetzbetreiber das ohne Insolvenzrisiko machen kann.
Es kann doch nicht sein, dass wir Übertragungsnetzbetreiber zu etwas verpflichten und sie über diese Verpflichtung in die Insolvenz treiben. Es kann aber auch
nicht sein, dass wir für die Beteiligten in dem Bereich einen Business Case schreiben, der für jeden aufgehen
muss, nur nicht für den Verbraucher. Die Grünen haben
hier heute, wie immer, große Töne gespuckt. Aber wenn
man Ihren diesbezüglichen Antrag liest,
({11})
stellt man fest, sie haben sich von den Übertragungsnetzbetreibern die Feder führen lassen. Dort stehen haarklein
die Forderungen, die Ihnen die Übertragungsnetzbetreiber diktiert haben. An Ihrer Stelle wäre ich ganz, ganz,
ganz kleinlaut.
({12})
Zu Ihrem großartigen Vorschlag, dass nicht die Verbraucher am Schluss die von uns gedeckelte Umlage von
0,25 Cent tragen sollten, sondern der Staat, sage ich Ihnen: Das sind am Ende auch wieder die Steuerzahler.
Wir alle werden es am Schluss wieder bezahlen müssen.
({13})
- Ihre Rede vom Gegenwert basiert doch auf dem genialen Vorschlag, in diesem Rahmen eine kalte Enteignung
zu organisieren. Das ist doch Ihre Idee.
({14})
Sie sagen: Treibt die Übertragungsnetzbetreiber, organisiert eine kalte Enteignung und zieht die Netze an euch!
({15})
- Kaufen? Sie sagen: Übernehmt ein Risiko! Wenn das
Risiko nicht bedient wird, wofür man staatlich vielleicht
sorgen kann,
({16})
dann gehören uns die Netze wieder. Sie geben auch zu,
dass Sie diese Netze haben wollen.
({17})
Der entscheidende Unterschied zwischen dem, was Sie
wollen, und dem, was in unserem Koalitionsvertrag zur
deutschen Netzgesellschaft steht,
({18})
besteht darin, dass wir eine kapitalmarktfähige Gesellschaft wollen,
({19})
an der nicht der Staat die Mehrheit hält,
({20})
sondern die Übertragungsnetze organisiert zusammenfasst. Das ist bislang am Widerstand derjenigen gescheitert, die die Netze haben.
({21})
Das steht klipp und klar in unserem Koalitionsvertrag.
Sie dürfen davon ausgehen, dass ich weiß, was in unserem Koalitionsvertrag steht.
({22})
Das müssen Sie mir nicht sagen. Das, was die Grünen
wollen, ist etwas anderes, nämlich eine staatliche Gesellschaft; denn sonst könnten Sie einen solchen Finanzierungsvorschlag nicht machen.
({23})
Nein, meine Damen und Herren, ich entgegne Ihnen:
Wir haben einen wohlüberlegten Entwurf vorgelegt,
({24})
aber keinen garantierten Business Case. Er war hart umkämpft, insbesondere in der Frage, wie man die Altfälle
mit einbezieht. Das wurde in der Koalition hart diskutiert. Wir haben gesagt: Die Unternehmen haben auf anderer Grundlage investiert und sind ein Risiko eingegangen. Wir liefern jetzt gesetzlich eine neue Grundlage
nach. Darüber muss man reden.
Den Fall, dass die pleitegegangen wären, dass damit
das Projekt ins Stocken gekommen wäre - Sie hätten
dann natürlich plötzlich ganz anders argumentiert, sich
an der Stelle wie das Fähnlein im Wind gedreht und gesagt: Da sieht man wieder mal, die wollen gar keine
Energiewende, die machen alles kaputt -, mussten wir
also berücksichtigen. Deshalb haben wir die Altfälle mit
einbezogen, aber nicht so, wie Sie es gerne hätten. Wir
haben es nicht bar jeder Haftung gemacht. Vielmehr ist
einfache Fahrlässigkeit als Haftungstatbestand weiterhin
gegeben, um Anreize für die Übertragungsnetzbetreiber
zu schaffen, eben keine Schadensfälle zu produzieren
oder diese, wenn es sie schon gibt, schnell zu beheben.
Irritiert hat mich auch das - das muss ich ganz ehrlich
sagen -, was hier zur Winterreserve gesagt wurde. Es ist
ein untauglicher Versuch, uns hier in die Ecke der Planwirtschaft zu drängen.
({25})
Diese Winterreserve ist eine Notreserve. Sie ist unumstritten ein markiger Eingriff. Was wir in der Energiewende aber jetzt gar nicht gebrauchen könnten - das
müsste doch auch in Ihrem Interesse liegen -, wäre ein
Blackout. Über die Winterreserve stellen wir sicher, dass
es dazu nicht kommt. Das sage ich als bayerischer Abgeordneter in vollem Bewusstsein, wen es am Ende treffen
würde, nämlich Süddeutschland, wo der Strom gebraucht wird.
({26})
Aber dass Sie, Herr Krischer, nun sagen, dass man
jetzt plötzlich das Umlagesystem aufgeben sollte, weg
vom Umlagesystem, hin zum Bundeshaushalt, finde ich
bemerkenswert. Sie waren doch bisher einer der Protagonisten des Umlagesystems des EEG. Man sollte doch
seine bisherige Argumentation nicht schlagartig ins Umgekehrte drehen,
({27})
insbesondere dann nicht, wenn es um den kleinen Splitter im Auge geht und nicht um den großen Balken, über
den wir hier reden. Der große Balken ist die EEG-Umlage. Dazu habe ich das Nötige vorhin schon gesagt.
({28})
Hier muss es uns darum gehen, das Ganze wieder in die
richtige Richtung zu bringen.
({29})
Im Übrigen: Sie sagen, wir brauchen einen Kapazitätsmarkt. Ja, lassen Sie uns darüber reden. Ich habe von
Ihrer Seite allerdings noch keine Vorschläge dazu gehört.
({30})
Außer Subventionen fällt Ihnen nichts ein. Ich sage Ihnen, wir müssen Folgendes tun: Wir müssen in Zukunft
diejenigen, die große, fluktuierend einspeisende EEGAnlagen bauen, dazu verpflichten, Ersatzkapazitäten in
einem noch zu definierenden Umfang bereitzuhalten.
Das werden die Nachfrager sein. Die müssen Zertifikate
an den Gaskraftwerken kaufen. Auf diese Art und Weise
kriegen wir auf der einen Seite eine marktgerechte Lösung - für die waren Sie; ich bin gespannt, ob Sie auch
dann noch dafür sein werden, wenn man die zwei Dinge
zusammenbringt - und auf der anderen Seite eine Kombination von erneuerbaren Energien und fossilen Ersatzkapazitäten. Letztere brauchen wir, auch wenn die Grünen so tun, als ob das morgen zu 100 Prozent mit
erneuerbaren Energien zu schaffen wäre.
Wir stellen uns den Problemen, die es an der Stelle
gibt. Ich würde mich freuen, wenn Sie es auch tun; Sie
haben es lange genug nicht gemacht.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Herr Präsident, schlagartig. - Ihre Energiewende bestand aus der Formulierung dessen, was Sie nicht wollen, nämlich die Kernenergie,
({0})
und dem undifferenzierten und extrem teuren Aufbau
von erneuerbaren Kapazitäten. Ansonsten haben Sie
dazu bisher keinen Beitrag, außer Verweigerung, geleistet. Hören Sie damit auf!
({1})
Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe mal gelernt, Herr Nüßlein: Wer so laut schreit wie
Sie, der hat eigentlich erkannt, dass er einen Fehler gemacht hat. Das ist ja dann immerhin schon mal ein Fortschritt. Das ist auch eine Basis, auf der wir uns verständigen können.
({0})
Sehr geehrter Herr Minister Rösler, Sie haben hier
heute noch einmal das gesagt, was auch der ehemalige
Bundesumweltminister Röttgen hier mehrfach behauptet
hat. Aber auch bei ihm hat es nicht zur Steigerung seiner
Glaubwürdigkeit beigetragen. Sie beide sagten nämlich,
dass Rot-Grün mit Energiewende nichts am Hut gehabt
habe, jedenfalls mit dem Systemumbau nicht begonnen
habe, und dass Sie jetzt damit anfingen, die richtige Arbeit zu leisten.
({1})
Richtig ist: Die Energiewende hat im Jahre 2000 begonnen, und zwar mit einem nie beklagten einvernehmlichen Ausstieg aus der Atomenergie, im Einvernehmen
auch mit den betroffenen Unternehmen, und mit dem
gleichzeitigen Aufwuchs der erneuerbaren Energien, der
dank des EEG möglich wurde.
({2})
Der Systemumbau - das heißt im Wesentlichen der
Ausbau der Netze, aber sicherlich auch ein erster Ausbau von Speicherkapazitäten - und der Ausbau des Lastmanagements, also die Sicherstellung von Flexibilität
mit Blick auf die Nachfrageseite, konnten damals nicht
erfolgreich beginnen. Warum? Weil Ihre Vorgänger von
Schwarz-Gelb damals ankündigten: Wenn wir an die Regierung kommen, dann sorgen wir für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke.
({3})
Unsere Fraktion hat in den letzten Wochen Gespräche
unter anderem mit den Betreibern von Atomkraftwerken
geführt. Dabei haben wir interessante Einschätzungen geliefert bekommen. In nuce: Es wäre besser gewesen - so
sagen die Vertreter dieser großen Unternehmen -, man
hätte nicht auf diese im Jahr 2000 hingehaltene Wurst
geschaut, sondern man hätte zu dem gestanden, was man
unterschrieben habe, nämlich den Atomausstieg.
({4})
Es hätte im Ergebnis dazu geführt, dass diese vier
Energieversorgungsunternehmen schon im Jahr 2000 damit begonnen hätten, einen konstruktiven Beitrag für
eine Energiewende zu leisten, ihr Geschäftsmodell zu
überprüfen, in Speicher, in Netze, in Lastmanagement zu
investieren. Das ist nicht geschehen. Dafür tragen Sie
und Ihre Vorgänger die Verantwortung.
({5})
Dann haben Sie im Jahr 2010 etwas beschlossen, von
dem Sie damals überzeugt waren und von dem viele von
Ihnen auch heute noch überzeugt sind, nämlich die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke. Ein halbes
Jahr später ist genau das Gegenteil passiert. Wenn ich
heute mit einigen von Ihnen rede - manche sind ja bei
einem Glas Bier oder einem Glas Wein ehrlich -, dann
erfahre ich, dass viele von Ihnen nach wie vor der Auffassung sind, dass der Beschluss von 2010 richtig und
der von 2011 falsch war.
({6})
Wenn dem so ist, wenn also so wenig Überzeugung
hinter der Energiewende steht, dann dürfen wir uns nicht
wundern, dass Sie kein Konzept haben.
({7})
Sie haben kein energiepolitisches Konzept, kein Konzept
zum Systemumbau. Deswegen reagieren Sie nur; Sie
agieren nicht. Immer dann, wenn sich ein Problem auftut, betreiben Sie Flickschusterei.
({8})
Das zeigt sich beispielhaft an dem Gesetzentwurf, den
Sie uns heute vorlegen. Bei Offshore - einer Technologie, zu der wir stehen und von der wir sagen, dass wir sie
brauchen - haben Sie den Karren vor die Wand gefahren.
700 Arbeitsplätze werden beispielsweise bei den Nordseewerken wegfallen. Viele Hundert Arbeitsplätze sind
gefährdet, weil Unternehmen Insolvenz anmelden mussten. Das hat mit den Rahmenbedingungen zu tun, die Sie
gesetzt haben und die Sie jetzt durch Flickschusterei zu
ändern versuchen.
({9})
Meine Damen und Herren, diesen Schuh müssen Sie
sich schon anziehen. Wir haben ein Gespräch mit dem
Bankenverband geführt. Der sagt: Was Sie in den letzten
Jahren gemacht haben, führt jetzt dazu, dass Kapital für
die Projekte im Offshorebereich aus Deutschland abgezogen wird und zum Beispiel an die britische Küste gelenkt wird, also dahin, wo der Staat offenbar Rahmenbedingungen setzt, die attraktiver sind als das, was Sie
unternommen haben.
({10})
Jetzt versuchen Sie, Lösungen anzubieten, bei denen
wieder einmal insbesondere der Kunde zur Kasse gebeten wird. Wir haben vorgeschlagen - erinnern Sie sich
einmal daran, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht -, die
Basis für eine deutsche Netz AG zu schaffen. Dabei geht
es nicht um Enteignung. Ihre Reaktion ist doch der VerRolf Hempelmann
such, einen Vorschlag zu desavouieren, der eigentlich
schon einmal Ihr eigener war.
({11})
Die Union, insbesondere Ihre beiden Wirtschaftsminister in der damaligen Legislaturperiode, war nicht
kraftvoll genug, diesen Vorschlag in der Großen Koalition voranzutreiben. Anschließend haben Sie diesen Vorschlag trotzdem in Ihren Koalitionsvertrag hineingeschrieben. Jetzt wollen Sie das Ganze wiederum nicht
umsetzen, obwohl Herr Homann von der Bundesnetzagentur am letzten Montag deutlich gemacht hat, dass
eine Netz AG mindestens Plan C ist. Wenn Ihr Vorhaben
scheitert, dann muss man ernsthaft darüber reden, dass
der Staat über die KfW an einer solchen Netzgesellschaft
sukzessive beteiligt wird. Stellen Sie sich dieser Aufgabe!
({12})
Auch die Art und Weise, wie Sie mit Blick auf die
Versorgungssicherheit im Kraftwerkspark vorgehen, ist
genau die gleiche Reaktion auf Probleme, die Sie offenbar gar nicht erwartet haben. Wie Sie hier agieren, das ist
schon erstaunlich. Das müssen sich die Liberalen schon
anhören: Wenn es in diesem Zusammenhang um Stilllegungsverbote geht, also um einen Zwangsbetrieb, dann
ist das eine Handschrift, die man gerade von den Liberalen nicht erwartet hätte. Das wird man in diesem Hause
wohl sagen dürfen.
({13})
Es gab bei Ihnen sogar Überlegungen, den Unternehmen in die Vertragsgestaltung reinzureden: Sie wollten
Gaskraftwerksbetreiber zwingen, von relativ lukrativen
Verträgen mit unterbrechbarem Gasbezug Abstand zu
nehmen und auf eine konstante Belieferung umzuschwenken, die nun einmal teurer ist. Die Koalitionsfraktionen haben Gott sei Dank erkannt, dass dies keine
Problemlösung gewesen wäre, sondern nur eine Problemverlagerung in jeweilige Nachbarregionen, weil
nämlich die Transportkapazitäten im Gasnetz überhaupt
nicht gereicht hätten, um alle Gaskraftwerke konstant
mit Gas zu beliefern. Zumindest ist dieser Unsinn jetzt
aus dem Gesetz heraus.
Herr Rösler, Sie selbst haben heute Morgen gesagt:
Wir brauchen einen Masterplan für die Energiewende. Herzlichen Glückwunsch, dass Sie das jetzt, nach Jahren, feststellen. Wir haben ihn seit Jahren gefordert.
({14})
Legen Sie einen solchen Masterplan dann auch vor!
Schlagen Sie der Bundeskanzlerin bitte gleichzeitig vor,
eine Stelle einzurichten, die die Energiewende koordiniert.
({15})
Das können Sie nicht, das kann Herr Altmaier nicht;
denn Sie verstehen sich als Konkurrenten. Das kann
auch kein anderer Bundesminister. Das muss der Kanzleramtsminister machen, der die Koordinierung der
Energiepolitik im Kanzleramt übernimmt, der die Regierung in dieser Frage zusammenhält, der mit den Bundesländern dafür sorgt, dass es eine stimmige Energiepolitik
in unserem Land gibt, und der in Brüssel in Sachen
Energiepolitik mit einer Stimme für Deutschland spricht
({16})
und damit dafür sorgt, dass unsere und die europäische
Energiepolitik zusammenpassen. Passiert dies nicht,
werden nicht mehr Sie Energiepolitik machen, sondern
dann macht Brüssel das für Sie. Das konnten wir in dieser Woche schon eindrücklich nachlesen. Also handeln
Sie endlich! Kündigen Sie nicht nur an und reden nicht
nur!
Vielen Dank.
({17})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Kollege Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner hat man die Chance, mit ein paar Unwahrheiten aufzuräumen; denn es gibt Punkte, die sich als offensichtlich völlig falsch erwiesen haben und die daher
nicht zu einer redlichen Argumentation passen.
({0})
Herr Hempelmann, Sie glauben ja wohl selbst nicht,
dass im rechten Teil dieses Hohen Hauses Kollegen sitzen, die der Meinung sind, dass der Ausstiegsbeschluss,
also der Beschluss zur Energiewende, vom 30. Juni vergangenen Jahres rückgängig zu machen ist. Das ist nicht
der Fall, und wenn ich das sage, dann können Sie mir
das auch glauben.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, es wurde auch schon mit
dem Märchen aufgeräumt, welches die Grünen hier in
der vergangenen Debatte verbreitet haben. Herr
Krischer, hoffentlich haben Sie jetzt verstanden, dass Ihr
Argument falsch ist; denn die Befreiung der mittelständischen Unternehmen von der EEG-Umlage spielt bei
der Erhöhung dieser Umlage auf 5,277 Cent je Kilowattstunde so gut wie keine Rolle.
({2})
- Sie werden es auch nicht verstehen, weil Sie es nicht
verstehen wollen. 25652
({3})
Das, was Sie betreiben, ist Volksverdummung in Reinkultur.
({4})
Nach neuesten Berechnungen fallen nur 0,1 Cent je Kilowattstunde aufgrund der Tatsache an, dass 730 mittelständische Unternehmen, die überwiegend im internationalen Wettbewerb stehen, eine Vergünstigung erhalten mehr nicht. Was Sie erzählen, ist einfach nicht seriös.
({5})
Kolleginnen und Kollegen, wenn ich die ganze Debatte Revue passieren lasse, dann fällt mir Folgendes
ein: Die gesamte Opposition hat am 30. Juni 2011 der
Energiewende zugestimmt
({6})
und stiehlt sich jetzt, wo die Folgen sichtbar werden, aus
der Verantwortung gegenüber den Bürgern; die Strompreiserhöhungen und weitere negative Effekte waren damals absehbar.
({7})
Es war doch nicht so, dass wir nicht wussten, wie sich
alles entwickeln wird.
Wir wussten doch, dass wir mit den Märkten größte
Probleme bekommen.
({8})
Wir wussten, dass die Betreiber fossiler Kraftwerke auf
Basis von Gas und Kohle Probleme bekommen werden;
denn wenn sie aufgrund des Ausbaus der erneuerbaren
Energien nur zeitweise ihren Betrieb aufnehmen müssen,
dann geraten sie in existenzielle Nöte.
({9})
Das alles wussten wir, und trotzdem haben wir dem zugestimmt, weil wir der Überzeugung waren und heute
noch sind, dass es - wenn auch nur unter Opfern - möglich ist, den Umstieg von der herkömmlichen Energieerzeugung in das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu
schaffen. Wenn wir aber den Bürgerinnen und Bürgern
den Eindruck vermitteln, dass die Umstellung billig
wird, dann ist das falsch. Das zeigt sich jetzt an den gestiegenen Energiepreisen.
Lassen Sie mich etwas Thema Bundesnetzagentur sagen. Die Probleme, die zum Beispiel TenneT hat, sind
zum Teil ökonomischer Natur,
({10})
sie sind zum Teil aber auch technischer Natur. Wenn die
Lieferanten nicht liefern können, weil die Produktion der
Leitungen nicht vorankommt, dann kann man das
schlecht dem Betreiber anlasten.
({11})
Wir müssen uns sehr genau überlegen, wie die Netzanschlüsse für die Offshorewindparks gewährleistet werden können.
Nebenbei bemerkt, Herr Beckmeyer: Wir sind der
Überzeugung, dass die Energiewende nur gelingen kann,
wenn wir den Ausbau der Offshorewindparks so hinbekommen, wie die Kollegen der CDU/CSU das vorhin
beschrieben haben. Deswegen haben wir im Gesetzentwurf für Planungssicherheit für diejenigen gesorgt, die
Offshorewindparks bauen wollen. Ihnen müssen wir die
Unsicherheit nehmen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis,
dass eine Garantie über einen Zeitraum von vier oder
fünf Jahren den planenden Unternehmen wenigstens
mittelfristig hilft, ihre Anlagen in Betrieb nehmen zu
können.
({12})
Mit Sicherheit werden in diesem Bereich keine Arbeitsplätze wegfallen.
({13})
Was haben Sie uns nicht schon alles über die Gefährdung von Arbeitsplätzen erzählt! Herr Heil, lesen Sie
nach, welchen Unfug Sie in Bezug auf den Photovoltaikausbau behauptet haben. Dabei wurde in den Zeiträumen, in denen wir die Reduzierung der Vergütungssätze
vorangetrieben haben, der Bereich Photovoltaik in einem Ausmaß ausgebaut wie noch nie zuvor.
({14})
Der Ausbau hat sich deutlich verstärkt. Trotzdem
kommen Sie mit Ihrem Argument von den Arbeitsplätzen. Ich sage Ihnen: Wer von der produzierenden deutschen Wirtschaft nur auf den deutschen Markt, auf die
deutsche Gesetzgebung und möglicherweise auf eine
rot-grüne Mehrheit setzt, der setzt auf das falsche Pferd.
({15})
Zu einer rot-grünen Mehrheit wird es aber nicht kommen.
({16})
Ich bin felsenfest davon überzeugt: Das Gesetz, das
wir heute beschließen, gibt der Industrie Planungssicherheit. Dieses Gesetz steigert die Versorgungssicherheit für
den deutschen Verbraucher. Herr Minister, es ist ein gutes Gesetz, und deswegen werden wir es jetzt beschließen.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neurege-
lung energiewirtschaftlicher Vorschriften. Der Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11705,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sachen 17/10754 und 17/11269 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag
der SPD auf Drucksache 17/11720. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken abgelehnt.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/11721. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen
Mehrheitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d sowie
die Zusatzpunkte 3 a und b auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({0}), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Menschenwürde von Flüchtlingen ist
migrationspolitisch nicht relativierbar - Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz ziehen
- Drucksache 17/11663 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Markus Kurth, Josef Philip Winkler, Fritz
Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
- Drucksache 17/1428 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
- Drucksache 17/10198 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Markus Kurth
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Menschenwürdiges Existenzminimum für alle -
Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen
- Drucksachen 17/4424, 17/10198 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Markus Kurth
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Auf Flüchtlingsproteste reagieren - Residenzpflicht abschaffen
- Drucksache 17/11589 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({4})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Menschenwürdige Lebensbedingungen für
Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie
Geduldete sicherstellen - Asylbewerberleistungsgesetz reformieren
- Drucksache 17/11674 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Rüdiger Veit,
Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende
und Geduldete
- Drucksachen 17/5912, 17/11716 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({7})Ulla JelpkeJosef Philip Winkler
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat zu ihrem
Gesetzentwurf einen Entschließungsantrag eingebracht,
über den wir später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem
Sommer war es wie so oft: Initiativen der Bundesregierung finden beim Bundesverfassungsgericht meistens
keine Unterstützung. Das ist gut so. Im Juli dieses Jahres
hat das Bundesverfassungsgericht in einer bahnbrechenden Entscheidung ganz klar gesagt: Auch für Asylbewerber gilt, dass das menschenwürdige Existenzminimum irgendwelchen migrationspolitischen Zielen nicht
zugänglich ist. Es sagte auch: Die Menschenwürde darf
migrationspolitisch nicht relativiert werden.
({0})
Das heißt: Das menschenwürdige Existenzminimum ist
immer das gleiche, egal ob es sich um Deutsche, Nichtdeutsche, Flüchtlinge oder um wen auch immer handelt.
Ich fand diese Entscheidung beachtlich. Ich meine,
dass der Grundsatz der Nichtrelativierbarkeit der Menschenwürde auch für viele andere flüchtlingsrechtliche
Fragen gelten muss. Diesem Grundgedanken trägt unser
heutiger Antrag Rechnung.
Ich will des Weiteren die Residenzpflicht nennen, ein
in Europa einzigartiges System. Angesichts der deutschen Geschichte kann man zu einer solchen Aufenthaltsbeschränkung, die mit Blick auf Gesundheitsversorgung, kulturelle Feste und Religionsausübung eine
Einschränkung darstellt, nur sagen: So geht man mit
Flüchtlingen nicht um.
({1})
Das muss man schon feststellen: In Deutschland unterliegen die Schutzsuchenden und Flüchtlinge wirklich
einschneidenden Beschränkungen.
Was mich dabei besonders ärgert, ist, dass Frau
Merkel, die Bundeskanzlerin, immer mal wieder so tut,
als sei das nicht so. Bei der Eröffnung des Mahnmals für
die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma
sagte die Bundeskanzlerin - ich zitiere -:
Sinti und Roma leiden heute erneut unter Ausgrenzung und Ablehnung. Nicht nur die Politik, jeder
Einzelne ist aufgerufen, sich jedweder Art von Diskriminierung zu widersetzen.
Folgen wir doch diesen Sätzen, und fangen wir hier und
heute bei der Politik an.
({2})
Der Bundesinnenminister war wieder ignorant. Er hat
nämlich faktisch am gleichen Tag diesen Sätzen zuwidergehandelt. ({3})
Wie ich sehe, hat er es nicht nötig, heute hier zu sein - er
ist ja auch „nur“ für Flüchtlinge zuständig -; das wundert uns bei diesem Bundesinnenminister kaum, oder?
({4})
Dazu gehört schon ein gehöriges Maß an Chuzpe.
({5})
- Ja, aber der Staatssekretär ist der Staatssekretär, und
der Bundesinnenminister ist der Bundesinnenminister.
So viel darf schon sein.
({6})
Das sage ich auch, weil Herr Friedrich zeitgleich am Tag
der Rede von Frau Merkel Flüchtlingen aus Serbien und
Mazedonien, die zum überwiegenden Teil der Minderheit der Roma angehören, pauschal Asylmissbrauch vorgeworfen hat.
({7})
Fangen wir bei der Politik an. Ich sage Ihnen: Den
Worten müssen auch Taten folgen. Man kann nicht argumentieren, das Boot sei voll, wie Herr Friedrich das tut.
Man kann auch nicht behaupten, bei den Sinti und Roma
handele es sich um Wirtschaftsflüchtlinge.
({8})
Das ist nicht nur falsch, es ist auch verfassungswidrig,
wenn er daraus ableiten will, dass die Rechte dieser
Menschen, anders als das Bundesverfassungsgericht es
gesagt hat, beschränkt werden sollen.
Schauen wir uns doch einmal an, wie es den Menschen dort geht. Wir wissen, dass Europas Institutionen
tatsächlich sagen: Wenn man wegen seiner Herkunft diskriminiert und verfolgt wird, dann ist das auch ein Asylgrund. - Der Dritte Bericht zur Visaliberalisierung der
Europäischen Kommission hat erneut festgestellt, dass
die Roma in der EU und auch außerhalb der EU in Serbien und Mazedonien ständigen Diskriminierungen ausgesetzt sind.
Meine Damen und Herren, gucken Sie sich das einmal an: Kindern und Jugendlichen wird der Zugang zu
Bildung verweigert. Menschen leben in irgendwelchen
Hütten, die garantiert nicht würdevoll sind und - besonders im Winter - kein gesundes Leben zulassen. Da gibt
es Menschen, die von Arbeit ausgeschlossen werden.
Die Diskriminierung von Roma geht in Europa so weit,
dass man sagen kann: Es gibt pogromartige Ausschreitungen gegen diese Minderheit.
({9})
Wer dann noch sagt, das sei Asylmissbrauch und es
seien Wirtschaftsflüchtlinge, der liegt schlicht und einfach falsch.
({10})
Ich gönne Ihnen eine Reise nach Serbien und Mazedonien. Fahren Sie in östliche EU-Mitgliedstaaten. Dann
erleben Sie, was Menschen dort widerfährt. Ich habe
ganz normale Bürger aus diesem Land erlebt, die gesagt
haben, dass ihnen die Tränen in den Augen standen, weil
so etwas in Europa möglich ist. Ursache für diesen Missstand ist die Herkunft dieser Menschen.
Deshalb ist eines klar: Das Asylbewerberleistungsgesetz relativiert in der Praxis die Menschenwürde. Es
muss weg. Denken Sie allein daran, dass Gutscheine
ausgegeben werden, mit denen Asylsuchende nur in bestimmten Läden einkaufen dürfen, wobei sie nicht einmal das Wechselgeld zurückerhalten. Denken Sie daran,
dass Asylsuchende bei akuten Erkrankungen zwar eine
ärztliche Notfallversorgung bekommen, aber in dem
Fall, dass sie traumatisiert sind, keine entsprechende
Grundversorgung erhalten. So geht man mit Menschen
nicht um.
Deshalb muss dieses Asylbewerberleistungsgesetz
weg. Asylsuchende sind Menschen mit gleicher Würde
und mit den gleichen Bedürfnissen, was das Existenzminimum angeht. Sie sollen sich in diesem Land bewegen können. Sie sollen eines Tages auch erwerbstätig
sein. Man muss ihnen eine Perspektive bieten. Wem sage
ich das? Sie haben das „C“ für „christlich“ in Ihrem Parteinamen. Lassen Sie dem auch Taten folgen!
({11})
Das Wort hat nun Peter Tauber für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Künast, Dinge werden meistens nicht richtiger, wenn
man sie pauschal formuliert und einfach so in den Raum
stellt. Diesen Eindruck hatte ich bei vielen Ihrer Ausführungen, denen ich eben zuhören durfte. Ehrlich gesagt,
man hat nicht immer den Eindruck, dass Sie hier Redlichkeit an den Tag legen und dass es Ihnen wirklich nur
um die Flüchtlinge und um die Asylbewerber geht. Sie
machen hier eine ganz schöne Show; das müssen Sie
sich an dieser Stelle deutlich sagen lassen.
({0})
Die Bundesregierung misst diesem Thema allein deshalb eine hohe Bedeutung bei, weil nicht nur der Staatssekretär aus dem Innenministerium anwesend ist, sondern auch die für das Asylbewerberleistungsgesetz
zuständige Ministerin. Das zeigt, dass wir das Thema
sehr ernst nehmen und uns diesem Thema mit Sachlichkeit zuwenden.
({1})
Damit bin ich bei meinem ersten Punkt. Es ist klar:
Unsere Verfassung, das Grundgesetz, gibt uns den Handlungsrahmen vor. Das Recht auf Asyl für Menschen, die
aus Gründen der Herkunft, aus religiösen oder politischen Gründen verfolgt werden, hat nicht nur für uns in
der Bundesrepublik historisch einen hohen Stellenwert.
Diesen Stellenwert hat es auch in Europa. Es ist ein
Grundrecht, das wir Menschen gemeinsam in Europa gewähren wollen, die aus den genannten Gründen unter
Verfolgung leiden oder von Verfolgung bedroht sind.
Ich glaube - an der Stelle haben Sie vielleicht recht -,
dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland erwarten, dass wir, wenn wir den Rahmen setzen, dieses
Grundrecht ernst nehmen und die Rahmenbedingungen
dafür schaffen, dass Menschen, auf die diese Voraussetzungen zutreffen, in Deutschland Hilfe finden. Die Bürger erwarten aber eben auch, dass wir eine Antwort darauf geben, was wir mit Menschen machen, die sich zu
Unrecht auf das Asylrecht berufen.
({2})
Deswegen muss man sich genau anschauen, wie eine
Regelung aussieht, die den betroffenen Menschen auf
Dauer hilft - das ist ganz wichtig -, aber die darüber hinaus eine Antwort auf diese von mir formulierte Frage
gibt.
Es tut ganz gut, sich einmal an den Ursprung der jetzt
gültigen Regelung zurückzuerinnern. Warum gibt es das
Sachleistungsprinzip? Warum gibt es die Residenz25656
pflicht? Sie ist zum Teil bereits gelockert und wurde in
manchen Bundesländern abgeschafft. Das Sachleistungsprinzip gibt es, weil wir Anfang der 90er-Jahre, als
fast eine halbe Million Asylbewerber pro Jahr zu uns kamen,
({3})
festgestellt haben, dass das an sie ausgezahlte Geld nicht
von den Flüchtlingen und Asylbewerbern selbst genutzt
wurde, sondern dass sie es an diejenigen, die sie ins
Land geschleppt hatten, abgeführt haben.
({4})
Es waren oft Menschen, die sich nicht auf das Asylrecht
berufen konnten, weil die entsprechenden Gründe nicht
vorlagen.
({5})
- Sie können „Bodenlos“ dazwischenrufen, so oft Sie
wollen.
Reden Sie einmal mit den Kommunalpolitikern, die
Anfang der 90er-Jahre dafür zuständig waren.
({6})
Reden Sie einmal mit denjenigen, die sich damals in den
Kommunen bemüht haben, für Asylbewerber und
Flüchtlinge menschenwürdige Rahmenbedingungen zu
schaffen.
({7})
Reden Sie einmal mit denjenigen, die sich in den 90erJahren ehrenamtlich um Flüchtlinge bemüht haben.
({8})
- Herr Präsident, ich glaube, jemand möchte eine Zwischenfrage stellen. - Reden Sie einmal mit diesen Personen. Dann werden Sie genau das berichtet bekommen.
Wie viele Menschen haben damals ehrenamtlich geholfen, weil die staatlichen Leistungen, die wir den Flüchtlingen gewährt haben, gar nicht bei ihnen ankamen, weil
sie das Geld an andere abgeliefert haben? Das gehört zur
Wahrheit dazu.
({9})
Jetzt so zu tun, als ob das Sachleistungsprinzip ein reines
Gängelungsinstrument sei, ist falsch.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Beck?
Ja, gerne. - Vielleicht könnten Sie jetzt einmal Ihre
Zwischenrufe unterlassen, damit ich die Zwischenfrage
verstehen kann. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.
({0})
Herr Kollege, manchmal tut es dem Deutschen Bundestag ganz gut, wenn es noch ein paar ältere Kollegen
im Haus mit einem historischen Gedächtnis gibt.
({0})
Sie haben von der Situation zu Beginn der 90er-Jahre
gesprochen. Ist Ihnen bewusst, dass die großen Zugangszahlen von Flüchtlingen, die wir in der Tat Anfang der
90er-Jahre hatten, eine Folge des Zerfalls und der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Westbalkan
waren,
({1})
und insofern diese hohen Zugangszahlen in Deutschland
eine Folge des Krieges vor der eigenen Haustür waren
({2})
und nicht etwa der regelmäßig, jährlich wiederkehrende
Zugang von Flüchtlingen aus aller Welt in Größenordnungen von Hunderttausenden?
({3})
Frau Kollegin, ich bin für die Frage sehr dankbar.
Auch ich habe durchaus ein gewisses historisches Wissen, das ich einbringe, weil ich in der Zeit ehrenamtlicher Kommunalpolitiker war. Ich kann mich daran erinnern, dass es in meiner Region nicht nur in den
Kommunen sehr große Bemühungen gab, Flüchtlinge
und Asylbewerber unterzubringen, sondern dass es auch
große zentrale Sammellager gab.
({0})
Ich kann zumindest nicht in Abrede stellen, dass Ihre
Ausführungen für einen Teil dieser Menschen zutreffen,
aber eben nur für einen Teil. Ein ganz großer Teil kam
aus anderen Regionen dieser Welt. Insofern stimmen Ihren Ausführungen nicht ganz.
({1})
- Wir können nachher gern die Zahlen nebeneinander legen und vergleichen, Frau Kollegin. - Ich kann also das
nicht bestätigen, was Sie hier ausgeführt haben. Sie versuchen, damit einen bestimmten Eindruck zu erwecken.
Worum geht es jetzt? Jetzt geht es darum, dass wir etwas tun,
({2})
um die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts - es
geht um ein Urteil aus dem Juli dieses Jahres - umzusetzen. Das Arbeits- und Sozialministerium hat sehr gute
Erfahrungen damit gemacht, Regelbedarfe zu entwickeln, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
entsprechen. Sie hätten das alles unter Rot-Grün machen
können; Sie haben es aber nicht gemacht.
({3})
Insofern sollte man sich, wenn man mit dem Finger auf
andere zeigt, immer auch fragen, wie viele Finger der eigenen Hand auf einen selbst zurückzeigen.
({4})
Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Ministerin gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen eine Regelung
vorlegen wird,
({5})
die den Vorgaben des Gerichts gerecht wird, sodass wir
dann einen Regelsatz haben werden, der die Bedarfe der
betroffenen Menschen genau abbildet
({6})
und der - ich glaube, das kann man schon jetzt sagen deutlich höher sein wird als der bisherige.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Veit?
Nein, jetzt nicht; herzlichen Dank.
({0})
Es bleibt dabei: Was das Asylbewerberleistungsrecht
betrifft, werden wir Ihnen eine Regelung vorlegen,
({1})
die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht und die Bedarfe der Menschen genau abbildet.
Wir wollen ermöglichen, dass die Menschen für die
Dauer ihres Asylverfahrens in Deutschland Zuflucht finden und ein Auskommen haben.
Aus meiner Sicht mangelt es Ihnen in dieser Debatte
an Redlichkeit. Sie erwecken nämlich permanent den
Eindruck, als ginge es Asylbewerbern und Flüchtlingen
in Deutschland schlechter als in den Ländern, aus denen
sie zu uns gekommen sind.
({2})
Das geht, wie ich finde, an der Wirklichkeit vollkommen
vorbei. Nach wie vor gibt es unheimlich viele ehrenamtliche Initiativen, die Flüchtlinge begleiten. Die Bürgermeister und die kommunalen Verantwortlichen, die ich
kenne, kümmern sich mit großer Mühe und Sorgfalt darum, die notwendigen Rahmenbedingungen in ihrer
Kommune zu schaffen, dabei auch die Bevölkerung mitzunehmen und für die notwendige Sensibilität und das
entsprechende Bewusstsein vor Ort zu sorgen; auch das
ist, glaube ich, ein wichtiges Signal. In der Diskussion
ist ja ständig die Rede davon, dass hier verschiedene
politische Ebenen ineinandergreifen: Auf der einen Seite
dürfen wir die Kommunen bei der Bewältigung der Herausforderungen, die mit steigenden Flüchtlingszahlen
einhergehen, nicht alleine lassen, auf der anderen Seite
müssen auch wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen.
Am Ende bleibt es dabei: Wir bemühen uns, für die
Menschen, die aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen zu uns kommen und um Asyl bitten, die
richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Es gibt auf
diesem Globus nicht viele Länder, die solch gute Rahmenbedingungen schaffen und mit so viel Empathie für
diese Menschen einstehen wie Deutschland.
({3})
Wenn man Empathie für diese Menschen empfindet
und sich um sie kümmert, gehört dazu auch, dass man
auch über diejenigen redet, die sich fälschlicherweise
auf das Grundrecht auf Asyl berufen und die, wenn in einem Verfahren festgestellt wurde, dass kein Asylgrund
vorliegt, in ihre Heimat zurückgeführt werden.
({4})
Das, liebe Frau Künast, sollte man nicht als unchristlich
brandmarken.
({5})
- Da können Sie sich aufwallen und schreien, so viel Sie
wollen, liebe Frau Künast; das finde ich immer hochspannend. - Ich glaube, ich als Christ brauche von jemandem, von dem ich nicht weiß, wie intensiv er sein
Christsein lebt - wenn er denn überhaupt Christ ist -,
({6})
an dieser Stelle keine Nachhilfe.
({7})
Liebe Frau Künast, diese Frage in die politische Diskussion hineinzuziehen, ist Parteipolemik und unredlich.
({8})
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute
mit den schwierigen Lebensbedingungen von mehr als
150 000 Flüchtlingen in Deutschland, und wir geben
Antworten auf das vernichtende Urteil der Bundesverfassungsrichter zum bestehenden Asylbewerberleistungsgesetz. Es gibt dazu sieben Anträge und Gesetzentwürfe der Opposition. Das ist viel und zeigt, wie wichtig
uns dieses Thema ist.
({0})
Leider haben weder die Bundesregierung noch Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
auch nur einen einzigen Buchstaben zur Lösung beigetragen. Dabei hatten Sie verdammt viel Zeit. Deutschland wartet seit fast drei Jahren auf Ihre Taten ({1})
seit fast drei Jahren vergeblich. So, meine Damen und
Herren, sieht die traurige Wirklichkeit aus.
({2})
Schon im Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt: Die Regelsätze der Grundsicherung
sind zu niedrig und müssen transparent und nachvollziehbar neu berechnet werden.
Dies betraf natürlich auch damals schon das Asylbewerberleistungsgesetz. Wir haben Sie immer wieder darauf hingewiesen. Menschen erster und zweiter Klasse
darf es nach dem Karlsruher Richterspruch von 2010 bei
der Sicherung des Existenzminimums in unserem Staat
nicht mehr geben.
({3})
Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP, nehmen diese Verfassungswidrigkeit jedoch
bis heute billigend in Kauf. Das ist für Sie und für Ihre
Regierung ein beschämendes Armutszeugnis.
({4})
Sie haben es noch nicht einmal für nötig befunden, auf
den zweiten Bugschuss der Verfassungsrichter zu reagieren. Im Juli dieses Jahres legten die Karlsruher Richter
ihr vernichtendes Urteil über die derzeitige Existenzsicherung von Asylbewerbern in Deutschland auf den
Tisch. Die Richter forderten eine sofortige Heraufsetzung der Regelsätze und eine unverzügliche Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Doch immer
noch stehen die niedrigen verfassungswidrigen Regelleistungen im Gesetz.
Es ist allein dem Engagement der Bundesländer zu
verdanken, dass es nicht zum offenen Verfassungsbruch
kam. Die Länder haben sich als Zwischenlösung ohne
bundesgesetzliche Regelung untereinander auf einheitliche neue Sätze verständigt. Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, hingegen haben nichts getan und
damit die Länder voll im Regen stehen lassen. Es ist
schlimm, wie Sie unsere Verfassung mit Füßen treten.
({5})
Sogar Ihre eigene Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Frau Böhmer, hatte das Sozialministerium zu raschem Handeln aufgefordert. Bereits
im Herbst 2011 verlangte sie wegen des verfassungswidrigen Zustands des Asylbewerberleistungsgesetzes eine
schnelle Reform. Geholfen hat auch das nichts. Deshalb
frage ich Sie, Frau Ministerin von der Leyen: Wann werden Sie die vom Verfassungsgericht geforderte unverzügliche Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes endlich umsetzen?
({6})
Da Sie selbst in dieser Sache offensichtlich nichts auf
die Reihe bringen, haben wir Ihnen in unserem Antrag
aufgeschrieben, wie ein verfassungskonformes Gesetz
aussehen könnte. Die Initiative der von SPD und Grün
regierten Länder zur Abschaffung der Asylbewerberleistungsgesetzes im Bundesrat
({7})
ist ja gerade gescheitert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen, Ihren gleichlautenden Anträgen wird es heute hier im Bundestag genauso ergehen.
Wir setzen uns deshalb für eine Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes ein. Wir wollen die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in unserem Land verbessern.
Wir fordern verfassungsfeste Regelsätze. Wir wollen die
Dauer des Leistungsbezugs wieder auf zwölf Monate zurückführen. Der Kreis der Leistungsberechtigten muss
wieder auf die Personen beschränkt werden, für die das
Asylbewerberleistungsgesetz 1993 einmal geschaffen
wurde, nämlich auf Asylsuchende und Geduldete.
Die Residenzpflicht muss gekippt werden. Asylsuchende sind schließlich keine Gefangenen.
({8})
Es ist unmenschlich, was hier passiert.
Wir wollen den Arbeitsmarktzugang erleichtern.
Das diskriminierende Sachleistungsprinzip einschließlich der Gemeinschaftsunterkünfte muss beendet werden.
Denn weder Essenspakete noch Gutscheine für Kleidung
oder Lebensmittel sind ein würdiger Umgang mit den
Hilfebedürftigen und darüber hinaus teuer.
Unmenschlich ist auch die Zwangsunterbringung in
Gemeinschaftsunterkünften. Hierfür sind ja die Länder
zuständig. Ich habe mir einmal die bayerische Asyldurchführungsverordnung angesehen. Da steht, dass die
Unterbringung in Sammelunterkünften - ich zitiere „die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern“ soll. So, meine Damen und Herren, sehen die Unterkünfte dort auch aus. Beschämend ist das.
({9})
Asylsuchende und ihre Kinder brauchen eine bessere
Gesundheitsversorgung. Das gilt insbesondere für die
psychologische Behandlung der oftmals traumatisierten
Flüchtlinge. Die UN-Behindertenrechtskonvention muss
natürlich auch für Flüchtlinge gelten, und natürlich müssen alle Kinder und Jugendlichen einen Rechtsanspruch
auf das Bildungs- und Teilhabepaket erhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Forderungskatalog zeigen wir einen Weg auf, wie sich erstens
die Lebensbedingungen von schutzsuchenden Menschen
in unserem Land verbessern lassen, wie wir zweitens
wieder zu den Buchstaben unserer Verfassung zurückkommen und wie wir drittens die Zustimmung der Länder erreichen können. Diese brauchen wir; ohne sie geht
nichts.
Herr Tauber, Sie haben auf die vergangenen Jahre
hingewiesen. Dass sich da nichts bewegt hat, lag daran,
dass Sie damals mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat alles
ausgebremst haben, was man für die Flüchtlinge und für
die Asylsuchenden in unserem Land positiv hätte verändern können.
({10})
Das Asylbewerberleistungsgesetz muss endlich auf
verfassungsfeste Füße gestellt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, tun Sie es
endlich!
({11})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hier
von SPD, Linken und Grünen immer wieder vorgetragene Unterstellung, die Koalition relativiere in irgendeiner Weise die Menschenwürde,
({0})
ist schlicht eine Unverschämtheit.
({1})
Die Grünen und die SPD haben in sieben Jahren Regierungszeit selbst kein einziges Mal den Versuch unternommen, die jetzt von ihnen bemängelten angeblichen
Menschenrechtsverletzungen durch deutsches Recht zu
ändern.
({2})
Das Asylbewerberleistungsgesetz - Frau Beck, Sie wissen ganz genau, wovon ich rede - existiert seit 1993.
({3})
Was hat denn der in Ihrer Regierungszeit zuständige
Bundesarbeitsminister, Herr Müntefering, unternommen? Nichts.
({4})
Wenn es den Grünen tatsächlich so um Humanität geht,
muss man fragen: Was hat denn die damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, unternommen? Was hat Frau Künast unternommen? Nichts.
Da sieht man: So wichtig war Ihnen das, worüber Sie
hier und heute im Zusammenhang mit Ihrem Antrag
Krokodilstränen vergießen.
({5})
Fortschritte unter der Regierung von SPD und Grünen, zum Beispiel beim Arbeitsmarktzugang für Ausländer, waren nicht existent. Hier herrschte in rot-grüner
Zeit Arbeitsmarktprotektionismus.
Im Gegensatz dazu handelt die christlich-liberale Koalition.
({6})
Die Residenzpflicht, die der rot-rot-grüne Block zur Zeit
der rot-grünen Regierung immer unangetastet gelassen
hat, hat die Koalition aus Union und FDP in Hessen gerade abgeschafft.
({7})
Meine Damen und Herren, weitere Verbesserungen
im Ausländer- und im Asylrecht sind immer wieder zu
erwägen und auch zu prüfen. Auch hier wird es noch
Veränderungen und Verbesserungen geben.
({8})
Dabei darf es aber nicht allein um die gefühlte gute Absicht gehen, sondern wir müssen immer auch die Folgen,
die das für alle Beteiligten hat, im Blick haben.
({9})
Hartfrid Wolff ({10})
In diesem Zusammenhang kann ich feststellen: Diese
Regierungskoalition hat die Weichen für eine Kultur des
Willkommens gestellt.
({11})
In der christlich-liberalen Koalition haben wir gemeinsam wichtige Weichenstellungen in der Zuwanderungsund Integrationspolitik vorgenommen.
({12})
Aber auch hier gilt: Fördern und Fordern gehören zusammen.
Offenkundig passt das einigen aus dem Oppositionslager nicht. Aber wir haben in den vergangenen Tagen ja
mehrfach gehört, wie die Oppositionsfraktionen sich
einfach nur gegen das stellen, was die Koalition macht unabhängig davon, ob die eigene Position kürzlich noch
eine andere war.
({13})
Wir halten Wort.
({14})
Die christlich-liberale Koalition eröffnet Perspektiven
für Menschen, die in unser Land gekommen sind.
({15})
Im Vergleich zu den Vorgängerregierungen schneidet
diese Koalition auf diesem Politikfeld sehr gut ab.
({16})
Wir haben die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen geändert, um den Schulund Kindergartenbesuch von Kindern zu gewährleisten.
Wir haben die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewerber auf Bundesebene gelockert,
({17})
um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. „Bildung ermöglichen“ heißt hier
das Stichwort, meine Damen und Herren.
Wir haben die Stabilisierungszeit für Opfer von Menschenhandel auf drei Monate ausgedehnt - ein dringendes Petitum gerade von Opferverbänden und auch der
Polizei. Wir haben es ermöglicht, dass Abschiebehäftlinge auf ihren Wunsch hin Nichtregierungsorganisationen hinzuziehen können. Zudem haben wir die Bedingungen für die Abschiebehaft signifikant verbessert.
({18})
Liebe Kollegen von den Grünen, wir haben erstmals
ein eigenständiges Wiederkehr- und Rückkehrrecht für
ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geschaffen und auch den eigenständigen Straftatbestand der
Zwangsheirat eingeführt. Das ist aktiver Opferschutz
und ein klarer Appell an unsere freiheitliche Werteordnung.
({19})
Im Gegensatz zu Rot-Grün, Frau Künast, gibt es dank
dieser Koalition inzwischen eine dauerhafte bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung. Erstmals wurde für minderjährige und heranwachsende geduldete Ausländer ein
vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen.
({20})
Das nenne ich humanitäre Rechtssicherheit.
Ich habe mich über die Einigung der Unionsinnenminister zu einer weiter gehenden ständigen Bleiberechtsregelung gefreut. Ich bin mir sicher, dass wir auch hier
noch fruchtbare Gespräche führen werden. Wir hoffen
auf die Konstruktivität der A-Länder, darauf, dass sie
endlich aufhören, im Bundesrat zu blockieren, und sich
bei der Bleiberechtsregelung konstruktiv einbringen.
Nichts dergleichen hat seinerzeit die rot-grüne Koalition zustande gebracht.
({21})
Die rot-grüne Regierung war bei diesen Themen geradezu inaktiv, obwohl sie im Grunde genommen schon
damals akut waren. Frau Hiller-Ohm, das sollten Sie eigentlich wissen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hiller-Ohm?
Frau Hiller-Ohm, Sie hatten gerade die Gelegenheit,
Ihre Positionen darzustellen. Daher brauchen Sie jetzt
keine Zwischenfrage zu stellen. - Dass Sie jetzt noch
mehr fordern, obwohl Sie selber so inaktiv waren, wirft
wirklich ein sehr schräges Bild auf Ihre damalige Regierungszeit und auch auf Ihre jetzige Lage.
Die Landesregierungen mit rot-rot-grüner Beteiligung
halten sich bei allen Forderungen, die Sie hier jetzt vortragen - das ist nicht wirklich überraschend -, bedeckt.
Das, was Sie hier vortragen, hat keine wirkliche Rückkopplung.
Die christlich-liberale Koalition hingegen tut etwas:
Wir haben die Zuwanderung für Fachkräfte deutlich rationaler gestaltet und die Verfahren entbürokratisiert.
({0})
Hartfrid Wolff ({1})
Wir werden alsbald auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz umsetzen.
({2})
Wir haben mit dem Bundesinnenminister schon erreicht,
dass die Dauer der Asylverfahren deutlich verkürzt wird.
Damit schaffen wir Klarheit für die Betroffenen.
({3})
Wir Liberalen haben uns immer dafür eingesetzt, dass
jeder, der sich rechtmäßig in Deutschland aufhält, hier
arbeiten und lernen kann. Je früher gearbeitet wird, je
schneller gelernt werden kann, desto besser, solange
keine Anreize für Asylmissbrauch geschaffen werden.
({4})
Arbeit statt Stütze, liebe Kollegen von den Sozialdemokraten, also arbeiten zu dürfen, nicht zur Untätigkeit
verdammt zu sein und nicht zahlungsabhängig zu sein,
ist gerade für ein selbstbestimmtes Leben wichtig und
kann zudem die Kostenträger entlasten.
({5})
Diese Koalition hat gehandelt. Diese Koalition hat
Deutschland mit Fördern und Fordern gerade in der Integrationspolitik vorangebracht. Deutschland verändert
sich. Diese Bundesregierung gestaltet dies. Die Opposition hingegen macht nur wohlfeile Vorschläge.
({6})
Das Wort hat nun Ulla Jelpke für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein
Flüchtling kommt nach Deutschland ohne Not. Kein
Flüchtling kommt aus Spaß hierher.
({0})
Flüchtlingsleben in Deutschland bedeutet Sammellager, die weit weg vom gesellschaftlichen Leben eingerichtet werden, keine Individualität, weil die Räume in
der Regel überbelegt sind, keine Bildung, keine Arbeit
und ein menschenunwürdiges Dasein mit Gutscheinen,
zum Teil mit 1-Euro-Jobs oder ähnlichen Dingen. Ich
meine, dass diese Schikane und diese Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen in Deutschland endlich
aufhören müssen.
({1})
Hinsichtlich der Residenzpflicht gibt es eine Länderinitiative. Es gibt einige Bundesländer wie Brandenburg,
Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen und andere, die
endlich dazu übergegangen sind, die Residenzpflicht wenigstens in den Ländern aufzuheben.
({2})
Aber was heißt denn das? Wenn für Menschen in einem
Land die Residenzpflicht besteht, müssen sie zur Behörde gehen und fragen, ob sie einen Verwandten in einem benachbarten Bundesland besuchen dürfen. Sie
haben einen unglaublichen Aufwand an Bürokratie usw.
Selbst die Referatsleiter der Ausländerbehörden, die in
der letzten Woche den Innenausschuss besucht haben,
haben gesagt: Die Residenzpflicht führt vor allen Dingen
zu Verwaltungsaufwand, zu Bürokratie, zur Beantwortung von Klagen usw. Sie sind der Meinung, sie gehört
abgeschafft. Das sollte sich die Regierung einmal hinter
die Ohren schreiben.
({3})
Man kann als Fazit sagen: Fachlich ist die Residenzpflicht überflüssig, politisch ist sie eine entwürdigende,
diskriminierende Schikane der Schutzsuchenden. Sie gehört im Namen der Menschenwürde ersatzlos abgeschafft.
({4})
Auch 20 Jahre nach der faktischen Abschaffung des
Asylrechts gibt es in der Asylpolitik leider weitere Schikanen. Wir haben schon vom Asylbewerberleistungsgesetz gehört.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Sommer bestätigt, dass dieses Gesetz die Menschenwürde verletzt,
weil es zu geringe Leistungen vorsieht. Das war für uns
schon lange klar, aber die Regierung tat nichts. Frau
Hiller-Ohm hat es eben schon angesprochen: Es gab eine
Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Eckpunkte für einen
Gesetzentwurf vorlegen sollte. Auf Ihre Taten warten
wir seit drei Jahren. Gestern ist uns das letzte Ergebnis
mitgeteilt worden. Es lautet: Ein abschließendes Eckpunktepapier ist wieder nicht beschlossen worden.
({5})
Meine Damen und Herren von der Regierung, ich bin
der Meinung: Das, was Sie sich hier leisten, ist eine unglaubliche Ignoranz gegenüber den Asylbewerbern und
durch nichts mehr zu überbieten.
({6})
Der Bundesinnenminister hat sogar angekündigt, gegen das Urteil des Verfassungsgerichts zu verstoßen. Das
Verfassungsgericht hat gesagt:
Auch migrationspolitische Erwägungen … können
… kein Absenken des Leistungsstandards unter das
physische und soziokulturelle Existenzminimum
rechtfertigen.
Herr Friedrich fordert dagegen, Asylbewerbern aus
vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten das Taschengeld
komplett zu streichen.
({7})
- Genau. - Dieses Geld brauchen sie aber, um ihr soziokulturelles Existenzminimum zu decken.
Aus diesem perfiden Grund wollen Sie hier wieder erneut Abschreckungspolitik betreiben. Dabei nehmen Sie
sogar in Kauf - und das mit Ansage -, Verfassungsbruch
zu begehen. Ich kann Sie hier nur auffordern, von diesen
populistischen Plänen endlich Abstand zu nehmen.
({8})
Eine weitere Schikane ist zum Beispiel das Arbeitsverbot. Die EU-Kommission sagt immerhin: Asylbewerber sollen nach einem halben Jahr Aufenthalt arbeiten
gehen dürfen. Auch das macht Deutschland nicht mit.
Durch die Regelung eines nachrangigen Zugangs zum
Arbeitsmarkt und die Residenzpflicht wird diesen Menschen praktisch keine Chance gegeben, eine Arbeit zu
finden. Sie bleiben von Sozialleistungen abhängig, und
das wird ihnen dann wieder vorgehalten, wenn sie ein
Bleiberecht beantragen. So kann es meiner Meinung
nach nicht gehen.
({9})
Gerade bei den sogenannten Geduldeten führen die
Rechtslage und die Praxis immer wieder zu regelrechten
Familientragödien. Familien, die seit Jahren in Deutschland leben und sich trotz aller Widrigkeiten ein Zuhause
geschaffen haben, müssen in ständiger Angst leben, mitten in der Nacht von einem Polizeiaufgebot aus den Betten gerissen und 30 Minuten später, nachdem sie ihre Sachen gepackt haben, zum Flughafen gebracht zu werden.
Besonders Kinder werden durch diese Art und Weise der
Abschiebepraxis traumatisiert.
Ich will hier ganz deutlich sagen: Das findet nicht nur
in CDU- und CSU-regierten Ländern und unter Beteiligung der FDP, sondern leider auch in SPD-regierten
Ländern statt. Das ist wirklich ein Skandal!
({10})
Deswegen fordert die Linke ein humanitäres Bleiberecht
und kein bürokratisches Bleiberecht, wie wir es bislang
haben.
Das Verfassungsgericht hat verboten, dass die Menschenwürde zum Zweck der Flüchtlingsabschreckung
unterlaufen wird. Das Regime der Schikanen und der
systematischen Ausgrenzung gegenüber Flüchtlingen
muss jetzt ein für alle Mal beendet werden.
({11})
Meine Damen und Herren, kommen wir noch einmal
zu den Fakten; denn die Presse und die Bundesregierung
sprechen in der Öffentlichkeit gerne sehr unsachlich
über die Zahlen. Zweifellos gibt es in diesem Jahr mehr
Flüchtlinge: Im Jahr 2003 sind knapp 20 000 Flüchtlinge
nach Deutschland gekommen, 2010 waren es 41 000,
und 2011 waren es 45 000 Flüchtlinge. Die Zahlen steigen.
({12})
Aber erstens steigen sie nicht dramatisch, Herr Grindel,
und zweitens steigen die Zahlen bei den Asylanträgen
insgesamt. Das hat auch etwas mit Ihrer Politik zu tun.
({13})
Dieser leichte Anstieg ist zum Großteil hausgemacht,
nicht weil Flüchtlinge das Asylrecht missbrauchen, sondern weil der Westen immer mehr Fluchtgründe schafft.
Die Flüchtlinge kommen zum Beispiel aus dem Balkan,
aus Afghanistan, aus dem Irak. Diese Herkunftsländer
der Flüchtlinge waren vom sogenannten Krieg gegen
den Terror am stärksten betroffen. Ich erinnere an das
Gespräch mit Flüchtlingen vorige Woche, in dem ein
Flüchtling gesagt hat: Ich bin ein Produkt eurer Politik,
auf unser Land fallen NATO-Bomben. - Das gilt übrigens für viele Flüchtlinge.
({14})
Von dort, wo Kriege geführt werden, kommen auch
Flüchtlinge. Kriege sind Fluchtursachen, die Sie mit
schaffen, Herr Grindel.
({15})
Die reichen Staaten beuten die sogenannte Dritte
Welt aus, halten sie in Armut und Abhängigkeit, und natürlich kommen von dort Flüchtlinge. Die ODA-Quote,
der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen - wir haben es letzte Woche hier im Bundestag
diskutiert -, wird nicht, wie vereinbart, auf 0,7 Prozent
erhöht, sondern die Mittel sind wieder einmal gesenkt
worden, und damit liegt die Quote unter 0,4 Prozent.
Ihre Entwicklungspolitik ist einfach ein Skandal.
({16})
Also, wundern Sie sich nicht, wenn Flüchtlinge kommen. Sie, meine Damen und Herren, tragen dazu bei,
Fluchtursachen zu schaffen, statt sie abzustellen. Das ist
eine ewige Debatte hier im Haus; es passiert nichts. Solange Sie Panzer und Maschinenpistolen exportieren und
eine entsprechende Politik betreiben - davon können wir
immer wieder in den Zeitungen lesen -, haben Sie kein
Recht, Flüchtlinge zu Kriminellen zu erklären. Es ist
wirklich ein Skandal, dass das hier überhaupt versucht
wird.
({17})
Ganz nebenbei: Deutschland ist bei weitem nicht das
Land, das am meisten Flüchtlinge aufnimmt. In Deutschland kommen auf 100 000 Einwohner 65 Flüchtlinge. In
Schweden sind es schon 315 Flüchtlinge; in Malta, ZyUlla Jelpke
pern und Luxemburg sind es schon 450. Auch Italien
und Griechenland nehmen, bezogen auf die Bevölkerung, mehr Flüchtlinge auf als Deutschland. Das heißt,
wer behauptet, das Boot sei voll, redet meines Erachtens
Unsinn.
({18})
Wir werden vielmehr in die Pflicht genommen werden,
in Europa solidarische Hilfe zu organisieren, eine vernünftige Umverteilungspolitik zu machen, was die
Flüchtlingsprobleme angeht, und vor allen Dingen die
Ursachen zu bekämpfen.
({19})
Ich komme zur aktuellen Debatte zum Asylmissbrauch - hierzu sind schon einige Punkte genannt worden -: Das Problem sind nicht die Asylbewerber, wie bestimmte Politiker behaupten, um damit ganz gezielt
Ängste zu schüren und bestimmte Vorurteile zu bestätigen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zum Asylbewerberleistungsgesetz sagte Bundesinnenminister Friedrich:
Das wird dazu führen, dass die Asylbewerber-Zahlen noch weiter steigen,
({20})
denn es wird für Wirtschaftsflüchtlinge noch attraktiver zu uns zu kommen,
({21})
und mit Bargeld wieder abzureisen.
({22})
Ihr Innenminister Schünemann aus Niedersachsen
legte noch eins drauf:
Das ist klarer Asylmissbrauch. Ganze Dörfer kommen …
Ich darf Ihnen etwas verraten, was Ihnen bestimmt
nicht gut gefallen wird: Mit diesen Zitaten - Sie sehen es
hier auf diesem Flugblatt - warb die NPD für den 9. November zu einem Fackelmarsch gegen Asylmissbrauch
und nutzte Ihre Stellungnahmen,
({23})
um das rechte Potenzial zu mobilisieren. Ich kann dazu
nur sagen: Kommen Sie zu einer sachlichen Debatte zurück, und hören Sie auf mit dieser puren Stimmungsmache, die Sie seit Wochen betreiben. Sie liefern damit
den Neofaschisten die Munition für rassistische Hetze.
({24})
Was sich hier anbahnt - darauf hatten schon einige
hingewiesen -, ist im Grunde genommen eine Neuauflage des Szenarios von 1992. Es werden Ängste geschürt. Es wird mit Unterstellungen gearbeitet. Es wird
gehetzt. Damals brannten am Ende die Wohnheime für
Asylbewerber. Meine Damen und Herren, wir müssen
alles tun, damit das nicht wieder geschieht.
({25})
Die Linke sagt auch deswegen ganz klar, dass das Asylrecht reformiert werden muss.
Gerade zu dem Beispiel Roma kann ich jetzt keine
weiteren Ausführungen machen - Frau Beck hat es aber
schon gesagt -, aber so viel: Sie sind nicht einfach Wirtschaftsflüchtlinge, wie Sie das hier darstellen wollen.
Die EU, die UN, der Europarat sprechen von massiver
Diskriminierung.
({26})
Ich will Sie daran erinnern, dass die Flüchtlinge, die zurzeit aus dem Balkan kommen, zur Hälfte Kinder sind Kinder und ganze Familien!
Zum Schluss möchte ich sagen, dass die Linke mit
den vorliegenden Anträgen zum Asylbewerberleistungsgesetz und zur Residenzpflicht die Konsequenzen aus
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezogen hat.
Beides gehört sofort abgeschafft!
({27})
Wir wollen die Würde der Asylsuchenden genauso
schützen, wie wir die Würde aller Menschen in der Bundesrepublik schützen wollen.
({28})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja.
Eine wichtige Besonderheit in unseren Anträgen ist
- ansonsten werden wir allen Anträgen zustimmen -:
Wir wollen auf die Wohnortzuweisung verzichten. Unserer Meinung nach ist es wichtig, für Flüchtlinge Wohnungen und keine Lager zu schaffen. Es gibt ja das Meldegesetz; sie sind erreichbar.
Frau Kollegin!
Es ist nicht nötig, dass wir diese Einschränkung haben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen! Mit Ihren
Anträgen fordern Sie - das haben Sie in den Reden auch
deutlich gemacht - faktisch die Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
({0})
- Da können Sie ruhig schon einmal klatschen, das passt
schon. Das Klatschen wird Ihnen gleich vergehen.
Zunächst ist es in dieser Diskussion erforderlich, dass
man auf den Tatbestand schaut, auf Art. 16 a unseres
Grundgesetzes. Darin steht, dass politisch Verfolgte Asyl
genießen. Das heißt aber auch - auch das haben die Väter unseres Grundgesetzes bedacht -, dass nicht politisch
Verfolgte keinen Anspruch auf Asyl haben.
({1})
- Liebe Frau Künast, in unserem Grundgesetz steht
nichts von Diskriminierung. Da muss man die Kirche etwas im Dorf lassen - im wahrsten Sinne des Wortes und sagen: Es kann auch nicht sein, wie Sie am Ende
Ihrer Rede ausgeführt haben, Frau Künast, dass die Menschen berufstätig sein oder einen Beruf erlernen sollen,
weil sie ohnehin später bei uns arbeiten werden.
({2})
Unser Asylrecht geht davon aus, dass die Prüfung
zeitnah stattfindet - da ist sicher noch Luft drin, da kann
man sicher noch manches verbessern -, dass aber diejenigen, die keinen Anspruch auf politisches Asyl haben,
tatsächlich auch wieder zurückgeschickt werden müssen.
({3})
- Ja, dass sie abgeschoben werden müssen.
Frau Jelpke, wenn Sie, wie Sie ausführen, ein dauerhaftes Bleiberecht einführen wollen, würde das - auch
das muss man den Leuten klar sagen - in der Konsequenz dazu führen, dass wir die Zuwanderung über das
Asylrecht regeln. Das kann doch niemand ernsthaft wollen. Das ist doch nicht der richtige Ansatz.
({4})
Ich möchte ganz klar betonen, dass wir dem aus
Art. 16 a des Grundgesetzes folgenden Grundrecht auf
Asyl für Menschen, die aus politischen, religiösen oder
rassistischen Gründen verfolgt werden, gerecht werden.
Menschen, die unseren Schutz wirklich brauchen, können sich darauf verlassen, dass ihnen bei uns geholfen
wird. Das war so in der Vergangenheit, und das wird
auch in Zukunft so sein.
Im europaweiten Vergleich steht Deutschland bei den
Asylanträgen ganz vorn an erster Stelle. In den vergangenen Jahren haben wir immer mehr Asylsuchende aufgenommen. Sie wissen, dass sie sich bei uns auf den
Rechtsstaat verlassen können, anders als in vielen ihrer
Herkunftsländer.
Das Asylbewerberleistungsgesetz stellt für die Asylsuchenden in jedem Fall ein menschenwürdiges Dasein
sicher.
({5})
Der notwendige Lebensbedarf einschließlich der Unterbringung, erforderlicher medizinischer Behandlungen
sowie etwaiger persönlicher Bedürfnisse wie denen von
Kindern wird befriedigt.
({6})
Aber das verfassungsrechtlich garantierte Asylrecht
soll weder wirtschaftliche noch soziale Unterschiede
ausgleichen - das kann es nicht - und somit auch keine
Inanspruchnahme aus wirtschaftlichen Erwägungen fördern - auch die muss angesprochen werden -, sondern es
soll umfassenden Schutz vor Verfolgung jeglicher Art
bieten.
Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde im Jahr 1992
von den Fraktionen CDU/CSU und FDP sowie SPD gemeinsam verabschiedet, da im besagten Jahr 95 Prozent
der Asylsuchenden überhaupt nicht politisch verfolgt
waren, sondern andere, häufig auch wirtschaftliche Beweggründe für den Aufenthaltswunsch in Deutschland
ausschlaggebend waren. Diesem somit in vielen Fällen
bestehenden Missbrauch des Asylrechts mussten und
müssen wir entgegentreten. Die Zahl der Asylbewerber
aus Mazedonien und Serbien beispielsweise - es wurde
bereits darauf hingewiesen - steigt seit einiger Zeit
sprunghaft an. Zusammenhänge mit der seit 2009 erfolgten Visaliberalisierung und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli dieses Jahres sind nicht von
der Hand zu weisen, zumal die Anerkennungsquote in
diesem Bereich nahe null liegt, da diese Menschen gerade nicht politisch verfolgt werden.
Ich will nicht verkennen, liebe Frau Künast, dass die
Lebensverhältnisse in vielen Herkunftsregionen unter
hygienischen, gesundheitlichen wie auch unter beschäftigungspolitischen Aspekten schlicht nicht hinnehmbar
sind. Es müssten die Probleme indes in den Herkunftsländern gelöst werden.
Die Lage in den Asylbewerberunterkünften ist angespannt und stellt die Kommunen vor eine große Belastungsprobe. Diese Entwicklung gibt Anlass zur Sorge.
Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen ein zügiges und effizientes Asylverfahren gewährleisten,
({7})
das zu sachgerechten Entscheidungen führt. Dies ist im
Sinne der Asylsuchenden selbst und berücksichtigt
gleichzeitig auch die Bereitschaft der Bevölkerung in
Deutschland zur Aufnahme.
({8})
Daher sage ich ganz deutlich, dass zu einer erfolgreichen
Integrationspolitik der unionsgeführten Bundesregierung
als wichtige Bausteine die Residenzpflicht und das Sachleistungsprinzip gehören, was in den Verantwortungsbereich der Länder gehört.
Die Residenzpflicht - das wurde bereits von einigen
Vorrederinnen und Vorrednern kritisiert - ist mitnichten
eine Schikane der Asylsuchenden, wie Sie es hier darzustellen versuchen.
({9})
Sie dient vielmehr der Beschleunigung des Asylverfahrens und entlastet zeitgleich die Kommunen.
Mit der von Ihnen geforderten Aufhebung der Residenzpflicht würden Sie nicht nur die ohnehin schon angespannte Lage in den Unterkünften vor Ort in den
Kommunen verschärfen, sondern auch die dringend benötigte Verkürzung des Asylverfahrens beeinträchtigen.
({10})
Im Gegenteil: Sie würden sogar die Aufnahme verlangsamen. Denn eine problemlose Erreichbarkeit ist Grundvoraussetzung für ein zügiges und effektives Verfahren.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass wir im
Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach
dem SGB II von den Leistungsempfängern fordern, dass
sie erreichbar sind. Nichts anderes kann daher nach meiner Meinung auch für Asylsuchende gelten.
({11})
Zudem wurde die Residenzpflicht in der Vergangenheit bereits an verschiedenen Stellen - der Kollege Wolff
hat schon darauf hingewiesen -, zum Beispiel in den Bereichen Beschäftigung, Ausbildung und Schulbesuch,
gelockert. Meine sehr geehrten Damen und Herren von
den Linken und den Grünen, Sie sollten daher bei Ihren
Anträgen die Realität nicht aus den Augen verlieren und
kein Szenario an die Wand malen, das überhaupt nicht
existiert.
Der Antrag der SPD, der eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vorsieht, enthält sicherlich das
eine oder andere Erwägenswerte, insbesondere zu Bildung bzw. frühkindlicher Bildung und zu Sprachkursen.
Das sollten wir uns genau anschauen, um zu sehen, wie
wir Verbesserungen insbesondere für die bei uns lebenden Asylbewerberkinder erreichen können. Denn es soll
kein Nachteil sein, wenn ein Asylbewerberkind bei uns
Deutsch lernt - selbst in dem Fall, dass seine Eltern abgeschoben werden und es wieder in sein Herkunftsland
zurück muss.
Im Bereich Bildung bin ich also gerne gesprächsoffen,
({12})
im Übrigen auch bei den Gutscheinen und bei Gutscheinlösungen, die in die Zuständigkeit der Länder fallen. Auch da ist schon einiges passiert.
Im Übrigen - Sie haben vorhin danach gefragt, Frau
Ferner - arbeitet die Bundesregierung derzeit mit Hochdruck an einem Gesetzentwurf,
({13})
um die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, auf die
Sie schwerpunktmäßig Ihren Antrag stützen, zügig umzusetzen und für den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes eine Neuregelung zu treffen.
Die Diskussion wird mit großer Aufmerksamkeit von
unserer Bundesarbeitsministerin verfolgt.
({14})
Sie sieht den dringenden Handlungsbedarf natürlich
auch, liebe Frau Ferner. Wir werden das in der von der
christlich-liberalen Koalition gewohnten Zügigkeit und
Gründlichkeit - auch hier geht Gründlichkeit vor
Schnelligkeit - auf den Weg bringen
({15})
und ein ordentliches Asylbewerberleistungsgesetz hinbekommen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Spätestens nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen im Frühjahr 2010 hätte es der
Bundesregierung klar sein müssen, dass auch das Asylbewerberleistungsgesetz einer Überprüfung durch das
Verfassungsgericht nicht standhalten wird.
({0})
Dafür, Frau von der Leyen, brauchte man keine Hellseherin zu sein. Sie haben bisher aber nichts getan,
nichts nach dem Verfassungsgerichtsurteil von 2010,
nichts bis zum Verfassungsgerichtsurteil 2012 und auch
danach nichts.
Das Verfassungsgericht hat offenbar eine Ahnung von
der Geschwindigkeit und dem - wie sagten Sie, Herr
Lehrieder? - Hochdruck, mit dem diese Bundesregierung arbeitet. Denn es hat vorsorglich verfügt, dass es
Übergangsregelungen gibt, und klar Recht angeordnet,
weil es weiß, dass die christlich-liberale Bundesregierung es nicht so eilig hat, wenn es um die Achtung der
Menschenwürde geht.
({1})
Wir haben vom Verfassungsgericht eine klare Regelung vorgegeben bekommen. Alle Leistungsberechtigten, die bisher Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsrecht bekommen haben, erhalten jetzt Leistungen
nach dem SGB II bzw. nach dem SGB XII. Das Verfassungsgericht hat sogar für die nicht rechtskräftigen Bescheide eine Rückwirkung zum Januar 2011 verfügt. Das
ist einmalig. Frau von der Leyen, so etwas kann man nur
als ordentliche Klatsche bezeichnen.
({2})
Auch die Leitsätze des Verfassungsgerichts lassen an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Würde des
Menschen ist nicht nur unantastbar; sie ist auch nicht
teilbar, weder nach Nationalitäten, weder nach Aufenthaltsstatus noch nach Dauer des Aufenthaltes. Die Höhe
des menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht
evident unzureichend sein und muss realitätsgerecht in
einem transparenten und sachgerechten Verfahren bestimmt werden. Da Sie damit schon bei der Festsetzung
der Regelsätze nach dem SGB II Probleme hatten, frage
ich mich, wie Sie ein Verfahren für nur 150 000 Leistungsberechtigte hinbekommen wollen. Da sind wir gespannt.
Wichtig ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht
gesagt hat: Wenn für unterschiedliche Personengruppen
unterschiedliche Methoden für die Feststellung des Bedarfs angewandt werden, muss dies sachlich begründet
sein. Das Existenzniveau muss sich an den hiesigen Lebensverhältnissen orientieren und nicht an denen des
Herkunftslandes. Das Verfassungsgericht sagt weiter:
Das menschenwürdige Existenzminimum
umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur
Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein
Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Leben.
Das sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes einheitlich zu sichernde Bedarfe.
Das Ob und das Wie der Festsetzung eines geringeren
Bedarfs bei existenznotwendigen Leistungen für Menschen mit einem vorübergehenden Aufenthaltsrecht in
Deutschland hängt allein davon ab, ob wegen eines kurzfristigen Aufenthaltes konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfeempfängern und Personen mit dauerhaftem
Aufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden können. Das Verfassungsgericht sagt auch
ganz klar, dass diese Minderbedarfe dann nicht mehr gerechtfertigt sind, wenn der tatsächliche Aufenthalt länger
dauert. Wie lange die Aufenthaltsdauer ist, wissen Sie
besser als ich. Insofern braucht man diesen klaren Ansagen des Bundesverfassungsgerichtes nichts hinzuzufügen.
Man fragt sich natürlich: Warum handelt diese Regierung nicht? Warum verstecken Sie sich hinter Nichtstun?
Es ist wahrscheinlich wie immer, dass sich die schwarzgelbe Koalition nicht auf eine gemeinsame Position verständigen kann. Dann ist es Ihnen auch relativ egal, ob
das Grundgesetz und die Grundrechte damit mit Füßen
getreten werden.
({3})
Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde - Herr
Lehrieder, das ist richtig - 1993 im Rahmen der Reform
der Asylgesetzgebung eingeführt - auch mit unseren
Stimmen; mit meiner persönlichen nicht, aber die Mehrheit meiner Fraktion hat damals zugestimmt. Allerdings
ist es auch richtig, dass der von der Union und der FDP
damals eingebrachte Gesetzentwurf zunächst einen unbefristeten Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehen hat und es auf unsere Intervention zunächst auf zwölf Monate begrenzt wurde.
Dann haben 1997 CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD-Bundestagsfraktion beschlossen, dass der
Betroffenenkreis ausgeweitet wird und dass die für eine
Dauer von drei Jahren eingeführte Kürzung der Sachleistungen und die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sogar unbefristet vorgenommen werden können.
2007 - da waren wir leider auch mit dabei - ist diese Regelung auf Ihren Wunsch von 36 auf 48 Monate ausgeweitet worden. Wir haben nur deshalb mitgemacht, weil
im Gegenzug Verbesserungen bei Altfallregelungen und
der Erteilung von Arbeitserlaubnissen erzielt wurden.
Ich bin froh, dass das Bundesverfassungsgericht die
Leitplanken in diesem Jahr ganz klar beschrieben hat.
Ich bin auch froh, dass es künftig nicht mehr möglich ist,
die Bezugsdauer der Verfahrensdauer anzupassen und
eine Sozialleistung, die das Existenzminimum absichert,
nahezu 20 Jahre unangepasst zu lassen.
({4})
Wir haben in unserem Antrag die Vorgaben des Verfassungsgerichtes aufgegriffen. Wir fordern die Bundesregierung auf, dass die Leistungen nach den Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichtes neu ermittelt werden.
Wir warten auf die Vorlagen. Wir fordern, dass Kinder
bis zur Volljährigkeit aus dem reduzierten Leistungsbezug auszunehmen sind. Die Kinder können am wenigsten dazu, dass sich ihre Eltern, aus welchen Gründen
auch immer, auf die Reise in ein fremdes Land gemacht
haben.
({5})
Wir wollen, dass alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Rechtsanspruch auf die Bedarfe
von Bildung und Teilhabe bekommen. Ich finde - Herr
Lehrieder hat das ja schon angedeutet, und ich hoffe,
dass das auch eine Mehrheitsmeinung in Ihrer Fraktion
ist -, dass zumindest für Kinder und Jugendliche das
Gebot der christlichen Nächstenliebe ausreichen sollte,
um ihnen eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu
gewähren.
({6})
Wir wollen die medizinische Versorgung sicherstellen
- das betrifft auch die psychologische Behandlung von
durch Vergewaltigung oder durch schwere Gewalttaten
traumatisierten Flüchtlingen -, und wir wollen den Kreis
- Frau Kollegin Hiller-Ohm hat das eben gesagt - der
Leistungsempfänger auf den ursprünglichen Kreis derjenigen, die um Asyl nachsuchen, eingrenzen und
beschränken. Außerdem wollen wir die Unterbringung
in Gemeinschaftsunterkünften nicht mehr zur Regel,
sondern zur Ausnahme machen. Schließlich wollen wir
den Arbeitsmarktzugang erleichtern, weil es in der Tat
besser ist, dass sich die Menschen durch ihrer Hände
Arbeit ernähren können statt durch eine soziale Transferleistung.
({7})
Im Übrigen, Frau von der Leyen, wollen wir auch die
Bezugsdauer auf zwölf Monate begrenzen.
Ich finde, es ist ziemlich peinlich, dass alle Oppositionsfraktionen eigene Vorschläge machen, während sich
die Regierung mal wieder in die Büsche schlägt. Ich
kann Ihnen nur zurufen: Wenn Sie nicht regieren
können, dann hören Sie einfach auf, so zu tun, als wenn
Sie regieren würden. Lassen Sie es bleiben. Ab dem
Herbst nächsten Jahres wird das sowieso nicht mehr der
Fall sein.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden am heutigen Vormittag in der Kernzeitdebatte über
das Asylbewerberleistungsgesetz.
({0})
Ich glaube, dies ist eine gute Gelegenheit, noch einmal
dankbar festzustellen, dass wir alle, die wir hier sitzen,
in einer Zeit leben, in der es glücklicherweise keine
Gründe gibt, ins Ausland zu gehen, um Asyl zu beantragen, weil es politische Verfolgung, rassische Verfolgung
oder religiöse Verfolgung in Deutschland gäbe.
({1})
Das sollte uns alle verbinden, und dafür sollten wir
dankbar sein. Das war nicht immer so in Deutschland.
Ich glaube, wir sind auch dankbar für jeden Einzelnen, der aus Deutschland hat fliehen müssen und der in
einem anderen Land Aufnahme gefunden hat.
({2})
Deshalb ist das Asylbewerberleistungsrecht ein sensibles
Thema. Es eignet sich auch nicht für pauschale Vorwürfe, vereinfachte Betrachtungen oder parteipolitische
Profilierung,
({3})
auch deshalb nicht, Frau Ferner, weil Sie ebenso wie wir
alle - mit Ausnahme der Linken, die glücklicherweise
noch nie Gestaltungsmöglichkeiten auf Bundesebene
hatten - an der Gesetzgebung, so wie sie gegenwärtig
vorliegt, aktiv beteiligt waren und wir alle den jetzigen
Zustand zu verantworten haben.
({4})
Zur Wahrheit, liebe Frau Ferner und liebe Grüne, gehört doch auch, dass es diese Bundesarbeitsministerin
Frau Dr. Ursula von der Leyen war, die mit Unterstützung dieser Regierungskoalition schon vor dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts aktiv auf die Länder
zugegangen ist,
({5})
um mit ihnen eine Neuordnung des Asylbewerberleistungsgesetzes auf den Weg zu bringen.
({6})
Es ist ein Ausweis von Fairness dieser Bundesarbeitsministerin und dieser Regierungskoalition, dass wir das
Gespräch mit den Ländern vorab gesucht haben; denn es
ist ja beim Asylbewerberleistungsgesetz so: Der Bund
beschließt, die Kommunen zahlen. Es ist ein Ausweis
von Fairness, das Gespräch mit den Ländern zu suchen,
um gemeinsam zu einer Regelung zu kommen.
({7})
Mir ist nicht zu Ohren gekommen, Frau Ferner, dass
ausgerechnet die Roten und die Grünen in den Ländern,
in denen sie Verantwortung tragen, versucht hätten, die
Gespräche durch konstruktives Mitwirken an Geschwindigkeit zu befördern und einer Lösung zuzuführen.
({8})
Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, und
wir als Regierungskoalition haben klargestellt, dass wir
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeitnah umsetzen werden.
({9})
Frau Ferner, der Unterschied zwischen dieser Regierungskoalition mit dieser Bundesarbeitsministerin und
Vorgängerregierungen ist allerdings, dass wir die Dinge
gründlich tun.
({10})
Gerade wenn es um Verfassungsgerichtsurteile und verfassungsrelevante Fragen geht, ist es notwendig, dass
man intensiv darüber berät
({11})
und eine Lösung zustande bringt, die nicht wenige
Wochen oder Monate später wieder vom Bundesverfassungsgericht kassiert wird.
({12})
Sie, liebe Frau Ferner, erinnern sich doch ganz besonders gut an die Debatte um das Arbeitslosengeld II.
Auch dazu gab es ein Bundesverfassungsgerichtsurteil,
und auch damals haben Sie immer auf Geschwindigkeit
gedrängt.
({13})
Wir haben gesagt: Hierüber muss man lange und klug
beraten, damit man kein Risiko eingeht und dem Willen
des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird.
Tatsache ist, dass bisher noch kein Gericht in
Deutschland die Lösung, die wir gefunden haben, kritisiert hat. Diese Lösung wurde allerseits begrüßt. Auch
das ist Zeichen einer guten Regierungspolitik - wie diese
Regierungskoalition sie zu leisten in der Lage ist -, nämlich dass wir uns ausreichend Zeit nehmen, dann aber
auch zu substanziellen Lösungen kommen, die Bestand
haben.
({14})
Klar ist - wir sind dem Bundesverfassungsgericht
dankbar, dass es das klargestellt hat -, dass das Asylrecht
ein Grundrecht ist und nicht durch migrationspolitische
Erwägungen relativiert werden darf. Das war auch nie
die Absicht dieser Bundesregierung. Dem werden wir
uns selbstverständlich verpflichtet fühlen.
Wir werden in Kürze Regelsätze zu Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz vorlegen, die transparent und nachvollziehbar berechnet sind und die jeder
Debatte und jeder Diskussion standhalten werden. Diese
Regelsätze werden hier beraten werden. Sie werden
sehen, dass das, was wir Ihnen vorlegen werden, in der
Sache überzeugend sein wird.
({15})
Wichtig ist aber auch - auch dazu bekennt sich diese
Bundesregierung -, dass die Gewährung von Asyl immer nur die zweite Wahl ist, wenn Sie so wollen.
Entscheidend ist vielmehr, dass wir die Situation der
Menschen in ihren Heimatländern so gut wie möglich
verbessern.
({16})
Auch da hat diese Bundesregierung mit Außenminister
Guido Westerwelle und Bundesentwicklungsminister
Dirk Niebel entscheidende Wegmarken gesetzt. Sie hat
die Entwicklungszusammenarbeit gerade unter
Menschenrechtsgesichtspunkten neu gestaltet und neu
ausgerichtet
({17})
und ist in einer Weise für die Menschenrechte in dieser
Welt verantwortlich tätig, wie es bisher jedenfalls nicht
der Fall war.
({18})
Wir werden im Zuge der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes auch über den Arbeitsmarktzugang
sprechen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass auf der europäischen Ebene eine Frist von neun Monaten im Grunde
schon konsentiert ist. Wir nehmen zur Kenntnis, dass die
Staatsministerin Frau Böhmer sich auch eine kürzere
Frist beim Arbeitsmarktzugang vorstellen kann. Wir
werden das in der Koalition diskutieren und dann eine
Lösung vorschlagen, die allen Beteiligten gerecht wird.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir sind
hier auf einem guten Weg, so wie es diese Bundesregierung in allen politischen Fragen ist.
({20})
Wir werden diese Regierungskoalition in Ruhe und mit
der notwendigen Sachlichkeit zu Ende bringen und ab
September auch wieder die Regierung stellen und die
gute Arbeit fortsetzen.
({21})
- Lieber Herr Trittin, dass Sie sich jetzt plötzlich zu
Wort melden, zeigt doch, dass Sie nervös werden. Das
freut mich. Wir machen eine gute Politik, Herr Trittin.
({22})
Sie werden noch länger von der Opposition aus zuschauen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was wir hier von den Rednern der Regierungsfraktionen
hören, offenbart ein wirklich historisches Ausmaß von
Verletzungen von Rechtstreue und von Ignoranz gegenüber dem Bundesverfassungsgericht.
({0})
Dieses Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz ist
von einer Klarheit, wie man sie nur selten antreffen
kann.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Die Leistungen sind evident unzureichend. Es hat sofortigen Handlungsbedarf angemeldet. Das Bundesverfassungsgericht
hat eindeutig klargestellt, dass die Grundaussage unserer
Verfassung: „Die Menschenwürde ist unantastbar“ für
den gesamten Geltungsbereich des Grundgesetzes gilt.
Das ist die entscheidende Rechtsgrundlage.
({2})
Dass Sie, Herr Lehrieder, hier wiederum mit dem
Asylrecht aus Art. 16 Grundgesetz als Grundsatz argumentieren, dass die Zwischenrufe von den Innenpolitikern der Union - ich habe sie gehört - einfach ignorieren, dass migrationspolitische Gründe für die
Bemessung des Existenzminimums keine Grundlage
sein dürfen - es ist wirklich unerhört, wie Sie mit der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umgehen.
({3})
Natürlich sind unsere Länder tätig geworden. Die rotgrün regierten Länder haben einen Antrag zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes in den Bundesrat eingebracht. Daraus kann man Sätze zitieren, denen
eigentlich nichts hinzuzufügen ist - ein entsprechender
Entschließungsantrag wird nachher zur namentlichen
Abstimmung stehen -:
Auch wenn sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts … in erster Linie zur Verfassungsgemäßheit der Höhe der Grundleistungssätze geäußert hat,
lassen die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts
nur den Schluss zu, dass die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes überfällig ist …
Vorher heißt es:
Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung
außerhalb der Sozialgesetzbücher für Leistungen an
Asylbewerber … besteht nicht mehr.
Wir reden hier nicht nur über Asylbewerber, die Bürgerkriegsflüchtlinge sind. Wir reden über Geduldete, bei
denen es handfeste Abschiebehindernisse gibt. Wir
reden über einen großen Kreis von Personen, deren
Menschenwürde Sie durch das fortgesetzte Ignorieren
des Verfassungsgerichtsurteils herabsetzen.
({4})
Über eine Sache müssen wir hier noch einmal reden;
ich kann Ihnen diesen wichtigen Punkt nicht ersparen:
Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen, haben keinen Zugang zu unserem Gesundheitssystem. Nur bei akuten Erkrankungen
und Schmerzzuständen gibt es Hilfe. Konkret heißt das:
keine Prävention, keine Untersuchungen; es muss schon
so schlimm sein, dass ein Krankenwagen kommt. Dann
erst gibt es Hilfe.
({5})
Überlegen Sie einmal, welche Situationen in Ihrem
Leben bei einer solchen medizinischen Versorgung ganz
anders hätten ausgehen können.
({6})
Vielleicht hätten dann einige gute Chancen, diese
Debatte aus dem Jenseits zu betrachten.
({7})
Besonders unmenschlich ist, dass die Bundesregierung die sogenannte EU-Aufnahmerichtlinie bewusst
nicht umsetzt. Auch deshalb wird von physischer,
psychischer oder sexueller Gewalt Betroffenen kein
Therapieanspruch garantiert; es soll ihn nur geben. Die
Menschen sind also auf den guten Willen angewiesen.
Knapp 20 Jahre nach Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes ist es Zeit, einen Schlussstrich zu
ziehen, Schluss zu machen mit einem Gesetz, das
Menschen ausgrenzt.
({8})
Auch Sie von den Sozialdemokraten haben die Chance,
dem Entschließungsantrag zuzustimmen, der den Text
der rot-grünen Landesregierungen eins zu eins wiedergibt.
({9})
Ich kann tatsächlich nicht verstehen, warum Sie das
nicht machen wollen; das ist mir wirklich unerklärlich.
Wir haben uns seit Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes für eine Änderung eingesetzt. Wir
standen in bestimmten Situationen, auch zu der Zeit, als
wir regiert haben, gegen eine komplette gesellschaftliche
Mehrheit. Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten während
der rot-grünen Regierungszeit nichts gemacht - ({10})
- Herr Wolff, Sie wissen, wie die Bundesratsmehrheiten
waren. Sie haben überhaupt nichts unternommen, und
jetzt stellen Sie sich hier hin und machen wohlfeile Vorwürfe. Das ist unredlich und schäbig.
({11})
Ich sage Ihnen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Berücksichtigen Sie das!
({12})
Das Wort hat nun Hans-Peter Uhl für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Das linke Lager hier im Hause fordert mit lautem Gebrüll: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss
weg.
({0})
Das war sehr eindrucksvoll.
Vielleicht ist es gut, dass es in diesem Parlament einige gibt, die sich noch daran erinnern können, wie dieses Gesetz entstanden ist,
({1})
ungetrübt und nicht von einem etwas selektiven Wahrnehmungsvermögen geprägt wie bei Frau Marieluise
Beck; sie kann sich nur noch an einen Teil erinnern.
({2})
Ich erinnere mich deswegen sehr genau, weil ich in den
90er-Jahren für die Unterbringung von Zehntausenden
Asylbewerbern in München verantwortlich war. Ich
weiß noch, wie der SPD-Oberbürgermeister Kronawitter
und ich beieinandersaßen und gerätselt haben: Wie
schaffen wir es, dass es zu einer Grundgesetzänderung
und zur Schaffung des damit zusammenhängenden Asylbewerberleistungsgesetzes kommt?
({3})
Wir, ein vernünftiger SPD-Oberbürgermeister und ich,
wir von der CSU waren uns einig. Erst als es ihm gelang,
meine Damen und Herren von der SPD - Frau Ferner
kann sich daran erinnern; das habe ich gerade bei ihrer
Rede gemerkt -, dass Oberbürgermeister aus den RheinRuhr-Städten mit ihm zusammen an einem Strang zogen
und gesagt haben: „So kann es mit dem ungelösten
Problem des zehntausendfachen Asylmissbrauchs nicht
weitergehen; die Republikaner sind in den Landesparlamenten erstarkt; so kann es nicht weitergehen; wir arbeiten ja den Rechtsradikalen zu“, erst als der vernünftige
Teil der SPD das erkannt hat, kam es zum Asylbewerberleistungsgesetz, und das wollen Sie abschaffen.
({4})
Ich möchte nicht das Geschäft der Rechtsradikalen
betreiben.
({5})
Ich bedanke mich bei Frau Ferner, dass sie an die Genesis dieses Gesetzes erinnert hat. Die Grünen fordern:
Wer diskriminiert wird auf dieser Welt, muss nach
Deutschland kommen dürfen - das hat Frau Künast hier
gesagt -, und das - nach Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes - mit Anspruch auf die volle Sozialhilfe. Es wäre gut, Sie würden den Wählern mitteilen, was sie bekommen, wenn sie Grün wählen.
({6})
Die Residenzpflicht ist von uns gesetzlich geändert
und in die Obhut der Länder gelegt worden. Auch in diesem Zusammenhang ist es gut, mit der Heuchelei aufzuhören und die Dinge beim Namen zu nennen. Die Residenzpflicht ist gelockert worden. Das heißt, die Länder
können mit ihren Nachbarländern Abkommen darüber
schließen, dass ein Asylbewerber ins Nachbarland gehen
kann.
({7})
- Das tun sie auch. - Aber als Brandenburg den Antrag
stellte, dass Brandenburger Asylbewerber auch nach
Berlin gehen können, hat Herr Wowereit darauf mit einem schroffen Nein geantwortet.
({8})
So viel zum Thema Heuchelei.
({9})
Als Niedersachsen beim Hamburger Bürgermeister Olaf
Scholz angeklopft hat: „Dürfen unsere Asylbewerber angesichts der Lockerung der Residenzpflicht auch in die
Nachbargroßstadt Hamburg kommen?“, hat Herr Scholz
darauf mit einem schroffen Nein geantwortet. So viel
zum Thema Heuchelei.
({10})
Auch der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt ab dem
ersten Tag, ab Ankunft in Deutschland, wird im linken
Lager diskutiert. Es gibt Menschen, die sich Sorgen um
unsere Arbeitslosen machen, die sich freuen, dass es
nach neuesten Zahlen nur noch 2,7 Millionen sind. Aber
auch das ist zu viel. Wir haben eine Schutzfunktion gegenüber unseren Arbeitslosen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Billiglöhner aus aller Herren Länder zu uns
kommen, um hier zu arbeiten.
({11})
Die Gemeinschaftsunterkunft ist eine vernünftige
Einrichtung, und zwar deswegen, weil bei einem Asylverfahren nicht klar ist, ob der Bewerber bleiben kann
oder nicht. Die derzeitigen Zahlen besagen, dass 99 Prozent der Ankommenden aus Mazedonien oder Serbien
nicht bleiben dürfen. Deswegen ist es wichtig, dass sie
sich in der Gemeinschaftsunterkunft aufhalten, nicht untertauchen können und von der Verwaltung dort sofort
angetroffen werden können, um ausgewiesen zu werden.
({12})
Das ist der Sinn der Gemeinschaftsunterkunft. Diese Regelung ist vernünftig.
Auf das Thema Sachleistungen wird sicher noch eingegangen.
Ich meine, wir sollten das Asylbewerberleistungsgesetz nicht abschaffen. Wir sollten klarmachen, dass jeder
Rechtsstaat Ausländergesetze hat und zwischen Inländern und Ausländern unterscheidet. Er regelt, wer aus
dem Ausland ins Land kommen darf und wer aus dem
Ausland bei uns bleiben darf. Die Ausnahme von dieser
Regel ist das Asylrecht; denn der zivilisierte Rechtsstaat,
der die Menschenwürde achtet, sagt: Wer politisch, rassisch oder religiös verfolgt ist, der darf ausnahmsweise
kommen und bleiben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Frau Kollegin Bulling-Schröter?
Ja, von mir aus.
Sie haben die Formulierung gehört. Das hat übersetzt
ein Ja bedeutet.
({0})
Ein lustloses Ja.
Danke schön, Herr Uhl. - Sie haben gesagt: Wir wollen unsere Jugendlichen vor den Billiglöhnern aus dem
Ausland schützen. Ich habe genau zugehört, und ich
kann auch bayerisch.
({0})
Ich glaube, wir alle wollen Jugendliche vor Billiglohn
schützen; im Übrigen möchte ich auch Ältere davor
schützen. Ich frage Sie daher: Wieso führen wir dann
nicht gemeinsam einen Mindestlohn oder zumindest eine
Mindestlohnuntergrenze ein?
({1})
Sie wissen genauso gut wie ich, dass sich Menschen,
die illegal bei uns arbeiten, nicht wehren können. Sie haben keine Chance. Es gibt immer mehr davon. Auch in
der Oberpfalz gibt es viele Vorfälle mit ausländischen
Firmen, zum Beispiel aus Ungarn, die Menschen dazu
bringen, für 3,50 Euro zu arbeiten. Das ist den Behörden
bekannt; sie tun aber nichts dagegen. Warum gehen Sie
nicht auch gegen solche Dinge vor, wenn Sie so viel kritisieren?
({2})
Wenn ich gewusst hätte, dass Sie diese alte, etwas abgegriffene Schallplatte vom flächendeckenden Mindestlohn bringen, hätte ich die Frage natürlich nicht zugelassen.
({0})
Ein flächendeckender Mindestlohn ist mit Sicherheit
nicht die Lösung unserer Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Im Einzelfall können Mindestlöhne sinnvoll sein.
Ein flächendeckender Mindestlohn, den Sie fordern, ist
aber nicht die Lösung.
Im Übrigen wissen wir doch genau, wie die Dinge
laufen, Frau Kollegin. - Wenn Sie bitte stehen bleiben,
dann kann ich kurz auf den Irrglauben, dass der Mindestlohn das Allheilmittel ist, eingehen. - Die Wirklichkeit
sieht doch ganz anders aus: Wir haben einen ständig
wachsenden Schwarzarbeitsmarkt, auf dem eine Vielzahl von Menschen, die unqualifiziert oder schlecht qualifiziert sind, unangemeldet arbeitet. Da können Sie mit
Ihren Mindestlohnregeln überhaupt nichts erreichen.
({1})
Man muss vielmehr dafür sorgen, dass auf den Großbaustellen eine bessere Überwachung stattfindet. Selbst im
Bereich der öffentlichen Hand wird mit Schwarzarbei25672
tern gearbeitet. Dieses Problem müssen wir angehen,
aber nicht mit Ihrem Mindestlohn; denn der würde im
Grunde nur auf dem Papier existieren. Das ist nicht das
Thema.
({2})
Ich glaube, wir sollten uns daran erinnern, dass es Zeiten gab, in denen wir nicht nur annähernd 100 000 Asylbewerber hatten - in diesem Jahr werden wir wohl annähernd so viele Asylbewerber haben -, sondern über
400 000 Asylbewerber.
({3})
Wir sollten uns daran erinnern, dass wir aus diesem
Grund das Grundgesetz geändert haben. Aus diesem
Grund haben wir auch dieses Gesetz geschaffen. Das
Gesetz war segensreich für Deutschland, es war segensreich für den sozialen Frieden, und es hat uns von SPD,
CDU/CSU und FDP den Rechtsextremismus gemeinsam
bekämpfen lassen. Deshalb sollten wir daran festhalten.
({4})
Vielen Dank, Kollege Hans-Peter Uhl. - Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Rüdiger Veit. Bitte schön, Kollege Rüdiger Veit.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal will ich eine Sache klarstellen: Der Kollege Dr. Uhl hat von den vernünftigen SPD-Kommunalpolitikern gesprochen. Er meinte damit diejenigen, die
für den Asylkompromiss gewesen sind. Im Sinne Ihrer
Definition war ich damals ein unvernünftiger Kommunalpolitiker,
({0})
weil ich dafür Sorge getragen haben, dass sich der SPDLandesparteitag in Baunatal gegen den Asylkompromiss
ausgesprochen hat.
({1})
Zu der praktischen Seite kommen wir nachher, Herr
Grindel.
Man langweilt sich ja schon fast selber, wenn man Ihnen hier immer das Gleiche erzählen muss.
({2})
Ich habe aber gehört, dass die Pädagogik es als ganz
wichtiges Element der Vertiefung ansieht, den Lernstoff
zu wiederholen.
({3})
Auch wenn ich kein Pädagoge bin, muss ich das einmal
mehr tun und Ihnen zur Residenzpflicht Folgendes sagen: Am letzten Mittwoch haben wir Parlamentarier ein
Gespräch mit etwa 40 Sachbearbeitern und Leitern von
Ausländerbehörden geführt; das war kurz nach dem Gespräch mit den Flüchtlingen. Ihre erste Frage lautete:
Wann schafft ihr endlich die Residenzpflicht ab?
({4})
Warum sie das gefragt haben? Das haben sie uns gleich
gesagt: Sie sehen es in der Praxis als unnötigen Verwaltungsaufwand an, jede Entfernung eines zur Residenzpflicht verpflichteten Ausländers aus dem Zuständigkeitsbereich ihrer Ausländerbehörde extra genehmigen
zu müssen. Die Praktiker haben das abgelehnt, weil das
umständlich und zu teuer ist.
({5})
Das sehen offenbar auch einige Bundesländer so - das
ist hier vielleicht noch nicht bekannt -: Von den 16 Bundesländern haben mittlerweile 10 die Residenzpflicht abgeschafft bzw. innerhalb des jeweiligen Bundeslandes
gelockert. Herr Kollege Grindel, Ihnen sage ich mit besonderer Bitte um Aufmerksamkeit: Ihr Bundesland Niedersachsen, bekanntlich nicht von Rot-Grün regiert, hat
diese Änderung zum 30. Januar 2012 beschlossen. Es
hat gesagt: Die Betreffenden dürfen sich im gesamten
Land aufhalten. - Letzte Woche Mittwoch hat sogar
Hessen beschlossen - das ist eines der zehn Länder -,
die Residenzpflicht von den Regierungsbezirken auf das
ganze Land auszudehnen.
Einige Ausführungen muss ich bei dieser Gelegenheit
noch einmal richtigstellen, obwohl das, wie gesagt, langsam mühsam ist. Viele von Ihnen verwechseln die Frage
der Wohnsitznahme mit der Residenzpflicht.
({6})
- Natürlich kann man das trennen, Herr Kollege Grindel.
Das offenbart Ihre Sachunkenntnis. - Wenn ich Menschen eine Wohnung in einem bestimmten Bundesland,
in einem bestimmten Kreis, in einer bestimmten Gemeinde zuweise, dann ist das das eine. Dort ist dann die
ladungsfähige Anschrift, dorthin kann ich Bescheide zustellen. Gleichzeitig aber zu sagen: „Ihr dürft niemals
diesen Landkreis oder diese kreisfreie Stadt verlassen,
egal aus welchem Grund“, ist das andere. Das ist unnötig, und das ist Schikane.
({7})
Ich will noch einige Worte zum Asylbewerberleistungsgesetz verlieren. Wir können dem Antrag der Grünen leider deshalb nicht zustimmen, weil wir eine Modifikation des Gesetzes vorschlagen, mit der aber möglich
bleibt, dass die Betreffenden in den ersten sechs Wochen
bis maximal drei Monaten in Gemeinschaftsunterkünften bleiben. Wir tun das nicht aus Schikane, sondern
weil wir glauben, dass es für Menschen dann, wenn sie
aus einem völlig anderen Kulturkreis kommen, besser
ist, sich zunächst einmal unter zeitnaher und räumlich
enger Beratung und Anleitung zu orientieren.
({8})
Im Übrigen erleichtert dies die spätere Verteilung auf
normale Wohnquartiere. - Damit das klar ist: Wir haben
einen eigenen Gesetzentwurf. Deshalb stimmen wir Ihrem Antrag nicht zu.
({9})
Herr Tauber, wir sind aber ganz klar dagegen, dass
Menschen ausgebeutet werden. Gestern waren wir mit
einer Delegation aus unserer Fraktion in Neukölln. Wissen Sie, was wir dort zum Thema Ausbeutung gehört
haben? Dort gibt es jemanden, der in Neukölln in erheblichem Umfang Häuser erworben hat, um sie vorzugsweise an Roma zu vermieten und einen maßlosen Profit
zu erzielen.
({10})
- Der Kollege Grindel sagt Ja. Vorsicht! Ich komme
noch dazu, wer das war. - Der Betreffende vermietet sozusagen Matratzen für teures Geld. Zum Thema „Wahrhaftigkeit und Heuchelei“ will ich Ihnen jetzt sagen, wer
das ist. Der Mann heißt Thilo Peter. Er war CDU-Verordneter in der Bezirksversammlung Charlottenburg, bis
er dieses Mandat unter dem öffentlichen Druck, sich an
Flüchtlingen bereichern zu wollen, niedergelegt hat.
({11})
So viel zu den Fingern der eigenen Hand, die auf einen
selbst zeigen.
({12})
- Nein, Sie werden nicht alle solche Mietshäuser haben.
Das macht aber deutlich, in welcher Weise das Schicksal
von Flüchtlingen ausgebeutet werden kann.
Herr Grindel, zum Thema Sachleistungen will ich Ihnen noch einen anderen Widerspruch vorhalten. Laut
Verlautbarungen der Passauer Neuen Presse vom
23. November hat es den bayerischen Innenminister,
Herrn Herrmann, umgetrieben. Er hat gesagt: Asylbewerbern Geldleistungen zu gewähren, wäre wie Benzin
ins Feuer gießen. Die Abschaffung oder Modifikation
des Asylbewerberleistungsgesetzes wäre politischer
Wahnsinn. - Ich frage Sie: Wer hat das verfasst? Das waren doch keine Wahnsinnigen. Das ist die Koalitionsvereinbarung von FDP und CDU/CSU.
({13})
Da steht sinnvollerweise:
Das Asylbewerberleistungsgesetz werden wir im
Hinblick auf das Sachleistungsprinzip evaluieren.
Das ist eine gute Idee. Machen Sie das! Sie werden zu
den gleichen Ergebnissen kommen wie wir.
({14})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf einen
Gesichtspunkt muss ich aufgrund eigener Erfahrungen
aus der Zeit Anfang der 90er-Jahre, als die drei großen
Migrationswellen Asylbewerber, Spätaussiedler und
Übersiedler aus der vormaligen DDR zu uns ins Land
kamen, hinweisen: Die Unterbringung in Wohnungen
und die Gewährung von Geldleistungen statt Sachleistungen, Gutscheinen und anderem Unsinn, den es da
gab, ist allemal billiger. Diese persönliche Erfahrung
habe ich als Landrat im Haushalt meines Kreises gemacht. Wenn aus Ihren Reihen jetzt der Wunsch kommt,
man möge das beibehalten, die Gemeinschaftsunterkünfte seien gut und richtig und man bräuchte sie in
Bayern zur Abschreckung vielleicht in ganz besonderem
Maße, dann kann ich Ihnen nur sagen: Ich halte es nicht
für verantwortbar, öffentliches Geld vermehrt und überflüssigerweise dafür einzusetzen, um Menschen zu schikanieren. Deshalb gehört dieses Gesetz modifiziert oder
sogar abgeschafft.
({15})
Vielen Dank, Kollege Rüdiger Veit. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Reinhard Grindel. Bitte schön, Kollege Reinhard
Grindel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Künast, Sie haben den Bundesinnenminister wegen seiner Äußerungen zum Asylmissbrauch
durch Roma angegriffen
({0})
und haben gesagt, das seien böse Unterstellungen.
({1})
Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, und
die Wirklichkeit ist, dass von den Asylbewerbern dieses
Jahres, die aus Serbien zu uns gekommen sind, 95 Prozent Roma sind; bei den Bulgaren beträgt der Anteil
85 Prozent. Die Ablehnungsquote liegt bei über 99,5 Prozent. Asylmissbrauch in diesem Bereich ist Realität. Ich
sage Ihnen: Die Integration in Deutschland - das muss
eine der Lehren aus der Debatte sein - gerät in Gefahr,
wenn wir uns durch eine ungesteuerte Zuwanderung zusätzliche Probleme im Bereich der Integration nach
Deutschland holen. Dadurch werden wir auch insgesamt
unserer Verantwortung gegenüber den Ausländern, die
seit Jahren bei uns leben und ein Anrecht auf Integration
haben, nicht gerecht. Das sage ich ganz deutlich.
({2})
Frau Künast, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Natürlich ist das Leben von Roma auf dem Balkan beschwerlich. Deswegen hat die EU sowohl für Rumänien
und Bulgarien als auch für Serbien und Mazedonien Hilfen in Milliardenhöhe zur Verfügung gestellt. Das Problem ist, dass diese Hilfen viel zu zurückhaltend in Anspruch genommen werden. Wir als Union sagen: Hilfe
für die Roma und Sinti ist richtig; aber die Hilfe muss
vor Ort in ihrer Heimat stattfinden. Das können wir nicht
in der Bundesrepublik Deutschland leisten. Das ist der
falsche Weg.
Sie, Frau Kollegin Beck, haben gesagt, die Zugangszahlen der Asylbewerber 1992 beruhten auf der Situation auf dem Balkan. Das ist nicht richtig. Im Jahr 1992
- ich habe mir die Zahlen gerade noch einmal angesehen - kamen 103 000 Asylbewerber aus Rumänien und
31 500 Asylbewerber aus Bulgarien. Fast alle von ihnen
waren Roma. Das viel Wichtigere ist: 1995, nur drei
Jahre später, kamen 3 000 Asylbewerber aus Rumänien
und 1 000 Asylbewerber aus Bulgarien zu uns, obwohl
sich an der politischen Situation in diesen Ländern nichts
ernsthaft geändert hatte. Die Gründe waren die hier
schon angesprochene Grundgesetzänderung
({3})
und ein Rückführungsabkommen mit Rumänien. Kürzere Verfahren haben geholfen. Es hatte sich vor Ort herumgesprochen, dass es nichts bringt, Schleppern und
Schleusern Geld zu geben, weil man sich nur wenige
Wochen in Deutschland aufhalten kann. Das muss die
Lehre für die aktuelle Debatte sein. Mich besorgt der Zustrom von Asylbewerbern aus Serbien und Mazedonien.
Wir brauchen kurze Verfahren. Es muss sich in der Heimat herumsprechen, dass es keinen Sinn macht, Schleppern und Schleusern das Geld in den Rachen zu werfen;
({4})
denn man kann nicht lange in Deutschland bleiben. Das
ist die richtige Reaktion.
Nun will ich Ihnen eines sagen: Frau Jelpke hat hier
im Zusammenhang mit der Diskussion über das Sachleistungsprinzip die Kinder angesprochen. Bei dem
Thema können wir gerne einmal bleiben und uns die
Frage stellen, wie es denn den Kindern aus diesen Familien, die zu uns kommen, geht. Seien wir ehrlich: Wir
brauchen nur einmal in die Großstädte in unserem Land
zu schauen. Dort sehen wir, wie die Kinder - das haben
Journalisten recherchiert - zum Teil vollgepumpt mit
Psychopharmaka ihr Dasein fristen. Das Sachleistungsprinzip wollen auch wir; denn es sichert, dass die ganze
Familie versorgt wird. Die Sozialleistung, Frau Jelpke,
ist nicht nur für Väter und Schleuser. Wir müssen alle,
die in unserem Land sind, anständig versorgen. Das ist
Menschenwürde.
({5})
Das schließt gerade Kinder und Frauen mit ein; sie profitieren vom Sachleistungsprinzip. Das ist die Wahrheit.
({6})
Angesichts der Forderungen nach Abschaffung des
Asylbewerberleistungsgesetzes und der Residenzpflicht
in Deutschland möchte ich auf eines aufmerksam machen: Natürlich hätte dies Konsequenzen für die Lastenverteilung. Natürlich wäre die Folge, dass die Asylbewerber in die Städte gehen, die ohnehin besonders
belastet sind; der Zustrom würde nicht mehr gesteuert
werden. Was nicht geht, ist, dass im Lokalteil der Zeitungen steht, dass rot-grün regierte Kommunen den
Bund auffordern, jetzt etwas zu tun, um bei den Unterbringungsproblemen zu helfen und den ungesteuerten
Zustrom von Asylbewerbern zu begrenzen, und im Bundesteil der Zeitungen steht, dass Rot-Grün fordert, das
Asylbewerberleistungsgesetz und die Residenzpflicht
abzuschaffen
({7})
und damit die Zuwanderung noch weniger zu steuern.
Diese Doppelzüngigkeit ist nicht in Ordnung, und sie
kritisieren wir.
({8})
Natürlich ist es richtig: Wenn wir die Residenzpflicht
nicht hätten, dann gäbe es keine Nachfragemöglichkeiten der Ausländerbehörden, dann gäbe es keine kurzen
Verfahren, und dann gäbe es Probleme bei der Rückführung. Ich sage das nicht in Richtung der SPD, sondern
insbesondere an Herrn Kurth und die Vertreter der Linken gerichtet: Ihnen geht es in Wahrheit um eine ungesteuerte Zuwanderung. Sie wollen eine Politik nach dem
Motto: Wer politisch verfolgt ist, der darf in Deutschland
bleiben, und wer nicht politisch verfolgt ist, der darf
auch in Deutschland bleiben. - Das macht Integrationspolitik unmöglich, um Ihnen das einmal ins Stammbuch
zu schreiben.
({9})
Wir müssen das Umfeld unserer Debatte betrachten.
Wir haben - darüber ist in dieser Diskussion überhaupt
noch nicht gesprochen worden; Herr Veit hat dieses
Thema mit dem Beispiel aus Neukölln gestreift - einen
Zustrom von Roma aus Rumänien und Bulgarien zu verzeichnen. Leute kommen mit vorgefertigten Kindergeldanträgen und Anträgen auf Gewerbezulassung nach
Deutschland, und sie haben einen Schlafplatz. Das ist organisierte Kriminalität, die sich in Deutschland täglich
abspielt,
({10})
der wir wegen der Freizügigkeit aber kaum etwas entgegensetzen können.
Ich sage Ihnen: Wenn wir jetzt nichts gegen den Zustrom von Asylbewerbern aus Serbien und Mazedonien
tun, die wegen der Visafreiheit ungesteuert zu uns kommen können, dann wird die Integrationspolitik schwierig. Dann werden wir insbesondere Schwierigkeiten haben, die Roma und diejenigen aus Rumänien und
Bulgarien, die bei uns sind und auf Dauer bei uns bleiben werden, so zu integrieren - das gilt gerade für die
Kinder und die Mütter -, wie es ihrem Anspruch entspricht und wie es soziale Verpflichtung in unserem
Land ist. Wir müssen uns der ganzen Tragweite des Problems ein bisschen sachlicher nähern, als es insbesondere Grüne und ganz Rote hier gemacht haben.
Herzlichen Dank.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die nächste
Rednerin, Kollegin Heike Brehmer, verdient unsere Aufmerksamkeit. Sie ist die letzte Rednerin vor der Abstimmung. Ich bitte Sie sehr herzlich, ihr zuzuhören. - Bitte
schön, Frau Kollegin Heike Brehmer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, so
steht es in Art. 16 a Abs. 1 unseres Grundgesetzes geschrieben. Lassen Sie mich deshalb gleich zu Beginn
meiner Ausführungen etwas Entscheidendes deutlich
machen: Das Recht auf Asyl - darüber dürften sich alle
Anwesenden in unserem Hohen Haus einig sein - ist ein
wesentliches Grundrecht unserer Verfassung. Menschen,
die aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt
werden, sollen sich in Deutschland auf das Asylrecht berufen können. Allein im Zeitraum von Januar bis Oktober 2012 wurden in Deutschland 50 344 Erstanträge auf
Asyl gestellt; das sind 13 761 Anträge mehr als im Vorjahr. Das geht aus dem aktuellen Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hervor. Im EU-weiten
Vergleich liegt Deutschland damit an der Spitze.
Dem Recht auf Asyl begegnen wir mit einem hohen
Maß an politischer Verantwortung.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, den
Grünen und den Linken, aus dem Kern Ihrer Anträge
geht diese politische Verantwortung nicht hervor. Im
Kern Ihrer Anträge stehen die Reformierung oder Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und die
Aufhebung der Residenzpflicht für Asylsuchende und
Geduldete.
Wir haben hier im Deutschen Bundestag in den vergangenen Monaten bereits viele umfassende Debatten zu
diesem Thema durchgeführt. Sie kritisieren das Asylbewerberleistungsgesetz bereits, seit es 1993 eingeführt
wurde. Zur Wahrheit gehört, dass es zu Zeiten der rotgrünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 keinerlei
Initiativen zum Asylrecht gegeben hat.
({1})
In diesen sieben Jahren haben Sie das Asylbewerberleistungsgesetz unangetastet gelassen. Das sollte hier einmal
gesagt werden.
({2})
Verehrte Kollegen von den Grünen, Sie bezeichnen
das Asylbewerberleistungsgesetz in Ihrem Antrag als
diskriminierend. Ich möchte noch einmal betonen, dass
Sie sich in der Zeit, als Sie Regierungsverantwortung
trugen, nicht um die Regelsätze für die Asylbewerber
und Geduldete geschert haben.
({3})
Mein Kollege Dr. Uhl hat bereits darauf hingewiesen
- zur Erinnerung wiederhole ich es -: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist kein überflüssiges und unverhältnismäßiges Gesetz, wie Sie es in Ihrem Antrag bezeichnen.
Im Gegenteil: Das Gesetz wurde 1992 auf den Weg gebracht, zu einer Zeit, als erstmals über 400 000 Menschen
einen Antrag auf Asyl stellten. 95 Prozent dieser Anträge
wurden damals abgelehnt. Um einem Missbrauch des
Asylrechtes vorzubeugen, einigten sich CDU/CSU, FDP
und SPD gemeinsam im Dezember 1992 im damaligen
Asylkompromiss auf Regelungen zum Mindestunterhalt
von Asylbewerbern. Kurz darauf folgte das Asylbewerberleistungsgesetz. Dieses Gesetz war ein richtiger und
wichtiger Ansatz.
Nun wollen Sie die bestehenden Regelungen nicht
nur ändern, sondern sich selbst übertreffen. Sie wollen
das Asylbewerberleistungsgesetz aufheben und bewährte Regelungen für Asylsuchende und Geduldete abschaffen. Sie wollen sich - ganz einfach - in einem
1 000-Meter-Lauf dreimal selbst überholen. Das wurde
in Ihren Redebeiträgen mehr als deutlich.
Der Antrag der SPD ist wohl der am weitestgehenden
ausformulierte Antrag. Darin gehen Sie auf das Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Juli 2012 ein.
Sie formulieren zunächst richtigerweise:
Der Gesetzgeber hat ein Einschätzungsvorrecht. Er
muss aber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten Verfahren ermitteln. Die
zugrunde liegenden Berechnungen muss er nachvollziehbar offenlegen.
Ich kann mich noch ganz genau an die Erarbeitung
der Hartz-IV-Regelsätze und des Bildungs- und Teilhabepaketes erinnern, als es darum ging, wie das Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes umgesetzt werden kann. Es
waren damals sehr zähe und lange Verhandlungen, bei
denen sich die Kollegen der Grünen - anders als die Kollegen der SPD - am Ende aus der Verantwortung gestohlen haben.
({4})
Wie Sie wissen, hat das Bundesverfassungsgericht am
18. Juli 2012 ein wichtiges Urteil im Asylrecht gefällt.
Die SPD hat dazu in der Begründung ihres Antrags weiter ausgeführt:
Das Verfahren muss sachgerecht, realitätsgerecht
sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren
bemessen sein. Insbesondere muss er offenlegen,
auf Grundlage welcher Zahlen er ein im Grundsatz
taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat und,
falls er im Einzelnen von diesem Verfahren abweicht, dies rechtfertigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden das Urteil
der Karlsruher Richter umsetzen und dazu einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Die Verantwortung
liegt vor Ort in den einzelnen Bundesländern. Diesem
Gesetz - das wurde schon gesagt - muss der Bundesrat
zustimmen.
Ich erinnere noch daran, dass die rot-grün geführten
Bundesländer derzeit im Bundesrat die milliardenschweren Steuerentlastungen blockieren, welche unsere Bürgerinnen und Bürger um 6 Milliarden Euro entlasten würden. Sie müssen den Bürgern erklären, warum Sie das
Asylbewerberleistungsgesetz im Eiltempo einbringen
wollen und die steuerlichen Entlastungen für unsere Bürger blockieren.
({5})
Frau Kollegin, Sie denken an die Redezeit? Bitte
kommen Sie zum Schluss.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss kurz auf die Residenzpflicht eingehen.
Zum Schluss!
Liebe Frau Künast, Sie sind in Baden-Württemberg in
der Regierungsverantwortung. Dort ist die Residenzpflicht teilweise gelockert. Fangen Sie doch dort an, wo
Sie Verantwortung haben!
Meine Damen und Herren, wir lehnen die Anträge
von den Linken, von den Grünen und von der SPD ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 17/11663, 17/11589 und 17/11674 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Vorlage auf Drucksache 17/11663 - Tagesord-
nungspunkt 4 a - soll federführend an den Innenausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor wir zur namentlichen Abstimmung kommen,
kommen wir noch zu einer anderen Abstimmung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Aufhe-
bung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10198, den
Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1428 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um Handzei-
chen. - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der So-
zialdemokraten. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Keine.
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11707. Wir stimmen über den Entschlie-
ßungsantrag auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men. Ich weise darauf hin, dass zur Abstimmung auch
schriftliche Erklärungen vorliegen.1)
Vorne links fehlen noch Schriftführer. - Nun sind alle
Plätze an den Urnen besetzt. Ich eröffne die Abstim-
mung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2) - Darf ich Sie jetzt herzlich bitten, die
Plätze wieder einzunehmen?
Wir setzen die Abstimmungen fort.
Tagesordnungspunkt 4 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Menschenwürdiges
Existenzminimum für alle - Asylbewerberleistungsge-
setz abschaffen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10198, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/4424 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! -
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 3 b. Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und
Geduldete“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 25681 D
Vizepräsident Eduard Oswald
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11716, den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5912 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das
sind die Sozialdemokraten und die Bündnis 90/Die Grü-
nen. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 51 a bis 51 g sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 c auf:
51 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Aktiengesetzes ({0})
- Drucksache 17/8989 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Protokoll vom 16. Mai 2012 zu den Anliegen
der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon
- Drucksache 17/11367 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})-
Auswärtiger Ausschuss -
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes
- Drucksache 17/11368 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung versicherungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/11469 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({4})-
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitsrechts
({5})
- Drucksache 17/11632 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({6})-
Innenausschuss -
Sportausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Kultur und Medien -
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Cornelia Behm, Harald Ebner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Haltungsbedingungen für Puten verbessern
- Drucksache 17/11667 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Cornelia Behm, Dorothea
Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Havarie des Containerschiffs MSC Flaminia Aus den Fehlern von Seeunfällen lernen
- Drucksache 17/11668 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Markus Tressel, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verkehrsträgerübergreifende Fahrgastrechte
stärken
- Drucksache 17/11375 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({8})Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Tourismus -
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner
Simmling, Birgit Homburger, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Projektbeiratsbeschluss bei der Rheintalbahn
umsetzen
- Drucksache 17/11652 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Tourismus -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktionsplan Soziale Sicherung - Ein Beitrag
zur weltweiten sozialen Wende
- Drucksache 17/11665 25678
Vizepräsident Eduard Oswald
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist.
Zusatzpunkt 4 a. Interfraktionell wird Überweisung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11375 zu verkehrsträgerübergreifenden
Fahrgastrechten an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist je-
doch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
wünschen Federführung beim Rechtsausschuss. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtwicklung,
abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist
abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federfüh-
rung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Op-
positionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Über-
weisungsvorschlag ist angenommen.
Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen.
Das sind die Tagesordnungspunkte 51 a bis 51 g sowie
die Zusatzpunkte 4 b und 4 c. Interfraktionell wird vor-
geschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ha-
ben wir dies so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 52 sowie die Zu-
satzpunkte 5 a bis 5 e auf. Es handelt sich um Beschluss-
fassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache
vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 52:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Heinz Paula,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Ag-
rarstruktur und des Küstenschutzes an ak-
tuelle Herausforderungen anpassen
- Drucksache 17/11653 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Das ist die Fraktion
der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das sind
die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke.
Enthaltungen? - Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Der Antrag ist abgelehnt.
Zusatzpunkt 5 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Dem Antrag Palästinas auf erweiterten Be-
obachterstatus in der UNO zustimmen
- Drucksache 17/11678 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Frak-
tion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialde-
mokraten. Der Antrag ist abgelehnt.
Zusatzpunkte 5 b bis 5 e:
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({13})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11618 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Jörg van Essen
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({14})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11619 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Jörg van Essen
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({15})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11620 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Jörg van Essen
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({16})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/11621 Berichterstattung:Abgeordneter Jörg van Essen
Zunächst erteile ich nach § 31 der Geschäftsordnung
unserem Kollegen Dr. Diether Dehm das Wort. Bitte
schön, Kollege Dr. Diether Dehm.
({17})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich werde gegen den Antrag zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen meinen Fraktionskollegen Jan
van Aken und andere stimmen und mich auch weiterhin
dagegen einsetzen; denn der Vorwurf, wonach das Unterzeichnen der „Castor Schottern!“-Erklärung einen
Aufruf zu einer Straftat darstellt, ist juristisch unhaltbar.
({0})
Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern
offensichtlich auch die der Staatsanwaltschaft Lüneburg,
die den Unterzeichnern, unter anderem Jan van Aken,
Inge Höger, Sevim Dağdelen und mir, zwischenzeitlich
angeboten hat, gegen Zahlung einer Spende das Ermittlungsverfahren einzustellen.
Den anderen Fraktionen im Hause bietet sich hier
aber offensichtlich die Möglichkeit, einen Akt von zivilem Ungehorsam durch Linke zu kriminalisieren.
({1})
Da sie nicht anerkennen, dass die breite Mehrheit in unserem Volk für den Atomausstieg und gegen die lebensgefährlichen AKW ist, dem nun Sie alle und auch Frau
Merkel beigetreten sind, dass dieser Ausstieg ohne den
zivilen Ungehorsam und den Protest gegen die strahlenden Castortransporte nie möglich gewesen wäre,
({2})
dass die Atomenergie noch längst nicht Geschichte ist.
Weil sie nicht einmal damit angefangen haben, die Geschichte dieser Proteste, zum Beispiel in Gorleben, aufrichtig zu schreiben. So besteht die Gefahr weiterhin.
Den Energiekonzernen wird noch ordentlich Steuergeld zugeschustert, Euratom fördert AKW auf EUEbene, die Deutsche Bank, die mit 12 Prozent an Tepco,
dem Betreiber des Atomkraftwerks in Fukushima beteiligt ist, kreditiert in einem westindischen Erdbebengebiet gerade eben ein neues AKW, und die Zeitbombe
Asse II tickt weiter. Niedersachsen ist weiterhin ein
Atomklo. Solange die Endlagerfrage ungelöst ist, werden mit jedem weiteren Castortransport Fakten geschaffen. Es sind nach wie vor Protest und ziviler Ungehorsam bitter nötig.
({3})
Die Grünen haben im Immunitätsausschuss auch für
unsere Strafverfolgung gestimmt und werden das hier
jetzt auch wieder tun, mit dem wohlfeilen Argument, wir
linken Abgeordneten sollten doch nicht das Privileg der
Abgeordnetenimmunität ausnutzen.
({4})
Wohlgemerkt: Der Vorwurf des Staatsanwalts gegen uns
lautet „Gefahr für Leib und Leben“. Was bedeutet mehr
Gefahr für Leib und Leben, die lebensgefährdenden
Atomkonzerne oder die Fortführung der Proteste dagegen
({5})
bzw. ein Schottern, das nicht einmal stattgefunden hat?
Schottern bedeutet laut Duden übrigens „Aufhäufen von
Schotter“.
Die politische Immunität von Abgeordneten ist in der
Parlamentsgeschichte ja gerade dafür da, dass sich Abgeordnete mehr an unbequemen politischen Wahrheiten
auch gegen „die da oben“ leisten können als jemand, der
in einem Abhängigkeitsverhältnis steht und vielleicht
um seinen Arbeitsplatz fürchten muss. Deswegen gewährt das Europäische Parlament bei jedem Fall des Protests - bei jedem Fall des Protests! -, selbst bei der illegalen Demonstrationsanmeldung, generell Immunität.
({6})
Ihr Mittun, liebe Grüne, im Immunitätsausschuss ist
damit immer auch ein Stück Beteiligung an Kriminalisierung und Einschüchterung der Proteste.
({7})
Ich sage es gerne noch einmal: Ihre Beteiligung im
Immunitätsausschuss daran, dass nun die Strafverfolgung gegen meine Kollegen und mich stattfinden kann,
ist immer auch ein Stück Kriminalisierung und Einschüchterung der Proteste.
({8})
Wenn Sie noch weiter schreien, dann werde ich es noch
ein drittes Mal sagen.
So oder so: Mein Gewissen als Abgeordneter käme
nicht zur Ruhe, wenn der Widerstand gegen die skrupellosen Atomkonzerne zur Ruhe käme.
Ich danke Ihnen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir liegt noch die
Erklärung unseres Kollegen Wolfgang Gehrcke nach
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor. 1)
Nun erteile ich das Wort dem Vorsitzenden des
1. Ausschusses, dem Kollegen Thomas Strobl.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Als Vorsitzender des Immunitätsausschusses möchte ich
ein paar Punkte klarstellen. Das Immunitätsrecht hat den
Zweck, die Arbeits- und Funktionsfähigkeit unseres
Parlamentes als Ganzes sicherzustellen. Es ist nicht da-
für da, einzelne Abgeordnete vor ihrer gerechten Strafe
für begangene Straftaten zu bewahren.
1) Anlage 3
Thomas Strobl ({0})
({1})
Wir Abgeordnete sollen also durch das Immunitätsrecht, Herr Kollege Dehm, nicht besser gestellt werden
als alle anderen Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land.
({2})
Es gibt keine Privilegien eines Abgeordneten gegenüber
normalen Bürgerinnen und Bürgern, wenn er Straftaten
begeht, und es darf solche Privilegien auch nicht geben.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn eine
Staatsanwaltschaft gegen Mitglieder des Hauses wegen
des Verdachts einer Straftat ermitteln möchte, prüft der
Immunitätsausschuss daher, ob der beim Präsidenten
eingereichte Antrag nachvollziehbar und begründet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vorhin war es ruhig,
als die Erklärung vom Kollegen Dehm abgegeben
worden ist.
({0})
Es war auf allen Seiten ruhig. Ich glaube, es ist eine
Frage der Fairness, dass auch der Vorsitzende des Ausschusses in Ruhe seine Erklärung abgeben kann.
({1})
Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident. - Insbesondere prüft der Ausschuss, ob es sich um einen Akt staatsanwaltschaftlicher Willkür aus politischen Motiven
gegen einen Abgeordneten handelt, also ob ein Kollege
Beschuldigter durch eine Staatsanwaltschaft deswegen
wird, weil er Abgeordneter ist, und nicht, weil er sich
möglicherweise einer Straftat schuldig gemacht hat.
Dies hat der Ausschuss, wie immer, auch in jedem
einzelnen der vorliegenden Fälle und nach dem seit
langem bewährten Verfahren getan. Diesem Verfahren
haben übrigens zu Beginn der Legislaturperiode alle
- ich betone: alle! - Fraktionen zugestimmt, auch Ihre
Fraktion.
({0})
Sie können das in Anlage 6 der Geschäftsordnung nachlesen, Herr Kollege Dehm. Danach achtet der Ausschuss
bei der Prüfung der Anträge vor allem darauf, dass das
Vorgehen der Staatsanwaltschaft in jedem einzelnen Fall
frei von sachfremden Erwägungen, frei von politischen
und frei von willkürlichen Motiven ist. Das hatten wir
auch in diesem Fall getan.
Weiter ist im Übrigen geregelt, dass der Ausschuss
nicht in eine Beweiswürdigung eintritt und dass die Entscheidung über die Aufhebung oder Wiederherstellung
der Immunität auch keine Feststellung von Recht oder
Unrecht, von Schuld oder Unschuld bedeutet. Das ist
nicht Sache des Immunitätsausschusses, sondern das ist
nach unserer Verfassung aus guten Gründen den Gerichten vorbehalten.
({1})
Ich betone es noch einmal: Wir urteilen nicht darüber,
weder im Ausschuss noch hier, ob sich die betroffenen
Kolleginnen und Kollegen tatsächlich strafbar gemacht
haben. Wir stellen lediglich fest, dass die Staatsanwaltschaft im konkreten Fall nicht willkürlich handelt, wenn
sie ein Verfahren anstrebt, das auch gegen jeden Bürger
und gegen jede Bürgerin so angestrengt worden wäre.
Wer die Aufhebung der Immunität in diesem Fall als
„Kriminalisierung“ bezeichnet,
({2})
der hat unseren Rechtsstaat nicht verstanden, Herr Kollege Dehm.
({3})
Im konkreten Fall hat der Ausschuss die Anträge wie
üblich ausführlich beraten und die Staatsanwaltschaft
darüber hinaus sogar um zusätzliche Informationen zum
Sachverhalt und zur rechtlichen Begründung der Anträge gebeten. Im Ergebnis bestand im Immunitätsausschuss Einigkeit bei den Fraktionen CDU/CSU, SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP, dass die Bewertung
des Verhaltens der betroffenen Abgeordneten als Straftat
nach § 111 des Strafgesetzbuches - Öffentliche Aufforderung zu Straftaten - durch die Staatsanwaltschaft
nachvollziehbar und willkürfrei begründet worden ist.
({4})
Da also keine immunitätsrechtlichen Gründe für eine
Wiederherstellung der Immunität der Betroffenen vorliegen, hat der Ausschuss entschieden, dass - wie üblich die Frage der Strafbarkeit und die Frage der Schuld oder
Unschuld durch die zuständigen Gerichte zu klären ist.
Dafür haben wir den Weg jetzt freigemacht.
Thomas Strobl ({5})
({6})
Daher hat der Ausschuss - wie üblich - die Beschlussempfehlungen so vorgelegt, für die ich um Ihre
Zustimmung bitte.
Herr Kollege Dehm, ich muss Ihnen schon klar entgegenhalten: Die Aufforderung, Gleisanlagen der Bahn zu
schottern, also das Gleisbett der Bahn auszuhöhlen,
({7})
ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat nach § 111
des Strafgesetzbuches, die in Fällen wie den hier vorliegenden mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren
bestraft werden kann.
({8})
Insofern muss ich auch darauf hinweisen, dass im
Ausschuss allgemein von allen Fraktionen - mit
Ausnahme der Fraktion Die Linke ({9})
die Überzeugung herrscht, dass Kollegen, die bewusst
diese Art der Aufforderung zur Begehung von Straftaten
wählen, sich dann auch der strafrechtlichen Konsequenz
stellen müssen und nicht über das Immunitätsrecht privilegiert werden können.
({10})
Sie können und dürfen nicht besser behandelt werden als
andere Bürgerinnen und Bürger auch.
({11})
Was wäre das auch für ein Signal an die Bürgerinnen
und Bürger, beispielsweise an die über 1 000 Bürgerinnen und Bürger, gegen die im Zusammenhang mit dem
Castortransport durch die Staatsanwaltschaft Lüneburg
ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde?
({12})
Über 1 000 Bürgerinnen und Bürger! Was wäre das für
ein Signal, wenn diese Bürgerinnen und Bürger strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden, der Kollege
Dehm aber nicht, nur weil er ein Abgeordneter ist? Wer
hätte für eine solche Vorzugsbehandlung eigentlich Verständnis? Wir würden kein Verständnis ernten, und zu
Recht würden wir kein Verständnis ernten.
({13})
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bitte
ich um Zustimmung für die mit großer Mehrheit im
1. Ausschuss gefassten Beschlüsse, es bei der Aufhebung der Immunität der betroffenen Kollegen zu
belassen.
Herzlichen Dank.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen jetzt
zur Abstimmung über die vier Beschlussempfehlungen.
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung empfiehlt in seinen Beschlussempfehlungen, die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens jeweils zu erteilen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11618? - Das sind die Koalitionsfraktionen,
Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das ist die Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11619? - Das sind die Koalitionsfraktionen,
Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11620? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11621? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Keine.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme nun zu
dem von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnis unserer namentlichen Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des
Asylbewerberleistungsgesetzes: abgegebene Stimmen
579. Mit Ja haben gestimmt 131, mit Nein haben gestimmt 438, Enthaltungen 10. Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt. So weit das Ergebnis dieser namentlichen
Abstimmung.
Vizepräsident Eduard Oswald
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon
ja: 131
nein: 438
enthalten: 11
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({0})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({1})
Volker Beck ({2})
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({3})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({4})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({5})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({6})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({7})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Ernst-Reinhard Beck
({8})
Manfred Behrens ({9})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({10})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({11})
Axel E. Fischer ({12})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({13})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Andreas Jung ({14})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({15})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({16})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({17})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({18})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({19})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({20})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({21})
Anita Schäfer ({22})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({23})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({24})
Dr. Kristina Schröder
({25})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({26})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({27})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({28})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({29})
Peter Weiß ({30})
Sabine Weiss ({31})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({32})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({33})
Hubertus Heil ({34})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({35})
Dr. Eva Högl
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({36})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({37})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({38})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({39})
Marlene Rupprecht
({40})
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({41})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({42})
Werner Schieder ({43})
Ulla Schmidt ({44})
Carsten Schneider ({45})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({46})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({47})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({48})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({49})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({50})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({51})
Michael Link ({52})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({53})
Dr. Martin Neumann
({54})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({55})
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({56})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({57})
Enthalten
SPD
Elvira Drobinski-Weiß
Angelika Graf ({58})
Kerstin Griese
Petra Hinz ({59})
Dietmar Nietan
Michael Roth ({60})
Dr. Carsten Sieling
Christoph Strässer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahl der Mitglieder des Beirates der Stiftung
Datenschutz
- Drucksache 17/11637 Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/11637? Das sind die Koalitionsfraktionen. - Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Fraktion
Die Linke. Der Wahlvorschlag ist angenommen. Vielen
herzlichen Dank.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Unterschiedliche Auffassungen der Koalitionsfraktionen über ihre Pläne zur Einführung
von Gutscheinen für Haushaltshilfen
Erste Rednerin unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Caren Marks. Bitte schön, Frau Kollegin Caren Marks.
({61})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch
wenn der Vorschlag zu Gutscheinen für Putzhilfen von
der Fraktionsspitze am Dienstag im wahrsten Sinne des
Wortes einkassiert wurde, so bleibt Ihnen, meine Damen
und Herren von Schwarz-Gelb, nicht die Kritik an der
Konzeptlosigkeit Ihrer Familienpolitik erspart.
({0})
Die Diskussion der letzten Tage zeigt erneut, dass dieser
Bundesregierung, in diesem Falle insbesondere der
Union, der Kompass in der Familien- und der Gleichstellungspolitik komplett fehlt.
({1})
Das nervige Betreuungsgeld, das einen Anreiz setzt,
Kinder von öffentlich geförderten Kitas und Einrichtungen der Kindertagespflege fernzuhalten, ist kaum durch
den Bundestag, da kommen Sie mit einem Vorschlag um
die Ecke, der Anreize genau in die entgegengesetzte
Richtung setzen soll. Wir finden: Das ist mehr als
absurd.
({2})
Wie widersprüchlich Ihre Familienpolitik ist, erleben
wir bei vielen Themen immer wieder. Mal kündigt die
Bundesfamilienministerin an, das Elterngeld weiterentwickeln zu wollen, kürzt dann aber stattdessen munter
drauflos. Mal behauptet die Bundesfrauenministerin, die
sie ja auch sein sollte, Frauen mehr Chancen im Beruf
und in Führungspositionen eröffnen zu wollen, steht
dann aber der gesetzlichen Frauenquote entgegen und
definitiv auf der Bremse. Mal gibt Frau Schröder vor,
sich für den Ausbau der Krippen einzusetzen, führt dann
aber ein Betreuungsgeld ein, das diesen Ausbau konterkariert.
Die Koalition hat in wichtigen gesellschaftspolitischen Bereichen definitiv keinen Fahrplan. Sie sagt mal
hü und mal hott und wundert sich dann, dass jeder über
diese Politik nur noch den Kopf schüttelt. Dabei ist gerade für Familien Verlässlichkeit ein hohes Gut, damit
Familien in diesem Land ihren Alltag und ihre Zukunft
planen können.
({3})
Verlässlichkeit brauchen Familien vor allem bei der
sozialen Infrastruktur. Erfahrungen in den skandinavischen Ländern zeigen im Übrigen, meine Kolleginnen
und Kollegen von Schwarz-Gelb, dass eine solche InfraCaren Marks
struktur eine wirklich wichtige Voraussetzung für ein gutes Aufwachsen von Kindern und für eine gelingende
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist.
Ein bedarfsgerechtes Angebot an Krippenplätzen und
an Ganztagsangeboten für kleinere und größere Kinder
ist in unserem Land längst noch nicht vorhanden. Sowohl die EU als auch OECD mahnen immer wieder an,
dass es in Deutschland einen dringenden Nachholbedarf
gibt. Das in der Union nun diskutierte Gutscheinmodell
für Haushaltshilfen soll offensichtlich von diesem Nachholbedarf ablenken. Oder sollten mit dem Vorschlag
vielleicht schnell ein paar Wahlgeschenke an eine gutverdienende Klientel verteilt werden, die sich ohnehin
schon Haushaltshilfen leisten kann?
({4})
Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, glauben
Sie ernsthaft, diese billigen Taschenspielertricks bekommt niemand mit?
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, abgesehen davon, finde ich bemerkenswert, dass Sie an Gedächtnisverlust zu leiden scheinen, was die Rechtslage
angeht; denn es gibt längst Steuervorteile für haushaltsnahe Dienstleistungen. Es gibt sie längst für haushaltsnahe Beschäftigungsverhältnisse und auch für Kinderbetreuungskosten. Beispielsweise gibt der Staat jährlich
etwa 400 Millionen Euro dafür aus, dass Dienstleistungen
wie Hausreinigung, Fensterputzen oder Bügeln steuerlich gefördert werden können. Ist Ihnen von der Koalition das alles ganz plötzlich entfallen? Oder wollen Sie
mit Blick auf die Bundestagswahl den Wettbewerb „Wer
fordert mehr?“ eröffnen? Viel Spaß!
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns hoffentlich alle einig darüber, dass Frauen nach der Geburt
eines Kindes, wenn sie es wünschen, bald wieder die
Chance auf den Wiedereinstieg in das Erwerbsleben haben müssen. Doch wir unterscheiden uns bereits bei der
Analyse der Situation von Familien ganz deutlich; denn
wir haben Mütter und Väter im Blick.
({5})
Die Union dagegen hat nur Mütter und keine Väter im
Blick,
({6})
wenn es um die Organisation des Haushalts und des Familienalltags geht. Ihr Haushaltshilfenvorschlag bezieht
sich nur auf Frauen. Wir dagegen sehen nicht allein die
Frauen in der Verantwortung, sich den Kopf über die
Vereinbarkeitsfrage zu machen. Diese Frage geht auch
Männer etwas an. Putzhilfegutscheine nur für Frauen
wären schon aus diesem Grund der falsche Weg. Wir
bauen bei der Familienpolitik auf Gleichberechtigung
und Partnerschaftlichkeit. Das haben wir beim Ausbau
der Betreuungsangebote, bei Arbeitszeitmodellen und bei
der Weiterentwicklung des Elterngeldes im Blick. Uns
geht es darum, dass Mütter und Väter bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Unterstützung brauchen sowie dass Frauen und Männern gleiche Chancen im Erwerbsleben einzuräumen sind.
Abschließend möchte ich noch einmal darauf hinweisen: Art. 3 unseres Grundgesetzes zielt darauf ab, die
Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern. Ich hoffe sehr, dass auch diese Koalition nicht weitere Überraschungen in der Schublade hat, die genau
diesem Ziel elementar zuwiderlaufen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Caren Marks. - Nächste
Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unsere Kollegin Ingrid Fischbach. Bitte
schön, Frau Kollegin Ingrid Fischbach.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe Germanistik studiert und glaube, zu verstehen, was ich lese. Da ich mich auf diese Aktuelle Stunde
und meine Rede vorbereiten wollte, habe ich den Titel
der Aktuellen Stunde mehrfach gelesen. Aber, liebe Frau
Marks, mir war gar nicht klar, worüber Sie reden wollen.
Ihre Rede hat zur Erhellung auch nicht beigetragen.
({0})
Sie haben zur Familienpolitik der Bundesregierung geredet. Darüber kann man reden. Ihre Aktuelle Stunde trägt
den Titel „Unterschiedliche Auffassungen der Koalitionsfraktionen über ihre Pläne zur Einführung von Gutscheinen für Haushaltshilfen“.
({1})
- Jetzt sagen Sie Ja. - Mich hat verwundert, dass Sie
über die Pläne Bescheid wussten, aus dem Antrag zitiert
haben, obwohl selbst die Regierungsfraktionen diesen
Antrag nicht kennen.
({2})
Das ist wunderbar.
({3})
- Ich habe ihn geschrieben. Das ist ein Unterschied. Man muss immer überlegen: Worüber redet man, und
was will man mit einer Aktuellen Stunde erreichen? Ich
finde es schön, in 15 Jahren endlich einmal eine Aktuelle
Stunde zu verantworten zu haben. Das ist mir bisher
noch nie gelungen. Sie haben mir dazu verholfen. Das
mache ich besonders gerne.
({4})
Ich kann Ihnen auch erklären, warum es keine einheitlichen Auffassungen geben kann. Das liegt daran, dass
dieser Antrag noch gar nicht eingebracht worden ist.
({5})
Dieser Antrag stammt von einer kleinen Gruppe. Das
unterscheidet uns von der SPD, Frau Ferner: Wir dürfen
auch in kleineren Gruppen denken.
({6})
Wir haben in einer kleinen Gruppe darüber nachgedacht,
wie man Eltern unterstützen kann. Deswegen stimmt
das, was Sie, Frau Marks, sagen, nicht. Den Antrag können Sie gar nicht haben; den haben Sie auch nicht. Darin
ist außerdem nicht nur von Frauen, sondern auch von
Vätern die Rede.
({7})
Wir wollen genauso wie andere Fraktionen, dass Eltern,
die zum Beispiel längere Zeit aus dem Beruf heraus sind,
die 30, 40 Jahre und älter sind und nun in den Beruf zurückkehren wollen, eine Hilfe bekommen.
Dass haushaltsnahe Hilfen und haushaltsnahe Dienstleistungen gar nicht so falsch sind, haben zum Beispiel
die Grünen mit einem Antrag im Landtag NRW belegt.
Jetzt habe ich bei Ihrer Rede, Frau Marks, den Eindruck
gewonnen, das alles sei nur eine Idee von FDP und
CDU/CSU. Kennen Sie die Arbeitsgemeinschaft der
Frauen der SPD Unterfranken?
({8})
Diese haben zum Beispiel auf einem Parteitag der SPD
gefordert - ich zitiere -:
Haushaltsnahe Dienstleistungen, die über Wohlfahrtsverbände, Agenturen und die Kommune …
angeboten werden, sollen vom Land Bayern für
max. 20 Stunden im Monat gefördert werden.
({9})
Die Forderung muss an sozial Schwache weitergegeben werden, damit die Inanspruchnahme der
Dienstleistungen durch Familien, Alleinerziehende
und SeniorInnen finanzierbar bis zu kostenfrei ist.
({10})
Die Frauen sind klug, Frau Ferner. Wissen Sie, warum?
({11})
Weil die steuerlichen Entlastungen, von denen Ihre Kollegin Marks eben gesprochen hat, nur denjenigen zugutekommen, die viele Steuern zahlen.
({12})
Wir denken auch an die Familien mit kleinen und mittleren Einkommen.
({13})
Meine Damen und Herren, Sie haben doch selber
- selbst Frau Ferner, deren Homepage ich hier zitieren
könnte - die Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen
gelobt,
({14})
die wir in der Großen Koalition auf den Weg gebracht
haben, weil sie Entlastung bringt.
({15})
- „Wer schreit, hat noch lange nicht recht“, hat meine
Mama immer gesagt.
({16})
Meine Damen und Herren, wir reden heute in einer
Aktuellen Stunde über ein Problem, das gar keines ist.
Wir haben in einer kleinen Runde Ideen gehabt, haben
den Finanzpolitikern schon vor einiger Zeit unsere Ideen
vorgetragen und haben gemerkt, dass sie im Moment
nicht finanzierbar sind. Auch darin unterscheiden wir
uns von Ihnen: Wir wollen den Menschen helfen, wir
wollen ihnen aber auch eine Zukunft geben. Wer nur
Forderungen in zweistelliger Milliardenhöhe aufstellt,
Frau Marks, ohne zu sagen, wie es finanziert werden
soll, der tut den Menschen keinen Gefallen.
({17})
Der sorgt auch dafür, dass gerade unsere Familien, unsere Jugend, unsere Kinder keine Zukunft haben. Wir
stehen dazu.
({18})
Wir sind die Partei, wir sind die Regierungskoalition für
Familien. Wir haben alle Familien im Blick. Wir haben
die Väter und Mütter im Blick, und - das erfreut mich
am meisten - wir dürfen noch frei denken
({19})
und unsere Ergebnisse in die Öffentlichkeit bringen.
Vielleicht, Frau Marks, sollten wir einmal darüber
nachdenken, ob es - den Vorschlag werde ich meiner
Fraktion unterbreiten - einen Bildungsgutschein für die
SPD geben kann, damit sie in Zukunft Aktuelle Stunden
so tituliert, dass jeder weiß, worum es geht.
Danke schön.
({20})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ingrid Fischbach. Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser
Kollege Jörn Wunderlich. Bitte schön, Kollege Jörn
Wunderlich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum die SPD auf dieser Aktuellen Stunde besteht,
kann auch ich nicht ganz nachvollziehen; denn aktuell ist
das Thema ja nicht mehr. Ausgelöst hatte die Debatte
Frau Fischbach als stellvertretende Fraktionschefin der
CDU/CSU. Sie hat in einer Art Vorlaufantrag gefordert,
dass monatlich bis zu 15 Stunden für die Beschäftigung
einer Haushaltshilfe mit bis zu 6 Euro pro Stunde bezuschusst werden, und zwar für die Dauer von 18 Monaten.
Dies war in etwa der Inhalt, wenn ich richtig informiert
bin. Frau Schröder fand das ganz toll.
({0})
Das Ganze sollte für junge Eltern gelten, die wieder in
den Beruf zurückkehren. Warum nur für junge Eltern,
das weiß ich nicht. Frau Schröder fand es jedenfalls ganz
toll. Das kommentiere ich jetzt lieber nicht weiter, sonst
flippt Frau Bär wieder aus und vergreift sich im Ton. Jedenfalls hat Frau Fischbach gesagt:
Wenn wir wollen, dass insbesondere Frauen vermehrt in den Beruf zurückkehren, müssen wir sie
unterstützen.
Das Gutscheinmodell sei deshalb ein guter Ansatz. So
hat sie es gesagt.
({1})
Inzwischen ist das Betreuungsgeld verabschiedet
worden.
({2})
Zunächst sollen Frauen - denn es betrifft ja zunehmend
Frauen - mit 100 Euro monatlich dazu gebracht werden,
zu Hause zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern,
({3})
und dann sollen sie - jetzt werden noch einmal 90 Euro
draufgelegt - zurück an den Arbeitsplatz gelockt werden.
({4})
Diese Denkweise hat sich auch gestern im Familienausschuss bestätigt. Dort war nur von jungen Frauen die
Rede. - Herr Pols, waren Sie gestern dabei? Wenn ja,
dann haben Sie nicht aufgepasst.
({5})
Frau Granold hat es gesagt.
Man fragt sich: Warum immer nur Frauen? Gibt es
denn in CSU- und CDU-Familien keine Männer, die ihre
Frauen im Haushalt unterstützen können?
({6})
Oder helfen CDU/CSU-Männer grundsätzlich nicht im
Haushalt?
({7})
Oder ist es bei CDU/CSU-Familien so, dass die für eine
Familie überhaupt keine Männer brauchen? So etwas hat
es schon einmal vor circa 2 000 Jahren gegeben.
Der Bundesfinanzminister hat sich skeptisch zu dem
Vorstoß geäußert. Am Montag gab es bereits harsche
Kritik aus den eigenen Reihen. Da hieß es, es handele
sich um eine theoretische Diskussion, geschuldet dem
anstehenden Parteitag, aber nicht um reale Politik, so
Patrick Döring, Generalsekretär der FDP. Rainer
Brüderle nannte das Modell „nicht voll durchdacht“.
({8})
Der Vorsitzende der Seniorenunion der CDU/CSU, Otto
Wulff, warnte: Wir neigen zu Schnellschüssen, und ich
würde gern erst einmal fundierte Daten darüber haben,
um wie viele Frauen - wieder einmal Frauen - es hier
geht und wer Hilfe benötigt.
({9})
- Ihr seid euch alle uneinig. Dazu komme ich aber noch.
Zuhören! Aufpassen!
Was ich nicht verstehe, ist, dass sich die SPD zumindest zum Teil mit dem Modell angefreundet hat. Das
kann man nachlesen. Frau Humme hat als Sprecherin
des Arbeitskreises „Gleichstellung“ in der SPD gesagt,
das könne ein gangbarer Weg für Geringverdiener sein.
Das hat sie in der taz gesagt.
({10})
Sie hat des Weiteren gesagt, Menschen, die eine Haushaltshilfe nicht von der Steuer absetzen können, hätten
nun ebenfalls eine Subvention für den Haushalt.
({11})
So war ihre Argumentation.
({12})
Also ist es toll, wenn arme Frauen - da sie keine Steuern
zahlen - prekäre Beschäftigung schaffen? Immerhin hat
Frau Marks die Konzeptionslosigkeit der Regierung erkannt.
({13})
- Frau Fischbach, bleiben Sie ruhig.
Mit der Subventionierung von Haushaltshilfen für auf
ihren Arbeitsplatz zurückkehrende Mütter zeigt die Bundesregierung, dass sie eben nicht bereit ist, dieses Geld
für eine gute öffentliche Infrastruktur für Familien auszugeben. Statt den Kitaausbau voranzutreiben
({14})
oder Verbesserungen im Unterhaltsvorschuss zu ermöglichen, werden die gesellschaftlichen Probleme privatisiert und Minijob- und Niedriglohnsektor gefördert.
({15})
Ich sage Ihnen: Schlecht bezahlte Haushaltshilfen zu
subventionieren, ist sozialer und familienpolitischer
Schwachsinn.
({16})
Familienfreundliche Arbeitsbedingungen und gute
Kitaplätze sind der Schlüssel, um Familie und Arbeitswelt erfolgreich zu kombinieren. Die Führung der
Unionsfraktion hat am Dienstag letztlich das Ganze abgeschossen. „Keine Chance für die Umsetzung“, so hat
es Grosse-Brömer ausgedrückt.
Ich will zusammenfassen: Laut tönen, sich nicht abstimmen, Quatsch verkünden und alles anschließend
wieder schnell in die Tonne kloppen - das ist gegenwärtig die Politik dieser Regierung. Im Grunde erleben wir
derzeit ein Sternstündchen. Mist zu planen, ist ja nichts
Neues bei der Koalition. Den Mist dann aber doch zu
lassen - da hat dann vielleicht das freie Denken, das
Frau Fischbach immer wieder betont, endlich einmal
eingesetzt. Immerhin!
({17})
Das ist ein Weg in die richtige Richtung.
Danke.
Vielen Dank, Kollege Jörn Wunderlich. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin
Miriam Gruß. Bitte schön, Frau Kollegin Miriam Gruß.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Aktuelle Stunde soll nach § 106 unserer Geschäftsordnung
zu einem „Thema von allgemeinem aktuellen Interesse“
stattfinden. Dass kein allgemeines aktuelles Interesse besteht, sieht man schon daran, dass ungefähr zwölf Kollegen von der SPD anwesend sind
({0})
und der Bundestag insgesamt auch nicht gerade vor Interessierten überquillt. Suchen Sie sich aktuellere und geeignetere Themen für Aktuelle Stunden, die Sie beantragen; das ist jedenfalls keines, meine Damen und Herren
von der SPD.
({1})
Zum Inhalt kann man nur sagen: Haushaltsnahe
Dienstleistungen werden schon jetzt gefördert. Wir sind
uns inhaltlich eigentlich einig darüber, dass das gut und
richtig so ist. Auf Seite 87 des Wahlprogramms der Grünen und auf Seite 40 des Wahlprogramms der SPD von
2009 steht die Forderung nach einer Förderung der haushaltsnahen Dienstleistungen.
({2})
Ich habe, weil sich die Debatte hinzieht, darauf verzichtet, mein Skript mitzunehmen; aber ich kann Ihnen die
Zitate bei Bedarf gerne nachreichen.
Es handelt sich also um eine absurde Debatte zu einer
Zeit, zu der man wirklich Besseres diskutieren könnte
als das, was Sie jetzt hier angezettelt haben.
({3})
Ich halte es im Zuge der Anstrengungen, die wir als Parlamentarier zur Vermeidung von Politikverdrossenheit
unternehmen, für eine Zumutung,
({4})
dass Sie ständig versuchen, hier Diskussionen zu bestimmten Themen anzuzetteln und die Familienpolitik
dieser Regierung schlechtzureden.
({5})
Wir haben hier eine Erfolgsbilanz vorzuweisen, und
wir haben sie Ihnen eigentlich schon in der letzten Sitzungswoche präsentiert.
({6})
- Doch! - Wir haben die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie verbessert durch die größte Investition in Infrastruktur, die jemals eine Regierung getätigt hat.
({7})
Wir haben uns darum gekümmert, dass die Familien Zeit
bekommen. Wir haben uns mit dem Bundesprogramm
„Perspektive Wiedereinstieg“ auch um den Wiedereinstieg in den Beruf gekümmert; die BA und die Länder
sind da übrigens auf einem guten Weg. Wir haben uns
darum gekümmert, dass die Familien entlastet werden.
Last, but not least - meine Kollegin Fischbach hat es
schon angesprochen - bedenken wir im Gegensatz zu Ihnen bei all dem, dass wir einen Haushalt aufstellen wollen, der insgesamt generationengerecht und nachhaltig
ist.
({8})
Im nächsten Jahr erfahren wir die Ergebnisse der Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen. Dies
wird ein Anlass sein, zu schauen: Was brauchen die Familien? Es widerstrebt mir völlig, im Vorfeld Denkverbote auszusprechen; das sollte man nicht tun. Denn Familienpolitik muss diskutiert werden. Da gehören auch
solche Debatten dazu; das ist richtig. Allerdings ist es
wirklich Unsinn, diese Debatte in das Parlament zu tragen. Wir sollten über wichtigere Themen diskutieren.
Dazu sind wir gerne bereit, aber nicht zu dem Unfug,
den Sie hier angezettelt haben.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Miriam Gruß. - Nächste
Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Kerstin Andreae.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
hatten gestern eine Aktuelle Stunde zur Vermögensteuer.
Dazu lagen Konzepte der Grünen und der SPD vor.
Wenn ich mich richtig erinnere, waren da weniger Kolleginnen und Kollegen anwesend, zumindest seitens der
Koalition.
Wir sollten Aktuelle Stunden schon ernst nehmen und
jetzt hier über eine Idee sprechen, die nun einmal zumindest im Raum steht. Es müssen andere beurteilen, ob es
sich um eine Nebelkerze handelt, die schon verraucht ist.
Aber die Idee der Gutscheine für Haushaltshilfen steht
im Raum. Es ist gar nicht unser Problem, dass es jetzt
seitens der Koalition als nicht umsetzbar, als nicht voll
durchdacht oder als eine theoretische Diskussion dargestellt wird, die wohl eher dem anstehenden Parteitag der
CDU geschuldet ist. Ich finde, man darf darüber nachdenken, man soll sich etwas überlegen. Das Thema der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist sehr wichtig.
Das, was bleibt, ist, dass die Bundesregierung - darüber reden wir - kein Konzept und keinen nachvollziehbaren, durchdachten Plan beim Thema Familienpolitik
und bei der Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat.
({0})
Erst beschließen Sie den Kitaausbau und schaffen einen
Rechtsanspruch, damit mehr Mütter arbeiten gehen können. Dann haben die Regierung und die Koalition - das
werden Sie sich immer und immer wieder anhören müssen, Frau Fischbach, Sie hatten da eine andere Position gegen den erbitterten Widerstand der Fachleute das Betreuungsgeld beschlossen, das dazu führt, dass zahlreiche Mütter dann doch lieber zu Hause bleiben.
({1})
Und jetzt kommen Sie mit einem Vorschlag, dessen Umsetzung eine weitere Milliarde kosten würde, und wollen
dafür sorgen, dass Mütter wieder arbeiten gehen. Das ist
kein Plan; das ist keine geradlinige Position.
({2})
Ich würde dringend empfehlen, Konzepte, die man
entwickelt, tatsächlich einmal an ein paar Punkten zu
überprüfen. Zum einen besteht die große Gefahr von
Mitnahmeeffekten. Das wäre bei den Gutscheinen der
Fall. Mitnahmeeffekt bedeutet, dass jemand eine Leistung in Anspruch nimmt, obwohl er sich sowieso eine
Haushaltshilfe genommen hätte. Er macht etwas geltend,
was er sowieso schon geplant hat. Diese Mitnahmeeffekte sind in weiten Teilen teuer. Wir müssen unser Geld
für andere Sachen ausgeben.
({3})
Zum anderen müssen Sie sich überlegen - das ist ein
weiteres Kriterium -, ob die Leistungen unabhängig von
Einkommen und Vermögen in Anspruch genommen
werden können. Wir haben nicht mehr so viel Geld, dass
wir die Subventionen mit der Gießkanne verteilen können. Wir müssen uns nach der Bedürftigkeit richten. Wir
müssen uns überlegen: Wer braucht es? Wo kann es zielgerichtet eingesetzt werden? Ihr Konzept greift nicht,
weil die Gutscheine unabhängig von Einkommen und
Vermögen in Anspruch genommen werden können.
Sie müssen sich auch überlegen, was das an Bürokratie nach sich zieht. Sie haben ein Bildungs- und Teilhabepaket auf den Weg gebracht, das für Kinder aus einkommensschwachen Familien gedacht ist. Aber die
Leistungen kommen bei vielen bedürftigen Kindern
nicht an. Stattdessen wurde ein Verwaltungsapparat aufgebaut mit dem Ergebnis, dass ein eingesetzter Euro
30 Cent Bürokratie- und Verwaltungskosten nach sich
zieht.
({4})
Das ist wieder ein Konzept, das unlogisch und nicht
durchdacht ist und das Kriterium „bürokratiearm“ nicht
erfüllt.
({5})
Sie fordern ein Nachdenken ein. Ich entwickele meine
Gedanken weiter und frage: Welche Kriterien müssen
zugrunde gelegt werden? Wo versagen Sie im Bereich
der Familienpolitik?
({6})
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist der entscheidende Punkt. Wir müssen uns fragen: Wie bekommen wir es in den nächsten Jahren hin, dass sich junge
Mütter und Frauen für beides entscheiden: für Familie
und für den Beruf?
({7})
Aber die Maßnahmen, die Sie von der Koalition ergreifen, reichen nicht aus. Sie sind teilweise auf dem falschen Weg und setzen falsche Anreize wie mit dem Betreuungsgeld. Wir erkennen keine Linie.
({8})
Es ist nicht zu erkennen, dass Sie sich wirklich dafür entschieden haben: Wir wollen den jungen Müttern, den
jungen Eltern eine Chance auf dem Arbeitsmarkt geben.
({9})
Wir wollen sie unterstützen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirklich zu leben. - Das können wir bei Ihnen nicht sehen.
({10})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zur
Forderung des Arbeitgeberpräsidenten Hundt sagen, die
Elternzeit auf ein Jahr zu begrenzen.
({11})
Das ist absoluter Blödsinn.
({12})
Herrn Hundt muss man sagen: Die Arbeitswelt hat sich
an den Familien zu orientieren, und nicht die Familien
an der Arbeitswelt.
({13})
In diesem Sinne: Vielen Dank.
({14})
Vielen herzlichen Dank, Frau Kollegin Kerstin
Andreae. - Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten: unsere Kollegin Elke Ferner. Bitte
schön, Frau Kollegin Elke Ferner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich
habe es kaum für möglich gehalten, dass die Fernhaltebzw. Herdprämie noch zu toppen ist, aber das scheint locker zu gehen. Jetzt kommt eine Putzprämie, zumindest
wenn es nach Frau Fischbach geht. Wir dürfen gespannt
sein, welche Prämien Ihnen bis zum Herbst nächsten
Jahres noch einfallen.
({0})
Frau Fischbach, ich hätte mir gewünscht, dass Sie wenigstens Frau genug gewesen wären, Ihr Konzept zu erläutern, doch das haben Sie nicht getan. Sie haben nur
Nebelkerzen geworfen. Noch peinlicher finde ich es,
dass für Ihre Fraktion außer Ihnen niemand das Wort ergreift.
({1})
Frau Schröder hat den Vorstoß ganz eilig unterstützt mit
den Worten:
Bezahlbare Hilfe im Haushalt erleichtert Familien
das Leben und insbesondere Frauen nach der Elternzeit die Rückkehr in den Beruf. Außerdem können hierdurch neue sozialversicherungspflichtige
Arbeitsplätze in Privathaushalten entstehen.
Ich frage mich, ob hier noch alle richtig ticken. Zuerst
werden die Frauen mit dem Betreuungsgeld bzw. der
Herdprämie von der Arbeitswelt ferngehalten, dann sollen sie mit der Putzprämie wieder in das Erwerbsleben
geschickt werden.
({2})
Ich glaube, dass Sie wirklich keine Ahnung haben, was
die Menschen in unserem Land bewegt; denn für die
Rückkehr in den Beruf ist für junge Mütter und Väter
doch nicht entscheidend, ob eine Putzhilfe subventioniert wird oder nicht. Viel entscheidender ist doch, ob es
eine gute und verlässliche Kinderbetreuung gibt, ob es
Unterstützung gibt, wenn ein Elternteil krank ist oder
wenn das Kind krank ist, ob es familienfreundliche Arbeitszeiten gibt und ob es sich finanziell unter dem
Strich, also nach Abzug aller Kosten, lohnt, arbeiten zu
gehen oder nicht. Das ist doch die entscheidende Frage.
({3})
Natürlich ist auch die Frage wichtig: Kann ich mir
eine Putzhilfe leisten, oder kann ich mir keine leisten?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Zuschuss von
6 Euro pro Stunde die Entscheidung beeinflusst. Für diejenigen, die wieder in den Beruf einsteigen, sind steuerliche Fragen - Steuerklasse V, Ehegattensplitting - viel
entscheidender als die Frage, ob sie 6 Euro pro Stunde,
maximal 90 Euro pro Monat, als Putzhilfenzuschuss bekommen.
({4})
Ich glaube auch nicht, dass dadurch mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstehen. Man muss wissen, worüber man redet, liebe Kolleginnen und Kollegen ({5})
damit meine ich vor allen Dingen Frau Schröder, die heute
wieder einmal nicht hier ist -: Um ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis überhaupt begründen zu können, muss die Beschäftigte ab dem nächsten Jahr mehr als 450 Euro Einkommen haben. Sonst ist
das Beschäftigungsverhältnis nämlich nicht sozialversicherungspflichtig. Das bedeutet, dass man bei 15 Arbeitsstunden pro Monat einen Stundenlohn von 30 Euro verdienen muss.
({6})
So viel Geld dafür hat diejenige oder derjenige, die bzw.
der wieder in den Beruf zurückgeht, aber nicht. Erst
recht bekommt keine Haushaltshilfe einen Stundenlohn
von 30 Euro.
({7})
Schauen wir uns einmal an, wie das ist, wenn man die
Dienstleistung bei einer Firma einkauft. Dann legt man
locker 25 Euro die Stunde hin, inklusive Mehrwertsteuer. Wenn es eine Subvention von 6 Euro gibt, dann
sind wir bei 19 Euro. Ich glaube, diese Subvention hilft
den Familien nicht wirklich weiter.
Ich finde es richtig, sich über die Frage auszutauschen, wie wir diejenigen, die sich eine Haushaltshilfe
nicht leisten können - ich meine nicht nur junge Eltern,
sondern auch ältere Menschen, die keine steuerliche Förderung in Anspruch nehmen können -, in die Lage versetzen können, eine Haushaltshilfe zu beschäftigen.
({8})
Das ist sicherlich eine sehr verdienstvolle Diskussion.
Eine solche Diskussion fängt man aber nicht so an, wie
Sie das gemacht haben. Ich glaube, dass diesbezüglich
Diskussionsbedarf besteht. Die Diskussion können Sie
doch nicht mit der Frage beginnen, wie wir es schaffen
können, dass junge Frauen wieder in den Beruf zurückkehren, nachdem Sie sie zuvor mit der Herdprämie aus
dem Beruf herausgelockt haben.
({9})
Ich will noch etwas zu der Bemerkung sagen, die Sie,
Herr Kollege Wunderlich, zu Frau Humme gemacht haben. Frau Humme hat gesagt: Hinsichtlich der Inanspruchnahme von haushaltsnahen Dienstleistungen könnte
so etwas von Vorteil sein. Sie hat aber auch ausdrücklich
gesagt - ich glaube, sogar im selben Interview -, dass das
für die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit überhaupt keine
Rolle spielt und sie das Vorhaben nicht gut findet. - Ich
wünsche von dieser Stelle aus Frau Humme nach ihrer OP
gute Genesung.
Letzter Punkt. Ich finde, dass diese Debatte zeigt, wie
die Arbeitsteilung durch die Brille der Union aussieht:
Im 21. Jahrhundert sind die Frauen immer noch zuständig für den Herd und für das Putzen und nicht für andere
Dinge. Ich kann Ihnen nur entgegenhalten: Wir wollen
eine partnerschaftliche Teilung der Arbeit zwischen
Männern und Frauen,
({10})
und zwar in der Familie und im Beruf, und das auf Augenhöhe. Dafür werden wir im nächsten Jahr die Mehrheiten bekommen.
Schönen Dank.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Elke Ferner. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Florian Bernschneider. Bitte schön, Kollege Florian
Bernschneider.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann es sich
in dieser Aktuellen Stunde sehr leicht machen, indem
man sagt, dass allein der Titel Ihrer Aktuellen Stunde
weit an der Realität vorbeigeht und es sich deswegen eigentlich gar nicht lohnt, darüber zu diskutieren.
({0})
Das, was Sie der Koalition unterstellen - Streit und Uneinigkeit -, gibt es eigentlich gar nicht.
({1})
Das wird deutlich, wenn man sich die Äußerungen der
Fraktionen und die Äußerungen der Ministerien in den
letzten Tagen anschaut.
({2})
Diesen Streit gibt es gar nicht. Es gibt Einigkeit in der
Koalition, zum Beispiel hinsichtlich des Ziels, einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, weil es nichts Generationengerechteres gibt, als zukünftigen Generationen
nicht ständig neue Schulden zu hinterlassen.
({3})
Es gibt Einigkeit in der Koalition über eine familienpolitische Notwendigkeit, nämlich über die Notwendigkeit,
die familienpolitischen Leistungen zu evaluieren und
nach dieser Evaluierung zu überprüfen, wie man sie effizienter aufeinander abstimmen kann.
Über eine Frage diskutieren die Kolleginnen und Kollegen in der Union, wir in der FDP und, wie ich hoffe,
auch Sie in der Opposition: Wie erreichen wir es, dass
Männer und Frauen nach einer Familienphase schnellstmöglich wieder in den Beruf zurückkehren können? Das
ist völlig legitim. Das ändert aber nichts daran, dass sich
die Antworten an den beiden genannten Kriterien orientieren müssen, nämlich an dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts und einem effizienten System familienpolitischer Leistungen.
Insoweit gibt es eigentlich gar keinen Grund, länger
über dieses Thema zu sprechen. Der wahre Hintergrund,
warum Sie diese Aktuelle Stunde anzetteln, ist auch gar
nicht dieses Thema. Der wahre Hintergrund ist, dass Sie
sich darüber ärgern, dass Ihre familienpolitische Kritik
an uns nicht gezündet hat. Das haben Sie in der Haushaltswoche nicht geschafft. Deswegen wollen Sie Ihr
Theater in dieser Woche einfach fortsetzen.
({4})
Das ist Ihr gutes Recht als Opposition. Das ist nicht besonders kreativ. Ihre Kritik wird in dieser Woche genauso wenig zünden wie in der Haushaltswoche.
({5})
Jeder hat natürlich eine zweite Chance verdient. Die
wollen wir auch Ihnen lassen, aber ich sage Ihnen: Es ist
auch das Recht der Koalitionsfraktionen, Sie an den Ansprüchen zu messen, die Sie uns hier Woche für Woche
vorhalten.
Gehen wir die Punkte doch einmal durch. Schauen
wir uns das Thema Betreuungsgeld an, mit dem die SPD
krampfhaft versucht, zu skandalisieren. Es ist nur blöd,
dass die Menschen noch wissen, dass die SPD in der
Großen Koalition der Verankerung des Betreuungsgeldes im SGB zugestimmt hat.
({6})
Das versuchen Sie jetzt vergessen zu machen. Sie sagen
den Menschen: Wenn wir jetzt die Bundestagswahl gewinnen, dann schaffen wir das Betreuungsgeld sofort ab.
({7})
Das ist das Versprechen einer Partei, die in Thüringen
Regierungsverantwortung trägt. Dort gibt es das Betreuungsgeld.
({8})
- Frau Ferner, ich frage Sie: Was haben Sie in Thüringen
eigentlich gemacht, um das Betreuungsgeld abzuschaffen?
({9})
Sie mit Ihren Genossen haben in Thüringen darauf gewartet, dass wir das Betreuungsgeld hier in Berlin verabschieden, damit Sie es in Thüringen endlich abschaffen
können, ohne jemandem dabei wehzutun.
({10})
In Thüringen wird die spannende Frage sein, ob Sie
Ihr zweites Versprechen, das Sie hier abgeben, halten,
nämlich die Einsparungen aus dem Betreuungsgeld in
den Ausbau und in die Verbesserung der Qualität der Kitaplätze zu investieren.
({11})
Ich sage Ihnen schon jetzt: Ich glaube es Ihnen nicht.
Ein Blick nach Schleswig-Holstein reicht. In SchleswigHolstein profitieren die Kommunen von einem wichtigen Schritt, den wir als christlich-liberale Koalition gegangen sind, nämlich von der Entlastung der Kommunen
durch die Übernahme der Grundsicherung im Alter. Was
machen Sie in Schleswig-Holstein?
({12})
Sorgen Sie dafür, dass die Kommunen diesen zusätzlichen Spielraum für den Ausbau und für die Qualitätsverbesserung von Kinderbetreuung zur Verfügung haben?
Nein, Sie kürzen den Länderzuschuss.
({13})
Meine Damen und Herren, wenn man die Gelegenheit
hat, Spielraum für den Ausbau der Kinderbetreuung zu
lassen, dann sollte man ihn auch geben. Es ist nicht das
erste Mal, dass Sie auf dem Rücken der Familien Einsparungen vornehmen und trotzdem keinen ausgeglichenen Haushalt hinkriegen.
Schauen wir nach Hamburg. Dort sparen Sie gerade
kräftig an der Jugendsozialarbeit. Schauen wir nach Baden-Württemberg. Dort wollen Sie in den kommenden
Jahren 11 600 Lehrerstellen streichen.
({14})
Wie passt das zu der vorsorgenden Politik von
Hannelore Kraft, die 1 Euro lieber zu früh als zu spät
ausgeben will? Ich sehe das - ehrlich gesagt - nicht. Das
müssen Sie sich vorhalten lassen, wenn Sie uns jede Woche erklären, unsere Familienpolitik sei nicht konsistent.
({15})
Da wir beim Thema sind: Hannelore Kraft stellt lieber
2 000 neue Beamte ein, als sich um das drängende
Thema des Ausbaus der Kinderbetreuung zu kümmern.
Man muss gar nicht nach Nordrhein-Westfalen gucken,
ein Blick nach Berlin reicht aus. Ihr Partybär Klaus
Wowereit schafft es nicht einmal, das Elterngeld, die familienpolitische Leistung des Bundes, an die Familien
auszuzahlen. Die Familien warten monatelang darauf,
das Geld zu erhalten, das ihnen zusteht.
({16})
Wo auch immer man in Deutschland hinsieht: Wenn
Familien sich auf Sie verlassen müssen, dann sind sie
verlassen. Schauen Sie dagegen auf diese Koalition. Auf
uns können sich die Familien verlassen.
({17})
In einem Punkt können Sie sicher sein: Diese Koalition
ist sich zu 100 Prozent einig, alles dafür zu tun, dass Sie
nach der Bundestagswahl keine familienpolitische Verantwortung in diesem Land tragen werden.
Vielen Dank.
({18})
Vielen Dank, Kollege Florian Bernschneider. Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten
Vizepräsident Eduard Oswald
ist unser Kollege Stefan Schwartze. Bitte schön, Kollege
Stefan Schwartze.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die letzte Rede
hat eines bewiesen: Getroffene Hunde jaulen auf.
({0})
Das Jaulen war sehr laut.
({1})
Ich glaube, so eine Aktuelle Stunde wie heute,
({2})
in der von der Union nur eine einzige Rednerin bereit ist,
hier nach vorn zu gehen, zeigt ganz deutlich: Die Union
hat eines erkannt. Sie haben nämlich keine Linie in der
Familienpolitik. Sie wissen überhaupt nicht, wo Sie hinwollen. Es gibt keinen, der erklären kann, worum es eigentlich geht.
({3})
Für den wichtigen Rechtsanspruch auf die U3-Betreuung fehlen in Deutschland noch 220 000 Plätze.
({4})
Dazu sollten wir hier Vorschläge machen.
({5})
- Ja, Sie tun definitiv viel zu wenig.
({6})
Stattdessen geben Sie jetzt 2 Milliarden Euro jährlich für
das Betreuungsgeld aus, eine Leistung, die nur der CSU
hilft, die nur die CSU will und die niemand in diesem
Land braucht.
({7})
Den nächsten Coup landen Sie jetzt mit dem Thema
Dienstmädchen. Es geht um Dienstmädchen für alle
Gutverdienenden. Sie schlagen vor, noch einmal 1 Milliarde Euro jährlich zur Verfügung zu stellen. Geld spielt
bei Ihnen keine Rolle.
({8})
Frau Fischbach, Sie als stellvertretende Fraktionsvorsitzende haben die Debatte hier begonnen mit der großen
Verkündigung: Die Unionsfamilienpolitiker haben sich
geeinigt. - Allein das ist eigentlich eine Nachrichtenmeldung wert.
({9})
Sie haben sich auf ein völlig unausgegorenes Gutscheinmodell für Haushaltshilfen geeinigt. Sie haben sich so
sehr geeinigt, dass man Sie hier heute allein im Regen
stehen lässt.
({10})
Die Einzigen, die sozusagen gleich auf den Zug aufspringen, sind die Familienministerin Schröder und Frau
von der Leyen. Frau Schröder findet das Vorhaben gut.
Sie ist der Meinung, dass es eine gute Maßnahme ist, um
dem Fachkräftemangel in diesem Land zu begegnen. Erstaunlicherweise springt auch Frau von der Leyen auf
den Zug.
({11})
Sie erklärt, dass es ein prima Vorhaben ist, durch das den
Menschen mehr Zeit für Familien ermöglicht wird. Es ist
sehr erstaunlich, dass sich die beiden einig sind.
({12})
Interessanterweise verwechseln sie ihre Ressorts, aber
das macht nichts.
({13})
Schon heute gibt es viele Möglichkeiten für den Umgang mit haushaltsnahen Dienstleistungen. Viele davon
sind steuerlich absetzbar. Bis zu 4 000 Euro können
Haushalte auf diese Weise sparen. Warum Sie da eine
zusätzliche Leistung einführen wollen, die im Wesentlichen Besserverdienenden zugutekommt, ist ein absolutes Rätsel.
({14})
Zu den 4 000 Euro Steuerersparnis gibt es dann - wenn
es nach Ihrem Willen geht, Frau Fischbach - obendrauf
1 080 Euro.
({15})
Die alleinerziehende Kassiererin wird sich trotz
90-Euro-Gutschein pro Monat keine Haushaltshilfe leisten können, und die Haushaltshilfe kann sich dies erst
recht nicht leisten. Die Regelung, die Sie vorschlagen,
ist schlichter Unsinn.
({16})
Uns in der SPD-Bundestagsfraktion geht es darum,
eine wirkliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinzubekommen.
({17})
Wir wollen einen flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung, wir wollen einen Rechtsanspruch auf einen
Ganztagsbetreuungsplatz,
({18})
wir wollen echte Wahlfreiheit und eine echte Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das hilft allen, egal wie
hoch ihr Einkommen ist. Diese neue Maßnahme, die Sie
vorschlagen, ist keine Antwort auf die bestehenden Probleme.
({19})
- Das zeigt, wie ernst Sie Familienpolitik nehmen. Mit
solchen intelligenten Zwischenrufen kommen wir bestimmt weiter.
({20})
Wir brauchen eine Stärkung der Partnerschaft in allen
Lebensbereichen. Klar ist, dass Sie mit Ihrem Vorschlag,
Personal für 6 Euro pro Stunde einzustellen, definitiv auf
dem falschen Weg sind.
({21})
- Ja, meine Redezeit ist gleich um. Ich kann Sie da beruhigen.
({22})
Es tut halt weh, sich Wahrheiten anhören zu müssen.
Die Proteste aus Ihrer Fraktion kamen dann sehr schnell,
auch die aus dem Finanzministerium, von den Haushaltspolitikern, von der FDP und sogar von der familienpolitischen Sprecherin. Das, was Sie vorgeschlagen haben, ist
nichts anderes als schwarz-gelbes Kasperletheater.
({23})
Vielen Dank, Kollege Stefan Schwartze. - Ich weise
darauf hin, dass der Kollege Rolf Schwanitz jetzt unser
letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist. Kollege Rolf
Schwanitz hat das Wort. Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
zum Schluss als Haushälter der SPD-Fraktion für den
Familienetat noch ein paar Sätze zu den haushaltspolitischen Aspekten dieses Vorschlages sagen. Es ist erst wenige Wochen her, dass die Koalition dieses unsinnige
Betreuungsgeld beschlossen hat und dann mit einem Änderungsantrag die finanziellen Folgewirkungen dieser
verheerenden Entscheidung auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben hat. Das, was wir da erlebt haben, war mit Blick auf den Herbst des nächsten Jahres
eigentlich schon die erste Operation Wählerbetrug.
({0})
Der Gesamtumfang des Betreuungsgeldes liegt ab
2014 - wir werden das sehen, wenn Sie nicht gestoppt
werden - bei mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr. Jetzt
wollen Sie die Putzprämie quasi hinterherschieben. Zugegeben: Wie hoch die damit verbundenen Kosten sein
werden, muss erst noch genau berechnet werden. In ersten Kalkulationen, die schon zu lesen sind, ist von einem
Betrag zwischen 600 und 900 Millionen Euro pro Jahr
die Rede. Ich habe allerdings auch gelesen, dass sogar
mit Kosten von über 1 Milliarde Euro jährlich kalkuliert
wird. Es handelt sich also um eine weitere enorme Kostenbelastung, die den Familienetat natürlich nicht unberührt lassen wird.
Allein die Herdprämie wird zu massiven Kürzungen
im Familienetat, bei den familienpolitischen Leistungen,
führen, wenn Sie nicht gestoppt werden.
({1})
Wenn die Putzprämie mit einem Volumen von rund
1 Milliarde Euro hinzukommt, dann ist völlig klar, was
die Konsequenz für den Familienetat sein wird.
({2})
Ich sage es Ihnen schon jetzt voraus - denn ich bin fest
davon überzeugt, dass Sie daran schon arbeiten -:
({3})
Sie werden das Elterngeld zerschlagen.
({4})
Das Elterngeld ist nämlich die einzige Maßnahme im Familienetat, die Sie zur Gegenfinanzierung heranziehen
können. Ich bin fest davon überzeugt, dass die FDP
schon an einem entsprechenden Modell arbeitet.
({5})
Es ist wirklich perfide: Da hat sich Frau Schröder
noch vor wenigen Tagen einen Showkampf mit Herrn
Hundt geliefert
({6})
- unter anderem ging es um das Elterngeld;
({7})
sie hat sich für den Erhalt des Elterngeldes starkgemacht -,
aber hinter dem Rücken der Öffentlichkeit werden schon
längst Modelle formuliert, deren finanzielle Belastungen
zur Folge haben werden, dass das Elterngeld fällt. Ich
halte das für unverantwortlich.
({8})
Genauso verheerend ist, dass die geplante Putzprämie
- ich sage es einmal so - das Ansehen der Familienpolitik völlig zerstört.
({9})
Ich will einige Aussagen, die teilweise schon erwähnt
worden sind, zitieren, da Kollegin Fischbach ja sagte,
das alles sei kein Thema. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Herr GrosseBrömer, sagte: Das, worüber hier diskutiert worden ist
und was vorgeschlagen worden ist, ist kein ernsthaftes
Thema.
({10})
Der Vorsitzende der Senioren-Union sagte: Wir neigen
zu Schnellschüssen. - Der Kollege Barthle, Mitglied des
Haushaltsausschusses, sagte: Das ist nicht umsetzungsfähig. - Der FDP-Generalsekretär, Herr Döring, will das
System der Familienförderung insgesamt infrage stellen.
Das ist die Situation.
({11})
Mit Frau Schröder als Ministerin und durch solche Vorschläge wird die Familienpolitik insgesamt zu einer
Lachnummer gemacht
({12})
- und zwar auf einer nach oben offenen Richterskala -,
und die FDP packt schon die Abrissbirne aus, nach dem
Motto: Was kann ich in diesem Bereich nach der Bundestagswahl als Allererstes rasieren?
({13})
Mir persönlich ist es langsam egal, ob Frau Schröder
aus Berechnung oder aus Unfähigkeit so handelt. Das
gesamte Auftreten, das Frau Schröder und ihre Helfershelfer in der Familienpolitik an den Tag legen, wirkt allerdings wie ein Satz Treibminen: Jeder weiß, dass das
Ganze explodieren wird; nur die Schadensausmaße sind
noch unklar.
({14})
Das ist die Situation.
Ich kann am Ende dieser Aktuellen Stunde nur an unsere Zuschauerinnen und Zuschauer appellieren: Sie haben es im nächsten Herbst in der Hand. Stoppen Sie bei
der nächsten Bundestagswahl diese Wahnsinnspolitik
der Koalition! Es geht um sehr viel.
Herzlichen Dank.
({15})
Kollege Rolf Schwanitz war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde, die damit beendet ist.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Max Straubinger, Peter Götz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Claudia Bögel, Dr. Edmund
Peter Geisen, Heinz-Peter Haustein, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Zukunft für ländliche Räume - Regionale
Vielfalt sichern und ausbauen
- Drucksache 17/11654 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gutes Leben, Gute Innovationen, Gute Arbeit Politik für ländliche Räume effektiv und effizient gestalten
- Drucksache 17/11031 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für Tourismus -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Ausschuss für Kultur und Medien -
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 2011
- Drucksache 17/8360 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Hans-Josef
Fell, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz
und Energiewende
- Drucksachen 17/9583, 17/11672 Berichterstattung:Abgeordnete Petra Müller ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Es sind alle damit
Vizepräsident Eduard Oswald
einverstanden. Dann haben wir dies gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Volker Kauder, der Vorsitzende der CDU/CSUFraktion. Bitte schön, Kollege Volker Kauder.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir legen heute einen Antrag zur Entwicklung der ländlichen Räume vor. Die Bundespolitik ist für die Entwicklung der ländlichen Räume nur begrenzt zuständig. Eigentlich liegt diese Aufgabe bei den Ländern und den
Kommunen. Es gibt eine ganze Reihe von Förderprogrammen, mit denen Einfluss auf die Politik - die, wenn
es gut läuft, ausgewogene Politik - und die Entwicklungen in der Stadt und auf dem Land genommen werden
kann.
Wir wollen mit unserem heutigen Antrag keinen Keil
zwischen ländliche Räume und urbane Entwicklungszentren bzw. Ballungsgebiete treiben. Beide haben ihre
Berechtigung und ihre Besonderheiten. Deshalb gibt es
nicht nur die Koalitionsarbeitsgruppe „Ländliche
Räume“ - ich war sehr froh darüber, dass wir gleich zu
gemeinsamen Ergebnissen kommen konnten -, sondern
auch eine Arbeitsgruppe, die sich mit den besonderen
Herausforderungen der großen Städte beschäftigt. Auch
darüber werden wir reden. Ein Unterschied zwischen
den ländlichen Räumen und den großen Städten ist allerdings, dass die großen Städte mit ihren Sorgen eher gehört werden, weil es dort mehr Menschen gibt als in den
ländlichen Räumen.
Warum sind wir jetzt in besonderer Weise mit dem
Thema ländlicher Raum befasst? Von der demografischen Entwicklung sind die ländlichen Räume viel stärker betroffen als die großen Ballungsgebiete. Deshalb
sind besondere Antworten nötig.
Für unser Land war kennzeichnend, dass wir immer
gleichwertige Lebenschancen, Arbeitschancen und
Ausbildungschancen in Stadt und Land hatten, dass es
eben kein Gefälle gab, das von eigentlich unbewohnbaren, unzumutbaren Gebieten bis hin zu den bevorzugten
Ballungsgebieten reichte, dass wir keine Situation wie in
Frankreich haben, wo eine zunehmende Entleerung
ländlicher Räume stattgefunden hat; bei uns sind die
ländlichen Räume vielmehr stark und bieten Lebenschancen für Generationen.
Aufgrund der immer geringer werdenden Zahl junger
Menschen stehen die ländlichen Räume jetzt vor besonderen Herausforderungen. Mit der demografischen Entwicklung werden wir die nächsten 30 Jahre leben müssen; denn so lange wird es auf jeden Fall so bleiben, wie
es jetzt ist. Deswegen müssen wir auf die Fragen, die
sich in diesem Zeitraum stellen, Antworten geben.
({0})
Wenn wir wollen, dass es gleichwertige Lebensverhältnisse in den ländlichen Räumen und den Ballungsgebieten gibt, müssen wir alles dafür tun, um die Lebensmöglichkeiten zu stärken.
({1})
- Es ist sehr schön, dass aus den Reihen der Grünen ein
zustimmendes Nicken kommt. - Ich muss aber sagen:
Für die ländlichen Räume ist es nach wie vor unerlässlich, dass wir dort Straßen bauen. Das machen wir nicht
zum Spaß. Die Menschen können dort nur über gut funktionierende Straßen zu den Einrichtungen kommen, die
sie für ihr Leben brauchen. Wissen Sie, die Grünen sind
eine typische Großstadt- und Universitätsstadtpartei.
({2})
Bei uns gibt es nicht in jedem Dorf eine U-Bahn.
({3})
Ich lade Sie gern einmal zu mir auf die Schwäbische Alb
ein. Da können Sie im Winter nicht mit Ihrem Fahrrädle
von einem Dorf zum anderen fahren. Da brauchen Sie
etwas Anständiges.
({4})
- Ich will Ihnen jetzt einmal Folgendes sagen:
({5})
Auf der Schwäbischen Alb eine Bahnverbindung - hin
und her -, das ist geradezu lächerlich. Machen wir uns
doch nichts vor.
({6})
Einen schöneren Beweis als diesen einen Satz dafür,
dass Sie keine Ahnung vom ländlichen Raum haben,
gibt es gar nicht.
({7})
Wir brauchen die Straßenverbindungen, und wir brauchen
etwas, worum wir uns wirklich bemühen - das steht in
diesem Antrag, zu dem nachher gesprochen wird -, nämlich die modernen „Straßenverbindungen“, das schnelle
Internet. Wir wollen junge Menschen im ländlichen
Raum halten.
({8})
- Wenn Sie einen Posten als Brüllaffe brauchen, können
Sie sich nachher bei mir bewerben. Seien Sie jetzt einmal ein bisschen friedlich.
({9})
Wir brauchen diese schnelle Internetverbindung, damit sich junge Menschen selbstständig machen können.
Der ländliche Raum lebt stark vom Mittelstand. Für
viele mittelständische Unternehmen ist es in den
Ballungsgebieten zu teuer, Grund und Boden zu kaufen.
Ein großer Teil des Mittelstandes besteht aus der Zulieferindustrie. Er braucht heute eine schnelle Internetverbindung, um mit dem Betrieb, den er beliefern will, zu
kommunizieren. Da gibt es junge Menschen, die sich als
Konstrukteure selbstständig machen und das schnelle
Internet brauchen. Da sind wir in der Koalition auf dem
richtigen Weg; aber es muss noch schneller und konsequenter daran gearbeitet werden, dass dies zum Erfolg
führt.
({10})
Die Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Antrag
erfolgreich gearbeitet haben, werden nachher noch auf
die Einzelheiten eingehen. Ich will ein Thema herausstellen, bei dem wir, wie ich finde, im Verlauf der
Diskussion der nächsten Monate doch noch etwas konkreter werden müssen.
Eine große Sorge der Menschen im ländlichen Raum
betrifft die Gesundheitsversorgung. Gerade die älter
werdenden Menschen fragen sich: Wird es noch eine
entsprechende Gesundheitsversorgung geben? Deswegen müssen wir Antworten darauf geben: Wie können
wir erreichen, dass auch in Zukunft Ärzte bereit sind, im
ländlichen Raum eine Praxis aufzumachen? Ich will die
freie Praxis nach wie vor unterstützen; aber es wird
Situationen geben, wo wir ohne Medizinische Versorgungszentren nicht weiterkommen.
({11})
Deswegen müssen wir Alternativen anbieten. Beides
muss möglich sein. Wir müssen uns fragen, ob die Zahl
der Mediziner, die wir ausbilden, wirklich ausreicht oder
ob nicht mehr Mediziner ausgebildet werden müssen.
Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass heute
80 Prozent der Absolventen von medizinischen Fakultäten Frauen sind, die eben andere Wünsche und Vorstellungen haben als der typische Landarzt früherer Jahre.
Wir sind die Partei des ländlichen Raumes und der
Großstädte.
({12})
Wir werden in beiden Fällen die richtigen Antworten geben.
({13})
Ich danke allen, die in dieser Arbeitsgruppe die
konkreten 105 Vorschläge gemacht haben. Das zeigt:
Die wahre Partei des ländlichen Raumes und der Großstädte, das ist die Union
({14})
- und die FDP, diese Koalition.
({15})
Dies war unser Kollege Volker Kauder für die Fraktion der CDU/CSU. Nächster Redner für die Fraktion
der Sozialdemokraten ist unser Kollege Willi Brase.
Bitte schön, Kollege Willi Brase.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kauder, wenn das
so schön wäre mit der Union in den Großstädten, dann
wären die letzten Wahlergebnisse - schauen Sie sich
diese einmal an - anders ausgefallen; die sprechen für
sich.
({0})
Man sollte manchmal den Mund nicht zu voll nehmen.
({1})
- Sie haben einen Vergleich gezogen.
Ich finde es sehr gut, dass wir hier über die Entwicklung der ländlichen Räume diskutieren. Ich kann nur
sagen, dass wir in der SPD-Bundestagsfraktion sehr intensiv darüber beraten haben und heute auch einen entsprechenden Antrag vorlegen.
({2})
- Nein, der ist besser als Ihrer; aber dazu kommen wir
noch.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass ländlicher
Raum nicht gleich ländlicher Raum ist. Ländlicher
Raum heißt auch nicht automatisch Landwirtschaft. Auf
der einen Seite haben wir ländliche Räume, die industriepolitisch sehr stark sind, die strukturpolitisch hervorragend dastehen, auf der anderen Seite haben wir ländliche Räume, in denen Entvölkerung und demografischer
Wandel schon teilweise brutal zugeschlagen haben.
Darauf müssen Antworten gegeben werden: Wie ist
es mit der Daseinsvorsorge? Wie ist es mit der medizinischen Versorgung? Wie ist es mit den Möglichkeiten,
Bildung für die jungen Leute zu organisieren? Wie gehen wir damit um, dass, vor allen Dingen aus bestimmten Ländern, aus bestimmten ländlichen Regionen, viele
junge Frauen wegziehen, in die Metropolen ziehen? Da
vermisse ich Antworten. Die gibt es auch noch nicht.
Deshalb sollte man vorsichtig sein und bei aller Kritik
nicht meinen, man habe das allein selig machende Konzept.
({3})
Wir sind der Auffassung, dass wir einen Ansatz brauchen, bei dem die Dinge im Zusammenhang betrachtet
werden. Derzeit wird in Brüssel eine Debatte über die
Weiterentwicklung der Gemeinsamen europäischen
Agrarpolitik geführt. Dort ist vorgeschlagen worden, die
verschiedenen Fonds, die es gibt - Sozialfonds, Kohäsionsfonds, Agrarfonds, Regionalfonds -, stärker zusammenzuführen. Wir sagen: Jawohl, dieses muss stärker
miteinander verbunden werden, damit wir eine entsprechende Politik in den Regionen umsetzen können. Wir
sind der Auffassung, dass auch die GAK und die GRW
zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Entwicklung ländlicher
Räume“ zusammengeführt werden müssen.
({4})
Des Weiteren wollen wir den Menschen in den Regionen eine Perspektive geben, und zwar dadurch, dass wir
Zivilgesellschaft, Politik vor Ort, Kommunalpolitik,
Verbände und Institutionen zusammenbringen, damit
über die regionale Entwicklung diskutiert wird und die
Regionen sich fragen: Wo stehen wir? Wohin wollen
wir? Wo haben wir unsere Schwerpunkte? - Dies möchten wir mit einem Regionalbudget versehen, bei dem die
Regionen aber selbst entscheiden, wo ihr Weg ist, wohin
sie gehen wollen und wie sie möglichst viele mitnehmen.
Ich kann Ihnen aus meinem Bundesland Folgendes
berichten: Wir haben so etwas Ende der 80er-, Anfang
der 90er-Jahre mithilfe eines regionalen Entwicklungskonzepts auf den Weg gebracht. Vom Bauernverband
über die Gewerkschaften und Arbeitgeber bis zur
Kommunalpolitik haben alle zusammengesessen. Heute
tragen wir die Frucht davon: Wir haben blühende ländliche Regionen, in denen sich die Menschen, die dort leben, zusammengetan und gesagt haben, wo es langgeht.
Da wollen wir als SPD-Bundestagsfraktion hin.
({5})
Es ist richtig, dass in ländlichen Regionen Infrastrukturpolitik eine wichtige Rolle spielt, dass wir eine vernünftige Finanzierung der Kommunen brauchen - ohne
die geht es nicht -, dass wir eine Weiterentwicklung des
Breitbandsektors brauchen und vieles mehr.
Ich möchte einen Punkt ansprechen, der in der
Debatte häufig zu kurz kommt. Wir haben auch ländliche Regionen, wo es eine Veränderung in der Agrarwirtschaft gibt. Damit spreche ich die großen Schweinemastbetriebe an. Ich habe dieser Tage die wunderbare
Überschrift „Protest am Hähnchen-Highway“ gesehen.
Das betrifft die Gegend um Celle und Uelzen. Wir
bekommen mit, dass sich mittlerweile sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche dagegen wehren,
dass in Schlachthöfen, in Schlachtbetrieben, in Großschlachtbetrieben vor allen Dingen Werkvertragsarbeitnehmer teilweise für 3, 4 oder 5 Euro die Stunde beschäftigt sind.
({6})
Ich will es einmal so sagen: Das ist Dumping. Mittlerweile ist diese Region zum Dumpingland der europäischen Schlachtbranche geworden. Es ist nicht akzeptabel, dass wir zulassen, dass Menschen in Deutschland, in
einem der reichsten Länder der Welt, für 3,50 Euro die
Stunde arbeiten und ihnen vom Lohn auch noch Geld für
Kost und Logis abgezogen wird. Es gibt noch viele
andere Beispiele mehr. Sie können das inzwischen fast
wöchentlich in den Zeitungen lesen. Da vermisse ich
eine Reaktion der Bundesregierung. Was tut sie dagegen?
({7})
Kollege Brase, Sie haben gemerkt, es kommt eine
Zwischenfrage aus der Fraktion der CDU/CSU.
Bitte.
Bitte schön, Kollege.
Sehr geehrter Herr Kollege Brase, Sie haben gerade
für die SPD-Fraktion eine Lobhudelei für Ihre Politik in
den ländlichen Räumen betrieben. Was sagen Sie denn
dazu, dass Ihr Spitzenkandidat in Niedersachsen den
Flächenfaktor aus dem kommunalen Finanzausgleich
herausnehmen möchte? Dies würde dazu führen, dass
gerade die ländlich geprägten Landkreise Mindereinnahmen von zum Teil mehr als 7 bis 8 Millionen Euro zu
verkraften hätten. Wie verträgt sich das mit dem, was Sie
hier in diesem Hause gerade den Koalitionsfraktionen
immer vorwerfen, nämlich dass sie angeblich nicht genug für den ländlichen Raum tun würden?
({0})
Ich glaube, hierzu sollten Sie sich einmal äußern. Wie
stehen Sie dazu?
Ich habe den Koalitionsfraktionen nicht vorgeworfen,
dass sie nichts für den ländlichen Raum tun. Ich habe nur
gefragt: Was macht diese Koalition bezogen auf die unzumutbaren Zustände von Werkvertragsarbeitnehmern
in der Schlachthofindustrie in Deutschland? Das habe
ich massiv kritisiert. Ich werde nicht aufhören, das auch
weiterhin zu kritisieren.
({0})
- Das ist unredlich, Herr Kauder. Wenn wir über den
ländlichen Raum reden, dann reden wir auch darüber, in
welchen Bereichen, in welchen Betrieben Menschen
beschäftigt sind, und dort werden sie unter unwürdigen
Zuständen beschäftigt.
Das war die Beantwortung der Frage des Kollegen
Andreas Mattfeldt. - Jetzt gibt es eine weitere Zwischenfrage von der Fraktion der Grünen. Herr Kollege Willi
Brase, gestatten Sie diese?
Ja, gerne.
Sie ist auch gestattet. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Brase, nur eine Frage: Anfang Januar steht das
Bauordnungsgesetz auf der Tagesordnung. Dann haben
wir die Möglichkeit, die Massentierhaltung einzudämmen. Bringen auch Sie einen entsprechenden Vorschlag
dazu ein?
({0})
Wir haben, wenn ich das richtig im Kopf habe, einen
Vorschlag in die Debatte eingebracht. Wir werden diesen
Vorschlag vervollständigen und die Debatte weiterverfolgen.
Wenn Sie mit den Menschen vor Ort reden, auch in
den ländlichen Regionen, wo es eine starke Landwirtschaft und auch immer mehr Einrichtungen für Massentierhaltung gibt, dann merken Sie, dass die Menschen
diese Einrichtungen nicht wollen. Wenn ich sehe, was
sich in Niedersachsen in den letzten Jahren teilweise entwickelt hat, dann muss ich sagen, dass das schon eine
Menge ist.
Die Menschen wollen ein Stück weit mitgestalten. Sie
wollen wissen: Was wird dort angebaut? Wie viel haben
wir schon? Müssen noch mehr Massentierbetriebe dazukommen oder nicht? Deshalb sagen wir: Wir wollen ihnen die Chance geben, mitzugestalten, und zwar sowohl
über das von Ihnen angesprochene Bundesbaugesetz als
auch dadurch, dass sie sich in den Regionen mit anderen
zusammensetzen und überlegen, wie sie dies auf den
Weg bringen können. Das halten wir für richtig.
({0})
Wir gehen davon aus, dass wir gleichwertige Lebensverhältnisse in unserem Land insgesamt weiter voranbringen werden. Das bedeutet keine Gleichheit, sondern
das ist das Erzielen und Aufrechterhalten von Mindeststandards im ländlichen Raum. Wir brauchen vernünftige Daseinsvorsorge, Infrastruktur und Erwerbsmöglichkeiten.
Eines dürfen wir jedoch nicht vergessen: Die demografische Entwicklung zwingt uns in unterschiedlichen
Bereichen zu unterschiedlichen Reaktionen und unterschiedlichen Verhaltensweisen in Bezug auf das, was
dort politisch zu machen ist. So haben wir auf der einen
Seite starke industriell geprägte ländliche Regionen, die
gut nach vorne marschieren und in denen es sogar Bevölkerungszuwachs gibt. Auf der anderen Seite haben
wir Regionen, aus denen immer mehr Menschen weggehen und in denen die Löhne nach unten abweichen. Dagegen wollen und müssen wir vorgehen. Deshalb freuen
wir uns auf die Debatte mit Ihnen, aber wir können es Ihnen nicht ersparen: Das, was im Bereich der Schlachtbetriebe läuft, können und wollen wir als SPD nicht akzeptieren.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Claudia Bögel für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Für mich ist Provinz nichts Negatives“ - das
ist ein Zitat von Rainer Brüderle zur Eröffnung unseres
Kongresses „Ländliche Räume, regionale Vielfalt - wie
gestalten wir die Zukunft?“ mit über 500 Teilnehmern.
Meine Heimat ist das Münsterland, und für mich gilt
auch: „Provinz ist nichts Negatives“; denn ich weiß, wie
lebens- und liebenswert das Landleben ist.
Die ländlichen Regionen sind auf der einen Seite Lebens- und Wirtschaftsraum, auf der anderen Seite stecken
ihre Potenziale in Kultur, Tradition und einer lebendigen
Bürgergesellschaft. Das ist also weit mehr als das stark
ideologisch geprägte Bild der grünen Auen und glücklichen Kühe. Sie sind geprägt von mittelständischer
Wirtschaftsstruktur, von den Hidden Champions, die mit
ihren Unternehmen ohne viel Aufhebens zur Regionalität beitragen und sehr nah am Menschen sind. Dies
zeichnet diese Unternehmen aus, und sie bieten Arbeitsplätze in der Region und erhalten somit soziale Strukturen.
Aber gerade auch die ländlichen Regionen sind durch
den demografischen Wandel, die ökonomischen Anforderungen und die ökologischen Bedingungen der Gegenwart vor große Herausforderungen gestellt. Erfreulich
ist, dass viele ländliche Räume diese Probleme eigenständig bewältigen können. Sie sind attraktive Lebensund Wirtschaftsräume mit guten Zukunftsperspektiven.
Anderen Regionen hingegen fällt es sehr schwer, diese
Herausforderungen zu bewältigen, vor allem strukturschwachen Gebieten mit starkem demografischem Wandel. Wir dürfen es nicht zulassen, dass aus diesen Regionen am Ende karges, verödetes Niemandsland wird.
Daher dürfen wir nicht nur auf Veränderungen reagieren,
nein, wir müssen sie aktiv mitgestalten. Es ist Aufgabe
der Politik, dass die Attraktivität ländlicher Räume erhalten bleibt.
Die schwarz-gelbe Koalition hat schon viele wichtige
Punkte für die ländlichen Regionen umgesetzt.
({0})
Wir haben das Landärztegesetz auf den Weg gebracht.
Wir haben das KWK-Gesetz auf den Weg gebracht. Wir
haben die landwirtschaftliche Sozialversicherung neu
geregelt. Wir haben das Telekommunikationsgesetz novelliert.
({1})
Ein Meilenstein; denn investitionsfreundliche Regelungen, ein wettbewerbsorientierter Ausbau, Hochleistungsnetze und die Funktechnik LTE sind gerade für ländliche
Räume von großer Bedeutung. Damit haben wir vielen
mittelständischen TK-Unternehmen gerade in der Fläche
Investitionssicherheit gegeben. Dies trägt regional deutlich zur Arbeitskräftesicherung bei.
Wir bleiben am Ball. Wir haben erkannt, dass noch
vieles getan werden muss, damit die ländlichen Regionen nicht abgekoppelt werden. Sie sind vielfältig, individuell und von unterschiedlicher Struktur und politischer
Historie geprägt. Deshalb ist es nicht eine Maßnahme,
die ergriffen werden muss. Aber es gibt ein klares Ziel:
Wir stärken die ländlichen Räume! Wir müssen dafür
sorgen - und diese Forderung in unserem Antrag ist ein
Novum -, dass zuständigkeitsübergreifend Bund, Länder, Kreise und Kommunen gemeinsam die Maßnahmen
umsetzen.
Als mittelstandspolitische Sprecherin meiner Fraktion
freut es mich besonders, dass wir unter anderem in den
Bereichen wirtschaftliche Entwicklung und Telekommunikation gute und praktikable Handlungsoptionen zusammengestellt haben. Die Breitbandversorgung ist ein
wichtiger Standortfaktor, vor allem für die Wirtschaft.
Es ist daher unser Ziel, eine flächendeckend gleichwertige Teilhabe von städtischen und ländlichen Regionen
am schnellen Internet zu erreichen. Die digitale Spaltung
müssen wir verhindern.
({2})
Die Wirtschaftsstruktur in ländlichen Regionen
Deutschlands ist vom Mittelstand geprägt. Viele Handwerksbetriebe, viele landwirtschaftliche Betriebe, oft in
traditionsreichem Familienbesitz, sind dort zu Hause,
viele IT-Unternehmen sind hinzugekommen. Wir wollen
die Kooperation von Wirtschaft und Forschung fördern.
Wir wollen ihre Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit
sicherstellen und, wenn möglich, verbessern. So setzen
wir uns dafür ein, dass die GRW- und GAK-Mittel mit
entsprechender Zweckbindung verstetigt werden. Das steigert die Innovationsfähigkeit vor allem mittelständischer
Unternehmen.
Meine Damen und Herren, Provinz ist nichts Negatives. Mit dem vorliegenden Antrag zeigen wir, dass uns
die ländlichen Regionen am Herzen liegen, dass wir uns
in unserer politischen Arbeit für starke, lebenswerte
ländliche Räume und eine gleichberechtigte Entwicklung von Stadt und Land einsetzen. Wir nehmen die Probleme der ländlichen Bevölkerung ernst. Wir schwelgen
nicht in ideologischen Fantasien. Wir setzen in unserem
Antrag konkrete handlungsorientierte Impulse. Der Antrag der SPD hingegen ist unkonkret, verwässert, ideologisch und fantasielose Prosa. Das, was Sie hier vorgelegt
haben, ist zu dünn.
({3})
Provinz ist alles andere als ein Schimpfwort. Im Gegenteil: Unser Land profiliert sich durch Regionalität,
durch kommunale Selbstverwaltung, durch starke ländliche Regionen. Diese Potenziale gilt es zu unterstützen;
denn sie reflektieren positiv auch auf die Ballungszentren, die oftmals hoch verschuldet sind.
Meine Damen und Herren, wir lassen unsere Zukunft
nicht durch ideologische Mauern verbauen. Wir lassen
unsere Zukunft nicht durch kurzfristige Denke zerstören.
Unser Antrag denkt Zukunft für ländliche Räume. Wenn
auch Sie so denken, müssen Sie einfach nur zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Alexander Süßmair für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich muss ganz ehrlich sagen: Als ich den Antrag
der Koalition zu den ländlichen Räumen das erste Mal
durchgelesen habe, habe ich mir auf gut Bayerisch gedacht: Ja, is’ denn heut scho’ Weihnachten?
({0})
Man weiß wirklich nicht so genau, ob man jetzt lachen oder weinen soll. Sie legen in Ihrem Antrag über
100 Forderungen zum ländlichen Raum vor und wollen
das Ganze in einer Sofortabstimmung durchs Parlament
peitschen, anstatt uns darüber in Ruhe und in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages gemeinsam fachlich beraten zu lassen. Das finde ich keine ernsthafte parlamentarische Arbeit; das muss ich ganz ehrlich sagen.
({1})
Daran sieht man vielleicht auch, was Ihnen der ländliche
Raum und die Menschen, die dort leben, wirklich wert
sind.
Aber wahrscheinlich sind Sie getrieben von der Angst
vor den anstehenden Wahlen. Bisher hatten Sie in den
Debatten zum ländlichen Raum ja nicht mehr als ein
paar warme Worte übrig und vertraten ansonsten die
Auffassung, die Menschen und die Kommunen im ländlichen Raum sollten selbst sehen, wo sie bleiben.
In Ihrem Antrag schreiben Sie nämlich zum Beispiel,
dass Bund, Länder, Kommunen und nichtstaatliche Akteure in einer gemeinsamen Verantwortung stehen. - Ja,
das mag schon sein. Nur, das Problem ist, dass vor allem
Kommunen und nichtstaatliche Akteure ihre Verantwortung überhaupt nicht mehr wahrnehmen können, und
zwar deshalb, weil die Kassen leer sind und weil die Einkommen niedrig sind.
({2})
Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik, aber leider auch der
Politik der vergangenen Bundesregierungen von RotGrün und Schwarz-Rot.
Dann machen Sie noch einen Vorschlag, den ich besonders eigenartig finde. Sie schreiben in Ihrem Antrag,
dass Kommunen zur Kofinanzierung von Fördermitteln,
zum Beispiel der Europäischen Union, private Gelder
oder Mittel aus Bürgerfonds akquirieren sollten, um
diese Kofinanzierung aufzubringen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich finde es wirklich
dreist, dass die Kommunen bei den Menschen auf dem
Land, die sowieso schon ihre Steuern bezahlen und im
Verhältnis zu den Menschen in den städtischen Zentren
weniger verdienen, auch noch entsprechende Gelder eintreiben sollen.
({4})
Sie sollten stattdessen lieber die Kriterien für Förderprogramme so umgestalten und den Bundesländern so helfen, dass sie diese Förderung auch wahrnehmen können,
weil sie diese Förderung am dringendsten brauchen.
({5})
Aber nein, was machen Sie? - Sie verpulvern lieber die
Milliarden, um Zockerbanken zu helfen, statt den Menschen in den ländlichen Räumen und den Kommunen
mit den leeren Kassen.
({6})
- So ist es aber.
Ich möchte Ihnen nicht absprechen - das gilt übrigens
auch für den Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur
Entwicklung ländlicher Räume vom Bundesministerium
von Frau Aigner -, dass die Analyse der Probleme richtig ist. Die Analyse ist bei Ihnen häufig richtig, aber die
Konsequenzen, die Sie daraus ziehen, sind häufig falsch,
ebenso wie die Maßnahmen, die Sie einleiten.
({7})
Ich möchte hier einige Beispiele bringen.
Erstens. Sie wollen zum Beispiel die Bundesverkehrswege ausbauen. Nun ist es meiner Meinung nach nicht
so, dass wir nicht schon genügend Straßen hätten!
({8})
Das Problem ist aber doch, dass es sich sowohl Bürger
als auch Kommunen leisten können müssen, auf diesen
Straßen etwas fahren zu lassen. Dazu kommt eben noch,
dass durch die Privatisierung der Deutschen Bahn - wo ist
Herr Kauder? - in den vergangenen Jahren viele Strecken
im ländlichen Raum stillgelegt wurden. So schaut es
doch aus. Dann ist Schluss mit der „schwäb’sche Eisebahne“. Das ist die Wahrheit, so schaut es aus im ländlichen Raum.
({9})
Als zweiten Punkt möchte ich erwähnen, dass auch
Sie Forschung und Wissenschaft im ländlichen Raum erhalten und fördern wollen.
({10})
Dann muss ich Sie fragen: Warum gibt es dann immer
noch das seit 1996 existierende und unter Helmut Kohl
eingeführte Konzept der Zentralisierung von Ressortforschung? Das haben Sie auch nicht abgeschafft. Stattdessen haben Sie in den vergangenen Wochen bei den Haushaltsberatungen auch noch gesagt, das Bundesinstitut für
Risikobewertung komme nicht nach Neuruppin in Brandenburg, also in den ländlichen Raum. Das ist doch unglaubwürdig, was Sie hier machen!
({11})
Dritter Punkt: Sie wollen den Fahrradtourismus und
das Fahrradwegenetz erweitern.
({12})
Da frage ich Sie, warum Sie die Mittel dafür im Haushalt gestrichen haben. Das ist doch absurd, wenn Sie das
dann hier hineinschreiben.
({13})
Dann geht es noch um das Ehrenamt bzw. die Förderung des Ehrenamtes.
({14})
Sie wollen das Rentenrecht ändern, damit Rentnerinnen
und Rentner etwas mehr dazuverdienen können, wenn
sie ehrenamtlich engagiert sind. Was ist aber mit den
ALG-II-Empfängern? Da wird nämlich bei ehrenamtlicher
Tätigkeit das ganze Einkommen voll auf die Bezüge angerechnet. Das könnten Sie auch einmal ändern, das gilt
nämlich auch für kommunale Ämter.
({15})
Da tun Sie aber nichts. Diese Menschen haben genauso
das Recht, sich ehrenamtlich zu engagieren.
({16})
Dann gibt es noch Forderungen zum Ehrenamt generell, zur freiwilligen Feuerwehr und zum Katastrophenschutz. Da könnten Sie auch einmal etwas ändern, denn
ehrenamtliche Tätigkeit - auch bei der Feuerwehr - ist
bei Arbeitgebern nicht so gern gesehen und teilweise sogar ein Einstellungshinderungsgrund. Da könnten Sie
auch einmal aktiv werden, anstatt hier nur warme Worte
zu finden.
({17})
Eines ist wirklich dreist: Was machen Sie, nachdem
Sie Ihre über 100 Forderungen aufgestellt haben? - Sie
stellen das Ganze ganz unverschämt wegen der Haushaltslage sofort unter Finanzierungsvorbehalt. Man
müsse die Konsolidierung berücksichtigen, den Fiskalpakt, 1 Prozent maximal für die EU. Warum stellen Sie
denn keine Mittel ein, wenn Sie 100 Vorschläge machen? Sie müssen doch auch sagen, wie Sie die Vorschläge umsetzen wollen! Das ist völlig unglaubwürdig.
({18})
Dann kam noch der absolute Kracher. Da könnte man
fragen: Is’ denn heut scho’ Silvester? Sie haben gesagt,
einer der Parlamentarischen Staatssekretäre solle Koordinator für die ländlichen Räume werden. Ist das wirklich Ihr Ernst? - In anderen Ländern beschäftigen sich
ganze Ministerien mit der Entwicklung des ländlichen
Raums. Aber vielleicht ist ja der Parlamentarische Staatssekretär einer der Weihnachtswichtel, die am Nordpol
die Geschenke zusammenbauen.
({19})
An der Stelle sage ich Ihnen, Herr Staatssekretär Müller
und Herr Staatssekretär Bleser: Ziehen Sie sich schon
einmal warm an!
({20})
Für die Förderung von bürgerschaftlichem Engagement in der Zivilgesellschaft möchten Sie eine Akademie oder eine Bundesstiftung gründen. Dazu habe ich einen guten Vorschlag an Sie. Anfang September haben
die Kollegin Frau Behm und ich im Auftrag des Deutschen Bundestages als Abordnung das 12. Dorfparlament in Schweden besucht.
({21})
Von der FDP, CDU und CSU war leider niemand dabei.
Sie hätten dort vor Ort sehen können, dass uns andere
Länder Lichtjahre voraus sind. Dort sind über 700 Menschen zusammengekommen, die die Interessen des ländlichen Raumes vertreten und über dessen Anliegen beraten haben. Minister haben sich die Klinke in die Hand
gegeben, und die Beschlüsse, die dort gefasst werden,
werden direkt in die Ministerien eingespeist. So etwas
gibt es in vielen anderen europäischen Staaten. Auch in
Deutschland gibt es schon Initiativgruppen, zum Beispiel in Brandenburg. Das sollten Sie unterstützen: ein
Dorfparlament und eine Dorfbewegung für zivilgesellschaftliches Engagement in den ländlichen Räumen.
({22})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Meine Damen und Herren, es tut mir leid: Ihre Wunschliste ist für die Menschen im ländlichen Raum leider nichts wert. Es bleibt
dabei: gute Arbeit, gute Löhne, eine lebenswerte Umwelt und eine öffentliche Daseinsfürsorge, die nicht unter finanziellen und fiskalischen Vorbehalten steht - dafür ist die Linke; das brauchen die Menschen im
ländlichen Raum. Warme Worte reichen nicht.
({0})
Das Wort hat nun Cornelia Behm für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Zustimmung schwindet - nicht nur für die
FDP, sondern auch für die Union, nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Raum.
({0})
Da waren die Bauern seit Jahren die treuesten Parteigänger, die die schwarzen Regierungen im Sattel hielten,
und nun das: Flächenländer wie Nordrhein-Westfalen,
({1})
Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein werden rotgrün und Baden-Württemberg gar grün-rot regiert. Das
war wohl der Anstoß dafür, in der Koalition mal über
eine Strategie für den ländlichen Raum nachzudenken.
Dass die Ursachen für die verlorenen Wahlen in der
verfehlten Politik der letzten Jahre liegen könnten,
({2})
wurde dabei wohl offensichtlich völlig außer Acht gelassen: verzweifelte Milchbauern, Imker, die ihren Honig
nicht vermarkten können, weil Gentechnik drin ist,
Mais, soweit das Auge reicht, und Schweine- und Geflügelställe im Fabrikdesign.
({3})
Das ist nicht Schicksal. Das ist auch nicht dem erbarmungslosen internationalen Wettbewerb geschuldet. Das
ist einzig und allein Folge einer völlig verfehlten Agrarpolitik und einer fehlenden Strategie für den ländlichen
Raum.
({4})
Während manche Medien und große Nahrungsmittelkonzerne mit ihrer Werbung ein romantisches Bild vom
Landleben malen, verlassen junge, kreative und flexible
Menschen das Land und fliehen in die Städte, Gott sei
Dank nicht überall; es werden aber immer mehr.
({5})
Die Ursachen habe ich Ihnen beschrieben.
Wer das Land nur als Produktionsstandort für die
Agrarindustrie statt als Lebensraum sieht, der stellt von
vornherein die Weichen falsch.
({6})
Die grüne Bundestagsfraktion will die Weichen umstellen. Anknüpfend an die rot-grüne Regierungszeit und
mit den Erfahrungen der vergangenen Jahre haben wir
an Konzepten für den ländlichen Raum gearbeitet, die
den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt
stellen: den Menschen, seinen Lebensraum und seine
Lebensgrundlage.
Was wir in den letzten Jahren im Detail dazu erarbeitet haben, kann man nachlesen. Ob es unser Handlungskonzept zur Stärkung der regionalen Wertschöpfung ist
oder die Positionierungen zur Gesundheitsversorgung,
zur sozialen und technischen Infrastruktur oder zum
Tourismus in ländlichen Räumen sind: Sie funktionieren
nur mit einem Politikwechsel.
({7})
Nicht mehr Investitionen in Beton, sondern in Köpfe,
nicht mehr Alimentierung, sondern Unterstützung für
Forschung und Bildung, Innovation und Kooperation,
({8})
nicht mehr Wachsen oder Weichen, sondern Chancen für
Gründerinnen und Gründer, auch in der Landwirtschaft.
Der Green New Deal soll auch auf dem Land stattfinden.
({9})
Wir haben dafür Maßnahmen vorgeschlagen, und wir
haben sie durchgerechnet. Wir versprechen nichts, was
wir nicht halten können, wenn wir wieder regieren. Das
beweisen Grüne aktuell in den Ländern, in denen sie das
Ressort für den ländlichen Raum besetzen.
({10})
Nach den zahlreichen Wahlschlappen in der Vergangenheit hat die Koalition nun auch erkannt, dass sie im
ländlichen Raum etwas tun muss. Sie hat im März dieses
Jahres eine Koalitionsarbeitsgruppe „Ländliche Räume,
regionale Vielfalt“ eingesetzt. Die Kolleginnen und Kollegen haben schnell gearbeitet. Schon heute legen sie einen elfseitigen Antrag zur sofortigen Abstimmung vor.
Hut ab vor so viel Selbstvertrauen!
({11})
Elf Seiten und um die 100 Maßnahmen.
Wir sehen - hier stimme ich dem Kollegen Süßmair
zu - durchaus einige Übereinstimmungen hinsichtlich
der Analyse der Situation, auch bei den Herausforderungen und bei den Maßnahmen. Die allerdings haben bei
Ihnen meist empfehlenden Charakter und stehen unter
Haushaltsvorbehalt.
({12})
Zu so viel Selbstvertrauen hätte auch mehr Mut gepasst.
Es mangelt nicht nur an Mut, sondern auch an Ehrlichkeit.
({13})
Interessant ist beispielsweise, dass die Kolleginnen
und Kollegen der Koalition die GAK zu einem Förderinstrument für den ländlichen Raum entwickeln wollen.
Unseren Antrag dazu haben sie seinerzeit abgelehnt.
({14})
Und: Was soll die Vergabe von Prüfaufträgen bewirken,
wenn gehandelt werden muss?
Das schnelle Internet für alle bleibt ein Traum, wenn
wir uns auf diese Koalition verlassen. Breitband als Universaldienstleistung wie Post und Telefon - also die Verpflichtung der Telekommunikationsanbieter, einen Anschluss mit einer Bandbreite von vorerst 6 Mbit pro
Sekunde bereitzustellen - hätte aus dem Traum Wahrheit
werden lassen.
({15})
Unser Antrag hierzu - von Schwarz-Gelb abgelehnt.
Heute lehnen wir ab; denn wir brauchen keine Versprechungen, sondern Politik. Politik für die Menschen
im ländlichen Raum heute und für die, die dort künftig
leben wollen.
({16})
Das Wort hat nun Ingbert Liebing für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
ländlichen Räume in Deutschland stehen vor einer besonderen demografischen Herausforderung. In den
nächsten 40 bis 50 Jahren wird Deutschlands Bevölkerung nicht nur älter werden, sondern auch deutlich
schrumpfen. 12 bis 17 Millionen Menschen weniger in
Deutschland: Das ist die Bevölkerung von ganz Nordrhein-Westfalen oder den neuen Ländern. Alle weg.
Menschenleer. Diese Entwicklung findet nicht überall
gleichermaßen statt. Während manche Städte, manche
Metropolen noch wachsen, drohen ländliche Regionen
leerzulaufen.
Manche empfehlen ein einfaches Rezept. Die Starken
stärken, heißt es oft genug, gerade bei den Sozialdemokraten. Man müsse die Metropolen stärken, und das
helfe automatisch dem ländlichen Umland. Oder: Dem
ländlichen Raum sei ohnehin nicht zu helfen.
({0})
Das, meine Damen und Herren, kann nicht unsere Antwort sein. Wir haben ein anderes Ziel. Unser Ziel ist es,
auch die ländlichen Regionen lebensfähig und zukunftsfähig zu halten.
({1})
Dabei ist das kein Gegensatz zu den Anforderungen,
die die Städte an die Politik stellen. Natürlich brauchen
wir auch für die Probleme der großen Städte, der Metropolen, passgerechte Antworten auf bevorstehende Veränderungen. Es kann aber auch nicht im Interesse der
Städte liegen, wenn die ländlichen Räume ausbluten.
Schließlich klagen wir heute schon über steigende Immobilienpreise und steigende Mietkosten in den Städten.
Ungesteuerter Zuzug vom Land in die Städte würde
diese Probleme in den Städten noch mehr verschärfen.
Also ist es doch allemal sinnvoller, den Menschen dort
Zukunft zu geben, wo sie heute leben, als sie abzuschreiben.
({2})
Dafür brauchen wir eigenständige Entwicklungsstrategien für die ländlichen Räume. Dazu haben wir mit unserem Antrag und unserem Maßnahmenprogramm einen
wesentlichen Beitrag geleistet. Die Entwicklung der
ländlichen Räume werden wir nicht allein von der Bundesebene gestalten können. Wichtig sind die Kräfte vor
Ort, die wir wecken und unterstützen wollen. Wir brauchen starke Partner vor Ort. Wir brauchen auch die
Kommunen als Partner. Sie müssen zunehmend Aufgaben übernehmen,
({3})
gerade im Bereich der Daseinsversorgung, weil der
Markt es allein nicht mehr regelt.
In vielen Dörfern stellt sich doch heute gar nicht mehr
die Frage, ob etwas privat oder kommunal angeboten
werden soll. Die private Wirtschaft hat sich schon längst
aus manchen Bereichen zurückgezogen. Der Kaufmann
im Dorf hat schon lange dichtgemacht, und der Landarzt
findet keinen Nachfolger. Aus einem als unattraktiv
empfundenen Umfeld ziehen junge Familien weg in die
Stadt. Die Folge: keine Kinder, keine Schulen, keine
Kindergärten. Dies ist die Teufelsspirale, die wir durchbrechen wollen. Wir wollen alles tun, was möglich ist,
um das Leben auf dem Lande zu stärken und attraktiv zu
halten.
({4})
Ein Schlüsselthema ist hierbei die Telekommunikation. Wir brauchen schnelles Internet, und zwar überall,
auch im kleinen Dorf. Denn gerade dann, wenn Straßen
und Schienen nicht direkt vor der Haustür liegen, kommt
dem Internet, kommt der Datenautobahn eine besondere
Bedeutung zu. Die Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, bis 2018 Deutschland flächendeckend mit Breitband mit mindestens 50 MBit pro Sekunde zu versorgen.
Dieses Ziel wollen auch wir erreichen. Aber dafür
braucht es neue Anstrengungen. Viele regionale und
kommunale Initiativen haben sich bereits auf den Weg
gemacht, und die wollen wir mit zielgerichteten Förderprogrammen noch unterstützen.
Ein weiteres zentrales Thema für die ländlichen
Räume ist auch die Landwirtschaft, die auch heute noch
die Landschaft und die Menschen prägt. Wir wollen gerade jungen Menschen Mut machen, Familienbetriebe
fortzuführen. Aber die Landwirtschaft kommt heute
auch unter Druck: Siedlungsbau, Verkehrsinfrastruktur,
in jüngster Zeit insbesondere die Energiegewinnung auf
der Fläche schaffen neue Konkurrenz zur produzierenden Landwirtschaft. Pachtpreise steigen, Eigentümer erzielen höhere Preise durch Verkauf von Ausgleichsflächen als über die Landwirtschaft. Hier wollen wir helfen,
indem wir Flächenkonkurrenz abbauen, und wir wollen
bei der Ausgleichsthematik mit bundeseinheitlichen
Standards und Flächenaufwertung statt Flächenstilllegung der Landwirtschaft Zukunftsperspektiven sichern.
({5})
Die ländlichen Räume dürfen nicht zur Ausgleichsfläche
für wirtschaftliche Dynamik in den Städten missbraucht
werden. Die ländlichen Räume sind auch Wirtschaftsregion, meine Damen und Herren.
({6})
Gerade die Energiewirtschaft bietet den ländlichen
Räumen neue Chancen. Unsere Energiewende bedeutet
dezentralere Strukturen bei der Energieerzeugung. Wenn
wir das alles gut organisieren, dann bietet dies gerade
den Menschen in den ländlichen Räumen neue Chancen
der Wertschöpfung. In meiner Heimat in Nordfriesland
haben wir das mit den Bürgerwindparks seit inzwischen
mehr als 20 Jahren praktiziert. Wir haben gute Erfahrungen gesammelt; denn so bleibt Wertschöpfung in der Region, und dies steigert die Akzeptanz.
Wir haben insgesamt 105 Maßnahmen in unserem
Antrag aufgeführt, ein gutes kompaktes Bündel.
Nun hat aber auch die SPD-Fraktion einen Antrag
vorgelegt.
({7})
Dieser Antrag zeigt jedoch, dass die SPD wenig mit den
ländlichen Räumen anzufangen weiß. Das ist eine ganz
dünne Suppe, die Sie da servieren, meine Damen und
Herren.
({8})
Wenn Ihnen zum Thema Breitband nichts anderes einfällt als ein einziger Satz, Sie aber nicht einen einzigen
Vorschlag parat haben, was man denn tun kann, um den
Ausbau zu forcieren, dann zeigt das nur Ihre Ideen- und
Konzeptionslosigkeit.
Wir als Koalition haben uns an die Arbeit gemacht
und haben geliefert. Etliche Punkte sind schon im Gesetzgebungsgang über verschiedenste Gesetze. Heute hat
der Deutsche Bundestag die Chance, mit dieser Debatte
und mit einer klaren Beschlussfassung ein klares Bekenntnis zu den ländlichen Räumen abzulegen. Wir reden nicht nur über dieses Thema, wir handeln auch.
({9})
Tun Sie dies auch, stimmen Sie unserem Antrag zu.
Dann geben wir den Menschen gemeinsam Zukunft auf
dem Lande.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Florian Pronold für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ländliche Räume sind für viele Menschen Heimat und sind Orte der Verwurzelung. Gerade
in Zeiten, in denen das Leben immer schneller wird, in
denen die Menschen immer mehr dazu gezwungen werden, der Arbeit hinterherzuziehen, ist es besonders wichtig, dass man ländliche Räume stärkt, dass man diese
Heimat erhält, dass man Menschen nicht dazu zwingt,
von dort wegzugehen, wenn sie von dort nicht wegwollen.
({0})
Wir haben in dieser Debatte ein paar Punkte über die
Unterschiedlichkeit von ländlichen Räumen gehört, dass
es welche gibt, die mit den Herausforderungen gut umgehen können, die gute Bedingungen haben, und dass es
welche gibt, die vor wirklich großen Herausforderungen
stehen. Der ländliche Raum ist eben vielschichtig. Auch
die Probleme und Herausforderungen, die es dort gibt,
brauchen unterschiedliche Antworten. Man muss auch
aufpassen, dass man ländliche Räume nicht schlechtredet.
({1})
Ich war vor kurzem bei mir zu Hause in Niederbayern
bei einem Hidden Champion, einem kleinen Unternehmer, der aus München in den ländlichen Raum gezogen
ist. Er hat gesagt: Ich kann dort arbeiten, wo andere Urlaub machen. - Das ist toll, das ist schön und das macht
Spaß. Das ist eine Stärke von ländlichen Räumen, die
man auch hervorheben muss. Ländliche Räume sind attraktiv und bedeuten eben nicht nur Problemfelder.
({2})
Trotzdem gibt es Herausforderungen, denen man sich
zuwenden muss.
Ich hatte gedacht, dass dieses Thema jetzt endlich
ernst genommen würde.
({3})
Die Debatte wurde zunächst innerhalb der Kernzeit
angesetzt. Herr Kauder hat gesprochen.
({4})
Es hat sich dann aber mit seinen Kollegen unterhalten
und die Debatte nicht mehr weiter verfolgt.
({5})
- Doch, die ganze Zeit hat er geredet; ich habe ihn
beobachtet.
Außerdem vermisse ich einen Minister hier.
({6})
Am Anfang der Legislaturperiode, 2009, hat die CSU
darüber gestritten, welcher Minister die Zuständigkeit
für die ländlichen Räume erhalten solle. Ilse Aigner will
ich loben; sie ist anwesend. Aber derjenige, der die Zuständigkeit für die ländlichen Räume für sich reklamiert
hat, war Dr. Peter Ramsauer. Er hat sogar eine eigene
Abteilung für diesen Bereich gegründet, aber er ist heute
nicht hier.
({7})
Da frage ich mich schon: Wo bleibt denn da die Wertigkeit für die ländlichen Räume, wenn der Minister, der für
sich die Zuständigkeit am lautesten reklamiert hat, in der
Debatte heute nicht einmal anwesend ist?
({8})
Sie haben in Ihrem Antrag 105 Forderungspunkte
aufgestellt. Die wenigsten davon betreffen den Bund selber. Viele sind einfach nur nette Anregungen und Ideen
hinsichtlich geänderter Zuständigkeiten für Länder und
Kommunen. Das ist auch schön, das kann man machen.
Die spannendste Frage ist jedoch: Was haben Sie denn
für die ländlichen Räume in diesen drei Jahren getan, in
denen Sie die Verantwortung getragen haben? Was
waren Ihre Worte, und was sind Ihre Taten?
({9})
Herr Liebing, Sie haben gerade das Thema „Breitbandausbau“ angesprochen. Das ist wirklich ein großes
Problem in ländlichen Räumen. Ich habe einige Pressemitteilungen von Wirtschaftsministern dabei, die für
diesen Bereich zuständig waren - angefangen von Glos
über zu Guttenberg bis hin zu den FDP-Wirtschaftsministern - und die seit 2007 jedes Jahr eine neue
Initiative für den Breitbandausbau ankündigt haben, um
den ländlichen Raum mit Breitbandanschlüssen zu
versorgen.
Dann stellt sich zum Schluss der Herr Brüderle hin
und sagt: Die Probleme sind schon gelöst; 98,5 Prozent
der Bevölkerung in den ländlichen Räumen haben doch
einen Breitbandanschluss. - Ja, aber nur mit 1 Megabit
pro Sekunde. Wissen Sie, wie die Realität im Bayerischen Wald ausschaut? Da bin ich schneller, wenn ich
meine Daten auf eine CD brenne und sie von Haus zu
Haus trage, als wenn ich versuche, sie über das Internet
zu verschicken.
({10})
Das ist die Realität in vielen ländlichen Räumen. Das
liegt in Ihrer Verantwortung. Das haben Sie verpennt.
Sogar der Herr Kauder hat noch 2012 erklärt: Wenn
man die Stromversorgung in den ländlichen Räumen genauso angepackt hätte wie den Breitbandausbau, dann
gäbe es heute Tausende von Höfen im Schwarzwald, die
noch mit einer Kerze für Licht sorgen müssten, weil sie
keine Stromversorgung haben.
({11})
Das ist ein Zitat von Herrn Kauder, das Sie nachlesen
können. Da hat er recht. Dort, wo Sie Verantwortung getragen haben für ländliche Räume, haben Sie versagt.
Ein weiterer Punkt: Stärkung der Kommunen.
Nehmen Sie die Städtebauförderung. Sie haben einen
Extratopf für ländliche Räume geschaffen. Das schaut
zunächst gut aus. Aber wenn man sich einmal ansieht,
wohin die Mittel fließen, dann erkennt man: 40 Prozent
der Mittel für Städtebauförderung gehen wie bisher in
ländliche Räume. Aber diese Regierung hat im Vergleich
zu sozialdemokratisch geführten Bauministerien die
Städtebauförderung um 120 Millionen Euro gekürzt.
Das heißt: Unter dem Strich steht heute weniger Geld für
ländliche Räume zur Verfügung, obwohl es jetzt einen
eigenen Topf dafür gibt. Das ist Voodoo-Ökonomie, aber
keine Unterstützung für ländliche Räume, die eine
solche dringend benötigen.
({12})
Viele Menschen wollen gerne in den ländlichen
Räumen wohnen bleiben, müssen aber leider ihren Arbeitsplätzen hinterherziehen. Was ist die Antwort des
Bundesverkehrsministers, der heute nicht da ist? Seine
glorreiche Idee seit über drei Jahren ist eine Pkw-Maut,
die die Pendlerinnen und Pendler insbesondere in den
ländlichen Räumen, die lange Wege zur Arbeit in Kauf
nehmen, zusätzlich bestrafen würde. Wir müssen aber
doch die Menschen unterstützen, die in der Heimat bleiben wollen und dafür lange Wege zur Arbeit auf sich
nehmen. Man darf sie doch nicht noch zusätzlich bestrafen. Das ist aber Ihre Idee.
({13})
Wenn wir uns mit Problemregionen beschäftigen und
mit der Frage, was man gegen diese Probleme tun kann,
dann ist der Dreh- und Angelpunkt die Verbesserung der
Infrastruktur, zum Beispiel der Ausbau bei der Breitbandversorgung. Außerdem stellt sich die Frage, wie es
mit Arbeitsplätzen aussieht.
Wenn man heute Fachkräften einen Arbeitsplatz anbietet, muss man ihnen, um sie zu gewinnen, auch eine
gute Kinderbetreuung bieten.
({14})
Wenn die Kinderbetreuung nicht gut ist, dann gewinnt
man auch keine Fachkräfte. Es geht also um die Kinderbetreuung, um Fachhochschulen und Universitäten. Wir
müssen die Bildung wieder in die ländlichen Räume
tragen
({15})
und dürfen nicht alles in den Metropolen bündeln. Mit
Ihrem Betreuungsgeld nehmen Sie aber wieder einen
Anschlag auf die ländlichen Räume vor; denn damit
verschlechtern Sie die Infrastruktur in den Bereichen
Bildung und Kinderbetreuung.
({16})
Damit erweisen Sie den ländlichen Räumen wieder einen Bärendienst.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der schwarz-gelben Koalition, Sie
werden im nächsten Jahr mit der Kanzlerin einen großen
Kongress durchführen, um das Thema ländliche Räume
gemäß seiner Wichtigkeit zu behandeln.
({17})
Wenn Sie diesen Kongress so wichtig nehmen wie die
heutige Debatte, dann können Sie ihn gleich absagen.
({18})
Nehmen Sie das Thema ernst! Bieten Sie echte Lösungen an, nicht nur 105 Punkte aus dem Wolkenkuckucksheim!
({19})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Volker Kauder.
Herr Pronold, ich habe ja für vieles Verständnis; aber
Sie müssen den Frust, den Sie wegen Ihrer SPD in
Bayern haben, nicht hier abreagieren.
({0})
Kümmern Sie sich erst einmal um Ihre eigenen Sachen.
Ich wollte nur eine Bemerkung zu einem total falschen Satz von Ihnen machen. Jemandem, der einen so
falschen Satz in seiner Rede sagt, kann man unterstellen,
dass auch der Rest nicht richtig ist. Sie haben nämlich
geäußert, dass dort, wo wir für ländliche Räume Verantwortung getragen hätten, nichts passiert sei. Es ist nun
einmal Fakt - das bestreiten nicht einmal die Sozis -,
dass wir in Baden-Württemberg unter der CDU-geführten Landesregierung eine super Politik für ländliche
Räume gemacht haben; das Gleiche gilt für Bayern.
({1})
- Hören Sie einmal zu; es wird noch besser. - Jetzt
haben Sie das große Problem, dass der stellvertretende
Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der ein Sozi
ist, gesagt hat, es sei für die ländlichen Räume völlig
wurscht, „ob es einen Bauern mehr oder weniger“ gebe.
Er hat damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Dort, wo Sozialdemokraten über die Entwicklung von
ländlichen Räumen entscheiden, geht es so aus wie in
Baden-Württemberg: verheerend, furchtbar. Die Sozialdemokraten im ländlichen Raum schämen sich für den
stellvertretenden Ministerpräsidenten, der Mitglied der
Sozialdemokraten ist. - So viel zur Verantwortung für
ländliche Räume.
({2})
Kollege Pronold, wollen Sie darauf reagieren? - Bitte
schön.
Herr Kauder, wenn Sie anderen vorwerfen, dass sie
falsch zitieren, sollten Sie selber richtig zitieren. Ich
habe hier gesagt, dass Sie dort, wo Sie auf der Bundesebene für ländliche Räume Verantwortung tragen - das
habe ich an mehreren Beispielen deutlich gemacht -, das
Gegenteil gemacht haben: Sie haben in der Städtebauförderung die ländlichen Räume benachteiligt. Sie haben
bei der Breitbandversorgung der ländlichen Räume versagt; das ist so.
({0})
Das gilt auch für viele andere Bereiche. Nehmen Sie
die Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, also die Mittel für den ÖPNV im ländlichen Raum:
Die Zuschüsse werden jetzt um die Hälfte gekürzt. Das
wird in den nächsten Jahren in den ländlichen Räumen
Katastrophen auslösen, und dafür tragen Sie die Verantwortung.
Ich kenne mich mit den Details zu Baden-Württemberg nicht so gut aus wie Sie. Aber ich kann Sie bitten,
die Kollegen von der CSU zu fragen - Herr Hinsken
sitzt dort -, was Herr Seehofer mit der von ihm initiierten „Zukunftskommission Landwirtschaft“ ausgelöst
hat. Er hat in diesem Zusammenhang genau das gefordert, was uns Herr Liebing fälschlicherweise vorgehalten
hat; er hat nämlich gefordert, die Starken zu stärken.
Damit hat er einen Proteststurm in Niederbayern und im
ganzen ländlichen Raum ausgelöst. Herr Seehofer
musste extra fünf Stunden mit den Menschen dort sprechen, um die Gemüter zu beruhigen. Er hat dort einen
großen Forderungskatalog entgegengenommen, aber
nichts davon ist umgesetzt.
Insofern gilt: Nicht reden, sondern handeln! An ihren
Taten sollt ihr sie erkennen. Deswegen sage ich: Machen
Sie doch hier kein großes Buhei, sondern sorgen Sie
dort, wo Sie die Verantwortung tragen, dafür, dass wirklich etwas für die Stärkung ländlicher Räume getan wird.
({1})
Das Wort hat nun Edmund Geisen für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Gäste! Die Bedeutung der ländlichen
Räume ist unschätzbar groß, und zwar viel größer als gemeinhin angenommen. Herr Pronold, Sie haben gesagt,
dass Sie hier einige Minister vermissen. Ich möchte Ihnen sagen: Ich vermisse Ihren Fraktionsvorsitzenden und
sogar Ihren Kanzlerkandidaten.
({0})
- Wenn Sie dem Thema eine entsprechende Bedeutung
beimessen, dann lassen Sie mich das ebenfalls tun.
Herr Pronold, ich muss Sie korrigieren: Die schwarzgelbe Regierung hat das getan, was Sie eben zu vermissen meinten. Sie hat ein Städtebauprogramm für
Gemeinden und Kleinstädte aufgelegt, das bereits wirkt.
Das wussten Sie anscheinend noch nicht.
({1})
Es ist beispielhaft und zukunftsweisend, dass der
ländliche Raum durch den vorliegenden Antrag der
christlich-liberalen Koalition deutlich wie nie zuvor in
den Fokus gerückt wird. Wir setzen mit diesem Antrag
die Rahmenbedingungen für eine gute Zukunft. Wir
haben nicht wie andere Fraktionen schnell einen Antrag
geschrieben, wie Herr Süßmair oder wer auch immer es
eben erwähnte.
({2})
Wir haben seit dem Frühjahr 2012 in vielen Sitzungen
mehr als 40 oder 50 Experten angehört. Ich weise die
Unterstellung zurück, dass wir nicht sorgfältig gearbeitet
hätten.
({3})
Die ländlichen Räume sind für mich die Stützpfeiler
und das Rückgrat unserer Gesellschaft.
({4})
In funktionierenden ländlichen Räumen kann man noch
von einer intakten Gesellschaft sprechen. Hier übernehmen die Bürgerinnen und Bürger Verantwortung und
zeigen großes ehrenamtliches Engagement. In den ländlichen Räumen, die ich gut kenne, ist das so.
({5})
Kurz gesagt: Die sozialen Probleme dort sind gering, es
gibt keine sozialen Brennpunkte und weniger Arbeitslose. Die Sozialbudgets werden hier am geringsten
belastet. Immerhin wohnen mehr als 50 Prozent unserer
Bevölkerung in den ländlichen Räumen.
Funktionierende ländliche Räume müssen attraktiv
bleiben, um einer Ausdünnung der Bevölkerung entgegenzuwirken. Das heißt, die Multifunktionalität - Stichworte dazu sind: Nahrungsmittel- und Energieproduktion, Wirtschaftsfaktor, Erholungsgebiet, Klimaschutz
usw. - muss erhalten bleiben. Die Landwirtschaft mit
ihren vor- und nachgelagerten Bereichen muss prosperierend bleiben und zukunftsfähig sein. Mittelstand und
Tourismus sind zu erhalten und zu stärken. Die Daseinsvorsorge ist selbstverständlich attraktiv und zukunftsfähig auszugestalten. Die Infrastruktur - Breitband,
Schienen- und Straßenverkehr - muss gleichwertig mit
der der Städte zukunftsgerecht ausgebaut werden.
Die Nahrungsmittel- und Energieversorgung wird in
Zukunft die wichtigste Anforderung an die ländlichen
Räume sein.
({6})
Lassen Sie mich das als Agrarier unserer Fraktion sagen.
Deshalb müssen wir besonders darauf achten, dass keine
weiteren wertvollen Flächen mehr aus der Produktion
genommen werden.
({7})
Deshalb wendet sich meine Fraktion klar gegen die
unsinnigen Greening-Beschlüsse aus Brüssel, die uns
bisher vorliegen.
({8})
Auch wir von der FDP-Fraktion plädieren schon lange
eindeutig dafür, dass im Bundesnaturschutzgesetz das
Ersatzgeld als gleichrangige Kompensationsmaßnahme
für den Flächenausgleich zu verankern ist.
({9})
Wir müssen vor allen Dingen darauf achten, dass die
Symbiose von Land und Stadt erhalten und zukunftsfest
gemacht wird. Sie wissen, wovon ich spreche: Die
Städte geben dem Land etwas, das Land gibt den Städten
etwas. Statt für eine stetige Vergrößerung der Ballungsgebiete zu sorgen, sollten wir aus meiner Sicht vielmehr
dafür sorgen, dass die Menschen in attraktiven ländlichen Gebieten wohnen bleiben.
({10})
Dies dient der gebotenen Entzerrung und hat mit gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Vorteilen
zu tun, auch rechnerisch.
({11})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Vielen Dank, Herr Präsident, für diesen Hinweis. Gestatten Sie mir noch einen Satz.
Bei der Zukunftsplanung - das merken Sie heute besonders - drückt die christlich-liberale Koalition auf das
Tempo. Mit dem vorliegenden Antrag „Zukunft für ländliche Räume - Regionale Vielfalt sichern und ausbauen“ haben CDU/CSU und FDP den Grundstein gelegt. Erste
Schritte zur Umsetzung sind übrigens schon gemacht
worden: beim Ehrenamt, im TKG und im Baugesetzbuch.
Herr Kollege, Sie wollten doch nur einen Satz sagen.
Verehrter Herr Präsident, was wir hier machen, ist Zukunftspolitik. Deswegen kam ich nicht ganz so schnell
zum Schluss.
({0})
Das ist jetzt aber wirklich der letzte Satz.
Das ist Zukunftspolitik der christlich-liberalen Koalition. Ich bin sicher, dem können alle zustimmen.
({0})
Das Wort hat nun Bettina Herlitzius für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Liebing, Sie haben mit Ihrem Antrag und gerade mit Ihrer
Rede gezeigt, dass Sie ein paar grundlegende Sachen noch
nicht verstanden haben. Sie reden über Städte und über
ländliche Räume. So einfach ist das aber nicht. Mit einem
einfachen Schwarz-Weiß-Bild lassen sich ländliche
Räume und Raumentwicklung nicht mehr beschreiben.
({0})
Wir haben Siedlungsbereiche; wir haben Ballungsbereiche. Schrumpfende und wachsende Regionen liegen oft
nur ein paar Kilometer auseinander. Sie polarisieren hier
beim Thema ländlicher Raum. Das, was Sie sagen, entspricht aber nicht mehr der Realität in unserem Land.
({1})
Da Sie den Raumordnungsbericht hier angehängt haben, könnte man denken, dass Sie es verstanden haben;
denn die Raumordnung ist das Instrument, mit dem Sie
steuernd eingreifen können. Mit diesem Instrument können Sie versuchen, die Vorgabe des Grundgesetzes,
gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, umzusetzen. Sie können Raumordnungspläne für die Bereiche
Energie, Mobilität und Wohnen erstellen. Das machen
Sie aber nicht.
Sie bleiben bei Ankündigungen stehen, auch in diesem Antrag. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe,
habe ich gedacht, er kommt von der anderen Seite des
Parlaments.
({2})
- Ich habe uns alle von der Opposition damit gemeint. Er enthält viele schöne anerkennende Worte, Sie machen
aber nichts. Sie reden über die Städtebauförderung, die
Sie auf hohem Niveau halten wollen. Ihr Minister kürzt
die Mittel aber. Sie sagen, das Programm „Altersgerecht
Umbauen“ solle verstetigt werden, der Mittelansatz solle
erhöht werden, und das Programm solle auch für den Bereich der öffentlichen Gebäude Anwendung finden. Ihr
Minister hat das Ganze aber schon wieder auf null gesetzt.
({3})
- Natürlich! Das Ganze ist in den Haushaltsdebatten auf
null gesetzt worden. Erzählen Sie hier doch nicht irgendwelchen Unsinn.
In Ihrem Antrag steht, dass im Bundesverkehrswegeplan auch die ländlichen Räume berücksichtigt werden.
Sagen Sie das doch einmal Ihrem Minister. Der geht
streng nach dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit vor.
({4})
Entflechtungsgesetz, ÖPNV im ländlichen Raum - geben Sie Geld dazu. Erzählen Sie uns doch nicht das Gegenteil.
Genau das Problem haben wir hier: Dieser Antrag enthält viele Ankündigungen. Das ist vielleicht ein Wünschdir-was-Wahlprogramm für Niedersachsen, aber kein
Antrag, der dem Anspruch einer Regierung entspricht,
die handeln kann.
({5})
- Zwei Minuten, das reicht für Sie.
({6})
Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! An Ihre Adresse, Herr Pronold, sage ich - das
gilt aber auch für meine Vorrednerin, Frau Herlitzius -:
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Bayern heute an der
Spitze steht,
({0})
und zwar ohne Mithilfe der SPD. An der Spitze wollen
wir auch bleiben.
({1})
Ich bin im ländlichen Raum geboren, dort aufgewachsen, und ich stehe zum ländlichen Raum. - Dieser Satz
könnte von mir stammen, aber er stammt von unserer
Bundeskanzlerin Angela Merkel.
({2})
Ich bin stolz, dass wir diese Debatte heute nicht nur eröffnen, sondern auch deutlich machen, dass wir die ländlichen Räume schätzen. Für uns sind sie ein wertvolles
Stück Deutschland mit wunderbaren Menschen.
Was sagt Kanzlerkandidat Steinbrück, der heute abwesend ist, dazu?
({3})
Ich zitiere aus der FAZ vom Sonntag. Dort wird
Steinbrücks Haltung zum ländlichen Raum wie folgt
wiedergegeben:
Die Cleveren gingen da weg, sagt er, das seien die
Frauen. Bleiben würden nur die doofen Männer.
„Die Frauen sagen: Ich gehe dahin, wo die besseren
Jobs sind und außerdem sind mir die hiesigen Knacker eh zu blöd.“
({4})
Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Ich
stimme damit überein, dass es nicht den ländlichen
Raum gibt. Aber die Hälfte der Menschen wohnt dort.
Offenbar haben Ihr Kanzlerkandidat und Sie den ländlichen Raum schon abgeschrieben. Offenbar mangelt es
Ihnen auch an Respekt vor der Lebensleistung der Menschen im ländlichen Raum.
({5})
Deshalb lautet mein dringender Rat: Schärfen Sie Ihren Blick auch für Themen jenseits der Finanzmärkte!
Bevor nämlich mit Lebensmitteln an der Börse spekuliert wird - das ist sicher ein Thema, über das man reden
muss -, werden sie immer noch produziert, und das passiert Gott sei Dank noch immer in der realen Welt durch
unsere Bauern und Bäuerinnen.
({6})
Dafür gebührt ihnen Respekt und Anerkennung. Wir
können in unserem Leben auf vieles verzichten, aber
nicht auf Essen und Trinken.
({7})
Deshalb ist für mich jeden Tag Erntedank. Wir brauchen unsere Bauern als Garant für hochwertige und vielfältige Lebensmittel und als Garant für regionale Produkte,
({8})
aber auch als Garant für eine einmalige, vielfältige und
gepflegte lebens- und liebenswerte Kulturlandschaft.
({9})
Frau Behm, in der Opposition kann man natürlich alles versprechen.
({10})
Es ist aber schon dreist, wenn Sie hier so tun, als könne
man die Gemeinsame Agrarpolitik zurückdrehen. Es ist
vielmehr so: Die Agrarpolitik ist die einzige vergemeinschaftete Politik in Europa. Wir wollen, dass das auch so
bleibt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der SPD-Fraktion?
Ich will erst meine Rede beenden.
({0})
Wir wollen konkret eine Imagekampagne pro Landwirtschaft starten. Warum? Hier reden Sie positiv über
die Landwirtschaft. In den nichtöffentlichen Ausschüssen und anderswo schimpfen Sie über die Landwirte und
nennen sie „Massentierhalter“ und „Umweltverschmutzer“.
({1})
Die Schlachtbetriebe, die Sie erwähnt haben, liegen in
den Ballungsräumen.
({2})
Also sind hier eher die Städte gefordert als der ländliche
Raum. Pro Landwirtschaft heißt für uns: Mehr Nachwuchs für landwirtschaftliche Familienbetriebe. Das
heißt aber auch: Mehr Akzeptanz und Aufklärung innerhalb unserer Bevölkerung.
({3})
Der Kollege Liebing hat angesprochen, dass wir in
Zusammenarbeit mit den Bundesländern das sogenannte
Grundstücksverkehrsgesetz anpassen müssen. Warum?
Es ist aus unserer Sicht dringend erforderlich, dass das
Vorkaufsrecht zugunsten aktiver Land- und Forstwirte
weiter gestärkt wird und dass sie noch vor Investoren
und Grundstückskäufern zum Zuge kommen. Das ist
eine absolute Zukunftsfrage.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Behm?
Herr Präsident, ich will erst meine Rede beenden.
({0})
Ich darf zum Schluss kommen. Zur Energie ist schon
viel gesagt. Ich sage noch: Der ländliche Raum ist der
Schauplatz der Energiewende. Uns ist der Rohstoff Holz
auch deshalb wichtig, weil er einen großen Beitrag zur
Biomasse und damit zur Energiewende, aber auch zur
Wertschöpfung in den ländlichen Räumen leistet.
Sie reden immer über Mais; das ist ein Kampfthema
für Sie. Mais ist für uns die Pflanze, die die meiste Energie liefert. Mais ist ein Superfuttermittel und eine
Pflanze, die am meisten CO2 speichert, nämlich mehr,
als dies 1 Hektar Buchenwald könnte. In meinem Landkreis beträgt der Anteil der Waldfläche 50 Prozent. Kein
Mensch käme auf die Idee, im Zusammenhang mit Wald
von „Verwaldung“ zu sprechen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deshalb wollen wir hier als Reaktion auf den Klimawandel ein Forschungsprojekt für holzstandortgerechte
Baumartenwahl auf den Weg bringen.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss
kommen.
Ich weiß, Herr Präsident.
Na, dann machen Sie es doch auch.
({0})
Ich schließe mich den Worten von Herrn Geisen an:
Wenn es um die Zukunft geht, dann lassen wir uns von
niemandem übertreffen. Ländliche Räume brauchen und
haben Zukunft. Die besten Zukunftsaussichten haben sie
mit der Politik der christlich-liberalen Koalition. Wir
sorgen dafür, dass Stadt und Land im Gleichgewicht
bleiben. - Herr Präsident, ich bitte vielmals um Entschuldigung.
({0})
Ich bin mir nicht sicher, ob es so wichtig war, auch
noch den letzten Satz abzulesen, und ob alle gleichermaßen davon begeistert sind.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Florian
Pronold.
Frau Mortler, ein Tipp: Wir wollten mehrere Zwischenfragen stellen, die Ihre Redezeit unheimlich verlängert hätten.
({0})
Vielleicht wäre es das nächste Mal ganz klug, die Zwischenfragen zuzulassen.
Erstens. Ich will im Zusammenhang mit dem Thema
Schlachthöfe auf Folgendes hinweisen: Schauen Sie sich
zum Beispiel die Probleme und die Arbeitsbedingungen
an, die beim Schlachthof in Waldkraiburg herrschen.
Hierbei handelt es sich nicht um einen Schlachthof in einer Metropolregion. Das wollte ich Ihnen an dieser
Stelle aufgrund meiner bayerischen Kenntnis sagen.
Zweitens. Wenn Sie den ländlichen Raum ernst nehmen, dann würde ich Sie einmal einladen, mit mir dorthin zu gehen. Kommen Sie nach Niederbayern, kommen
Sie in den Bayerischen Wald, und reden Sie dort mit Unternehmern und mit Landwirten, zum Beispiel über die
Politik auf der Landesebene, die für ungleiche Lebensverhältnisse in Bayern gesorgt hat. In keinem anderen
Flächenstaat in Deutschland sind die Lebensbedingungen der Menschen und die wirtschaftlichen Bedingungen
so unterschiedlich wie in Bayern.
Bayern geht es gut. Darüber freue ich mich. Es gibt
dort viele Dinge, die positiv sind. Aber kommen Sie einmal mit zu den Menschen, und hören Sie gerade den
Menschen im ländlichen Raum zu. Sie werden Ihnen sagen, wo die Probleme liegen. Das betrifft die Bereiche
Kinderbetreuung, Fachhochschulstruktur und Bildung
sowie Fragen des Internetzugangs, der Hausärzteversorgung usw. Sie können nicht einfach sagen, dass dort alles
gut ist. Es gibt dort eine Menge Herausforderungen, auf
die Sie heute keine Antwort gegeben haben.
({1})
Frau Kollegin Mortler, Sie können reagieren.
Herr Kollege Pronold, mit den Menschen zu reden,
das ist für mich nicht nur Daueraufgabe, sondern auch
Dauerzustand. Ich bin regelmäßig im Land unterwegs,
vor allem im ländlichen Raum. Seien wir ehrlich: Wir
fangen ja nicht bei Adam und Eva an. Unser Ziel mit
diesem Antrag heute ist, Lücken und Defizite, die es dort
gibt, im positiven Sinne zu korrigieren.
Noch einmal: Bayern ist und bleibt an der Spitze,
wenn es um die wirtschaftliche und die Arbeitsmarktentwicklung geht. Wenn Sie sich ab und zu an dieser Landesregierung ein Beispiel nehmen, können Sie eigentlich
gar nichts falsch machen.
({0})
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Pronold, ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern. Sie können mir eines glauben: Unsere Menschen würden sich einen Entwicklungsstand
der ländlichen Regionen wie in Bayern wünschen.
({0})
Sechs Jahrzehnte zuvor war Bayern das rückständigste
Agrarland in Deutschland.
({1})
Heute ist es an der Spitze. Ihre Sorgen, Herr Pronold,
möchten wir in Mecklenburg-Vorpommern wirklich einmal haben.
({2})
Herr Kollege Süßmair, für die Länder und Kommunen in Deutschland ist und war in den letzten vier Jahren
Weihnachten. Denn wir als CDU/CSU- und FDP-Koalition haben dafür gesorgt,
({3})
dass die Länder in den Jahren 2010 bis 2013 36 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen hatten bzw. haben
werden.
({4})
36 Milliarden Euro in vier Jahren, das gab es noch nie in
der Bundesrepublik. Die Kommunen werden in diesem
Zeitraum ein Mehr an Steuern von 15 Milliarden Euro
haben. Zusammengerechnet sind das 51 Milliarden
Euro, die durch unsere gute Politik in Länder und Kommunen transferiert werden.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Priesmeier?
Sehr gerne.
Herr Kollege Rehberg, ich bewundere ja die Zahlen,
die Sie genannt haben, und die Tatsache, dass Sie dafür
gesorgt haben, dass so viel Liquidität in die Länder und
Kommunen geflossen ist. Aber wie bewerten Sie denn
die Situation in Niedersachsen - vor zehn Jahren hat
man die Verbundquote im kommunalen Finanzausgleich
geändert; das hat dazu geführt, dass in zehn Jahren pro
Jahr ungefähr 300 Millionen Euro nicht in den kommunalen Finanzausgleich und an die Kommunen geflossen,
sondern beim Land verblieben sind - und den Umstand,
dass die Kassenkredite der Kommunen vom Beginn des
Haushaltsjahres 2003 bis zum 30. Juni des Haushaltsjahres 2012 von 2 Milliarden Euro auf 5 Milliarden Euro
gestiegen sind?
Herr Kollege, wenn ich die Situation in meinem eigenen Heimatland, wo SPD und CDU gemeinsam regieren,
betrachte, muss ich sagen: Die Finanzzuweisungen sind
massiv gesunken, die Steuereinnahmen aber massiv gestiegen. Ich, der ich 15 Jahre Landespolitik gemacht
habe, weise immer wieder darauf hin: Egal in welcher
parteipolitischen Konstellation ein Land regiert wird,
entscheidend ist, dass die Steuermehreinnahmen, die der
Bund durch seine Politik generiert - die Steuerhoheit hat
nämlich der Bund -, letztendlich auch bei den Kommunen ankommen.
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen. Ich finde,
eine der wichtigsten Entscheidungen dieser Legislaturperiode war, dass wir dafür gesorgt haben, dass der Bund
bei der Grundsicherung im Alter die Lasten der Kommunen übernimmt.
({0})
Noch einmal: Der Bund übernimmt die Lasten der Kommunen.
({1})
Ich kann Ihnen Bundesländer mit Regierungen jeglicher
politischer Couleur nennen, in denen von den dafür vorgesehenen 4,5 Milliarden Euro nicht alles bei den Kommunen landet. Manche Länder haben klebrige Finger.
({2})
Ein weiteres Beispiel. Ich finde es gut, dass Frau
Ministerin Schröder so sehr dafür gekämpft hat, dass die
580 Millionen Euro, die für den Krippenausbau zur Verfügung gestellt werden, von den Ländern verbindlich zu
diesem Zweck eingesetzt werden müssen. So lässt sich
verhindern, dass dieses Geld irgendwo in einem Landeshaushalt verschwindet und die Mittel für den Krippenausbau nicht bereitgestellt werden. Denn wir haben eine
Absprache getroffen: Ein Drittel der Kosten des Krippenausbaus trägt der Bund, ein Drittel tragen die Länder
und ein Drittel die Kommunen. Wenn Sie sich die Situation in den Ländern ansehen, können Sie feststellen, wie
viel von diesem Geld letztendlich wirklich bei den Kommunen angekommen ist. Die Länder machen sich hier
oft einen schlanken Fuß, Herr Kollege.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Kelber?
({0})
Sehr gerne.
Sie haben gerade über die Grundsicherung im Alter
und die mit der getroffenen Regelung einhergehende
Entlastung der Kommunen gesprochen. In der Tat wird
es zu einer schönen Entlastung kommen. Meine Heimatstadt Bonn zum Beispiel
({0})
wird dadurch um fast 20 Millionen Euro im Jahr entlastet.
Meine Frage an Sie lautet: Lügen denn die deutschen
Journalisten, wenn sie im Zusammenhang mit diesem
Thema berichten, dass die gefundene Regelung das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zwischen Bundestag und Bundesrat war und dass die Regelung, dass der
Bund die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter
übernimmt, dort von den SPD-regierten Bundesländern
vorgeschlagen wurde und Ihnen abgerungen werden
musste?
({1})
Herr Kollege Kelber, Sie sind gut, wenn es darum
geht, Märchen zu erzählen und Legenden zu bilden.
({0})
Ich habe das ganz anders in Erinnerung. Das war eine
Initiative von CDU, CSU und FDP.
({1})
- Ja, klar. Das waren der Herr Kollege Kauder, die Frau
Hasselfeldt und der Herr Kollege Brüderle, und das waren unsere Fraktionen.
({2})
Es wäre, glaube ich, besser - ehe wir uns über Märchen
und Legenden unterhalten -, wenn Sie mit dafür sorgen
würden, dass auch in dem Land, aus dem Sie kommen,
das Geld bei den Kommunen ankommt und die Landesregierung keine klebrigen Finger bekommt.
({3})
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Hinsken. Wollen
Sie sie gestatten?
Sehr gerne.
Das ist dann aber die letzte Zwischenfrage, die ich
diesem Redner zumute.
({0})
Verehrter Herr Kollege Rehberg, Sie haben einige
Persönlichkeiten genannt, die sich speziell dafür eingesetzt haben, dass wir eine akzeptable Regelung zur
Grundsicherung im Alter hinbekommen haben. Einen
Namen haben Sie aber vergessen - derjenige, den ich
meine, war allerdings ausschlaggebend, weil er diesen
Vorschlag eingebracht hat -: den des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer.
({0})
Ich möchte Sie bitten, unseren sozialdemokratischen
Freunden ins Gedächtnis zu rufen, dass sich die Bayerische Staatsregierung - das zeigt sich an dieser Maßnahme, aber auch an verschiedenen weiteren Maßnahmen - in Sachen ländlicher Raum von niemandem
übertreffen lässt,
({1})
dass verschiedene Teile Bayerns vom Armenhaus
Deutschlands zu einer Spitzenregion Europas geworden
sind - das gilt zum Beispiel für meinen Wahlkreis ({2})
und dass die SPD in den Teilen Bayerns, die in wirtschaftlicher Hinsicht so gut dastehen, bei Wahlen 9 bis
10 Prozent bekommt. Herr Kollege Pronold, kommen
Sie einmal dorthin und erklären Sie den Leuten, dass Sie
es besser machen wollen. Vielleicht bekommen Sie dann
1 oder 2 Prozentpunkte mehr; aber das bezweifle ich.
({3})
Herr Kollege Hinsken, ich möchte mich bei Ihnen
ganz herzlich für die Sachdarstellung bedanken. Ich
habe dem überhaupt nichts hinzuzufügen. Herzlichen
Dank!
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gelegentlich meint der eine oder andere - die Linken, die
Grünen -, es sei genug in Beton investiert. Dann kommt
immer wieder das Thema: Wir brauchen keine Räume
mehr zu erschließen. Ich komme aus einem Land, das
1939 von 1 Million Menschen bewohnt war. Nach
Kriegsende waren es 2 Millionen, 1989, zur Wende,
knapp 2 Millionen, und heute sind es 1,6 Millionen.
Wenn nicht zu Beginn der 90er-Jahre Entscheidungen
gefällt worden wären, bei denen die Erschließungsfunktion des Raumes eine ganz wesentliche Rolle gespielt
hat, dann hätten wir erstens nicht die A 20, die Lebensader von Mecklenburg-Vorpommern,
({1})
zweitens würde keine A 14 gebaut werden, und drittens
würden wir heute nicht die B 96 nach Rügen bauen. Deswegen sage ich für mein Land ganz deutlich - dies ist eines der wichtigsten Teile unseres Antrages -, dass die
Erschließungsfunktion bei zukünftigen Infrastrukturplanungen eine ganz wesentliche Rolle spielen muss.
({2})
Wenn ich den gesamten norddeutschen Raum betrachte, stelle ich fest: Viele Infrastrukturanbindungen
führen durch Räume, die nicht so hoch verdichtet sind
wie die in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg. Aber dies sind Anbindungen an die Seehäfen, und
die Seehäfen haben nationale Bedeutung.
({3})
Deswegen darf man im Zusammenhang mit Infrastruktur
nicht kurzfristig oder kleinkariert diskutieren, sondern
muss in größeren Dimensionen denken.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns wurde
immer wieder der Vorwurf gemacht, wir investierten
nicht in Forschung und Bildung. Wir werden in diesen
vier Jahren insgesamt 13,3 Milliarden Euro für Bildung
und Forschung ausgeben. Wir haben uns 12 Milliarden
Euro vorgenommen. Ich kann Ihnen Dutzende Beispiele
aus Mecklenburg-Vorpommern nennen, wo gerade benachteiligte Jugendliche in Jugendschulen, in Produktionsschulen, bei Bildungsträgern gefördert werden. Es
gibt bei jungen Menschen eine Quote von 14,4 Prozent,
die ihren Schulabschluss aus unterschiedlichen Gründen
nicht schaffen. Sie werden dort herangeführt. Es ist gerade für den ländlichen Raum wichtig, dieses Segment
zu fördern; denn uns fehlen Arbeitskräfte. Uns fehlen im
ländlichen Raum mittlerweile nicht nur Fachkräfte, sondern auch Arbeitskräfte. Der ländliche Raum wird nur
dann eine Zukunft haben, wenn wir dieses Problem der
demografischen Entwicklung bewältigen.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss ein kommunales Problem ansprechen. Ich wohne in einer Stadt, die flächenmäßig die drittgrößte in Mecklenburg-Vorpommern ist:
4 700 Einwohner, 28 Ortsteile, nur noch ein Bürgermeister; dies ist eine freiwillige Entscheidung von acht Altgemeinden Ende der 90er-Jahre.
({6})
Meine Erfahrung in den letzten 22 Jahren ist: Dort, wo
Menschen keinen Bezug mehr zu Verantwortung haben,
wo sie sich nicht zur Übernahme eines Ehrenamtes in die
Pflicht genommen fühlen, brechen viele Dinge auseinander.
({7})
Das, was bei uns früher der ehrenamtliche Bürgermeister
gemacht hat, muss heute die Verwaltung tun. Deutschland ist seit vielen Jahrzehnten - seit 1806, Freiherr vom
Stein - gerade auch vom Ehrenamt geprägt. Dies ist
nicht mit Geld zu bezahlen. Deswegen sind die sozialen
Strukturen im ländlichen Raum, wo der Bezug der Menschen zueinander viel stärker ausgeprägt ist als in den
Städten, deutlich besser.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/11654 mit dem Titel „Zukunft für ländliche Räume -
Regionale Vielfalt sichern und ausbauen“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkte 3 b und 3 c. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
17/11031 und 17/8360 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz und Ener-
giewende“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11672, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9583
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von
Linken und Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr
die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Gustav
Herzog, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes und ein moder-
nes Wasserstraßenmanagement
- Drucksachen 17/9743, 17/11592 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Matthias Lietz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Heinz-Joachim Barchmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert
Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kein Personalabbau bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung - Aufgaben an ökologischer Flusspolitik ausrichten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie
Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung reformieren
- Drucksachen 17/4030, 17/5548, 17/5056,
17/8330 Berichterstattung:Abgeordnete Matthias LietzTorsten Staffeldt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Enak Ferlemann.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Heute ist die Reform der Wasserund Schifffahrtsverwaltung hier im Deutschen Bundestag das Thema. Ich nutze diese Gelegenheit, um zuallererst den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sehr herzlich für
ihre hervorragende Aufgabenerfüllung zu danken.
({0})
Mit Nord- und Ostsee sind wir Anrainer eines der am
meisten befahrenen Schifffahrtsgebiete der Welt. Sehr
viel Verkehr herrscht auch auf den deutschen Binnenwasserstraßen. Es läuft dort alles sehr problemlos, sehr
geordnet, so wie wir uns das wünschen. Dafür tragen die
vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung die Verantwortung, und sie machen das sehr gut.
Wir haben zu diesem Thema eine Reihe von Anträgen
der Oppositionsfraktionen zu beraten. Dazu muss man
feststellen, dass die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, wie wir sie vorgeschlagen haben, im
Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages zustimmend zur Kenntnis genommen wurde, im Haushaltsausschuss ebenso, mit der Maßgabe, die Reform umzusetzen, die Kosten- und Leistungsrechnung schneller
einzuführen und die Ämterstruktur bei der Trennung von
Verkehrsämtern einerseits und Bau- und Unterhaltungsämtern andererseits noch einmal zu überprüfen. Das
werden wir tun.
Warum eigentlich haben wir diese Reform gemacht?
({1})
Seit über 20 Jahren wird über eine Reform diskutiert.
Passiert ist leider nichts,
({2})
außer dass viele Gutachten in Auftrag gegeben wurden
und es viele Diskussionen gegeben hat. Keiner der Vorgängerverkehrsminister hatte den Mut, diese Reform anzugehen, weil sie in der Tat eine nicht ganz einfache Reform darstellt. Insofern wundere ich mich, lieber Uwe
Beckmeyer, dass diejenigen, die viele Jahre Verantwortung getragen haben, diejenigen, die es nie geschafft haben, eine solche Reform ins Werk zu setzen, jetzt als die
größten Kritiker auftreten.
({3})
Sicherlich kann man das eine oder andere kritisieren.
Man kann über das eine oder andere immer diskutieren.
Das ist ja keine feststehende Reform, sondern sie wird
sich bis 2020 entwickeln. Und keiner von uns behauptet,
dass alles, was wir gemacht haben, schon richtig ist.
Aber jahrelang gar nichts gemacht zu haben,
({4})
alles verschlafen zu haben und dann nur zu kritisieren,
kann nicht die richtige Antwort sein.
({5})
- Ich bin leider noch nicht zehn Jahre in diesem Amt. Es
wäre Deutschland besser bekommen, wenn es so gewesen wäre.
({6})
Aber was nicht ist, kann ja noch kommen.
Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes
hatte einmal 19 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Inzwischen sind es noch circa 13 500 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter auf etwa 12 500 Stellen. Dieser Abbau
hat sich vollzogen, wie sich der Abbau von Stellen in der
Verwaltung häufig vollzieht: relativ ungeordnet. Wo ein
Kollege in den Ruhestand gegangen ist, ist er nicht ersetzt worden. So hat man nach und nach auch Kompetenzen verloren. So wurde nach und nach auch die
Stärke der einzelnen Ämter geschwächt; denn wenn einige Abteilungen nur noch aus einer Person bestehen
- die irgendwann Urlaub machen muss und die auch einmal krank werden darf -, dann ist das eben schwierig.
Deswegen ist es angezeigt, dass wir zu einer Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung kommen.
Diese Reform hat ihre Grundlage in einer neuen Netzstruktur. Das heißt, es ist, was für alle Verkehrsträger kommen wird - auch für die Schiene, auch für die Straße -, ein
Kernnetz, ein Hauptnetz, ein Nebennetz und ein Netz,
das wir als Bund so nicht mehr brauchen, zu definieren.
Die Europäische Union hat es uns vorgemacht. Auch
sie hat jetzt in ihren TEN-Leitlinien die Strukturen in ein
Kernnetz und ein Grundnetz - danach folgen nationale
Netze - eingeteilt. Dies ist sicherlich richtig und sinnvoll. Dies wird eine Basis für den neuen Bundesverkehrswegeplan bei allen Verkehrsträgern sein.
Bei dieser Netzstruktur gibt es naturgemäß viele Diskussionen: Was kommt hinein? Was kommt nicht hi25716
nein? Mit welchen Verkehren rechnen wir? Wir haben
das Ganze anhand der aktuellen Verkehrsdaten, aber
auch auf der Grundlage der Prognosen bis zum Jahr
2025 versachlicht. So haben wir das Ganze in ein A-, B-,
C- und D-Netz eingeteilt - allerdings nur nach der Maßgabe, was Güterverkehr und Logistik brauchen. Denn
die Hauptaufgabe unseres Ressorts ist, für Güterverkehr
und Logistik in diesem Land zu sorgen.
Daneben gibt es die touristischen Wasserstraßen.
Hierfür wird es ein gesondertes Konzept geben, weil die
Tourismuswasserstraßen andere Anforderungen und Voraussetzungen haben als die Wasserstraßen, die hauptsächlich dem Güterverkehr und der Logistik zur Verfügung stehen müssen.
Darauf haben wir die Verwaltungsstruktur aufgebaut.
Ich glaube, es ist sinnvoll und richtig, dass wir die Ämterstruktur etwa um ein Drittel reduzieren und dass wir
die Wasser- und Schifffahrtsdirektionen von sieben auf
eine Generaldirektion zusammenlegen.
({7})
Denn wir können mit weniger Personal wesentlich effizienter und effektiver arbeiten.
In diesem Zusammenhang wird uns häufig der Vorwurf gemacht, man wäre dann zu weit von den Dingen
entfernt.
({8})
Wenn Sie die Ämterstruktur stärken, dann können Sie
auch eine Zentraleinheit sehr gut darstellen. Wir werden
sie in Bonn haben. Auch das wird häufig kritisiert. Ich
finde, dass Bonn eine sehr schöne Stadt ist.
({9})
Bonn war jahrelang Bundeshauptstadt und hat einen guten Job gemacht. Der überwiegende Teil meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist in dieser schönen Stadt
beheimatet. Deswegen verstehe ich die Diskussion in
ganz Deutschland nicht, man dürfe in Bonn keine Behörde schaffen.
({10})
Wir finden den Standort sehr gut. Unsere Abteilung ist
schon dort. Vier Wasser- und Schifffahrtsdirektionen
sind im Umfeld von zwei Autostunden entfernt, sodass
wir dort ohne große Verwerfungen in den einzelnen Mitarbeiterschaften sehr schnell eine Generaldirektion zusammenbekommen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
uns ist ein guter Wurf gelungen.
({11})
Sicherlich wird es im Laufe der Zeit noch Diskussionen
geben. Aber ich glaube, dass die Reform angesichts der
viel zu knappen Ressourcen, die uns vom Parlament
über viele Jahre hinweg zur Verfügung gestellt wurden,
sinnvoll und richtig ist.
Wir haben Anlagen, die zum Teil 80, ja 100 Jahre alt
sind. Wir können nur froh und dankbar sein, dass damals
so gut gearbeitet wurde und die Anlagen heute noch betriebsbereit sind. Aber wenn wir sie einmal ersetzen
müssen, brauchen wir eine Priorisierung für Ausbauund Neubaumaßnahmen, weil wir nicht überall alles
gleichzeitig machen können.
Bevor Peter Ramsauer das Ressort übernahm, gab es
eine etwas unkoordinierte Investitionsstrategie. Heute
hingegen priorisieren wir und bilden mit einem ganz klaren Konzept Schwerpunkte, um mehr Verkehr von der
Straße auf die Wasserstraße zu holen und diesen Verkehrsträger, der noch die größten Reserven hat, viel effizienter und besser zu nutzen. Dazu dient die Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Dazu wird sie einen
wesentlichen Beitrag leisten.
Ich bin den Koalitionsfraktionen sehr dankbar für die
kritische Begleitung, aber auch für die wohlwollende
Unterstützung unserer Reform. Ich bedanke mich ausdrücklich auch bei den Grünen für das Verständnis für
unsere Reform. Von der SPD bin ich noch immer enttäuscht - von den Linken habe ich nichts anderes erwartet -, wie sie auf unsere Reform reagiert. Insgesamt ist
festzustellen: Die Anträge der SPD, der Linken und der
Grünen müssen heute abgelehnt werden.
Ich freue mich auf eine weitere konstruktive Beratung
und Unterstützung und hoffe, dass wir alle zum Wohle
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in diesem Lande
gemeinsam weiter um einen guten Weg ringen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Begründung des Staatssekretärs für
das hört, was er hier verantwortet, dann denkt man, dass
alles in Ordnung ist.
({0})
Heute Nachmittag findet eine Sitzung statt, zu der Ihr
Chef, Herr Minister Ramsauer, alle Ländervertreter eingeladen hat. Weshalb eigentlich?
({1})
- Ach, Sie haben eingeladen. - Es wurden alle Ländervertreter eingeladen, weil aus allen Ländern dieser Republik heftiger Widerstand und Zweifel an Ihrer Aktion
der Änderung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
gekommen sind.
({2})
Mit Genehmigung des Präsidenten darf ich einmal vorlesen. Erstes Zitat:
Mit Erstaunen und Unverständnis habe ich zur
Kenntnis genommen, dass unter anderem eine zentrale Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn geschaffen sowie über 2 600 Stellen
bei den Wasser- und Schifffahrtsverwaltungen abgebaut werden sollen.
Zweites Zitat:
Das Abziehen wesentlicher Entscheidungsbefugnisse aus den betroffenen Regionen führt zu einheitlichen, den örtlichen Gegebenheiten nicht mehr
optimal angepassten Entscheidungen.
Drittes Zitat:
Eine effiziente regionale und integrierte Aufgabenerledigung wird dadurch übermäßig erschwert und
schlimmstenfalls in vielen Fällen sogar unmöglich
gemacht.
({3})
Viertes Zitat:
Die Reform setzt nach meiner Einschätzung zu
große Erwartungen in die Privatisierung. Dabei hat
ja bereits die in den letzten Jahren in der Wasserund Schifffahrtsverwaltung zunehmend gepflegte
Vergabepraxis gezeigt, dass diese keine Einsparungen zur Folge hätte.
({4})
- Seehofer, Ministerpräsident des Freistaates Bayern.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Ministerpräsident der CDU-Landesorganisation, der anzugehören
Sie, Herr Ferlemann, ja das Vergnügen haben, McAllister,
hat mit seiner Koalition - daran ist die Sozialdemokratie
nicht beteiligt - den Beschluss im Landtag herbeigeführt,
dass die beiden Wasser- und Schifffahrtsdirektionen in
Aurich und Mitte erhalten bleiben müssen. Was sagen Sie
eigentlich dazu, Herr Ferlemann?
({6})
Das scheint an dieser Bundesregierung und auch an
Ihnen als CDU-Mann in Niedersachsen völlig vorbeigegangen zu sein. Eine Landesregierung fordert den Bund
auf, dass diese Direktionen erhalten bleiben, aber Sie
machen genau das Gegenteil. So viel zu dem „doppelten
Ferlemann“, der auch hier wieder auftaucht.
({7})
Die Verkehrsministerkonferenz hat am 4./5. Oktober
2012 in Cottbus beschlossen:
Nach Auffassung der Verkehrsministerkonferenz
wird die geplante organisatorische Umgestaltung
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung den Anforderungen der Länder nicht gerecht.
({8})
Wir erleben, dass inzwischen nicht nur aus den Bundesländern und aus den Landesregierungen, sondern
auch aus der Wirtschaft zunehmend Widerstand kommt.
({9})
Die Handelskammern im norddeutschen Raum, die ja in
der IHK Nord miteinander verbunden sind, haben sich
eindeutig gegen Ihre Reform - in Anführungsstrichen ausgesprochen. Die Wirtschaftsunternehmen am Mittellandkanal - dazu gehören unter anderem auch ganz
große, deren Einfluss man einfach einmal berücksichtigen muss, nämlich VW und andere - sagen: Halt, stopp,
liebe Freunde, was ihr macht, ist gefährlich.
Ich habe durch Zufall einen Zettel bekommen.
Herr Kollege Beckmeyer, bevor Sie zitieren: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Staffeldt?
Nein, jetzt nicht. Er hat gleich Zeit; er darf ja nach mir
reden. - Auf diesem Zettel steht, dass die liberale Fraktion dieses Hauses der Meinung ist, dass noch einmal
klargestellt werden muss, dass nach der Vergabe- und
Vertragsordnung auch langfristige Standardaufgaben
vergeben werden können, und insofern die pauschale
Behauptung, die derzeit noch im Entwurf steht, dass hier
keine rechtlichen Vorbehalte bestehen usw., richtig ist.
Genau das befürchten wir: Sie wollen auf Betreiben
des liberalen Partners die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung so umstrukturieren, dass Standardaufgaben am
Ende komplett vergeben werden können. Dadurch bauen
Sie die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ab. Die gesamte Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wird am Ende
des Tages eine Struktur haben, mit der sie ihren regionalen Aufgabenstellungen nicht mehr gerecht werden
kann.
({0})
Zum nächsten Punkt. Dieser Vorgang, den Sie uns
hier präsentieren, ist kein Ergebnis einer ergebnisoffenen
Untersuchung gewesen. Es ist eine Bankrotterklärung
Ihres Ministeriums, dass Sie sagen, die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung sei nicht funktionsfähig. Weshalb ist denn das so?
({1})
Geben Sie denen doch ein paar ordentliche Vorgaben!
Warum sagt dieses Ressort der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung denn nicht, wie ein solches Steuerungsdefizit
aufgelöst werden kann? Geben Sie denen doch endlich
parlamentarische und administrative Vorgaben! Auch
das tun Sie nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe
noch eine Dreiviertelminute Redezeit.
({2})
Sie sagen, Sie hätten bei der Kategorisierung aktuelle
Verkehrsdaten berücksichtigt. Die Daten der Wasserund Schifffahrtsverwaltung in Nord, West und Mitte sind
aber zum Beispiel bei der Beurteilung der Kategorie der
Mittelweser und Unterweser komplett ausgeblendet worden. Woher Sie Ihre Daten haben, weiß keiner. Die Daten des eigenen Hauses nutzen Sie bei der entsprechenden Kategorisierung jedenfalls nicht. Ich sage es einmal
so: Die sträfliche Verbrämung von Interessen und gleichzeitig die Bewertung falscher Fakten haben dazu geführt, dass Sie dies hier so auf den Weg gebracht haben.
Ich habe die Hoffnung, dass sich die Länder sehr genau
anschauen werden, was alles in Ihrem Artikelgesetz, das
irgendwann kommen muss - sonst können Sie diesen Reformprozess nicht fortsetzen -, steht. Wir als Sozialdemokraten werden genau prüfen, in welcher Form wir uns
dazu einbringen werden. Diese Reform, die keine ist,
werden wir jedenfalls nicht akzeptieren. Wir werden sie
mit den Beschäftigten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Deutschland weiterhin bekämpfen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Torsten Staffeldt für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Beckmeyer wird nach der heutigen Debatte sicherlich als Zitatekönig in die Geschichte eingehen.
({0})
Nachdem er ein Zitat nach dem anderen geliefert hat,
kam mir der Gedanke: Er hätte von vornherein seine
ganzen Presseartikel kopieren, lochen und uns zum Abheften geben können. Dann hätten wir es einfacher gehabt und hätten uns das alles nicht anhören müssen.
({1})
Ich möchte jetzt auf das Thema eingehen. Der Kollege Ferlemann hat es eben schon richtig dargestellt:
Über Jahrzehnte hinweg wurden unter sozialdemokratischer Führung
({2})
die notwendigen Schritte zur Erhaltung der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung nicht vollzogen.
({3})
Es wurden nur Gutachten erstellt. Aber die Vorgaben des
Bundesrechnungshofes wurden einfach ignoriert usw.
({4})
Diese Bundesregierung und diese Koalition nehmen
sich der Aufgabe an, die sozialdemokratische Verkehrsminister über Jahrzehnte haben schludern lassen.
({5})
Wir machen das, was Sie hätten tun müssen. Das ist
nicht ganz einfach, weil Sie eben über Jahrzehnte hinweg diese Aufgaben nicht in der Form angegangen sind,
wie es notwendig gewesen wäre. Aus diesem Grunde
brauchen wir dafür ein bisschen Zeit.
Bis 2020 - darauf hat der Kollege Ferlemann schon
hingewiesen - wird diese Reform, deren Zielsetzung es
ist, dafür zu sorgen, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zukunftsfähig und demografiefest gestaltet
wird, dazu führen, dass diese Verwaltung handlungsfähig bleibt. Die Ziele, die Sie im 5. Bericht zur Reform
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung und auch in anderen Berichten nachlesen können, sind folgende: Sicherung einer leistungsfähigen, effizienten und vor allen
Dingen für die Steuerzahler kostengünstigen Wasserund Schifffahrtsverwaltung und nachhaltige Absicherung der Fachkompetenz - das ist ein wesentlicher und
wichtiger Punkt -, und zwar trotz Stellenabbau.
Die bisherige Vorgehensweise unter sozialdemokratischer Führung in den letzten Jahrzehnten war, die Vorgaben des Stellenabbaus einfach über die natürlichen Abgänge zu realisieren. Wir machen das so, wie es
vernünftig ist.
({6})
Wir schauen nämlich: Wo brauchen wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Wo brauchen wir das Personal?
Wie schulen wir es entsprechend? Das ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Vorgehensweise. Wir verschlanken die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, indem wir
({7})
unter anderem die fünf Direktionen, die es bisher gab, in
eine Generaldirektion übergehen lassen, die dafür sorgt,
dass die Aufgaben konzentriert, fokussiert und effizient
umgesetzt werden.
Zu der Frage, wohin die Generaldirektion kommt.
Bonn ist eine schöne Stadt; darauf hat auch der Kollege
Ferlemann hingewiesen. Ich sage Ihnen: Die schönsten
Städte der Welt fangen vorne mit B an und hören mit N
auf. Das ist Berlin. Das kann auch Bingen sein. Auch
Bremen, meine Heimatstadt, ist sicherlich eine von den
Städten, in denen man eine Generaldirektion ansiedeln
könnte.
({8})
- Okay, auch über Bremerhaven kann man noch reden.
Aber kommen wir lieber wieder zur eigentlichen Thematik zurück.
({9})
Mit den vorliegenden Anträgen soll verhindert werden, dass wir diese Reform zukunftsfähig gestalten. Das
ist der entscheidende Punkt. Von den Sozialdemokraten
und den Linken haben wir nichts anderes erwartet.
Schließlich waren sie jahrelang in der Verantwortung,
zwar nicht die Linken, aber die Sozialdemokraten.
({10})
Dass die Sozialdemokraten, die über Jahre hinweg in der
Verantwortung waren und hier nichts geschafft haben,
schlecht eingestehen können, dass wir die Reform auf einen vernünftigen Weg bringen, ist klar. Insofern ist die
Abwehrreaktion in den vorliegenden Anträgen nachvollziehbar. Aber, wie gesagt, die Anträge werden heute mit
großer Mehrheit abgelehnt werden. Dann hat diese Debatte hoffentlich endlich ein Ende,
({11})
sodass wir diese Reform so weiterführen können, wie es
notwendig ist.
Die Grünen haben aus meiner Sicht eine sehr gute
und interessante Position eingenommen und begleiten
diesen Reformprozess konstruktiv, was ich an dieser
Stelle ausdrücklich würdigen möchte. Es ist aber, wenn
man die Ergebnisse der Beschlussfassungen in den einzelnen Ausschüssen betrachtet, an der einen oder anderen Stelle schon ein wenig verwunderlich, dass die Grünen unsere Anträge in fast allen Ausschüssen abgelehnt
haben.
Nur im Ausschuss für Arbeit und Soziales haben die
Grünen diesen Anträgen zugestimmt. Insofern muss man
da vielleicht in der Grünenfraktion Überzeugungsarbeit
leisten und dafür sorgen, dass dort von allen Mitgliedern
erkannt wird, dass es vernünftig ist, was wir in diesem
Bereich machen.
({12})
Das ist übrigens auch einer der Punkte, der mir wichtig ist. Wir haben gerade über die Verkehrsministerkonferenz gesprochen. Dass sie sagt, es solle sich nichts ändern, ist nachvollziehbar.
({13})
Nichtsdestotrotz ist es vielleicht auch eine Frage der
Kommunikation; es ist die Frage, wie man diese Reform
kommuniziert, wie man sie auch den Ländern gegenüber
kommuniziert.
({14})
Ich kann mir vorstellen, dass das Verkehrsministerium
da noch Überzeugungsarbeit zu leisten hat, die wir als
Parlamentarier gerne begleiten wollen.
({15})
Wenn Sie, Herr Beckmeyer, als Zitatekönig in die
Geschichte eingehen wollen und die IHK Nord zitieren
- Sie wissen, dass ich auch Mitglied des Plenums der
Handelskammer Bremen bin -, dann sollten Sie nicht
nur die Teile zitieren, die Ihnen passen, sondern Sie sollten es komplett zitieren. Es steht nämlich unter anderem
darin, dass die IHK die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung begrüßt, weil sie genau das macht, was
Unternehmerinnen und Unternehmer auch tun: Sie stellt
die Prozesse auf den Prüfstand; sie schaut, was verbessert und effizienter gemacht werden kann, und dann setzt
sie das um.
({16})
Genau das macht die Reform. Deswegen sollten Sie
bei den Zitaten vorsichtig sein. Dass es in Ihren Medien
anders dargestellt wird, wundert mich persönlich nicht.
Zu den TEN-Leitlinien. Wir können jetzt noch auf die
Flüsse eingehen und auf das, was dort gemacht werden
muss.
({17})
Die Priorisierung ist ein Kind, dessen Vaterschaft
oder auch Mutterschaft - das sei dahingestellt - aus meiner Sicht nicht ganz klar ist. Wir haben sie, und sie ist
auch sinnvoll; das ist gar keine Frage. An dem einen
oder anderen Fluss werden wir sicherlich noch nachsehen müssen, ob die Priorisierung dort dem entspricht,
was jetzt schon Tatsache ist. Vielleicht ist ja die Faktenlage schon eine andere als das, was durch die Prognose
vorhergesagt wird.
({18})
Aber dafür haben vor allem wir als christlich-liberale
Koalition gekämpft und gearbeitet. Wir haben dafür gesorgt, dass es auch Aufstiegs- und Abstiegsregelungen
für die einzelnen Flussabschnitte gibt.
({19})
Aus dem Grunde bin ich zuversichtlich, dass wir zusammen mit dem Ministerium konstruktiv dafür sorgen
werden, dass die wesentlichen Aufgaben der Wasserund Schifffahrtsverwaltung sowohl auf See wie auch auf
den Binnenwasserstraßen,
({20})
nämlich Schifffahrt zu ermöglichen, sie einfach und effizient zu machen,
({21})
in der Zukunft auch mit reduziertem Personal effizient
erledigt werden. Deswegen begrüßen wir die Vorgehensweise des Ministeriums an dieser Stelle ausdrücklich
und lehnen die Anträge der Opposition ab.
Herzlichen Dank.
({22})
Das Wort hat nun Herbert Behrens für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Begrüßen einer Aktion oder einer Aktivität wäre ja ganz
sinnvoll, aber begründet sollte sie dann doch schon sein,
Herr Staffeldt.
({0})
Wir stellen heute fest: Zwei Jahre debattieren wir über
den Sinn und vor allen Dingen über den Unsinn der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Ich finde,
es sind zwei verlorene Jahre für die Belegschaften, die
Jahr um Jahr Kolleginnen und Kollegen verlieren, weil
deren Stellen nicht wiederbesetzt werden. Das sind zwei
Jahre Unsicherheit auch für Unternehmen, die ganz gern
wissen wollten, mit wem sie künftig zusammenarbeiten
müssen. Da sind auch Unsicherheiten bei den Freizeitkapitänen, bei den Tourismusverantwortlichen in den
Kommunen, die nicht genau wissen, wie es weitergehen
soll.
Nur eines ist sicher für alle Beteiligten: Wer so Politik
macht, macht deutlich, dass Sachverstand hier nicht gefragt ist. Meine Meinung ist: Wer so Politik macht, der
wird damit scheitern.
({1})
Was hören wir von den Koalitionsfraktionen, von
Herrn Staatssekretär Ferlemann, von Herrn Staffeldt?
Starke Sprüche über Tatkraft und Reformwillen der
Bundesregierung. Aber das wollen die Kolleginnen und
Kollegen, die dieses tagtäglich hören müssen, nicht mehr
hören. Sie wollen, dass ihre Fragen und insbesondere
ihre Vorschläge für eine zukunftsfähige WSV ernst genommen und registriert werden.
Der Bundesverkehrsminister ist dabei, Strukturen zu
zerschlagen, die in den vergangenen Jahren gewachsen
sind, aufgebaut und immer wieder umgebaut worden
sind. Geschäftsführung und Belegschaften waren mit dabei. Direktion oder Personalräte, egal auf welcher Seite
man gestanden hat, Ämter, Betriebsteile und Personal,
haben es geschafft, dass beispielsweise die eben angesprochenen 80 Jahre alten Schleusen noch funktionieren.
Sie haben auch dafür gesorgt, dass neueste Technologie
eingeführt worden ist und von Anfang an funktioniert
hat, und sie haben dafür gesorgt, dass junge Menschen
eine sehr gute Ausbildung bekommen konnten und gut
auf den Arbeitsmarkt vorbereitet sind.
({2})
Dafür haben sie Anerkennung verdient statt Bedrohung mit Versetzung oder dem Entzug von Aufgaben.
Ich will den Betroffenen allerdings keine Illusionen
machen, dass ab jetzt gute Argumente stark genug sind,
um den Bundesverkehrsminister überzeugen zu können.
Ich glaube, was wir zuletzt vom Kollegen Staffeldt gehört haben, zeugt davon, dass das vergebene Liebesmüh
ist.
({3})
Wir haben festgestellt: In Niedersachsen werden Hannoversch Münden, Verden, Rheine, Meppen, Uelzen,
Aurich und Hannover Kompetenzen und Know-how
verlieren. Sie werden zu Außenstellen, Betriebs- oder
Unterhaltungsämtern und müssen ihre Aufgaben und ihr
Personal mit anderen Dienststellen neu sortieren und
aufteilen.
Die CDU-Mitglieder vor Ort raufen sich die Haare
und die CDU/FDP-Landesregierung - das wurde vorhin
erwähnt - druckst zwar herum, hat sich aber zumindest
davon überzeugen lassen, einen entsprechenden Beschluss zu fassen und diese Reformpläne abzulehnen.
Ich habe ein Zitat mitgebracht:
Eine Reform, die ohne jede Rücksicht auf die speziellen Belange der Schifffahrt und Hafenbetreiber
eine Kategorisierung der Bundeswasserstraßen vornimmt und auf dieser Grundlage alle betroffenen
Akteure vor vollendete Tatsachen stellt, kann nach
Auffassung
- hört! Hört! der Kreis-CDU
- also des CDU-Kreisverbandes Aurich auf Dauer keinen Erfolg haben.
Das sagte der dortige Kreisvorsitzende Sven Behrens.
Sven Behrens hat recht: Der Verkehrsminister und die
Regierungsfraktionen werden auf Dauer keinen Erfolg
haben. Schon am 20. Januar, dem Wahltag in Niedersachsen, wird sich das zeigen.
({4})
Die Linke macht Vorschläge, welche Aufgaben eine
zukünftige WSV übernehmen kann. Wir wollen nicht,
dass alles so bleibt, wie es ist. Das wäre dummes Zeug.
Im Gegenteil: Wir wollen, dass die Kolleginnen und
Kollegen vor Ort, mit denen wir auch gesprochen haben,
weitermachen können mit ihren Reformvorschlägen,
dass sie wirklich zukunftsfähige WSV-Arbeit machen
können. Sie haben sehr gute Vorschläge vorgelegt bekommen, egal ob in Schweinfurt, Berlin oder Magdeburg. Das hört man auch in Emden oder Aurich.
Die Betroffenen haben keine Angst davor, sich zu
verändern. Sie nehmen diesen Veränderungsprozess auf
und wollen die Reform gestalten, wenn es denn eine
Reform wäre statt eines Projekts, das ausschließlich
darin mündet, die WSV zu zerschlagen. Was jetzt vorgesehen ist - in Bonn wird eine zentrale Bürokratie aufgebaut, und es wird ein neues Organigramm erstellt, in
dem die Behördenstruktur neu zusammengestellt wird -,
reicht ihnen nicht aus.
Das sind keine Maßnahmen, die eine moderne Wasser- und Schifffahrtsverwaltung gestalten. Sie werden
nicht dazu beitragen, dass wir zu einer ökologischen Bewirtschaftung der wichtigen Schifffahrtswege kommen.
Unternehmen oder ökologische Ansprüche werden mit
dem, was Sie auf den Weg bringen wollen, nicht zufriedengestellt werden.
Nein, der Umbau der WSV in dieser Weise bringt
überhaupt nichts auf den Weg. Sie soll lediglich darauf
reduziert werden, Aufträge zu vergeben. Das Stichwort
„Privatisierung“ wurde genannt. Das ist schlecht für die
Kompetenzen, die die WSV heute noch hat. Das ist
schlecht für eine ökologische Flusspolitik. Da gehen wir
nicht mit.
Ich vermute, spätestens ab September 2013 werden
die Karten neu gemischt. Darauf können die Kolleginnen und Kollegen vertrauen, die zurzeit mit der
Zerschlagung ihrer WSV zu tun haben. Ich freue mich
darauf, diese Prozesse mit zu begleiten.
({5})
Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Auf Sie mit Gebrüll, Herr
Beckmeyer: Ich glaube, wir sollten zu einer sachlichen
Debatte finden.
({0})
Denn es geht immerhin um 12 000 unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Behörde des Bundes und
um deren Arbeitsplätze. Das ist das Entscheidende.
({1})
Diese Beschäftigten sorgen vor allen Dingen auch dafür,
dass die Wasserstraßen instand gehalten werden, damit
wir sie nutzen können. Das ist die Aufgabe, die wir als
Staat erledigen müssen. Das ist Daseinsvorsorge.
({2})
Dazu gehört auch die Zurverfügungstellung der Infrastruktur. Das ist eine der Aufgaben, die wir haben. Wir
brauchen unsere Wasserstraßen für die Bewältigung von
etwa 10 Prozent des gesamten Güterverkehrsaufkommens.
Lassen Sie uns zu der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zurückkehren. Wir haben 12 000 nach
meinem persönlichen Erleben hoch engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den einzelnen Ämtern vor
Ort, in den Außenstellen, Außenbezirken und anderen
Dienststellen. Ich habe das am Wochenende bei einer
Veranstaltung wieder erlebt.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehen, dass es
bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung Probleme
bei der Abwicklung gibt, dann nämlich, wenn wir so
weitermachen wie bisher, wie es bestimmte Teile des
Hauses wollen. Wir haben eine Bremse vonseiten des
Haushaltsausschusses bekommen - Herr Kollege Kahrs
ist anwesend -, dass wir 1,5 Prozent der Stellen einsparen müssen.
({3})
- Herr Kahrs, Sie wissen es ganz genau. Dies führt dazu,
dass die Stellen mit dem Rasenmäher abgebaut werden;
das heißt, die Stellen derjenigen, die in Pension gehen,
werden nicht wieder besetzt. Irgendwann haben wir ein
System erreicht, das nicht mehr ausreichend leistungsfähig ist.
({4})
Da bewegen wir uns so langsam an der Grenze. Wenn
Sie mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort
reden, dann stellen Sie das auch fest.
Wir brauchen also einen Reformprozess, sonst geht es
immer so weiter. Wenn wir mit diesen pauschalen Kürzungen so weitermachen, dann sind wir irgendwann bei
null. Dann hilft uns das gar nicht mehr. Deswegen müssen wir uns darüber klar werden, was wir langfristig für
die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erreichen
wollen, damit wir die Aufgabe, Wasserstraßen zur Verfügung zu stellen, erfüllen können. Darum halten wir einen
Reformprozess für zwingend erforderlich. Dazu gehört
zum einen die Priorisierung. Wir haben nur begrenzte
Haushaltsmittel, und die müssen wir an der Stelle einsetzen, wo es sinnvoll ist. Zum anderen - das ist ein Grundsatzproblem - müssen wir unterscheiden zwischen den
hoheitlichen und den betrieblichen Aufgaben. Das wird
in vorliegenden Ansätzen auch getan. Vor allen Dingen
- das ist ein ganz wichtiger Punkt, den ich bei meinen
Besuchen vor Ort immer wieder erlebt habe - müssen
wir endlich aus dem Wildwuchs herauskommen. Wir
sind weit entfernt von einer Standardisierung. Es gibt
Schleusentore, die von außen zwar gleich aussehen, sich
aber nicht tauschen lassen. Am Neckar sind die Schleusentore nicht tauschbar. Jede Direktion hat ihr eigenes
Schleusenfernsteuerungssystem entwickelt, weil nicht
direktionsübergreifend zusammengearbeitet wird.
({5})
Das ist ein Problem. Das Ganze müssen wir in eine
moderne Verwaltungsstruktur überführen, wie wir sie
zum Beispiel aus dem kommunalen Bereich kennen.
({6})
Damit fangen wir jetzt an. Das Problem, das ich sehe
- jetzt wende ich mich an die Regierung; Herr
Ferlemann, Sie wissen das auch; wir haben schon oft genug darüber gesprochen -, ist: Man kann das Ganze
nicht von oben, „top down“, herunterbrechen. Das Entscheidende bei einem solchen Modernisierungsprozess,
den wir überall erleben - auch in den Betrieben -, ist,
dass ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitnehme.
Ich muss es ihnen erklären. Es hilft überhaupt nichts,
wenn sie es von irgendwelchen Abgeordneten erfahren.
Es hilft auch nichts und ist sehr schädlich, wenn sie bestimmte Entscheidungen aus der Presse erfahren. Nutzen
Sie jetzt bitte die Möglichkeiten, die ein modernes
Change Management - um diesen Begriff einfach in den
Raum zu stellen; auch hier im altehrwürdigen Parlament bietet!
({7})
Die Regierung sollte sich eine Kommunikationsstrategie
überlegen, und nicht nur wir Abgeordnete sollten in den
Ämtern auftauchen; vielmehr sollten Entscheidungen
auch von der Verwaltungsseite nach unten weitergegeben werden.
({8})
Nehmen Sie in der Verwaltungsspitze des Ministeriums
einmal den Blickwinkel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein. Das wäre sehr hilfreich.
Lassen Sie mich zusammenfassen, was ich bei einer
solchen Reform für wichtig erachte: Wir brauchen maximale Transparenz nach innen, wenn wir den Startschuss
gegeben haben; das ist ja in den Ausschüssen passiert.
Wir müssen das Engagement der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter aufgreifen. Wir müssen auf die Ängste der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort eingehen.
({9})
- Herr Kollege Kahrs, es hilft nichts, wenn Sie sich
echauffieren.
({10})
Wir als Politiker müssen uns Gedanken darüber machen,
ob wir mit irgendwelchen neuen Aufregern in das
System hineingehen wollen. Wir sollten uns jetzt heraushalten und die Arbeitsgruppen, die eingerichtet worden
sind, arbeiten lassen. Dann schauen wir uns die Lösung
an.
({11})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin schon fast am Schluss, Herr Präsident. - In
dem Sinne würde ich gerne ernsthaft an einer modernen
Aufstellung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
weiterarbeiten.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Matthias Lietz für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits im
Dezember 2010 sowie im Mai 2011 stand ich hier an
diesem Pult und habe über die unterschiedlichsten Anträge zur Zukunft der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung berichtet. Schon in meinen damaligen
Redebeiträgen habe ich einiges zur zeitlichen Entwicklung dieser Reform berichtet,
({0})
und auch heute ist unsere Debatte so begonnen worden.
Es war mir damals wie auch heute ein wichtiges Anliegen, klarzustellen, dass eine Reformierung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung bereits über Jahrzehnte
hinweg aufgeschoben worden ist. In dieser Zeit hätten
alle Parlamentarier tatkräftig mitarbeiten können, um
tatsächlich eine Reform auf den Weg zu bringen.
So kam es denn auch, dass schließlich der Haushaltsausschuss im Oktober 2010 - ich sage: mit Rückenwind
des Bundesrechnungshofs - die Notbremse zog und das
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aufforderte, einen Vorschlag für die Reformierung
zu machen.
({1})
Mittelpunkt des nunmehr fünften vom Ministerium
vorgelegten Berichtes hierzu ist vor allem eine Untersuchung des Netzes, der Personalstruktur und eine Aufgabenkritik der Verwaltung. Einmal abgesehen von diesen
gutachterlichen Ergebnissen, die wir in diesem fünften
Bericht zur Kenntnis nahmen, möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass dieser Beschluss des Haushaltsausschusses die Reformierung einer bundeseigenen Verwaltung anstieß, in der sich seit Jahrzehnten - auch das ist
heute mehrfach erwähnt worden - bis auf den planlosen
Stellenabbau nichts getan hat.
Vor allem mit Blick auf diesen Punkt frage ich mich,
was sich die Damen und Herren der Opposition an dieser
Stelle eigentlich vorstellen. Soll dies so weitergeführt
werden, oder was ist Ihre Alternative zur Reform? Ich
sage - und da stimme ich voll mit meiner Vorrednerin
überein -:
({2})
Wir müssen doch einmal ehrlich gemeinsam Politik machen und dürfen uns nicht gegenseitig Verschulden vorwerfen.
({3})
Ich sage das auch in Richtung der Bundesländer; denn
auch die Länder sind gefordert, sich am Prozess zu beteiligen. Das heißt für mich nicht nur Kritik an den Aufgaben, sondern möglicherweise auch Beteiligung an der
Finanzierung.
({4})
Meine Damen und Herren, uns liegen in dieser verbundenen Debatte mehrere Anträge vor. Lassen Sie mich
auf einige Hauptkritikpunkte eingehen.
Ich beginne dabei mit der Netzkategorisierung. Das
ist ein Schuh - wenn ich es einmal so ausdrücken darf -,
der auch mich beim ersten Hinsehen deutlich drückte.
Man hört es, ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern.
Maritimwirtschaftlich gesehen haben wir sicherlich nur
kleinere Häfen und vor allem Marinas, deren Erhalt mir
allerdings ein großes persönliches Anliegen ist. Dennoch
muss auch ich den Tatsachen ins Auge sehen, dass gerade die Flüsse in unserem Land hinsichtlich der Transportmenge und der Umschläge in keinem Vergleich zum
Rhein-Main-Gebiet, der Donau oder der Mosel stehen.
Aber, meine Damen und Herren - wir haben es in der
Debatte zum vorherigen Tagesordnungspunkt gehört -,
wenn ich über die Entwicklung der Strukturen der
Räume in unserem Land aus Sicht der Raumordnung
spreche, dann weiß ich: Wir werden sicherlich auch in
den kommenden Jahren gerade diese Prioritäten neu setzen müssen. Die Kategorisierung, die Priorisierung der
Wasserstraßen ist dennoch nicht falsch. Wenn das Geld
- auch das haben wir in der letzten Haushaltsberatungswoche wieder alle deutlich erkannt - nicht ausreicht für
alle Maßnahmen, für alle Wünsche, dann muss es letztendlich nach Dringlichkeit vergeben werden.
({5})
Sinnvoll erfolgt dies zukünftig vor allem durch den
Vorschlag - das lesen wir in dem fünften Bericht -, alle
fünf Jahre eine erneute Bewertung vorzunehmen, damit
das an sich ändernde Bedingungen angepasst werden
kann.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen Blick zu meinen Kollegen zur Linken werfen. Sie
fordern in Ihrem Vorschlag nicht nur mehr Geld, sondern
wollen die Kategorisierung auch mit mehr Renaturierung verbinden.
({7})
Ich sage Ihnen: Wenn das Projekt eines Flusses, eingeteilt in die Kategorien A, B, C oder D, auch noch mit einer Renaturierung verbunden werden soll, dann wäre das
für mich Stuttgart 21 auf dem Wasser.
({8})
Die Personal- und Verwaltungsstruktur ist ein weiterer Punkt. Hier möchte ich auf Folgendes hinweisen: Es
ist kein Geheimnis, dass seit 1993 bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung Stelleneinsparungen erfolgen.
({9})
Der Staatssekretär hat deutlich darauf hingewiesen, dass
bereits eine Reduzierung auf etwa 12 000 Beschäftigte
erfolgt ist.
Ich habe mit den Verwaltungen vor Ort, vor allen Dingen an den WSV-Standorten, mit den Betreibern der
Häfen und den Binnenschiffern gesprochen. Ich kann bestätigen, dass die Menschen dort einer Reform offen gegenüberstehen
({10})
und die Mitarbeiter daran interessiert sind, das Ganze
geregelt auf den Weg zu bekommen.
Das sage ich auch aus eigener Erfahrung: Ich selbst
habe in den letzten Jahren in meinem Land auf der kommunalen Ebene Reformen in der Verwaltung erlebt. Ich
könnte mir vorstellen, dass sich der eine oder andere Betrieb in meinem Bundesland, der nach 1990 reformiert
wurde, einen solchen Zeitraum, eine solche Umsetzung
und eine Begleitung der Personalräte und der Gewerkschaften gewünscht hätte.
({11})
Die Umsetzung der Reform wird schrittweise bis in
das Jahr 2020 erfolgen. An dieser Stelle möchte ich noch
einmal ausdrücklich erwähnen: Es ist klar vereinbart,
dass es keine Kündigung und keine Versetzung gegen
den Willen der Mitarbeiter geben wird.
({12})
Es wird das Möglichste versucht, um die wichtigste Ressource der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - das
sind die sachkundigen Mitarbeiter - nicht auf der Strecke zu lassen.
({13})
Ein letztes Wort zur Vergabekritik. Ich sage deutlich:
Eine Privatisierung darf nicht zum Kompetenzverlust
des Staates führen. Die Privatisierung staatlicher Aufgaben findet ihre Grenze in der Verantwortung für das Gemeinwohl.
({14})
Das gilt auch für die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Hoheitliche und sicherheitsrelevante Aufgaben
werden daher auch weiterhin von der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes erledigt werden.
Zur Frage der Finanzierung und der notwendigen Einstellung der Mittel in den Haushalt: Auch hier kann ich
Ihnen deutlich sagen, dass allen klar ist, dass die Bundeswasserstraßen mehr finanzielle Unterstützung benötigen.
({15})
Das sollte für uns der Anlass sein, sich konstruktiv für
diesen Punkt einzusetzen. Es ist unumgänglich, den Verkehrsetat in diesem Bereich in den nächsten Jahren zu
steigern,
({16})
aber auch eine Prioritätensetzung und eine Effizienzsteigerung in der Verwaltung zu erreichen. Vergabepolitik
und Investitionen in der Binnenschifffahrt sind eindeutig
zu verbessern.
Der Verkehrsträger Wasserstraße verfügt über ein
enormes Kapazitätspotenzial. Um den Anforderungen
der nächsten Jahre gerecht zu werden, muss es endlich
verlässliche Konzepte geben. Wir aus der christlich-liberalen Koalition wollen Platz für eine sichere und leistungsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung schaffen und gleichzeitig - das sei hier noch einmal versichert
- die Fachkompetenz der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erhalten.
Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie zu! Den Anträgen
der Opposition werden wir eine Ablehnung erteilen.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat nun Gustav Herzog für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Ferlemann hat ganz zu Beginn seiner
Rede etwas Richtiges gesagt: Die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes leisten eine hervorragende Arbeit und haben unseren Dank verdient.
({0})
Aber, Herr Ferlemann, der Beitrag der Bundesregierung
dazu, dass sie diese gute Arbeit leisten können, liegt im
negativen Bereich: Sie leisten keine Unterstützung, sondern erschweren den Kolleginnen und Kollegen die Arbeit, die sie draußen zu leisten haben.
({1})
Es gibt einen Unterschied zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der WSV einerseits und der
Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen andererseits: Auf die WSV kann man sich verlassen, auf die
rechte Seite des Hauses eben nicht.
({2})
Seit dem „Herbst der Entscheidungen“ im Jahr 2010
leisten Sie keinen Beitrag zur Stärkung des Verkehrsträgers Wasserstraße, sondern schmeißen immer wieder
Steine in den Kanal und Bäume in den Fluss, um den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Leben noch
schwerer zu machen, als es so schon ist.
Ich will das an ein paar Beispielen belegen. Ich war
am Montag auf Einladung von Kommunalpolitikern, der
IHK, des Vereins „Weitblick“ und einer Reihe von Betrieben in Eisenhüttenstadt. Sie haben mir gesagt: Herr
Herzog, versuchen Sie doch einmal, uns zu erklären, warum die Bundesrepublik Deutschland 3 Milliarden Euro
in das ostdeutsche Wasserstraßennetz investiert und bei
den letzten 74 Millionen Euro, die für den Ausbau der
Schleusen in Fürstenwalde und Kleinmachnow und die
Hebung zweier Brücken benötigt würden, sagt: „Das
Geld gibt es aber nicht mehr“, weil die entsprechenden
Wasserstraßen in die Kategorie „Sonstige Wasserstraßen“ eingruppiert worden sind. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, was das mit Wirtschaftlichkeit im volkswirtschaftlichen Sinne zu tun hat, ist mir völlig schleierhaft
und war nicht zu erklären.
({3})
Natürlich stellt sich die grundsätzliche Frage: Warum
haben Sie mit all dem begonnen? Es ging nicht im Verkehrsausschuss, sondern im Haushaltsausschuss los, wo
die FDP nun unbedingt eine große Privatisierung haben
wollte, worauf das Ministerium mit der Einführung der
Kategorien geantwortet hat. Murks und Murks ergibt zusammen eben nur Murks und nichts Vernünftiges.
({4})
Dann wurden wir hier im Parlament mit den Berichten 1 bis 5 konfrontiert; ein Hin und Her hatten wir zu
erwarten. Ich will es am Beispiel des Wasser- und
Schifffahrtsamtes Hannoversch Münden deutlich machen. Herr Kollege Staatssekretär, Sie nicken mit dem
Kopf. Ja, Sie haben im April 2011 dortigen CDU-Kommunalpolitikern, auch einer Landratskandidatin, gesagt:
Der Standort ist nicht gefährdet. - Ich habe dann den
Staatssekretär Mücke hier im Plenum gefragt - er ist da -:
Herr Staatssekretär, ist die Organisationsüberprüfung ergebnisoffen, oder gibt es Vorfestlegungen? - Er hat mir
gesagt: Die Prüfung ist natürlich ergebnisoffen. - Der
eine schreibt also Briefe, und der andere erzählt hier im
Parlament: Alles ist offen. - Dann stand fest, dass das
Wasser- und Schifffahrtsamt zur Außenstelle wird:
Standort erhalten, Amt gestrichen. Irgendwann hörten
wir von Ihrem Abteilungsleiter: Die Außenstellen werden bis 2020 dichtgemacht; sie bleiben noch ein bisschen, aber dann ist irgendwann Schluss. - Meinen Sie
denn, dass Sie mit einem solchen Verhalten Vertrauen
bei den Beschäftigten erwecken? Nein, das Gegenteil ist
der Fall: Sie verbreiten Unsicherheit.
({5})
Ich will jetzt aus einem Brief, den uns Verdi vor dieser Debatte in die Hand gedrückt hat, zitieren:
({6})
Die Beschäftigten der WSV haben Angst um ihre
Zukunft, Angst vor weiterem Personalabbau und
damit einhergehenden Schließungen von Dienststellen. Die Beschäftigten wollen sich mit ihrer
Kompetenz und Erfahrung an einer nachhaltigen
Reform der WSV beteiligen.
Sie verhindern das mit Ihrem Hin und Her.
({7})
Lassen Sie mich ein schönes Bild bringen: Ein Wollknäuel ist im Verhältnis zu Ihrer Wasserstraßenpolitik
eine gerade Linie.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um eine Reform, von der 12 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen sind; 1 800 Millionen Euro sind auszugeben. Und hat es diese Koalition, hat es diese Regierung
bisher nötig gehabt, das Parlament mit einem Antrag
oder einem Gesetzentwurf zu befassen? Nein, Sie
wurschteln sich mit Berichten im Haushaltsausschuss
und Entschließungen dazu durch. Das ist keine Wertschätzung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Abgeordneter Fischer, herzlichen Glückwunsch
zum Geburtstag.
({9})
Ich frage mich, wie es ein gestandener Verkehrspolitiker
wie Sie schafft, sich drei Jahre lang so durchzuwurschteln. Sorgen Sie doch endlich dafür, dass in Ihrem Laden
vernünftige Politik gemacht wird und dass sich der Bundestag in angemessener Weise damit beschäftigt! Das
werden wir spätestens dann tun, wenn der Gesetzentwurf
beraten wird.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt: Er befindet sich
in der Ressortabstimmung und wird bald eingebracht.
Sie wollten noch in diesem Herbst - es fängt bald an, zu
schneien ({10})
einen Infrastrukturbericht über die Wasserstraßen vorlegen. Sie haben zu liefern. Machen Sie es aber bitte nicht
so wie die FDP; denn sonst kommt das Päckchen nie an.
Danke schön.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für eine zu-
kunftsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes und ein modernes Wasserstraßenmanagement“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/11592, den Antrag der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/9743 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion der Grünen gegen die Stimmen von SPD und
Linken.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/8330. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/4030 mit dem Titel
„Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenver-
hältnis angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/5548 mit dem Titel „Kein Personalabbau bei
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - Aufgaben an
ökologischer Flusspolitik ausrichten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Zustim-
mung aller übrigen Fraktionen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/5056 mit dem Titel „Neue Netz-
struktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung reformieren“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und Zustimmung aller übrigen Fraktionen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung, eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen
und Patienten
- Drucksache 17/10488 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- Drucksache 17/11710 -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Berichterstattung:-
Abgeordnete Erwin Rüddel-
Dr. Marlies Volkmer-
Christine Aschenberg-Dugnus-
Kathrin Vogler-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Mechthild
Rawert, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies
Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Patientenrechte wirksam verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mehr Rechte für Patientinnen und Patienten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria KleinSchmeink, Ingrid Hönlinger, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte von Patientinnen und Patienten
durchsetzen
- Drucksachen 17/9061, 17/11008, 17/6489,
17/6348, 17/11710 Berichterstattung:Abgeordnete Erwin RüddelDr. Marlies VolkmerChristine Aschenberg-DugnusKathrin VoglerMaria Klein-Schmeink
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Über
einen Teil des Antrags der Fraktion der SPD zu Patientenrechten werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Mechthild Dyckmans von der FDPFraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die christlich-liberale Koalition bringt heute
ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zum Abschluss: Wir verbessern die Rechte von Patientinnen und
Patienten. Mit diesem Gesetzentwurf erfüllen wir aber
auch Forderungen, über die seit langem diskutiert wird
und die sogar fraktionsübergreifend von allen Parteien
erhoben werden.
Der Opposition geht dieser Gesetzentwurf wieder einmal nicht weit genug. Sie hat eigene, weiter gehende Anträge vorgelegt.
({0})
Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, ich
wundere mich nur, warum in den Jahren, in denen Sie
die Regierungsverantwortung trugen, in diese Richtung
nichts rechtlich Verbindliches geschehen ist.
({1})
In den Koalitionsvereinbarungen von 1998 und 2002
wurden zwar entsprechende Forderungen aufgestellt.
Aber was ist geschehen? Zunächst haben Sie ein Sachverständigengutachten eingeholt. Dann haben Sie eine
Arbeitsgruppe beauftragt.
({2})
Aber haben Sie Rechtsverbindlichkeit hergestellt? Fehlanzeige. Das gilt auch für die Zeit der Großen Koalition. Ich erinnere Sie von der SPD: Die SPD stellte sowohl die Justizministerin als auch die Gesundheitsministerin. Es gab zwar einige Verbesserungen für Patientenvertreter auf institutioneller Ebene; aber den Forderungen nach Zusammenführung der bislang zersplitterten
und undurchsichtigen Rechte der Patientinnen und Patienten in einem Gesetz, nach einer stärkeren Fehlervermeidung und nach einem Risikomanagement wurde in
Ihrer Regierungszeit nicht nachgekommen. Nach elf
Jahren Regierungsbeteiligung fand man diese Forderung
nur in Ihrem Wahlprogramm wieder.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, diese
christlich-liberale Koalition erfüllt mit dem Patientenbeauftragten - Herr Zöller, herzlichen Dank für die Arbeit,
die Sie bisher geleistet haben -,
({4})
dem Gesundheitsminister Daniel Bahr und der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
({5})
auch Forderungen aus Ihrem Wahlprogramm.
({6})
Deshalb wird es niemand verstehen, wenn Sie diesem
Gesetzentwurf heute nicht zustimmen.
({7})
Künftig können Patientinnen und Patienten auf einen
Blick sehen, welche Rechte und Pflichten sie haben. Wir
haben dies im BGB, im Bürgerlichen Gesetzbuch, verankert. Da gehört es hin. Wir haben uns an den Problemen
orientiert, die in der Praxis aufgetreten sind und anhand
von Einzelfällen gelöst worden sind. Künftig muss der
Patient aber nicht mühsam die obergerichtliche Rechtsprechung durchforsten. Nein, alle Rechte sind klar und
transparent und für alle verbindlich geregelt. Das ist ein
ganz wesentlicher Fortschritt.
({8})
Wir haben auch die Sachverständigenanhörung ausgewertet und infolgedessen einige, wie ich meine, ganz
wesentliche Änderungen vorgenommen. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass die jetzt normierte Beweislastverteilung bei Haftung für Behandlungs- und
Aufklärungsfehler eine Weiterentwicklung durch die
Rechtsprechung gerade nicht ausschließt.
Ich komme jetzt zu den Änderungen. - Eine ganz wesentliche Änderung hat § 630 e BGB erhalten - hier geht
es um die Aufklärungspflicht -: Minderjährige, die noch
nicht in die Behandlung einwilligen können, und einwilligungsunfähige volljährige Patienten sollen stärker in
das Behandlungsgeschehen einbezogen werden. Sie sind
immer Subjekt der Behandlung und daher immer über
Art und Umfang der Behandlung so zu unterrichten, dass
sie entsprechend ihrem Vermögen die Behandlung verstehen können. Das ist auch Ausfluss der UN-Behindertenrechtskonvention.
({9})
Wir stärken auch noch einmal die Rechte von Patientinnen und Patienten auf Einsicht in ihre Patientenakte.
Wurden dem Patienten in der Vergangenheit oftmals nur
Auszüge der Akte zugänglich gemacht, so schreibt das
Gesetz jetzt eindeutig und klar vor, dass ihm Einsicht in
die vollständige Akte zu gewähren ist. Wir regeln auch,
enger als in dem Regierungsentwurf, unter welchen Voraussetzungen die Einsichtnahme versagt werden darf.
Wenn die Einsichtnahme versagt wird, ist das zu begründen.
Das sind wesentliche Verbesserungen hinsichtlich der
Rechte von Patientinnen und Patienten. Wir schaffen
durch dieses Gesetz gute Voraussetzungen für Patientinnen und Patienten.
Vielen Dank.
({10})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Marlies Volkmer
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Dyckmans, ich sage es gerne noch einmal: Ohne
die SPD gäbe es das Amt des Patientenbeauftragten gar
nicht, und Herr Zöller könnte dieses Amt gar nicht wahrnehmen.
({0})
Ich finde es auch nicht falsch, wenn man ein Patientenrechtegesetz machen will, dass man erst einmal eine Arbeitsgruppe einrichtet und mit den Expertinnen und Experten sowie mit den Patientenvertretern spricht, damit
man weiß, was man in ein solches Gesetz schreiben
muss, damit etwas Besseres herauskommt als das, was
wir heute haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Gesundheitssystem orientiert sich immer noch nicht am tatsächlichen
Bedarf von Patientinnen und Patienten. Patientinnen und
Patienten fühlen sich häufig als Bittsteller, sei es, wenn
es um einen Arzttermin oder um einen Operationstermin
geht, wenn sie ihre vollständigen Unterlagen haben wollen oder wenn es um die Versorgung mit Hilfsmitteln
geht, weil sie gleichberechtigt am Leben teilhaben wollen. Auch im Konfliktfall sind Patientinnen und Patienten gegenüber Ärzten, anderen Leistungserbringern und
den Krankenkassen häufig die Unterlegenen. Ebenso
sind die Mitwirkungsrechte von Patienten sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene nicht ausreichend.
Ein modernes Patientenrechtegesetz muss an diesen
Stellen ansetzen. Es genügt bei weitem nicht, das Recht,
das bisher auf viele Gesetze verteilt war, in einem Gesetz
zu bündeln.
({1})
Das tun Sie aber. So ist es auch kein Wunder, dass zum
Beispiel der Präsident der Bundesärztekammer, Herr
Montgomery, festgestellt hat: Mit diesem Gesetz können
wir Ärzte gut leben. Es ändert sich nichts. - Wenn sich
für sie nichts ändert, dann ändert sich wahrscheinlich
auch für Patientinnen und Patienten nichts.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, Sie versuchen, durch rhetorische Tricks über die
Tatsache hinwegzukommen, dass sich für Patientinnen
und Patienten substanziell nichts ändert. Dieser Gesetzentwurf ist wie eine schillernde Seifenblase, die zerplatzen wird. Zurück bleiben enttäuschte Patientinnen und
Patienten.
({3})
Wir haben deutlich weitergehende Vorschläge im Interesse von Patientinnen und Patienten in den Bundestag
eingebracht. Ich wende mich jetzt noch einmal extra an
die Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU: Sie
haben sicher manchen unserer Vorschläge für durchaus
sinnvoll gehalten, zum Beispiel unsere Ideen für mehr
Sicherheit bei Medizinprodukten oder für die Einführung eines Härtefallfonds. Es fehlen Ihnen aber die Courage und das Durchsetzungsvermögen, solche neuen
Wege zu gehen.
({4})
So finden sich im Gesetz nun keinerlei Regelungen
zur Verbesserung der Sicherheit bei Medizinprodukten.
Hier gibt es deutliche Missstände. Das betrifft nicht nur
die gegenwärtige Zulassungspraxis in Europa. Der britische Gesundheitsminister hat sich übrigens bereits dafür
ausgesprochen, diese gefährliche Schwachstelle anzugehen. Von Ihnen von der Koalition hat man dazu leider
nichts gehört.
({5})
Es ist aber auch in unserem Land dringend notwendig,
etwas zu tun. Wir haben mit unserem Antrag „Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten“ den Weg aufgezeigt.
Zum Beispiel wäre ein verpflichtendes Register für alle
implantierbaren Medizinprodukte wie künstliche Gelenke oder Stents für Herzkranzgefäße ganz wichtig für
die Versorgungsforschung. Damit würde die Qualität der
Patientenbehandlung deutlich verbessert. Erklären Sie
den Patienten und den Ärzten, warum Sie hier nichts
tun!
({6})
Wo ist Ihr Änderungsantrag geblieben, der beinhaltet,
dass Krankenhäuser künftig Bonusvereinbarungen mit
den Chefärzten bei Erreichung ökonomischer Zielgrößen
offenlegen müssen? Wir alle hören immer wieder, dass
in Krankenhäusern aus rein wirtschaftlichen Gründen
auch unnötige Operationen durchgeführt werden. Das ist
ein unhaltbarer Zustand.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, noch
am Wochenende hat Ihr gesundheitspolitischer Sprecher
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung groß angekündigt, dass die Offenlegung der Bonusverträge in den
Qualitätsberichten der Krankenhäuser schon beschlossene Sache sei. Sind Sie jetzt der Meinung, dass Patientinnen und Patienten nicht mehr wissen müssen, ob in
dem Krankhaus, in das sie gehen, solche Bonusverträge
existieren? Oder war die Krankenhauslobby erfolgreich,
die gesagt hat: „Brauchen wir nicht“? Oder war es die
FDP?
({8})
Was ist mit dem Härtefallfonds? Herr Zöller, Sie ziehen seit Jahren durch die Lande und fordern einen solchen Fonds. Die Union fordert seit dem Frühjahr eine
entsprechende Stiftung. Trotzdem bekommen Sie keine
Regelung hin. Sie stellen sich vor die Presse und schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Woran
lag es? Lag es an der Unfähigkeit, nach drei Jahren ein
Konzept zu präsentieren? Scheiterte es am Willen der
FDP, auch einmal etwas für Patientinnen und Patienten
zu tun?
({9})
- Wir haben sehr wohl eines. Sie haben unseren Antrag
anscheinend nicht gelesen.
({10})
Frau Kollegin Volkmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aschenberg-Dugnus?
Immer gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Stimmen Sie mit mir
überein, dass das, was in Ihrem Antrag steht, mit dem
Wiener Härtefallfonds überhaupt nichts zu tun hat?
Stimmen Sie mit mir überein, dass sich der Wiener Härtefallfonds ausschließlich aus Beiträgen der Patienten
finanziert? Stimmen Sie mit mir überein, dass Haftpflichtversicherungen oder Steuergelder dort überhaupt
nicht vorkommen? Stimmen Sie mit mir überein, dass
dieser Fonds, den Sie in Ihrem Antrag als Modell heranziehen, nur für Krankenhausaufenthalte gilt? Stimmen
Sie mit mir überein, dass er eine ganz andere Zielsetzung
hat, dass es da überhaupt nicht um Behandlungsfehler
geht? Sie haben diesen Wiener Härtefallfonds herangezogen, aufgebläht, ad absurdum geführt und wollen ihn
auf unser System übertragen, das aber ganz anders funktioniert. In unserem Schadensersatz- und Haftungssystem geht es um individuelle Verantwortung und um individuelle Haftung.
({0})
Stimmen Sie mit mir überein, dass das Placebo, das Sie
hier der Öffentlichkeit geben wollen, überhaupt nicht zu
unserem System passt?
Liebe Frau Aschenberg-Dugnus, recht herzlichen
Dank für diese Frage. Dies gibt mir Gelegenheit, unser
Modell eines Härtefallfonds noch deutlicher zu erläutern. Sie haben recht: Wir haben das Wiener Modell
nicht eins zu eins übernommen. Warum sollten wir das
tun? Uns geht es darum, dass wir bei bestimmten Härtefällen eine Entschädigung zahlen wollen.
({0})
- Die sind nicht unbestimmt. - Das Haftungsrecht ist davon überhaupt nicht betroffen. Die individuelle Haftung
eines jeden Arztes bleibt erhalten. Die Patienten sollen
sogar klagen. Wenn sie mit einer Klage erfolgreich gewesen sind, zahlen sie Geld in den Fonds zurück.
({1})
- Wenn nicht, dann entschädigt der Fonds.
({2})
- Ja. Das ist in dem österreichischen Fonds auch so; das
wüssten Sie, wenn Sie sich damit beschäftigt hätten. Aus diesem Grunde halten wir es für berechtigt, dass die
Patientinnen und Patienten an der Finanzierung beteiligt
sind.
({3})
Ebenso halten wir es für berechtigt, dass diejenigen, die
einen solchen Behandlungsfehler verursachen - das sind
in der Regel die Leistungserbringer -, über die Haftpflichtversicherung in diesen Fonds einzahlen. Das ist
die Grundidee, und diese ist richtig.
({4})
Sie haben im Grunde genommen noch einmal deutlich gemacht, dass Sie nicht willens sind, etwas zu tun.
Sie hätten ja etwas vorlegen können. Sie hatten Zeit. Die
CDU hat im Frühjahr über ein Stiftungsmodell diskutiert. Wo ist es denn? Es gibt nichts, worüber wir hätten
diskutieren können. Etwas mehr Mühe sollten Sie sich
bei Ihrer Argumentation schon geben, wenn Sie schon
nicht den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit ist: Sie wollen etwas im Interesse der Versicherungswirtschaft tun, und Sie wollen nichts im Interesse der Patientinnen und Patienten tun.
({5})
Sie haben leider die Chance verpasst, hier fraktionsübergreifend etwas zu tun und ein wirklich modernes Patientenrechtegesetz vorzulegen; das wäre nämlich möglich gewesen. Dadurch wäre von diesem Haus ein
starkes Signal ausgegangen: an alle Leistungserbringer
im Gesundheitssystem und an alle Patientinnen und Patienten. Dies hätte nicht nur die Rechte der Patientinnen
und Patienten verbessert, sondern wäre auch im Interesse der Ärztinnen und Ärzte gewesen, deren übergroße
Mehrheit ein Interesse an einer guten Versorgung der Patientinnen und Patienten hat. Chance verpasst - leider.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Wolfgang Zöller.
({0})
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jeden Tag lesen wir Schlagzeilen und Beschwerden: Rollstuhl erst nach sechs Monaten genehmigt. Keiner half mir beim Behandlungsfehlerverdacht.
Ich darf als Arzt keinen Fehler melden, weil mir sonst
arbeitsrechtliche Sanktionen drohen. Ich weiß nicht, wo
steht, dass man ein Recht auf Einsicht in die Krankenakte hat. Ich erfuhr erst nach der Behandlung, dass ich
etwas zuzahlen muss, weil die Kasse die Kosten nicht
voll übernimmt. Man hat mich vor dem Eingriff nicht
richtig aufgeklärt, und Behandlungsalternativen wurden
keine benannt. - Das Patientenrechtegesetz schafft jetzt
für all diese Problemfälle eine gesetzlich verbindliche
Lösung. Das ist ein Mehrwert für die Patienten.
({0})
Deshalb ist heute ein guter Tag. Wir legen den Grundstein für eine neue Kultur in den Praxen und den Häusern der Gesundheitsversorgung, für eine Kultur der
Partnerschaft, der Transparenz und der Rechtssicherheit.
Wie Sie wissen, wollen wir kein Gesetz gegen irgendjemanden, sondern ein Gesetz mit den Beteiligten, das
sich an den Problemlagen der Realität orientiert, sodass
praktikable Lösungen gefunden werden.
({1})
Nach diesem Motto haben wir im Vorfeld über 300 Gespräche geführt und einen Konsens ausgelotet. Ich erinnere mich noch an Äußerungen wie: Eine Kodifizierung
der bestehenden Rechte wird nie gelingen. Wir brauchen
kein Gesetz; eine Broschüre reicht. Wir wollen eine totale Beweislastumkehr.
({2})
Wir brauchen keine mündigen Patienten; wir brauchen
nur mehr Geld im System. - Es ist gelungen, zwischen
diesen Polen zu vermitteln und ein gutes, umsetzbares
Patientenrechtegesetz vorzulegen.
({3})
Dafür möchte ich recht herzlich danken, und zwar dem
Gesundheitsminister, der Justizministerin und allen Mitarbeitern.
({4})
Ich darf an dieser Stelle auch den persönlichen Referenten ein recht herzliches Dankeschön sagen.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Gesetz
verringert das Wissensungleichgewicht zwischen Behandler und Patient, stellt niemanden an den Pranger,
nimmt aber alle an unserem Gesundheitssystem Beteiligten ausgewogen in die Pflicht. Das Vertrauensverhältnis
Arzt/Patient ist für uns ein sehr hohes Gut.
Wenn man die Diskussion, die zurzeit geführt wird,
verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, als gehe es
beim Patientenrechtegesetz nur um den sogenannten Härtefallfonds. Das Patientenrechtegesetz ist Gott sei Dank
- Gott sei Dank! - wesentlich mehr. Von der Kollegin ist
es schon angesprochen worden: Der Behandlungsvertrag
wird im Bürgerlichen Gesetzbuch ausdrücklich verankert. Patienten müssen demnach verständlich und umfassend informiert werden, etwa über erforderliche Untersuchungen, Diagnosen, beabsichtigte Therapien und
deren Alternativen; dies gilt im Übrigen auch für die
IGeL-Leistungen. In Zukunft muss auch die Höhe zusätzlich anfallender Kosten im Voraus schriftlich fixiert
werden. Die Patienten erhalten das Recht auf Einsichtnahme in ihre Patientenakte; sie können auch elektronische Abschriften ihrer Patientenakte verlangen. Nach
diesem Gesetz besteht auch die Pflicht, nachträgliche
Änderungen und Ergänzungen in der Dokumentation
kenntlich zu machen. - Das alles sind Vorteile für die
Patienten.
Fehlt eine Dokumentation oder ist sie unvollständig,
geht dies im Falle eines Prozesses zulasten des Behandelnden. Besteht ein Behandlungsfehlerverdacht, müssen die Kassen in Zukunft ihre Versicherten mit kostenfreien Gutachten unterstützen.
({6})
Behandlungsfehlern möglichst vorzubeugen, hat bei uns
Priorität. Das Qualitätsmanagement im stationären Bereich umfasst künftig verpflichtend auch ein Beschwerdemanagement. Es wird bei der Einführung von Fehlermeldesystemen in Kliniken finanzielle Anreize geben.
Die Verpflichtung zur Veröffentlichung in den Qualitätsberichten wird flächendeckend eine neue Fehlerkultur
befördern. Ein sehr hoher Nutzen für die Patienten ist:
Die Wartezeit bei einer Entscheidung der Kassen zur Bewilligung von Leistungen wird auf drei Wochen begrenzt. Das heißt, wird der Antrag nicht innerhalb von
drei Wochen bearbeitet, gilt er als genehmigt.
({7})
Die Patientenbeteiligung wird weiter ausgebaut. Patientenorganisationen werden insbesondere bei der Bedarfsplanung vor Ort einbezogen, damit die Strukturen
stärker an den Patientenbedürfnissen ausgerichtet werden. Eingeführt werden auch Widerrufsmöglichkeiten
bei besonderen Versorgungsformen. Da unser Gesundheitssystem und die bestehenden Rechte und Pflichten
sehr umfassend sind, übernehme ich gerne die im Gesetz
verankerte Pflicht, dass der Patientenbeauftragte die
Bürger in Zukunft verständlich über ihre Rechte informieren muss.
({8})
So weit nur stichpunktartig eine Aufzählung neuer,
konkreter, praktischer Verbesserungen für unsere Patienten.
({9})
Bei der Einbringung des Gesetzes hatte ich den
Wunsch geäußert, die Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss zu stärken. Ich bin sehr froh und
dankbar, dass dieser Punkt aufgenommen wurde. Durch
die Fristsetzung für eine Beratung von Anträgen der Patientenvertreter wird künftig eine zügige Befassung sichergestellt.
({10})
Wörtlich heißt es:
Für eine Beratung genügt ein … Aufsetzen auf die
Tagesordnung … nicht. Erforderlich ist eine materiell-inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Anliegen der Patientenvertretung.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine über
20 Jahre dauernde Diskussion ist damit nicht beendet;
({12})
aber sie hat ein sehr gutes Ergebnis gefunden. Denn mit
all diesen Regelungen, die wir getroffen haben, stärken
wir die Position der Patienten auf dem Weg vom Bittsteller zum Partner im Gesundheitswesen.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Kathrin Vogler das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Zöller, das, was Sie gerade erzählt
haben, glauben Sie doch selber nicht. Sie wissen alle,
was ein Placebo ist. Genau das ist leider dieses Patientenrechtegesetz, das uns die schwarz-gelbe Bundesregierung hier vorgelegt hat.
({0})
Ein Placebo ist ein Scheinmedikament, ein Medikament
ohne Wirkstoff. Leider fehlt Ihrem Patientenrechtegesetz
so mancher wichtige Inhaltsstoff im Sinne der Patientinnen und Patienten, der nützlich gewesen wäre. Ja, den
Krankenkassen erlegen Sie die eine oder andere neue
Pflicht auf. Manches bleibt aber vage. Zum Beispiel ist
die Unterstützung der Versicherten bei Behandlungsfehlern nur eine Soll-Regelung und keine Muss-Regelung.
Selbst da bleiben Sie im Vagen.
({1})
- Ja, ich habe es schon gelesen.
({2})
Die Frankfurter Rundschau schreibt heute völlig zu
Recht, das sei kein Patientenrechtegesetz, sondern ein
„Ärzteschutzprogramm“,
({3})
und die Aussage, die Beweislasterleichterung führe zu
einer Defensivmedizin, wie der Gesundheitsminister so
gerne sagt, sei barer „Unsinn“. Das kann ich nur unterschreiben.
({4})
Herr Zöller, wenn Sie jetzt sagen, der Gesetzentwurf
sei mit den Beteiligten im Konsens ausgehandelt worden, dann schließt Ihr Konsens wohl sehr viele Patientenorganisationen aus; sie sind - das ist bei der Anhörung
sehr deutlich gesagt worden - mit dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung überhaupt nicht zufrieden.
Frau Dyckmans hat hier schon wieder einen Mythos
verbreitet, und zwar den, dass Sie die Patientenrechte in
einem Gesetz bündelten. Auch da Fehlanzeige: Statt dass
Sie ein Patientenrechtegesetzbuch aus einem Guss vorlegen, wird jetzt am Bürgerlichen Gesetzbuch, am SGB V,
an der Patientenbeteiligungsverordnung und am Krankenhausfinanzierungsgesetz herumgedoktert. Das muss
einmal gesagt werden; das ist die Wahrheit.
({5})
Sie schreiben nur fest, was Richterinnen und Richter
bereits im Sinne der Patientinnen und Patienten entschieden haben,
({6})
Sie gehen kaum darüber hinaus.
({7})
Im Gegenteil, Sie riskieren, dass eine Weiterentwicklung
durch Richterrecht nicht mehr möglich ist.
Worüber reden wir hier eigentlich,
({8})
was sind denn die wichtigsten Dinge, die fehlen? Angenommen, ein Patient bekommt einige Monate nach seiner Hüftoperation Probleme, weil sich das künstliche
Hüftgelenk lockert, der Patient hat Schmerzen, kann sich
nicht mehr bewegen, kann nicht mehr laufen, kann nicht
arbeiten, muss neue Untersuchungen, neue Behandlungen über sich ergehen lassen, muss wieder ins Krankenhaus und vielleicht noch mehrfach operiert werden. In
dieser Situation ist doch der Betroffene, der Patient, ohnehin schon belastet. Und dann muss er noch selber die
Beweiskette führen. Sie besteht aus drei Elementen: erstens dass er den Schaden hat, zweitens dass es einen Behandlungsfehler gegeben hat und drittens dass dieser Behandlungsfehler ursächlich für das lockere Hüftgelenk
ist. Als medizinischer Laie ist er gegenüber der Ärztin,
dem Arzt oder dem Klinikkonzern mit seiner juristischen
Abteilung hundertprozentig im Nachteil.
Deswegen sagen wir als Linke: Ein Patientenrechtegesetz, das diesen Namen verdient, muss für die Patientinnen und Patienten bei der Beweislast deutliche Erleichterungen bringen. Das hat die Bundesregierung
leider versäumt. Deswegen ist ihr Gesetzentwurf für uns
nicht zustimmungsfähig.
({9})
Wir haben einen Entschädigungsfonds gefordert. Fast
alle Fraktionen des Hauses haben in irgendeiner Form
über einen solchen Entschädigungs- oder Härtefallfonds
nachgedacht. Wir haben unterschiedliche Auffassungen
darüber, wie er ausgestaltet werden könnte, sind uns aber
einig im Ziel: dass Patientinnen und Patienten in so einer
schwierigen Situation schnell und unbürokratisch geholfen werden muss.
Das hat die FDP leider im Sinne der Ärztelobby verhindert. Sie haben gemauert und damit einen weiteren
Fortschritt im Sinne der Patientinnen und Patienten verhindert. Auch deswegen können wir dem Gesetzentwurf
nicht zustimmen.
({10})
Auch den SPD-Antrag zum Härtefallfonds halten wir
für politisch unverdaulich.
({11})
Wir unterstützen zwar Ihr Anliegen, die Diskussion über
den Härtefallfonds wiederzubeleben, halten aber Ihre
Finanzierungspläne für nicht ausgegoren und nicht geeignet. Sie wollen, dass dieser Härtefallfonds unter anderem über die Zuzahlungen der Patientinnen und Patienten zum Krankenhausaufenthalt bezahlt wird.
({12})
Wir sind der Auffassung: Diese Zuzahlungen sind noch
unsozialer als die Praxisgebühr, die wir vor kurzem alle
gemeinsam abgeschafft haben. Deswegen können wir
auch Ihrem Antrag nicht zustimmen.
({13})
Was wir allerdings gut finden und wofür ich der SPD
ausdrücklich danken möchte, ist der Antrag, die sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen besser zu
regulieren und einzudämmen. Wir unterstützen das. Bei
den IGeL-Leistungen wird in den Arztpraxen allerlei
Schindluder und Beutelschneiderei betrieben. Davor
müssen wir - wir alle gemeinsam - die Patientinnen und
Patienten schützen.
({14})
Auch bei der Sicherheit der Medizinprodukte wollen
wir etwas unternehmen. Auch dazu findet sich im Gesetzentwurf der Bundesregierung nichts wieder. Wir alle
erinnern uns an den Betrug mit defekten Brustimplantaten. Vor kurzem hat eine britische Medizinzeitschrift
aufgedeckt, dass die 80 Zertifizierungsstellen in Europa,
die Medizinprodukte zertifizieren, doch nicht so gut ar25732
beiten, wie man es von ihnen erwarten müsste. Diese
Zeitschrift hat in mehreren Fällen herausgefunden, dass
diese Zertifizierungsstellen bereit waren, Hüftprothesen,
die offensichtlich unsicher waren und die Patientensicherheit gefährdeten, zu zertifizieren. Das ist bei privatwirtschaftlichen Einrichtungen, die im Auftrag der
Industrie tätig werden und Aufträge akquirieren müssen,
auch kein Wunder.
Deshalb fordern wir mit unserem Entschließungsantrag eine EU-weite zentrale Behörde zur Zertifizierung von Medizinprodukten. Denn es kann doch nicht
angehen, dass Medizinprodukte, die in den Körper eingesetzt werden, unsicher sind. Dagegen müssen wir gemeinsam etwas unternehmen.
({15})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie verspielen hier leider eine große Chance. Wieder einmal hat
Ihnen der Mut gefehlt, sich mit mächtigen Lobbygruppen anzulegen. Stattdessen enttäuschen Sie die Patientinnen und Patienten und ihre Selbsthilfeorganisationen.
Das machen wir nicht mit. Deswegen werden wir Ihren
Gesetzentwurf ablehnen.
({16})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die
Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Patientenbeauftragter Zöller, ich habe mit Interesse vernommen, dass Sie durchaus mit Stolz über
dieses Werk geredet haben, aber durchaus auch mit einem, sagen wir einmal, gewissen verhaltenen Stolz;
denn Sie wissen im Grunde genommen am besten, dass
dieses Gesetz so, wie es heute verabschiedet werden
wird, eine Enttäuschung bleiben wird.
({0})
Das ist sehr deutlich. Sie haben viele Aspekte gelobt und
haben durchaus noch einige Verbesserungen im Gesetzgebungsprozess eingebracht. Aber der Kern der Aufgabe, der hier zu bewältigen war, ist nicht bewältigt worden. Deshalb ist das Gesetz eine Enttäuschung.
({1})
Das liegt daran, dass Sie sich schon vorweg entschieden hatten, dass Sie für die Opfer von Behandlungsfehlern keine durchgreifende Regelung im Gesetzbuch
schaffen werden. Das war im Koalitionsvertrag von
vornherein ausgeschlossen. Das war die große Hürde
und die schwere Last, die auf diesem gesamten Gesetzgebungsprozess gelegen hat.
({2})
Es war völlig klar: Mit der FDP ist eine Besserstellung
von Patienten vor Gericht in Arzthaftungsprozessen
nicht zu machen.
({3})
Das war die Ausgangsvoraussetzung, mit der Sie umgehen mussten. Das heißt in der Konsequenz für die
Patienten und für die Patientenorganisationen: Es wird
bei den hohen Hürden vor Gericht bleiben. Es wird bei
den langen Prozesszeiten bleiben. Es wird bei den hohen
Prozessrisiken bleiben. Es wird dabei bleiben, dass sehr
viele ihr Recht vor dem Gesetz nicht durchsetzen können, nicht weil die Richter nicht wollen, sondern weil die
Anforderungen an die Beweislast zu hoch sind. Das wird
leider so bleiben.
({4})
Weil Ihnen das alles klar war, haben Sie als CDU, gerade Sie, Herr Zöller, den Vorschlag der Einrichtung eines Härtefallfonds durchaus wohlwollend aufgenommen, der von unserer Seite, von der SPD und von den
Linken in die Diskussion gebracht worden ist. Sie haben
den Vorschlag aufgenommen, weil Sie erkannt haben: Es
gibt Leute, die auf der Strecke bleiben, die mit ihren
Schäden ohne irgendeine Entschädigung, ohne irgendeine Unterstützung weiterleben müssen. Das war doch
der Punkt.
Dann haben Sie versucht, diesen Härtefallfonds
durchzusetzen, und dann ist er wieder an der FDP gescheitert, wieder an den Gruppen wie den Haftpflichtversicherern, die genau diesen Fonds nicht haben wollten.
({5})
Das ist das Problem, und daran können Sie nicht vorbeireden.
({6})
Frau Aschenberg-Dugnus, Sie haben gerade sehr
deutlich gemacht, dass es Ihnen letztlich nicht um den
Patienten geht,
({7})
dass es Ihnen nicht um die Opfer von Behandlungsfehlern geht, sondern dass es Ihnen um die schlichte Abwehr eines Projekts selbst der CDU gegangen ist. Das
war eine ganz klare Argumentation.
({8})
Kommen wir zur nächsten Enttäuschung. Es geht
auch in Ihren Papieren um Risikovermeidung. Es geht
um eine neue Fehlervermeidungskultur in den Kliniken.
Aber was tun Sie materiell dafür, außer den Krankenhäusern einen Anreiz zu geben? Etwas anderes haben Sie
materiell nicht neu in die Gesetzgebung gebracht. Wir
meinen, das ist zu wenig. Bei unserem Kenntnisstand
von heute, da wir alle um die Risiken von hochkomplexen medizinischen Verfahren wissen, ist das zu wenig.
Wir meinen: Hier muss nachgebessert werden.
({9})
Kommen wir zu einem Bereich, der in der Sachverständigenanhörung auch eine große Rolle gespielt hat.
Was ist mit den Menschen mit nicht ausreichenden
Sprachkenntnissen? Warum sind Sie nicht bereit, den
dann notwendigen Dolmetscherdienst auch kostenfrei zu
stellen? Ein Arzt wird doch in die Situation kommen,
eine Behandlung verweigern zu müssen, weil er sich sicher ist, dass der Patient das, was er zur Aufklärung gesagt hat, überhaupt nicht verstanden hat. Muss er tatsächlich seine Putzfrau oder irgendeine andere Person
heranholen, die die Aufklärung, die ja eigentlich fachkundig vorgenommen werden muss, eventuell sicherstellen kann? Wieso sind Sie nicht bereit, hierfür eine gesetzliche Regelung zu schaffen? Das ist mir und uns
nicht verständlich.
({10})
Ich komme nun zu den Menschen mit psychischen
Erkrankungen und zum Bereich Zwangsbehandlung.
Warum ist es nicht möglich, den guten Vorschlag aufzunehmen, eine Behandlungsvereinbarung als Pflicht für
die Krankenhäuser vorzusehen?
({11})
Das wäre ein präventives Angebot, das die Behandlungssituation im Vorhinein entlasten würde. Warum ist
es nicht möglich, den Krankenhäusern ein solches Instrument vorzuschreiben? Ich verstehe es nicht und kann
es nicht nachvollziehen.
Dies tun Sie nicht, obwohl wir alle wissen, dass eine
schwierige Diskussion über das Thema Zwangsbehandlung vor uns liegt. Hierbei wird es um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff gehen. Alles, was wir im
Vorhinein tun können, um eine solche Härte zu vermeiden, sollten wir auch tun.
({12})
Ich komme zu den Anträgen, die hier noch im Raum
stehen.
Es wäre schön gewesen, wenn wir die hier im Raum
vorhandene Mehrheit für einen Härtefallfonds tatsächlich hätten nutzen können, um diesen auf den Weg zu
bringen. Eine Diskussion über die Ausgestaltung wäre ja
noch möglich gewesen. Darüber hätten wir uns doch einigen können. Wir hätten als Ausschuss nach Österreich
reisen und dort Anregungen aufnehmen und gucken können, wie das eigentlich geht.
({13})
Wir hätten hier viele Dinge in Angriff nehmen können.
Er war aber nicht gewollt, und das ist ausgesprochen
schade.
Trotz unserer Bedenken aufgrund der konkreten Ausgestaltung, die die SPD hier vorgenommen hat, werden
wir diesem Antrag in der namentlichen Abstimmung zustimmen.
({14})
- Ja, wir haben das von verschiedenen Seiten prüfen lassen,
({15})
und Sie wissen auch, dass sich die rot-grün regierten
Länder im Bundesrat ausdrücklich und ausführlich mit
diesem Ansatz beschäftigt haben.
({16})
- Nein, es gibt ein Konzept, und es gibt sogar eine finanzielle Ableitung darüber, wie viel dieser Fonds letztlich
kosten würde.
({17})
- Doch, er würde funktionieren; Sie wissen das auch.
({18})
Sie versuchen nur, sich aus dieser Situation herauszuschleichen.
({19})
Wir müssen sagen: Es ist schade, dass Sie hier viele
gute Möglichkeiten, die wir über alle Fraktionen hinweg
zugunsten der Patienten hatten, zerschlagen haben.
({20})
Man sieht: Wir müssen auf andere politische Verhältnisse warten, bis ein echtes Patientenrechtegesetz mit einer wirklichen Verbesserung gerade für die, die es am
deutlichsten brauchen, tatsächlich durchsetzbar ist.
Vielen Dank.
({21})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Klein-Schmeink, Sie haben vorhin gesagt, dass der Kollege Zöller mit Stolz von diesem
Gesetzentwurf gesprochen hat. Ich sage: Ja, er kann auch
stolz auf diesen Gesetzentwurf sein; denn wir erreichen
hier wirklich einen großen Fortschritt für die Patienten in
unserem Land.
({0})
Wir setzen damit ein Ziel der christlich-liberalen Koalition um. Wir stärken die Rechte der Patientinnen und
Patienten, wir fördern die Orientierung zwischen den
vielfältigen Gesetzen und unzähligen Gerichtsurteilen,
und wir schaffen Transparenz. Sie haben dagegen jahrelang, ja jahrzehntelang nur geredet. Wir handeln! Ihre
Kritik ist an dieser Stelle überhaupt nicht glaubwürdig.
({1})
Man muss auch einmal sagen: Wir nehmen hier eine
umfassende Kodifizierung der Patientenrechte in einem
einheitlichen Rechtsrahmen vor, nämlich im Bürgerlichen Gesetzbuch. Dadurch erhält dort jeder verlässliche
Informationen über die vorhandenen Rechte und Pflichten. Allein diese Transparenz, die wir hier schaffen, dass
jeder Patient seine Rechte nachlesen und sich informieren kann, ist ein großer Mehrwert. Deswegen geht all
das, was Sie sagen, es handele sich um eine schillernde
Seifenblase, hier sei kein Wirkstoff vorhanden, sondern
das Ganze sei nur ein Placebo, und es würde sich nichts
ändern - das hat die Kollegin Volkmer gesagt -, mit Verlaub gesagt, an der Sache vorbei. Wir machen hier einen
großen Schritt in Richtung von mehr Rechten für die Patienten in unserem Land.
({2})
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf vor allen Dingen das Selbstbestimmungsrecht der Patienten stärken.
Wir tragen dazu bei, dass die Menschen frei und eigenverantwortlich über ihre medizinischen Behandlungen
entscheiden können. Damit setzen wir auf das Leitbild
des mündigen Patienten, der umfassend über seine
Rechte informiert ist und weiß, in welche Behandlung er
einwilligt. Das, möchte ich sagen, ist eines der Dinge,
die wir in den parlamentarischen Verhandlungen noch
geändert haben und die zu einem Fortschritt führen.
Ich möchte mit der Einsicht in die Patientenakte anfangen. Man muss klar sagen: Nur das, was in einer
Patientenakte hinreichend dokumentiert ist, lässt sich im
Nachhinein ohne Probleme nachvollziehen. Insofern soll
es so sein, dass die Patientenakte alle wesentlichen Informationen über den Patienten, über seine Beschwerden
und über die erfolgte Behandlung beinhaltet. Sie muss
zum Wohle des Patienten und auch zur Absicherung des
Behandelnden besondere Anforderungen erfüllen und
bedarf des Schutzes durch den Gesetzgeber. Deswegen
legen wir jetzt fest, dass die Patientenakte sorgfältig geführt werden muss, dass sie vollständig sein muss und
dass vor allen Dingen nachträgliche Änderungen oder
Berichtigungen nur noch dann zulässig sind, wenn nicht
nur der ursprüngliche Inhalt erkennbar ist,
({3})
sondern dass auch erkennbar ist, wann diese Änderungen vorgenommen worden sind. Wenn man später in einem Prozess die Behandlung nachvollziehen möchte,
dann gibt es an dieser Stelle die meisten Schwierigkeiten.
({4})
- Diese Erkennbarkeit ist sehr wohl etwas Neues.
Wenn Sie sich die Rechtsprechung genau ansehen,
liebe Kollegin von der Opposition, dann werden Sie feststellen, dass wir die Folgen dieser Rechtsprechung hier
klar und dezidiert festhalten, dass wir einen umfassenden Anspruch auf Einsicht verankern, der im Übrigen
nicht mehr ohne Weiteres vom Arzt abgelehnt werden
kann. Diese Einsichtnahme kann nur aus therapeutischen
Gründen abgelehnt werden oder wenn dem erhebliche
Rechte Dritter entgegenstehen. Der Arzt muss seine Ablehnung begründen. Er kann sich nicht mehr hinter irgendwelchen Floskeln verstecken. Das wird es dem Patienten in Zukunft ermöglichen, seine Rechte zur Not
vor Gericht durchzusetzen. Diese Regelung ist ein wesentlicher Fortschritt und geht weiter über das hinaus,
was wir derzeit haben.
({5})
Mit diesem grundsätzlichen Anspruch auf Einsichtnahme erreichen wir erhöhte Akzeptanz und Nachvollziehbarkeit beim Patienten. Auch das führt letztlich
dazu, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und
Patient, das wir alle miteinander wollen, gestärkt wird.
Da ich beim Vertrauensverhältnis bin, möchte ich
noch etwas anderes sagen. Es wurde hier von Fehlerkultur gesprochen und davon, dass es hier keine Fortschritte
gibt. Auch an dieser Stelle regeln wir im Bürgerlichen
Gesetzbuch sehr klar, dass ein Arzt zukünftig Fehler eingestehen kann, ohne dass er Angst haben muss, hinterher
von einem Staatsanwalt behelligt zu werden. Wir geben
ihm einen Anreiz, den Fehler anzugeben, ohne dass das
hinterher in einem gerichtlichen Verfahren gegen ihn
verwendet werden kann. Damit ermöglichen wir es ihm,
seine Fehler tatsächlich einzugestehen: zum Wohle des
Patienten, sodass schnell gegen die Folgen möglicher
Fehler vorgegangen werden kann.
({6})
Ich möchte etwas zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts sagen, die auch Ziel und Zweck dieses Gesetzentwurfes ist. Wir sind der Auffassung, dass auch
das Selbstbestimmungsrecht von Kindern und einwilligungsunfähigen Personen Beachtung verdient; das hat
hier die Kollegin Dyckmans schon ausgeführt. Auch
wenn diese Personen natürlich formal nicht in eine medizinische Behandlung einwilligen können - das müssen
immer die Eltern oder die Betreuer machen -, sollen sie
in das Behandlungsgeschehen einbezogen werden. Wir
legen deswegen mit diesem Gesetzentwurf fest, dass
auch Kindern und einwilligungsunfähigen Personen, die
eine Art natürliche Einsichtsfähigkeit haben, entsprechend ihren Verständnismöglichkeiten und entsprechend
ihrem Entwicklungsstand die wesentlichen Umstände
der medizinischen Behandlung erläutert werden müssen.
Wir erreichen einen wesentlichen Fortschritt für diese
Patienten, weil wir an dieser Stelle ihr Selbstbestimmungsrecht achten.
({7})
Wir haben neben der Stärkung der Rechte von Patientinnen und Patienten an vielen Stellen auch darauf geachtet, dass wir den Anforderungen in der Praxis gerecht
werden. Wir haben sehr darauf geschaut, dass unsere Regelungen, etwa im Alltag von Krankenhäusern, nicht zu
unnötigen Erschwernissen führen.
Deswegen haben wir zum Beispiel bei der Aufklärung, die vor jedem Eingriff in verständlicher Weise erfolgen muss, damit in die medizinische Behandlung eingewilligt werden kann, festgelegt, dass diese nun auch
durch eine Person durchgeführt werden kann, die aufgrund einer abgeschlossenen fachlichen Ausbildung die
notwendige theoretische Befähigung zur Durchführung
dieser Maßnahme hat.
({8})
Das knüpft sozusagen an den Krankenhausalltag an, wo
es in aller Regel so ist, dass Assistenzärzte die Aufklärung vornehmen, die tatsächliche Operation aber durch
Fach- oder Oberärzte erfolgt.
({9})
Die haben aber natürlich im Krankenhausalltag nicht die
Zeit, alle Patienten aufzuklären. Deswegen sagen wir an
dieser Stelle: Auch Assistenzärzte, die aufgrund ihrer
medizinischen Ausbildung die fachliche Kompetenz haben, sollen die Aufklärung vornehmen dürfen. Sonst
würden unnötig Bürokratie und Erschwernisse im Krankenhaus geschaffen.
({10})
Unter dem Strich - das muss man sagen - war es ein
gesetzgeberischer Drahtseilakt, den wir vornehmen
mussten, weil wir die vorhandene Judikatur - das
Richterrecht - kodifizieren wollten, aber wir wollten natürlich nicht verhindern, dass sich das Richterrecht auch
zukünftig fortentwickeln kann.
({11})
Deswegen haben wir bei der Formulierung der einzelnen
Regelungen sehr darauf geachtet, dass wir Freiräume
und Möglichkeiten lassen, dass Gerichte im Einzelfall
sach- und interessengerechte Urteile fällen können.
Denn das Richterrecht ist eine wesentliche Stärke unserer deutschen Rechtsordnung, und das soll in Zukunft
auch so bleiben.
Unter dem Strich sage ich: Es war ein Drahtseilakt, es
war schwierig, wir haben es aber geschafft, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in wesentlichen Teilen zu
stärken. Wir schaffen klare und transparente Regelungen. Das ist ein großer Fortschritt. Ich muss an dieser
Stelle auch einen Dank an die Ministerien, das Justizministerium und das Gesundheitsministerium, aussprechen. Das waren gute Beratungen. Wir haben ein gutes
Gesetz vorgelegt. Ich bitte dafür um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({12})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Mechthild
Rawert das Wort.
({0})
Herr Luczak, das war ja wohl der Versuch des Scharfschießens. Er ist allerdings gescheitert. Ihre Ausführungen zum Richterrecht haben ganz deutlich gemacht, dass
das Patientenrechtegesetz eigentlich wenig klärt. Denn
wenn Sie jetzt in der abschließenden Beratung schon darauf setzen, dass die Zukunft aufgrund unklarer gesetzlicher Regelungen aus Urteil an Urteil an Urteil an Urteil
besteht, kann ich nur sagen: Gesetz gescheitert!
({0})
Es ist das Gesetz der vertanen Chancen. SchwarzGelb stellt sich nicht auf die Seite der Patientinnen und
Patienten, sondern es ist so - die Berliner Zeitung hat
heute so getitelt, es ist vorhin auch schon zitiert worden -,
dass hier ein Ärzteschutzprogramm verabschiedet wird.
Nicht, dass uns hinterher wieder vorgeworfen wird, wir
als Opposition seien gegen die Mediziner. Nein, dem ist
nicht so. Wir sind aber gegen Regelungen, die Patienten
nicht schützen und die vor allen Dinge ihre Rechte nicht
stärken.
({1})
Denn wir müssen eines wahrnehmen, und zwar das
Leben und die Wirklichkeit des Lebens. Die Fehlerquote
liegt im Promillebereich, ja. Nach seriösen Schätzungen
sterben andererseits rund 17 000 Menschen im Jahr an
Kunstfehlern. Darauf gibt Ihr Gesetz null Komma null
Antwort.
({2})
Minister Bahr, Sie selber haben es auch schon angesprochen: Sie haben von einer generellen Beweislastumkehr gesprochen, die Sie nicht wollen. Frau
Aschenberg-Dugnus wird sicherlich gleich darauf noch
eingehen. Ich frage mich: Wo ist denn der Sturm der
Ärzte und Ärztinnen? Ich hätte erwartet, dass sich auch
die Mediziner viel stärker auf die Seite der Patienten und
Patientinnen gestellt hätten, um deren Rechte zu stärken.
Deswegen sage ich - auch als Antwort auf die erste
Rednerin -: Dieses Gesetz zerstört Vertrauen, und dieses
Vertrauen ist ein kostbares Gut. Hier haben Sie versagt.
({3})
Ich komme auf einen speziellen Punkt zurück, nämlich auf die individuellen Gesundheitsleistungen. Wir
reden hier von einem Markt, der schon 2010 1,5 Milliarden Euro umfasste. Wir Sozialdemokraten hatten diesbezüglich einen Antrag zur Eindämmung der individuellen Gesundheitsleistungen vorgelegt. Es geht nicht nur
um 1,5 Milliarden Euro, sondern um 18,5 Millionen Einzelgeschäfte in Praxen. Das ist also ein Markt, den es
sich genauer anzuschauen und vor allen Dingen zu regulieren lohnt.
Was war am Anfang in Ihrem Patientenrechtegesetzentwurf zu IGeL-Leistungen enthalten? Null Komma
null. Nichts!
({4})
Insofern hat unser Antrag Sie noch ganz schön auf Trab
gebracht. Darüber bin ich froh, und darauf bin ich stolz,
auch aus der Sicht der Opposition heraus.
({5})
Denn die individuellen Dienstleistungen, für die nach Ihren Vorstellungen in den Praxen gezahlt werden soll, berühren das, was mancher Mann meint, wenn er sagt:
Man will nur mein Bestes, nämlich das Portemonnaie.
Wir wollten eine Bedenkzeit und die Trennung der
Leistungen insofern, dass IGeL-Leistungen nicht zusammen mit gesetzlich versicherten Leistungen verkauft
werden,
({6})
weil wir sicherstellen wollen, dass der Arzt oder die Ärztin vertrauenswürdig bleiben und nicht plötzlich als Anbieter von Selbstzahlerdienstleistungen auftreten.
({7})
Der Patient oder die Patientin soll nicht plötzlich zum
Kunden oder zur Kundin degradiert werden.
All das beantworten Sie ausschließlich damit, dass es
jetzt eine bessere Aufklärung hinsichtlich der Finanzierung dieser individuellen Gesundheitsleistungen geben
soll.
({8})
- Ja, ich danke Ihnen für dieses Stichwort. - Das Stichwort mündiger Patient oder mündige Patientin hat bei
dem gesamten Theater, wie ich es nennen möchte, eine
große Rolle gespielt, als es darum ging
({9})
- Sie können das noch besser -, dass das Wirtschaftsministerium die Schulungen für Ärzte und Ärztinnen bezahlt hat, damit auch das medizinische Fachpersonal
mehr Marketingschulungen erhält. In den Antworten des
Ministeriums auf meine Fragen war ständig vom mündigen Patienten und der mündigen Patientin die Rede.
Aber davon, dass die einen geschult werden - sogar mit
öffentlichem Geld -, damit der Patient besser ausgenommen werden kann und mehr Abzocke möglich ist, sagen
Sie nichts, wenn es um Ihr Lieblingsbild des mündigen
Patienten und der mündigen Patientin geht.
({10})
Ich glaube, ich bin eine mündige Frau. Wenn ich
krank bin, geht es mir aber nicht darum, vorher noch ein
medizinisches Studium in Kurzfassung abzulegen, sondern dann möchte ich geheilt werden.
({11})
Dann bin ich gerne bereit, nicht nur hilfsbedürftig zu erscheinen, sondern auch Hilfe in Anspruch zu nehmen.
({12})
Mit anderen Worten: Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wurde leider auch von der Verbraucherschützerin verraten, um es so zu sagen. Frau
Aigner als oberste Verbraucherschützerin hat eine Studie
„Untersuchungen zum Informationsangebot zu Individuellen Gesundheitsleistungen“ vorgelegt. Wen wundert
es, dass in dieser Studie jede Kritik und jede Annahme,
die Grundlage für unseren Antrag „Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen“ war, bestätigt worden ist?
Auch Herr Zöller fordert eigentlich eine Bedenkzeit.
Was ist aus der Bedenkzeit geworden? Null Komma
null.
Frau Kollegin Rawert.
Einen Moment.
({0})
Die Informationen in den Arztpraxen sind nicht aussagekräftig genug und haben zu viele Defizite. Das einzig Wertvolle ist derzeit der IGeL-Monitor. Darauf verweisen wir alle. - Entschuldigung.
Erlauben Sie jetzt noch eine Nachfrage, wie man in
diesem Fall sagen muss, des Kollegen Dr. Lotter von der
FDP?
Er steht ja schon.
({0})
Schon die ganze Zeit.
Wir sind ja beide nicht so hochgewachsen.
Ich bin ja so unscheinbar. Danke, dass Sie die Frage
noch zulassen. - Frau Kollegin Rawert, wenn ein Patient
zu mir kommt, um sich von mir behandeln zu lassen,
und er mich bei der Behandlung fragt: „Herr Doktor, gegen meine Kniegelenksarthrose habe ich mal homöopathische Spritzen bekommen, die mir hervorragend geholfen haben. Könnte ich sie wieder bekommen?“ - das
ist eine sogenannte IGeL-Leistung -, dann muss ich ihm
sagen: Ja, das können wir machen, aber warten Sie bitte
erst 24 Stunden; kommen Sie morgen um 17 Uhr wieder,
dann kann ich es machen. - Dann denkt der Patient
doch: Ich glaube, mein Doktor spinnt jetzt völlig.
Würden Sie mir zustimmen, dass das, was Sie fordern, völlig unrealistisch ist?
({0})
Ich bin sehr erfreut, dass Sie als Arzt einem Patienten
von heute auf morgen einen Termin um 17 Uhr anbieten.
({0})
Das ist eine absolute Ausnahme und hat überhaupt nichts
mit der alltäglichen Praxis zu tun. Die individuellen Gesundheitsleistungen werden in der Regel - wir reden hier
nicht von sportmedizinischen oder reisemedizinischen
Untersuchungen - von Ärztinnen und Ärzten angeboten.
Das zeigt: Ihr Beispiel ist lebensfremd und nicht Grundlage dieser Diskussion.
({1})
- Herr Lanfermann, auch Ihnen wünsche ich noch viele
Arztbesuche und so gute Erfahrungen, wie sie Herr
Lotter gemacht hat.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine AschenbergDugnus von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das, was wir bisher von der Opposition gehört haben, ist
ein geradezu schicksalhafter Reflex. Wenn Vorschläge
von der Regierung gemacht werden, müssen Sie sie kritisieren, egal ob etwas dahintersteckt oder nicht. Das ist
besonders eigentümlich für die SPD, die in ihrer Regierungszeit eine kleine Broschüre zu den Patientenrechten
aufgelegt hat. Zehn dünne Seiten über die Patientenrechte! Auf ihnen steht nichts Großartiges. Wenn Sie von
vertanen Chancen sprechen, dann ist das lächerlich.
({0})
Sie haben in Ihrer Regierungszeit überhaupt nichts geleistet. Jetzt werfen Sie uns das vor? Das kann ja wohl
nicht wahr sein.
Liebe Frau Rawert, wenn Sie sagen, die Ärzte würden
nicht an der Seite ihrer Patienten stehen, dann ist das
eine Unverschämtheit. Die Ärzte stehen an der Seite
ihrer Patienten.
({1})
Ich finde, Sie sollten das zurücknehmen. Welches Bild
haben Sie überhaupt von den Ärzten in unserem Land?
Ich empfinde das als persönliche Beleidigung.
Meine Damen und Herren, jetzt kommen wir endlich
zu den Inhalten unseres hervorragenden Patientenrechtegesetzes. Meine Kollegin Frau Dyckmans hat schon über
die Änderungen im BGB referiert. Ich möchte Ihnen aufzeigen, welche konkreten Verbesserungen das SGB V
für die Patientinnen und Patienten in unserem Lande
vorsieht.
Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, Frau Kollegin
Klein-Schmeink würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Ich habe zwar noch drei Minuten, aber machen Sie
mal.
Es ist mehr eine Anfangsfrage.
Sie waren gerade dabei, über das Verständnis der
Rolle des Arztes und über das Misstrauen den Ärzten
gegenüber zu sprechen. Ich habe heute in der Presse
gelesen, dass gerade Sie und auch Minister Bahr als ein
Argument gegen den Härtefallfonds angeführt haben,
dass dann der Anreiz für die Ärzte entfiele, sorgfältig
und fehlerfrei zu arbeiten. Welches Verständnis von ärztlicher Kunst und der ärztlichen Rolle spricht daraus?
({0})
Liebe Frau Kollegin, Sie haben wieder einmal etwas
völlig missverstanden. Es geht darum, dass jemand im
deutschen Schadensersatzrecht für sein individuelles
Handeln individuelle Haftung übernehmen muss. Das
führt dazu, dass er besonders rücksichtsvoll agiert.
Warum wir gegen den Härtefallfonds sind, ist eine ganz
andere Sache. Wir haben hier noch nicht gehört, wie es
rechtlich fundiert umgesetzt werden soll. Die SPD hat
einen Antrag vorgelegt, der grob vom Wiener Modell
ausgeht. Im Ergebnis ist es aber anders. So sollen alle
- Versicherte, Steuerzahler und Patienten - zur Finanzierung herangezogen werden. Dann wird gesagt, dass es
gar nicht um Behandlungsfehler, sondern nur um Härtefälle geht. Es ist überhaupt nicht geklärt, wer das entscheidet. Es ist überhaupt nicht geklärt, in welcher Zeit
das geschehen soll. Es ist überhaupt nicht geklärt, ob es
rechtlich angreifbar ist. Dazu hat niemand in diesem
Hohen Hause etwas vorgelegt. Wir sind ein Rechtsstaat
und können nur das ins Gesetz schreiben, was auch
wirklich umsetzbar ist. Solange Sie nichts Entsprechendes vorlegen, können Sie von uns nicht erwarten, dass
wir für einen Härtefallfonds sind. So viel zu diesem
Thema.
({0})
Meine Damen und Herren, jetzt würde ich gerne den
Patientinnen und Patienten erklären, welche positiven
Maßnahmen wir für sie im SGB V ergriffen haben. Der
erste Punkt, der mir persönlich ganz wichtig ist, ist die
Bewilligung von Leistungen durch die Krankenkassen.
Durch dieses Gesetz wird sie beschleunigt. Wir hören es
doch tagtäglich: Die Patienten beschweren sich darüber,
dass sie ewig auf eine Leistung ihrer Krankenkasse, auf
die sie angewiesen sind, warten und dass sie sich selber
darum kümmern müssen. Deswegen steht jetzt im
Gesetz: Wenn sich die Kasse nicht innerhalb von drei
Wochen nach Antragstellung meldet, kann sich der Patient beispielsweise das nötige Mittel oder den Rollator
selbst besorgen und bekommt die Kosten später erstattet.
Das heißt, die Leistung ist automatisch genehmigt, wenn
sich die Krankenkasse nicht rührt.
({1})
Meine Damen und Herren, das sind ganz konkrete
Verbesserungen im Alltag der Patienten und für unsere
medizinische Versorgung.
Auch der zweite Punkt ist sehr wichtig. Das Gesetz
sieht die Förderung einer Fehlervermeidungskultur in
der medizinischen Versorgung vor. Wir verpflichten per
Gesetz die Krankenhäuser zur Einführung eines
Beschwerdemanagements und zur Einführung eines
Fehlermeldesystems. Das ist ganz wichtig, weil wir den
Nährboden für Fehler weitgehend austrocknen wollen.
({2})
Sicher, da, wo Menschen arbeiten, passieren auch
Fehler. Wir können Fehler nie ausschließen. Deswegen
geben wir den Betroffenen eine zusätzliche Hilfe an die
Hand. In Fällen, in denen Fehler passiert sind, werden
die Versicherten zukünftig auf die verpflichtende Unterstützung ihrer Krankenkasse bauen können. Das ist positiv für die Menschen in unserem Lande.
({3})
Eben wurde über IGeL gesprochen; dazu möchte ich
noch etwas sagen. Im Gegensatz zu Frau Rawert halte
ich IGeL nicht per se für schlecht. Man darf sie nicht als
reine Umsatzsteigerungsinstrumente der Ärzte abtun.
Ich finde, das wird dem überhaupt nicht gerecht und ist
absolut unredlich. Was man machen kann - da bin ich
wieder beim mündigen Patienten, Frau Rawert -, ist Folgendes: Wir müssen den Patienten bestmöglich aufklären. Dann kann er auf der Grundlage der ihm gegebenen
Auskünfte seine Entscheidung treffen. Er wird darüber
informiert, was für ihn sinnvoll ist und was es kostet.
Dann kann er sich ausführlich darüber Gedanken
machen. Zum Beispiel die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die unabhängigen Patientenberatungen und die
Kassen haben auf ihren Internetseiten Informationen
über IGeL. Alle verweisen auf den IGeL-Monitor. Es
gibt genügend Informationsmöglichkeiten für die Patienten.
Natürlich kann der IGeL-Monitor auch kritisch betrachtet werden, Frau Rawert. So werden manche Maßnahmen als nicht nützlich bewertet, obwohl das nach
meiner Meinung nicht der Fall ist. Zum Beispiel wird die
professionelle Zahnreinigung als nicht nützlich bewertet.
Das ist natürlich völlig fragwürdig.
({4})
- Das steht im IGeL-Monitor als IGeL.
Meine Damen und Herren, die von Ihnen geforderte
Regelung zur Bedenkzeit, um sich für eine IGeL zu entscheiden, ist doch völlig unpraktikabel und unsinnig. Wenn
ein Patient eine Leistung nicht will, muss er sie ja nicht in
Anspruch nehmen. Aber als Regelfall eine 24-stündige Bedenkzeit vorzuschreiben, ist doch völlig patientenfeindlich und praxisfern. Das ist doch gegen die Patienten.
Das können Sie doch nicht ernsthaft wollen.
({5})
Meine Damen und Herren, in unserem Gesetz stehen
der Patient und die Verbesserung seines ganz konkreten
Alltags im Mittelpunkt. Das erreichen wir. Das, was in
Ihrer kleinen, dünnen Broschüre skizziert war,
({6})
haben wir jetzt in einem sehr guten Patientenrechtegesetz zusammengefasst. Ich glaube, die Patientinnen
und Patienten werden merken, dass das viel mehr wert
ist als diese kleine Broschüre.
Vielen Dank.
({7})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Erwin Rüddel von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Unsere erfolgreiche Gesundheitspolitik der vergangenen drei Jahre
({0})
wird heute mit einem Gesetz abgerundet, das die Rechte
der Patientinnen und Patienten stärkt und übersichtlich
zusammenfasst. Dabei haben wir sehr sorgfältig darauf
geachtet, dass das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht beschädigt wird.
Mit dem Patientenrechtegesetz verankern wir das
Arzt-Patienten-Verhältnis erstmals im Bürgerlichen Gesetzbuch. Durch das Gesetz sind Betroffene künftig
nicht mehr davon abhängig, ob der jeweilige Richter in
einem möglichen Prozess sattelfest und mit der gesamten bisherigen Rechtsprechung vertraut ist. Schon alleine
diese Tatsache bedeutet einen entscheidenden Fortschritt; denn der künftig im Bürgerlichen Gesetzbuch
normierte Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient garantiert klare Regeln bei möglichen Verstößen.
Zusätzlich werden die Informations-, Aufklärungsund Dokumentationspflichten für die Ärzte klar geregelt.
Das bringt mehr Sicherheit für die Patienten und stärkt
deren Position. Im Falle eines Behandlungsfehlers werden Verfahren und Schuldfeststellung dadurch erheblich
erleichtert. Bei Rechtsstreitigkeiten ist die Patientenakte
das wichtigste Dokument. Wir regeln, dass Patienten in
ihre Akte Einsicht nehmen und Kopien anfertigen
können. Das darf nur in begründeten Ausnahmefällen
untersagt werden.
Bei groben Behandlungsfehlern muss der behandelnde Arzt darlegen, dass er alles richtig gemacht hat,
und nicht der Patient nachweisen, dass der Arzt einen
Fehler begangen hat. Die Krankenkassen werden ihre
Mitglieder künftig bei Verdacht auf Behandlungsfehler
unterstützen, um eventuelle Schadensersatzansprüche
durchzusetzen.
Ferner wird den Kassen bei der Genehmigung beantragter Leistungen künftig eine kurze Frist gesetzt. Entscheiden sie nicht innerhalb dieser Frist, gilt ein Antrag
automatisch als genehmigt. Diese Regelung haben wir
im Sinne der Patienten nochmals präzisiert und verschärft.
({1})
Eine generelle Beweislastumkehr lehnen wir ab. Der
Arzt soll zuerst an seinen Patienten denken und nicht an
seine Rechtsschutzversicherung.
({2})
Besonders bedeutend ist eine ausreichende Berufshaftpflicht für Ärzte. Wir schaffen klare Regelungen in
der Musterberufsordnung. Wichtig ist aber eine regelmäßige Überprüfung der Versicherung. Hier sind die
ärztlichen Zulassungsbehörden und die Bundesländer
aufgefordert, zeitnah Regelungen zu treffen, die dies ermöglichen.
Stark ausgebaut wird das Beschwerdemanagement in
den Krankenhäusern. Gleiches gilt für das Risikomanagement und die Fehlerberichtskultur - Stichwort
„zielführendes Fehlermanagement ohne gleichzeitiges
Schuldeingeständnis“. Wer einen Fehler meldet, soll
dadurch keine Konsequenzen fürchten müssen. Das Ziel
ist, aus Fehlern zu lernen. Außerdem stärken wir die
Stellung der Patientenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss durch die Pflicht zur zeitnahen Beratung
ihrer Anträge.
({3})
Für die individuellen Gesundheitsleistungen werden
klare Vorschriften beschlossen. Damit ist zweifelsfrei
sichergestellt, dass die Patientinnen und Patienten ihre
Entscheidung für oder gegen eine individuelle Gesundheitsleistung ohne Druck und Zwang treffen können
({4})
und wirkungsvoll vor unnötigen Maßnahmen geschützt
werden.
Eine Reihe von Vorschlägen aus der Opposition haben wir im Ausschuss ablehnen müssen, wie ich meine:
aus gutem Grund. Denn wir wären sonst unweigerlich an
einen Punkt gekommen, wo aus Verrechtlichung eine
Überreglementierung geworden wäre, mit möglicherweise fatalen Folgen für das Vertrauensverhältnis
zwischen Patient und Arzt,
({5})
ganz abgesehen davon, dass ein deutlich höherer Verwaltungsaufwand mit einem erheblichen Zeitverlust und
damit zwangsläufig mit einer Einschränkung der eigentlichen Patientenversorgung einhergegangen wäre.
({6})
Noch ein Wort zum Thema Härtefallfonds. Auch
wenn man sich eine Stiftungslösung vorstellen kann, um
in Härtefällen zeitnah und unbürokratisch Unterstützung
zu leisten, ohne die Schuldfrage in den Vordergrund zu
stellen, vertrauen wir auf die verschärfte Überprüfung
der Berufshaftpflicht. Die Zukunft wird zeigen, ob und
inwieweit weiterer Handlungsbedarf für den Gesetzgeber besteht. Meine Fraktion wird dies in jedem Fall
sehr genau im Auge behalten.
({7})
Meine Damen und Herren, das Gesetz stellt insgesamt
einen Wendepunkt für unser Gesundheitswesen dar. Die
Patientinnen und Patienten werden ihre Rechte künftig
besser kennen und besser durchsetzen. Das bedeutet für
die Versicherten mehr Qualität, mehr Transparenz, mehr
Sicherheit und damit mehr Souveränität gegenüber
Ärzten, Kliniken und Krankenkassen. Wir halten unser
Versprechen und machen die Patientinnen und Patienten
zu Partnern auf Augenhöhe.
({8})
Mir ist es ein Bedürfnis, abschließend unserem Kollegen Wolfgang Zöller zu danken.
({9})
Als Patientenbeauftragter der Bundesregierung hat er
sich seit Jahren in unzähligen Gesprächen mit allen Beteiligten für dieses wichtige Gesetz engagiert. Dass wir
dieses Vorhaben, an dem frühere Bundesregierungen gescheitert sind, nunmehr unter Dach und Fach haben, ist
nicht zuletzt ihm, seiner Arbeit und seinem ganz persönlichen Einsatz zu verdanken. Vielen Dank, lieber
Wolfgang.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11710, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10488 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der
Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11722.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken und
der Grünen.
({0})
- Das habe ich auch gesagt.
({1})
- Ich kann Sie nicht verstehen. Entschuldigung.
({2})
- Ich habe gesagt, dass die Koalitionsfraktionen und die
SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgestimmt haben.
({3})
- Dann wiederhole ich die Abstimmung. Ich bitte, aufzupassen, weil ich kaum noch Überblick habe. Sonst muss
ich Sie bitten, wieder Platz zu nehmen. Ich hoffe, dass es
auch so gehen wird.
Es geht um den Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/11722. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Genauso habe ich es vorhin festgestellt, aber ich bestätige es jetzt noch einmal. Dann ist
das so protokolliert.
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
17/11710 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9061
mit dem Titel „Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11008 mit dem Titel „Patientenrechte wirksam
verbessern“. Die Fraktion der SPD hat beantragt, dass
über Ziffer II Nrn. 2 bis 4 des Antrags einerseits und
über den übrigen Antrag andererseits getrennt abgestimmt werden soll. Wir stimmen daher zunächst über Ziffer II Nrn. 2 bis 4 des Antrags auf Drucksache 17/11008
ab. Die Fraktion der SPD hat dazu namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die Plätze einzunehmen? - Ich eröffne die
Abstimmung über Ziffer II Nrn. 2 bis 4 des Antrags.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das scheint
nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des
Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche
ich die Sitzung.
({4})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich
bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen.
Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem Antrag der SPD-Fraktion
„Patientenrechte wirksam verbessern“ auf der Drucksache 17/11008 bekannt: abgegebene Stimmen 558. Mit
Ja haben gestimmt 195, mit Nein haben gestimmt 303,
Enthaltungen 60. Der Antrag ist abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 558;
davon
ja: 195
nein: 303
enthalten: 60
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({0})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({1})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({2})
Hubertus Heil ({3})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({4})
Frank Hofmann ({5})
Dr. Eva Högl
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({6})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({7})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({8})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({9})
Michael Roth ({10})
Marlene Rupprecht
({11})
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({12})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({13})
Werner Schieder ({14})
Ulla Schmidt ({15})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({16})
Ewald Schurer
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({17})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({18})
Volker Beck ({19})
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({20})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({21})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({22})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({23})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({24})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Ernst-Reinhard Beck
({25})
Manfred Behrens ({26})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({27})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({28})
Axel E. Fischer ({29})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({30})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Andreas Jung ({31})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({32})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({33})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({34})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({35})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({36})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Katherina Reiche ({37})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({38})
Anita Schäfer ({39})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({40})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({41})
Dr. Kristina Schröder
({42})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({43})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({44})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({45})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({46})
Peter Weiß ({47})
Sabine Weiss ({48})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({49})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({50})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({51})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({52})
Michael Link ({53})
Oliver Luksic
Jan Mücke
Petra Müller ({54})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({55})
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({56})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({57})
Enthalten
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({58})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
Wir kommen zur Abstimmung über den übrigen Teil
des Antrags auf Drucksache 17/11008. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung
von Linken und Grünen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit
unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/6489 mit dem Titel „Mehr Rechte für
Patientinnen und Patienten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei
Zustimmung der Linken und Enthaltung der Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6348 mit dem Titel „Rechte von Patientinnen
und Patienten durchsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Grünen und der Linken bei Enthaltung der SPDFraktion.
({59})
- Ich glaube nicht, dass das falsch aufgenommen worden
ist, das war richtig.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf:
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Energiewende sozial gestalten - Stromsperren
gesetzlich untersagen
- Drucksache 17/11655 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({60})Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({61})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Federführung strittig
ZP 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Strompreiserhöhung aussetzen - Faire Strom-
preise für alle
- Drucksache 17/11656 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({62})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({63}), Rolf
Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Für ein konzeptionelles Vorgehen der Bundesregierung bei der Energiewende - Masterplan Energiewende
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kosten und Nutzen der Energiewende fair
verteilen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bezahlbare Energie sichern durch Einsparung, Erneuerbare und mehr Verbraucherrechte
- Drucksachen 17/9729, 17/11004, 17/11030,
17/11719 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Caren Lay von der Fraktion
Die Linke.
({64})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Stellen Sie sich das einmal vor: Sie kommen
heute Abend nach Hause, das Licht geht nicht an, und
Sie können sich weder einen Tee noch eine warme
Suppe kochen. Sie können weder fernsehen noch lesen,
und Sie waschen sich und Ihre Kinder mit kaltem Wasser. Die Wäsche waschen Sie mit der Hand. Das Telefon
funktioniert nicht, und an das Smartphone ist erst recht
nicht zu denken. Auch das Backen für Weihnachten
muss in diesem Jahr leider ausfallen. Das ist kein Film
über das Leben im 19. Jahrhundert, das ist für über
300 000 Haushalte in Deutschland leider bittere Realität;
denn diesen Haushalten wurde im letzten Jahr der Strom
gesperrt. Ich finde das einfach unmenschlich.
({0})
Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass in
Belgien und in Frankreich Stromsperren zumindest im
Winter verboten sind. Wir als Linke finden, dass diese
massenhaften Stromsperren auch in Deutschland endlich
ein Ende haben müssen.
({1})
Die Presse berichtet über bereits acht Tote, die infolge
von Stromsperren ums Leben gekommen sind. Die Bundesregierung sieht tatenlos zu. Sie weigert sich sogar,
eine EU-Richtlinie umzusetzen, durch die zumindest
schutzbedürftige Kunden vor Stromsperren bewahrt
werden sollen. Ich finde, das ist einfach unmöglich. In
keinem anderen Bereich befinden sich die Anbieter in
solch einer starken Stellung wie die Stromanbieter. Nach
nur einer einzigen Mahnung und einer Ankündigung
kann der Strom gesperrt werden, und das ohne Gerichtsbeschluss. Wir finden: So geht es einfach nicht.
({2})
Deswegen wollen wir, dass Hilfe für die Betroffenen im
Mittelpunkt steht. Deswegen wollen wir die Sozialbehörden zwischenschalten.
Ich komme zu einem anderen Thema, das jeden und
jede von uns betrifft. Wir alle haben in den letzten
Wochen einen Brief von unserem Stromanbieter bekommen. Wieder einmal werden die Strompreise erhöht. Im
Schnitt werden sie um 12 Prozent erhöht, in einigen Fällen sogar um 32 Prozent. Das ist nur der traurige Höhepunkt; denn die Strompreise sind in den letzten Jahren
explodiert. Seit dem Jahr 2000 haben sie sich verdoppelt.
Die Ausgaben für Strom, Heizung und Benzin belasten
das Haushaltsbudget, insbesondere von Haushalten mit
geringen Einkommen.
Darunter leiden vor allen Dingen die Langzeitarbeitslosen. Im Hartz-IV-Regelsatz wurden gerade einmal
30 Euro für Energiekosten angesetzt. Der Durchschnittsverbrauch liegt deutlich höher. Das heißt, allein die
Strompreiserhöhung frisst die Erhöhung um lächerliche
8 Euro bei Hartz IV im nächsten Jahr wieder auf.
Während die einen im Dunkeln sitzen, gibt es woanders Grund für eine Festbeleuchtung. Allein drei der vier
großen Energiekonzerne, Eon, RWE und EnBW, haben
in sieben Jahren über 100 Milliarden Euro Gewinne eingefahren. In dieser Situation ist es ausgerechnet Bundesumweltminister Altmaier, der die Schuld für die Strompreiserhöhung allein auf die erneuerbaren Energien
schiebt. Er schweigt zu den massenhaften Gewinnen der
Konzerne. Auch hier sagen wir als Linke: So geht es einfach nicht.
({3})
Schnelle Hilfe ist nötig, und sie ist auch möglich. Wir
fordern, dass diese Strompreiserhöhungen ausgesetzt
werden, bis die Bundesregierung endlich ein vernünftiges Konzept auf den Tisch legt. Wir haben unsere
Vorschläge eingebracht. Stoppen Sie zum Beispiel die
Stromgeschenke an die Industrie. Diese betragen über
9 Milliarden Euro, für die die Verbraucherinnen und Verbraucher aufkommen müssen.
({4})
Senken Sie die Stromsteuer in dem Ausmaß, in dem
die EEG-Umlage steigt. Hier könnten die Verbraucherinnen und Verbraucher endlich einmal von Ihrer Politik
profitieren.
({5})
Haben Sie den Mut, endlich einmal eine effektive
staatliche Preisaufsicht einzuführen. Das wäre das beste
Mittel, um an diese leistungslosen Konzerngewinne heranzukommen.
({6})
Strom ist kein Luxusgut, Stromversorgung ist ein
Grundrecht. Niemand darf davon ausgeschlossen werden. Strom muss bezahlbar bleiben.
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Thomas Bareiß.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Kollegin Lay, Ihre Rede und Ihr Antrag
„Energiewende sozial gestalten - Stromsperren gesetzlich untersagen“ zeigen deutlich, dass Sie immer noch
nicht in der Marktwirtschaft angekommen sind.
({0})
Ihr Feldzug gegen die soziale Marktwirtschaft ist fast
schon unerträglich. Deshalb sage ich zu Beginn meiner
Rede: Wenn jemand in unserem Land eine Leistung in
Anspruch nimmt, muss er für diese Leistung auch zahlen. Wenn er das nicht tut, dann wird ihm der Anspruch
auf diese Leistung versagt.
({1})
Außerdem verhält er sich gegenüber all denjenigen, die
für diese Leistung bezahlen, unsozial und unsolidarisch.
({2})
Ein solches Verhalten entspricht nicht unserem Bild von
einer sozialen Marktwirtschaft, und es entspricht auch
nicht unserem Bild von richtiger und sozialer Energiepolitik.
Wir wollen keinen Freifahrtschein erteilen, sondern
wir wollen einen Sozialstaat, der denjenigen, der sozial
schwach ist, in die Lage versetzt, seine Stromrechnung
zu bezahlen. Deshalb haben wir einen ausgedehnten
Sozialstaat.
({3})
Deshalb werden in Deutschland beispielsweise die
höchsten Sozialleistungen in ganz Europa gezahlt; sie
machen über 55 Prozent des Bundeshaushalts aus. Da
Sie immer davon reden, dass die Besserverdienenden
keinen Beitrag leisten, sage ich Ihnen: Die 10 Prozent
der Steuerzahler mit dem höchsten Einkommen tragen
über 55 Prozent zum gesamten Einkommensteueraufkommen bei.
({4})
Wer trotzdem behauptet, dass die Besserverdienenden in
unserem Staat nichts für die Leistungsschwachen tun,
der ist auf dem Holzweg.
({5})
Wir wollen den mündigen und freien Bürger.
({6})
Deshalb steht die Energiepolitik bei uns im Zentrum.
({7})
Wir wollen die Bürger beispielsweise dazu bringen,
Strom zu sparen und sich effizienter zu verhalten, und
wir wollen, dass dies belohnt wird. Deshalb kann ich nur
begrüßen, dass Bundesumweltminister Peter Altmaier
die Stromsparinitiative auf den Weg gebracht und durch
ganz konkrete Maßnahmen verstärkt hat. Die Mittel werden um weitere 30 Millionen Euro für die nächsten zehn
Jahre erhöht, sodass jeder Haushalt in die Lage versetzt
wird, sich zu überlegen, wo er Strom einsparen, sich effizienter verhalten und damit Geld sparen kann.
({8})
Dadurch haben wir auch etwas für die Sozialpolitik
getan. Durch die Teilnahme am Stromspar-Check kann
jeder Haushalt mit geringfügigem Einkommen Strom
und somit Geld sparen. An 80 Standorten wurden rund
200 Langzeitarbeitslose zu Energieberatern ausgebildet.
Pro Haushalt investieren wir auf diesem Wege 65 Euro,
sparen aber jedes Jahr pro Haushalt 86 Euro ein. Das ist
ein Modell, das einerseits Langzeitarbeitslosen dabei
hilft, sich zum Energiesparer ausbilden zu lassen, das andererseits aber auch Geringverdienern hilft, Strom und
somit Geld zu sparen. Das ist ein Modell, das, wie ich
glaube, Schule machen und in den nächsten Jahren sogar
ausgebaut wird; die Mittel sollen verdoppelt werden.
Das ist sinnvoll und richtig. Ich glaube, die Energiepolitik ist der richtige Ansatzpunkt, um auch die Sozialpolitik ein Stück weit mitzugestalten.
({9})
Eine weitere Maßnahme, mit der wir versuchen, dem
mündigen Bürger dabei zu helfen, Strom und Energie zu
sparen, ist das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das
wir weiter voranbringen werden. Der Eigentümer wird
für seine Anstrengungen Stück für Stück belohnt. Beim
CO2-Gebäudesanierungsprogramm haben wir schon viel
erreicht.
({10})
In einem nächsten Schritt gehen wir die Mietrechtsnovelle an. Wir fordern Sie von Rot-Grün auf, in den
Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, dafür zu
sorgen, dass die Möglichkeiten der steuerlichen Abschreibung in den nächsten vier Wochen endlich auf den
Weg gebracht werden,
({11})
damit die Investitionsblockade aufgelöst wird, sodass
wir beim Thema Energieeffizienz eine Politik aus einem
Guss machen und unsere Ziele erreichen können.
Eine weitere Maßnahme, mit der wir etwas für die
Verbraucher tun, ist die EEG-Umlage. In den letzten
Jahren haben wir - im Gegensatz zu Ihnen - den Kostentreiber Nummer eins angepackt. Wir haben dafür
gesorgt, dass die Kosten der Photovoltaik bzw. der Solarenergie, die in den letzten Jahren massiv gestiegen
sind, Stück für Stück reduziert werden.
({12})
Herr Kollege Bareiß, die Kollegin Binder von den
Linken würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, danke.
Keine Zwischenfrage.
Die grünen Umweltminister haben es in sieben Jahren
Rot-Grün nicht geschafft, die Kosten der Photovoltaik
zu senken.
({0})
Die Einspeisevergütung haben Sie nur um knapp 10 Prozent reduziert. Wir haben es geschafft, sie in drei Jahren
um über 50 Prozent zu reduzieren. So haben wir dafür
gesorgt, dass der Anteil der Solarenergie auf ein gesundes Maß zurückgeführt wurde. Für die Förderung, die
Sie damals aufgebaut haben, muss ein durchschnittlicher
Vier-Personen-Haushalt noch heute 100 Euro im Jahr
bezahlen. Das war der falsche Weg. Deshalb haben wir
dieses Thema angepackt.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum
Schluss möchte ich sagen: Markt und Wettbewerb lohnen sich. Jeder Stromkunde sollte sich seine Stromrechnung anschauen und die Möglichkeiten des Wettbewerbs
und des Marktes nutzen.
Ich kann nur jeden darauf aufmerksam machen: Die
Linken haben geschrieben, dass der Regelsatz für Strom
bei einem Verbrauch von 1 500 Kilowattstunden bei
30,42 Euro monatlich liegt. Wenn Sie den billigsten Anbieter in Berlin nehmen, liegen Sie bei 27 Euro monatlich. Auch hier zeigt sich: Wenn man vergleicht, wenn
man den Wettbewerb auf dem Markt nutzt, dann steht
man auf der richtigen Seite und kann Geld sparen. Das
ist der richtige Weg.
Herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({2})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dirk
Becker das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Lay, in der Tat ist es ein ernstes Thema. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede sehr plastisch dargestellt, wie
im Land die Realität für Familien aussieht. Umso bedauerlicher ist allerdings, dass Ihr Antrag Ihr Anliegen letztlich auf eine einzige, sehr populistische Forderung verkürzt, nämlich darauf, dass wir, der Deutsche Bundestag,
doch beschließen mögen, Strompreiserhöhungen auszusetzen. Das ist eine sehr einfache, eine sehr verkürzte
Antwort. Es ist der falsche Weg, den Menschen zu sagen, es liege an uns. Wir müssen den Menschen doch
deutlich machen, was zum Beispiel diese Regierung gemacht hat, damit die Strompreise steigen und nicht sinken. Das deutlich zu machen, sollte unsere Aufgabe sein.
({0})
Herr Bareiß, bei all dem, was Sie sich schönrechnen
und schönreden - ich kann diese PV-Geschichte nicht
mehr hören -:
({1})
Es gibt eine Reihe von politischen Entscheidungen dieser Regierung. Ich brauche nicht einmal die Vergangenheit zu bemühen. Was Sie hier heute Morgen beschlossen haben, ist Röslers Preissteigerungsgeschenk an die
Wählerinnen und Wähler. Das ist Ihre Verantwortung.
({2})
Frau Lay, ich finde es schade, dass Sie den Eindruck
erwecken, es liege an uns. Sie haben in Ihren Ausführungen durchaus richtige Ansätze signalisiert.
Ich möchte eines in Richtung der Grünen sagen. Ich
finde die Passage in Ihrem Antrag, wie man mit dem
Thema Stromsperren umgehen muss, sehr gut. Wir unterstützen Ihren Antrag an dieser Stelle; denn er geht ins
Detail, er greift die Probleme auf und setzt auf die richtigen Lösungsansätze.
({3})
Aber, Kolleginnen und Kollegen, Strom bezahlbar zu
machen, heißt auch, erst einmal den Verbrauch in den
Griff zu bekommen. Ich kann die Sonntagsreden zu
Energieeffizienz nicht mehr hören. Hier werden uns ein
paar Miniprogramme schmackhaft gemacht, aber es
wird völlig verdrängt, dass es diese Regierung und dieses Wirtschaftsministerium waren, die alles unternommen haben, damit wir beim Thema Energieeffizienz
nicht vorankommen. Deutschland ist Bremser Nummer
eins in Europa.
({4})
Gerade das Thema Energieeffizienz - das weiß auch
so ein ausgewiesener Wirtschaftsexperte wie Herr
Nüßlein - käme nicht nur den Privathaushalten zugute,
sondern auch der Wirtschaft. Darum kritisiert die WirtDirk Becker
schaft Sie für Ihre Politik im Bereich der Energieeffizienz.
({5})
- Dazu komme ich gleich. Das ist das Einzige, was Sie
haben.
({6})
Wichtig für uns ist, dass wir das Thema Energieeffizienz als Win-win-Situation zwischen den Verbrauchern
und der Wirtschaft begreifen. Die Wirtschaft fordert Sie
auf, mehr für die Energieeffizienz zu tun und
({7})
ambitioniertere Ziele vorzusehen. Sie sagt: Wir sind
stark genug, wir haben die Technologie, ihr müsst uns
nur den Rahmen geben. - An der Stelle haben Sie total
versagt.
({8})
Durch die Politik von Herrn Rösler zieht sich ein roter
Faden, angefangen beim Armutsgericht bis hin zur Energieeffizienz. Was aus seinem Haus kommt, ist einfach
regierungspolitischer Murks. Damit kommt dieser
Minister die Leute einfach teuer.
Ich sage Ihnen nur ein paar Punkte. Wir versuchen
seit längerem, Sie zu bewegen, etwas zu tun. Gebt den
Leuten nicht nur eine Energieberatung, sondern über Mikrokredite und Zuschüsse auch das Geld, um in Energieeffizienz investieren zu können, habt aber auch den Mut,
die Befreiung der Unternehmen von gewissen Umlagen
an die Einführung von Energiemanagementsystemen zu
koppeln. Das alles sind Maßnahmen, die wir schon
längst hätten haben können,
({9})
die unbestritten wirksam wären. Sie bremsen und blockieren.
({10})
Meine Damen und Herren, wir haben beim Thema
Energieeffizienz keine allzu gute Bilanz. Daher kommen
wir jetzt zum Strombereich.
({11})
Herr Bareiß hat ja versucht, deutlich zu machen, was
diese Regierung alles getan habe, um den Strompreis
oder die EEG-Umlage in den Griff zu bekommen. Doch
man kann das durchrechnen, Kolleginnen und Kollegen,
man kann sich anschauen: Wie kommen diese 5,2 Cent
EEG-Umlage zustande? Warum ist denn die EEG-Umlage für das laufende Jahr eigentlich geschönt worden?
Warum sind 2 Milliarden Euro nachzuholen? Warum hat
es eine Ausweitung der Befreiungstatbestände gegeben?
Das hat weder etwas mit internationalem Wettbewerb
noch mit Arbeitsplätzen zu tun,
({12})
sondern war - das sage ich Ihnen - nur darauf angelegt,
die Basis derjenigen, die die EEG-Umlage zahlen müssen, zu verkleinern. Sie wollen, dass die Leute von der
Energiewende angesichts steigender Preise irgendwann
die Nase voll haben. Das steckt doch bei Ihnen dahinter.
({13})
Auch aus Gründen der Energieeffizienz ist es einfach
widersinnig, beispielsweise die Obergrenze für die Befreiung von der EEG-Umlage von 10 Gigawatt auf 1 Gigawatt abzusenken. Die Befreiung von der EEG-Umlage
hat zur Folge, dass Unternehmen heute mehr Strom verbrauchen, weil das für sie günstiger ist, als in Energieeffizienz zu investieren. Ihre Politik wirft uns um vier
Jahre zurück; das ist einfach so.
({14})
- Vorsätzlich die Kosten hochtreiben? Wir müssen jetzt
nicht erneut über die Haftungsfrage bei Offshorewindparks und andere Dinge reden. Sie verlagern die Kosten
auf die Kleinen
({15})
und halten hier Sonntagsreden, was Sie für die Menschen tun. Das glaubt Ihnen doch keiner nach dem heutigen Tag. Lesen Sie doch die Schlagzeilen der Zeitungen
über das, was heute Morgen hier beschlossen wurde! Lesen werden Sie noch können.
({16})
Jetzt zum Thema Gebäudesanierung.
({17})
- Die FDP sagt: Endlich kommt er zum Thema Gebäudesanierung. - Dabei haben Sie bis heute verhindert,
dass im Wärmegesetz überhaupt etwas dazu vorliegt.
({18})
Sie bremsen beim Wärmegesetz von vorne bis hinten.
({19})
Jetzt zum Thema Bundesrat. Die Bundesregierung sagt:
Wir geben weniger Geld aus für die Gebäudesanierung,
die Hälfte sollen künftig die Länder bezahlen; wir machen das über Abschreibungen, über Steuermodelle. Und dann wundern Sie sich, wenn die Länder sagen:
Stopp! Halt an der Bahnsteigkante! Könnt ihr vielleicht
vorher mit uns darüber reden?
({20})
Jetzt frage ich Sie, welches Land, das von CDU bzw.
CSU und FDP regiert wird, hat denn an der Stelle gesagt: „Das ist das böse Spiel der Sozis; die Roten blockieren“? Warum waren denn Ihre Ministerpräsidenten
dabei, als gesagt wurde: „Stopp! So geht es nicht“?
({21})
Das ist keine Frage der Farbenlehre, das hängt mit der
Art und Weise zusammen, wie Sie an das Thema herangegangen sind.
({22})
Das können die Länder insgesamt nicht mittragen. Es
passt hier nicht in dieses Wahlkampfgetöse, das sei eine
typische Aktion sozialdemokratisch regierter Länder.
({23})
Ich will zum Thema Gebäudesanierung eines ganz
klar sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in
Zukunft auch das Instrument der steuerlichen Abschreibung prüfen müssen.
({24})
Ich bin dabei, wenn gesagt wird, dass wir einen Instrumentenmix brauchen werden. Aber dieser Instrumentenmix heißt auch, dass die anderen Instrumente, für die Sie
als Bundesregierung Verantwortung haben, ernst genommen werden.
Wie ist es denn mit dem Wärmegesetz? Sie haben den
Erfahrungsbericht bis heute nicht vorgelegt. Sie blockieren die Fortentwicklung des Wärmegesetzes, weil Herr
Rösler, Herr Altmaier und Herr Ramsauer sich nicht einig werden. Das heißt, im Bereich der Fortentwicklung
des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes ist null passiert. Sie blockieren an dieser Stelle. Auch hier steht die
deutsche Wirtschaft, stehen die Unternehmen der Heizungstechnologien Gewehr bei Fuß und sagen: Wann
kommt ihr endlich mit diesem Gesetz? Wir haben riesige
Potenziale. - Mit modernen, ökologischen Wärmesystemen können wir die Menschen von steigenden Kosten
für fossile Brennstoffe unabhängig machen.
({25})
An dieser Stelle bremsen Sie die Menschen aus. Damit
tragen Sie Verantwortung dafür, dass die Menschen ihre
Heizkosten nicht in den Griff bekommen können.
Ich danke der Fraktion der Linken, dass wir über das
Thema debattieren können. Ihrem Antrag können wir,
wie ich schon sagte, leider nicht folgen. Ich werbe aber
für die Unterstützung des Antrags der SPD.
Mein dringender Appell an diese Regierung: Nehmen
Sie dieses Thema ernster, als Sie es hier eben getan haben!
({26})
Ein bisschen Larifari - ein Salatblatt hier, ein Salatblatt
da - reicht nicht, um den Menschen deutlich zu machen:
Wir nehmen euch mit euren Problemen bei den Energiekosten ernst.
Vielen Dank.
({27})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Professor Dr. Erik Schweickert.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Keiner wird abstreiten, dass
steigende Strompreise ein Problem sind. Natürlich wären niedrigere Strompreise besser. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, die wahren
Strompreistreiber sitzen in Ihren Reihen;
({0})
denn die hohen Strompreise sind das Resultat einer verfehlten Energiepolitik von Rot und Grün. Die EEG-Umlage ist Ihr Werk. Die Verbraucher müssen heute die Zeche dafür bezahlen.
({1})
Deshalb bin ich der Meinung: Das EEG ist nicht zukunftsfähig. Wir müssen weg von der Überförderung der
erneuerbaren Energien; denn die Energiewende darf
nicht auf dem Rücken der Verbraucherinnen und Verbraucher ausgetragen werden.
({2})
Frau Lay, die Antwort auf die Überförderung der erneuerbaren Energien kann aber nicht sein, auf der anderen Seite Sozialtarife für sozial schwache Verbraucher zu
subventionieren
({3})
oder gar Stromsperren zu unterbinden; denn es kann
nicht sein, dass derjenige, der noch ordentlich bezahlt,
am Ende der Dumme ist. Es kann nicht sein, dass man
sich ohne Konsequenzen einen schlanken Fuß machen
kann. Das trifft die Mitte unserer Gesellschaft, jene Leistungsträger, die jeden Tag ordentlich arbeiten, ordentlich
zahlen und das Land voranbringen.
Die Verbraucherzentrale NRW hat als Alternative zur
Stromsperre einen Prepaid-Zähler ins Gespräch gebracht. Ich finde, diese Idee ist sehr überlegenswert;
denn dies würde nicht nur einen Betrag zur Kosten- und
Verbrauchstransparenz leisten, sondern es könnten auch
die Kosten für die Sperrung und die Wiederanmeldung
vermieden werden, die nicht selten deutlich höher sind
als die Stromschuld an sich.
Von diesem besonderen Problem einmal abgesehen:
Wir wollen das System reformieren, um aus dieser Energieplanwirtschaft endlich eine effiziente und verbraucherfreundliche Energiemarktwirtschaft zu machen.
({4})
Für den weiteren Zubau an erneuerbaren Energien
muss dann klargestellt werden, dass sie sich am Markt
beweisen müssen und dass sie den Strompreis langfristig
über staatliche Dauersubventionen nicht künstlich verteuern dürfen.
({5})
Unsere Vorschläge stehen bereit. Kurzfristig schlägt
Ihnen die FDP vor, die Stromsteuer in Höhe der auf die
EEG-Umlage entfallenden Mehrwertsteuereinnahmen
aufkommensneutral abzusenken. Das schafft dann eine
schnelle Entlastung für die Verbraucher.
({6})
Wir Liberale gehen aber noch weiter. Wir haben im
Gegensatz zu denen, die lauthals rufen, ein Alternativkonzept vorgelegt. Wir schlagen Ihnen die Umstellung
auf ein Mengenmodell vor; denn wir wollen, dass Energieerzeuger, Stromhändler und Endkunden verpflichtet
werden, einen festgelegten Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energien zu erzeugen bzw. zu beziehen.
Herr Kollege Schweickert, Frau Kollegin Lay würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege. Sie haben ja von der
Energiemarktwirtschaft gesprochen. Ich möchte gerne
von Ihnen wissen, wie es sich mit der Energiemarktwirtschaft verträgt, dass die vier großen Energiekonzerne
noch immer über 80 Prozent des Marktes monopolisieren. Wie verträgt es sich mit der Marktwirtschaft, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher für die massenhaften Industrierabatte zugunsten der energieintensiven
Industrie aufkommen müssen? Wie verträgt es sich mit
der Energiemarktwirtschaft, dass jetzt die Unternehmen
von der Haftung - wir haben das heute Morgen im Zusammenhang mit den Offshoreanlagen beschlossen - befreit werden und die Kosten ebenfalls den Verbraucherinnen und Verbrauchern aufgebürdet werden? Wie
verträgt sich all das mit Ihren Vorstellungen von einer
Marktwirtschaft?
({0})
Frau Kollegin Lay, nach Fukushima haben wir in diesem Haus mit einer sehr breiten Mehrheit die Energiewende beschlossen. Das war gesellschaftlicher Konsens.
({0})
Diese Energiewende kann nur dann vorankommen,
wenn wir auch dafür sorgen, dass zum Beispiel Strom
aus Windkraft aus dem Offshorebereich, der grundlastfähiger ist als Strom aus dem Onshorebereich, in das Netz
kommt. Wir sehen, dass hier Risiken vorliegen. Wenn
wir wollen, dass dieser Umstieg gelingt, dann müssen
wir da herangehen.
Sie haben gefragt - das war Ihre zweite Frage -, wie
sich das Ganze mit den Ausnahmen verhält. Darauf sage
ich Ihnen ganz offen: Auch mir sind die Ausnahmen, die
es gibt, zu viele. Deswegen überprüft ja gerade die Bundesnetzagentur, inwieweit man hier die Kriterien neu berechnen kann. Aber es waren doch nicht wir, die diese
Ausnahmen in das EEG geschrieben haben. Der TrittinSoli und die Ausnahmen vom Trittin-Soli wurden zu rotgrünen Zeiten beschlossen.
({1})
Ich sage Ihnen: Wir müssen dafür sorgen, dass die
Kunden kein unnötiges Geld ausgeben; denn wir haben
den Zustand, dass durch die Anlagen im Bereich der erneuerbaren Energien zwar Strom erzeugt wird, dieser
aber nie in das Netz eingespeist wird und nie bei den
Kunden ankommt. Das, liebe Frau Lay, wird der Punkt
sein, an dem wir ansetzen; denn dieser untragbare Zustand muss beendet werden. Dann fallen die Probleme
weg, die wir hier oft genug beklagen und für die wir als
christlich-liberale Regierung die Lösungen haben.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich
2005 in den Bundestag gekommen bin, habe ich gesagt:
Ich nehme mir die Energiepreise vor und gucke mir sehr
genau an, wie sich die Gewinne der großen Energiekonzerne entwickeln. Die Gewinne der großen Energiekonzerne, Herr Schweickert, sind in der Tat explodiert. 2002
erzielten die vier großen Energiekonzerne einen Gewinn
von insgesamt 6 Milliarden Euro, 2010 waren es 30 Milliarden Euro. Das ist die Situation, das ist der Grund, warum die Preise gestiegen sind - nicht mehr und nicht weniger.
({0})
Ich finde, wir mussten diesen Anstieg beenden, und es
ist gut, dass wir ihn beendet haben - gerade auch durch
den Ausstieg aus der Atomkraft.
Herr Schweickert, Sie haben sich hier hingestellt und
gesagt, das EEG sei durch uns so aufgebläht worden,
dass der Strom so teuer geworden sei. Gucken Sie doch
einmal hin! 2005, als die rot-grüne Regierung beendet
worden ist, lag die EEG-Umlage bei unter 1 Cent pro
Kilowattstunde.
({1})
Heute, unter Ihrer Regierung, liegt sie bei über 5 Cent
pro Kilowattstunde. Hören Sie also auf, uns für die überzogenen Kosten Ihres Wirtschaftsministers Rösler verantwortlich zu machen! Dafür sind Sie allemal selbst
verantwortlich.
({2})
Deswegen will ich auch sehr wohl etwas zu den Ausnahmen sagen.
Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schweickert?
({0})
Ja, gerne.
Frau Kollegin Höhn, vielen Dank. - Ich habe eine
Frage an Sie. Sie bekommen für Ihre Wohnung hier in
Berlin doch sicherlich auch eine Rechnung von Vattenfall; das ist ja hier ein großer Anbieter.
Nein, anders als Sie bin ich nicht bei Vattenfall.
Okay. - Wenn Sie sie bekämen, könnten Sie anhand
einer Auflistung erkennen, wie sich die Stromkosten
aufteilen.
Deswegen lautet meine Frage an Sie: Ist es richtig,
dass die Ausnahmen, die Sie hier jetzt anprangern, einen
marginalen Anteil von 0,x Prozent an den Stromkosten
ausmachen, während im Gegensatz dazu die EEG-Umlage einer der Hauptpreistreiber ist? Stimmen Sie mir
hier zu, oder stimmen Sie mir nicht zu?
Nein, da stimme ich Ihnen keineswegs zu. Als RotGrün im Jahre 2005 die Ausnahmen eingeführt hat, gab
es für 250 Unternehmen Ausnahmen. Diese Zahl ist aufgebläht worden. Für nächstes Jahr haben über 2 000 Unternehmen eine Ausnahme beantragt.
({0})
Die Zahl wird von 250 auf 2 000 steigen. Das ist der
Politik Ihres Wirtschaftsministers Rösler geschuldet nicht mehr und nicht weniger.
({1})
Für 50 Prozent des Wirtschaftsstroms wird mittlerweile keine EEG-Umlage mehr gezahlt, da die entsprechenden Unternehmen davon ausgenommen sind. Deshalb ist das nicht mehr die Ausnahme, sondern die
Regel. Sie belasten die kleinen, mittelständischen Unternehmen, die Handwerker.
({2})
Das ist die Politik der FDP - nicht mehr und nicht weniger.
({3})
- Es geht nicht um Beantragung und sonst etwas, sondern schon jetzt sind es 800 Ausnahmen, und im nächsten Jahr werden es mindestens 1 800 bis 2 000 sein.
Deshalb sage ich zu den Durchleitungsgebühren für
die Nutzung der Netze: Auch das, was Herr Rösler in
diesem Punkt macht, ist eine absolute Unverschämtheit.
In diesem Jahr gibt es für 1 400 Unternehmen eine Ausnahme, für das nächste Jahr haben weitere 1 600 Unternehmen eine Ausnahme beantragt. Ich sage: Hier erleben wir eine Klientel- und Lobbypolitik zulasten der
Verbraucher.
({4})
Kollegin Höhn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, in diesem Fall von der Kollegin Homburger?
Aber bitte, gerne, Frau Homburger.
({0})
Frau Kollegin Höhn, meine erste Frage: Stimmen Sie
mir zu, dass es einen Unterschied zwischen einer Genehmigung und einer Beantragung gibt?
Meine zweite Frage: Sind Sie sich sicher, dass es derzeit 800 Unternehmen sind? Ist es nicht vielmehr richtiger, dass es exakt 735 Unternehmen sind?
Meine dritte Frage, Frau Kollegin Höhn: Trifft es zu,
dass diese 735 Unternehmen, für die derzeit eine entsprechende Ausnahme gilt, ausschließlich auf der
Grundlage eines Rechts ausgenommen sind, das Sie beschlossen haben?
({0})
Nein, Frau Homburger, da stimme ich Ihnen nicht zu;
denn das, was wir damals beschlossen haben, war etwas
wesentlich anderes. Wir haben damals wirklich nur die
energieintensiven Betriebe ausgenommen, indem wir einen Verbrauch von mindestens 10 Gigawattstunden und
einen Anteil der Stromkosten an der Bruttowertschöpfung von mehr als 20 Prozent gefordert haben. Sie haben
die Grenze von 10 Gigawattstunden dagegen auf 1 Gigawattstunde gesenkt und nur einen Anteil der Stromkosten von über 14 Prozent verlangt. Das führt genau dazu,
was Herr Becker angesprochen hat. Wenn Unternehmen
merken, dass sie knapp unter der 14-Prozent-Schwelle
liegen, dann lassen sie die Motoren über Weihnachten
wirklich wie verrückt laufen, um über diese 14 Prozent
zu kommen. Dann können sie für beispielsweise 3,5 Gigawatt, die sie verbrauchen, die Ausnahmen beantragen.
Das ist die Situation. Das ist der Punkt: Es geht nicht um
Energieeinsparung, sondern darum, Energie zu verschwenden, um in den Genuss der Ausnahmeregelung
zu kommen. Dafür sind Sie verantwortlich.
({0})
Was wir nicht machen können, ist, dass wir bei jeder
Strompreiserhöhung hingehen und sagen: Wir werden
helfen, indem wir die Erhöhung durch Subventionen gegenfinanzieren. - Der Antrag der Linken scheint auf den
ersten Blick den Betroffenen zu helfen. Das wird aber
nicht funktionieren. Es wird sogar zu einem Effekt führen, der dem entgegengesetzt ist, den sie erzielen wollen.
In der Summe wird das dazu führen, dass die großen
Energieversorger genau das, was durch Subventionen
gegenfinanziert wird, in die eigene Kasse wirtschaften,
sich bei den Verbrauchern aber kein positiver Effekt einstellt.
({1})
Wir haben in mehreren Studien - ich freue mich, dass
Sie unsere Studien so gut lesen; Sie haben ja die entsprechenden Zahlen präsentiert - nachgewiesen, dass die
großen Energiekonzerne Ersparnisse aus Kostensenkungen gerne für sich behalten, aber Kostenerhöhungen immer gern an die Verbraucher weitergeben. Deshalb wird
eine solche Subventionierung nicht funktionieren. Sie
wird am Ende den Staat sogar überfordern;
({2})
denn nach der ersten Subventionierung wird sofort die
nächste Preiserhöhung kommen. Dagegen kommen Sie
nicht an. Die Lösung ist einfach: „Einsparen, einsparen,
einsparen“. Jede eingesparte Kilowattstunde ist besser
und billiger als eine verbrauchte Kilowattstunde.
({3})
Deshalb muss ich auch sagen, Herr Bareiß: Das, was
Sie hier von der Bundesregierung Richtung Einsparungen gemacht haben, ist unter aller Sau.
({4})
De facto haben Sie das ganze Thema Energieeffizienz
nicht angepackt. Wir müssen ja im Prinzip davon ausgehen, dass es bei den Leuten, die von den Energiekosten
verstärkt betroffen sind, nicht nur um die Kosten für
Strom geht, sondern auch um die Kosten für Kraftstoff
und auch um die Kosten für Wärme geht. Wenn man
sich all das einmal ansieht, dann kann man nur sagen:
Sie haben die Energieeffizienzrichtlinie nicht richtig umgesetzt. Herr Rösler hat sie verwässert. Das ist der
Punkt. Die Energieeffizienzrichtlinie ist nicht ehrgeizig
umgesetzt worden.
Ein anderes Thema ist die Besteuerung des CO2-Ausstoßes bei Autos. Sie sind diejenigen, die für die
Spritschlucker aus Deutschland kämpfen.
({5})
Und bei dem Energieeffizienzfonds, den Sie eingerichtet haben, werden die Mittel noch nicht einmal
vollständig abgerufen. 2011 standen Haushaltsmittel in
Höhe von 70 Millionen Euro zur Verfügung, davon sind
3 Millionen Euro abgerufen worden. 2012 standen Haushaltsmittel in Höhe von 35 Millionen Euro zur Verfügung, davon sind nur 3 Millionen Euro abgerufen worden. Warum wurde nicht mehr abgerufen? Weil die
Förderrichtlinie nicht verabschiedet worden ist. Sie wollen keine Energieeffizienz. Das ist doch der Punkt. Das
geht so nicht weiter.
({6})
Auch wir wollen in der Tat den Betroffenen helfen,
aber nicht mit Sozialtarifen, sondern wir wollen Spartarife. Wir wollen immer eine Einsparkomponente dabeihaben; denn wir werden nur dann das Problem lösen,
wenn wir wirklich sagen: Wir wollen einsparen. Wir
wollen weg vom Öl. Wir müssen uns von den teuren
Energiekosten abkoppeln. Das können wir nur dadurch,
dass wir wirklich Energie einsparen. Das muss der Weg
sein; denn nur er wird zum Erfolg führen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!
Liebe Frau Höhn, „unter aller Sau“ ist nun nicht die Formulierung, die ich hier an diesem Pult wählen würde.
({0})
Aber wenn ich sie wählen würde, würde ich sie auf diese
Haltet-den-Dieb-Debatte beziehen, die die Grünen hier
abziehen, auf diese Feigenblattdiskussion, die Sie hier
führen. Uns die Kostensteigerungen aus dem Bereich der
erneuerbaren Energien einfach so mir nichts, dir nichts
in die Schuhe schieben zu wollen,
({1})
das ist, wenn Sie so wollen, unter aller Sau.
({2})
Zunächst einmal komme ich zu dieser Mär, die im
Zusammenhang mit der EEG-Umlage verbreitet wird:
Es geht um 5,227 Cent. Von diesen 5,227 Cent geht
1 Cent auf die Befreiungen von der EEG-Umlage zurück. Von diesem 1 Cent geht 0,1 Cent zurück auf die
Befreiungstatbestände, die wir zum 1. Januar dieses Jahres neu beschlossen haben.
({3})
Die übrigen 0,9 Cent beziehen sich ausschließlich auf
die Rechtsgrundlage, die Sie seinerzeit unter Herrn
Trittin geschaffen haben.
({4})
So viel Anstand muss doch sein, dass man das zunächst
einmal zur Kenntnis nimmt und dass man dann sagt: Jawohl, das haben wir richtig gemacht. - Im Übrigen haben das Herr Trittin und andere mehrfach so gesagt.
Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höhn?
Herzlich gerne.
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben zu Recht eben die
richtige Zahl genannt. Die Kosten für die gesamten Ausnahmen im EEG betragen 4,4 Milliarden Euro. Das entspricht ungefähr 1 Cent. Geben Sie mir recht, dass die
Aufblähung um 4 Milliarden Euro auf jetzt 4,4 Milliarden Euro Wirtschaftsminister Glos, sein Nachfolger zu
Guttenberg, der Wirtschaftsminister Brüderle und sein
Nachfolger Rösler verursacht haben? Ist das richtig, ja
oder nein?
({0})
Wenn Sie formulieren, dass wir das nicht geändert haben, was Sie seinerzeit ins Gesetz geschrieben haben,
({0})
weil es richtig war, was Sie ins Gesetz geschrieben haben,
({1})
dann würde ich das an Ihrer Stelle nicht beklagen. Da
geht es nicht um die Frage, wer verantwortlich ist. Wir
sind dafür, diese Befreiungen zu machen. Dahinter stehen wir auch, mit Verlaub. Es ist doch richtig, die energieintensive Industrie in diesem Land zu befreien.
({2})
- Sie dürfen gern noch stehen bleiben, ich bin immer
noch bei der Beantwortung Ihrer Frage.
({3})
Es ist also richtig, die energieintensive Industrie von den
Kosten für die Umlage zu befreien. Wenn die Wirtschaftsminister das mittragen, ist es doppelt richtig. Das
ist Aufgabe eines Wirtschaftsministers, für entsprechende Befreiungen zu sorgen.
Sie geben auch zu, dass wir über diesen 1 Cent reden.
Sie tun aber so, als seien die 5,227 Cent Ausnahmetatbeständen geschuldet. Das ist eben falsch. Geschuldet sind
diese 5,227 Cent im Wesentlichen eben der Tatsache,
dass Sie mit der Photovoltaik zu früh und zu teuer an den
Markt gegangen sind.
({4})
Ich sage nicht, dass die Photovoltaik darin nichts verloren hätte, aber Sie haben es zu früh und mit 50 Cent zu
teuer gemacht. Davon wieder herunterzukommen, ist das
mühsame Unterfangen, dem wir uns die ganze Zeit stellen mussten. Wir mussten dafür sorgen, dass das ging gegen Widerstände, gegen Schwierigkeiten.
({5})
Wir standen auch vor der Problematik, dass - das sehen wir selbst - man nicht mittendrin einen Stopp machen kann, weil dann, wenn man alles infrage stellt, man
die Branche an die Wand fahren ließe. Aber wenn Sie es
nicht zu früh und zu teuer gemacht hätten, wäre die Welt
in dieser Hinsicht eine ganz andere, und wir würden
nicht über die - wenn Sie so wollen - 4,2 Cent reden.
({6})
Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Fell? Das hätte den Vorteil, dass
ich die Uhr wieder anhalten könnte, weil sich die Kollegin Höhn hingesetzt hatte und ich die Uhr weiterlaufen
lassen musste.
Herzlich gern, aber ich wundere mich, dass sich die
Kollegin während der Beantwortung ihrer Frage einfach
hinsetzt und sagt: Aus meiner Sicht ist die Frage jetzt beantwortet. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
({0})
Lassen Sie mich den einen Gedanken noch formulieren, dann darf der Kollege Fell die Frage stellen.
Sie haben eine Befreiung für die energieintensive Industrie bei Differenzkosten von 0,2 Cent eingeführt.
Heute sind wir beim 26-fachen dessen. Und Sie lamentieren, dass wir zusätzlich noch einen kleinen, energieintensiven Teil des Mittelstands in die Ausnahmeregelung
aufgenommen haben.
Kollege Fell, jetzt freue ich mich auf Ihre Frage.
Dann hat jetzt der Kollege Fell das Wort.
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben gerade behauptet,
dass die Struktur des EEG, das damals unter Rot-Grün
gesetzt und verabschiedet wurde und das bis heute weitergilt, die derzeitigen Preissteigerungen verursachen
würde.
Ist Ihnen bekannt, dass es, seitdem Rot-Grün nicht
mehr an der Regierung ist, mehrfach Gesetzesnovellen
gab? Unter anderem wurde beispielsweise der Umlagemechanismus 2009 verändert, was dazu geführt hat, dass
der Ökostrom an der Börse aufläuft und damit die Merit
Order sinkt. Indem also die Basis für die Berechnung der
EEG-Umlage um 0,9 Cent gesenkt wurde, kam es zu einem Aufschlag bei der EEG-Umlage um 0,9 Cent. Dies
ist nicht unter Rot-Grün gemacht worden.
Ist Ihnen bekannt, dass es eine Befreiung von Eigenstromerzeugungsanlagen gegeben hat, wodurch sogar
ganze Unternehmen Dreckschleudern wie Kohlekraftwerke ans Netz genommen haben? Auch solche Befreiungstatbestände haben zu einer deutlichen Erhöhung der
EEG-Umlage geführt.
Ist Ihnen bekannt, dass die Liquiditätsreserve auf ein
Maß erhöht wurde, das nicht notwendig ist, aber wodurch die EEG-Umlage nach oben getrieben wurde?
Es gibt eine große Menge zusätzlicher Folgen, die Sie
seit dem Ende von Rot-Grün in Ihren verschiedenen
EEG-Novellen verursacht haben. In einem Jahr ist die
EEG-Umlage nun um etwa 1,7 Cent gestiegen, wobei
der Zubau erneuerbarer Energien davon nur 0,5 Cent
ausmacht. Die restlichen 1,2 Cent gehen auf Ihre verfehlten Novellierungen der EEG-Umlage zurück und
sind damit eindeutig der Preistreiberei der schwarz-gelben Koalition geschuldet.
({0})
Herr Kollege Fell, ich hätte mich sehr gefreut, wenn
Sie den entscheidenden Punkt, den EEG-Berechnungsmechanismus, angesprochen hätten, ohne dabei unnötigerweise Schuldzuweisungen vorzunehmen.
({0})
Ich bin nämlich der Überzeugung, dass der EEGBerechnungsmechanismus überarbeitet werden muss,
({1})
weil mit dem zusätzlichen Aufkommen an erneuerbaren
Energien in der Tat der Druck auf die Börse wächst. Das
ist der Merit Order bzw. der Tatsache geschuldet, dass
wir bei Wind- und Solaranlagen keine variablen Kosten
haben. Der Druck auf die Börse, der dabei entsteht, führt
dann dazu, dass sich die Differenzkosten auch in
Zukunft auseinanderentwickeln, egal wie stark der
Druck ist, den wir auf die Vergütungssätze ausüben.
Deshalb muss in diesem Punkt in der Tat eine Überarbeitung stattfinden.
({2})
- Wenn Sie das wissen, ist das schön. Der entscheidende
Punkt ist aber: Wir müssen es letztendlich auch machen.
({3})
Das ist nicht einfach, weil sofort die Sorge entsteht, wir
wollten an der Stelle tricksen. Das wollen wir nicht, sondern wir wollen letzten Endes, wie es der Kollege Fell,
den ich als sehr honorig schätze, die richtigen Differenzkosten benennen. Das muss unser Anliegen sein. Es darf
nicht automatische Strompreiserhöhungen durch die
Versorger geben. Deshalb nehme ich diesen Ball gerne
auf, spiele ihn weiter und sage: Lassen Sie uns das
Thema weiter verfolgen. Mit mir kann man immer reden, meine Damen und Herren, wenn man das Thema
fair angeht.
Aber uns wie heute Morgen in der Offshoredebatte in
die Schuhe zu schieben, wir seien erkennbar die Kostentreiber,
({4})
ist - darin geben Sie mir doch sicherlich recht - Quatsch.
({5})
Wer hat denn, mit Verlaub, seinerzeit dafür gesorgt? Das
war doch Sigmar Gabriel. Ich war bei den Verhandlungen dabei. Er hat dafür gesorgt, dass wir die Verpflichtung zum Anschluss von den Projektanten weg zu den
Netzbetreibern verlagert haben. Die Netzbetreiber wurden zwangsweise beauflagt, das zu tun. Jetzt können wir
doch nicht einfach darauf verzichten, Risikoteilungsregelungen zu schaffen, und sie in Insolvenz gehen lassen.
Ich kann mir vorstellen, was Sie dann zu dem Thema
gesagt hätten. Ein Aufschrei wäre durch die Reihen gegangen: Da sieht man es mal wieder! Die wollen die
Energiewende nicht! - So einfach machen Sie es sich
nämlich üblicherweise.
Das ist alles komplett Nonsens. Sie wissen, dass es
technisch sehr aufwendig ist, wenn man Offshorewindkraftanlagen bis zu 150 Kilometer vor der Küste errichtet - das macht übrigens niemand außer uns so -, und
Geld kostet. Wenn man dafür ist, die Anlagen so weit
draußen zu errichten, dann kann man doch nicht so tun,
als könne man nichts für die Kosten. Das muss man auch
in aller Klarheit sagen.
({6})
Was die ganze Debatte um Einsparungen beim Strom
angeht, sollten Sie einen Blick in die Statistiken werfen,
die die Realität zeigen. Die Einsparungen beim Strom
sind minimal und vernachlässigbar.
({7})
Ich bin froh, dass es uns gelingt, Wirtschaftswachstum
und Anstieg beim Stromverbrauch zu entkoppeln. Das
ist schon eine grandiose Leistung.
In der Tat - das stimmt - liegt das große Potenzial der
Energieeffizienz bei der Wärme. Ich will es nicht ständig
wiederholen - Sie haben es schon oft genug gehört -,
aber weil Sie offenkundig nichts tun, sage ich Ihnen:
Wenn Sie etwas für die Energieeffizienz tun wollen,
dann sorgen Sie dafür, dass sich die Länder an der Stelle
bewegen und dass das steuerlich endlich vorankommt.
({8})
Noch ein paar Sätze zu dem, was ich von der Linken
gehört habe. Ich hatte schon lange gewartet, dass die
Ideen kommen, was man jetzt alles tun müsste, etwa
Sozialtarife einzuführen und anderes. Jetzt kommt der
Druck von unten, von der anderen Seite. Auch da führen
wir eine Verteilungsdiskussion. Ich kann an Ihren Ausführungen nicht erkennen, nach welchen Kriterien Sie
regeln wollen, dass die einen den Strom bezahlen und
die anderen nicht.
({9})
Vielleicht müssen diejenigen, die die Linke wählen,
nicht bezahlen. Ich weiß es nicht. Erklären Sie es mir!
Nach welchem Kriterium soll der eine Blödmann den
Strom bezahlen, während der andere sagen darf: Das
mag ich nicht; das kann ich nicht; das tue ich nicht. Das erschließt sich mir in keinster Weise.
({10})
- Ein Blödmann ist in dieser Geschichte der eine, der
zahlt, wenn der andere nicht zahlen muss. Das bezeichne
ich in meiner Sprache als Blödmann, und das ist er nur
nach Ihrem System. Ich bin der Meinung, dass diejenigen, die ordnungsgemäß zahlen, die Anständigen sind.
Denjenigen, die eine Mahnung mit entsprechender Androhung bekommen - so ist nämlich die Rechtslage und nach vier Wochen immer noch nicht zahlen, klemmt
man in Deutschland kurzfristig den Strom ab. Ich sage
ausdrücklich „kurzfristig“, weil das relativ schnell zurückgenommen wird.
Ich weiß nicht, warum Sie jetzt plötzlich Energieversorger zu Sozialhilfeträgern deklarieren wollen.
({11})
Das erschließt sich mir in keinster Weise. Nach unserem
Verständnis ist der Sozialhilfeträger für diejenigen zuständig, die nicht zahlen können. Das ist beim Arbeitslosengeld II bzw. bei der Sozialhilfe einkalkuliert und
wird mit überwiesen. Mit dem Geld kann man dann den
Strom bezahlen.
({12})
Die Energieversorger und andere sind dafür nicht verantwortlich.
Ich wünschte mir, dass wir zum Thema Zahlungsmoral eine andere Einstellung entwickeln.
({13})
Bei manchen Herrschaften in dieser Republik fehlt es da
gewaltig - das muss man einmal sagen -, weil man es
nicht sanktioniert. Die Versorger haben die Chance, dieses Verhalten zu sanktionieren, indem sie den Strom
kurzfristig abschalten. Dann wird bezahlt. Das zeigt die
Erfahrung. Das ist auch gut so, weil die anderen auch bezahlen müssen.
({14})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Klaus Breil
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition versucht, uns mit ihrem Antrag
weiszumachen, dass allein die Befreiung für Unternehmen Grund für die hohen Strompreise ist.
({0})
Auch Herr Kelber - leider ist er nicht mehr anwesend;
vorhin saß er hier noch - hat das diese Woche schon wieder per Twitter in die Welt posaunt. Diese Causa Kelber
möchte ich Ihnen einmal erklären.
Herr Kelber vermischt - wahrscheinlich weil er es
nicht besser weiß - zwei Sätze in Abs. 2 der besagten
Verordnung. Der eine, der zweite Satz, räumt tatsächlich
eine komplette Befreiung für solche Unternehmen von
Netzentgelten ein, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Sie müssen 7 000 Stunden pro Jahr Strom abnehmen
und das in einem Umfang von 10 Gigawattstunden. Damit erbringen diese Unternehmen eine Dienstleistung.
Sie stabilisieren das Netz durch eine bessere Vorhersehbarkeit. Durch das wiederholte Behaupten von Herrn
Kelber aber, dass der Golfplatz, von dem er immer
spricht, vollständig von den Netzentgelten befreit wäre,
glaubt heute jeder, ein Golfplatz verbrauchte so viel
Strom wie eine Aluminiumhütte.
({1})
Glauben sie mir: Das ist nicht so.
({2})
Das, was Herr Kelber meinte, wovon sein Golfplatz
Nutzen hatte, ist der erste Satz von Abs. 2 der Verordnung. Danach können die Unternehmen, die durch Lastmanagement bei ihrer Höchstlast Hochlastzeiten des
Netzes vermeiden, individuelle Netzentgelte mit ihren
Verteilnetzbetreibern aushandeln. Diese individuellen
Netzentgelte variieren je nach Spannungsebene und Beitrag zur Stabilisierung zwischen 20 und 99 Prozent der
veröffentlichten Netzentgelte.
Herr Kelber kann jetzt argumentieren, dass sein Einwand bestehen bleibe und der Golfplatz keinem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sei. Das trifft aber auf
das Amos-Comenius-Gymnasium in Bonn, den Caritasverband für die Stadt Bonn, das Seniorenheim ELIM in
Bonn und die Bonner Zeitungsdruckerei auch nicht zu.
Diese vier Unternehmen aus dem Wahlkreis von Herrn
Kelber haben ebenso wie besagter Golfclub einen Antrag auf individuelle Netzentgelte gestellt. Ich möchte
sehen, was Herr Kelber als Aufsichtsratsmitglied beim
Mutterunternehmen SWB des Netzbetreibers, der diese
Verträge abschließt, den Menschen vor Ort sagen wird.
Sagt er wirklich: „Ihr, Schule, Kirche, Seniorenheim,
Printmedien, auch wenn ihr mit euren Maßnahmen zur
Stabilisierung des Netzes beitragt, bekommt keine Ermäßigung“? Wer ist denn immer für Dezentralität? Hier
können auch kleinere Einrichtungen oder Betriebe ihren
Beitrag zur Energiewende leisten.
Demjenigen, der sagt, dass er eigentlich nur die Komplettbefreiung für Großverbraucher so unerhört findet,
dem sage ich, dass die städtische Abfallverwertung in
Bonn auch nicht im internationalen Wettbewerb steht.
Erstaunlich! Trotzdem profitiert sie von der Regelung
und damit jeder Steuerzahler der Stadt Bonn.
({3})
Freuen Sie sich doch! Seien Sie nicht so doppelzüngig. Oder Herr Kelber stelle sich vor die 200 Mitarbeiter
im Glaswerk Weck in Bonn-Duisdorf und erkläre ihnen,
dass er deren Arbeitgeber ebenso verurteilt, wie er es mit
jedem anderen Unternehmen tut, das von dieser Regelung profitiert.
({4})
Herr Becker, bitte geben Sie meine Erläuterungen speziell an Herrn Kelber weiter.
Danke sehr.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11655 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Die Linke wünscht
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11656 mit dem
Titel „Strompreiserhöhung aussetzen - Faire Strompreise für alle“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
abgelehnt.
Zusatzpunkt 7 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/11719.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9729 mit dem Titel
„Für ein konzeptionelles Vorgehen der Bundesregierung
bei der Energiewende - Masterplan Energiewende“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11004 mit dem Titel „Kosten und
Nutzen der Energiewende fair verteilen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11030 mit dem Titel „Bezahlbare Energie
sichern durch Einsparung, Erneuerbare und mehr Verbraucherrechte“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des
EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 in der
Rechtssache C-284/09
- Drucksache 17/11314 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/11717 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding ({1})Dr. Barbara HöllDr. Thomas Gambke
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11718 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider ({3})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({4})
Interfraktionell ist vereinbart, die Reden zu Proto-
koll zu nehmen.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom
20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11717, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/11314 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Dr. Hermann E. Ott, Bärbel
Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimakonferenz Doha - Kein internationaler
Erfolg ohne nationale Vorreiter
- Drucksache 17/11651 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({6}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Andreas Jung ({7}), Marie-Luise Dött, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Michael Kauch, Horst
Meierhofer, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die UN-Klimakonferenz in Doha - Globalen
Klimaschutz wirksam vorantreiben
- Drucksachen 17/11514, 17/11714 Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung ({8})-
Frank Schwabe-
Michael Kauch-
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan Anpassung der Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel
- Drucksache 17/6550 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
({10})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir zwei Vorbemerkungen.1) Anlage 4
Erste Vorbemerkung. Wir wollen einmal abwarten,
was bei der Konferenz in Doha herauskommt. Was auf
jeden Fall herauskommen wird, ist Kioto II, eine Verlängerung des Kioto-Abkommens. Ich will an dieser Stelle
schon einmal für die Sozialdemokratie sagen: Wir werden im nächsten Jahr eine Ratifizierung vornehmen müssen. Unser Ziel ist sicherlich, dass das möglichst schnell
im deutschen Parlament geschieht. Wir werden vonseiten der SPD alles tun, damit es schnell dazu kommt und
damit wir ein positives internationales Signal aussenden
können.
Umso absurder ist es - da sind wir uns jedenfalls bei
den Umweltpolitikern bestimmt einig -, dass keine Delegation des Deutschen Bundestages in Doha dabei sein
wird. Es werden lediglich einzelne Abgeordnete vor Ort
sein. Ich finde es schon ziemlich absurd, was ich heute
dazu in der Presse lesen konnte, dass nämlich das Präsidium des Bundestages behauptet, es handele sich um
eine Regierungskonferenz, bei der Parlamentarier an den
Verhandlungen gar nicht teilnehmen könnten. Das ist sozusagen die Begründung dafür, dass keine Delegation
des Deutschen Bundestages vor Ort ist.
Ich bin es langsam wirklich leid. Wir führen jetzt seit
sieben Jahren immer wieder dieselben Debatten. Wir
brauchen einmal eine grundsätzliche Diskussion darüber, wann Reisen eigentlich sinnvoll sind. An dieser
Stelle wäre die Reise einer Delegation garantiert sinnvoll. Die Debatten, die man in Doha führen könnte - sozusagen im Hotspot der internationalen Klimadiplomatie -,
kann man sonst nirgends führen. Gerade weil dieses Parlament auch das Abkommen noch ratifizieren soll,
macht es doch erst recht Sinn, dass wir mit dabei sind.
({0})
Zweite Vorbemerkung. Wir diskutieren hier über den
Begriff der Energiewende. Wir haben unterschiedliche
Interpretationen darüber, wer wann für welche Energiewende verantwortlich war. Ich will Ihnen trotzdem zusagen, dass wir in Doha gemeinsam versuchen werden, die
deutsche Energiewende zu erklären. An dieser Stelle
hört allerdings die Gemeinsamkeit auf, weil ich glaube,
dass wir die Energiewende deutlich konsequenter und
eindeutiger vertreten, als Sie es in den Reihen der
schwarz-gelben Koalition tun.
({1})
Am Wochenende konnte man - ich kann jetzt nicht alles zitieren, was da geschrieben wurde - in der Süddeutschen einen Kommentar von Herrn Bauchmüller lesen.
Eine Zwischenüberschrift lautete: „Erderwärmung?
Nicht so dringend. Erst mal die FDP retten“. An dieser
Stelle möchte ich in Richtung der Freien Demokratischen Partei sagen: Dieses Maß an Verantwortungslosigkeit, mit der Sie ein so wichtiges Themas für Ihr parteipolitisches Interesse in Geiselhaft nehmen, hätte ich
selbst Ihnen nicht zugetraut.
({2})
Es ist eine absurde Situation: Wir beraten hier im
Deutschen Bundestag Anträge zur Klimakonferenz in
Doha. Eigentlich müssten Sie von der Koalition Herrn
Altmaier den Rücken für die Reise nach Doha stärken.
Ich bin mir ziemlich sicher: Wenn er die Wahl hätte zwischen den Anträgen, die auf dem Tisch liegen - dem rotgrünen Antrag und dem Antrag der Koalition -, dann
würde er sich den rot-grünen Antrag aussuchen. Das ist
bezeichnend für Ihre Politik.
Sie stehen in der Europäischen Union für eine Blockadepolitik in allen Energiefragen und in allen Klimaschutzfragen. Sie blockieren die Energieeffizienzrichtlinie. Sie
blockieren das Zustandekommen einer vernünftigen Lösung im Bereich der Teersande. Mittlerweile geht in
Europa das Wort um - zumindest bei klimapolitischen
Fragen -, dass Deutschland das Land der Enthaltungen
sei. Eine Vorreiterrolle, die wir alle einmal für Deutschland reklamiert haben, ist längst passé. Das hat mit Ihrer
Regierung zu tun, mit der schwarz-gelben Blockadepolitik und Ihrer Unfähigkeit.
({3})
Man könnte die Themen jetzt weiter durchgehen. Es
geht hier aber um die internationale Klimapolitik. Auch
beim Fracking und anderen Themen gibt es Kleinkriege
zwischen dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium; es sind keinerlei Fortschritte zu verzeichnen. Ich
frage mich wirklich, wie Sie es verantworten können, einen Umweltminister wie Herrn Altmaier, der sich redlich bemüht - das will ich ihm unterstellen -, nach Doha
zu schicken und ihn dort sozusagen rückgratlos stehen
zu lassen.
({4})
Es gibt einen Zehn-Punkte-Plan von Herrn Altmaier,
mit dem man sich einmal im Einzelnen auseinandersetzen könnte. Vieles ist nicht eingehalten worden. Er hatte
angekündigt, dass es bis Ende September eine abgestimmte Haltung der Bundesregierung zu den Themen
Klimaschutz und Emissionshandel gebe. Ende September ist lange vorbei. Nun stehen Entscheidungen in der
Europäischen Union an, aber wir haben eine heillos zerstrittene Bundesregierung.
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern - die Kanzlerin würde wahrscheinlich sagen: der kundige Thebaner
weiß es; sie selbst kann es übrigens auch wissen -: Der
Emissionshandel der Europäischen Union funktioniert
nicht. Er kann so auch gar nicht funktionieren. Dies ist
die Ursache dafür, dass Ihre dahingestolperte Energiewende vollkommen unterfinanziert ist. Er setzt keine
Anreize für eine effiziente Klimapolitik in Europa. Er
lässt die europäische Wirtschaft - wenigstens diese
müsste Ihnen eigentlich am Herzen liegen - zurückfallen
im weltweiten Wettbewerb um eine zukunftsfähige und
effiziente Energieproduktion.
Wirklich pervers daran ist, dass Herr Rösler mit seiner Art von Wirtschafts-, Klima- und Energiepolitik dafür sorgt, dass die Zweifel an der Funktionsfähigkeit eines marktwirtschaftlichen Instrumentariums wie des
Emissionshandels generell wachsen.
({5})
Der italienische Umweltminister ist mittlerweile so weit,
zu sagen: Der Emissionshandel ist gescheitert. Wir brauchen eine CO2-Steuer, um in der Europäischen Union
vernünftige Signale zu senden. - Das ist das Ergebnis
der Politik Ihres Umweltministers.
Ihr Haushalt ist unterfinanziert. Sie korrigieren ständig Ihre eigenen Ziele. Der Handelspreis für ein Emissionszertifikat liegt mittlerweile nur noch bei gerade einmal 6 Euro. Sie hatten einmal 17 Euro veranschlagt,
dann 10 Euro, jetzt sind wir bei 6 Euro. Ihre Energiewende kann damit nicht vernünftig finanziert werden.
Am Ende geht es aber nicht um Herrn Rösler und
auch nicht um Herrn Altmaier, sondern es geht um die
Kanzlerin. Wir können uns alle an die Bilder erinnern,
wie sie mit Sigmar Gabriel im Eis war, wie sie Pirouetten auf unterschiedlichen Gipfeln gedreht hat - dies alles
zu einem Zeitpunkt, als das Thema Klima ausreichend
öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat. Jetzt, zu einem Zeitpunkt, zu dem zugegebenermaßen die Öffentlichkeit nur noch bedingt hinschaut, ist ihr das Thema
ziemlich egal. Ich finde, das ist eine prinzipienlose Politik. Am Ende ist die Kanzlerin dafür verantwortlich, dass
Herr Altmaier als gerupftes Huhn nach Doha fahren
muss.
({6})
Absurd wird es, wenn mittlerweile Unternehmen die
Bundesregierung auffordern, tätig zu werden und für
eine effizientere und ambitioniertere Klimapolitik in der
Europäischen Union einzutreten.
({7})
Ich bin weit davon entfernt, dass ich hier bestimmte
Energieversorger besonders loben möchte. Ich finde
aber, man sollte es schon einmal erwähnen: EnBW sagt,
dass es aus Sicht von EnBW wesentlich sei, das EU-Klimaziel für 2020 auf 30 Prozent anzuheben.
Es gibt ein gemeinsames Papier von einer Reihe von
Unternehmen, die für ein 30-Prozent-Ziel in der Europäischen Union eintreten. Zu den Unterzeichnern gehören
unter anderem die Vorstandsvorsitzenden von EnBW,
Vattenfall Europe, Deutsche Bahn, Deutsche Telekom,
Otto Group, Burda und Puma. Außerdem gibt es eine gemeinsame Position zum sogenannten Backloading. Ich
will das hier nicht ausführlich erläutern; denn das ist viel
zu kompliziert.
({8})
Es ist zwar kein ausreichendes Mittel hinsichtlich des
europäischen Klimaschutzes, aber immerhin eine Maßnahme, um den Preis vorübergehend zu stabilisieren.
Das ist unterschrieben worden von Shell, Eon und
Alstom.
Bei Ihnen allerdings verfängt das nicht. Ich muss das
wirklich sagen. Herr Rösler führt sich auf wie ein kleiner
beleidigter Junge, dem man jedes Argument vortragen
kann, ohne dass es ihn interessiert. Es ist absurd, dass die
Kanzlerin ihn nicht zur Ordnung ruft und auch keine Anstalten unternimmt, dies zu tun.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Nehmen Sie den Antrag von Rot-Grün, Herr Altmaier. Damit können Sie in
Doha mit gutem Gewissen auftreten. Mit dem Antrag
von Schwarz-Gelb werden Sie sich nur blamieren.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Andreas Jung für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Weltklimakonferenz in Doha hat begonnen. Wir
können sagen: Es hat wieder einmal eine Weltklimakonferenz begonnen. Wir stellen ein Stück weit mit Enttäuschung und Frustration fest, dass das rasante Fortschreiten des Klimawandels einerseits nicht passt zu den
kleinen Schritten andererseits, die im internationalen
Klimaprozess in den vergangenen Jahren gemacht werden konnten.
Für mich ist nur wichtig, dass diese Enttäuschung,
diese Frustration nicht in Resignation umschlägt, sondern dass wir sie in positive Energie umwandeln und daraus den Schwung mitnehmen und sagen können: Wir
wollen auch bei dieser Konferenz das Bestmögliche herausholen.
({0})
Wir wollen so große Schritte machen wie möglich. Das
kommt in dem vorliegenden Antrag zum Ausdruck.
({1})
Unterstützen wir den Bundesumweltminister Peter
Altmaier in dem, was er bei dieser Konferenz erreichen
will.
Erstens. Das Langfristziel bleibt in allererster Linie
der Abschluss eines international verbindlichen Abkommens,
({2})
bei dem alle mitmachen: die großen Emittenten, die Industriestaaten, die Schwellenländer und die EntwickAndreas Jung ({3})
lungsländer. Wir haben das letzte Jahr verstreichen lassen, ohne dass energisch genug verhandelt wurde. Jetzt
muss das Signal sein: Es muss mit Priorität verhandelt
werden. Es darf keine weitere Zeit verloren gehen. 2015
kommt schneller, als man denkt.
({4})
Zweitens geht es darum, kurzfristig dafür Sorge zu
tragen, dass es nach der ersten Kioto-Periode einen geordneten Übergang gibt. Wir brauchen die zweite Verpflichtungsperiode. Sie muss acht Jahre dauern, damit
bis 2020 eine Brücke geschlagen werden kann. Es muss
eine Brücke sein, die durch Ambition und durch Umweltintegrität gekennzeichnet ist und nicht durch heiße
Luft. Deshalb dürfen überschüssige Zertifikate aus dieser Periode nicht in die nächste Periode mitgeschleppt
werden. Nur dann kann Klimaschutz mit dem notwendigen Nachdruck fortgeführt werden. Auch dafür hat der
Bundesumweltminister unsere Unterstützung.
Drittens geht es um das Thema Finanzen. Der Klimafonds wurde auf den Weg gebracht, aber jeder Klimafonds ist nur so gut, wie das Geld, das drin ist. Deshalb
erwarten wir, dass auf der Konferenz klargemacht wird:
Die Industriestaaten stehen zu ihren Zusagen. - Damit
steht und fällt im Übrigen auch die Glaubwürdigkeit.
Deshalb muss sichergestellt werden, dass bis 2020
100 Milliarden US-Dollar tatsächlich in dem Topf enthalten sind. Da haben Deutschland und Europa eine besondere Verantwortung.
({5})
Herr Ott hat gerade auf die kontrovers diskutierten
Punkte hingewiesen. Die Bundesregierung hat unsere
Unterstützung. Gleichzeitig haben wir die klare Erwartung an die Bundesregierung, dass die Vorreiterrolle, die
Deutschland und Europa immer hatten, konsequent fortgeführt wird, und zwar mit glasklaren Positionen.
Ich will zwei Aufgaben nennen. Da ist erstens die Anhebung des CO2-Zieles auf 30 Prozent in Europa. Dieses
Ziel wurde immer noch nicht vereinbart. Wir, jedenfalls
die Kolleginnen und Kollegen im Umweltausschuss,
werben seit langer Zeit dafür. Es muss jetzt passieren.
Wir haben jetzt schon 18 Prozent von 20 Prozent erreicht, das heißt, es geht um 2 Prozentpunkte in den verbleibenden acht Jahren bis 2020. Das ist nicht ehrgeizig,
das ist nahezu lächerlich. Dieses Ziel würde man ohne
weitere Anstrengungen beim Klimaschutz erreichen. Es
muss jetzt etwas passieren. Deshalb unterstützen wir
Peter Altmaier und fordern die Bundesregierung insgesamt auf, diesen Schritt zu tun. Er muss so schnell wie
möglich erfolgen.
({6})
Zweitens möchte ich den europäischen Emissionshandel ansprechen. Wir waren uns über alle Fraktionen
hinweg einig, dass der europäische Emissionshandel das
Herzstück der Klimapolitik der Europäischen Union ist.
Frank Schwabe hat es angesprochen: Dieses Herz
schwächelt im Moment. Man ist von ungefähr 18 Euro
pro Zertifikat ausgegangen, jetzt sind wir am unteren
Ende der Leiter angekommen und liegen mittlerweile bei
8 Euro oder 6 Euro, Tendenz weiter fallend. Bei 4 Euro
- und das sind die Prognosen - wäre der Emissionshandel faktisch tot. Das wäre eine Katastrophe, weil auf internationaler Ebene nicht das Signal ausgesendet würde:
Wir wollen ambitionierten Klimaschutz, wir wollen unser System mit den anderen verbinden. Vielmehr wäre es
ein Signal, dass der Klimaschutz möglicherweise weniger wichtig ist.
({7})
Es wäre im Übrigen auch deswegen fatal, weil dadurch
die notwendigen Investitionsanreize für die Wirtschaft
fehlen würden,
({8})
um tatsächlich in den Klimaschutz zu investieren.
Ein Scheitern des Emissionshandels wäre fatal, weil
wir aus diesen Einnahmen unsere Energiewende finanzieren. Der Energie- und Klimafonds - mit seiner Hilfe
werden die Gebäudesanierung und die Elektromobilität
finanziert und wichtige Aufgaben, die für das Gelingen
der Energiewende essenziell sind, umgesetzt - hat schon
jetzt Federn lassen müssen. Er würde infrage gestellt
werden. Deshalb brauchen wir jetzt ein klares Signal:
Wir wollen an diesem Emissionshandel festhalten.
Am 13. Dezember findet eine Tagung des europäischen Klima-Komitees statt. Wie sich das im Moment
- noch - darstellt, müsste Deutschland sich enthalten,
weil der Bundesumweltminister und der Bundeswirtschaftsminister unterschiedliche Positionen vertreten.
Ich finde, die klare Botschaft muss lauten: Ein Vorreiter
enthält sich nicht.
({9})
Deshalb erwarten wir, dass Deutschland dort eine
klare Position vertritt,
({10})
auch weil wir wissen, dass andere europäische Staaten
auf uns schauen. Es wird gefragt: Wie verhält sich die
Bundesrepublik Deutschland denn jetzt? Deshalb brauchen wir ein klares Signal, das zeigt, dass wir bereit sind
und uns dafür einsetzen, dass ein Teil der überschüssigen
Zertifikate schon jetzt herausgenommen wird. Das ist
der erste, wenn auch minimale Schritt. Der zweite
Schritt ist, dass diese Zertifikate tatsächlich eingestampft
werden, sodass sie nicht wieder auf den Markt kommen
können. Der dritte Schritt sind die strukturellen Reformen, die ein Überleben des Emissionshandels garantieren. Die Alternative - CO2-Steuer und Planwirtschaft
sind vorhin schon genannt worden - wäre nicht besser.
Andreas Jung ({11})
Das kann auch nicht im Interesse des Bundeswirtschaftsministers liegen.
Unsere klare Botschaft lautet: Wir unterstützen Bundesumweltminister Peter Altmaier in all den Punkten,
die ich genannt habe. Er vertritt eine sehr konsequente
Position. Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung
sehr schnell zu einer einheitlichen Position und zu einer
klaren Festlegung in diesen Fragen kommt. Das ist das,
was wir brauchen, um in der Klimapolitik weiterhin als
Vorreiter auftreten und wirken zu können.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Und täglich grüßt das Murmeltier - so könnte
man diese vorweihnachtliche Klimadebatte überschreiben. Die Koalition beschwört jedes Jahr im November
die Vorreiterrolle Deutschlands. Die Opposition rückt
das dann immer wieder gerade. Dann kommt die UNKlimakonferenz, die natürlich zum großen Durchbruch
führen soll, welcher in zwei bis fünf Jahren zu besichtigen wäre. Mitte Dezember wird dann allerorts das Scheitern bedauert.
Parallel dazu steigen Jahr für Jahr die globalen Treibhausgasemissionen. 40 Prozent mehr Klimakiller werden heute in die Atmosphäre geblasen als 1990. Die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen, ist leider kaum
noch zu schaffen. Was das an Hungertoten, Überflutungen und Sturmschäden bedeutet, das wissen inzwischen
die meisten. Ich denke, nicht nur unsere Enkel, sondern
vor allem die Menschen im globalen Süden werden uns
irgendwann dafür verfluchen; denn nur wenige Prozent
der globalen Wirtschaftsleistung hätten ausgereicht, diesen Wahnsinn, der die Erde für immer verändern wird,
zu stoppen.
({0})
Stattdessen werden Banken und Spekulanten gerettet,
werden Reiche immer reicher und Arme immer ärmer. In
der Wachstums-Enquete-Kommission des Bundestages
ist weiterhin schillernder Exot, wer den profitgetriebenen Wachstumswahn auch nur infrage stellt.
({1})
Und jetzt kommen Sie mir nicht mit der tollen Energiewende hierzulande und den steigenden Emissionen in
China auf der anderen Seite des Globus. Denn rund
80 Prozent aller CO2-Emissionen seit der Industrialisierung gehen auf das Konto Europas und der USA. Letztere interessiert das bis heute nicht; das wissen wir ja.
Vor diesem Hintergrund sollte sich die Bundesregierung vielleicht einmal die Frage stellen, ob es bislang
eine gute Strategie Europas war, in den UN-Verhandlungen ständig zu pokern.
({2})
Ob Minderungsverpflichtungen oder Klimaschutzfinanzierungen - die EU ging noch nie in Vorleistung. Es ist
also kein Wunder, dass ein umfassendes Klimaschutzabkommen immer noch in den Sternen steht und Vertrauen
zusehends verspielt wird. Wie ernst sollen uns denn die
anderen nehmen, wenn die EU weiter an dem lächerlichen Ziel einer Minderung um 20 Prozent festhält?
Schließlich sind gegenüber 1990 bereits 18 Prozent erreicht, mit meinem „geliebten“ CDM sogar über 21 Prozent. Acht Jahre lang keinen Klimaschutz betreiben zu
wollen - bis 2020 sind es noch acht Jahre -, Herr
Altmaier, das ist kein Verhandlungsangebot, sondern
eine ganz brutale Provokation.
({3})
Ich sage es noch einmal: Die Verschärfung des EUKlimaschutzzieles auf 30 Prozent ist überfällig.
Deutschland verhindert das, weil sich die FDP der Reform des EU-Emissionshandels verweigert; wir haben es
gerade gehört. Es geht nicht um eine Reform, die die
Wirtschaft - das konnten wir hören - irgendwie erdrosseln würde. Es geht schlicht um die Stilllegung überschüssiger Emissionsrechte, damit die CO2-Preise endlich aus dem Keller kommen.
({4})
Zudem sind die jährlichen Minderungen der Anlagen
an das 30-Prozent-Ziel anzupassen. Doch genau dagegen
wenden sich die Liberalen. Für Wirtschaftsminister
Rösler kommt bereits die Stilllegung der 2 Milliarden
überschüssigen Emissionsrechte nicht infrage. Er will
das Versagen des Emissionshandels zementieren. Sie
sind also mit schuld.
Man muss es ganz klar sagen: Die Blockade der FDP
verhindert die Erreichung des Ziels und damit den Fortschritt. Man muss sich das einmal vorstellen. Dabei ist
die FDP eine Splitterpartei mit Wohlhabenden als Mitglieder, die es, wie Umfragen zeigen, seit Monaten nicht
mehr schaffen würde, im Bundestag vertreten zu sein.
({5})
Ich kann nur hoffen, dass die Kanzlerin endlich aufwacht und ihren Koalitionspartner in die Schranken
weist.
({6})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die internationale Klimapolitik ist hier im Parlament eine Gemeinschaftsaufgabe. Wir haben sie immer so verstanden,
dass wir auf den internationalen Konferenzen gemeinsam aufgetreten sind, unabhängig davon, wer gerade in
der Regierung und wer in der Opposition ist. Vor allen
Dingen aber haben wir in den letzten Jahren immer Präsenz gezeigt. Deshalb halte ich diesen Beschluss des Ältestenrates weiterhin für ein absolutes Missverständnis;
denn es wird nicht berücksichtigt, was auf solchen Konferenzen passiert.
({0})
Wenn wir als Deutscher Bundestag eine immer stärkere Beteiligung an Entscheidungen der Europäischen
Union einfordern, wenn wir selbstbewusst in der Europäischen Union auftreten, dann frage ich mich, warum
das Präsidium und der Ältestenrat dieses Parlaments
glauben, dass man dies auf UN-Konferenzen nicht tun
muss. Die Ergebnisse dieser Konferenzen muss am Ende
schließlich der Bundestag ratifizieren. Deshalb ist es
eine Frage des Selbstbewusstseins dieses Parlaments,
dass man offizielle Delegationen des Deutschen Bundestags und nicht einzelne Abgeordnete zu den Konferenzen entsendet. Das muss sich in diesem Parlament wieder ändern.
({1})
Meine Damen und Herren, was steht in Doha an? Das
erste Ziel ist das Arbeitsprogramm 2015 für das Abkommen, das 2020 in Kraft treten soll. Es ist also eine Zwischenstation des Verhandlungsstranges.
({2})
Das zweite große Ziel, das wir in Doha erreichen
müssen, ist, dass Kioto II am Ende nicht allein aus der
Europäischen Union, Norwegen, der Schweiz und Australien besteht; denn das wäre ein Kioto-Protokoll, das
aufgrund seines beschränkten Wirkungsbereiches auf
weniger als 20 Prozent der Emissionen definitiv keine
Wirkung in der Welt hätte. Deshalb muss es zentrales
Ziel der Bundesregierung sein, dass insbesondere die
großen Volkswirtschaften Russland und die Ukraine ins
Boot geholt werden. Das ist aus meiner Sicht eine zentrale Aufgabe, damit Kioto II zum Erfolg wird.
({3})
Meine Damen und Herren, das dritte Ziel ist: Die Industriestaaten müssen die Finanzierung des Klimaschutzes ernst nehmen. Hier sind wir beim Beitrag Deutschlands. Die Umweltverbände haben im Vorfeld der
Konferenz im Gespräch mit den Abgeordneten des Deutschen Bundestages erfreulicherweise darauf hingewiesen, dass die klimarelevanten Ausgaben im Haushalt
2013 auch nach ihren Berechnungen gegenüber 2012 um
100 Millionen Euro gestiegen sind. Das heißt, Deutschland nimmt seine Verpflichtungen ernst. Wir machen
nicht nur Zusagen, sondern wir schreiben sie auch in den
Bundeshaushalt. Das hat diese Koalition geschafft und
nicht die Opposition mit ihren Forderungen.
({4})
Deshalb haben die Liberalen überhaupt keine Probleme, selbstbewusst in diese Konferenz zu gehen; denn
die meisten dieser Mittel sind im Haushalt von Bundesminister Niebel etatisiert. Das ist ein positives Zeichen
für Doha.
Das zweite positive Zeichen, mit dem wir nach Doha
gehen, ist die deutsche Energiewende. Nicht Prozentzahlen von Ankündigungen sind faszinierend, sondern faszinierend ist die Vision, die Deutschland in die Praxis
umsetzt, nämlich von dem nuklear-fossilen Zeitalter in
das regenerative Zeitalter überzugehen, und zwar ohne
das Wachstum abzuwürgen. Das macht die Energiewende sexy und im internationalen Kontext zu einer Erfolgsgeschichte.
Der Bundesumweltminister fährt hier einen guten Ansatz. Er hat gesagt: Wir wollen mehr Staaten mitnehmen,
die im Bereich der erneuerbaren Energien vorangehen
wollen. Das ist mindestens genauso wichtig wie die anderen Verhandlungsstränge in Doha. Wir müssen mehr
Länder auf dem Weg der Energiewende, die wir in
Deutschland begonnen haben, mitnehmen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition! Herzlichen Glückwunsch, dass Sie pünktlich
zum Ende des Jahres das Klimathema wiederentdeckt haben! Der Umweltminister bekannte letzte Woche, endlich
habe die Klimapolitik wieder den Stellenwert, den sie
lange nicht hatte. Auch Ihnen sei gratuliert, lieber Herr
Altmaier, zu der Erkenntnis, dass der Klimaschutz kein
Kuschelthema alljährlich zur Adventszeit sein darf. Nein,
das Weltklima muss das ganze Jahr und die ganze Legislaturperiode über oberste Priorität haben. Das ist der Anspruch, der heutzutage an jede Bundesregierung gestellt
wird.
({0})
In Ihrem Antrag mit der Überschrift „Globalen Klimaschutz wirksam vorantreiben“ ist technisch so ziemlich alles enthalten; das ist keine Frage. Das BMU hat
gute Vorarbeit geleistet. Aber jenseits der Details, da, wo
die politische Musik spielt, ist Ihr Antrag schönfärberisch und in den konkreten Maßnahmen absolut unzureichend.
({1})
Es ist schon kaum mehr auszuhalten. Sie bezeichnen die
Bundesrepublik wider besseres Wissen als treibende
Kraft in den Klimaverhandlungen
({2})
und behaupten, Deutschland werde seine Vorreiterrolle
im Klimaschutz weiterführen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, Unwahrheiten werden nicht
dadurch wahr, dass man sie ständig wiederholt.
({3})
Lassen Sie es mich ungeschminkt sagen: Ihr Antrag ist
eine unerträgliche klimapolitische Selbstbeweihräucherung.
({4})
Wenn es nach den letzten Jahren der Klimadiplomatie
eine Lehre geben muss, dann die, dass es ein stupides
Weiter-so nicht geben darf. Denn damit kann die globale
Erwärmung nicht in Schach gehalten werden. Ihr Ziel im
Antrag, es müsse wieder ein umfassendes Klimaabkommen mit allen Emittenten verabschiedet werden, zeigt:
Sie befinden sich weiterhin sehenden Auges auf einem
Blindflug. Wenn Sie mit aller Kraft versuchen, es wieder
allen, vor allen Dingen den USA, recht zu machen, werden Sie wie schon 2009 auf dem Klimagipfel in Kopenhagen scheitern. Das darf nicht sein. So etwas darf nicht
noch einmal vorkommen.
Grüne und SPD schlagen deshalb in einem gemeinsamen Antrag ein wirklich modernes Klimaregime vor. An
dieser Stelle vielen Dank den Kollegen von der SPD und
Dank an unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bei
uns ist der Begriff „modernes Klimaregime“ jedoch
keine bloße Worthülse wie bei Ihnen. Um die düsteren
Prognosen einer um 4 Grad wärmeren Welt nicht Wirklichkeit werden zu lassen, sagen wir: kein internationaler
Erfolg ohne nationale Vorreiter.
({5})
Aber wie soll Deutschland mit einem Wirtschaftsminister Rösler Vorreiter sein, der sich allen Ernstes gegen eine Verknappung der Emissionszertifikate ausspricht, was nach Aussage der EU-Kommission zu einem
Zertifikatepreis von circa 4,50 Euro führen würde?
Meine Damen und Herren von der Koalition, das ist nicht
nur klimapolitischer, sondern auch ökonomischer Irrsinn.
({6})
Nein, glaubwürdige internationale Klimapolitik fängt
zu Hause an. Sie geht damit weiter, dass man sich Partner sucht, um gemeinsam voranzugehen. Wir fordern
deshalb, nicht länger auf die Langsamsten zu warten.
Herr Jung, Ihre Forderung von gerade eben ist absolut
widersinnig. Wir dürfen nicht auf die Langsamsten warten, sondern müssen vorangehen und eine Klimapolitik
der unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorantreiben.
Anders werden wir nicht vorankommen.
Unsere Überzeugung ist, dass Deutschland und die
EU den Kern einer solchen progressiven Allianz, eines
Klimaklubs der Pioniere, bilden können. Anders werden
wir den Klimawandel nicht erfolgreich bewältigen
können. Die Zeit des Schönredens vor internationalen
Klimakonferenzen ist vorbei. Es ist an der Zeit, klimapolitisch zu handeln.
Noch eines, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU: Wenn Sie sich in dieser Schicksalsfrage
weiterhin von der FDP am Nasenring herumführen
lassen, werden Sie von ihr auch mit in den Abgrund gezogen.
({7})
Lassen Sie es nicht dazu kommen. Sie sind zwar nicht
unbedingt für die Rettung der FDP verantwortlich. Aber
Sie sind ganz unbedingt für den Schutz der Lebensgrundlagen unserer Zivilisation verantwortlich.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Josef Göppel für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich frage mich: Wie stellen wir es an, dass der Klimaschutz wieder den Stellenwert bekommt, den er verdient? Lieber Kollege Altmaier, was die Konferenz in
Doha betrifft, haben Sie auf jeden Fall die Unterstützung
aller Mitglieder des Umweltausschusses. An dieser
Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei den Mitgliedern
der FDP-Fraktion bedanken,
({0})
die in der gestrigen Sitzung deutlich zum Ausdruck gebracht haben, dass sie die Position des Bundesumweltministers unterstützen. Selbstverständlich ist jetzt
das Kanzleramt gefordert.
({1})
Das Kanzleramt muss in einer Streitfrage zwischen zwei
Fachministerien die Richtlinien der Politik bestimmen.
Das bedeutet hier eine klare Vorgabe für den Klimaschutz.
({2})
Anders geht es wirklich nicht.
Es ist komisch, dass gerade der Teil der Welt, der seit
1990 deutliche CO2-Einsparungen zu verzeichnen hat,
jetzt zu zaudern beginnt. Wegen der Energiewende steht
Deutschland in der Welt unter Beobachtung. Viele sind
davon fasziniert, manche sind skeptisch. Von 1990 bis
Ende 2011 haben wir den Ausstoß von Klimagasen um
26 Prozent reduziert. Dabei muss man natürlich berücksichtigen, dass zwei Drittel davon auf den Umbau der
Industrie in Ostdeutschland und ein Drittel auf das EEG
zurückzuführen sind; alles Übrige kann man fast vergessen.
({3})
Natürlich ist es für uns auch unter innenpolitischen
Gesichtspunkten wichtig, zu wissen, welche Faktoren
wirklich zu dieser Senkung geführt haben.
({4})
Herr Kollege Altmaier, bei einem Thema können Sie
schon jetzt sehr selbstbewusst auftreten - der Kollege
Kauch hat das zu Recht erwähnt -: 2012 haben wir im
Bundeshaushalt einen Betrag von 1,8 Milliarden Euro
für bilaterale Zusagen im Bereich des Klimaschutzes
und für Einzahlungen in internationale Töpfe bereitgestellt. In der letzten Woche wurden von uns 100 Millionen Euro zusätzlich bewilligt, wenn auch auf verschiedene Ministerien verteilt. Deutschland kann in
Doha, was die finanziellen Verpflichtungen angeht, sehr
glaubwürdig auftreten; ich füge hinzu: wenigstens das.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ein Zeichen für
den Durchhänger des Klimaschutzes ist natürlich die
Ablehnung der Delegationsreise durch den Ältestenrat.
Als Obmann der CDU/CSU im Umweltausschuss sage
ich: Da eine Delegationsreise von Abgeordneten zur
Klimakonferenz abgelehnt wird, erwarte ich, dass der
Ältestenrat in Zukunft immer dann, wenn ein Minister
irgendwohin fährt und verhandelt, aus keinem anderen
Fachbereich mehr Abgeordnete mitfahren lässt. Das
wäre die logische Konsequenz.
({5})
Daran zeigt sich, dass dieses Thema noch einmal überdacht werden muss.
Zusammenfassend kann man sagen: Wir Deutschen
können, was die Fakten angeht, gut und selbstbewusst
auftreten. Es ist deshalb politisch für Deutschland und
auch für die Zukunftschancen unserer Wirtschaft auf den
internationalen Märkten nur schädlich, wenn derjenige,
der von den anderen als Vorreiter angesehen wird, nun
selber zu zaudern beginnt. Deswegen - ich sage es noch
einmal - erwarten wir eine klare Festlegung des Kanzleramtes zur Rückenstärkung des Umweltministers für
die nächste Woche in Doha.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11651 und 17/6550 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen damit so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 11 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP mit dem Titel „Die UN-Klimakonferenz in
Doha - Globalen Klimaschutz wirksam vorantreiben“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/11714, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/11514 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPDFraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische
Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 ({0}) und 1373
({1}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/11466 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({2})RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Entgegen den verteilten
Redelisten erteile ich jetzt dem Minister der Verteidigung, Herrn Dr. Thomas de Maizière, das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Staatsminister Link und ich haben vereinbart, heute
innerhalb der Regierung die Rednerreihenfolge zu
tauschen. Daraus ist weiter nichts zu schließen, außer
dass wir beide das vereinbart haben.
({0})
- So ist das.
({1})
Allerdings ist das, was wir jetzt erörtern, kein Grund
zum Spaßen. Wir denken an den 11. September. Ich
glaube, es gibt wenige Daten, die wir so im Kopf haben
und zu denen jeder von uns weiß, was er da gemacht hat.
Dazu gehört der 9. November, dazu gehört der 11. September, dazu gehört sicherlich auch der eine oder andere
private Tag. Politisch gibt es ganz wenige solcher Tage.
Der 11. September gehört dazu.
Die terroristischen Anschläge in Washington und
New York haben unser Leben verändert, unser persönliches, aber auch die Sicherheitslage. Auch das bis dahin
scheinbar ungefährdete Amerika und Europa haben gelernt, dass das Leben täglich Gefahren ausgesetzt sein
kann. Einen Tag später, am 12. September 2001, und
etwas später, am 4. Oktober 2001, stellte der Nordatlantikrat fest, dass die terroristischen Angriffe auf die USA
als Angriff auf alle Bündnispartner im Sinne des Art. 5
des NATO-Vertrages, als Bündnisfall, anzusehen seien.
Damit wurde erstmalig der Bündnisfall festgestellt, dem
auch Deutschland, damals unter Bundeskanzler
Schröder, zugestimmt hat.
Damit war auch die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung zu Maßnahmen der Bündnispartner gegen den Terrorismus beizutragen. Dies begründete den Einsatz
bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen
die USA auf der Grundlage des Art. 51 der Satzung der
Vereinten Nationen und des schon genannten Art. 5 des
NATO-Vertrages. Dies begründet auch unser Engagement im Rahmen der Operation Active Endeavour, die
wir heute diskutieren.
Der Einsatz hat zum Ziel, im Mittelmeerraum zum
Schutz vor möglichen terroristischen Aktivitäten beizutragen. Es geht um die Verteidigung gegen den internationalen Terrorismus.
In diesem Rahmen übernimmt die Bundeswehr folgende Aufgaben: militärische Präsenz in und über See;
Aufklärung, Überwachung und Lagebilderstellung in
und über See; Austausch und Abgleich von Lageinformationen mit anderen Akteuren; Kontrolle des Seeverkehrs und schließlich Unterstützung von NATOOperationen in Reaktion auf mögliche terroristische
Aktivitäten im Mittelmeer.
Über elf Jahre nach Erklärung des Bündnisfalls haben
wir uns natürlich die Frage zu stellen - das wird sicher
gleich diskutiert werden -, ob der Einsatz in seiner
derzeitigen Ausrichtung noch notwendig ist.
({2})
Im Bündnis besteht weiterhin Einigkeit darüber, dass der
Angriff im Sinne des Art. 51 der Satzung der Vereinten
Nationen mit den Anschlägen des 11. September 2001
nicht abgeschlossen war. Vielmehr fand dieser Akt des
Terrorismus in weiteren Anschlägen und Anschlagsversuchen - in London, Madrid und Detroit - eine Fortsetzung. Die Bedrohung dauert bis heute an. Wir gehen
von einer Fortsetzung der terroristischen Gefahr aus,
auch für uns.
Die Operation Active Endeavour leistet einen Beitrag
dazu, hier unser Lagebild zu verbessern. Sie entfaltet
durch ihre abschreckende Funktion auch eine präventive
Wirkung. Gerade deshalb erkennen wir weiterhin das Erfordernis einer bündnisgemeinsamen Präsenz im Mittelmeer und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen militärischen Aufklärung und Überwachung in dieser
Region.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir streben
eine Fortentwicklung dieses Mandats an. Angeregt
durch Deutschland wird über die Weiterentwicklung der
immer stärker netzwerkgestützten Active Endeavour in
der NATO diskutiert. Auch eine Diskussion über die
Notwendigkeit der Beibehaltung des Bündnisfalls als
Grundlage für diesen Einsatz wurde durch Deutschland
initiiert. Aber wenn wir den Bündnisfall gemeinsam erklären, dann werden wir den Bündnisfall auch gemeinsam beenden ({3})
und nicht einseitig; damit das ganz klar ist.
Die NATO begegnet dem internationalen Terrorismus
durch einen zunehmend netzwerkbasierten Ansatz mit einem Schwerpunkt auf Informationsgewinnung und -verarbeitung. Dieser Ansatz soll ausgebaut werden.
Partner der NATO haben bereits das Angebot zur
Teilnahme an Active Endeavour genutzt. Die Operation
führt damit die Prinzipien der kollektiven Verteidigung
unter den NATO-Mitgliedern und der kooperativen
Sicherheit mit Partnern zusammen. Dies bietet einen
Ansatz zur kooperativen Umsetzung der aktuellen maritimen Strategie der NATO.
Die internationale Gemeinschaft darf in ihren umfassenden Anstrengungen zur wirksamen Beseitigung der
gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen
Umstände, die das Entstehen von Terrorismus begünstigen, nicht nachlassen. Ein wichtiger Bestandteil dieser
Anstrengungen bleibt weiterhin die Bereitstellung
entsprechender militärischer Fähigkeiten, auch durch
Active Endeavour im Mittelmeer.
Dafür gebührt unseren Soldatinnen und Soldaten und
ihren internationalen Kameraden unser ausdrücklicher
Dank und unsere Anerkennung.
({4})
Die Bundesregierung beantragt eine Fortsetzung des
Einsatzes unter Beibehaltung der personellen Obergrenze von derzeit 700 Soldatinnen und Soldaten bis
zum 31. Dezember 2013, also um ein weiteres Jahr. Ich
bitte Sie - auch im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten - um eine breite Unterstützung für diesen in der
Weiterentwicklung befindlichen, aber immer noch und
weiterhin richtigen und notwendigen Einsatz.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Dr. Rolf Mützenich hat nun für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts einer außenpolitischen Debatte zu dieser Zeit
ist es schon notwendig, auch ein paar Blicke auf einen
anderen Ort zu richten. Heute wird vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen über den Antrag der
Palästinensischen Autonomiebehörde für einen Beobachterstatus abgestimmt. Die Bundesregierung hat
heute bekannt gegeben, dass sie sich in der Generalversammlung der Stimme enthalten wird. Herr Staatsminister Link, ich glaube, das ist das Mindeste, was Sie tun
konnten, um Präsident Abbas in einer wirklich schwierigen Situation nicht weiter zu schwächen. Jede andere
Entscheidung vonseiten der Bundesregierung hätte in
diesem Parlament mit Unverständnis quittiert werden
müssen. Eine etwas frühere Verlautbarung aus Ihrer
Sicht hätte vielleicht das eine oder andere innerhalb der
Europäischen Union besser ordnen können.
({0})
Wir vonseiten der Sozialdemokratischen Partei hätten
uns schon gewünscht, dass alle 27 Mitgliedstaaten ein
gemeinsames Votum in der Vollversammlung der Vereinten Nationen abgegeben hätten.
({1}),
Da hätte ich mir schon gewünscht, dass Deutschland
eine Führungsrolle übernommen hätte.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich gehe jetzt auf das Mandat ein, zu dem der
Bundesverteidigungsminister heute erneut einen Antrag
auf Fortsetzung eingebracht hat. Ich glaube, wir konnten
hier im Plenum spüren, wie er mit den Argumenten gerungen hat, insbesondere als es um die Begründung der
Bündnissolidarität gegangen ist. Ihm war doch sehr unwohl, weil er wusste, dass auch der Bundesaußenminister in den letzten Debatten sein Unbehagen geäußert und
gegenüber dem Deutschen Bundestag verlautbart hat, er
würde im Bündnis für eine andere Rechtsgrundlage
streiten. Das hätte zu einer deutlichen, zu einer klaren
Außenpolitik gehört. Denn Sie können die Bündnissolidarität und das Vorliegen eines Bündnisfalls nicht endlos
wiederholen und mit den gleichen Worten begründen
- damit entkleiden Sie sozusagen das, was Art. 5 des
NATO-Vertrages hergibt -, weil Bündnissolidarität etwas Besonderes ist. Sinn und Zweck ist, dies in einer besonderen Situation zu nutzen.
Ich glaube, elf Jahre sind letztlich genug, um vonseiten der Bundesregierung zu einer anderen Begründung
zu kommen. Bei einer selbstbewussten Außenpolitik und
insbesondere angesichts der Frage, wie der Terrorismus
bekämpft werden kann, hätte es letztlich einer anderen
Begründung bedurft.
({2})
Herr Bundesverteidigungsminister, im Grunde genommen haben Sie gar nichts über die Aktivitäten dieser
Mission im letzten Jahr berichtet. Wer einmal aufmerksam in die Unterrichtungen des Parlaments geschaut hat,
hat feststellen müssen, dass es im Berichtszeitraum nur
einen Einsatz gegeben hat, nämlich im September, als
die Fregatte „Bayern“ einen Rettungseinsatz durchgeführt hat. Ich finde es sehr anerkennenswert, dass auch
die Bundesmarine, wie es üblich ist, in solchen Fällen
aktiv wird. Aber ich glaube, Herr Bundesverteidigungsminister, das hat mit dem Mandat überhaupt nichts zu
tun, sondern das hat sozusagen etwas mit dem Recht auf
der hohen See zu tun. Ich meine, der Rettungseinsatz ist
richtig gewesen, aber dafür hätte es dieses Mandat nicht
gebraucht.
({3})
Weiterhin hätten Sie dem Deutschen Bundestag berichten müssen, wieso alle paar Monate rund 600 Bundeswehrsoldaten für das Mandat benannt worden sind.
Wir haben einmal überprüft, warum das der Fall war.
Das war deswegen der Fall, weil Schiffe in Richtung der
Mission Atalanta gefahren sind und dann im Mittelmeer
für dieses Mandat umgewidmet wurden. Ich meine, ein
bisschen Zielgerichtetheit wäre für dieses Mandat notwendig gewesen. Ich finde, auch Ehrlichkeit gegenüber
dem Bundestag und gegenüber der Bundeswehr, der
Bundesmarine, wäre angebracht gewesen.
Nun zu einem weiteren Punkt, der in dieser Debatte
ebenfalls Berücksichtigung finden muss. Da ist das Außenministerium gefordert; Herr Staatsminister Link, Sie
werden ja gleich reden. Ich würde mich wirklich darüber
freuen, wenn Sie uns etwas ausführlicher begründen
könnten, warum die Umbrüche in der arabischen Welt
- dies steht zu Beginn der Begründung des Antrages dafür genutzt werden, dieses Mandat zu rechtfertigen.
Ich habe die Diskussion im Deutschen Bundestag und
vonseiten der Bundesregierung immer so verstanden,
dass erst einmal die mutigen Menschen dort, die versuchen, ihre Regime zu stürzen und für demokratische Legitimation einzutreten, von uns unterstützt werden sollen
und dass das nicht mit dem Terrorismus verwechselt
werden darf. Ich glaube, das gehört zur Ehrlichkeit dieses Mandates genauso dazu.
Wir wissen, das Risiko in Bürgerkriegen ist immens;
aber Sie können hier in einer allgemeinen Begründung
nicht die terroristische Gefahr sozusagen herbeireden.
Ich glaube, dieser Hinweis in der Begründung ist falsch
und wird den gesellschaftlichen Umbrüchen, der zeitgeschichtlichen Erosion, gerade in der arabischen Welt
überhaupt nicht gerecht. Ich finde, das gehört nicht in ein
Mandat hinein.
({4})
Herr Bundesverteidigungsminister, Sie plädieren immer für Mandatsklarheit; wir haben das in den letzten
Tagen bei der Diskussion über den Patriot-Einsatz und
viele andere Dinge gehört. Ich glaube, genau bei diesem
Mandat hätten wir Klarheit und Wahrheit gebraucht. Das
haben Sie nicht geleistet. Sie haben das im letzten Jahr
angekündigt, aber auch in diesem Jahr waren Sie dazu
nicht bereit. Deswegen kann ich Ihnen vonseiten meiner
Fraktion nur sagen: Einem solchen Mandat können wir
nicht zustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Michael Link.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich gehe zunächst auf die beiden konkreten Punkte ein,
die Herr Mützenich angesprochen hat.
Sie haben erwähnt, dass in der Begründung des Antrags der Bundesregierung auf das Gesamtumfeld hingewiesen wird. Die Umbrüche in der arabischen Welt sind
natürlich kein kausaler Grund für diesen Einsatz. Was
haben aber die Umbrüche gebracht? Sie haben natürlich
einen Gewinn an Demokratie gebracht. Nehmen wir das
Beispiel Libyen, wo die Wahlen erstaunlich gut verlaufen sind. Das war hinterher. Vorher war dort alles
schwierig; wir wissen das. Das war ein Gewinn an Demokratie.
Ich denke, wir alle sind uns einig, dass jetzt eine
enorme Anzahl von Waffen aus den Beständen der
Gaddafi-Armee auf dem Markt ist, die natürlich auch
von denjenigen genutzt werden, die in das Vakuum hingestoßen sind, das dort nach dem Abtritt der diktatorischen Herrschaft teilweise entstanden ist. Mit diesen
Waffen sorgen sie jetzt verstärkt für Unsicherheit.
Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen
sagen: Hier ist zunächst einmal nicht mehr Sicherheit erreicht worden. In Mali ist das konkret geworden, aber
das gilt auch für andere Länder. Deshalb ist diese Begründung sehr sinnvoll. Wir sagen ganz ausdrücklich:
Jawohl, es gehört zur Ehrlichkeit dazu - und ehrliche
Mandate erteilt diese Bundesregierung -, auf diesen Zusammenhang hinzuweisen.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr in Auslandseinsätze geschickt
werden, dann haben sie einen Anspruch auf besonders
sorgfältig getroffene Entscheidungen unter Abwägung
aller Risiken und Härten; das ist entscheidend. Wir alle
wissen: Es gibt Mandate für Auslandseinsätze, die weitgehend unumstritten sind, und es gibt umstrittene Mandate. Dieses OAE-Mandat, das Mandat für die Operation
Active Endeavour, dessen Verlängerung wir heute beantragen, ist unter allen unseren NATO-Bündnispartnern
vollkommen unumstritten. Das muss man auch einmal
deutlich aussprechen.
OAE ist ein Überwachungseinsatz. Der Einsatz bringt
bei vergleichsweise geringem Aufwand einen großen Ertrag. Durch OAE verdichten wir unser Lagebild insbesondere zum südlichen Umfeld. Die militärische Präsenz
der OAE-mandatierten Schiffe im Mittelmeer entfaltet
eine stark abschreckende Wirkung gegen Terroristen.
Faktisch wirkt sie auch weit darüber hinaus stabilisierend. OAE ist insofern zu einem präventiven Ordnungsfaktor im Mittelmeer geworden und genießt gerade als
solcher auch bei den südlichen Mittelmeeranrainern wie
Marokko, Tunesien oder Algerien eine ganz hohe Akzeptanz.
Insgesamt beteiligen sich gegenwärtig nicht weniger
als 63 Nationen am Austausch von Lagedaten im Rahmen von OAE. Auch das ist ein wenig bekanntes Faktum.
Die sicherheitspolitische Relevanz der NATO-Mission ist im Vergleich zum vergangenen Jahr ohne Zweifel gestiegen. Ich habe das mit dem Hinweis auf die Umbrüche in der arabischen Welt schon erwähnt. Die
Aktivitäten von al-Qaida sind ebenfalls bereits erwähnt
worden. Es besteht deshalb aus unserer Sicht weiter ganz
konkret die Gefahr, dass Al-Qaida-Ableger oder lokale,
der al-Qaida nahestehende Gruppen unkontrollierte Gebiete als Rückzugsräume nutzen. In Syrien und darüber
hinaus hat die Krise längst auch eine regionale Dimension angenommen. Terroranschläge sind Bestandteil der
bewaffneten Auseinandersetzung im syrischen Bürgerkrieg. Auch von al-Qaida anerkannte Terrorgruppierungen profitieren zunehmend von der unübersichtlichen
Lage.
Nicht nur unsere NATO-Partner, sondern die gesamte
Völkergemeinschaft meint daher, dass der Schutz vor
und die Abwehr gegen den internationalen Terrorismus
weiter geführt werden muss. Der Sicherheitsrat bekräftigt dies in aktuellen Resolutionen. International herrscht
Übereinstimmung: Eine defensiv ausgerichtete Mission
wie OAE, die vor allem dem Schutz, der Verteidigung
und der Abschreckung dient, trägt in legitimer Weise zur
Bekämpfung und Verhinderung möglicher Terroraktivitäten bei.
Unsere Bündnispartner - Verteidigungsminister de
Maizière hat darauf hingewiesen - schätzen die Mission
auch, weil es sich um eine vertrauensbildende Maßnahme im Sinne der kooperativen Sicherheit handelt. Ich
möchte darauf hinweisen, dass auch wichtige NichtNATO-Mitgliedstaaten an der OAE bereits teilgenommen haben. Denken wir zum Beispiel an den russischen
oder den ukrainischen Beitrag.
Wir setzen uns - auch darauf hat Kollege de Maizière
hingewiesen - schon seit längerem dafür ein, dass in der
NATO eine Weiterentwicklung des Einsatzes diskutiert
wird.
({1})
Thema Bündnisfall. OAE ist bislang als robustes
Mandat ausgestaltet. Wir halten das für den Erfolg des
Einsatzes für nicht zwingend. Aus unserer Sicht könnte
und sollte OAE auf nichtexekutive Befugnisse beschränkt werden. Wir treffen mit dieser Forderung allerdings nicht auf die Zustimmung unserer NATO-Partner.
Wir können das nicht einseitig ändern. Wir bleiben aber
hartnäckig. Wir verzeichnen auch erste Erfolge.
Bislang ist rechtliche Grundlage für diese Mission
Art. 5 des NATO-Vertrages, also der erklärte Bündnisfall. Dieser Bezug kommt jetzt auf den Prüfstand. Wir
nehmen damit die Forderungen, die insbesondere in dem
Antrag der Fraktion der Grünen erwähnt sind, vorweg:
Ja, die Bundesregierung setzt sich aktiv und engagiert in
der NATO dafür ein, dass der Bündnisfall als Grundlage
für den OAE-Einsatz der NATO im Mittelmeer künftig
entfallen kann. Wir müssen aber erst unsere Partner dafür gewinnen. Wir können und dürfen das nicht alleine
tun. Hier kann ich ebenfalls nur auf das verweisen, was
der Verteidigungsminister eben ausgeführt hat: Wir rufen den Bündnisfall gemeinsam aus, und wir beenden
ihn gemeinsam.
({2})
Auf das Umfeld in Verbindung mit dem heutigen Geschehen in New York ist hingewiesen worden. Ich selbst
hatte die Gelegenheit, gemeinsam mit dem Außenminister und teilweise in seiner Vertretung am letzten Außenministerrat teilzunehmen. Ich möchte noch einmal ganz
ausdrücklich sagen: Wir haben, gerade der Außenminister selbst, wahrlich nichts unversucht gelassen, eine gemeinsame Position in der EU herbeizuführen.
({3})
- Das wissen Sie; exakt. - Aber was tun Sie in einer Situation, wenn sich andere EU-Partner bereits lange vor
der Abstimmung öffentlich eindeutig auf ein Ja festlegen, und zwar nicht nur einer, sondern zwei oder drei,
und damit die Gelegenheit, dass die EU hier gemeinsam
auftritt, in den Wind schlagen? Das ist in der Tat ein Problem, was nun wahrlich nicht die Bundesregierung zu
vertreten hat.
Wir erinnern deshalb an der geeigneten Stelle alle
Partner in der EU sehr kritisch daran, dass sie durch ihre
frühe, einseitige Festlegung auf ein Ja exakt das verhindern, was genau diese EU-Partner in Sonntagsreden immer anmahnen, nämlich eine gemeinsame EU-Position.
Da gibt es eine bunte Schar von Staaten - Sie wissen das
genau -, die sich früh eindeutig auf ein Ja festgelegt haben und dadurch diese Abstimmung, die man mit gutem
Willen und mit einer koordinierten Aktion durchaus
noch einmal hätte verschieben können, zur Unzeit ohne
Not haben eskalieren lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung
beantragt die Fortsetzung der OAE. Auch namens des Auswärtigen Amtes danke ich ausdrücklich unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Dienst im Rahmen dieses Einsatzes. Wir beantragen die Fortsetzung dieses Einsatzes.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Paul
Schäfer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Winston Churchill hat nach 1945
auf die Frage, was denn nun aus dem Münchener Abkommen von 1938 werden solle - das war zwar schändlich, aber völkerrechtlich gültig -, geantwortet: So tun,
als ob es das nicht gäbe!
Vor zwei Jahren habe ich den damaligen Vorsitzenden
des Militärausschusses der NATO, Herrn Di Paola, gefragt, wann und wie denn die NATO den 2001 ausgerufenen Bündnisfall beenden wolle. Er hat mich erstaunt
angesehen und lapidar geantwortet, das sei für die
NATO kein Thema, es habe sich schließlich um einen
auf die Situation bezogenen Akt der politischen Solidarität gehandelt. Das klang nach „Schwamm drüber“ à la
Churchill, wenn nicht der kleine Nachsatz gefolgt wäre:
Außerdem bestünden ja doch die Gefahren des internationalen Terrorismus fort. - Manche sagen: Noch Jahrzehnte. - Der Minister hat es genauso wiederholt.
Das heißt, man kann nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen die Frage stellen, worum es eigentlich
heute bei der Militäroperation Enduring Freedom und
dem NATO-Einsatz Active Endeavour geht. Beide beziehen ihre Legitimation aus den Anschlägen vom
11. September 2001. Der Punkt ist der: Die NATO beruft
sich auf den Verteidigungsfall gegen eine angenommene
globale Bedrohung und leitet daraus die grundsätzliche
Legitimation für den Einsatz von militärischer Gewalt
weltweit ab, präemptiv, präventiv, reaktiv - egal. Das ist
keine abstrakte Theorie, das ist kein linkes Hirngespinst,
das ist blutige Realität: Capture-or-Kill-Operationen in
Afghanistan, Einsatz von Kampfdrohnen in Somalia,
dem Jemen und Pakistan, maritime Taskforce im Indischen Ozean, deren Auftrag völlig unklar ist, Piratenjagd
am Horn von Afrika oder die Jagdkommandos auf AlQaida-Anhänger in Nordafrika im Rahmen von OEF
Trans Sahara.
Enduring Freedom und Active Endeavour sind - man
kann es so sagen - Instrumente zur Etablierung eines
Damoklesschwertes globaler Gewaltandrohung. Ich
finde, das kann so nicht weitergehen.
({0})
Man beruft sich auf Art. 51 UN-Charta und Art. 5 des
Nordatlantikvertrags, aber diese Einsätze in ihrer ganzen
Breite haben mit Verteidigung und Bündnisfall nichts
oder wenig zu tun. Der Schein der Rechtmäßigkeit soll
gewahrt werden, während man sich gleichzeitig unter
dem Vorzeichen dieses Antiterrorkampfes Pauschalermächtigungen für eben diese geografisch nicht begrenzten Militäreinsätze holt.
Paul Schäfer ({1})
Wir sagen dazu ganz eindeutig: Der Krieg gegen den
Terror hat die Welt nicht sicherer gemacht, eher im Gegenteil.
({2})
Er führt zur Fixierung auf militärische Scheinlösungen
und blockiert das Nachdenken über zivile Möglichkeiten, den Ursachen der Konflikte in der Welt zu Leibe zu
rücken.
({3})
Das ist doch der Punkt.
({4})
Wir sagen: Terror muss man entgegentreten, lieber
Kollege Mißfelder, aber der sogenannte Krieg gegen den
Terror muss beendet werden.
({5})
Die Ausrufung des Bündnisfalls, die wirklich eine
Pauschalermächtigung für diese praktisch globalen Militäreinsätze ist, muss ebenfalls zurückgeholt und beerdigt
werden.
({6})
Deshalb werden wir auch dem Antrag der Grünen zustimmen. Der greift eine Kernforderung auf, die wir
schon lange haben.
Was den hier zu verhandelnden Einsatz der Marineverbände im Mittelmeer betrifft, so war schon lange klar,
dass es mit Terrorabwehr nichts zu tun hat.
({7})
Es geht um eine umfassende Überwachungsmission,
zu der die NATO sich selbst mandatiert hat. Der Passus
im Mandat „Unterstützung spezifischer Operationen der
NATO oder weiterer Partner in Reaktion auf mögliche
terroristische Aktivitäten im Mittelmeer“ lässt genug
Spielraum zur Stützung möglicher NATO-Operationen
auch in Nordafrika. Das finde ich alles andere als harmlos.
Jetzt haben Sie eine neue Begründung für die Mittelmeermission entdeckt: die islamischen Terroristen in
Mali. Entschuldigung, das ist ein bisschen sehr weit weg
von der afrikanischen Mittelmeerküste. Und über die
maritimen Fähigkeiten von al-Qaida ist nichts bekannt.
Trotzdem sagen Sie, wir werden davon irgendwie bedroht. Für wie dumm halten Sie eigentlich die deutsche
Öffentlichkeit? OAE ist und bleibt eine Amtsanmaßung
der NATO, der eine solche weltpolizeiliche Aufgabe
nicht zukommt.
({8})
Dafür käme höchstens ein multilaterales Regime der
Anrainerstaaten unter dem Dach der Vereinten Nationen
infrage.
({9})
Aber die NATO agiert im Mittelmeer frei nach dem
Motto: Wir machen, was wir wollen, weil wir es können.
({10})
Dieser Art von Bündnispolitik, die auch noch gefährlich werden kann, muss die Solidarität verweigert werden. Der Antrag der Bundesregierung ist abzulehnen.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katja Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Alle Jahre
wieder kommt das OAE-Mandat, von dem wir sonst
über das Jahr wirklich nicht viel hören. Alle Jahre wieder fragen wir uns, was das eigentlich für eine bewaffnete Auseinandersetzung sein soll, für die wir 700 Soldaten mandatieren. In der letzten Woche waren
tatsächlich faktisch 5 davon im Einsatz. Was sind das für
terroristische Aktivitäten, die im Mittelmeerraum bekämpft werden? Informationsgewinnung ist völlig okay,
Herr Minister, aber dafür brauchen wir keinen bewaffneten Einsatz.
({0})
Völkerrechtliche Grundlage für das Mandat ist immer
noch das Selbstverteidigungsrecht der USA elf Jahren
nach den Angriffen auf das World Trade Center. Dieser
Angriff im Sinne des Art. 51 der Charta der Vereinten
Nationen soll angeblich - der Minister hat es gesagt bis heute andauern. Damit machen Sie sich die Auffassung unseres Bündnispartners zu eigen, die lautet, seit
dem 11. September 2001 befinde man sich durchgehend
und weltweit im Krieg, im sogenannten War on Terror.
Vor diesem Hintergrund meint die amerikanische Regierung, weltweit bewaffnete Einsätze ohne Mandat des
Sicherheitsrates durchführen zu können, inklusive der
gezielten Tötung verdächtiger Personen und ihrer Angehörigen in Pakistan, im Jemen, in Somalia und überall,
wo man diese vermutet. So sehr wir uns alle über den
Wahlausgang in den USA gefreut haben - aber das müssen sich unsere amerikanischen Freunde einfach sagen
lassen: Diese Auffassung ist keine Interpretation des
Völkerrechts; es ist die Negierung des Völkerrechts.
({1})
Gerade unter Freunden und Bündnispartnern muss man
einmal ehrlich zueinander sein, auch wenn es schwerfällt.
Wie lange soll der Bündnisfall, der am 11. September
2001 festgestellt wurde, denn eigentlich noch dauern?
Niemand hat bisher darüber nachgedacht, wie ein solcher Bündnisfall wieder beendet wird. Das war zu Zeiten
des Kalten Krieges vielleicht noch nachvollziehbar, da
man den Bündnisfall für abschreckend genug hielt, dass
er niemals eintritt. Jetzt, wo er eingetreten ist, muss er
aber auch wieder beendet werden. Das kann unseres
Erachtens nur durch einen entsprechenden Beschluss der
NATO geschehen.
Wir haben daher einen Antrag in den Bundestag eingebracht, mit dem wir die Bundesregierung auffordern,
sich im Bündnis für einen solchen Aufhebungsbeschluss
einzusetzen. Diesen Antrag werden wir dann zur zweiten
Lesung dieses Mandats zur Abstimmung vorlegen.
Dem Mandat fehlt es aber nicht nur an völkerrechtlicher Legitimation, sondern auch an einer sinnvollen Begründung. Letzes Jahr hieß es dazu noch, die Operation
Active Endeavour biete einen Ansatzpunkt zur Implementierung der aktuellen maritimen Strategie der NATO.
Offensichtlich ist Ihnen inzwischen selbst aufgefallen,
dass dies nicht zur Legitimierung eines bewaffneten Einsatzes geeignet ist.
({2})
Stattdessen werden jetzt die Lage in Syrien und die
Islamisten in Mali herangezogen. Wörtlich heißt es in
der Begründung:
In Nordafrika sind Aktivitäten terroristischer Gruppierungen festzustellen, insbesondere der al-Qaida
im Maghreb.
Außerdem habe die Krise in Syrien mittlerweile eine
regionale Dimension angenommen.
Diese Begründung macht es nicht besser: Wie sollen
der Bürgerkrieg in Syrien und die Krise in Mali mit UBooten im Mittelmeer bekämpft werden?
({3})
Weiter heißt es in der Begründung wörtlich:
Die Operation Active Endeavour … entfaltet durch
ihre abschreckende Funktion eine präventive
Wirkung.
Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst.
({4})
Die Tatsache, dass deutsche Fregatten auf dem Weg
zum Horn von Afrika auf ihrer Durchfahrt durchs Mittelmeer vorübergehend unter OAE-Mandat fahren, hat in
den letzten Jahren offensichtlich wenig Abschreckung
auf die terroristischen Aktivitäten von al-Qaida in der
südlichen Sahara gehabt,
({5})
wo sie erstmals ein Gebiet kontrollieren, dass doppelt so
groß ist wie die Bundesrepublik.
({6})
Ohne eine sinnvolle Begründung und ohne eine
völkerrechtliche Legitimation fällt meiner Fraktion ein
geschlossenes Abstimmungsverhalten endlich einmal
leicht. Wir lehnen dieses Mandat ab. Wenn Sie Ihrem
Außenminister bei den erforderlichen Gesprächen mit
den Amerikanern den Rücken stärken wollen - dass
diese Gespräche stattfinden, haben wir gerade vom
Staatsminister gehört -, dann sollten Sie das vielleicht
auch tun.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Minister hat zu Recht mit der Erinnerung an
den 11. September begonnen. Ich möchte daran anschließen. Zwar war es nicht die Union, die den Begriff
„uneingeschränkte Solidarität“ im Munde geführt hat,
sondern es waren Vertreter anderer Parteien, aber nichtsdestotrotz müssen wir uns auch deshalb an diese
schrecklichen Ereignisse erinnern, weil wir die Verpflichtung haben, präventiv tätig zu sein.
Deshalb haben wir diesen Aspekt auch in der
Mandatsbegründung besonders betont. Man kann nicht
einfach sagen: Der Bündnisfall ist erledigt. - Erstens haben wir das im Bündnis nicht alleine zu entscheiden. Es
ist schließlich ein Bündnis. Herr Staatsminister Link hat
deutlich dargestellt, weshalb die Situation im Bündnis
nicht so simpel ist.
Zweitens frage ich Sie: Woher wollen Sie wissen,
dass die Bedrohungslage nicht gegeben ist? Die weltpolitische Situation ist schwieriger geworden. Mali und
Syrien sind erwähnt worden. Der arabische Frühling hat
viel Gutes gebracht; er hat aber auch neue Herausforderungen, insbesondere in der Region des Mittelmeers,
gebracht. Vor diesem Hintergrund schafft Präsenz
Sicherheit und verhindert sie nicht. Daher werben wir
für das Mandat, was wir uns gut überlegt haben. Wie bei
jedem Mandat - Herr Schäfer hat in einem Parforceritt
die Mandate miteinander verknüpft - stehen wir natürlich für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land ein. Natürlich sind auch wir froh, dass es
keinen Terroranschlag gegeben hat. Aber warum sind
wir bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus
in den letzten Jahren so erfolgreich? Gerade weil wir
aktiv sind und weil wir die Hände nicht in den Schoß
legen.
({0})
Die schwierige Situation in Mali wird uns in den
nächsten Wochen beschäftigen. Gerade weil die Situation in politischer Hinsicht, aber auch, was die Strukturen in den einzelnen Ländern angeht, so kompliziert ist,
sind die Antworten, die wir geben, kompliziert und nicht
einfach. Der kleine Beitrag, den wir im Rahmen dieser
Mission aktuell leisten, passt zu dem Ansatz, den wir in
der Terrorismusbekämpfung insgesamt gewählt haben:
Präsenz und Abschreckung - auch das sind Mittel zur
Terrorbekämpfung. Für ein Land wie Deutschland, das
als Exportnation ein hohes und gesteigertes Interesse an
sicheren Seewegen hat, ist das ein wichtiger Aspekt. Vor
diesem Hintergrund kann ich Ihre Absage an das Mandat
überhaupt nicht verstehen. Ich bin sogar erstaunt, dass es
der Russischen Föderation leichterfällt, bei diesem Mandat mitzumachen,
({1})
dass es der Ukraine leichtfällt, bei einem NATO-Einsatz
mitzumachen, aber die Opposition hier das geschlossen
für Unfug erklärt. Deshalb sage ich: Wenn ein breiter
Konsens besteht, gegen den internationalen Terrorismus
vorzugehen, dann verstehe ich nicht, warum Sie sich aus
dieser guten Koalition verabschieden.
({2})
Gerade Sie haben den Kampf gegen den internationalen
Terrorismus 2001 unter Rot-Grün, unter Schröder/Fischer
angeführt, indem Sie nach Afghanistan gegangen sind.
Wir sind bemüht, den Bündnisfall in Verantwortung wieder zu beenden und die Truppen abzuziehen.
({3})
Gerade dieser Aufgabe fühlen sich die Regierungsfraktionen verpflichtet. Vielleicht sollte man sich generell - das gilt sowohl für diesen Einsatz als auch für andere; es ist von den Regierungsvertretern ja auch kritisch
angesprochen worden - bei zukünftigen Einsätzen überlegen, wie man Einsätze auch wieder beenden kann. Nur,
wir machen die Arbeit, die Sie nicht erledigt haben, um
das ganz deutlich zu sagen. Das Werben des Auswärtigen Amtes ist in dieser Debatte zur Sprache gekommen.
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass die Präsenz der internationalen Gemeinschaft, eine geschlossene Präsenz auch der NATO,
notwendig ist, um gegen den internationalen Terrorismus vorzugehen. Ich glaube, auch wenn unsere Soldatinnen und Soldaten nur zu einem geringen Teil dort beteiligt sind, gebührt ihnen Dank für das, was sie geleistet
haben. Unserer deutschen Marine - Vertreterinnen und
Vertreter sind heute anwesend - gebührt Dank dafür,
dass sie diese wichtige Aufgabe übernehmen, ob an Feiertagen, ob an Geburtstagen, oder in schwierigen Lagen:
({4})
Die deutsche Marine leistet dort einen hervorragenden
Einsatz.
Es gehört zum Selbstverständnis einer immer erwachsener werdenden Nation wie unserer dazu, dass wir
bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, dass wir uns
nicht wegducken, sondern dass wir auch im Bündnis zu
unserer Verantwortung stehen und dann versuchen, politische Ansätze zu finden, um gemeinsam mit Bündnispartnern - vielleicht bei späteren und weitergehenden
Einsätzen - schon am Anfang zu überlegen, wie man
diese zu einem guten Ende führen kann, um nicht kopflos in Dinge hineinzugehen, aus denen man später nur
schwierig herauskommt, wie wir in Afghanistan sehen.
Das ist eine Lehre, die sowohl für die Regierungskoalition als auch für diejenigen gilt, die diese Einsätze angeführt haben, nämlich für Sie von der Opposition.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11466 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie Zusatzpunkt 8 auf:
13 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Roth ({1}), René Röspel, Dr. Sascha
Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Für eine Generation frei von Aids/HIV bis
2015 - Anstrengungen verstärken und Zusagen in der Entwicklungspolitik einhalten
- Drucksachen 17/10096, 17/11711 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({2})Karin Roth ({3})Helga DaubNiema MovassatUwe Kekeritz
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Petra Pau
Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen
- Drucksachen 17/8493, 17/9713 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({5})Karin Roth ({6})Helga DaubNiema MovassatUwe Kekeritz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich würde jetzt zu gern die Aussprache eröffnen.
({7})
- Gut. Dann gehe ich davon aus, dass mir der Geschäftsführer der FDP-Fraktion bis zum Ende des Tagesordnungspunktes den Beitrag der Kollegin Helga Daub zu
Protokoll gibt.
Das Wort hat nun die Kollegin Karin Roth für die
SPD-Fraktion.
({8})
Ja, Frau Präsidentin, so ist das mit der FDP: Das
Ministerium ist auch nicht da.
({0})
Es ist ja nicht nur die Berichterstatterin. Vielmehr sind
auch Herr Niebel, der Minister, und die Staatssekretärin
offensichtlich nicht in der Lage, diese wichtige Diskussion hier mitzuverfolgen. Immerhin geht es um den
Welt-Aids-Tag am 1. Dezember. Das ist für uns ein guter
Anlass, beispielsweise auch über die parlamentarischen
Aktivitäten bei uns zu diskutieren und darüber, was das
Ministerium macht. Ich finde, das ist eigentlich nicht in
Ordnung.
({1})
Aber so sind wir es bei diesem Minister gewohnt.
({2})
Lassen Sie mich nach dieser schlechten Botschaft zunächst die guten Botschaften nennen: Dank der gemeinsamen internationalen Anstrengungen in den letzten Jahren von Regierungen in den Industriestaaten und den
Entwicklungsländern kann der UN-Aids-Bericht von
2012 feststellen, dass durch die Aids-Politik in den letzten Jahren, seit 2005, ein Rückgang von Todesfällen um
24 Prozent zu verzeichnen ist. Das ist wahrlich eine gute
Botschaft. Immerhin mehr als 600 000 Menschen können jetzt leben; ansonsten hätten sie sterben müssen.
({3})
Dies ist vor allem auch dem verbesserten Zugang zu
den Medikamenten zu verdanken. Dies war auch nur
möglich, weil die Weltgemeinschaft für die Initiative des
Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose
und Malaria seit 2001 Milliarden Dollar zur Verfügung
gestellt hat. Auch Deutschland war von Anfang an dabei
und hat mit seinen Beiträgen Betroffenen geholfen. An
der Stelle ist auch ein Dank an den Globalen Fonds zu
richten; denn immerhin 3,6 Millionen Menschen wurden
mit lebensnotwendigen Aids-Medikamenten versorgt.
Das ist ein gutes Beispiel für internationale Politik.
({4})
Es gibt noch eine weitere gute Botschaft. Die Neuinfektionen sind weltweit auf dem niedrigsten Stand seit
dem Höhepunkt der Epidemie in den 90er-Jahren. Auch
das ist wichtig, dass man sieht: Man kann etwas bewirken. Immerhin - das ist leider eine Tatsache - haben sich
noch immer 2,5 Millionen Menschen neu infiziert. Aber
in Malawi, Botswana und Äthiopien sind die Neuinfektionsraten um 50 Prozent gesunken. Das ist für uns Ermutigung, um auf diesem Weg weiterzumachen.
({5})
Das heißt, die Präventionsmaßnahmen, die Aktionen
in den Ländern zur Verteilung von Kondomen, müssen
weiter unterstützt werden. Wir tun so lange, bis ein
Impfstoff entwickelt ist, gut daran, diese Kampagne
- übrigens auch in unserem Land mit 78 000 Infizierten weiter fortzusetzen und nicht nachzulassen.
({6})
Deshalb ist der Welt-Aids-Tag so wichtig: Wir sollen
von dieser Krankheit nicht ablenken und sollen sie nicht
vergessen. Ohne die von Deutschland aus weltweit agierenden Nichtregierungsorganisationen hätten wir diese
Erfolge jedoch nicht erreicht. Sie sind es, die uns immer
wieder darauf hinweisen und das oftmals verschwiegene
Thema HIV/Aids auf die Tagesordnung setzen. Darüber
sind wir sehr froh. Sie zwingen uns dadurch auch zum
Handeln, weil sie unermüdlich in der Sache kämpfen.
Das ist auch gut so.
({7})
Ich danke deshalb den ehrenamtlichen und den hauptamtlichen Akteuren dafür, dass sie mit diesen Aktionen
letztlich auch an unsere Verantwortung appellieren und
34 Millionen Menschen, die HIV-infiziert sind, immer
wieder zum Gegenstand von Debatten machen.
Sie rütteln auf, trotz Euro-Krise und trotz Nahostkonflikt, damit wir an dieser Stelle die Menschen nicht vergessen. Ohne ein „Aktionsbündnis gegen Aids“ in
Deutschland und weltweit, ohne „Ärzte ohne Grenzen“,
ohne „ONE“, „World Vision“, die „Stiftung Weltbevölkerung“ und viele andere Aktionsgruppen mehr hätten
wir diese Erfolge nicht erreicht. Das muss an diesem
heutigen Tag auch gesagt sein.
Karin Roth ({8})
({9})
Ihre Expertise und ihre Kompetenz sind für wissenschaftliche und politische Debatten unerlässlich. Im Dialog mit ihnen und der Wissenschaft erhalten wir wichtige Impulse, und unsere Strategien und Maßnahmen
werden dadurch verbessert. Es ist auch kein Wunder,
dass der Globale Fonds Vertreter dieser Zivilgesellschaft
in das Board, also in die Entscheidungsgremien, aufgenommen hat. Wir können uns daran ein Beispiel nehmen, indem wir und auch die Entwicklungsländer die
Kompetenzen dieser Zivilgesellschaft aufgreifen.
({10})
Zu guter Letzt gibt es eine weitere gute Nachricht. Bis
2015 können wir eine aidsfreie Generation erreichen,
wenn wir alle Kräfte zusammennehmen und sie bündeln.
Weltweit leben 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren mit
HIV/Aids, weil Mutter und Kind nicht behandelt wurden. Immer noch sind 58 Prozent der Infizierten Frauen;
denn es gibt nicht genügend Medikamente für diese Personengruppen.
Deshalb geht es darum, dass wir die guten Medikamente, die jetzt entwickelt wurden, endlich einsetzen,
beginnend bei der Schwangerschaft über die Geburt bis
zur Stillzeit, also für den gesamten entscheidenden Zeitraum. Anschließend sind die Kinder aidsfrei. Was für
eine Chance, was für eine Möglichkeit! Wir dürfen diese
Chance nicht vertun.
({11})
Bisher bekommen nur 28 Prozent der infizierten Kinder Medikamente. Das müssen wir ändern, und wir können es ändern. Lassen Sie uns, so wie 2001 international
beschlossen, alles tun, um den Zugang der infizierten
Schwangeren zu medizinischer Versorgung zu verbessern. Eine aidsfreie Generation ist keine Vision. Es ist
möglich. Es kann Wirklichkeit werden.
({12})
Dafür tragen wir die Verantwortung.
Eine aidsfreie Generation bedeutet auch, dass wir die
Menschen nicht im Stich lassen. Ohne zusätzliche finanzielle Aktivitäten ist das nicht möglich. Ich bin froh,
dass meine Fraktion aus gutem Grund die Erhöhung der
Mittel für den Globalen Fonds von 200 Millionen Euro
auf 400 Millionen Euro jährlich vorgeschlagen und in
unseren Antrag eingebracht hat.
({13})
Darüber freue ich mich sehr. Damit soll gewährleistet
werden, dass die drei großen Krankheiten - Malaria, Tuberkulose und Aids - bekämpft werden. Denn an diesen
drei großen Krankheiten sterben die meisten Menschen.
Hier hilft auch kein Kartenspielertrick vom Minister,
der nicht anwesend ist. Der Minister hat vor zwei Tagen
eine Presseerklärung mit der Ankündigung „1 Milliarde
Euro für den Globalen Fonds“ herausgegeben. Er hat lediglich vergessen, dazuzuschreiben, dass sich diese
Summe auf fünf Jahre erstreckt. Ich habe nachgeschaut:
Zum Glück ist kein Journalist darauf hereingefallen.
({14})
So klug sind in der Zwischenzeit auch die Journalisten,
etwas genauer hinzuschauen, wenn es um Herrn Niebel
geht, der mit Niebel-Kerzen wirft. Mit Seriosität hat das
nichts zu tun.
Es kommt darauf an, diese Geißel der Menschheit
ernst zu nehmen. Es geht immerhin um Millionen Menschen. Es geht um Kinder, die heute von dieser Krankheit betroffen sind oder es morgen sein können.
Wir wissen, dass es nach wie vor die Stigmatisierung
von bestimmten Gruppen gibt, insbesondere von Sexarbeiterinnen - das sind die Frauen - und Homosexuellen. Wir müssen alles tun, damit auch bei diesen Gruppen enttabuisiert und entkriminalisiert wird. Das ist eine
große Aufgabe, auch in den Entwicklungsländern. Dort
gibt es noch sehr große Vorbehalte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen daher
Sie unseren Antrag „Für eine Generation frei von Aids/
HIV bis 2015“! Dazu brauchen wir politische und finanzielle Unterstützung. Wenn wir das schaffen, tragen wir
Hoffnung in die Länder, in denen Aids-Waisen und Aids
Alltag sind. Enttäuschen wir deshalb diese Hoffnungen
nicht; denn sie sind das eigentlich Wichtige, das wir den
Menschen in diesen Zeiten bringen können.
Ich danke und hoffe, dass Sie unseren Antrag unterstützen.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mich erreichte gerade die Nachricht, dass Frau Parlamentarische Staatssekretärin Kopp auf dem Weg hierher war, aber erkrankt
ist. Sie ist damit für diese Debatte entschuldigt. Das will
ich an dieser Stelle der Vollständigkeit halber sagen. Ich
denke, wir alle wünschen ihr gute Besserung.
Wir setzen die Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin
Sabine Weiss für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Das erste Mal ist mir so richtig bewusst geworden, mit welch furchtbarer Kraft und auch Endgültigkeit
Aids Leben zerstört, als ich vor vielen Jahren als Rechtsanwältin einen Fall für die Aidshilfe übernommen habe.
Ich habe damals die Verteidigung einer jungen aidskranken Frau übernommen, die wiederholt vor Gericht stand.
In dem seinerzeitigen Verfahren ging es um den Diebstahl eines Lippenstiftes. Da die junge Frau aber schon
Sabine Weiss ({0})
mehrfach straffällig geworden war, drohte nun eine Haftstrafe von insgesamt anderthalb Jahren. Mein Hauptargument in der Verteidigung war, dass die Verbüßung einer
nun anstehenden 18-monatigen Haftstrafe faktisch
gleichzusetzen sei mit einer lebenslänglichen Haft; denn
die Lebenserwartung der Frau betrug aufgrund ihrer
Aids-Erkrankung keine 18 Monate mehr.
Das alles ist mittlerweile deutlich mehr als 15 Jahre
her. Seitdem hat sich glücklicherweise viel getan. Dank
guter Therapien ist die Lebenserwartung von HIV/AidsPatienten um Jahrzehnte gestiegen. Dank einer Medikamentenkombination kann mittlerweile sogar die Übertragung des HI-Virus von der werdenden Mutter auf das
Kind verhindert werden.
Dass diese lebensrettenden Medikamente nicht nur in
den reichen Industrieländern zur Verfügung stehen, sondern auch den Menschen in den Entwicklungsländern,
ist eine großartige Leistung. Solche Erfolge hätte vor
Jahren noch kaum jemand für möglich gehalten.
Auch die neuesten Zahlen der Vereinten Nationen
machen Mut und Hoffnung - Frau Kollegin Roth, Sie
haben es gesagt -, dass nach all den Jahren mit immer
höheren Zahlen von Neuinfektionen und Todesfällen
endlich ein Scheitelpunkt erreicht sein könnte. Damit
rückt die Vision einer HIV-freien Generation in erreichbare Nähe. Das sind endlich zunächst einmal gute Nachrichten im Kampf gegen diese heimtückische Krankheit.
Doch: Jeder Aids-Tote ist natürlich einer zu viel. Der
Weg zu einer aidsfreien Generation ist noch lang und
steinig; denn die Gesamtbilanz der Krankheit ist nach
wie vor verheerend. Jedes Jahr infizieren sich immer
noch 390 000 Neugeborene durch die Mutter mit dem
Virus. Immer noch hat rund die Hälfte der Infizierten
keinen Zugang zu lebensrettenden Medikamenten. Und
jeden Tag infizieren sich 7 000 Menschen neu mit HIV.
Es gibt also noch viel zu tun.
Die schärfste und auch beste Waffe im Kampf gegen
diese heimtückische Krankheit ist die Infektionsvorbeugung. Weitreichende Aufklärung über die Krankheit und
Ansteckungsvermeidung sind daher essenziell auf dem
Weg zu dem Ziel der Vereinten Nationen, null Neuinfektionen, null Diskriminierung und null Todesfälle durch
Aids zu erreichen. Prävention ist daher ein zentraler
Punkt des deutschen Engagements.
({1})
Deutschland gehört zu den größten Gebern im Kampf
gegen HIV/Aids. Ein wichtiges Instrument dabei ist der
Globale Fonds, dem wir viele der nun erreichten Erfolge
mit zu verdanken haben. Es ist gut, dass der Globale
Fonds mittlerweile seine Arbeitsweise reformiert hat.
Ich bin daher froh, dass Deutschland als drittgrößter Geber den Globalen Fonds mit 200 Millionen Euro jährlich
in seiner wichtigen Arbeit unterstützt.
Wir setzen aber in unserer Entwicklungszusammenarbeit nicht nur auf ein Pferd. Vielmehr engagiert sich
Deutschland auch sehr erfolgreich bilateral in der HIV-/
Aids-Bekämpfung. Einen großen Teil der 30 Forderungen in Ihrem Antrag, Frau Roth, erfüllt die Bundesregierung also bereits. Das kann man im Übrigen im Positionspapier des BMZ zu diesem Thema nachlesen.
({2})
Letzte Woche - ich hatte das im Ausschuss schon erwähnt - hat Ihr Kanzlerkandidat an dieser Stelle erklärt,
der Schuldenabbau komme nicht schnell genug voran
und mit ihm hätte es keine neuen Schulden gegeben.
({3})
Sie fordern einmal eben mehrere Hundert Millionen
Euro mehr. Woher das Geld kommen soll, dazu finde ich
in Ihrem Antrag leider nichts. Noch einmal: Niemand in
diesem Raum glaubt doch ernsthaft, dass der SPD-Kanzlerkandidat eine Erhöhung der Gelder für den Globalen
Fonds auch nur angedacht hätte.
({4})
Im Übrigen - das noch abschließend - versteht es sich
von selbst, dass ein Antrag mit Anwürfen, die jeglicher
Grundlage entbehren, nicht unsere Zustimmung finden
kann. Behauptungen wie die, die Bundesregierung ließe
im Bereich HIV/Aids ihren vollmundigen Ankündigungen keine Taten folgen,
({5})
sind schlicht und einfach falsch. Dazu gibt es nichts
mehr zu sagen.
({6})
Deutschland ist als einer der größten Geber im Kampf
gegen HIV/Aids sehr erfolgreich. Deutschland wird weiter engagiert gegen diese Geißel der Menschheit kämpfen. Ihren Antrag lehnen wir aber ab.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion der Linken hat nun der Kollege
Niema Movassat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weil wir
heute über das Thema HIV/Aids reden, möchte ich vorweg
allen Ärztinnen und Ärzten, Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit, Forschern, Krankenschwestern und
-pflegern, Hebammen, Nichtregierungsorganisationen,
dem Globalen Fonds und allen anderen danken, die so
unermüdlich dafür kämpfen, die Ausbreitung von Aids
zu beenden.
({0})
Es gibt Erfolge: Immer mehr Betroffene erhalten die
notwendigen Medikamente. Die Zahl der Neuinfektionen geht seit Jahren zurück. - Der Kampf gegen Aids
zeigt, wozu die Menschheit in der Lage ist, wenn sie sich
konsequent einem Problem stellt und Maßnahmen dagegen ergreift. Dasselbe Engagement brauchten wir bei der
Durchsetzung des generellen Menschenrechts auf Gesundheit und auch und vor allem im Kampf gegen Armut
und Hunger.
({1})
Der Kampf gegen Aids ist noch nicht gewonnen.
Noch immer infizieren sich jede Minute fünf Menschen
mit dem HI-Virus. Insbesondere die Mutter-Kind-Übertragung, der fehlende Zugang zu Prävention, beispielsweise Kondomen, und eine fehlende Behandlung in den
ärmsten Ländern der Welt gefährden das Erreichte.
Der Drogengebrauch ist heute übrigens für durchschnittlich ein Drittel aller weltweiten HIV-Neuinfektionen verantwortlich, Subsahara-Afrika ausgenommen.
Hierbei sagen wissenschaftliche Studien ganz klar: Je repressiver die Drogenpolitik, desto höher das Aids-Risiko. SPD, FDP und Union sollten deswegen ihre repressive Drogenpolitik endlich überdenken. Auch das wäre
ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen Aids.
({2})
Nun zum vorliegenden SPD-Antrag. Wir werden ihm
zustimmen. Viele ihrer Forderungen hat die Linke bereits im letzten Jahr in einem Antrag erhoben. Ich nenne
einige Beispiele: Um eine bezahlbare Medikamentenversorgung auch der ärmsten Länder zu gewährleisten,
brauchen wir unbedingt Generika, die preiswerte Kopie
des Originals.
({3})
Die Forderungen nach den dafür notwendigen Flexibilitäten beim Handelsabkommen TRIPS im Bereich der
Eigentumsrechte sind im vorliegenden Antrag fast deckungsgleich mit unseren. Auch unsere Forderung, die
Bundesregierung solle die Produktentwicklungspartnerschaften auf die Bereiche HIV/Aids und Tuberkulose
ausdehnen, haben Sie übernommen - fast wortgleich
auch: Sie wollen die Vorgabe, dass nur ein Drittel der
Entwicklungshilfegelder für multilaterale Instrumente,
also beispielsweise Organisationen der UN, ausgegeben
werden darf, aufheben. Diese Liste ließe sich fortsetzen.
Ich bin froh, dass wir uns inzwischen in so vielen
Punkten einig sind. Aber gerade deshalb finde ich es
umso unverständlicher, dass Sie von der SPD sich geweigert haben, unseren Antrag heute gemeinsam mit Ihrem zu debattieren. Man gewinnt den Eindruck, Sie wollen damit kaschieren, wie viel Sie eigentlich bei uns
abgeschrieben haben.
({4})
2010 haben wir hier einen Antrag mit der Forderung
eingebracht, die Steigerung der Entwicklungshilfequote
auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens verbindlich festzulegen. Sie von der SPD haben damals dagegen
gestimmt. Nun stellen Sie dieselbe Forderung in Ihrem
Antrag. Ein wenig schizophren ist das schon. Dank der
Koalition ist die Realisierung dieser Forderung inzwischen leider unrealistisch.
Diese Bundesregierung gibt im globalen Kampf gegen HIV/Aids eine klägliche Figur ab. Auf Worte folgen
wenige Taten. Ausgerechnet der deutsche Entwicklungsminister hat die Arbeit des Globalen Fonds, der einen
entscheidenden Beitrag zum weltweiten Kampf gegen
Aids leistet, torpediert. Zwischendurch wollte er den
deutschen Beitrag sogar gänzlich streichen. In den letzten drei Jahren hat er das Geld nur mit großer Verzögerung bereitgestellt und die finanziellen Mittel um keinen
Cent erhöht. Damit tappt Herr Niebel in die Falle, vor
der alle Experten warnen: Allein aufgrund der bisherigen
Erfolge sollte man nicht in den Anstrengungen nachlassen.
Gemessen an der deutschen Wirtschaftskraft und am
tatsächlichen Bedarf des Globalen Fonds wäre ein Beitrag von mindestens 400 Millionen Euro für Deutschland angemessen; doch Sie bleiben auch dieses Jahr bei
nur 200 Millionen Euro. So werden wir Aids nicht endgültig besiegen. Statt warmer Worte brauchen wir mehr
Taten von dieser Regierung.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Uwe Kekeritz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben jetzt sehr oft gehört, was wir alles leisten.
Frau Kollegin Weiss, es ist ja schön, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir der drittgrößte Geber für den
Global Fund sind.
({0})
Wenn wir über das Thema Entwicklungszusammenarbeit diskutieren, müssen wir aber auch auf die Prozente
schauen. Es ist klar, dass kleinere Länder nicht so viel
leisten können. Wenn ich auf die traurigen 0,38 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts schaue, die wir zurzeit zur
Verfügung stellen, wird mir bewusst, dass diese Regierung weit hinter ihrem Versprechen zurückbleibt. Die
Kürzungen, die Sie jetzt durchgedrückt haben, verschlimmern diese Situation sogar noch.
Ich denke, dass die Politik dieser Regierung alles andere als positiv ist. Das verstehe ich überhaupt nicht. Unsere Vorlagen im AwZ werden regelmäßig von Ihnen,
den Kollegen der Koalition, gelobt und für richtig befunden. Am Schluss werden sie aber einfach abgelehnt.
Kein Wunder, dass Ihre Politik solche Schwächen aufweist.
({1})
Es ist aber nicht nur Ihre Weigerung, die Ideen der
Opposition aufzugreifen, die eine bessere Politik im
Hause Niebel verhindert. Wenn ein Minister durch seine
eigenen Parteifreunde im Haushaltsausschuss kaltgestellt wird, hat er es natürlich verdammt schwer. Da nützt
es ihm auch nichts, von einer „Lebenslüge“ zu sprechen.
({2})
- Es geht um Finanzen, Frau Kollegin Pfeiffer. - Es geht
um die Lebenslüge, die er heute Morgen als solche entdeckt hat. Herr Niebel ist aber kein Opfer eines süßen
Traumes, der sich jetzt plötzlich in Luft aufgelöst hat,
sondern Herr Niebel hat mit der Kanzlerin dieses Haus
und die Öffentlichkeit seit Jahren bewusst getäuscht.
({3})
Sie haben nie daran gedacht, das 0,7-Prozent-Ziel auch
tatsächlich umzusetzen. Damit hängt aber zusammen,
wie viel Geld wir zur Verfügung haben oder eben nicht.
Dass Minister Niebel auch noch von seinem eigenen
Ausschuss gezwungen wird, der Kürzung seines Etats
zuzustimmen, zeigt, welchen Stellenwert die EZ in der
Koalition hat: einen ziemlich geringen. Dann kommt
von der Koalition immer wieder die Geschichte vom
halb vollen Glas.
({4})
- Frau Pfeiffer, wenn Sie den Mut dazu haben, dann stellen Sie doch eine Zwischenfrage.
({5})
- Aha.
({6})
Möchten Sie die Zwischenfrage zulassen? - Bitte
schön.
Herr Kollege, es ist mir eigentlich zu albern, das immer und immer wieder zu wiederholen:
({0})
Seitdem die Bundeskanzlerin Angela Merkel heißt, haben wir den Haushalt verdoppelt.
({1})
Oder wollen Sie das abstreiten?
({2})
Nein, das wollen wir nicht abstreiten. - Ich will das nur
noch einmal sagen, weil ich es definitiv nicht mehr hören kann. Ich brauche auch keine Antwort, Herr Kollege.
Ich stelle das nur fest, damit Sie nicht immer und immer
wieder dieselben Behauptungen aufstellen.
Frau Kollegin, so geht das nicht. Sie können hier
nicht Fragen stellen und dann sagen: Ich erwarte darauf
keine Antwort. Eine Kurzintervention macht man am
Schluss.
Sie wissen genau, dass das nicht stimmt. Der Haushalt des BMZ ist nicht verdoppelt worden, das ist definitiv nicht der Fall. Wir sind jetzt bei 7 Milliarden Euro.
Früher lag er demnach bei 3 Milliarden Euro?
({0})
Sie haben da einfach falsche Zahlen im Kopf. Das, was
ich Ihnen erzähle, hängt mit den Ausgaben zusammen.
Frau Kollegin Roth hat es gesagt: Das ist eine Frage der
Investitionen. Die Investitionen im Bereich HIV/Aids
sind die effektivsten Investitionen, die wir verzeichnen.
Können Sie mir irgendeinen anderen Bereich nennen, in
dem Geld produktiver investiert wird als in diesem Bereich? Darum sollten wir auch nicht darauf verzichten,
die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen.
({1})
Der Bereich Prävention wurde schon angesprochen.
Das ist ein sehr effektiver Bereich, der nicht nur individuelle Auswirkungen hat. Eine rechtzeitige medikamentöse Behandlung reduziert zum Beispiel auch die Übertragungswahrscheinlichkeiten erheblich; das ist eine
relativ neue Erkenntnis. Zur HIV-/Aids-Prävention gehören natürlich auch die Bereiche Bildung und Aufklärung. Dazu gehört auch der Bereich Frauen- und Mädchenrechte. Auch in diesem Bereich ist sehr viel
geleistet worden.
Meine Damen und Herren, die Anträge von SPD und
Grünen belegen, dass die Gläser halb voll sind. Wir müssen jetzt zeigen, wie wir diese Gläser ganz voll machen im Interesse der einzelnen Menschen, aber auch im Interesse der Nationen, in denen sie leben. Eine Aufstockung
des Global Fund wäre fundamental wichtig.
Bei so vielen Erfolgsmeldungen muss doch auch der
Koalition langsam der Verdacht kommen, dass die enormen Erfolge nur multilateral zustande gekommen sind.
Bilateral hätten wir diese Erfolge nie und nimmer erreichen können.
({2})
Es gibt Bereiche, in denen bilaterale EZ sinnvoll ist; aber
Ihr verbohrter und engstirniger Kampf gegen die multilateralen Ansätze gehört einfach auf den Müllhaufen der
Geschichte.
({3})
Entwicklungszusammenarbeit sollte kein Kampf sein,
sondern auf Kooperation, Transparenz und einer gemeinsamen Zielorientierung basieren. Nur so lässt sich
der Welt-Aids-Tag würdevoll und vor allem glaubwürdig begehen.
Danke schön.
({4})
Ich weise gerne darauf hin, dass es bei Zwischeninterventionen möglich ist, keine Frage zu stellen.
Ich bitte jetzt Johannes Selle, für die CDU/CSU das
Wort zu ergreifen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Lebenserwartung in den Entwicklungsländern liegt bis
zu 30 Jahre unter der in den Industriestaaten. Jedes Jahr
sterben Millionen Menschen an armutsbedingten vernachlässigten Krankheiten, deren Behandlung möglich
gewesen wäre. Das ist eine traurige Realität.
Weltweit sind mehr als 1 Milliarde Menschen an Malaria, HIV und Tuberkulose sowie an 15 weiteren bei uns
eher unbekannten Tropenkrankheiten wie Bilharziose
oder Elefantiasis erkrankt. Weltweit hungert eine gleiche
Anzahl von Menschen. Dabei wird Krankheit oft zur Ursache von Armut und Armut oft zur Ursache von Krankheit.
Seit der Verabschiedung der Millenniumserklärung
im Jahr 2000 sind die Ausgaben für Gesundheit weltweit
stark gestiegen. Die Anstrengungen waren erfolgreich,
wie man an der Senkung der Zahl der HIV-Neuerkrankungen, aber auch an der gesunkenen Kindersterblichkeit sehen kann. Anstrengungen lohnen sich; es bleibt
noch viel zu tun.
Gesundheit ist ein wichtiger Baustein unserer Politik
in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und Forschung. In Deutschland investiert das Bundesministerium für Bildung und Forschung jährlich 11 Millionen
Euro in die Forschung an Universitäten und Forschungseinrichtungen, und zwar immer stärker auch in den Bereich wenig erforschter Krankheiten. Speziell für die unerforschten Krankheiten wurde das Deutsche Zentrum
für Infektionsforschung gegründet.
Auf das Problem der vernachlässigten Krankheiten
hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung
auch durch die Förderung von Produktentwicklungspartnerschaften, sogenannten PDPs, reagiert. Seit 2011 werden bis 2014 jährlich 20 Millionen Euro ausgegeben.
PDPs sind internationale Non-Profit-Organisationen,
die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Impfstoffe, Medikamente und - das ist ganz wichtig - Präventionsmethoden gegen armutsassoziierte und vernachlässigte
Krankheiten wie die genannten Krankheiten oder eben
auch Krankheiten mit hoher Mortalität bei Kindern wie
Meningitis oder Durchfall zu entwickeln, die dann kostengünstig in den Entwicklungsländern auf den Markt
gebracht werden. Deutschland hat sich dazu verpflichtet,
an der Eindämmung der globalen HIV-Epidemie mitzuwirken.
({0})
Wir gehören zu den größten Gebern weltweit, und dabei
machen wir keineswegs eine klägliche Figur.
Die Gewährleistung eines universellen Zugangs zu
Vorsorge, Behandlung und Pflege für alle Menschen ist
und bleibt uns wichtig. Der Globale Fonds, der einen
wichtigen Beitrag leistet, wird von uns mit 200 Millionen Euro jährlich unterstützt. Wir unterstützen ebenfalls
die GAVI Alliance. Nicht unerwähnt dürfen die zusätzlichen bilateralen Projekte bleiben. Seit 2002 unterstützt
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit 47 Arbeitsplatzprogramme und -projekte, die der HIV-Prävention
und dem Zugang zur Behandlung dienen. Diese Vorhaben werden überwiegend als sogenannte Public-privatePartnership-Programme in Zusammenarbeit mit der
Wirtschaft in 15 Ländern, vor allem im südlichen Afrika,
umgesetzt.
Es gibt noch viele andere positive Beispiele: die Unterstützung von staatlichen HIV-Test- und HIV-Beratungsstellen und die Unterstützung von extrem armen
Haushalten in Malawi. Die von uns unterstützte Aufklärung und Bildung zum Thema HIV hat in Uganda Wirkung gezeigt. Dies ist sozusagen Bildung als sozialer
Impfstoff, wie es Bundesminister Niebel einmal sagte.
Einige Punkte aus den Anträgen der Oppositionsfraktionen verdienen es durchaus, verfolgt zu werden. Aber
nicht zu übersehen sind die Forderungen nach mehr
Geld. Im Antrag der Grünen sind es zum Beispiel
180 Millionen Euro, 80 Millionen Euro davon bei den
PDPs und 100 Millionen Euro beim Globalen Fonds.
Abgesehen von der im Haushalt nicht darstellbaren Erhöhung sollten wir zunächst unser Engagement evaluieren, das wir bei den PDPs eingegangen sind.
Im nächsten Jahr wird der designierte neue Chef des
Globalen Fonds, Mark Dybul, seine Arbeit aufnehmen.
Er hat angekündigt, Misswirtschaft entschieden zu bekämpfen. Immerhin ging es dabei um 34 Millionen Dollar. Wir haben unser Engagement verstetigt.
HIV/Aids gehört ausgerottet; da sind wir uns einig.
Aber leider schaffen wir es nicht einmal in Deutschland,
die Zahl der Neuinfektionen auf null zu senken. In diesem Jahr liegt die Zahl der Neuinfektionen bei 3 400,
wie wir gestern in der Süddeutschen Zeitung lesen konnten.
Insgesamt müssen wir die Anträge ablehnen. Die Diffamierung der Regierung durch die Grünen lässt erkennen, dass Sie es eigentlich auch gar nicht anders erwartet
haben.
({1})
Vielen Dank.
({2})
Aus dem Protokoll in die Wirklichkeit auferstanden
ist die Rede von Helga Daub für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Spät, aber eben nicht zu spät. - Dem Ziel, bis 2015
eine Generation frei von Aids zu haben, ist zuzustimmen. Das Ideal sollte man sich immer vor Augen halten,
um schließlich praktische Schritte einzuleiten. Zu den
praktischen Schritten komme ich noch.
Zunächst sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass es
durchaus nennenswerte Fortschritte bei der Bekämpfung von Aids und HIV gibt. Sie kennen sicherlich den
UNAIDS-Bericht, wonach die Zahl der Todesfälle in
den letzten fünf Jahren um 23 Prozent zurückgegangen
ist und die Zahl der Neuinfektionen weltweit auf dem
niedrigsten Stand seit dem Höhepunkt dieser Epidemie
ist. Das ist die gute Nachricht.
({0})
Das wollte ich zur Einleitung sagen.
Der Antrag der SPD enthält 30 Forderungen. Viel
Richtiges ist dabei; aber manches scheint mir - Entschuldigung, dass ich das so sage - ein bisschen an den
Haaren herbeigezogen. Eine kleine Kostprobe: Sie sagen, dass viele Medikamente gekühlt werden müssen,
was in armen heißen Ländern schwierig ist. Deshalb sei
Forschung nötig.
({1})
Liebe Kollegin Roth, zunächst einmal: Wir werden das
Problem, dass es in diesen Ländern heiß ist, nicht abstellen können. Also ist erst einmal Kühlung nötig; das ist
der erste Schritt. Weitere Forschung soll das natürlich
nicht ausschließen.
({2})
Eines möchte ich ganz klar und deutlich feststellen:
Der Vorwurf, Deutschland erfülle seine internationalen
Verpflichtungen nicht, ist von der Hand zu weisen.
({3})
Bestes Beispiel ist der Global Fund, bereits mehrfach
erwähnt. Deutschland ist drittgrößter Geber. Die von Ihnen geforderte Verdopplung der Mittel von 200 Millionen Euro auf 400 Millionen Euro per annum ist nicht nur
aus finanziellen Gründen utopisch.
({4})
Es fehlt auch die Absorptionsfähigkeit in den Entwicklungsländern. Sie kennen die Schwierigkeiten, die der
Global Fund beispielsweise in Uganda mit der Verteilung seiner Mittel hat.
({5})
Richtig ist: Der Eindämmung der HIV-Epidemie wird
in der deutschen Entwicklungspolitik eine herausgehobene Stellung eingeräumt. Unser wichtigstes Ziel ist es,
die Mutter-Kind-Übertragung zu verhindern. Aktuell unterstützt Deutschland in der bilateralen Zusammenarbeit
15 Partnerländer und zwei Regionen in Sachen Gesundheit, Familienplanung und HIV. Ein besonderer Fokus
liegt dabei auf den Ländern des südlichen und östlichen
Afrika. So unterstützen wir auch Partnerschaften zwischen afrikanischen und deutschen Krankenhäusern sowie Forschungseinrichtungen. Ganz konkret stärken wir
damit nationale Gesundheitssysteme. Diesen erfolgreichen Weg wollen wir natürlich weitergehen.
({6})
Daher freut es mich sehr, dass wir solche Kooperationen
ab dem kommenden Jahr auch auf den Bereich der Mütter- und Kindergesundheit ausdehnen werden.
({7})
Prävention bedeutet aber nicht nur medizinische
Maßnahmen, sondern vor allem auch Aufklärung. Damit
hatten wir in Deutschland große Erfolge; auch dort müssen wir das machen.
Wir wollen also neue Wege beschreiten. So werden
zum Beispiel subventionierte und daher für die Bevölkerung erschwingliche Kondome über den lokalen Einzelhandel vertrieben.
({8})
- Ach, Frau Roth. - Wir unterstützen im Rahmen der
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eine Vielzahl
dieser kleineren Projekte, und das mit sehr guten Ergebnissen.
Die Erfahrung zeigt, dass zivilgesellschaftliche Gruppen von der Bevölkerung in Entwicklungsländern besonders gut angenommen werden. Diese Expertise von Vertretern der Zivilgesellschaft muss man einbeziehen. Das
werden wir seitens der Bundesregierung und des Ministeriums auch tun.
Mit der Aufklärung müssen wir uns vor allen Dingen
an junge Menschen wenden, da in dieser Gruppe leider
Gottes die höchste Zahl von Neuinfektionen zu verzeichnen ist. Sehr erfolgreich ist zum Beispiel eine Initiative
in Mosambik, die ausgeweitet werden soll: Während des
Fußballtrainings werden junge Männer spielerisch über
Aids aufgeklärt; das kommt gut an. Mittlerweile soll
diese Initiative auch in anderen Provinzen durchgeführt
werden.
Wir wollen auch finanziell neue Wege gehen. Nur ein
Beispiel - im Ausschuss habe ich es schon erwähnt, Frau
Roth -: Deutschland setzt sich dafür ein - ich halte das
für eine großartige Idee -, dass Schuldnerländern Schulden erlassen werden, sofern die frei gewordenen Mittel
in die nationalen Gesundheitssysteme fließen; ich spreche von der Debt2Health-Initiative. - Ich könnte Ihnen
weitere innovative und erfolgreiche Initiativen vorstellen. Da wir im digitalen Zeitalter leben, empfehle ich Ihnen aber einen Blick auf die Homepage des BMZ. Übrigens sind viele Ihrer Forderungen in die Strategie des
BMZ eingeflossen.
Wir können zwar helfen, bessere Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern zu schaffen, und wir
können die Entwicklungsländer dabei unterstützen, den
Kampf gegen HIV zu führen. Aber die Entwicklungsländer müssen auch selbst einen Beitrag leisten; da können
wir sie nicht ganz außen vor lassen.
Jetzt komme ich zur Finanztransaktionsteuer, die, wie
immer wieder gefordert, zur Finanzierung herhalten soll.
({9})
Sie wissen, Frau Roth - ich habe es schon einmal gesagt -: Das ist ein Knochen, an dem schon viele Hunde
sind; will heißen: Auch andere haben schon ihre begehrlichen Blicke darauf geworfen. Diese Einnahmen würden also nicht nur dem Einzelplan 23 zufließen; das
muss uns leider Gottes klar sein.
Frau Daub, kommen Sie bitte zum Ende?
Ich komme zum Ende, ja.
Weil Ihr Antrag ein bisschen den Charakter eines
Wunschzettels an das Christkind hat, werden wir Ihren
Antrag ablehnen.
Danke, Frau Präsidentin.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Für eine Generation frei von Aids/HIV bis 2015 -
Anstrengungen verstärken und Zusagen in der Entwick-
lungspolitik einhalten“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11711, den
Antrag auf Drucksache 17/10096 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussemp-
fehlung angenommen bei Zustimmung durch die Ko-
alitionsfraktionen. SPD und Linke haben dagegen ge-
stimmt; Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen - Zugang
zu Medikamenten weltweit verwirklichen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/9713, den Antrag auf Drucksache 17/8493 ab-
zulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen. Bündnis 90/Die Grünen haben da-
gegen gestimmt; Linke und SPD haben sich enthalten.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a und b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 17/10771 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/11610 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Daniela Ludwig-
Gustav Herzog-
Werner Simmling-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer
({2}), Arnold Vaatz, Daniela Ludwig,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick
Döring, Michael Kauch, Birgit Homburger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Schienenlärm wirksam reduzieren - Schienengüterverkehr nachhaltig gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens Schutz der Menschen vor Straßen- und
Schienenlärm nachdrücklich verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom
Bahnlärm entlasten - Alternative Güterverkehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen
- Drucksachen 17/10780, 17/5461, 17/6452,
17/4652, 17/11610 Berichterstattung:Abgeordnete Daniela LudwigGustav HerzogWerner SimmlingDr. Valerie Wilms
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor.
Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und bitte um erhöhte Aufmerksamkeit, weil der Kollege Dirk Fischer uns jetzt
nicht nur mit seiner Rede beglücken wird, sondern auch
dadurch, dass er seinen Geburtstag, der nur noch wenige
Stunden andauert, anlässlich dieses Tagesordnungspunktes mit uns begehen wird. Ihnen herzlichen Glückwunsch und Gottes Segen!
({3})
Wir singen nicht. - Sie reden jetzt.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Vielen Dank, verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Als exportorientiertes Land
braucht Deutschland ein leistungsfähiges Schienennetz,
auf dem Waren und Güter bestmöglich transportiert werden können. Der Schienengüterverkehr ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Die Prognosen zeigen, dass diese Entwicklung anhalten wird. Ich sage
ganz deutlich: Wir wollen noch viel mehr;
({0})
denn das ist gut für Wachstum, für Wettbewerbsfähigkeit
und für Beschäftigung.
Mehr Schienengüterverkehr bringt aber auch mehr
Lärm für die Anwohner, insbesondere entlang viel befahrener Strecken mit dichter Besiedlung und engen Tälern, wie zum Beispiel im Rheintal. Dort haben wir erhebliche Probleme mit dem Schienenverkehrslärm, vor
allem weil diese Lärmbelastung nachts zwischen 1 und
5 Uhr an stark befahrenen Strecken besonders hoch ist,
weil dann besonders viel Güterverkehr ohne Einschränkung durch den vertakteten Personenverkehr abgewickelt
wird. Das heißt, der lauteste Schienenverkehr erfolgt
ausgerechnet in der Tiefschlafphase der Bevölkerung.
Das ist bei einem Universalnetz nicht anders möglich,
weil wir am Tage den vertakteten Personennah-, Regional- und Personenfernverkehr haben. Aber das gefährdet
die Gesundheit der Menschen. Deswegen müssen wir
die zunehmende Lärmbelastung durch den Schienengüterverkehr sehr ernst nehmen. Sonst dürfen wir uns nicht
wundern, wenn in der Bevölkerung der Widerstand gegen Infrastrukturprojekte zunimmt.
Zurzeit fließen jährlich 100 Millionen Euro in das
Bundesprogramm für die freiwillige Lärmsanierung an
bestehenden Schienenwegen. Durch das Pilotprogramm
„Leiser Güterverkehr“ fördert der Bund die Ausrüstung
von Güterwagen mit neuen und vor allem leiseren
Bremstechnologien. Da sind im Moment die etwas teurere K-Sohle und die deutlich günstigere LL-Sohle im
Angebot. Letztere hat ihre Dauerfestigkeit noch nicht
hinreichend bewiesen. Deswegen sind die Anwender
hier eher zurückhaltend. Wir hoffen, dass diese Bremstechnologie in wenigen Monaten voll verfügbar sein
wird. Wenn alle in Deutschland eingesetzten Güterwagen so umgerüstet werden, kann damit der Lärm an der
Quelle um 10 Dezibel reduziert und damit der wahrgenommene Schienenlärm faktisch halbiert werden. Das
wäre eine großartige Sache.
Wenn wir dann auch diese Umrüstungsverpflichtung
europaweit durchsetzen, indem die Verordnung, die
heute für neue und vollständig grunderneuerte Güterwagen gilt, auch für umgerüstete verpflichtend gemacht
wird, werden wir nicht nur in Deutschland, sondern auch
in Europa eine deutliche Verbesserung erleben.
({1})
Zum nächsten Fahrplanwechsel - am 9. Dezember wird eine lärmabhängige Spreizung der Trassenpreise
eingeführt, um den Betreibern weitere Anreize zu geben,
ihre Güterwagen lärmtechnisch umzurüsten und zu
modernisieren.
Mit Mitteln des Konjunkturpakets II wurde in innovative Lärmschutztechniken am Gleis investiert, wurden
neue Technologien ausprobiert, damit wir auch bei den
Weichen und in anderen Bereichen Verbesserungen erzielen. Bis 2014 wird die Entwicklung und Erprobung
technisch und wirtschaftlich optimierter VerbundstoffBremssohlen für den Einsatz in Güterwagen gefördert.
Da Verkehrslärm nicht an den Grenzen haltmacht, arbeiten wir auch auf EU-Ebene an Lösungen für den
grenzüberschreitenden Güterverkehr. Hinzu kommt,
dass eine solche Entwicklung auch in der Schweiz und in
anderen Nachbarländern vonstattengeht, sodass laute
Güterwagen durch verschiedene Länder nicht mehr werden fahren können. Auch deswegen ist eine Umrüstung
geboten.
Diese Beispiele zeigen, dass die Koalitionsfraktionen,
die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion, die Belastung
durch den Schienenlärm ernst nehmen und handeln.
({2})
Mit der Abschaffung des Schienenbonus machen wir
heute einen weiteren wichtigen Schritt für einen verbesserten Lärmschutz.
({3})
Dirk Fischer ({4})
Der Bonus von 5 Dezibel bei der Berechnung der
Lärmwerte für den Schienenverkehr gilt seit 1990. Diese
Privilegierung des Verkehrsträgers Schiene ist wegen
des verdichteten Schienenverkehrs schon längst nicht
mehr sachgerecht und auch nicht mehr zeitgemäß. Das
Thema ist also nicht neu, es beschäftigt uns seit Jahren.
Ich muss hier deutlich sagen, dass mir manche Kritik
der Opposition schon etwas merkwürdig erscheint. Denn
Rot-Grün hatte schon bei der Aufstellung des letzten
Bundesverkehrswegeplans, des Bundesverkehrswegeplans 2003, die Chance, den Schienenbonus abzuschaffen.
({5})
Dann brauchten wir uns mit diesem Thema heute gar
nicht mehr zu befassen.
({6})
Wenn die SPD, die Grünen und nun auch der Bundesrat
fordern, die Abschaffung deutlich früher - 2015 oder
schon früher - wirksam werden zu lassen, dann greifen
sie nach meiner Auffassung zu kurz. Ich habe das Gefühl, da offenbart sich Ihr schlechtes Gewissen; denn Sie
hätten ja seinerzeit handeln können.
({7})
- Herr Kollege Pronold, ein früheres Inkrafttreten wäre
ein Eingriff in laufende Planungen, mit dem erhebliche
bereits aufgewendete Mittel zerstört würden, und durch
die Wiederholung des Planungsverfahrens würde erneut
viel Zeit verloren gehen. Wenn dann aufgrund der erhöhten Lärmschutzanforderungen das Nutzen-KostenVerhältnis auch noch unter 1 fällt, dürften diese Projekte
ohne Nachbesserungschance gar nicht mehr realisiert
werden können.
Herr Kollege.
Frau Präsidentin. - Die Koalition hat sich für einen
vernünftigen Weg entschieden: für eine logische
Abschneidegrenze. Die Neuregelung soll mit Inkrafttreten des nächsten Gesetzes zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes mit Bedarfsplan Schiene
für Neu- und Ausbauprojekte gelten. Das wird 2016 der
Fall sein. Das ist vertretbar, das ist verkraftbar für die
Aufgabenträger.
Herr Kollege.
Ich glaube, dass wir eine gute Regelung haben. Wir
sind stolz darauf, dass diese Koalition, jedenfalls beim
Lärmschutz Schiene, eine hervorragende Arbeit geleistet
hat.
({0})
Wir hoffen, dass der Bundesrat das Beratungsverfahren
jetzt auch so zügig durchführt.
({1})
Gustav Herzog hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Kollege Fischer, auch von meiner Seite
herzliche Gratulation zum Geburtstag! Ich hätte mir aber
gewünscht, dass Ihre Fraktion mit der Redezeit heute
Abend nicht ganz so geizig ist. Dieses Thema allein
hätte schon mehr Redezeit verlangt. So sind Sie nun einmal. Aber das ist Ihre Sache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist die Zeit, zu
der sich manche Menschen schon zur Ruhe legen. Die
werden dann in der Nacht das eine oder andere Mal geweckt, insbesondere wenn sie im Mittelrheintal, in Bonn
oder in den großen Städten des Ruhrgebietes leben, wo
in der Nacht der Güterverkehr auf der Schiene durchfährt. Das treibt die Menschen um, und die ganze Politik
ist gefordert.
Deswegen gibt es in der letzten Zeit sehr ungewöhnliche Koalitionen. Da gab es zum Beispiel am letzten
Freitag im Bundesrat sehr intensive und erfolgreiche
Bemühungen von Rheinland-Pfalz und Hessen. Rheinland-Pfalz rot-grün, Hessen schwarz-gelb. Gemeinsam
organisierten sie eine Mehrheit im Bundesrat. Auch der
rheinland-pfälzische Landtag hat in der letzten Wahlperiode bei absoluter Mehrheit der SPD gemeinsam mit
der CDU und der FDP einstimmig einen Antrag beschlossen, den Schienenbonus abzuschaffen, den passiven Lärmschutz zu verbessern, die Wagen umzurüsten
und nach einer alternativen, nach einer neuen Trasse zur
Entlastung des Mittelrheintals zu suchen. Wir Sozialdemokraten haben diesen Antrag inhaltsgleich hier eingebracht. Ich bedauere, dass Sie sowohl im Ausschuss
als auch wohl heute Abend im Plenum dieses klare
Votum der Rheinland-Pfälzer ablehnen.
Ich glaube, es gibt ein großes gemeinsames Ziel:
mehr Güter auf die Schiene. Aber wir werden das nur erreichen, wenn wir die Menschen vom Lärm entlasten
und auch für mehr Akzeptanz sorgen. Deswegen ist es
schade, dass es hier nicht mehr Gemeinsamkeit gibt. Die
gibt es zum Beispiel deshalb nicht, weil die rechte Seite
dieses Hauses drei Jahre gebraucht hat, eine Formulierung aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen. Sie haben
unsere Anträge im Verkehrsausschuss blockiert, sodass
wir sogar nach der Geschäftsordnung zum Thema debattieren mussten.
Wir haben Hinweise bekommen, warum Sie sich so
schwer damit tun, nämlich weil sich Herr Ramsauer öffentlich äußert, jedes Dezibel weniger Lärm koste ihn
1 Milliarde Euro, oder ihr Kanzleramtsminister Pofalla
sagt: In dieser Wahlperiode wird der Schienenbonus
nicht abgeschafft. - Er hat ja recht; denn nach Ihrer
Konstruktion, die Sie mit Ihrer Mehrheit heute Abend
durchsetzen werden, wird der Schienenbonus erst dann
abgeschafft, wenn das Bundesschienenwegeausbaugesetz nach dem Bundesverkehrswegeplan in Kraft tritt.
Das ist aber erst in der übernächsten Wahlperiode der
Fall. Dann nehmen Sie auch noch alle Projekte heraus,
bei denen das Planfeststellungsverfahren zu diesem Zeitpunkt bereits eröffnet worden ist. Da sollten Sie den
Menschen ehrlich sagen, Ihr Versprechen im Koalitionsvertrag, den Schienenbonus in dieser Wahlperiode abzuschaffen, haben Sie gebrochen.
({0})
Frau Kollegin Ludwig, Sie werden nachher sicherlich
sagen: Jetzt redet die böse Opposition wieder alles
schlecht. - Was schlecht ist, kann man nicht schlechtreden. Sie sind nicht ambitioniert, und Sie haben auch kein
gutes Handwerk an den Tag gelegt.
({1})
Wir haben uns in unserer Fraktion nach intensiven
Beratungen mit unseren Haushältern, aber auch mit denjenigen, die die Sache letztendlich umzusetzen haben,
nämlich mit der Bahn, darauf verständigt, zu sagen: Das
Lärmprivileg der Schiene soll 2015 fallen, außer bei den
Maßnahmen, die im Planfeststellungsverfahren sind.
Wir glauben, dass das ein durchaus vertretbarer
Kompromiss zum Schutz der Menschen sowie für mehr
Planungssicherheit und Wirtschaftlichkeit ist. Der Bundesrat hat am letzten Freitag den Termin 2017 beschlossen, allerdings ohne Ausnahmen für laufende Planfeststellungsverfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich
darauf, dass wir im Zusammenhang mit dem Eisenbahnregulierungsgesetz und den Vorschlägen des Bundesrates hier noch einmal intensiv zur Sache reden werden.
Ich will etwas zu den Anträgen sagen und freue mich darüber, dass die Koalition so aufmerksam war, vieles Gute
aus rot-grüner Zeit und aus der Zeit der Großen Koalition aufzuzählen. Herr Kollege Fischer, bekennen Sie
sich doch dazu, dass Sie mit uns in der Großen Koalition
waren, weil wir damals auch viele gute Dinge gemacht
haben.
({2})
Ich fange mit 1999 an. Wir waren die Ersten, die
Mittel für die Lärmsanierung an der Schiene im Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt haben. Wir haben mit
50 Millionen Euro angefangen. - Für das Protokoll: Der
Kollege Fischer nickt mir zu.
({3})
2007 haben wir die Mittel gemeinsam auf 100 Millionen
Euro erhöht.
({4})
Seitdem ist nichts mehr passiert.
({5})
- Sie haben die Mittel nicht erhöht. Wo ist denn die
Erhöhung? Die Haushaltsberatungen sind vorbei. Es
sind weiterhin 100 Millionen Euro; Sie haben es auch
erwähnt.
({6})
Die Pilotprojekte „Leiser Güterverkehr“ und „Leiser
Rhein“ stammen auch nicht von der rechten Seite des
Hauses, sondern von sehr viel früher. Auch die
Lärmschutzpakete I und II, auf die Sie sich heute zu
Recht berufen, stammen aus einer Zeit sozialdemokratischer Bundesverkehrsminister.
Ich habe mich einmal auf die Suche danach gemacht,
welche wegweisenden Anträge Sie früher gestellt haben.
({7})
Dabei bin ich auf einen von der FDP gekommen.
({8})
2006 haben Sie einen schönen Antrag gestellt. Ich lese
Ihnen jetzt einmal vor, wie fortschrittlich und mutig Sie
waren:
({9})
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … in einer Studie zu prüfen, ob die
Anwendung des sog. Schienenbonus gemäß
Anlage 2 zu § 3 der 16. BImschV noch gerechtfertigt ist.
({10})
Das war der wegweisende Antrag der FDP.
Herr Kollege Fischer, wir haben im März 2007 gemeinsam einen Antrag eingebracht, in dem nichts von
einer Abschaffung des Schienenbonus steht; das ist
richtig. Aber auch von Ihrer Seite ist damals nichts
gekommen.
({11})
Wenn Sie also schon mit dem Finger auf uns zeigen,
dann sollten Sie bedenken, dass drei Finger auf Sie zurückzeigen.
Ich will gar nicht abstreiten, dass Sie auch etwas
Neues vorgebracht haben - schön und gut. Es gibt bei
der Rheintalbahn einen Projektbeirat. Hier stellen Sie
eine Menge Geld zur Verfügung. Dieses Geld haben aber
auch andere verdient. Es kann nicht sein, dass sich der
Bundesverkehrsminister Projekte in der Region aussucht
und das Geld nach Gutsherrenart verteilt. So nicht!
({12})
Weil Sie die lärmabhängigen Trassenpreise angesprochen haben, will ich zum Abschluss noch aus einer Mitteilung der Bundesnetzagentur vom 7. November 2012
zitieren. Auf die Frage: „Wie bewertet die Bundesnetzagentur die große Show, die Herr Ramsauer zusammen
mit Herrn Grube gefeiert hat, als sie im Juli letzten
Jahres ihr Papier unterschrieben haben?“, schreibt die
Bundesnetzagentur:
Die EU-Kommission stimmt der Förderrichtlinie
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung nicht zu. Das vorgesehene Modell kann daher nicht starten. Die Deutsche Bahn
Netz AG plant ein Alternativmodell, das jedoch
wegen höherer Systemkosten nur einen schwachen
Anreiz bieten kann.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Dann sage ich noch:
Die Inkraftsetzung, das Überarbeiten des Modells
wird sowohl im Hinblick auf das Modell als auch
auf die Einführung sehr eng getaktet sein.
Sie sehen: Das ist schlechtes Handwerk, und das haben
die Leute nicht verdient. Zu Ihnen kann man wie die
DVZ vom 6. November 2012 nur sagen: „Viel gewollt,
wenig erreicht.“ Schade für die Menschen, die den Lärm
weiter ertragen müssen.
({0})
Michael Kauch hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
am heutigen Abend eine gute Nachricht für die
Menschen in Deutschland, aber vor allen Dingen für die
Menschen in Südbaden, im Mittelrheintal und am
Niederrhein; denn wir werden dafür sorgen, dass der
Lärmschutz bei den Planungen in der Zukunft stärker
berücksichtigt wird. Das ist eine gute Nachricht und ein
Erfolg dieser Koalition.
({0})
Der Lärmrabatt der Bahn wird abgeschafft. Die
Menschen haben bei einem Projekt der Bahn jetzt den
gleichen Anspruch auf Lärmschutz wie dann, wenn eine
Autobahn gebaut wird. Es war ja wirklich ein Treppenwitz, dass bei gleicher Lärmbelastung die Menschen diskriminiert wurden, die an Bahnstrecken und eben nicht
an einer Autobahn lebten.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle hervorheben: Das ist eine
Parlamentsinitiative. Das zeigt, dass dieses Parlament
funktioniert.
({2})
Wir warten nicht nur darauf, dass die Regierung uns Vorlagen macht. Nein, wir handeln selbst. Das ist ein selbstbewusstes Parlament. Das ist eine selbstbewusste Koalition.
({3})
Die Opposition nörgelt jetzt. Das muss die Opposition
natürlich machen, weil sie uns den Erfolg nicht gönnt.
({4})
Aber diese Koalition hat sich durchgesetzt. Was haben
Sie denn gemacht? Wenn ich die SPD so reden höre,
finde ich das schon erstaunlich. Ich erinnere mich nämlich daran, dass ich damals mit genau diesem Antrag bei
einem SPD-Verkehrsminister vor die Wand gelaufen bin.
({5})
Sie haben alle Anträge der FDP, auch den, den Sie genannt haben und in dem noch vorsichtig von einer Überprüfung die Rede war, aber auch die, die danach kamen
und in denen die Abschaffung des Schienenbonus gefordert wurde, abgelehnt, und zwar ohne Alternative. Jetzt
stellen Sie sich hier hin und kritisieren uns dafür, dass
wir Initiativen in dieser Richtung ergriffen haben. Sie
haben nichts gemacht. Sie haben nichts erreicht. Deshalb
ist das an dieser Stelle ein Erfolg dieser Koalition und
der FDP.
({6})
Ich danke insbesondere der Kollegin Laurischk ganz
herzlich, die über viele Jahre in Südbaden dafür gekämpft hat, was wir jetzt erreicht haben.
({7})
Auch vor Inkrafttreten dieses Gesetzes ist es möglich,
ohne Schienenbonus zu bauen. Voraussetzung ist ein Finanzierungskonzept. Im Rheintal wird darüber verhandelt, wie hier ein Finanzierungskonzept aussehen soll.
Diese Koalition wird hier im Deutschen Bundestag einen
Antrag beschließen - wir haben ihn gerade eingebracht -,
mit dem die Finanzierung des Projekts Rheintalbahn abgesichert werden soll.
Im Übrigen ist die Abschaffung des Schienenbonus
nicht das einzige Lärmschutzprojekt, das wir bereits
durchgesetzt haben. Auch das, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, was wir hier durchgesetzt haben,
haben Sie immer abgelehnt. Wir haben bereits in der vergangenen Wahlperiode beantragt, lärmabhängige Trassenpreise einzuführen. Sie als SPD haben das abgelehnt.
Wir führen marktwirtschaftliche Anreize für guten Umweltschutz ein.
Das ist eben der Unterschied zwischen der Umweltpolitik der FDP und der der SPD: Sie reden, wir machen.
Wir machen das mit Marktwirtschaft. Das schafft diese
Koalition, das schaffen Sie nicht.
({8})
Ich glaube, heute ist ein guter Tag für den Umweltschutz und ein guter Tag für die Verkehrspolitik in
Deutschland.
Vielen Dank.
({9})
Sabine Leidig hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Wir Linken sind der Überzeugung, dass
alle Menschen in diesem Land ein Recht darauf haben,
vor krank machendem Verkehrslärm geschützt zu werden.
Es ist gut, dass eine Forderung der Bürgerinitiativen
gegen Bahnlärm nun endlich aufgegriffen wird. Die Regierungskoalition will den sogenannten Schienenbonus
abschaffen, also den Bonus, dass der Lärm auf Bahnstrecken bisher lauter sein durfte als der auf Autobahnen.
Aber wir werden diesen Gesetzentwurf trotzdem ablehnen.
({0})
Dafür will ich drei Gründe nennen.
Erstens. Sie stehen derartig auf der Bremse, dass man
nicht einmal von Schneckentempo reden kann; der Kollege hat es gerade schon angedeutet.
({1})
Erst nachdem der nächste Bedarfsplan Schiene verabschiedet ist, soll die neue Regelung gelten. Das wird
nicht vor 2016 der Fall sein. Realistischerweise wird vor
dem Jahr 2020 keine einzige Bahnstrecke in Betrieb gehen, die leiser geplant wurde. Wir fordern, dass ab sofort
keine Planung mehr ohne besseren Lärmschutz zulässig
ist.
({2})
Zweitens. Das ist noch viel wichtiger: Sie lassen die
Betroffenen völlig im Regen stehen, die an den bestehenden lauten Strecken wohnen. Da donnern immer
mehr, immer schwerere, längere und lautere Güterzüge
durch die Ortschaften, und zwar vor allem nachts; das
haben Sie richtig gesagt. Da sind viele am Rand der Verzweiflung, weil normales Leben, weil Durchschlafen
kaum noch möglich ist, weil die Häuser Risse von den
Erschütterungen bekommen. Es gibt Ortschaften, die regelrecht verkümmern - selbst übrigens am Fuß der schönen Loreley -, weil viele wegziehen und immer weniger
Touristen kommen.
Die bestehende Rechtslage gewährt relativ anspruchsvollen Lärmschutz an Verkehrswegen nur bei Neubau
oder bei erheblichem Ausbau. Dieser Umstand wird übrigens immer wieder als Druckmittel verwendet, wenn
sich Anwohnerinnen und Anwohner gegen den Ausbau
von Straßen und anderen Verkehrswegen wenden. Lärmschutz wird nur in Aussicht gestellt, wenn mehr Verkehr
akzeptiert wird.
Wir verlangen, dass alle Bürgerinnen und Bürger den
gleichen Anspruch auf Lärmschutz haben.
({3})
Konkret: In den nächsten 20 Jahren sollen alle Straßen
und Schienenwege so umgestaltet werden, dass niemand
mehr darunter leidet. Die 20 Prozent der lautesten Strecken müssten innerhalb der nächsten fünf Jahre lärmsaniert werden. Damit hätten zum Beispiel die Menschen
im Rheintal absehbar eine Perspektive und Hoffnung auf
ruhigen Schlaf. Alles andere ist eigentlich unverantwortlich.
Mein dritter und letzter Punkt. Der zusätzliche Lärmschutz ist dieser Regierung keinen zusätzlichen Euro
wert. Großzügig stellen Sie den Ländern frei, die Kosten
dafür zu übernehmen. Natürlich begrüßen wir es, dass in
Baden-Württemberg ein Programm zur Entlastung der
Anwohner am Oberrhein finanziert wird. Aber für die
Leute am Niederrhein sieht es zum Beispiel ganz anders
aus, weil Nordrhein-Westfalen kein Geld dafür hat. Das
geht nicht.
Wir haben beantragt, dass der Bund das Lärmsanierungsprogramm erheblich aufstockt. Das kostet vergleichsweise wenig, wenn man es mit den Milliarden
vergleicht, die für die Zockerbanken überwiesen werden.
({4})
Für die Schienenwege brauchte man jährlich nur etwa
120 Millionen Euro. Das aber wären Investitionen in
mehr Lebensqualität.
Ich komme zum Schluss: Die Linke hat ein alternatives Verkehrskonzept für Niedersachsen ausgearbeitet.
Das habe ich druckfrisch mitgebracht. Es ist sehr schön
geworden.
({5})
Es heißt „Sattelfest und bahnverwachsen“. Das ist der
programmatische Untertitel. Tatsächlich wollen wir viel
weniger schädlichen Lkw-Straßenverkehr, und wir wollen mehr und besseren Bahnverkehr im ganzen Land,
aber der muss leise sein.
({6})
Im Zentrum unserer Verkehrspolitik stehen Mensch,
Umwelt und Klima anstelle von Beton, Sprit und Profit.
({7})
Das Wort hat jetzt Valerie Wilms für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste, die Sie sich noch zu später Stunde bei
diesem doch gerade für die Anwohnerinnen und Anwohner von Schienenstrecken sehr wichtigen Thema hier
aufhalten! Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mich
wirklich wundert, ist, dass wir bei Fragestellungen, bei
denen wir inhaltlich nicht weit auseinanderliegen, zu
keiner für die Bürger vernünftigen, tragfähigen Lösung
kommen. Das erschüttert mich wirklich bei der Debatte,
die wir hören. Wir sind uns alle darüber im Klaren - ich
habe mich hier einmal von der Linksfraktion bis hin zur
FDP-Fraktion mit Herrn Kauch umgesehen -, dass der
Schienenbonus abgeschafft gehört, dass dieses Privileg
einfach nicht mehr relevant ist, dass wir es nicht mehr
vernünftig begründen können. Wir müssen da heran. Eigentlich war es bei der Belastung, die wir mittlerweile
auf der Schiene insbesondere durch den Güterverkehr
haben, falsch, was wir damals gemacht haben.
({0})
Schienenbonus bedeutet, dass Züge 5 Dezibel lauter
sein können. Das bedeutet de facto: mehr als doppelt so
laut wie der entsprechende Straßenverkehr. Das wird
jetzt grundsätzlich anerkannt. Dann kommt ein Gesetzentwurf - auch wenn er aus den Koalitionsfraktionen
kommt, weil Ihre Regierung an der Stelle überhaupt
nicht reagieren wollte - mit einer Regelung, die im Prinzip dazu führt, dass wahrscheinlich erst 2040 das letzte
Neubauobjekt mit Schienenbonus gebaut ist. Denn Sie
müssen sich das einmal ganz genau ansehen. Sie machen
es am Bundesverkehrswegeplan fest, der sicherlich nicht
vor 2017 einigermaßen fertig sein wird. Dann kommt
das Schienenwegeausbaugesetz. Das braucht auch wieder eine gewisse Zeit, bis es vorliegt, und dann gilt es
nur für Planungen, die danach beginnen. Sie wissen selber, wie lange eine Planfeststellung gültig ist. Dazu, wie
Sie es hinbekommen können, das Projekt mit dem ersten
Bagger anzufahren, hat das BMVBS entsprechende Erfahrungen. Ich erinnere nur an den berühmt-berücksichtigten blankgeputzten Spaten in Brunsbüttel. Wenn Sie
das Projekt gestartet haben, dann ist gerade bei Schienenprojekten mit Bauzeiten in einer Größenordnung von
20 Jahren zu rechnen. Das dauert also ewig.
Sagen Sie das den Menschen draußen vor Ort: Wir
lassen Sie noch so lange allein. - Stattdessen lassen Sie
sich feiern, als hätten Sie eine große Tat vollbracht.
Nichts haben Sie gemacht.
({1})
Wenn Sie wirklich eine große Tat für die Menschen
draußen vor Ort vollbringen wollen, dann stimmen Sie
unserem Änderungsantrag zu, dass der Schienenbonus
sofort abgeschafft wird.
({2})
Das ist der eine Punkt, was Neubau und gegebenenfalls Sanierung betrifft. Dann gibt es aber noch die andere Nummer, bei der Sie uns auch wieder etwas vorgaukeln. Sie sind als Supertiger mit der Ankündigung
gestartet: Wir wollen jetzt ein gespreiztes Trassenpreissystem mit marktwirtschaftlichen Konzepten. - Herr
Kauch, ich stimme Ihnen durchaus zu, dass wir marktwirtschaftliche Instrumente nutzen müssen, um den leisen Schienenverkehr zu bevorzugen bzw. in Gang zu setzen. Darin sind wir absolut d’accord: Das müssen wir
nicht alles über ein Regelwerk machen. Dazu gehört
aber auch, dass es wirklich wirksam ist, und dafür reicht
keine lächerliche Spreizung, wie sie jetzt vorgesehen ist,
sondern sie muss für diejenigen, die dort mit lauten
Fahrzeugen herumfahren, schmerzhaft zu spüren sein.
({3})
Auch in diesem Punkt gilt also: Sie sind als großer Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Das Einzige, das Sie mit dem Gesetzentwurf, den Sie sozusagen
in Überspielung, wie Sie es genannt haben, Ihrer eigenen
Regierung hinbekommen haben, ist die Unwirksamkeit.
Sie machen eine reine PR-Show, ausschließlich deshalb,
um noch das letzte halbe Jahr der Regierung durchzustehen.
Wenn Sie für die Menschen draußen vor Ort wirklich
etwas erreichen wollen, dann stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu! Dann haben Sie wirklich etwas erreicht. Das gilt auch für alle anderen Kolleginnen und
Kollegen. Denn wir müssen Lärmschutz machen. Anders geht es nicht.
Frau Kollegin.
Werte Frau Präsidentin, ich habe es vernommen. Ich
nehme jetzt den Lärmschutz wahr, auch hier am Mikrofon.
({0})
Danke.
({1})
Ich hingegen gebe das Wort an Daniela Ludwig für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe Sie in der ersten Beratung unseres Gesetzentwurfs gefragt, wo Sie lieber wohnen würden: an einer
Bahnstrecke oder an einer Autobahn? Sehr richtig und
nicht überraschend kam zunächst die Antwort: Am liebsten an keinem von beiden. Der geltenden Rechtslage zufolge hätten Sie aber antworten müssen - das hat Herr
Kauch auch dargestellt -: An der Autobahn wäre mir lieber, weil die Autobahn im Zweifel leiser sein muss als
der Schienenverkehr.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich lasse es
nicht zu, dass Sie nur aus purem Neid darüber, dass wir
etwas vorwärtsbringen, und aus purer Missgunst, dass
wir Dinge tun, für die Sie Jahrzehnte lang Zeit hatten,
dieses kleinreden.
({0})
Denn klar ist: Sie hatten lange Zeit, den Schienenbonus
abzuschaffen. Ich möchte ihn gar nicht als Privileg bezeichnen; er ist im Prinzip ein Dinosaurier, der eigentlich
beim Lärmschutz nichts zu suchen hat. Lärm von der
Schiene ist genauso unerträglich wie Lärm von der
Straße oder vom Flugzeug.
({1})
Sie hatten lange genug Zeit.
Wir nutzen jetzt unsere Zeit, und wir machen es so,
wie wir es für logisch, vernünftig und - auch wenn bald
Weihnachten ist - insbesondere für finanzierbar und dem
Bundeshaushalt gegenüber für verantwortbar halten.
({2})
Denn wir sind nicht in der Wünsch-dir-was-Show, sondern wir müssen als verantwortungsbewusste Politiker
letztlich entscheiden, was wir verantworten und finanzieren können, was auch für die Vorhabenträger in Ordnung ist und wann sie welche politischen Entscheidungen in ihre Planungen mit einbeziehen können. Ich
meine, dass unser Vorschlag, der jetzt vorliegt, der richtige ist.
Natürlich ist es Ihr Job, zu sagen: Es muss noch mehr
gehen; es muss noch mehr Geld und noch mehr Lärmschutz geben usw. - Aber das brauche ich mir von niemandem sagen zu lassen, der elf Jahre den Verkehrsminister gestellt hat und elf Jahre beim Schienenbonus
rein gar nichts vorwärtsgebracht hat.
({3})
Wenn es so leicht gewesen wäre, dann hätten Sie es
längst machen können, und wir brauchten die Debatte
hier nicht mehr führen. Dann hätte es schon in den letzten Jahren einen besseren Lärmschutz bei den Schienenprojekten gegeben.
Die lärmabhängigen Trassenpreise und Systeme
treten selbstverständlich zum 9. Dezember, also zum
Fahrplanwechsel in wenigen Tagen, in Kraft.
({4})
- Herr Pronold ist anscheinend nicht ausreichend informiert. Das kennen wir von ihm nicht anders.
Es wird eine beihilferechtliche Überprüfung durch die
EU-Kommission geben, was völlig normal ist. Es hat
aber nichts damit zu tun, dass ab sofort die Anträge auf
Förderung gestellt werden können. Es ist ein ambitioniertes Vorhaben; aber auch wir sind wieder diejenigen,
die es anfangen.
({5})
- Hätten Sie es doch gemacht, Herr Herzog. Es ist ja
nett, wie Sie sich hier aufregen. Eigentlich wünsche ich
mir von Ihnen mehr Freude bei diesem guten Vorhaben,
das wir endlich anpacken,
({6})
und nicht dieses ständige Genöle und Gemeckere.
Hätten Sie es besser gemacht, würde ich klatschen und
sagen: Super!
({7})
Es ist das Beste für die Anwohner. Wir machen es. Wir
sind mutig. Wir schreiten voran. Wir führen lärmabhängige Trassenpreise ein. Wir gestalten sie so, dass sie
funktionieren. Wir lassen uns dabei auch nicht von der
EU-Kommission hineinpfuschen.
({8})
Es wird zum 9. Dezember in Kraft treten. Ein bisschen
mehr Mut!
({9})
Sie sind duckmäuserisch und glauben im vorauseilenden
Gehorsam, dass das nicht klappt. Wir machen es. Wir
setzen es um. Der 9. Dezember ist der Stichtag. Die Förderung kann ab sofort beantragt werden.
({10})
Das sind die guten Nachrichten, die wir den Leuten
überbringen können. Wer nur meckert, wird keinen
bleibenden Eindruck hinterlassen. Einen bleibenden
Eindruck hinterlassen wir.
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des BundesImmissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11610,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/10771 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11708 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Die SPD hat
sich enthalten. Die Regierungsfraktionen haben abgelehnt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die
Oppositionsfraktionen haben sich enthalten. Dagegen
gestimmt hat niemand.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11709. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion. Dagegen haben Regierungsfraktionen und SPD gestimmt. Bündnis 90/Die
Grünen haben sich enthalten.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/11610 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der CDU/CSU und FDP
auf Drucksache 17/10780 mit dem Titel „Schienenlärm
wirksam reduzieren - Schienengüterverkehr nachhaltig
gestalten“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch
CDU/CSU und FDP. Enthalten haben sich Bündnis 90/
Die Grünen. Dagegen haben gestimmt SPD und Linke.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5461 mit dem Titel „Für einen neuen Infrastrukturkonsens - Schutz der Menschen vor Straßenund Schienenlärm nachdrücklich verbessern“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Opposition hat dagegen gestimmt.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6452 mit dem
Titel „Bürgerinnen und Bürger dauerhaft von Bahnlärm
entlasten - Alternative Güterverkehrsstrecke zum
Mittelrheintal angehen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen waren dagegen.
Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung
empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/4652 mit dem Titel „Schutz vor Bahnlärm verbessern Veraltetes Lärmprivileg ‚Schienenbonus‘ abschaffen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und Linke gestimmt. Die SPD hat sich enthalten.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Kapitalgesellschaften mit kommunaler Beteiligung
- Drucksache 17/11587 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden hierzu zu Protokoll gegeben.
Die Fraktion Die Linke beklagt in ihrem Gesetzentwurf einen Verlust der Steuerungsfähigkeit von Kapitalgesellschaften mit kommunaler Beteiligung zulasten
der kommunalen Vertretungskörperschaften.
Um dem entgegenzuwirken, fordert die Fraktion
Die Linke Änderungen im Gesellschaftsrecht. Der Antrag geht jedoch fehl.
Der öffentlichen Hand ist es, sofern sie die maßgeblichen verfassungsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Vorgaben beachtet, freigestellt, in welcher Rechtsform sie ihre Unternehmen führt, entweder in den
Rechtsformen des öffentlichen Rechts oder in denen
des Privatrechts. Dies entscheiden die kommunalen
Gebietskörperschaften selbstständig.
Setzt die auch verfassungsrechtlich unterlegte Ingerenzpflicht im konkreten Fall Schranken, die bei Rückgriff auf Gesellschaftsformen des Privatrechts nicht
eingehalten werden können, ist die Konsequenz keine
Veränderung des Privatrechts. Vielmehr wird die Gebietskörperschaft dann auf die ihr ohnehin zur Verfügung stehenden Rechtsformen des öffentlichen Rechts
verwiesen.
Der von der Fraktion Die Linke postulierte Reformbedarf im Bereich des Privatrechts besteht nicht. Der
Gesetzentwurf ist deshalb abzulehnen.
Die Linken sehen Defizite bei GmbHs, vor allem
aber bei Aktiengesellschaften mit kommunaler Beteiligung, weil sie befürchten, diese könnten von den
kommunalen Vertretungskörperschaften nicht richtig
gesteuert werden. Sie stellen fest, dass es bei den Aktiengesellschaften nur Weisungsmöglichkeiten gegenüber den kommunalen Vertretern in der Hauptversammlung gibt, nicht aber gegenüber dem Aufsichtsrat
oder gegenüber dem Vorstand. Bei der GmbH könne
sich die Kommune immerhin im Gesellschaftsvertrag
Weisungsrechte und Zustimmungsvorbehalte gegenüber den Geschäftsführern vorbehalten. Hier muss
schon insofern widersprochen werden, als es auch
nach aktuellem Recht durchaus möglich ist, in der Satzung einer hundertprozentig kommunalen GmbH die
Öffentlichkeit der Aufsichtsratssitzungen vorzuschreiben, aber die Gemeinden tun das nicht - ein sicheres
Indiz dafür, dass sie es offenbar nicht wollen.
Der Gesetzentwurf will deshalb Auskunfts- und
Weisungsrechte zugunsten der Kommunen einführen,
Öffentlichkeit der Sitzungen des Aufsichtsrats vorschreiben und die Amtszeit des Aufsichtsrats mit der
Wahlperiode der kommunalen Vertretungskörperschaft
synchronisieren. Bei Beteiligung Privater an der Gesellschaft soll das Ausbleiben von Überschüssen oder
zeitweiliger Wertverlust der Gesellschaftsanteile die
Interessen der Gesellschaft dann nicht verletzen, wenn
die Maßnahmen, die dazu führen, dem Zweck der Gesellschaft dienen.
Wer Unternehmen mit kommunaler Beteiligung
kaputtmachen will, öffentliche Wohnungsunternehmen,
Energieerzeugungs- und -versorgungunternehmen,
Abfallwirtschaftsbetriebe, Krankenhäuser, Messegesellschaften und überhaupt die Rekommunalisierung in
Kernbereichen der Daseinsvorsorge verhindern und
behindern will, der muss solche Vorschriften in die Welt
setzen. Wer privates Kapital in Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung am liebsten ganz unterbinden
will, der denkt sich Regelungen aus, die den Wertverlust als im öffentlichen Interesse liegend definieren.
Die Linken können sich hier mit der FDP zusammentun, die angeblich im Interesse der Transparenz öffentliche Aufsichtsratssitzungen und weitgehende öffentliche Berichtspflichten und Ähnliches mehr fordert.
Am Ende wird es keinen öffentlichen Unternehmenssektor mehr geben. Mit den kommunalen Interessenverbänden oder mit dem GdW haben die Linken offenbar nicht gesprochen.
Der vorliegende Gesetzentwurf kommt im scheinbar
sachlichen Gewande daher. Aber dieses Gewand kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass er bloß die wirtschaftliche Enteignung aller privaten Aktionäre bezweckt, die Anteile an einem Unternehmen mit kommunaler Beteiligung halten.
Die Linke möchte der öffentlichen Hand hier Sonderrechte einräumen, ungehinderte Plünderung der
Unternehmenskassen und auch noch Freistellung von
jedweder Haftung bzw. Verantwortung für solche Plünderungsaktionen per Gesetz möglich machen. Sollte
der Entwurf Gesetz werden, führte dies dazu, dass kein
Privater mehr Aktien einer einschlägigen Gesellschaft
halten oder erwerben möchte. Der Wert der Aktien
wird daher massiv fallen. Die Vermögensinteressen
der engagierten Privaten finden keinerlei Berücksichtigung. In meinen Augen verletzt der Entwurf daher
unter anderem die Eigentumsgarantie aus Art. 14 unseres Grundgesetzes.
Warum dieser harte Vorwurf zutreffend ist, möchte
ich Ihnen kurz anhand Ihres Entwurfes nachweisen:
Sie wollen jederzeit die Mitglieder der Leitungsorgane nach Gutdünken auswechseln und anweisen können. Das sehen §§ 2 und 5 Ihres Gesetzentwurfes vor.
Eigenverantwortliche Geschäftsführung im besten Interesse der Gesellschaft brandmarken Sie. Aus Vorständen sollen Erfüllungsgehilfen werden. Sie streben
an, dass die eigentliche Leitungsmacht aus dem Vorstand der Gesellschaft in die kommunalen Entscheidungsgremien wandert.
Das mag man wollen. Dann muss man aber auch
die Haftung für die unternehmerischen Entscheidungen übernehmen. Denn die Kommune wird hierdurch
quasi zum herrschenden Unternehmen in einem faktischen Konzern. Schadet hier das herrschende Unternehmen dem beherrschten Unternehmen, so korrespondiert damit ein Haftungsanspruch - insbesondere
dann, wenn das herrschende Unternehmen die Vermögensinteressen der beherrschten Gesellschaft und ihrer Aktionäre verletzt. Das normieren §§ 17, 317 AktG
ausdrücklich.
Genau diese Verantwortung, die mit jeder Leitungsmacht korrespondiert, wollen Sie aber gerade mit Ihrem § 6 ausschließen. Denn darin soll quasi per Gesetz
ausgeschlossen werden, dass die tatbestandlichen Haftungsvoraussetzungen von § 317 AktG erfüllt sind,
selbst dann, wenn die Kommunalpolitik sich an den
Überschüssen einer Gesellschaft bedient oder bewusst
verlustträchtige Maßnahmen anweist. Insbesondere
der Quersubventionierung sollen hier Tür und Tor geöffnet werden.
Die privaten Aktionäre, die sich sonst mithilfe des
§ 317 AktG wehren könnten, werden schutzlos dem Zugriff der Kommunalpolitik auf das Vermögen der Gesellschaft ausgeliefert. Ob es jemals zu Dividendenausschüttungen kommen kann, die vor dem Hintergrund
privater Investition völlig legitim sind und ja den
Grund für die Investition privaten Kapitals darstellen,
bleibt völlig offen. Der Wert von Anteilen an einer solchen Gesellschaft tendiert - jedenfalls nach Ertragswertmethode - gegen null. Genau das nenne ich eine
wirtschaftliche Enteignung der privaten Aktionäre.
Daher kann ich diesem Hohen Hause nur empfehlen, den Entwurf abzulehnen.
Die Kommunen und ihre Bürgerinnen und Bürger
verlieren zunehmend den Einfluss auf ihre Unternehmen. Der Umstand, dass kommunale Unternehmen
mittlerweile überwiegend privatrechtlich betrieben
werden, hat zur Folge, dass es immer schwieriger
wird, diese Unternehmen demokratisch zu kontrollieren und unternehmerische Entscheidungsprozesse
transparent zu machen. Häufig verfügen weder die
Bürgerinnen und Bürger noch die kommunalen Mandatsträgerinnen und Mandatsträger über ausreiZu Protokoll gegebene Reden
chende Informationen, um die Aktivitäten der kommunalen Unternehmen wirksam zu kontrollieren.
Dieses Thema war in der letzten Wahlperiode schon
einmal Gegenstand unserer Debatte. Seinerzeit hat sogar die FDP, die noch in der Opposition war, ein höheres Maß an Transparenz für kommunale Gesellschaften gefordert und einen entsprechenden Antrag
eingebracht. Seitdem sie in der Regierung ist, verfolgt
die FDP dieses Anliegen aber offensichtlich nicht weiter.
Mit dem derzeit zu beobachtenden Trend zu Rekommunalisierung wird die Bedeutung kommunaler Unternehmen in Zukunft noch ansteigen. Dabei stellt sich
auch politisch verstärkt die Frage, welche kommunalen Unternehmen wir in Zukunft wollen und wie wir
mit den ganz unterschiedlichen derzeit bestehenden
Formen kommunaler Unternehmen umgehen.
Klar ist, dass öffentliches Eigentum allein nicht
zwingend zu mehr Transparenz und demokratischer
Kontrolle führt.
Wir als Linke streiten für transparente kommunale
Unternehmen, die in demokratisch legitimierte kommunalpolitische Strukturen eingebettet sind und bei
denen die Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen
demokratischen Einfluss auf die Unternehmenspolitik
ausüben können. Diese Bedingungen ergeben sich
nach unserer Auffassung bereits aus dem öffentlichen
Zweck, den kommunale Unternehmen nach den einschlägigen Landesgesetzen erfüllen müssen.
Betrachtet man die derzeitigen bundes- und landesrechtlichen Rahmenbedingungen für kommunale Unternehmen, stellt man fest, dass es in Bezug auf Transparenz und demokratische Kontrolle große qualitative
Unterschiede gibt. Eine große Rolle spielt dabei die
Frage, ob ein kommunales Unternehmen in öffentlichrechtlicher oder in privater Rechtsform betrieben
wird. Bei Regie- und Eigenbetrieben sowie bei Anstalten des öffentlichen Rechts sind mit unterschiedlichen
Intensitätsgraden Einflussmöglichkeiten der kommunalen Organe gesetzlich vorgesehen, die immerhin
eine gewisse demokratische Kontrolle ermöglichen.
Bei kommunalen Unternehmen, die als Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung betrieben werden, vollzieht sich die unternehmerische Willensbildung in den jeweiligen Organen der
Gesellschaft. Der Einfluss der demokratisch gewählten kommunalen Vertretung ist im Vergleich zu den
kommunalen Unternehmen, die in öffentlich-rechtlicher Rechtsform betrieben werden, deutlich geringer.
Neben diesem Mangel an Einflussmöglichkeiten besteht bei privatrechtlichen Unternehmen auch ein
Mangel an Transparenz bei der unternehmerischen
Entscheidungsfindung. Die demokratische Kontrolle
scheitert in der Praxis daher auch an mangelnder Information der kommunalen Mandatsträgerinnen und
Mandatsträger über die Vorgänge in den Unternehmen
und an der Verschwiegenheitspflicht. Die Bürgerinnen
und Bürger erhalten erst recht keine Informationen.
Auch wenn Vertreter der Kommune beispielsweise im
Aufsichtsrat einer kommunalen Aktiengesellschaft sitzen, unterliegen sie in vielen Fällen einer gesetzlichen
Verschwiegenheitspflicht. Darüber hinaus besteht bei
kommunalen Unternehmen, an denen Private beteiligt
sind, grundsätzlich ein Interessenkonflikt zwischen
dem von der Kommune in erster Linie verfolgten öffentlichen Zweck und dem privaten Interesse, einen
möglichst hohen Überschuss zu erzielen.
Wegen der soeben dargestellten Nachteile von privaten Rechtsformen für kommunale Unternehmen fordern die Vertreterinnen und Vertreter der Linken in den
Kommunalvertretungen in der Regel, dass kommunale
Unternehmen in öffentlich-rechtlicher Form betrieben
werden. Wir können aber nicht die Augen davor verschließen, dass eine Vielzahl der bestehenden kommunalen Unternehmen in privater Rechtsform betrieben
wird und eine Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Form nicht immer ohne Weiteres möglich ist.
Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen Private
an den Unternehmen beteiligt sind. Es gilt daher, auch
für diesen Bereich ein Mindestmaß an Transparenz
und demokratischer Kontrolle zu schaffen.
Die sprichwörtliche Flucht ins Privatrecht darf
nicht zu einer Flucht vor den demokratisch gewählten
Gremien in den Kommunen und ihren Bürgerinnen und
Bürgern werden.
Abhilfe kann hierbei nur auf Bundesebene geschaffen werden. Die Kommunalverfassungen der Länder
enthalten zwar bereits weiter gehende Anforderungen
an die Transparenz und die demokratische Kontrollierbarkeit kommunaler Unternehmen, diese Regelungen
können aber wegen dem derzeitigen Gesellschaftsrecht
des Bundes nicht zur Anwendung kommen.
Die Linke fordert in dem vorgelegten Gesetzentwurf
die gesetzlichen Rahmenbedingungen von kommunalen Unternehmen in privater Rechtsform im Rahmen
des verfassungsrechtlich Möglichen in drei wichtigen
Fragen zu ändern:
Erstens. Die demokratisch gewählten kommunalen
Mandatsträgerinnen und Mandatsträger werden in ihren Einflussmöglichkeiten auf die kommunalen Unternehmen gestärkt.
Zweitens. Anstelle der bisher bestehenden Verschwiegenheitspflichten treten höhere Transparenzanforderungen, um sowohl die kommunalen Mandatsträgerinnen und Mandatsträger als auch die
Bürgerinnen und Bürger effektiv in die Lage zu versetzen, die Aktivitäten ihrer kommunalen Unternehmen
zu kontrollieren.
Drittens. Bei kommunalen Unternehmen, an denen
Private beteiligt sind, wird das Interesse des öffentlichen Zwecks gegenüber dem privaten Interesse,
Überschüsse zu erzielen, gestärkt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen ist
ein elementarer Bestandteil des Wirtschaftslebens in
Deutschland. Die Kommunalwirtschaft steht für Stabilität, regionale Wertschöpfung und eine sichere Daseinsvorsorge. Allerdings hat der Privatisierungswille
von Schwarz-Gelb oder auch der ökonomische Druck
in den letzten Jahren zu einer Reihe von Ausgründungen geführt. Viele Aufgaben der Daseinsvorsorge von
der Wasserversorgung bis zur Abfallbeseitigung haben die Städte und Gemeinden in den letzten Jahren in
Gesellschaften privaten Rechts überführt. Von den
1 400 Mitgliedsunternehmen im VKU sind über 50 Prozent GmbHs oder AGs. Gern werden dann die unterschiedlichen Gesellschaften unter einem Holdingdach
organisiert.
So werben die Potsdamer Stadtwerke mit ihrem Angebot: „Täglich greifen die Potsdamerinnen und Potsdamer auf Leistungen der Stadtwerke zurück. Beim
Anschalten eines elektrischen Gerätes, beim Öffnen
des Wasserhahns, beim Gang zur Mülltonne, bei der
Fahrt mit Bus und Bahn, nachts auf dem Weg nach
Hause oder beim gemütlichen Bahnenziehen in der
Schwimmhalle oder im Freibad.“ Die Stadt Potsdam
hält 100 Prozent an den Stadtwerken. Diese sind zu
100 Prozent Eigentümer der Bäderlandschaft, des
Fuhrparks, der Stadtbeleuchtung GmbH und des Verkehrsbetriebs. Mehrheitsbeteiligungen haben die Stadtwerke an der Stadtreinigung und an der Energie und
Wasser GmbH.
Wie wirkt sich ein solcher Umbau der Kommunalverwaltung auf die Demokratie in der Gemeinde aus?
Ein tragender Grundsatz der Kommunalpolitik ist die
Öffentlichkeit der Sitzungen von Ausschüssen und Rat.
Genau diese Möglichkeit zur Information und letztlich
zur Bürgerbeteiligung ist eines der wesentlichen Instrumente zur Kontrolle der Verwaltung. Eine ähnliche
öffentliche Kontrolle gibt es bei kommunalen Gesellschaften mit Verweis auf das Aktiengesetz grundsätzlich nicht. Die Öffentlichkeit fällt aus.
Der Gesetzentwurf der Linksfraktion greift zu Recht
diese fehlende Balance zwischen wirtschaftlicher Betriebsführung und öffentlichen Informations- und
Teilhabeansprüchen auf. Wir teilen die Sorge um den
Verlust von Auskunfts- und Weisungsrechten der kommunalen Parlamente. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit zentralen Punkten des vorliegenden Gesetzentwurfs wichtig und richtig. Auch sind wir für
öffentliche Aufsichtsratssitzungen und für die Beschränkung der Verschwiegenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern. Hier besteht auch aus grüner
Sicht unbedingt Handlungsbedarf.
Ähnlich wie bei den gesetzlichen Grenzen für kommunales Wirtschaften ist aber auch bei Vorschriften
zur Sicherung von Transparenz und Weisungsbefugnissen in kommunalen Unternehmen eine Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen notwendig.
Eine solche Abwägung lässt der Gesetzentwurf vermissen. Der Anwendungsbereich dieses Gesetzes ist sehr
groß. Alle Unternehmen privaten Rechts, an denen
Kommunen direkt oder indirekt mit mehr als 25 Prozent beteiligt sind, fallen unter die Regelungen des Gesetzentwurfes. Unter Beachtung dieses Anwendungsbereiches sind viele Vorschläge zu weitreichend.
In die richtige Richtung gehen die Änderungen zur
Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen und zur Befreiung von Verschwiegenheitspflichten der Aufsichtsräte. Die Amtszeit und die Abberufung von Aufsichtsräten an den kommunalen Wahlturnus auszurichten,
greift hingegen stark in die Organisation von Unternehmen ein. Gerade bei kommunalen Minderheitsbeteiligungen ist dieser Eingriff sehr weitreichend. Auch
die starke Ausweitung der kommunalen Weisungsbefugnis ist schwierig. Warum sollte nur einem Anteilseigner erlaubt sein, das Abstimmungsverhalten der eigenen Aufsichtsräte zu bestimmen?
Wirklich kritisch ist § 6. Ziel der Norm ist, „dass
auch unwirtschaftliche Geschäftsführungsmaßnahmen
durchgeführt werden können, wenn dies für die Erreichung des mit der Gesellschaft verfolgten öffentlichen
Zwecks erforderlich ist.“ Was heißt das? Hier sollten
Sie in den Ausschussberatungen einmal erläutern, was
das bedeuten kann. Laut Begründung des Gesetzentwurfes geht diese Norm in erster Linie „zulasten der
privaten Gesellschafter“. Erreicht wird dieses Ziel
durch die Aufhebung von Anfechtungsrechten und
Schadenersatzforderungen der Gesellschafter. Es führt
das aktuelle Recht ad absurdum. Der Schutz des Eigentums ist hoch. Vorgesehen sind weitreichende Mitbestimmungs-, insbesondere Sperrungsmöglichkeiten
schon ab einem Anteil von mehr als 25 Prozent. Unter
anderem können Kapitalerhöhungen, Fusionen oder
Vermögensübertragungen an die öffentliche Hand verhindert werden.
Der Gesetzentwurf ist nicht ausgereift und wird in
den Fachausschussberatungen intensiv zu diskutieren
sein.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11587 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Dazu
gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({0}), Karin EversMeyer, Maria Michalk, Cornelia Behm, Serkan
Tören und weiterer Abgeordneter
20 Jahre Zeichnung der Europäischen Charta
der Regional- oder Minderheitensprachen
- Drucksache 17/11638 Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Wolfgang Börnsen für die CDU/CSUFraktion.
({1})
Leve Fru Vörsitter! Leve Liddmaten! Vör Dag un
Dau kreeg ik düsse feine Breef vun een grote Persönlichkeit ut uns Land.
({0})
De schreef:
Sehr geehrter Herr Abgeordneter,ick heff mi bannig högt öwer den plattdütschen
Breif mit de goden Würd un de Glückwünsch.
Disse Breif hett ja een „Alleinstellungsmerkmal“,
denn ward ik mi upphangen.
Besten Dank ok, min leev Heer Börnsen, seggt Se
ehr …
Na, wer weer dat wohl?
({1})
- Immer noch nich. Nee, de heet Joachim Gauck.
({2})
Dat har ik nich dacht. Ik heff ehm schreven to sien Wahl:
Verehrter Herr Bundespräsident, leve Joachim
Gauck,
wenn dat todrapen deit, wat de Lüüd vertelln doon,
denn hemm wi mit de Präsident een Staatskaiser an
de Spitz vun uns Republik, de plattdüütsch snacken
deit.
Dat is groff gut!
Man, fast 3 Millionen Lüüd snackt noch de Spraak,
de in de Hansetiet in Nordeuropa de „Weltspraak“
weer.
Hartliche Gratulation to de Wahl mit dat imposante
Resultat. Wi Plattdüütschen hemm uns bannig freut.
Dat gelt uk för mien Mackers in de Düütsche Bundesdag.
({3})
Vör Johrestied hemm wi Plattdüütschen en Bündnis
buut för de Tokunft vun den lütten Spraken. Wat
Sorbisch, Freesch, Romanes, dat Dänische un uk
dat Plattdüütsche angahn deit, dat sall plegt un fördert warrn.
Sönnerjüsk, leve Ingwer, ok. De Spraak - un dat is mi
ganz eernst -, dat is de Mensch sien Heimat.
({4})
Un ohne Grund unner de Fööt verleert so manch een de
Wegwieser för sien Leben. Dat much uns gut gefallen,
wenn uns nüe Präsident ok en Hand un Woort för de lütten Spraken hebben deit. Un dat hett he, uns Präsident.
Schön is dat.
({5})
Der Deutsche Bundestag bekennt sich mit dieser
Debatte zur Sprachenvielfalt in unserem Land. Sprachen, gleich welcher Art, sind ein kultureller sowie ein
gesellschaftlicher Reichtum. Das gilt für die traditionellen regionalen Sprachen und die Minderheitensprachen
genauso wie für über 160 verschiedene Sprachen der
Migranten und Zuwanderer.
Wir wollen, dass auch Kleinsprachen geachtet, geschützt und gefördert werden. Wir wollen, dass es einen
bunten, vielfältigen, möglichst blühenden Sprachengarten in Deutschland gibt. Ausgangspunkt der heutigen
Sprachendebatte ist der 20. Jahrestag der Zeichnung der
Europäischen Sprachencharta, einer Art Magna Charta
für die kleinen Sprachen.
Dieses einzigartige Dokument kennzeichnet die
Bedeutung, aber zugleich auch die Bedrohung der Kleinsprachen auf unserem Kontinent. Waren 1992 bereits
50 Sprachen in ihrem Bestand gefährdet, sind es heute,
20 Jahre später, bereits 75. Dabei geht es um Sprachen
mit einer mehrtausendjährigen Geschichte, die in unserem Land gewachsen sind: Sorbisch und Friesisch,
Niederdeutsch, Dänisch und das Romani gehören bei
uns dazu.
Fast alle diese Sprachminderheiten waren in ihrer
Vergangenheit auch Verachtung, Verfolgung und anhaltender Diskriminierung ausgesetzt. Heute gehört
Sprachtoleranz zum Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Trotzdem klagen Angehörige von Sprachminderheiten - ob von autochthonen oder allochthonen - immer
noch über einen Mangel an Respekt und Verständnis.
Ich begrüße es deshalb als Sprecher unserer Initiative,
dass sich der Deutsche Bundestag zum dritten Mal in
20 Jahren solidarisch an die Seite der Kleinsprachen
stellt und ihnen eine Bühne zu mehr Beachtung und
mehr Anerkennung bietet.
({6})
Zugleich stärken wir damit auch die Sprachminderheiten in aller Welt. Das gilt auch für die deutschen
Sprachminderheiten, ob in Slowenien, Moldawien,
Lettland oder Kasachstan - immerhin 1,4 Millionen
Deutsche leben in Sprachminderheiten außerhalb unseres Landes. Dazu gehören auch 20 000 Plattsnacker in
den Vereinigten Staaten und 60 000 Plattsnacker allein
in Paraguay.
Auch für sie, die in unserer Sprache ihre Heimat
haben, tragen wir eine Mitverantwortung, indem wir
beispielgebend handeln. Aussprachen und Beschlüsse
zum Thema „Sprache“ sind nicht nur ein Thema für uns,
für die Bundesberatung. Sie sollten viel häufiger auch in
Wolfgang Börnsen ({7})
den Länderparlamenten praktiziert werden; denn Sprachenförderung gehört zu deren eigentlicher hoheitlicher
Aufgabe.
({8})
Sprache ist der Schlüssel zum Weltverstehen. Sprache
ist die Basis für Partizipation, für Integration und für sozialen Aufstieg. Mehrsprachigkeit ist das Gebot der
Stunde. Die Muttersprache gilt als Kern für kulturelle
und persönliche Identität. Für viele Bürger von Minderheitensprachen ist ihre Volksgruppensprache zugleich
Muttersprache. Für sie wie für uns alle gilt das Recht auf
sprachliche Selbstbestimmung. Es ist ein Bürger- und
ein Menschenrecht.
Der Anspruch wird jedoch fragwürdig, wenn die Existenzgefährdung der Sprache zunimmt. So sagt eine aktuelle UNESCO-Analyse: Jede Woche stirbt bei uns auf
der Welt eine Sprache. Noch haben wir 6 000 Sprachen;
in 50 Jahren werden 2 400 Sprachen nicht mehr auf unserer Welt sein. Nordfriesisch wie Saterfriesisch gehören
dazu. Das Romani der Sinti und Roma ist gefährdet. Das
Sorbische ist bedroht. Auf der Roten Liste befindet sich
jetzt auch die plattdeutsche Sprache. Alle diese Sprachen
haben an Vitalität eingebüßt.
Herr Kollege.
Ich merke schon hinter mir: Die Präsidentin rührt sich
bereits.
Leve Präsidentin, ik werd ok zum Afschluss kommen
doon. De Düütsche Bundesdag hett Masse doon för de
lütten Spraken. Wi hebbt en Staatssekretär, de is dorför
tostännig. Wi hebbt en egen.
Herr Kollege.
Un wi hebben ok en Gremium. Un ik much schon
hopen, dat wi all tosamen mehr doon för de lütten
Spraken. De hebben dat verdeent.
Danke.
({0})
Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
Geacht Frau Präsidentin! Leve Maten! Dat is goot
15 Johr her, dor hebbt de Platt-Snackers över 20 000 Ünnerschriften sammelt. Dat weer de eerste grote Börgerbewegung för Platt. De Ünnerschriften hebbt se in Kiel
un in Hannover bi de Präsidenten vun de Landdag in
Schleswig-Holsteen und Neddersassen aflevert. As Teken för de Sprakencharta. De Lüüd, de ehrn Naam op
disse List sett harrn, wussen genau: Plattdüütsch is ehr
Moderspraak und ganz bestimmt en egen Spraak. Un dat
weer ok för se kloor: De Platt-Snackers wullen nicht
mehr ankeken warrn as Döösbarthels, de nix anners
köönt as appeldwatsch hoochdüütsch snacken.
({0})
Nee, se wullen sik insetten för de Spraak, de as keen anner dat Leven, de Kultur un de Geschicht van dat nöördliche Drüttel vun Düütschland ehr Stempel opdrückt
hett. Un se wollen wiesen: Platt hett heel veel mit Idenität to doon.
Vörher hebbt se de Minschen vele Johren lang de
plattdüütsche Spraak utdreven. Vun Amts wegen verbaden weer Platt nich. Man in de Scholen un in de Behörden - also bi allens, wat offiziell weer, wat de Staat
weer -, dor hett dat heten: Plattdüütsch blifft buten. So
hebbt sik de meisten Platt-Snackers ganz lütt föhlt - ehr
Spraak weer nix weert. Ik weet noch, mien Grootöllern,
de snacken ünner’nanner platt. Mien Öllern kunnen dat
ok noch. Aber miene Grootöllern dröffen bloß mit mi
Platt snacken. Mien Öllern snacken immer hochdüütsch
mit mi, weil de Plattdüütschen ja doof weern, oder dat
maal mindestens doof. Also dat weer ganz vull mit vörardeel. För düsse Lüüd weer de Sprakencharta en grote
Schangs.
Siet de Tiet is veel in Gang kamen. Kollege Börnsen
hett dat wirklich wunnebor vertellt. Bund un Länder
hebbt Plichten övernahmen. Plichten, dat se wat doot för
dat Plattdüütsche. Wi kennt de Staatenberichten, wo
Bund un 8 Länner rinschrievt, wat se denn nu daan hebbt
for de Minderheitssprachen: bi de Bildung, Justiz, Verwaltung, Medien, Kultur und dat soziale Leven.
Man mit disse Berichten is dat ja en ganz egen Saak.
Man weet nee: Nu güng dat nich mehr üm de Fraag:
Doot wi nix - oder dot wi gor nix. Nee, nu müss sik ja
wat bewegen. Wat hebbt wi för de Spraak in de Hand
nahmen, wo hebbt wi wat maakt, un wat is dorbi rutkamen? Mi dücht: Mit de Charta stüert wi den richtigen
Kurs. Man ik weet ok, dat ok de Europarat to en Barg
Punkten seggt: „Dat langt nich. Wenn ji de Spraak
eernsthaftig Stütt un Stöhn geven wüllt, denn mööt ji
mehr doon.“
({1})
Ick segg: Uns Schipp maakt noch nich längst noog
Fohrt.
Ik will dat an en Bispeel verkloren: Siet 2008 gifft de
Beopdragte för Kultur un Medien in’t Johr 50 000 Euro
an dat Institut för nedderdüütsche Spraak - dat is för
Projekten för de 2,5 Millionen Platt-Snackers in us Land
jüst nich veel.
({2})
Hoochnödig is dat op jeden Fall.
({3})
Man ok dat is wohr: 2011 hebbt de Länner, de Geld an
dat Institut geevt - dat sünd Schleswig-Holsteen, Neddersassen, Hamborg und Bremen -, de hebbt festleggt:
Wi spoort bi dat Institut 22 000 Euro in. Dat sünd 8 Perzent vun den Huusholt. Nee, Lüüd, so geiht dat nich na
vörn.
De Staatenbericht van der Ländersiet is ok unvollständig. De Informationen sind nicht systematisch tohoopstellt un man hett de Vertreter vun de enkelten
Spraakgruppen nich na ehr Menen fraagt. Wat en groten
Fehler is. De Länder müssen endlich dorför sorgen, dat
de tostännigen Ministerien ene Person benöömt, de sik
üm dat Flach kümmert un Informationen nach wissenschaftlichen Kriterien sammelt, damit de Staatenberichte
toverlässiger ward un se miteenanner to verglieken sünd.
Denn weet wi ok würklich genau, wat los is.
Wat de Plattdüütschen in Neddersassen, SchleswigHolsteen, Mecklenborg-Vorpommern, Hamborg un Bremen - ick meen also up Bundesebene - dringend bruukt,
is en hauptamtlichen Stöhnpahl.
({4})
Dat gifft woll den Bundesraat für Nedderdüütsch, man
de arbeit blots ehrenamtlich.
Mi dücht: In de Amtsstuven sitt noch jümmers to
vele, för de Platt keen Bildungs- und Kultur-Opdrag is,
mehr so’n beten folkloristischen Speelkraam.
Dat is de eerste wichtige Punkt: Wi all, un dat sünd
nich blots de Politikers in de Länner, nee, dat is ok de
Düütsche Bundesdag, wi mööt mithelpen bi’t Ümdenken. Blots so kriegt wi dat hen, de Sprakencharta lebennig to gestalten un Platt för de Tokunft fit to maken.
({5})
De twete Punkt aver is de, op den dat ünner’n Streek
ankamen deit. Un dat is: Platt mutt wedder mehr lehrt
warrn. De Familien schafft dat allen nich. Verene un Verbänn överall in’t Land mit vele, vele Ehrenamtlers sünd
ünnerwegens in Scholen un Kinnergoorns, dat Platt wedder mehr Togo p kummt. Op lange Sicht mööt aver ganz
richtige Pädagogen ran. Noch jedenfalls hett Platt sien
Platz in de Bildung nich funnen. Noch schrievt de meisten Länner in den Staatenbericht för de Spraakencharta
rin: En Ünnerrichtsfach Plattdüütsch - dat wüllt wi nich.
Un liekers: ok hier beweegt sik wat.
({6})
In Neddersassen gifft dat siet 2011 en Erlass, wo binnensteiht: To de Opgaven vun de School höört ok dat PlattLehren mit to. En Stück wieder sünd se in Hamborg. Dor
hebbt wi siet 2010 en School-Fach Platt.
Wat hier heel un deel nee is un wat ok mi Ümdenken
to doon hett: Hier geiht dat um dat Lehren vun de Spraak
un nicht mehr üm dat Bemöten - Sprachbegegnung
hebbt wi op Hooch dor to seggt. Nee, hier geiht dat üm
dat Snacken un Verstahn. Hier geiht dat üm kognitive un
soziale Kompetenzen.
({7})
Un üm regionalkulturelle Kompetenzen. Und wenn ich
das hier so auf Hochdeutsch sage, dann merkt man, wie
schön und einfach Platt eigentlich ist.
({8})
Man, vun de 8 Länner sünd 7 noch nich so wiet. Wi
hebbt noch en langen Weg vör us. De Snackers vun Platt,
Freesch, Sorbisch, Däänsch und Romaans - se all schüllt
weten, dat de Düütsche Bunnsdag sik för ehr Spraken un
ehr Kultur insetten deit. Dorüm segg ik: Stellt Se sik
achter uns Andrag. Un stimmt Se för us Forderungen.
Bavenan steiht mit Punkt 8: Mehr Platt in de Bildung.
Dorför bruukt wi frische Konzepte för dat Sprakenlehren. Un de fallt nich vun’n Heven - vom Himmel fallen
die nicht. Hier mööt de Länner sik tohoopsetten. Un villicht kann de Bund dat Afstimmen in de Hand nehmen.
Wi bruukt en Plaan för all 8 Länner, wi bruukt en Plaan,
de dorför sorgt, dat jeedeen Platt ok in’n Kinnergoorn un
in de School lehren kann.
Denn dat is man kloor: Een vun de besten Opgaven
vun uns Volksvertreters, dat is: dat wi uns üm de Saken
kümmert, de de Minschen an’t Hart liggt. Dat is nich
blots de Arbeitsplatz un dat Geld in de Knipp. Dat is ok
de Qualität vun dat Leven dor, wo man to Huus is, won
ik mi utkenn un wo ik kloor mien Menung segg. Platt is
Alldagsleven: Dor föhl ik mi wohl. Un ik denk, wi
schullen hier en Bidrag leisten, dat sik de Minschen wieter in ehre Regional- un Minnerheitenspraken wohlföhlen köönt.
Velen Dank.
({9})
Torsten Staffeldt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Moin, verehrte Frau Präsidentin!
({0})
Moin, moin.
Hier kommt noch en Plattsnacker.
({0})
Leve Maten vun den Bunnsdag, Mannslüe und Fronslüe, ik beed Se, wenn Se wat to ropen wüllt oder Fragen
stellen wüllt, dat Se dat blots in Plattdüütsch maken
doot. Velen Dank.
Man seggt, dat de besten Plattsnackers in SleswigHolsteen leevt.
({1})
De Wolfgang Börsen hat uns das nu zeigt. Dor gifft dat
24 Perzent vun de Lüüdde in Sleswig-Holsteen seggt,
dat se goot Plattsnacken köönt. In Sassen-Anholt blots
4 Perzent un in Bayern keeneen.
({2})
Un Bremen und Mecklenborg-Vörpommern hefft enbeten wat gemeen: Dor snackt 19 Perzent Platt. Ann düsse
Tallen seht se, leve Maten, dat de Spraakbruuk länger
besteiht as de Muur us Düütsche deelt hett.
„Die Sprache eines Volkes ist seine Seele“, schreev
Johann Gottlieb Fichte.
({3})
Un Ernst Moritz Arndt seggt: „Wer sich der Sprache seines Volkes entfremdet, entfremdet sich seines Volkes
selbst.“
({4})
Dat weer also heer richtig un wichtig, dat Düütschland
1992 in Straßburg as een vun de eersten Verdragslüüd de
Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ünnerschreven hett. Se is siet 1998 in Kraft.
Dat Teel is, Regional oder Minderheitenspraken as en
Stück europääisch Kultur zu schützen.
Spraak is en geistig un kulturelle Heimat. Lengen un
Bangen, Hopen, Drööm un Troer, jo ok dat Dagdäägliche spegelt sik in de Spraak wedder. Veel kann op
Plattdüütsch klor un ohn Snörkeln seggt werrn. Als Bispiel: Das ist illusorisch. - Dor ward nix vun.
({5})
Hau ab! - Maak dat du den Dreih kriggst! Und dat
Beste: Keine Angst! ({6})
Schiet di man nich inne Büx!
({7})
Sprache is identitätsstiftend. In de Tiet vun de Hanse
weer Nedderdüütsch de allgemene Spraak in Noorddüütschland. Se weer Hannelsspraak an de Küst vun
Oost- un Noordsee. De Lüüd spreken nich blots Plattdüütsch, nee, Plattdüütsch wurr ok schreven, in de Justiz,
de Verwalten, de Wirtschopp von Noordeuropa. Twüschen London, Bergen, Danzig, Riga und Nowgorod
spreken de Kooplüüd un Kaptaine Platt; ok de Verdrääg
hett man op Platt maakt. De Sinnspröök vun de Bremer
Kooplüüd över de Hannelskamer wiest vundagen noch
darop hen: „Buten un binnen, wagen un winnen“.
Platt is en Tiefwurzler, miene Damen un Heren. Dat
heet, de Spraak hett Blädder laten, as en Boom in’n
Storm. Se hett aver ok, just so as de annern Spraken, de
wi vundagen hier to hören kriegt, depe Wutteln un överleevt siet Johrhunnerten.
So, nun hebb ik nich mehr ganz so veel Tiet.
({8})
Da mutt ik dat mal en beten körten. - Dor gifft dat en
ganze Menge an schöne Saken in Plattdüütsch. Dor gifft
dat Wettbewarbe in Dütschland, över 30 utloovt Priesen
för de nedderdüütsche Kultur. Dor heeb ik noch en poor
Bispill dorför, aber dat laat ik mal. Allens gode Saken.
Aber kennt Se Plattsounds? Dat is en Wettstriet för
Muskanten un Bands ut Neddersassen un Noordütschland.
({9})
Bands as „Fettes Brot“ un „de Fofftig Penns“ hebbt
wiest, dat Plattdüütsch un moderne Musik goot tohoop
passen doot.
({10})
Dat is ok de Grund, worüm dat bi Plattsounds all Musikrichten gifft, vun Hip-Hop, Elektro, Rock, Indie, Metal, Punk bit Reggae. Mit Reggae hebb ik en beten Probleme mit, aber - na ja.
Wi sünd Afordente, miene Damen un Heren, un wi
mööt dorför sorgen, dat man solke Verdrääg as de Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ünnerschrievt. Vele Minschen sünd freewillig
dorbi, düsse Charta Leven to geven un se an’t Leven to
holen. Düsse Minschen stütten und föddern dormit jeden
Dag Toleranz. Se sünd de Grundlaag, dat Spraken bestahn blievt, wiel se in en Minnerheitenspraak snackt.
Dorüm schüllt wi düsse Minschen nich blots an een Dag
as hüüt Dank seggen, denn ehr Engagement is grootortig.
({11})
Wat ik noch seggen will: Kinner, de neven Düütsch
noch een anner Spraak as Modderspraak lehren, hebbt
dat lichter, en Frömdspraak to lehren. - Ik heff dat sehn,
nich?
Fein!
({0})
De Stütt vun de Spraak is eenzig un alleen de Opgaav
vun de Länner un liggt in ehre Hannen. Sleswig Holsteen stütt dat Plattsnacken mehr as to’n Bispill de Bremer Senat.
Herr Kollege.
Ik bin gleich sowiet. - Ok dat is en Grund för mi as
Bremer Afordenter, Beauftrafter für die nedderdüütsche
Spraak in miene Fraktion to sien.
({0})
Herr Kollege!
Ich bin sofort fertig. Da kommt nur noch ein Snack.
Dat wi dorto mehr Geld bruukt, dat is ok kloor. In
Bremen hefft wi en Spröök, de heet:
Bin en lütten Königgiff mi nich so weniglaat mi nich so lange stohndenn ik mutt noch wietergohnHalli Halli HalloSo geiht‘t in Bremen to …
Dank di.
({0})
Raju Sharma hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das is ja
man een Fest för de Tohörer un Tokiekers, wenn een so
Plattdütsch schnackt as de Kollege Börnsen; un so
klook!
({0})
Das Problem ist aber, dass wir so viele Sprachen haben, über die wir reden. Danske doli, und wenn ich jetzt
mit Sorbisch oder mit Friesisch anfange, dann versteht
sowieso keiner etwas. Ich versuche es mal auf Hochdeutsch:
„Sprache ist eine Waffe“, schrieb der Pazifist Kurt
Tucholsky, und das ist zweifellos richtig. Sprache kann
aber auch eine Brücke und eine Grundlage für eine gelungene Verständigung sein. Sprache schafft Identität.
Wenn wir unsere Sprache verlieren, geht auch ein Stück
unserer Identität verloren. Das gilt ganz besonders für
Minderheiten. Sie zu schützen und damit einen Beitrag
zu Frieden und Völkerverständigung zu leisten, ist ein
wesentliches Anliegen der Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen,
({1})
die vor nunmehr 20 Jahren vom Europarat zur Zeichnung aufgelegt wurde. Dass der vorliegende fraktionsübergreifende Antrag dies würdigt, ist auch aus Sicht der
Linken ausdrücklich zu begrüßen.
Oft ist jedoch nicht entscheidend, was man sagt, sondern das, was man nicht sagt. So richtig die Ziele sind,
zu denen Deutschland sich mit der Unterzeichnung der
Europäischen Sprachencharta verpflichtet hat, so unzureichend ist immer noch der Stand der Umsetzung. Manche der in den vier Kontrollberichten aufgezeigten Defizite lassen sich mit zusätzlichen Anstrengungen und mit
zusätzlichem Geld beheben. Andere Probleme sind
strukturell. Wenn wir hier zu entscheidenden Verbesserungen kommen wollen, müssen wir auch diese strukturellen Mängel ansprechen und bereit sein, sie grundlegend zu verändern. Ich will das an drei Beispielen
deutlich machen:
Erstens. Der Minderheitenbegriff muss weiter gedacht werden. Derzeit bezieht die Sprachencharta sich
nur auf nationale und autochthone Minderheiten. Es gibt
in Deutschland aber noch weitere Minderheiten, deren
Sprache gefährdet ist, die aber noch keinen Schutz genießen. Die Überlegung, auch die Sprache anderer Gruppen mit jüngerem Migrationshintergrund zu schützen,
mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen.
Wenn wir aber wissen, dass in Tschechien rund 60 000
eingewanderte sogenannte Gastarbeiter aus Vietnam als
nationale Minderheit geschützt werden, dann ist die
Idee, sich aktiv für den Schutz und die Förderung der
Sprache von über 800 000 in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden einzusetzen, ganz sicher nicht mehr
so abwegig.
({2})
Zweitens. Keine Sprache ohne Sprecherinnen und
Sprecher. Wenn - wie in der Lausitz - infolge des
Braunkohleabbaus viele Menschen ihre Heimat und ihre
Arbeit verlieren, ist nicht nur die Region vom Aussterben bedroht, sondern auch die sorbische Minderheit.
Wenn sorbische Dörfer umgesiedelt und abgebaggert
werden, werden auch die Kultur und die Sprache der
Sorben zurückgedrängt. Minderheitenschutz bedeutet
hier ganz konkret, dass die Wirtschaftsregion erhalten
bleiben und gefördert werden muss. Mit dem geltenden
Bergrecht ist das kaum möglich.
({3})
Drittens. Minderheitenschutz ist auch Sache des Bundes. Viele der Verpflichtungen, die Deutschland mit der
Unterzeichnung der Europäischen Sprachencharta eingegangen ist, müssen aufgrund unseres föderalen Aufbaus
von den Ländern umgesetzt werden. Minderheiten und
ihre Kultur sind aber eine Bereicherung für die ganze
Gesellschaft. Deshalb sollte sich der Bund auch angemessen an den damit verbundenen Kosten beteiligen.
Als die frühere schleswig-holsteinische Landesregierung entgegen der mit den Bonn-Kopenhagener Erklärungen eingegangenen Verpflichtungen die Zuschüsse für die
Schulen der dänischen Minderheit massiv gekürzt hat,
({4})
ist es Regierung und Opposition auf Bundesebene gelungen, durch gemeinsame Anstrengungen und viel Kreativität die gravierendsten Folgen dieser Eingriffe abzuwenden.
({5})
Das war im Einzelfall gut und richtig. Anstelle von Notlösungen benötigen wir aber Regelungen, die den Bund
dauerhaft in die Lage versetzen, seiner Verantwortung
zum Schutz der Minderheiten gerecht zu werden.
Wenn das mit der Föderalismusreform eingeführte
Kooperationsverbot einem wirksamen Schutz der Minderheiten im Wege steht, so sollten wir das Kooperationsverbot beseitigen und nicht den Minderheitenschutz.
({6})
Am guten Willen der Länder sollte dies nicht scheitern.
Während der Schleswig-Holsteinische Landtag als erstes
Parlament mit den Stimmen aller Fraktionen einen Anspruch der Sinti und Roma auf Schutz und Förderung in
der Landesverfassung verankert hat, hat der Verfassungsminister des Bundes eine Debatte über einen angeblichen Asylmissbrauch von Sinti und Roma aus Serbien und Mazedonien angestoßen. Hier kann der Kollege
Friedrich von seinen Parteifreunden im Norden noch einiges lernen.
({7})
Minderheiten sind eine Bereicherung für das ganze
Land. Deshalb braucht es eine Minderheitenpolitik, die
Sprachen und Traditionen von Minderheiten als Teil eines Ganzen und als Bereicherung im Zusammenleben
von Menschen begreift, fördert und schützt. Die Europäische Sprachencharta hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet. Dies zu würdigen, ist gut. Sie umzusetzen,
wäre noch besser.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Cornelia Behm hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bekam dieser Tage diese Karte mit dem
Satz: „Nutze deine Zunge nicht nur zum Küssen!“ zugeschickt. Das ist eine witzige Aufforderung, die Sprache
als Ausdruck kultureller und nationaler Identität lebendig zu halten, und zwar durch Sprechen.
({0})
Sprache zu bewahren und weiterzuentwickeln, ist jedoch nicht nur eine Angelegenheit der jeweiligen
Sprachgemeinschaft, sondern auch eine Sache der Politik. Sprachenpolitik ist insbesondere dort gefragt, wo
Sprache gefährdet ist und verloren zu gehen droht. Deshalb gehört eine Sprachendebatte auch ins Parlament.
Mit unserer Kollegin Michalk wird eine Vertreterin
der sorbischen/wendischen Minderheit aus Sachsen in
dieser Debatte reden.
({1})
Im Gegensatz zum sächsischen Teil der Lausitz wird in
meiner Heimat, im brandenburgischen Teil, Niedersorbisch gesprochen. Niedersorbisch wurde 2008 vom Europarat als eine der bedrohtesten Sprachen Europas eingestuft. Vor allem infolge von Sprachverboten,
fehlendem Sorbischunterricht und der kohlebergbaubedingten Umsiedlung ist etwa ab 1930 ein Sprachwechsel
vom Niedersorbischen zum Deutschen eingetreten.
Heute sprechen nur noch die älteren sorbischen/wendischen Menschen und einige wenige Jüngere das Niedersorbische auf muttersprachlichem Niveau. Eine familiäre Weitergabe der Sprache ist so kaum möglich.
Damit aber die Kinder aller sorbischen/wendischen
Familien ihre Muttersprache erlernen können, gibt es das
sprachliche Revitalisierungsprogramm WITAJ - „Witaj“
heißt Willkommen - für Kinder in Kitas und Schulen.
Für die Ausbildung der Lehrkräfte aber, die auch für
Volkshochschulkurse und außerschulische Angebote
dringend gebraucht werden, fehlt das Geld. Hier erwarte
ich vom Land Brandenburg mehr Engagement. Ein Kurs
für fünf Erzieherinnen beispielsweise würde etwa
10 000 Euro kosten. Das sollte auch bei klammen Kassen zu realisieren sein.
({2})
Lassen Sie mich noch über eine andere Sprachgemeinschaft sprechen: die Sinti und Roma. Sie sind in
vielen Ländern Europas beheimatet. In Deutschland leben geschätzt etwa 70 000, und das seit etwa 600 Jahren.
Die Bundesrepublik Deutschland hat 1995 die auf ihrem
Territorium lebenden deutschen Sinti und Roma als autochthone nationale Minderheit anerkannt. Ihre Sprache,
das deutsche Romanes, hat viele regionale Dialekte. Es
wird mündlich weitergegeben. Lehrbücher gibt es nicht.
Für die Sprache Romanes gilt im Allgemeinen die Maxime: nur von Sinti für Sinti. Auch das hat historische
Hintergründe, waren die Sinti und Roma doch in der
Vergangenheit schlimmster Verfolgung ausgesetzt. Im
Nationalsozialismus wurden sie ausspioniert, deportiert
und in Vernichtungslagern umgebracht. Seither achten
sie streng darauf, dass alle das deutsche Romanes betreffenden Angelegenheiten, also auch die Weitergabe der
Sprache, nur innerhalb der Sprachgemeinschaft geregelt
werden.
Dennoch ist die Politik gefragt. Nach Art. 11 der
Charta verpflichten sich die Vertragsparteien, sicherzustellen, dass die Interessen der Sprecher von Regionaloder Minderheitensprachen innerhalb der Gremien, die
für die Gewährleistung von Freiheit und Pluralismus der
Medien verantwortlich sind, vertreten oder berücksichtigt werden. Doch die Beteiligung von Sinti und Roma in
Rundfunkräten und Landesmedienanstalten ist bisher
nur in Rheinland-Pfalz geregelt. Eine entsprechende Initiative auf Bundesebene wurde bisher lediglich für die
Deutsche Welle in Aussicht gestellt, jedoch nicht für einen bestimmten Zeitpunkt. Dabei wäre es außerordentlich wichtig, dass Sinti und Roma hier vertreten wären;
denn gerade diese Minderheit leidet heute erneut unter
Ausgrenzung und Ablehnung.
Frau Kollegin.
Einen Absatz bitte noch, Frau Präsidentin.
({0})
Das stellte jüngst bei der Eröffnung des Mahnmals für
die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma
auch die Kanzlerin fest. Schleswig-Holstein hat jetzt ein
Zeichen für eine bessere Politik gegenüber den Sintiund Roma-Minderheiten in ganz Europa gesetzt. Erstmals wurde der Anspruch auf Schutz und Förderung für
die Sinti und Roma in einer Verfassung verankert.
({1})
Frau Kollegin.
Dem sollten die anderen deutschen Bundesländer
baldmöglichst folgen. Sie sollten diesen Verfassungsauftrag wie auch die Sprachencharta mit Leben erfüllen.
({0})
Die Kollegin Maria Michalk hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es in meiner Muttersprache: Dobry
wječor! Das heißt: Schönen guten Abend!
Die Muttersprache ist für jeden Menschen ein wertvolles Gut und von besonderer Bedeutung. Das haben
wir heute schon sehr oft gehört, und man kann es nicht
oft genug wiederholen; denn sie ist aus der Historie heraus kulturelle Identität. Sie ist für jeden ein tief im Inneren verwurzeltes Gefühl von Heimat. Sie ist eine feste
Bindung an die eigene Sprachgemeinschaft.
Gleichzeitig kommt der Mehrsprachigkeit in unserer
offenen Welt mehr und mehr Bedeutung zu; ich denke,
auch das müssen wir in dieser Sprachendebatte erwähnen. Damit Sie sich ein bisschen in die sorbische Sprache hineinhören können, will ich Ihnen einen kleinen
Teil meiner Rede in sorbischer Sprache vortragen.
({0})
Moja maćeršćina, moja maćerna rěč je serbšćina.
Třeći raz rěču tu w Zwjazkowym sejmje serbsce.
({1})
Běchmy před 100 lětami, jako so Domowina - Zwjazk
Łužiskich Serbow załoži, po ličbje wjetši a wjetši lud.
({2})
Ale přeco zaso so naši prjedownicy wo wuwiće
serbskosće prócowachu a dźensa sej kóždy z nas sam
wuwědomi, kajka bohatosć naša maćeršćina, naša
serbšćina je a kajke lěpšiny kóždemu dwurěčnosć
přinjese.
Jako serbski lud přeco hišće eksistujemy. Bohu dźak!
Wosebje wotewrjenosć našich młodostnych k serbskej
kulturje a serbskim słowam mje we wiziji skrući, zo tež
w přichodźe jako mały lud w Europje wobstać budźemy.
Běchmy, smy a budźemy!
({3})
Wir waren, wir sind und wir werden bleiben - das ist in
Zeiten, in denen der Wind dem sorbischen Volk so richtig ins Gesicht blies, sehr oft unser Motto gewesen.
In der Lausitz, der Heimat der Sorben, heißt der Willkommensgruß „Witaj“; Frau Behm hat es schon gesagt.
Seit 14 Jahren ist „WITAJ“ auch die Bezeichnung für ein
Projekt, das den frühkindlichen Erwerb der sorbischen
und deutschen Sprache forciert. „WITAJ“ legt den
Grundstein für eine komplexe mehrsprachige Bildung
von der Kinderkrippe bis zur Universität. „WITAJ“ ist
das Eintauchen in ein sorbisches Sprachbad nach der bewährten Immersionsmethode. Sprache ist an Personen
gebunden. Deshalb spricht die eine Kindergärtnerin nur
Sorbisch mit den Kindern und die andere nur Deutsch
mit den Kindern. Es ist bewundernswert, was sich daraus
entwickelt hat; in den entsprechenden Berichten kann
man das nachlesen. Daran müssen wir weiter arbeiten.
({4})
Ich will an die vorangegangenen Sprachendebatten in
diesem Hohen Haus erinnern. Beim letzten Mal, 2009,
haben wir gefordert, einen Sprachenkongress durchzuführen. Wir wissen heute, dass sich dieser Kongress
mittlerweile in der Vorbereitungsphase befindet. Es ist
doch interessant, zu erfahren, welche RahmenbedingunMaria Michalk
gen Minderheiten beim Erlernen ihrer Sprache vorfinden, zum Beispiel die Deutschen in Polen und die Sorben in Deutschland. Ich unterstütze das Vorhaben, einen
Sprachenkongress durchzuführen, der ein wichtiger
Baustein für das Haus Europa sein kann, ausdrücklich.
({5})
Ich will auf einen anderen Aspekt hinweisen: eigene
Sprache, eigene Schriftzeichen. Die Muttersprache in
Wort und Schrift in der Lausitz zu verwenden, ist kein
Problem; alles ist da. Hat man es aber mit Institutionen
außerhalb dieses Gebietes zu tun - das ist zum Beispiel
dann notwendig, wenn es um die Eintragung in ein Vereinsregister geht -, ist das ein Problem. Die Vorsitzenden
unserer Vereine tragen nämlich häufig sorbische Namen
- wir definieren uns ja nicht über die Territorialautonomie, sondern über die Kulturautonomie -, und ihre Namen müssen in Sorbisch in das Vereinsregister eingetragen werden. Zurzeit geht das aber noch nicht, weil in
dem Vereinsportal, das modernerweise für ganz
Deutschland eingerichtet worden ist, damit jeder Vereinsvorsitzende von seinem Schreibtisch zu Hause das
Vereinsregister einsehen kann, noch keine sorbischen
Zeichen zur Verfügung stehen. Hier erleben wir ein Beispiel dafür, dass uns moderne Kommunikationstechnologien und Tradition immer wieder vor neue Herausforderungen stellen. Ich bitte Sie ausdrücklich, uns dabei zu
unterstützen, dass wir im Rahmen des Programms RegisStar die Buchstaben bekommen, die für die osteuropäische Sprachengemeinschaft und damit auch für Sorbisch wichtig sind.
({6})
Ich will auf einen Punkt hinweisen, der mir ganz
wichtig ist. Ich sage es erst einmal auf Sorbisch: Wulke
wjerški, bohate nazhonjenja a wjesoła zhromadnosć
lětušeje EUROPEADY we Łužicy su Serbam znowa pokazali, kajka wulka swójba europske mjeńšiny su a zo je
sebjewědomje za rjanu serbsku rěč samozrozumliwa
wěc.
Das heißt: Die Europiade in diesem Jahr in der Lausitz, wo die Minderheiten Europas ein kleines Fußballturnier gespielt haben, hat gezeigt, wie wichtig es ist,
dass sich die Minderheiten untereinander begegnen, in
fröhlicher Gemeinschaft ihre Kultur pflegen und ihr
Selbstbewusstsein stärken,
({7})
das wir brauchen, um weiter zu existieren.
Ich danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie mir zugehört
haben. Wutrobny dźak.
({8})
Unser Kollege Serkan Tören gibt seine Rede zu Pro-
tokoll.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag,
den Sie auf Drucksache 17/11638 finden. Noch einmal
der Titel: „20 Jahre Zeichnung der Europäischen Charta
der Regional- und Minderheitensprachen“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen. Enthalten hat sich
überwiegend die Fraktion Die Linke, zugestimmt haben
ein Abgeordneter der Fraktion Die Linke
({0})
und das gesamte übrige Haus. Damit ist der Antrag angenommen.
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und
zukunftsweisend umsetzen
- Drucksache 17/11664 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu
geben. - Hierzu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11664 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen
vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen
Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998
- Drucksache 17/10975 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe ({3})
- Drucksache 17/11583 Berichterstattung:Abgeordnete Michael FrieserChristoph SträsserMarina SchusterAnnette GrothVolker Beck ({4})
1) Anlage 5
2) Anlage 7
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Universal Periodic Review - Menschen-
rechtslage in Deutschland auf dem Prüf-
stand des UN-Menschenrechtsrates
- Drucksache 17/11675 -
Hier wird ebenfalls vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden.1)
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/11583, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10975
anzunehmen. Wer stimmt für diesen Gesetzentwurf und
erhebt sich deswegen? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Wir stimmen über den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/11675 ab. Wer stimmt für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Zustimmung von SPD und Grünen abgelehnt.
Die Linke hat sich enthalten. CDU/CSU und FDP waren
dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und
zur Stärkung der Gläubigerrechte
- Drucksache 17/11268 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({5})-
Finanzausschuss
Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto-
koll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11268 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-Sicherheitsrat
- Drucksache 17/11576 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({6})-
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Impulse
für Frieden und Abrüstung
- Drucksachen 17/4863, 17/7397 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Rainer StinnerJan van AkenKerstin Müller ({8})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Die internationale Schutzverantwortung
weiterentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller ({10}), Volker Beck
({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutzverantwortung weiterentwickeln und
wirksam umsetzen
- Drucksachen 17/8808, 17/9584, 17/10902 Berichterstattung:Abgeordnete Roderich KiesewetterHeidemarie Wieczorek-ZeulMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller ({12})
Die Reden sollen ebenfalls zu Protokoll gegeben
werden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so be-
schlossen.3)
Die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/11576
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
wird vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Im-
pulse für Frieden und Abrüstung“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7397, den Antrag auf Drucksache 17/4863
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CSU/
CSU, FDP und Linke angenommen. Dagegen haben
SPD und Grüne gestimmt.
Tagesordnungspunkt 20 c. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 17/10902. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
1) Anlage 6
2) Anlage 8 3) Anlage 9
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
SPD auf Drucksache 17/8808 mit dem Titel „Die internationale Schutzverantwortung weiterentwickeln“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP
und Linke. Dagegen haben SPD und Grüne gestimmt.
Enthaltungen gab es keine.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9584 mit dem Titel „Schutzverantwortung weiterentwickeln und wirksam umsetzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen, wiederum bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und Linke. SPD und Grüne haben wieder dagegen gestimmt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/11470 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({13})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und Medien
Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die Bundesregierung das Wort dem Kollegen Max Stadler.
({14})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ein vieldiskutiertes Thema wie das Leistungsschutzrecht für Presseverleger verdient eigentlich eine
Debatte, die nicht im Schutze der Dunkelheit stattfindet.
({0})
Aber das Internet schläft nicht. Dank der modernen
Kommunikationsmöglichkeiten wird sehr wohl aufmerksam verfolgt werden, wie das Parlament den Regierungsentwurf zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
bewertet.
Der Entwurf ist ja schon im Vorfeld im wahrsten
Sinne des Wortes verfolgt worden. Es hat eine etwas
schrille Begleitmusik gegeben, insbesondere durch die
gegen dieses Gesetz gerichtete Kampagne von Google.
In der gestrigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung
hat Heribert Prantl die richtige Antwort gegeben: Er hat
Google als „Schein-Schutzengel des Internets“ bezeichnet. Er hat betont, dass man natürlich Einwände gegen
dieses Gesetz haben könne, dass es aber jedenfalls nicht,
wie die Gegenkampagne es suggeriere, gefährlich sei.
Es ist nicht gefährlich für die Informationsfreiheit,
es ist nicht gefährlich für die Kommunikationsgrundrechte, es ist nicht einmal gefährlich für den
gewaltigen Geldbeutel von Google.
So schreibt Heribert Prantl zutreffend.
Meine Damen und Herren, bei dem bekannten Pro
und Kontra gibt es in der Abwägung ein entscheidendes
Argument: Das Urheberrechtsgesetz kennt schon jetzt
eine Vielzahl von anderen Leistungsschutzrechten. Es ist
daher im Sinne der Gleichbehandlung schwer einzusehen, warum ausgerechnet Presseverlegern ein solches
Leistungsschutzrecht verweigert werden sollte.
({1})
Verlage sollen künftig im Onlinebereich nicht schlechter
gestellt sein als andere Werkvermittler. Nicht mehr und
nicht weniger leistet unser Gesetzentwurf.
Weil Frau Rößner schon so skeptisch schaut, will ich
neben diesem etwas formalen Gleichbehandlungsargument auch noch das materielle Gerechtigkeitsargument
in die Debatte einführen. Es gibt Geschäftsmodelle, die
in besonderer Weise darauf ausgerichtet sind, für die eigene Wertschöpfung auch auf die verlegerische Leistung
zuzugreifen.
({2})
Der Regierungsentwurf beschränkt sich genau auf diesen
Aspekt. Wir schaffen nur Regelungen, die zum Schutz
der Presseverleger im Internet wirklich erforderlich sind.
Dementsprechend soll mit dem neuen Leistungsschutzrecht den Presseverlagen lediglich das ausschließliche
Recht eingeräumt werden, Presseerzeugnisse zu gewerblichen Zwecken im Internet öffentlich zugänglich zu machen. Dieses Recht können Verleger nur gegenüber Anbietern von Suchmaschinen geltend machen sowie
gegenüber den Anbietern von solchen Diensten im Netz,
die Inhalte entsprechend einer Suchmaschine aufbereiten. Presseverlage können also nur von diesen Anbietern
künftig verlangen, Nutzungen zu unterlassen, oder sie
können mit ihnen Lizenzgebühren vereinbaren.
Gesetzlich zulässig und unentgeltlich bleibt die Nutzung durch andere, wie zum Beispiel die Nutzung durch
Blogger, durch Unternehmen der sonstigen gewerblichen Wirtschaft, durch Verbände, Anwaltskanzleien oder
private bzw. ehrenamtliche Nutzer.
In seiner schlanken und ausgewogenen Fassung bildet
der Gesetzentwurf sicherlich eine sehr gute Grundlage
für die Debatte in den Ausschüssen. Deswegen hätten
wir den Schutz der Dunkelheit für diesen Gesetzentwurf
wirklich nicht gebraucht.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat Martin Dörmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD lehnt das von der Bundesregierung vorgeschlagene Leistungsschutzrecht für Presseverleger ab. Drei
Jahre hat Schwarz-Gelb gebraucht, um hierzu nach vielen Volten hin und her überhaupt einen Gesetzentwurf
vorzulegen. Es waren drei verlorene Jahre für die Medienpolitik. Am Ende ist ein Vorschlag herausgekommen,
der völlig kontraproduktiv ist.
({0})
Denn er wird der Medienlandschaft in Deutschland nicht
helfen, schafft neue Rechtsunsicherheiten und droht hilfreiche Suchmaschinenfunktionen faktisch einzuschränken.
({1})
Die Stimmen der Kritiker sind dementsprechend vielfältig. Namhafte Urheberrechtler warnen vor den negativen Folgen. Der IT-Branchenverband BITKOM und der
BDI erwarten eine Schwächung des Innovations- und Investitionsstandorts Deutschland. Der Vorsitzende der
Monopolkommission, Professor Haucap, den ich hier
ausdrücklich zitieren darf, hält das Ganze gar für eine
„Schnapsidee“. Selbst Junge Union und Junge Liberale
fordern heute mit den anderen Jugendorganisationen
politischer Parteien, den Gesetzentwurf abzulehnen, weil
sie darin einen Eingriff in die Freiheit des Internets sehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Beispiele der Frankfurter Rundschau und der Financial
Times Deutschland haben zuletzt ein schmerzliches
Schlaglicht auf die Probleme im Zeitungsmarkt geworfen. Vor diesem Hintergrund möchte ich ausdrücklich
festhalten: Qualitativ hochwertige journalistische Angebote sind von entscheidender Bedeutung für die Meinungsvielfalt und unsere Demokratie.
({2})
Guter Journalismus erfordert engagierte Journalisten, die
von ihrer Arbeit leben können. Er erfordert zugleich Recherche, Organisation und damit Geld, das letztlich von
den Presseverlegern verdient werden muss, und zwar
auch im Internet.
({3})
Es ist daher folgerichtig, dass immer mehr Verleger versuchen, Bezahlangebote im Netz zu etablieren, und dass
sie bereits heute bestehende Urheberrechte an Texten
schützen wollen.
Guter Journalismus hat einen Wert, den es zu respektieren gilt. Es ist deshalb selbstverständlich nicht hinzunehmen, wenn einzelne Portale urheberrechtlich geschützte Zeitungsartikel ohne Zustimmung von Autoren
und Verlagen selbst vermarkten und auf deren Kosten
Geld damit verdienen.
({4})
- Ich sehe, es gibt möglicherweise eine Zwischenfrage
des Kollegen Jarzombek. Ich möchte die Präsidentin bitten, diese Zwischenfrage aufzurufen.
Das war eine gewunkene Zwischenfrage. Bitte schön.
Herr Kollege Dörmann, ich muss Ihnen erst einmal
ein Kompliment machen: Sie sind frischer als das Präsidium, was das Erkennen von Zwischenfragen betrifft.
({0})
Ich habe zwei Fragen an Sie. Die erste Frage ist: Ich
würde gerne von Ihnen wissen, wo die Kollegin
Dr. Hendricks ist, die als Generalbevollmächtigte der
DDVG über, so glaube ich, 15 oder 20 Prozent des deutschen Zeitungsmarktes verfügt und Mitglied dieses Hauses ist. Dass sie an dieser Debatte nicht teilnimmt, finde
ich - ich sage es einmal vorsichtig - bemerkenswert.
Also: Wo ist die Kollegin?
Die zweite Frage an Sie ist: Sie haben erklärt, Sie
lehnten dieses Leistungsschutzrecht rundweg ab. Ihre
Partei, die SPD, hat über die Holding DDVG eine ganze
Reihe von Beteiligungen an deutschen Zeitungen. Können Sie heute eine Aussage darüber treffen, ob die Zeitungen, die der SPD gehören, Verhandlungen im Rahmen des Leistungsschutzrechtes, wenn es beschlossen
wird, aufnehmen werden, um damit Erlöse von den
Suchmaschinen zu erzielen?
Herr Kollege Jarzombek, es ist bezeichnend, dass Sie
eigentlich nicht zum Thema reden möchten, sondern ein
bisschen Ablenkungsmanöver betreiben.
({0})
Bezeichnend ist auch, dass wir diese Debatte, wie der
Kollege Stadler zu Recht gesagt hat, zu nachtschlafender
Zeit führen müssen, weil sich die Koalition für das
Ganze schon ein bisschen schämt.
({1})
Ihre Frage ist eine rein hypothetische Frage, die ich natürlich gar nicht beantworten kann. Sie wissen ganz genau, dass die DDVG in der Regel ganz kleine Minderheitsbeteiligungen hat
({2})
und sich aus redaktionellen Dingen heraushält. Hier werden also Äpfel mit Birnen verglichen. Ich kenne diese
Diskussion auch im Zusammenhang mit bestimmten
Zeitungen.
({3})
- Ich lasse gerne noch eine Nachfrage von Herrn Kollegen Jarzombek zu, der aber eigentlich nicht zur Sache
reden will.
Das ist schön. Aber wir machen jetzt keinen Dialog,
sondern Sie fahren in Ihrer Rede fort.
Die SPD ist dafür, dass es dieses Leistungsschutzrecht überhaupt nicht gibt. Insofern stellt sich diese hypothetische Frage gar nicht.
({0})
Herr Kollege, fahren Sie doch in Ihrer Rede fort.
Okay. - Dort, wo es heute Probleme bei der Rechtsdurchsetzung gibt, sind wir für verbesserte Möglichkeiten der Presseverleger, damit diese effektiv gegen solche
illegalen Geschäftsmodelle, die ich vorhin genannt habe,
vorgehen können.
Das vorgeschlagene Leistungsschutzrecht löst die bestehenden Probleme aber gerade nicht, sondern schafft
neue. Es geht letztlich darum, Suchmaschinen entgeltpflichtig zu machen und hierüber neue Einnahmequellen
zu generieren, und zwar auch dann, wenn sie nach heutiger Rechtslage völlig legal verlinken und dabei kurze
Textteile anzeigen, damit man Artikel inhaltlich zuordnen kann.
Aus Sicht der SPD-Fraktion erfüllen Suchmaschinen
aber eine wichtige Wegweiserfunktion im Internet, die
wir erhalten wollen. Mit technischem und finanziellem
Aufwand erbringen Suchmaschinen eine eigene Leistung, die für viele Internetuser hilfreich ist. Auch die
Verlage wollen nicht darauf verzichten, gelistet zu werden - sie könnten das ja technisch heute schon verhindern -; denn sie wollen ja Leser auf ihre werbefinanzierten freien Angebote ziehen. Es ist deshalb niemandem
wirklich vermittelbar, dass nun Suchmaschinen, die das
heutige Urheberrecht nicht verletzen und den Verlegern
sogar finanzielle Vorteile bringen, über ein speziell auf
sie zugeschnittenes Leistungsschutzrecht ein Entgelt
zahlen sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Fraktion
hat vor wenigen Wochen einen umfassenden Antrag zur
Sicherung der Medienvielfalt und zu qualitativ hochwertigem Journalismus in den Bundestag eingebracht. Leider hat sich die Regierungskoalition verweigert, unsere
Vorschläge aufzunehmen oder zumindest ernsthaft zu
prüfen.
Gibt man heute in eine Suchmaschine den Begriff
„schwarz-gelbe Medienpolitik“ ein, findet man leider
keinerlei Konzepte, die den Herausforderungen wirklich
gerecht werden.
({0})
Insofern ist es, denke ich, notwendig, dass wir einen Relaunch machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Einen wunderschönen guten Abend! - Der nächste
Redner auf der Rednerliste ist der Kollege Ansgar
Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wir müssen die Märkte bändigen“
…
Sie
- gemeint sind die Bürger haben den Eindruck, dass ihre „gefühlte Ordnung“
aus dem Lot geraten ist … Viele Staaten und Regionen der Welt werden auf Europa schauen, ob es in
der Lage ist, dem liberalen Kapitalismus Angloamerikas auf der einen und dem autoritären Kapitalismus Chinas auf der anderen Seite sein Modell
des demokratischen Kapitalismus in Form der sozialen Marktwirtschaft gegenüber zu stellen.
({0})
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, stammt
nicht von mir,
({1})
sondern ist einem Gastbeitrag von Sigmar Gabriel im
Handelsblatt vom 2. März 2012 entnommen,
({2})
und es geht dabei um das Bändigen der Finanzmärkte.
Was hat das nun mit dem Leistungsschutzrecht für
Presseverlage zu tun?
({3})
- Ich habe mir schon gedacht, dass der Kollege von Notz
genau über dieses Stöckchen, das ich ihm hinhalte, jetzt
springen würde.
({4})
Vordergründig hat das erst einmal gar nicht viel damit zu
tun, aber es lohnt sich vielleicht, Herr Kollege von Notz,
auch einmal ein bisschen tiefer als nur auf die Oberfläche zu schauen.
({5})
Ein Großteil dieses Hauses ist mit der Situation auf
den Finanzmärkten nicht zufrieden. Kasinokapitalismus
und eine von der Realwirtschaft abgekoppelte Finanzwirtschaft haben uns seit 2008 eine Dauerkrise auf unterschiedlichen politischen Spielfeldern beschert.
({6})
Die Wucht der Ausschläge deregulierter Märkte überrollt gnadenlos die Gestaltungskraft der Staaten weltweit, vor allem aber Europas. Bis weit in bürgerliche
Kreise hinein - ich schließe mich hier selbst mit ein wird kritisch gesehen,
({7})
dass es kaum verbindliche internationale Regeln für
Finanzmärkte gibt.
({8})
Zugeschrieben wird der Schwund staatlicher Gestaltungsspielräume dabei nicht zu Unrecht auch der fortschreitenden Globalisierung. Mit ihr ist das Spielfeld für
Deregulierung eröffnet worden. Deutschland beweist
zwar, dass es mit der sozialen Marktwirtschaft und damit
mit einem feinnervigen System der Balance zwischen
unterschiedlichen Rechten über eine leistungsfähige
Wirtschaftsordnung verfügt - unsere wirtschaftliche
Stärke zeigt das -, gleichzeitig ist die soziale Marktwirtschaft aber nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal.
Der liberale Kapitalismus Angloamerikas ist international weiter in der Vorhand.
({9})
Insofern würden sicherlich viele den eingangs zitierten
Sätzen Sigmar Gabriels zustimmen.
({10})
Wir als Bundesrepublik sind doch schon immer mit dem
Willen zum schonenden Ausgleich der Interessen gut gefahren.
Damit nun zum Leistungsschutzrecht für Presseverlage.
({11})
- Es ist schön, dass Sie da schon applaudieren.
({12})
Letztlich ist die Diskussion um dieses Recht nichts anderes als ein Abziehbild der Diskussion um die Finanzmärkte.
({13})
Die Interessenlagen sind an dieser Stelle durchaus vergleichbar.
({14})
Interessant ist nur, wie verschoben die Wahrnehmung
bei der Auseinandersetzung um das Recht auf geistiges
Eigentum ist, insbesondere, wie ich jetzt merke, auf der
linken Seite des Hauses.
({15})
Letztlich geht es nämlich um das Gleiche. Es geht um
die Frage, wie dereguliert der Wirtschaftsraum Internet
- darum geht es eigentlich, trotz aller Camouflage - sein
soll. Sollen hier die Regeln des liberalen Kapitalismus
gelten, um in der Diktion Sigmar Gabriels zu bleiben,
oder ein auf Ausgleich bedachtes System der sozialen
Marktwirtschaft? Gerade nach den Erfahrungen mit den
Finanzmärkten fällt es mir nicht schwer, darauf eine
Antwort zu geben. Zumal das Urheberrecht in ökonomischer Hinsicht soziale Marktwirtschaft par excellence
darstellt: Seine Grundlage bildet das Eigentumsrecht,
das dem Urheber oder Leistungsschutzberechtigten die
Freiheit ökonomischer Verwertung sichert. Gleichzeitig
sind aber Schranken zugunsten der Freiheit anderer essenzieller Teil der Urheberrechtsordnung. Schon seiner
Grundstruktur nach ist das Urheberrecht damit auf den
Ausgleich von Rechten und von ökonomischen Interessen orientiert.
({16})
In diese Systematik fügt sich auch das Leistungsschutzrecht für Presseverlage ein. Es ist keine neue Erfindung. Leistungsschutzrechte gibt es bereits, seit es das
Urheberrecht gibt. Wir, die christlich-liberale Koalition,
haben uns lediglich entschieden, ein weiteres Leistungsschutzrecht einzuführen. Das Ziel ist dabei - so steht es
schon im Koalitionsvertrag -, dass Verlage im Onlinebereich nicht schlechter dastehen sollen als andere
Werkvermittler.
Das vorgeschlagene Leistungsschutzrecht für Presseverlage unterscheidet sich dabei massiv von anderen
bereits bestehenden, sogenannten verwandten SchutzAnsgar Heveling
rechten. Während andere Leistungsschutzrechte meist
ein weitreichendes Ausschließlichkeitsrecht für den
Rechteinhaber beinhalten, ist das vorgeschlagene Leistungsschutzrecht für Presseverlage bewusst schmal ausgestaltet.
({17})
Es differenziert - das ist dem Urheberrecht ansonsten
eher fremd - zwischen privater und gewerblicher Nutzung, und es vermittelt dem Leistungsschutzberechtigten
seine Rechte nur für ein Jahr.
Daraus resultiert beinahe schon zwangsläufig, dass
der Gesetzentwurf auch Fragen aufwirft,
({18})
die bei einer ebenso strengen Ausgestaltung des Leistungsschutzrechtes wie bei anderen verwandten Schutzrechten nicht auftreten würden. Diesen Fragen werden
wir uns sicherlich in der Anhörung vertieft widmen können. Während sowohl die Definition des Presseerzeugnisses als auch die des Presseverlages klar konturiert
sind, ist es sicherlich angezeigt, die juristische Validität
von Begriffen wie „Suchmaschine“ oder „gewerbliche
Anbieter“ noch einmal näher zu beleuchten.
({19})
Das wird die rechtliche Regelung des Leistungsschutzrechtes indessen nicht grundsätzlich infrage stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leistungsschutzrecht für Presseverlage ist ein bereits im Vorfeld
der parlamentarischen Beratungen intensiv diskutiertes
Thema. Das liegt wohl hauptsächlich daran, dass es als
Chiffre für ganz andere Debatten dienen soll. Diese Debatten müssen wir auch führen; das ist gar keine Frage.
Das Internet muss ohne Frage ein Freiheitsraum sein und
bleiben, so wie es im Übrigen die reale Welt in unserer
Bundesrepublik Gott sei Dank auch ist.
Markenkern unserer Freiheit ist dabei aber, nicht ausschließlich das Recht des ökonomisch Stärkeren zu berücksichtigen, sondern einen sorgsamen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen herbeizuführen. Das
sollten wir uns auch bewahren. Freiheit darf auch im Internet keine einseitige Freiheit sein.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Sitte für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Das ist nicht zu toppen, was er da geboten hat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute also zu später Stunde über den Sandkastenstreit, wer wem welches Schäufelchen in der Medienwelt aus der Hand schlagen könnte. Da schreien auf der
einen Seite die Verleger: „Google verdient Geld mit unseren Inhalten!“ und wollen deshalb Geld von Google.
Google kläfft nun seinerseits zurück und sagt: „Die Verlage bekommen von uns ohne Ende Onlinekunden, sollen sie doch froh sein darüber, da nehmen sie ja auch
Geld ein.“ Gleichzeitig tun beide Seiten so, als wären sie
für Gemeinwohl, für Demokratie und Weltfrieden absolut unverzichtbar. Aber letztlich streiten sich beide Seiten nur um fette Profite.
({1})
Nun könnte man ja sagen, das sei alles kindisches Gehabe und kindisches Gezänk, das könne man eigentlich
auch ignorieren. Aber da gibt es eben sehr wohl das ungenierte einseitige Parteinehmen der Bundesregierung
für Springer & Co. Und Herr Keese vom Springer-Verlag war es, der das in den letzten Jahren vorangetrieben
hat. Deshalb gibt es also kurz vor Weihnachten hier
schon einmal eine schöne Bescherung, einerseits für den
Springer-Verlag, andererseits für das Parlament in Gestalt des Gesetzentwurfes zum Leistungsschutzrecht für
Presseverlage. Das ist, ehrlich gesagt, nicht so ganz
leicht zu verstehen.
({2})
Warum ist das so schwer zu verstehen? Ganz einfach:
Weil es heute - ach, was heißt heute? Schon seit etwa
20 Jahren! - ganz einfache, problemlose, technische
Möglichkeiten gibt, mit denen die Verlage ihre Veröffentlichungen wirksam vor Suchmaschinen schützen
könnten.
({3})
Vor allem aber - das muss ich sagen, Herr Stadler - ist
das Gesetz denkbar schlampig formuliert.
({4})
Niemand weiß nämlich am Ende, wer von diesem Gesetz begünstigt oder dadurch zu Zahlungen verpflichtet
wird. Niemand weiß genau, wie der Schutzgegenstand
aussehen soll, was er sozusagen ist.
Wir wissen aber, dass dieses Leistungsschutzgeld erfolgreich Innovationen im Netz behindern wird, und
zwar immer dann, wenn es um Informationsaufbereitung
oder Informationsaggregation geht.
({5})
Die Linke hat zu den Rechtsunsicherheiten diese Woche auch eine Kleine Anfrage gestellt.
({6})
Ich wette mit Ihnen, diese wird noch weit mehr als die
bisher bekannten Mängel des Gesetzes freilegen. Es
wird dann natürlich in dieser Anhörung, von der Sie gesprochen haben, spannend, ob sich das erklären und sauber beheben lässt.
Am Ende werden sich, wie ich glaube, die Abmahnanwälte die Hände reiben; das tun sie wahrscheinlich
schon heute angesichts des profitablen Geschäfts, das
auf sie zukommt.
({7})
Nun gibt es auch Gerüchte, dass der Gesetzestext absichtlich so schlecht geschrieben worden ist - nicht, weil
es den fleißigen Bienchen im Justizministerium an Intellekt gefehlt hätte, nö, nö. Vielleicht wollten oder sollten
die sich schlicht und ergreifend keine Mühe geben.
({8})
Immerhin gibt es offensichtlich kaum jemanden in der
Behörde ({9})
bei den Anfragen im Unterausschuss Neue Medien ist
das ganz deutlich geworden -, der dieses Gesetz am
Ende tatsächlich für sinnvoll hält. Das, meine Damen
und Herren, sind natürlich - ich höre es schon - ganz,
ganz schlimme Oppositionsspekulationen.
Keine Spekulation ist beispielsweise die Stellungnahme von 16 hochangesehenen Professorinnen und
Professoren gegen das geplante Leistungsschutzrecht.
({10})
- Ich kann das sehr wohl beurteilen, aber Sie können ruhig weiter Ihren Jahrhunderttraum von den fetten Gewinnen träumen.
({11})
Es handelt sich bei dieser Gruppe um ausgewiesene Urheberrechtsexperten. Diese stellen für das geplante Leistungsschutzrecht fest - ich zitiere an dieser Stelle -, dass
die Gefahr, die von ihm ausgeht, unabsehbare negative
Folgen in sich birgt.
Ebenfalls keine Spekulation ist, dass es selbst in den
Reihen der Koalition offensichtlich eine ganze Menge
Leute gibt, die das Gesetz ganz und gar nicht so toll finden. Im Gegenteil: Sie haben sich zu Wort gemeldet
- schwarze wie gelbe Kritiker, klug und prominent - und
in die Diskussion eingemischt.
Daher bleibt mir an dieser Stelle nur, an die Bundesregierung zu appellieren: Hören Sie einfach auf all die
schlauen Menschen! Hören Sie auf die Leute, die im Internet zu diesem Thema diskutieren! Überwinden Sie
vor der Wahl Ihre Angst vor der Bild-Zeitung und ziehen
Sie schlicht und ergreifend dieses Leistungsschutzrecht
zurück!
({12})
Das Wort erhält nun die Kollegin Tabea Rößner vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
gebe zu: Ich habe mich geirrt; denn ich habe immer gedacht, diesen Schwachsinn kriegen Sie nie durch.
({0})
Schon damals, bei Abschluss des Koalitionsvertrages,
habe ich mich gefragt, wie Sie das angekündigte Leistungsschutzrecht überhaupt umsetzen wollen. Drei Jahre
und drei Entwürfe später merke ich: Sie wissen es immer
noch nicht. Deshalb klatschen Sie uns einen halbherzigen, einen halbgaren und einen halbfertigen Gesetzentwurf hin, der von der Ausgestaltung her nicht unklarer
sein könnte. Niemand - Ihre eigenen Leute übrigens
auch nicht - kann mit Sicherheit sagen, wie weit der Entwurf greifen wird.
Sind Links nun geschützt oder nicht?
({1})
Das weiß niemand. Ich weiß aber eins: Es wäre katastrophal, wenn es so wäre. Denn das Internet heißt nicht aus
Jux Netz, sondern weil es durch das Interagieren von
Menschen, durch Kommunikation, Verweise und den
Austausch von Informationen lebt. Eine Basis dafür sind
natürlich Links.
Die Kanzlerin hat das Leistungsschutzrecht als Antwort auf die „Anforderungen einer modernen Informationsgesellschaft“ gepriesen. So wie es aussieht, kennt
sie nicht einmal die Frage.
({2})
Der Informationszugang wird nämlich durch das Leistungsschutzrecht eingeschränkt. Warum? Weil Suchmaschinen und Aggregatoren deutsche Presseerzeugnisse
und gewerbliche Blogs nicht mehr listen dürfen; es sei
denn, sie haben eine Lizenz. Sollen etwa Google oder
Rivva die Blogger alle selber abtelefonieren? Oder wie
stellen Sie sich das vor?
Apropos ahnungslos: Ganz groß war auch Ihr Auftritt
im Medienausschuss, Herr Kollege Müller-Sönksen, als
Sie für das Gesetz mit der Begründung geworben haben,
dass es den Qualitätsjournalismus in unserem Land und
die Pressevielfalt erhalten werde. Aber jeder, der für
zwei Minuten seinen Verstand hochfährt,
({3})
kann sehen: Sie bewirken das Gegenteil.
({4})
Da es für die Koalition jetzt vielleicht schon zu spät in
der Nacht ist, übernehme ich das Denken für Sie. Eine
Suchmaschine wie Google wird wohl kaum auf das kollektive Springer-Angebot verzichten wollen. Also hat
Springer in Verhandlungen Oberwasser und kann für die
Lizenzen gutes Geld verlangen, auch wenn der Verlag in
den vergangenen zwei Jahren ohnehin schon Rekordergebnisse eingefahren hat. Das Hintertupfinger Tageblatt
dagegen ist nicht so gefragt wie Bild. Denen zahlt
Google sicherlich wenig, vielleicht sogar gar nichts.
Ergo: Die Großen profitieren, die Kleinen verlieren, und
am Ende lacht Springer. Wenn Sie das wollen, dann sagen Sie das bitte hier auch so, sehr verehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition.
Noch jemand wird durch das Gesetz verdienen: die
Abmahnanwälte. Denn Leistungsschutzrecht wird Anwalts Liebling. Wissen Sie, wer das Geld dringender nötig hätte? Journalisten. Sie müssen heute nämlich Knebelverträge unterzeichnen, sofern sie überhaupt noch
Arbeit haben.
Aber an der einzigen Stelle, an der das Leistungsschutzrecht vielleicht etwas Gutes bewirken könnte,
nämlich bei der Verbesserung der Vergütung der Urheber
selbst, bleiben Sie seltsam im Vagen. Denn die Autoren
hatten Sie bestimmt nicht im Sinn, als Sie an den zig
Versionen des Gesetzentwurfs herumdokterten.
Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf ist ungenau
formuliert, rückwärtsgewandt und geht am Ziel vorbei.
Er sollte deshalb besser nie den Beratungsvorgang verlassen, geschweige denn zur Abstimmung kommen.
Sonst erleben Sie vielleicht sogar ein peinlicheres Ergebnis, als Ihnen lieb ist. Denn die Summe der Kritiker ist
groß, nicht nur auf der Oppositionsbank: Das MaxPlanck-Institut, Siegfried Kauder, Vorsitzender des
Rechtsausschusses,
({5})
die JuLis und die Junge Union, Ihre Jugendorganisationen, haben zusammen mit den anderen Parteijugendorganisationen gegen das Leistungsschutzrecht aufgerufen. Das sollte Ihnen doch zu denken geben.
({6})
Sie alle werden sich bei der Abstimmung bekennen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Justizministerin hat neulich auf einer Veranstaltung des BDZV
Frau Kollegin, Sie hatten doch die Zusammenfassung
in Aussicht gestellt.
- ich komme zum Schluss - zum Leistungsschutzrecht gesagt:
Aber es ist doch gut, wenn zu einem Thema auch
dann debattiert wird…
…
Man darf doch nicht so defensiv sein und bei Themen, wo man sagt, da gibt’s auch Kritik, dann sich
zurückziehen ins Schneckenhäuschen …
Jetzt ist es 23.18 Uhr, und im Schneckenhäuschen
hätten wir schon Platz.
({0})
Würden wir bei Twitter über den Gesetzentwurf streiten, hätte ich zwei schöne Hashtags für ihn: Fail und
Facepalm.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt hören wir Thomas Silberhorn live für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich spreche zwar live, aber der Umstand, dass
das nicht mehr live im Fernsehen übertragen wird, führt
dazu, dass ich meine Urheberrechte an dieser Rede nicht
mehr über die Verwertungsgesellschaft Wort geltend machen kann.
({0})
Ich spreche aber gerne über Leistungsschutzrechte,
die unserer Rechtsordnung ja nicht fremd sind. Es gibt
eine ganze Reihe von Leistungsschutzrechten: für Darsteller, für Produzenten, für Sendeanstalten, für Tonträgerhersteller. Hinter diesen verwandten Schutzrechten
steckt die gemeinsame Überlegung, dass kreative Leistungen von Darstellern und Produzenten, aber auch organisatorische und unternehmerische Leistungen schützenswert sind, die zwar kein neues Werk schaffen, die
aber der Vermittlung von Werken dienen. Dazu wird
künftig auch die verlegerische Leistung im Internet zählen.
({1})
Wir erweitern also das Portfolio der bereits verwandten
Schutzrechte um ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage. Darauf haben wir uns schon im Koalitionsvertrag
verständigt. Unser Ziel ist, dass wir Presseerzeugnisse
und ihre Verwertung im Internet besser schützen können.
Der Gesetzentwurf sieht deshalb im Kern vor, dass
den Presseverlagen ein ausschließliches Recht einge25806
räumt wird, Presseerzeugnisse zu gewerblichen Zwecken im Internet zugänglich zu machen. Es soll damit
schlicht sichergestellt werden, dass Verlage im Onlinebereich nicht schlechter gestellt werden als andere Werkvermittler. Es werden reine Verlinkungen weiterhin
entgeltfrei möglich sein. Das Zitierrecht des Urheberschutzes wird nicht beeinträchtigt. Die private Nutzung
bleibt möglich. Die Suchfunktion einer Suchmaschine
- anders als Sie, Herr Kollege Dörmann, es dargestellt
haben - wird in keiner Weise berührt. Es kann weiter gesucht und gefunden werden.
Das neue Leistungsschutzrecht schützt nur den Zugriff auf die verlegerische Leistung durch gewerbliche
Anbieter von Suchmaschinen oder sonstigen Diensten,
die Inhalte entsprechend aufbereiten, wie die Newsaggregatoren. Diese Anbieter müssen künftig für die Nutzung von Presseerzeugnissen Lizenzen erwerben. Der
Schutzbereich dieses Leistungsschutzrechts ist also sehr
klar definiert und begrenzt. Er umfasst das Presseerzeugnis in seiner konkreten Gestaltung und Festlegung durch
den Verleger. Es geht nicht um den Schutz der darin enthaltenen Texte, es geht nicht um Fotos oder Grafiken.
Für die gilt weiterhin das vorhandene Urheberrechtsgesetz.
Noch einmal: Nicht erfasst von diesem Leistungsschutzrecht für Presseverlage - das wird in der öffentlichen Diskussion oft ausgeklammert - sind alle anderen
als die genannten gewerblichen Nutzer,
({2})
also: Blogger, Verbände, ehrenamtliche Organisationen
aller Art, private Nutzer, auch alle Unternehmen und
sonstige gewerbliche Nutzer,
({3})
die nicht zu den Suchmaschinen oder den sonstigen
Diensten zählen, die Inhalte aufbereiten. All die werden
durch das neue Leistungsschutzrecht nicht berührt.
Wenn gerade im Bereich der gewerblichen Nutzung
noch Fragen zur Abgrenzung offen sind, werden wir versuchen, sie auszuräumen. Ich will hier anmerken, dass
wir gerne bereit sind, im weiteren Gesetzgebungsverfahren darauf ein besonderes Augenmerk zu richten, damit
das sichergestellt wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung
des Kollegen Notz?
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit würde ich zwar
gerne fortfahren, will aber keine Antwort schuldig bleiben. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit, eine
Frage zu stellen. Ehrlich gesagt, es sind zwei.
Die erste Frage ist: Sie sprachen an, dass das Vorhaben, ein solches Leistungsschutzrecht einzuführen,
schon im Koalitionsvertrag stand. Es haben sich viele
Leute darüber gewundert; denn das stand ja in keinem
Wahlprogramm. Vielleicht können Sie das Mysterium
einmal auflösen, wie der Punkt Leistungsschutzrecht in
den Koalitionsvertrag kam. Eine richtige Abstimmung in
Ihrer Partei hat es nach meinem Kenntnisstand nicht gegeben.
Die zweite Frage ist: Sie sprachen von Bloggern, die
nicht betroffen wären. Was ist der Unterschied zwischen
einem nichtgewerblichen Blogger und einem gewerblichen Blogger? Ist jemand, der bloggt und ein kleines
Werbebanner schaltet, um die Kosten für seine Homepage zu decken, ein gewerblicher Blogger? Ist er erfasst,
ja oder nein? Das sind jedenfalls die Fragen, die sich
viele Menschen stellen.
({0})
- Ihre Kollegen wissen es offensichtlich besser als Sie
selbst. Vielleicht haben sie eine Antwort auf diese Fragen.
Sie haben meine Antwort noch gar nicht gehört.
({0})
- Sie sorgen sich um Ihre Fragen, aber ich will sie Ihnen
gerne beantworten.
Zunächst: Koalitionsverträge werden bei uns nach
den Wahlen verhandelt
({1})
zwischen den Koalitionspartnern, die sich auf eine Regierungsmehrheit verständigen konnten. Diese Koalitionsverhandlungen nehmen selbstverständlich die Wahlprogramme zur Grundlage. Wir sind aber, jedenfalls in
unseren Fraktionen, immer aufgeschlossen für Erkenntnisfortschritte, für Ideen, für Kreativität, für Neues.
({2})
Deswegen schreiben wir in unseren Koalitionsverhandlungen nicht einfach bereits veröffentlichte Wahlprogramme ab, sondern wir führen einen offenen demokratischen Diskurs und präsentieren dann einen Vertrag, der
Grundlage für unsere Arbeit ist. Ich freue mich sehr,
dass es gelungen ist, die Ergebnisse dieses Koalitionsvertrages in dem Punkt Leistungsschutzrecht nach langer
dreijähriger Diskussion auch in einen Gesetzentwurf zu
gießen.
({3})
Nun zu der Frage: Wer ist erfasst? Noch einmal:
Wenn hier Abgrenzungsfragen offenbleiben, müssen wir
das ganz offen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
besprechen.
({4})
Alle gewerblichen Nutzer, die nicht Internetsuchmaschinen oder andere Dienste sind, die fremde Inhalte entsprechend aufbereiten, werden von dem Leistungsschutzrecht nicht erfasst. Alle gewerbliche Nutzung ist
möglich, die nicht in der Auswertung fremder Inhalte zu
eigenen wirtschaftlichen Zwecken besteht.
({5})
Ich hoffe, dass ich damit zur Klärung beitragen konnte;
denn Ihre Frage macht deutlich, dass eine ganze Reihe
von Unsicherheiten bestehen, die aber jeglicher Grundlage entbehren. Ich hoffe, dass wir diese Debatte dann
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens fortsetzen können.
Die Rechte der Urheber werden übrigens durch dieses
Leistungsschutzrecht in keiner Weise beeinträchtigt. Im
Gegenteil: Die Presseverlage können ihr Leistungsschutzrecht nicht zum Nachteil des Urhebers geltend
machen.
({6})
Im Gesetzentwurf ist klargestellt, dass der Urheber an einer Vergütung, die durch die Lizensierung des Leistungsschutzrechts generiert werden kann, angemessen
zu beteiligen ist.
({7})
Darüber sind sich im Übrigen die Verlegerverbände und
die Journalistengewerkschaften im Grundsatz seit langem einig.
({8})
Wir werden in den weiteren Beratungen auch intensiv
die Vorschläge des Bundesrates prüfen, etwa die Frage,
inwieweit Vergütungen für die Einräumung von Nutzungsrechten am Leistungsschutzrecht über eine Verwertungsgesellschaft eingezogen und verteilt werden
können. Da wird sicherlich auch die bevorstehende
Sachverständigenanhörung im kommenden Jahr Erkenntnisse beisteuern können.
Meine Damen und Herren, uns ist bewusst, dass dieses neue Leistungsschutzrecht national wie international
hohe Beachtung erfährt. Die hohe Aufmerksamkeit der
betroffenen Unternehmen liegt vielleicht auch darin begründet, dass ein solches Leistungsschutzrecht für Presseverlage schnell Nachahmer finden kann, wenn es in
Deutschland funktioniert.
Die lautstarken Kritiker, die für die Freiheit im Internet Sturm laufen, mögen sich bitte auch die Frage stellen, für wen sie hier in die Schlacht ziehen. Denn Freiheit im Internet kann doch nicht bedeuten, dass sich
jeder bei Leistungen, die andere erbracht haben, bedienen kann. Wenn der eine seine Marktmacht ausspielt, um
Leistungen Dritter für eigene wirtschaftliche Zwecke zu
nutzen, während der andere, der diese Leistung erbracht
hat, in die Röhre schaut und damit die Leistung auf
Dauer gar nicht mehr erbringen kann, dann hat sich hier
ein Ungleichgewicht entwickelt, das so nicht mehr hingenommen werden kann. Deswegen schaffen wir ein
Leistungsschutzrecht für Presseverlage, das hierfür einen angemessenen Ausgleich schafft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Nun hat der Kollege Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Heveling! Unmittelbar vor der
Diskussion über das Leistungsschutzrecht hat eine Kollegin in Sorbisch geredet. Ich habe diese Sprache noch
nie gehört, aber ich will offen sagen: Ich habe bei dieser
Rede mehr verstanden als bei Ihrem Beitrag zum Leistungsschutzrecht.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade die letzten
Tage haben gezeigt, mit welcher Härte gestritten wird,
wenn es darum geht, das digitale Zeitalter zu erreichen.
Wir sehen, dass auf dem Weg in die digitale Gesellschaft
radikale Umbrüche stattfinden, und wir sehen, dass Geschäftsmodelle infrage gestellt werden, dass sie aufgelöst werden, dass Machtordnungen infrage gestellt werden und sich neu sortieren.
({1})
Wir sehen eine riesige Verunsicherung, wenn es um
das Thema Urheberrecht geht. Sie alle kennen die Diskussionen mit Schülergruppen, die hier sind und ganz
viele Fragen haben. Um das Parlament herum wird die
Frage Urheberrecht groß diskutiert. ACTA war beispielhaft für die gesellschaftspolitische Dimension, die das
Urheberrecht mittlerweile angenommen hat. Aber was
ist die Antwort von Schwarz-Gelb auf die Herausforderungen, die es beim Urheberrecht gibt? Es ist das Leistungsschutzrecht.
({2})
Wie sieht eigentlich die netzpolitische Bilanz dieser
Regierung aus? Breitbandausbau? Wir liegen hinter Rumänien. Verankerung der Netzneutralität? Fehlanzeige.
Modernisierung des Datenschutzes? Fehlanzeige. Auf25808
bruch in der Internetwirtschaft? Fehlanzeige. Die netzpolitische Bilanz dieser schwarz-gelben Regierung wird
vom Leistungsschutzrecht geprägt. Ich sage Ihnen: Das
ist eine traurige Bilanz. Wir von der SPD werden alles
versuchen, um dieses Leistungsschutzrecht zu verhindern.
({3})
Das Leistungsschutzrecht ist ein Irrsinn. Sie schaffen
Unsicherheit, Sie schaffen Unklarheiten, Sie greifen in
die Informations- und Kommunikationsfreiheiten ein,
und Sie gefährden die Kreativität und den Innovationscharakter des Internets. Das Schlimmste aber ist: Sie
sind doch selbst nicht einmal überzeugt von dem, was
Sie da tun. Siegfried Kauder, der sicherlich alles andere
ist als ein Kämpfer für das freie Internet, hat bei einer
Veranstaltung des eco Mitte Oktober gesagt - so wird er
zitiert -, das Leistungsschutzrecht sei eine „Mogelpackung“ und ein „Taschenspielertrick“.
Die geschätzte Kollegin Dorothee Bär sagte in einem
Interview bei iRights.info, dass - ich zitiere - „das Leistungsschutzrecht dem Standort Deutschland massiv
schaden würde“.
({4})
Weiter heißt es dort:
… im Hinblick auf die bisweilen unlösbare Frage,
ob jemand seinen Account beruflich oder privat
nutzt, beschränkt man die User in unverhältnismäßiger Weise in ihrer Kommunikations- und Informationsfreiheit.
Heute haben sich die Jugendverbände der politischen
Parteien gemeinsam gegen das Leistungsschutzrecht
positioniert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren
nicht nur die Jusos und die Grüne Jugend, es waren auch
die Junge Union und die Jungen Liberalen. Ich frage Sie:
Warum hören Sie nicht auf die jungen Leute in Ihren
Parteien?
({5})
Warum hören Sie nicht auf die Netzpolitiker in Ihren
Parteien? Warum muss das Leistungsschutzrecht hier
mit allem Zwang und gegen jede Vernunft durch den
Deutschen Bundestag gedrückt werden?
Unabhängige Wissenschaftler am Max-Planck-Institut haben vor wenigen Tagen festgestellt: Es gibt kein
Marktversagen, es gibt keine Rechtslücke, es gibt keine
Notwendigkeit für ein Leistungsschutzrecht, und es gibt
keine Notwendigkeit für eine Lizenzpflicht bei Snippets.
Ich sage auch: Das Leistungsschutzrecht ist nicht nur
unnötig, es ist auch noch schlecht gemacht. Wenn man
zum Beispiel die Bezeichnung „suchmaschinenartige
Dienste“ liest und dann beim Justizministerium nachforscht, was das denn bedeutet, dann erhält man auf der
Homepage die Antwort: Eine juristische Einordnung
konkreter Dienste bleibt den Gerichten vorbehalten.
Hier sehen wir doch, dass Sie ein Gesetz auf den Weg
bringen, von dem Sie nicht einmal wissen, was das konkret bedeutet. Hier wird Unsicherheit gestreut. Deswegen darf dieses Leistungsschutzrecht niemals kommen.
Wenn es darum geht, den Qualitätsjournalismus zu stärken, wenn es darum geht, eine angemessene Rechtsdurchsetzung im Internet stattfinden zu lassen, wenn es
um die Ermöglichung neuer Geschäftsmodelle geht,
dann sind wir als SPD dabei - aber ohne Leistungsschutzrecht.
Ich freue mich, dass jetzt sicherlich der Kollege
Jimmy Schulz erklären wird, dass auch er nicht zustimmt.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({6})
Jedenfalls ist der Kollege Schulz der voraussichtlich
letzte Redner des heutigen Abends, und zwar für ganze
drei Minuten. Bitte schön, Sie haben das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße ganz besonders herzlich auch die
Menschen an den Bewegtbildempfängern zu Hause oder
bei Public-Viewing-Veranstaltungen.
({0})
- Es gibt tatsächlich eine.
Lars Klingbeil, zur Bilanz der Netzpolitik der
schwarz-gelben Koalition kann ich sagen: Wir mussten
ja erst einmal aufräumen mit dem Scherbenhaufen, den
die SPD zu diesem Themenbereich hinterlassen hat. Wir
haben das Internetsperren-Gesetz wieder aufgehoben.
({1})
Seitdem wir an der Macht sind, gibt es in Deutschland
keine Vorratsdatenspeicherung mehr. Wir haben ELENA
wieder abgeschafft, und wir haben ACTA verhindert.
({2})
Kommen wir jetzt aber zum Thema. Die Digitalisierung und die globale Vernetzung haben unser Leben dramatisch verändert, möglicherweise sogar revolutioniert.
Sie werden das auch noch weiter tun. Gerade im Bereich
des Urheberrechts sind diese Änderungen sichtbar, war
doch das Geschäftsmodell in der Vergangenheit das Bannen von Inhalten, von Contents, auf einen physikalischen
Träger, den man dann verkauft, gehandelt, vermietet,
weggeschmissen oder im schlimmsten Fall verbrannt hat.
Dieses Geschäftsmodell ist tot. Es wird nicht mehr
funktionieren. Es war ein Geschäftsmodell, das über die
letzten Jahrhunderte funktioniert hat, seit Gutenberg, der
das Kopieren erfunden hat.
({3})
Aber dieses Geschäftsmodell ist tot. Deswegen diskutieren wir seit Jahren intensiv insbesondere über das Problem, das die Presseverleger haben. In die Vorschläge
sind viele Verbesserungen eingeflossen. Nun hat die
Bundesregierung einen neuen Entwurf vorgelegt, den
wir hier zu diskutieren haben. Es ist die vornehmste Aufgabe des Parlaments, diesen Vorschlag zu diskutieren,
sich mit Experten zu beraten und - falls nötig - Optimierungen und Verbesserungen vorzunehmen.
({4})
Dazu habe ich vor geraumer Zeit einen neuen Vorschlag gemacht. Es gibt bereits technische Möglichkeiten, genau zu bestimmen, wer wie automatisiert auf eine
Website zugreifen kann. Dieser technische Standard, die
sogenannte robots.txt, kann sehr fein steuern, wer wo
und wie auf etwas zugreifen kann.
Dieses Modell entspricht einem wunderbaren technischen Standard, der seit ungefähr 15 Jahren existiert und
auch genutzt wird. Diesem Gentleman’s Agreement fehlt
jedoch ein rechtlicher Schutz. Deshalb schlage ich vor,
für einen solchen rechtlichen Schutz zu sorgen.
({5})
Dieses Modell bietet den Vorteil, dass es nicht nur
ausschließlich für Presseverleger gilt, sondern es würde
für alle gelten können, also auch für Blogger, für jeden,
der Inhalte im Internet bereitstellt. Ein weiterer Vorteil
wäre, dass dies sogar dem Koalitionsvertrag entsprechen
würde; denn im Koalitionsvertrag steht, dass im OnlineBereich Presseverleger nicht schlechter gestellt sein sollen als andere Werkvermittler.
Meine Haltung bleibt klar: Code is Law.
({6})
Ich schließe die Debatte, obwohl zweifellos noch
manches zu sagen und ganz sicher auch noch manches
nachzufragen wäre.
({0})
Zu Beginn hatten sich aber alle Beteiligten auf die
Dauer der Debatte verständigt. Wenn dies gewünscht
wird, kann ich den Nachweis führen, dass die Debatte
nicht kürzer, sondern länger gedauert hat als vereinbart.
({1})
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11470 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist dies
unstreitig? - Immerhin ist dies der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Dann setzen wir die Abstimmungen fort. Ich mache
von vorneherein darauf aufmerksam, dass es reichlich
abzustimmen gilt.
Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({2}), Sebastian Edathy, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Hinschauen - Dunkelfeldforschung zum Thema
Rechtsextremismus
- Drucksache 17/11366 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({3})Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die dazu angemeldeten Reden werden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
In Ihrem Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, beziehen Sie sich auf die Entschließung „Mordserie der Neonazi-Bande und die
Arbeit der Sicherheitsbehörden“ ({0}) vom November des vergangenen Jah-
res.
Diese Entschließung, die von allen Bundestagsfrak-
tionen gefasst wurde, hat für die christlich-liberale
Koalition einen besonderen Stellenwert. Er ist für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion kein bloßes Lippenbe-
kenntnis, sondern vielmehr die an uns selbst gerichtete
Verpflichtung, a) die NSU-Mordserie konsequent und
mit größter Sorgfalt aufzuklären und b) aus den Ergebnissen der Untersuchung die notwendigen Veränderungen zur Verbesserung unserer Sicherheitsarchitektur vorzunehmen.
Neben den notwendigen Reformen der Verfassungsschutzbehörden und der Optimierung ihrer Zusammenarbeit ist die Präventionsarbeit, zum Beispiel
durch die politische Bildung oder durch gesellschaftliche Projekte zur Förderung interkultureller Kompetenz, ein wichtiger Baustein im Kampf gegen den
Rechtsextremismus in unserem Land.
Seit der Entschließung hat sich auf dem Gebiet der
Bekämpfung des Rechtsextremismus vieles getan. Ich
will aus dem Bereich des Bundesinnenministeriums
zwei Beispiele benennen:
Erstens. Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus hat die christlichliberale Koalition die Rechtsgrundlage für die Errichtung einer gemeinsamen und zentralen Rechtsextremismusverbunddatei von Polizei und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder geschaffen. Im
Gegensatz zur artverwandten Antiterrordatei aus dem
Bereich des islamistischen Terrorismus ermöglicht das
Gesetz unter engen Voraussetzungen eine Recherche
zur Aufdeckung von Tatzusammenhängen. Die schreckliche NSU-Mordserie hat uns vor Augen geführt, dass
eine Verbesserung des Informationsaustausches zwi25810
schen der Polizei und den Nachrichtendiensten von
Bund und Ländern zwingend notwendig ist. Mit diesem
Gesetz hat die Bundesregierung eine wichtige Konsequenz aus der Mordserie gezogen.
Zweitens. Gleiches gilt für die Eröffnung des Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums, GETZ. Ziel ist es, die Fachexpertise aller Behörden unmittelbar zu bündeln und einen lückenlosen
und schnellen Informationsfluss sicherzustellen. Auch
aufgrund der Erfahrungen des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums, GTAZ, und des Gemeinsamen
Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus, GAR, welches nunmehr in der GETZ aufgeht, ist ein deutlicher
Mehrwert, insbesondere in den Bereichen Bündelung
der Phänomenexpertise, Stärkung der Analysekompetenz, Früherkennung möglicher Bedrohungen und bei
der Erörterung operativer Maßnahmen, zu erwarten.
Mit den benannten Beispielen zeigt sich, dass die
christlich-liberale Koalition anhand der bislang gewonnenen Erkenntnisse und mit Nachdruck daran arbeitet, einen erfolgreichen Kampf gegen den Rechtsextremismus in unserem Land zu führen.
Im Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildungsarbeit verweise ich auf die Ausgaben
des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, BMFSFJ, das jährlich 24 Millionen Euro
für Bundesprogramme im Bereich der Präventionsarbeit zur Verfügung stellt. Damit stellt diese Bundesregierung so viel Geld zur Förderung zivilen Engagements, demokratischen Verhaltens und den Einsatz für
Vielfalt und Toleranz zur Verfügung wie keine Bundesregierung bisher.
Es hat sich seit dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie in unserem Land vieles getan. Die christlich-liberale Koalition wird diesen eingeschlagenen Weg kontinuierlich weiterverfolgen und sinnvoll ergänzen.
In Ihrem Antrag stützen Sie sich, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, auf eine
„Reportage“ der Amadeu-Antonio-Stiftung mit dem
Titel „Das Kartell der Verharmloser“. Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Die darin beschriebenen Vorfälle sind durch nichts zu entschuldigen.
Sollten einzelne Polizeibeamte das Vertrauen der Mitbürgerinnen und Mitbürger nachhaltig geschädigt haben oder gar ihren Pflichten nicht nachgekommen
sein, so muss dieses Verhalten Konsequenzen für die
betreffenden Beamten nach sich ziehen. Dies obliegt
dem Föderalismusprinzip entsprechend den jeweils zuständigen Stellen.
Mit aller Entschiedenheit wehre ich mich aber gegen die Formulierungen einer „systematischen Bagatellisierung“ oder einer „bundesweiten Mauer aus
Ignoranz und Verharmlosung“ im Zusammenhang mit
der Aufklärung rechtsextremistischer Gewalttaten. Die
überwältigende Mehrheit der deutschen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten verrichtet ihren Dienst tadellos, mit großem persönlichem Einsatz und im Sicherheitsinteresse der Mitbürgerinnen und Mitbürger
in unserem Land. Die in Ihrem Antrag „mitschwingende“ generelle Verurteilung des Umgangs deutscher
Polizeibeamter mit Vorfällen im rechtsextremistischen
Bereich weise ich mit Nachdruck zurück.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht zu den
deutschen Polizeibeamten. Wir haben Vertrauen in
ihre Ausbildung, in ihre Beurteilungsfähigkeit und
auch in ihre interkulturellen Kompetenzen.
Ihr heutiger Antrag fordert zwar einen Auftrag zur
Dunkelfeldforschung, doch ist aus meiner Sicht entscheidender, dass Sie dabei ganz grundsätzlich die statistische Erfassung des Hellfeldes rechtsextremistischer Gewalt- und Propagandadelikte infrage stellen.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, Fremdenfeindlichkeit
und Rassismus würden als Tatmotive von den Polizeibehörden allzu oft negiert.
Im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes - Politisch motivierte Kriminalität - wurden dem
Bundeskriminalamt, BKA, bislang 63 Todesopfer rechter Gewalt, einschließlich der zehn Todesopfer des
„Nationalsozialistischen Untergrunds“ gemeldet,
während die Amadeu-Antonio-Stiftung mittlerweile
über 182 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland
seit 1990 berichtet.
Wie entsteht diese Differenz? Meines Erachtens
liegt dies darin begründet, dass die geltenden Statistiken deutlich trennschärfere Kriterien für die Erfassung
politisch motivierter Kriminalität und Gewalt bieten.
In den geltenden Statistiken ist die konkrete Tatmotivation entscheidend. Sie ist in Würdigung aller Umstände der konkreten Tat und der Einstellung des Täters zu ermitteln.
Nichtstaatliche Stellen nehmen als Anhaltspunkt für
das Vorliegen einer entsprechenden rechtsextremistischen Tatmotivation, dass die Täter bzw. Tatverdächtigen aus einem rechten Milieu kamen, ohne aber zu differenzieren, ob die Tat möglicherweise in Wirklichkeit
allgemeinkriminell motiviert ist. Der Polizei ist es aufgrund ihres umfassenden und oftmals Dritten nicht zugänglichen Wissens zu Tätern oder Tathergang besser
möglich, die tatsächliche Motivation der Tat zu erhellen.
Die Differenz der Zahlen ist aus meiner Sicht also
darauf zurückzuführen, dass einige nichtstaatliche
Stellen die Verortung des Täters im rechten Milieu als
einziges und ausschlaggebendes Kriterium für die Zuordnung einer rechtsextremen Tat verwenden.
Zur Erfassung der Wirklichkeit ist es aus meiner
Sicht zwingend notwendig, weitere Kriterien zur Beurteilung und Verortung einer Straftat anzulegen, um somit der Wirklichkeit einer Tat näherzukommen.
Bezogen auf Ihre erste Forderung zur Dunkelfeldforschung weise ich darauf hin, dass im Rahmen des
Gemeinsamen Abwehrzentrums Rechtsextremismus,
jetzt GETZ, eine Überprüfung aller nicht aufgeklärten
Altfälle, insbesondere Banküberfälle, Sprengstoffanschläge und Morde, seit 1990 durchgeführt wird, die
Zu Protokoll gegebene Reden
entsprechend ihrer Begehungsweise für eine Täterschaft des NSU in Betracht kommen könnten. Auch bei
bisher nicht als politisch rechts motiviert eingestuften
Taten wird dort derzeit geprüft, ob diesen möglicherweise eine rechtsextremistische/-terroristische Motivation zugrunde liegt.
Geeignete Fälle werden dabei anhand eines Erhebungsrasters identifiziert, das sich an bestimmten
Deliktkategorien sowie opferbezogenen Indikatoren
orientiert. Die Fälle werden dann im Ergebnis anhand
einer dafür eingerichteten Projektdatei auf Anhaltspunkte für einen politisch rechts motivierten Hintergrund untersucht.
Ich betrachte es als sinnvoll, die Ergebnisse dieser
Auswertung abzuwarten und mit ihnen weiterzuarbeiten. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse und
Materialien lassen sich die Prozesse der Zuschreibung
bzw. Nichtzuschreibung zum Phänomenbereich der
politisch motivierten Kriminalität - rechts - und der
dabei wirksam werdenden Faktoren näher analysieren. Auf diese Weise eröffnet sich ein Ansatz, um den
Umfang des möglicherweise bislang entstandenen
Dunkelfelds zu ermitteln.
Darüber hinaus sei an dieser Stelle bemerkt, dass
das BKA im Bereich der Dunkelfeldforschung bereits
seit den 70er-Jahren aktiv ist und dazu unzählige Publikationen herausgegeben hat.
Derzeit arbeitet man dort am „Barometer Sicherheit in Deutschland“. Das BKA leistet in diesem
Zusammenhang einen Beitrag zur Gewinnung eines
Gesamtbildes der objektiven Bedrohung durch Kriminalität und Terrorismus sowie eine Dunkelfeldforschung im Bereich der individuell wahrgenommenen
({1})Sicherheit von Kriminalitätsopfern.
Auch wenn rechtsextremistisch motivierte Taten in
dieser Studie nicht explizit untersucht werden, so sind
die Aktivitäten des BKA im Bereich der Dunkelfeldfor-
schung umfangreich. Im Kontext des Antrags sehe ich
aufgrund der gegenwärtigen Arbeit des GETZ keine
Veranlassung, eine Dunkelfeldforschung in Auftrag zu
geben.
Ihre zweite Forderung in diesem Antrag beinhaltet,
„einen Forschungsauftrag zu erteilen, in dem Hinder-
nisse und Barrieren im Engagement gegen Rechts-
extremismus, Rassismus und Antisemitismus systema-
tisch aufgedeckt werden“ sollen.
Die bestehenden Bundesprogramme gegen Rechts-
extremismus verfolgen das Ziel, zivilgesellschaftliches
Engagement gegen Rechtsextremismus zu fördern,
neue Ansätze in der präventiv-pädagogischen Arbeit
mit Kindern und Jugendlichen zu erproben sowie ak-
tive Beratungsnetzwerke als Ansprechpartner für von
rechtsextremer Gewalt betroffene Gemeinden und Per-
sonen zu unterstützen. Dabei werden sie regelmäßig
wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Dies beinhal-
tet eine Reflexion und Analyse über Hindernisse und
Barrieren des Engagements ebenso wie über das
Engagement unterstützende Faktoren.
Darüber hinaus ist auf die Förderung der „Arbeits-
und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Frem-
denfeindlichkeit“ hinzuweisen.
Aufgabe der Arbeits- und Forschungsstelle ist es,
den einschlägigen Forschungsstand und die Erfahrun-
gen der pädagogischen Praxis in diesem Feld aufzube-
reiten, um vor diesem Hintergrund Anregungen für die
Weiterentwicklung der Fachpraxis, Fachdiskussion
und der aktuellen Bundesprogramme des BMFSFJ zu
geben. Die vorhandenen Erfahrungen werden syste-
matisiert und vor dem Hintergrund fachlicher Er-
kenntnisse analysiert, um so die Voraussetzungen für
eine erfolgreiche Arbeit in der Praxis zu klären und
Herausforderungen für die Weiterentwicklung des Fel-
des zu benennen.
Ein reger Austauschprozess mit den lokalen Akteu-
ren findet überdies bereits heute statt. Die Rückkopp-
lung der mit der Betreuung und Durchführung der
Bundesprogramme beauftragten Stellen ist für dessen
erfolgreiche Arbeit unabdingbar und wird bereits
heute intensiv durchgeführt.
Aus diesen Gründen halte ich auch Ihre zweite For-
derung für entbehrlich.
Ihre dritte Forderung scheint zunächst Ausdruck Ih-
res mangelhaften Vertrauens gegenüber den Aus- und
Fortbildungsmethoden in den Polizeibehörden von
Bund und Ländern zu sein.
Die Entwicklung interkultureller Kompetenz ist in-
tegraler Bestandteil der polizeilichen Aus- und Fort-
bildung. Interkulturelle Kompetenz wird dabei in den
verschiedensten Ausbildungsfächern geschult, wie bei-
spielsweise im Staats- und Verfassungsrecht, im Ein-
griffsrecht, im Situations- und Kommunikationstrai-
ning oder aber der Psychologie.
Verantwortlich für die Ausbildung und Fortbildung
der Polizistinnen und Polizisten sind in erster Linie die
Bundesländer. Ohne an dieser Stelle für alle Länder
sprechen zu können, will ich einige Eckpunkte der hes-
sischen Ausbildung skizzieren.
Gleich im ersten Modul an der Hessischen Hoch-
schule für Polizei und Verwaltung werden unter den
Stichworten „Gleichstellung und Diskriminierungs-
verbot“ sowie unter dem Stichwort „Leitbild“ inter-
kulturelle Kompetenzen vermittelt. Im dritten Modul
geht es sodann unter dem Oberthema „Polizeiliche
Kommunikation und Interaktion“ um die Ausbildung
der interkulturellen und sozialen Kompetenz.
Noch konkreter wird es sodann in fortgeschrittenen
Modulen. Dort gehören unter anderem folgende The-
men zum Lehrplan: a) extremistische und terroristi-
sche Theorien erkennen können und als Grundlage
politisch motivierter Gewalt verstehen; b) sozioökono-
mische Hintergründe für das Entstehen von Extremis-
mus und Terrorismus kennen; c) grundlegende ethisch
relevante Elemente anderer Religionen kennenlernen
Zu Protokoll gegebene Reden
und d) sich mit ethischen Aspekten des Umgangs mit
Angehörigen anderer Religionen und Kulturen auseinandersetzen.
Wie am Beispiel Hessens aufgezeigt, bauen die
Polizeibehörden eben nicht eine Mauer der Ignoranz
und Verharmlosung, sondern sind aktiv daran beteiligt, ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz zu
vermitteln. Daher wehre ich mich nochmals entschieden gegen die Wortwahl in Ihrem Antrag. Die nicht zu
akzeptierenden Beispiele aus der benannten Reportage
erlauben es aus meiner Sicht nicht, verallgemeinernd
über die Polizeibehörden in Bund und Ländern zu urteilen.
Wie am Beispiel Hessens dargestellt, sehe ich keinerlei Defizite bei der Aus- und Fortbildung unserer
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten im Bereich der
interkulturellen Kompetenz. Dennoch muss es unser
Bestreben sein, Aus- und Fortbildungsmaßnahmen
auch in diesem Bereich kontinuierlich zu optimieren
und gegebenenfalls aufeinander abzustimmen.
Insofern trete ich einer bundesweiten Erhebung und
einem verstärkten Austausch zu den unterschiedlichen
Maßnahmen zur Entwicklung interkultureller Kompetenz in Bund und Ländern positiv gegenüber. Ein solcher Überblick ermöglicht es, voneinander zu lernen
und gegebenenfalls einzelne Ausbildungsstufen besser
aufeinander abzustimmen.
Das Thema Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft und deren Bekämpfung eignet sich keineswegs
für parteipolitische Scharmützel. Es ist mir, es ist der
christlich-liberalen Koalition daran gelegen, zweifelsfrei notwendige Verbesserungen im Bereich der deutschen Sicherheitsarchitektur sowie im Bereich der
präventiv-pädagogischen Arbeit kontinuierlich vorzunehmen.
Wenngleich ich einem Bericht über die bundesweiten Maßnahmen zur Steigerung der interkulturellen
Kompetenz in sicherheitsrelevanten Bundes- und Landesbehörden aufgeschlossen gegenübertrete und einen
Mehrwert darin erkenne, so ist Ihr Antrag in der Gesamtheit abzulehnen, da Ihre erstgenannten Forderungen bereits heute Bestandteile der alltäglichen Arbeit
der Sicherheitsbehörden und Bundesprogramme sind
und darin zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Mehrwert zu erkennen ist.
Ein Jahr ist es nun her, dass wir vom Bestehen des
sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes,
NSU, erfahren haben.
Damals wie heute bin ich - so wie wir alle hier - zutiefst beschämt und erschüttert, dass nach den ungeheuren Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes wieder rechtsextremistische Ideologie in unserem
Land eine blutige Spur unvorstellbarer Mordtaten hervorbringen konnte.
Gemeinsam mit allen Fraktionen haben wir im
Deutschen Bundestag am 22. November 2011 daher einen Beschluss gefasst. Darin haben wir uns einen
Prüf- und Handlungsauftrag gegeben. Ich zitiere:
„Wir sind entschlossen … die unabdingbaren Konsequenzen für die Arbeit der Sicherheitsbehörden rasch
zu ziehen. Dazu ist eine umfassende Fehleranalyse unverzichtbar. Aus Fehlern müssen die richtigen
Schlüsse gezogen und umgesetzt werden.“ Und: „Wir
müssen gerade jetzt alle demokratischen Gruppen
stärken, die sich gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagieren. Wir werden prüfen, wo dem Hindernisse entgegenstehen.“
Diesen Prüf- und Handlungsauftrag nehmen wir in
der SPD-Fraktion ernst. Daher diskutieren wir heute
unseren SPD-Antrag: „Hinschauen - Dunkelfeldforschung zum Thema Rechtsextremismus“. Wir wollen
das Dunkelfeld rechtsextremer Gewalt- und Propagandadelikte beleuchten, damit wir auch offiziell ein realitätsnahes Bild rechtsextremer Umtriebe in Deutschland haben. Hier reicht die bisherige amtliche Statistik
nicht aus. Die Bundesregierung, Herr Minister
Friedrich, muss endlich aktiv werden und einen Forschungsauftrag erteilen, bei dem statistisch ermittelt
wird, wie viele Menschen Opfer oder Zeuge rechtsextremer Delikte geworden sind. In einem weiteren
Schritt müssen die Ergebnisse einer solchen Dunkelfeldstudie mit der amtlichen Statistik politisch motivierter Straftaten abgeglichen werden. Erst dann
haben wir eine Annäherung an die tatsächliche Zahl
rechtsextrem und rassistisch motivierter Straften. Und
diese Annäherung ist dringend notwendig.
Fakt ist: Die jetzige Datenlage rechtsextremistisch
motivierter Vorfälle und Fälle von Hasskriminalität in
Deutschland bildet die Realität nicht vollständig ab.
Zivilgesellschaftliche Akteure zählen regelmäßig mehr
rechtsextremistische Vorfälle und Fälle von Hasskriminalität als die amtliche Statistik. Während die amtliche Statistik 47 Todesopfer rechtsextremer Gewalt im
Zeitraum von 1990 bis 2009 zählte, geben Opferberatungsstellen oder Journalistinnen und Journalisten für
die Zeit von 1990 bis 2009 bis zu 181 Todesopfer an.
Beide Zählweisen erfassen natürlich nur solche Fälle,
in denen durch Zeugenbeobachtungen ein rechtsextremistischer Bezug herzustellen ist. Das Dunkelfeld ist
dagegen überhaupt nicht erfasst. Diese Lücke zwischen amtlicher und zivilgesellschaftlicher Zählweise
muss aufgearbeitet und aufgeklärt werden. Einige
Bundesländer, beispielweise Brandenburg, haben bereits damit begonnen, Fälle auf einen rechtsextremen
Hintergrund neu zu prüfen und neu zu bewerten. Das
ist der richtige Weg.
Der statistische Abgleich alleine aber reicht nicht
aus. Die Arbeit des 2. Untersuchungsausschusses
„Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund“ der im Übrigen eine fraktionsübergreifende, hervorragende Arbeit leistet - hat mindestens diese Erkenntnis
geliefert:
Zu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({0})
Es gibt eine tiefe Kluft zwischen Politik und Ermittlungsbehörden, zwischen Abgeordneten und Beamten
in den Sicherheitsbehörden, kurzum zwischen Legislative und Exekutive. Hier blicken wir in einen tiefen
Graben. Davon können die berechtigten Sachfragen
im Klein-Klein der politischen Aufarbeitung nicht ablenken.
Das Vertrauen in Verfassungsschutz und Polizeibehörden ist in unserer Bevölkerung, mit und ohne Einwanderungsbiografie, tief erschüttert. Das hat mit dem
Umgang einzelner Ermittlungsbehörden mit den Angehörigen und Opfern des NSU damals zu tun. Ich erinnere nur an die wiederkehrenden Aussagen unterschiedlichster Zeugen im 2. Untersuchungsausschuss,
man habe ergebnisoffen ermittelt, aber keine Anhaltspunkte für einen rechtsextremen Hintergrund gehabt.
Hier müssen wir ansetzen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den deutschen Polizeibehörden kommen
aus der Mitte unserer Gesellschaft. Sie wollen gute Arbeit leisten. Trotzdem sind sie nicht ausgenommen,
wenn es um Vorurteile und Stereotype in der Gesamtgesellschaft geht. Vorurteile können die Bewertung
und Einbeziehung von Motiven und Hintergründen einer Tat beeinflussen. Allein die Bezeichnung „Soko
Bosporus“ ist hierfür beispielhaft. Die Arbeit des
2. Untersuchungsausschusses hat bis heute bereits eines sehr deutlich gemacht: dass wir die Ausblendung
rassistischer und rechtsextremer Tatmotive bei der Ermittlung von Straftaten strukturell in den Polizeibehörden angehen müssen.
Hierfür brauchen wir eine weitere Studie, die Hindernisse und Barrieren im Engagement gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus systematisch
aufdeckt und benennt. In einer solch repräsentativen
Studie sollen die Erfahrungen von Engagierten, die
sich mit rechtsextremer Propaganda und rechtsextremer Gewalt auseinandersetzen, transparent gemacht
werden. Diese neue Perspektive kann uns helfen, die
richtigen politischen Schlüsse zu ziehen und weitere
Schritte zu gehen, um entschlossen Boden gutzumachen im Kampf gegen Rechtsextremismus.
Schließlich fordern wir die Bundesregierung auf, einen Bericht vorzulegen, der einen bundesweiten Überblick über die Maßnahmen zur Steigerung der interkulturellen Kompetenz in sicherheitsrelevanten Bundesund Landesbehörden gibt. Denn sie sind ein Baustein
zur Sensibilisierung einer umfassenden und sachgerechten Polizeiarbeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft.
Täglich finden in Deutschland rechte Gewalttaten
statt. Oftmals werden sie gar nicht erst als solche benannt. Sie tauchen allenfalls als einfache Schlägereien
in der Statistik auf. Immer ist die Rede von Einzeltätern
und Einzeltaten. Das müssen wir ändern. Daher bitte
ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.
Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir im Plenum die Große Anfrage der Linksfraktion zu den Opferzahlen rechtsextremer Gewalt beraten. Damals galt
die Anteilnahme aller Parlamentarier den Opfern von
extremistischen Gewalttaten und ihren Angehörigen.
Und auch heute ist es mir wichtig, zu betonen, dass wir
als Demokraten kein Opfer des Rechtsextremismus
vergessen werden. Sie verdeutlichen uns auf schmerzliche Weise, dass wir jeden Tag aufs Neue für ein demokratisches, freiheitliches und tolerantes Miteinander
werben und kämpfen müssen.
Heute liegt uns der Antrag der SPD mit einem ähnlichen Schwerpunkt vor. Die Sozialdemokraten beklagen zum einen, dass es ein Dunkelfeld in der Statistik
zum Rechtsextremismus gebe. Die journalistisch ermittelten Opferzahlen würden nicht den amtlichen
Zahlen entsprechen. Zum anderen moniert die SPD in
ihrem Antrag, dass es aufseiten der Polizei und Strafverfolgungsbehörden Ignoranz und Verharmlosung gegenüber dem Rechtsextremismus geben würde. Beide
Argumente haben wir in der Debatte vor einem Jahr
schon einmal von den Linken gehört. Damals war der
Eindruck, die Gefahren des Rechtsextremismus nicht
ernst genug genommen zu haben, unmittelbar nach
dem Bekanntwerden der Verbrechen des NSU noch
frisch.
Ein Jahr danach ist meine Empfindung aber, dass
unsere Gesellschaft reifer und sensibler im Umgang
mit dem Problem des Rechtsextremismus geworden ist.
Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung haben die Untersuchungsausschüsse und Gremien zur
Aufarbeitung der NSU-Verbrechen geleistet. Deren
Arbeit ist längst noch nicht abgeschlossen. Die notwendigen politischen Schlussfolgerungen müssen noch
gezogen werden. Dennoch haben sie spürbar zu einem
Bewusstseinswandel beigetragen. Dieser wird auch
anhand der gestiegenen öffentlichen Sensibilität für
rechtsextreme Straf- und Gewalttaten deutlich. Und
ich denke, auch bei Polizei und den Strafverfolgungsbehörden hat es einen Lernprozess gegeben. Ich halte
es daher für falsch, den Behörden generell Ignoranz
und eine Verharmlosung des Rechtsextremismus vorzuwerfen.
Die Frage der statistischen Erfassung von rechtsextremen Straf- und Gewalttaten haben wir vor einem
Jahr schon einmal debattiert. Zunächst bin ich den
Journalisten dankbar, die uns auf die Diskrepanz zwischen offizieller und tatsächlicher Statistik beim
Rechtsextremismus hingewiesen haben. Aber es ist
auch richtig, dass sich das 2001 beschlossene Definitionssystem, auf dem die amtliche Statistik beruht,
grundsätzlich bewährt hat. Es wird kontinuierlich evaluiert. Es ist jedoch entscheidend, dass das System
auch konsequent angewandt wird. Da sind vor allem
die Länder in der Pflicht. Denn die Bewertungshoheit
für Straftaten liegt grundsätzlich bei ihnen. Das Bundeskriminalamt ist nur für die bundesweite Zusammenführung und die Analyse der von den Ländern erhobenen und gemeldeten Fälle zuständig. Insofern müssen
wir für eine verbesserte Wahrnehmung des Rechtsextremismus bei den zuständigen Behörden der Länder
Zu Protokoll gegebene Reden
werben. Ich bin überzeugt, dass sich dort das Bewusstsein für die richtige Einordnung von rechtsextremen
Straf- und Gewalttaten in letzter Zeit geschärft hat. In
den letzten Jahren hat sich die Lücke zwischen den in
der Presse genannten Fallzahlen und der offiziellen
Statistik wieder geschlossen. Daran sollte weiter gearbeitet werden. Vorwürfe an die Behörden, wie sie die
SPD in ihrem Antrag bringt, halte ich hingegen für
falsch.
Zum Schluss noch ein paar Anmerkungen zu den
beiden Forderungen der SPD nach staatlichen Forschungsaufträgen im Bereich des Rechtsextremismus.
Als Liberaler war ich schon immer skeptisch, wenn der
Staat Forschungsaufträge an die Wissenschaft erteilt
hat. Für mich ist es viel wichtiger, die Freiheit der Wissenschaft durch verbesserte Rahmenbedingungen zu
stärken. Im Bereich des Rechtsextremismus sehe ich
diese Hindernisse aber grundsätzlich nicht. Hier werden schon seit Jahren von zahlreichen wissenschaftlichen und auch zivilgesellschaftlichen Institutionen
hervorragende Studien veröffentlicht. Insofern bin ich
allgemein sehr zurückhaltend, was staatliche Forschungsaufträge betrifft.
Im Konkreten sehe ich bei der ersten Forderung der
SPD viele Schwierigkeiten, wenn externe Personen zur
Erstellung einer vergleichenden Statistik Zugriff auf
sensible polizeiliche Falldaten bekommen sollen. Die
zweite Forderung der SPD, die Hindernisse und Barrieren im Engagement gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus staatlich zu erforschen,
halte ich hingegen für nicht notwendig. Gerade in letzter Zeit sind viele Studien in diesem Bereich erschienen, die von Politik und Öffentlichkeit wahrgenommen
werden. Warum sollte ein staatlicher Forschungsauftrag da notwendig sein? Über den dritten Punkt der
SPD, einen Bericht über interkulturelle Kompetenz bei
den Sicherheitsbehörden, können wir gern im Rahmen
der Ausschussberatungen diskutieren. Dazu wäre aber
ein ganzer Antrag mit einem falschen Duktus nicht
notwendig gewesen.
Die generelle Stoßrichtung dieses Antrags, den angesichts der NSU-Mordserie von allen Bundestagsfraktionen gemeinsam beschlossenen Antrag vom November 2011 mit Leben zu füllen, ist richtig. Allerdings
sind die konkreten Vorschläge zwar sicher gut gemeint,
aber aus Sicht der Linken nicht unbedingt gut gemacht.
Ausgangspunkt des Antrags ist die umstrittene Datengrundlage der rechtsextremen Straf- und Gewalttaten. Für eine realistische Einschätzung der Gefahren
durch die extreme Rechte bedarf es einer realistischen
Grundlage, und das heißt auch: eines realistischen
Zahlenmaterials. Dass dieses vonseiten der Bundesregierung nicht erhoben wird, beklagt die Linke seit
vielen Jahren. Die vom Verfassungsschutz vorgelegten
Zahlen sind, wie jeder weiß, im besten Fall eine grobe
Annäherung an die Realität. Im Regelfall sind sie dagegen eine ideologisch motivierte Verschleierung der
realen Verhältnisse. Nicht zuletzt den seit Jahren regelmäßigen Anfragen der Linken und davor der PDS ist
es zu verdanken, dass die Bundesregierung zu bestimmten Phänomenbereichen wie antisemitischen
Straftaten, Naziaufmärschen oder Rechtsrockkonzerten überhaupt Datenmaterial erhebt und zur Verfügung stellt. Die von der Regierung zur Verfügung gestellten Daten bilden jedoch nur einen Ausschnitt der
tatsächlichen Gefahr von rechts ab. Sie basieren
schließlich auf dem eingeschränkten und der unwissenschaftlichen Extremismustheorie verpflichteten
Blick der Verfassungsschutzbehörden.
Am eklatantesten ist die Differenz in der Einschätzung bei den rechtsextrem bzw. rassistisch motivierten
Tötungsdelikten seit 1990. Während die Bundesregierung hier von 57 Todesopfern - unter Einschluss der
NSU-Opfer - ausgeht, haben unabhängige Einrichtungen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung oder die Zeitungen „Tagesspiegel“ und „Zeit“ zwischen 140 und
180 Todesopfer rechtsextrem oder rassistisch motivierter Gewalt gezählt. Diese Differenz ist so erheblich,
dass man von einer völlig unterschiedlichen Einschätzung der tödlichen Gefahr von rechts sprechen kann.
Allein die Linke hat mit zwei Großen Anfragen zu diesem Thema in dieser und der letzten Legislatur die
Bundesregierung gezwungen, sich immer wieder neu
mit den Zahlen zu befassen.
Die SPD schlägt nun vor, die Bundesregierung solle
einen Forschungsauftrag erteilen, um zu ermitteln, wie
viele Menschen Opfer oder Zeugen von rechtsextremer
Gewalt und Propagandadelikten geworden sind. Nun
stelle ich es mir schon schwer vor, genau zu bestimmen, wer Zeuge oder Opfer von Propagandadelikten
geworden ist. Was ist beispielsweise mit einem großen
Hakenkreuz im U-Bahnhof, an dem täglich Tausende
vorbeigehen? Und so bringt der SPD-Antrag insgesamt eine etwas naive Wissenschaftsgläubigkeit zum
Ausdruck. Eine vermeintliche Objektivierung durch
die Wissenschaft soll an die Stelle der Auswertung
durch Praktiker aus Opferberatungen und Journalismus treten. Was aber spricht gegen die Zahlen, die von
dieser Seite vorgelegt wurden? Sie sind einsehbar, und
über jeden einzelnen Fall und seine Beurteilung kann
öffentlich diskutiert und gestritten werden.
Letztlich wird es immer um die Frage gehen, welche
Kriterien für die Frage nach einer rassistischen bzw.
rechtsextremen Tatmotivation angelegt werden. Eine
wissenschaftliche Auftragsforschung, gar noch vonseiten einer dem ideologisch motivierten Extremismusansatz ergebenen Bundesregierung, würde Ergebnisse
zutage fördern, die ganz im Sinne der Regierung sind.
Es macht eben einen Unterschied, ob ein sogenannter
Extremismusforscher wie Eckhard Jesse oder ein ernsthafter Sozialwissenschaftler wie Wilhelm Heitmeyer
eine solche Untersuchung durchführt. Warum sollten
dann aber nicht gleich diejenigen damit beauftragt
werden, die in ihrer alltäglichen beruflichen und ehrenamtlichen Arbeit an der Basis mit den Fällen zu tun
Zu Protokoll gegebene Reden
haben oder sich intensiv und seit vielen Jahren mit der
Beobachtung der Naziszene befassen? Die Linke schlägt
seit Jahren die Einrichtung einer aus Bundesmitteln
finanzierten unabhängigen Beobachtungsstelle Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus vor. Eine
solche Stelle wäre der Ausgangspunkt für eine realistische Einschätzung der Gefahren von rechts. Natürlich
ließe sich hier auch wissenschaftliche Expertise integrieren - aber eben nicht als Regierungsauftrag.
Auch die zweite Forderung, ein Forschungsauftrag
zur Aufdeckung der Hindernisse beim Engagement gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, ist gut gemeint. Er verkennt aber, dass es bereits
zahlreiche Arbeiten aus der Begleitforschung zu
„Civitas“ und anderen Bundesprogrammen gibt. Zudem wäre es auch hier angebracht, zunächst die Praktiker der Projekte selber zu hören, die Jahr für Jahr
ihre Beschwerden zu den vorhandenen Hindernissen
vorbringen.
Der Berichtswunsch zur interkulturellen Kompetenz
in den sicherheitsrelevanten Bundes- und Landesbehörden ist sinnvoll und nützlich und findet unsere Unterstützung.
Alles in allem geht der SPD-Antrag zwar in die
richtige Richtung, er wählt aber einen aus Sicht der
Linken zu staatsfixierten Ansatz. Eine unabhängige
Beobachtungsstelle Rechtsextremismus, Rassismus
und Antisemitismus wäre der bessere Weg und würde
nach unserer Überzeugung bessere Ergebnisse bringen.
Wir müssen rechtsextreme Gewalt ganz klar beim
Namen nennen und die Opfer in jeder Hinsicht unter-
stützen und stärken. Das setzt voraus, dass menschen-
feindliche Motivationen bei Gewalttaten erkannt wer-
den. Die Statistik hängt stark von der politischen
Sensibilität der Ermittlungsbehörden und Meldestellen
ab. So kommt es, je nach Quelle, zu teilweise erhebli-
chen statistischen Abweichungen.
Die Zahl der Todesopfer extrem rechter Gewalt in
Deutschland variiert nach der Zählweise. „Tagesspie-
gel“ und „Die Zeit“ führen an, dass seit 1990 mindes-
tens 149 Menschen durch rechte Gewalt getötet wur-
den. 169 Todesopfer porträtiert die Wanderausstellung
„Opfer rechter Gewalt seit 1990“. Einige dieser
Schicksale bewegten die Öffentlichkeit; viele wurden
kaum zur Kenntnis genommen. Es ist ein Verdienst der
Ausstellung, die öffentliche Erinnerung an diese Men-
schen wachzurütteln und einzufordern. 182 Todesfälle
rechter Gewalt dokumentiert der Opferfonds Cura der
Amadeu-Antonio-Stiftung.
Unverständlich wirkt angesichts solcher zivilgesell-
schaftlichen Erhebungen die offizielle Statistik. Nur
47 Todesopfer erkannte die Bundesregierung bis 2009
an. Im Zuge der Untersuchungen zum NSU wurde die
Statistik leicht nach oben korrigiert. Im Februar 2012
galt laut Polizeilicher Kriminalstatistik immerhin als
erwiesen, dass von 1990 bis 2011 durch rechtsextrem
motivierte Täter 58 Menschen ihr Leben verloren.
Dennoch klafft zwischen staatlicher und zivilgesell-
schaftlicher Auflistung eine große Lücke, die auf ein
bedenkliches Erkenntnisproblem der staatlichen Be-
hörden hinweist.
Dieses Erkenntnisproblem wird leider von der
schwarz-gelben Koalition nicht kritisiert. Vielmehr er-
läutern manche Abgeordneten sogar, warum es gut sei,
auf dem rechten Auge blind zu bleiben. In besonders
unangenehmer Erinnerung ist mir dabei die Bundes-
tagsrede des FDP-Kollegen Hartfrid Wolff am 1. De-
zember 2011. Er bezeichnete die Statistiken aus der Zi-
vilgesellschaft als „unseriös“ und verstieg sich zu der
Behauptung, sie legten „bei ihren Bewertungen keine
rechtsstaatlichen Maßstäbe zugrunde“. Das Verfahren
der Bundesregierung hingegen hielt er für unantast-
bar, da diese nur die Straftaten als rechtsextrem zähle,
die „gerichtlich als solche verurteilt wurden“. Dass
dabei ein Problem auftritt, wenn weder Polizei noch
Justiz ausreichend für rechtsextreme Hintergründe
sensibilisiert sind, blendete er komplett aus. Seine Aus-
lassungen gipfelten in der unverschämten Anklage:
„Antifaschismusarbeit ist seit jeher Kernelement links-
extremistischer Aktivität.“ Wer mit solchen Parolen
den Rechtspopulisten in die Hände spielt, kann weder
gute Politik zum Schutz von Opfern von menschen-
feindlicher Gewalt machen noch eine realitätsgerechte
Opferstatistik fördern.
Hinzu kommt, dass in Statistiken nur die bekannt-
werdenden Fälle zum Tragen kommen. Die vorhan-
dene Dunkelziffer rechter Diskriminierungen und tätli-
cher Übergriffe wird überhaupt nicht erfasst. Dass sie
existiert, steht zweifelsfrei fest. Viele Opfer wagen es
nicht, Straftaten anzuzeigen. Einerseits befürchten sie,
dass ihnen nicht geglaubt wird und sie mit institutio-
nellem Rassismus oder anderen Vorurteilen konfron-
tiert werden könnten. Andererseits haben etliche auch
Angst vor der Rache der Täter. Diese Befürchtungen
sind leider nicht unberechtigt.
So wurden etwa die Angehörigen der NSU-Opfer
tatsächlich selbst verdächtigt, Gewalt ausgeübt zu ha-
ben, während man offenkundigen Spuren ins rechts-
extreme Milieu nicht nachging. Auf diese Art tragen
die betreffenden Behörden sogar eine Mitverantwor-
tung, indem sie weitere Straftaten des NSU nicht recht-
zeitig verhinderten.
Auch werden Angegriffene nicht immer angemessen
geschützt. Ein beschämendes aktuelles Beispiel gibt es
im sächsischen Hoyerswerda. Der Fall eines dort le-
benden Paares ging kürzlich durch die Medien. Die
beiden hatten rechte Aufkleber in der Stadt entfernt
und waren daraufhin von 15 Nazis im Treppenhaus ei-
nes Wohnblocks überfallen und bedroht worden. Die
Polizei traf verzögert ein und legte dem Paar nahe, aus
Sicherheitsgründen die Stadt zu verlassen. Das kommt
einer Kapitulation vor Nazigewalt nahe, die sich un-
sere Gesellschaft nicht leisten darf. Das späte Eintref-
fen wurde durch einen Mangel an Polizeikräften ge-
Zu Protokoll gegebene Reden
rechtfertigt. Tatsächlich hat es in Hoyerswerda seit
2009 eine Reduzierung von Polizeibediensteten von
136 auf 104 gegeben. Doch nicht nur eine zahlenmä-
ßig ausreichende, sondern vor allem auch eine Polizei
mit Problembewusstsein für rechte Straftaten ist von-
nöten.
Die Behörden müssen stärker sensibilisiert werden.
Es genügt nicht, wenn das Bundesinnenministerium
erklärt, man habe es bei abweichenden Opferzahlen
mit einer „systemimmanenten Bewertungsbreite“ zu
tun. Das Erfassungssystem zur politisch motivierten
Kriminalität muss auf den Prüfstand. Derart gravie-
rende „Ermessensspielräume“ sind bei der Bewertung
von Tötungsdelikten nicht akzeptabel. Wir fordern
nachvollziehbare und transparente Bewertungsmaß-
stäbe für politisch motivierte Kriminalität. Diese müs-
sen dann von Polizei und Justiz konsequent angewandt
werden. Vor allem aber darf die Expertise der zivilge-
sellschaftlichen Stellen nicht ausgeblendet oder gar
als unliebsame Konkurrenz abgelehnt werden.
Im kürzlich beendeten Haushaltsverfahren für 2013
wurde der Härtefonds für Gewaltopfer im Bundesjus-
tizministerium um eine halbe Million Euro erhöht.
Dies war durch gestiegene Fallzahlen notwendig. Es
ist gut, dass mehr Opfer den Schritt, eine Entschädi-
gung einzufordern, wagen. Doch so lange ein rechts-
extremer Hintergrund der Tat nicht offiziell anerkannt
ist, erhalten die Antragsteller aus diesem Geldtopf kein
Geld. Auch deshalb muss der Blick der Behörden ge-
schärft werden.
Wir begrüßen den Antrag der SPD, die Forschung
im Bereich rechter Gewalt zu vertiefen. Die Erfassung
muss verbessert, die Dunkelziffer verringert werden.
Dabei ist es wichtig, dieses Vorhaben in den Kontext
einer gesamtgesellschaftlichen Demokratieoffensive
einzubetten. Mehr interkulturelle Kompetenz und spe-
zifische Weiterbildungen in sicherheitsrelevanten Be-
hörden gehören ebenso dazu wie Projekte zur Stärkung
von Menschen mit Migrationshintergrund und anderen
potenziellen Opfern rechter Gewalt.
Unverzichtbar sind ein Ausbau der Opferberatung,
besonders in Westdeutschland, sowie eine finanzielle
Verstetigung vorhandener Strukturen im gesamten
Bundesgebiet. Allerdings setzen wir nicht, wie die SPD
in ihrem Antrag, auf das „Frühwarnsystem“ Verfas-
sungsschutz. Denn dieser hat versagt. Wir setzen da
lieber auf ein zu gründendes „Institut Demokratieför-
derung“, wie unsere Bundestagsfraktion in dieser Wo-
che beschlossen hat.
Die schwarz-gelbe Koalition hat letzte Woche für
den Haushalt 2013 die Chancen zur langfristigen För-
derung von Initiativen gegen Rechtsextremismus aus-
geschlagen und unsere guten Konzepte abgelehnt.
Bündnis 90/Die Grünen setzten sich für ein 50-Millio-
nen-Programm gegen gruppenbezogene Menschen-
feindlichkeit ein, aus dem auch Opferberatungsstellen
unbürokratisch Mittel erhalten, um ihre wichtige Ar-
beit vor Ort leisten zu können.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11366 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist jemand damit
nicht einverstanden? - Es meldet sich niemand. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten
und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts
- Drucksache 17/11468 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})-
Innenausschuss-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Friedrich Ostendorff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Baugesetzbuch wirklich novellieren
- Drucksache 17/10846 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})-
Rechtsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kirsten
Lühmann, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Barrierefreie Mobilität und barrierefreies
Wohnen - Voraussetzungen für Teilhabe
und Gleichberechtigung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch
verbindlich regeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Markus Kurth, Daniela Wagner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Barrieren abbauen - Mobilität und Wohnen für alle
- Drucksachen 17/6295, 17/9426, 17/9406,
17/11646 Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel ({3})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt werden die Reden
zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen dann zur Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11468 und 17/10846 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse. Die Vorlage auf
Drucksache 17/10846 soll federführend vom Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beraten werden.
- Einwände gibt es keine. Dann ist das so beschlossen.
Unter Tagesordnungspunkt 21 c geht es um die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/11646.
Unter Buchstabe a empfiehlt der Ausschuss in seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/6295 mit dem Titel
„Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen - Voraussetzungen für Teilhabe und Gleichberechtigung“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
({4})
- Die Beschlussempfehlung ist trotzdem angenommen.
Ich nehme aber den hartnäckigen Wunsch auf Festhalten
der Enthaltung gerne zu Protokoll.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9426 mit dem Titel „Barrierefreies Bauen im
Baugesetzbuch verbindlich regeln“. Wer möchte sich
enthalten?
({5})
- Na also. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9406 mit dem Titel „Barrieren abbauen - Mobilität und Wohnen für alle“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wiederum ein
paar Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung einer Kennzeichnungspflicht
für Angehörige der Bundespolizei
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Karin Binder, Frank Tempel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei
massiv beschränken
- Drucksachen 17/4682, 17/5055, 17/11263 Berichterstattung:Abgeordnete Günter BaumannWolfgang GunkelGisela PiltzFrank TempelDr. Konstantin von Notz
Die dazu vorbereiteten Reden werden zu Protokoll
genommen.
In ihrem Antrag verfolgt die Fraktion Die Linke die
Intention, alle Bundespolizistinnen und Bundespolizis-
ten mit einer individuellen Kennzeichnung zu verse-
hen. Gefordert wird ein rechtlicher Rahmen zur Ein-
führung von Nummerncodes oder Namensschildern,
anzubringen an den Uniformen der Beamten. Diesem
Ansinnen trete ich entschieden entgegen. Eine Kenn-
zeichnungspflicht für die Angehörigen der Bundespoli-
zei hat meines Erachtens einer Stigmatisierung der Be-
amten zur Folge. Es wird der Eindruck vermittelt,
Beamte nutzen ihre Sonderstellung, um ungesühnt
Straftaten zu begehen. So zumindest argumentiert die
Fraktion Die Linke in ihrem Antrag. Ich frage Sie,
meine Damen und Herren der Linken: Wollen Sie wirk-
lich die Beamten der Bundespolizei unter diesen Gene-
ralverdacht stellen? Ich weise darauf hin, dass Sie mit
einer solchen Aussage nicht nur die Bundespolizei in
ein schlechtes Licht rücken, sondern auch unseren
Rechtsstaat. In einem Rechtsstaat werden alle Strafta-
ten entsprechend verfolgt und untersucht - auch die
Straftaten von Angehörigen der Polizei.
Die Aufgabe der Bundespolizei ist es, die Bürgerin-
nen und Bürger vor Gefahren zu schützen und die Si-
cherheit und Ordnung zu wahren. Dieser Aufgabe,
welche oberste Priorität besitzt, widmen sich die Be-
amten tagtäglich und setzen sich somit fortwährend
Gefahren für Leib und Leben aus. Wie sollen die Be-
amten dieser wichtigen und auch schwierigen Aufgabe
gerecht werden, wenn sie befürchten müssen, unge-
rechtfertigten Vorwürfen ausgesetzt zu werden bzw. sie
unter Umständen ihre eigenen Angehörigen in Gefahr
bringen? Zudem liegen keine ausreichenden Erkennt-
nisse vor, die belegen, dass Ermittlungsverfahren ge-
gen Polizeibeamte der Bundespolizei nicht aufgeklärt
werden konnten, weil es an einer individuellen Kenn-
zeichnung fehlte.
Sind Beamte mit individuellen Kennzeichnungen
- seien es Nummerncodes oder Namensschilder - ver-
sehen, besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass hie-
rüber ihre Namen und die ihrer Angehörigen ermittelt
werden. Somit besteht eine Gefahr sowohl für die Be-
amten als auch für ihre Familien. Mit der Gewichtung 1) Anlage 10
der Aufgabe, welcher sich die Beamten der Bundespolizei gewissenhaft widmen, erhöht sich auch die
Pflicht des Staates, seine Beamten entsprechend zu
schützen. Hieraus resultiert ein Anspruch der Beamten
auf Schutz der Persönlichkeitsrechte, der gegenüber
dem Interesse der Bürger an einer individuellen Kennzeichnung höher zu bewerten ist. Zu bedenken ist zudem, dass bei den heutigen medialen Möglichkeiten Videos und Bilder während Veranstaltungen gemacht
werden, welche sich sofort im Internet wiederfinden.
Wie schwer bzw. unmöglich es ist, einmal sich im Internet befindliche Bilder und Daten zu entfernen, brauche
ich Ihnen nicht zu sagen. Mit anderen Worten: Die
Polizeibeamten, die während ihres Einsatzes zum
Schutze der Bürgerinnen und Bürger gefilmt oder in irgendeiner anderen Form aufgenommen werden, sind
samt ihrer Kennung anschließend für jeden einsehbar
und auffindbar. Dieser Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Beamten ist nicht vertretbar oder in irgendeiner Form nachvollziehbar.
Auch trete ich dem Argument entgegen, dass eine
Kennzeichnungspflicht die Transparenz staatlichen
Handelns unterstreicht. Ich betone erneut, dass die
derzeitige Gesetzeslage der Transparenz staatlichen
Handelns bereits entsprechend gerecht wird. Alles
Weitere, darüber Hinausgehende ist unsinnig und
greift über die Maßen in das Persönlichkeitsrecht der
Beamten ein. Die Beamten müssen sich, auf Nachfrage
der von staatlichen Handlungen betroffenen Personen,
ausweisen. Bei geschlossenen Einsätzen kann über die
taktische Kennzeichnung der Einheit und die Einsatzdokumentation die Legitimation erreicht werden.
Alles in allem besteht mithin keine Notwendigkeit,
den Angehörigen der Bundespolizei eine Kennzeichnungspflicht aufzuerlegen. Die Gefahren für die Beamten sind zu groß, und ein Generalverdacht in diesem
Sinne widerspricht der Fürsorgepflicht des Staates für
seine Beamten. Der Antrag ist abzulehnen.
Weiterhin kann die CDU/CSU-Fraktion auch dem
zweiten Antrag der Linken nicht zustimmen, mit welchem sie den Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei
massiv beschränkten wollen, um die erhöhte Gefahr für
Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen
oder Menschen, die unter Einfluss von Drogen stehen,
einzudämmen.
Pfefferspray ist ein Mittel, das zwischen dem
Schlagstock und der Schusswaffe liegt. Unbestritten
ist, dass der Einsatz von den vorgenannten Mitteln zu
erheblichen Verletzungen führen kann, aber nicht muss
das möchte ich betonen, wohingegen Pfefferspray lediglich ein kurzzeitiges Unwohlsein bei dem Betroffenen hervorruft. Bei dem Einsatz von Mitteln zur Gefahrenabwehr ist - und das sollten Sie wissen, sehr
geehrte Damen und Herren von den Linken - immer
auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip abzustellen. In
vielen Gefahrensituationen ist der Einsatz von Pfefferspray jenes Mittel, dessen Einsatz im Einzelfall das
mildere und zugleich das effektivste ist. Gerade bei
Demonstrationen mit einer größeren Anzahl an Menschen kann Pfefferspray eine eskalierte bzw. eine zu
eskalieren drohende Situation am effektivsten beenden,
ohne erhebliche Schäden herbeizuführen. Eine mögliche Gefahr für Menschen mit gesundheitlichen Problemen möchte ich an dieser Stelle auch nicht unbedingt
abstreiten. Aber gäbe es diese Gefahr nicht auch, wenn
die Beamten anstelle des Pfeffersprays die anderen
Einsatzmittel nutzen würden? Es kann doch nicht Ihr
Ansinnen sein, den Einsatz der anderen - aus meiner
Sicht auch gefährlicheren Mittel - zu verstärken. Denn
das wäre die Konsequenz, wenn sie die Möglichkeit
zum Einsatz von Pfefferspray verhindern. Unter welchen Möglichkeiten sollen die Beamten denn sonst
wählen, um die Ordnung und Sicherheit zu garantieren
bzw. wiederherzustellen? Für einen Polizeibeamten,
welcher eine Maßnahme vornehmen muss, ist es ein
psychologischer Vorteil, eine Auswahl an verschiedenen Einsatzmitteln zu haben. Darüber hinaus, meine
Damen und Herren von der Linken, sollten Sie mehr
Vertrauen in unsere Polizeibeamten haben. Diese üben
ihren Dienst mit höchster Vorsicht und gewissenhaft
aus. Ich verweise auch darauf, dass die Mittel zur Gefahrenabwehr nur zum Einsatz kommen, wenn dies
auch erforderlich ist. Insoweit kann es bei friedlichen
Demonstrationen - und damit auch bei unbeteiligten
Dritten - nicht zu erheblichen Beeinträchtigungen
kommen. Jeder, der die öffentliche Sicherheit und
Ordnung gefährdet, muss auch mit den Konsequenzen
leben können. Unsere Bürgerinnen und Bürger sind zudem mündig genug, um sich der Konsequenzen ihres
Handels bewusst zu sein.
Abschließend bleibt zu sagen, dass auch dieser Antrag abzulehnen ist. Die Polizeibeamten benötigen entsprechende Mittel, um ihre Arbeit entsprechend und
verhältnismäßig durchführen zu können und um die
Gefahr für Leben und Leib des Bürgers zu minimieren.
Den Einsatz von Pfefferspray halte ich daher für mehr
als gerechtfertigt.
Wir wollen Polizisten schützen und setzen hohes
Vertrauen in ihre Arbeit. Mit den beiden Anträgen der
Linken wird Misstrauen gegen Polizisten geschaffen
und sollen Straftäter geschützt werden.
Wolfgang Gunkel ({0}):
Beide Anträge der Linken wurden in einer gesonderten Anhörung des Innenausschusses des Deutschen
Bundestages im vergangenen Jahr ausführlich diskutiert.
Die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht
für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte ist auch in
der SPD-Bundestagsfraktion schon länger Debattengegenstand.
In einem Rechtsstaat darf es keine Gewalteskalationen durch die Polizei geben. Bei Straftaten durch Beamtinnen und Beamte sind umgehend strafrechtliche
Konsequenzen zu ziehen. Straftäter in der Polizei sind
sowohl für die Polizei als auch für ihr Image schlecht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wolfgang Gunkel
Dennoch verwahre ich mich gegen den eventuell
aufkommenden Eindruck, jede Demonstration werde
seitens der Polizei zu einem hemmungslosen Spannungsabbau genutzt. Es handelt sich hier um Einzelfälle, nicht um ein gesamtpolizeiliches Phänomen!
Die Kolleginnen und Kollegen sind an vielen Wochenenden in der gesamten Republik unterwegs, in unterschiedlichsten Lagen, ob Castor, Fußballspiel oder
Demonstration. Oft üben sie ihren sehr verantwortungsvollen Beruf unter schlechten Bedingungen aus.
Über die Zufriedenheit der Beamtinnen und Beamten
mit ihrem Beruf im Zusammenhang mit der StrohmeierStudie haben wir auch schon ausführlich im Innenausschuss gesprochen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke pauschalisiert
nach meiner Meinung an einigen Stellen zu stark. Andererseits fordert er auch Dinge, die bereits geregelt
sind. Als SPD-Bundestagsfraktion werden wir uns an
dieser Stelle enthalten.
Grundsätzlich hat die SPD-Bundestagsfraktion
nichts dagegen, eine Kennzeichnungspflicht für die
Bundespolizei einzuführen. In einigen Bundesländern
ist die Kennzeichnungspflicht schon Realität.
Bisher werden laut einer wissenschaftlichen Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages von circa 58 Prozent der Polizeibeamten in Deutschland auf freiwilliger Basis im
Einzeldienst und auf Streife Namensetiketten getragen.
Das Tragen von Namensschildern - oder im Bedarfsfall einer Identifikationsnummer - ist heute in einer modernen, weltoffenen und bürgernahen Polizei
ein selbstverständliches Element der Service- und
Kundenorientierung, die von den Bürgerinnen und
Bürgern erwartet werden kann. Zudem trägt es zur
Stärkung des Vertrauens in die Polizei bei, wenn die
Bürgerinnen und Bürger nicht einer anonymen Staatsmacht gegenüberstehen, sondern einer dialogbereiten
und individuell verantwortlich handelnden Polizei.
Es gibt aber auch gute Argumente gegen eine Kennzeichnungspflicht: So kann man sie als Ausdruck eines
unberechtigten Misstrauens gegen die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten werten. Zudem birgt eine individuelle Kennzeichnung die Gefahr, dass Polizistinnen
und Polizisten sowie ihre Familienangehörigen Belästigungen und Sanktionen ausgesetzt werden. Dieses
Bedrohungspotenzial darf keinesfalls außer Acht gelassen werden, gerade unter der weiter oben bereits
erwähnten Prämisse der hohen Anforderungen dieses
Berufes.
Die Fraktion Die Linke fordert in dem vorliegendem
zweiten Antrag „Einsatz von Pfefferspray durch die
Polizei massiv beschränken“, den Einsatz von Pfefferspray gegen Menschen zu verbieten, die sich in Ansammlungen, wie einer Demonstration oder bei einem
Fußballspiel, befinden. Das halte ich für übertrieben
und nicht zielführend. Schließlich erlaubt auch das
Gesetz über den unmittelbaren Zwang den Schusswaffengebrauch gegen eine Menschenmenge ({1}). Und der Einsatz von Schusswaffen ist
ein viel schärferes Mittel als der Einsatz von Pfefferspray und mit deutlich größerer Gefahr für Leib und
Leben verbunden. Deshalb muss es auch möglich bleiben, unterhalb des Schusswaffengebrauchs über ein
polizeiliches Einsatzmittel zu verfügen.
Die Forderung nach einer massiven Einschränkung
geht zu weit. Bedingte Einschränkungen halte ich für
ausreichend. Diese sind aber in den Polizeigesetzen
der Länder bereits enthalten. Ferner ist im UZwG des
Bundes und der Länder der Einsatz von Zwangsmitteln
detailliert geregelt und unterliegt stets dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit, der über allen polizeilichen
Handlungen „schwebt“. Verstöße gegen diese Bestimmungen bei Einsätzen der Polizei sind natürlich zu
verfolgen und müssen gegebenenfalls strafrechtliche
Konsequenzen nach sich ziehen.
Ein Beschluss des Deutschen Bundestages mit dem
hier vorgelegten Inhalt ist deshalb nicht erforderlich.
Die SPD-Bundestagfraktion lehnt diesen Antrag ab.
Im letzten Jahr gab es zur Kennzeichnungspflicht
für Angehörige der Bundespolizei eine Anhörung im
Innenausschuss des Deutschen Bundestages. Anscheinend hat die Linke in dieser Anhörung nicht richtig zugehört oder interessiert sich nicht für die Einschätzung
der Sachverständigen. Darin sprachen sich die befragten Sachverständigen nämlich mehrheitlich gegen den
Vorschlag der Linken einer solchen Kennzeichnungspflicht für Angehörige der Bundespolizei aus. Die
FDP teilt die Bedenken der Sachverständigen.
Wir wollen nicht, dass Polizistinnen und Polizisten
sich unter Generalverdacht gestellt sehen und ihr Persönlichkeitsschutz nicht gewahrt wird. Eine namentliche Kennzeichnung könnte dazu führen, dass einzelne
Beamte auf Demonstrationen und Ähnlichem von Randalierern gezielt herausgepickt und beispielsweise in
Internetforen an den Pranger gestellt werden oder auf
späteren Veranstaltungen gezielt angegangen werden.
Auch eine nicht namentliche Kennzeichnung durch
eine feste Nummer könnte eine Identifikation auf nachfolgenden Veranstaltungen ermöglichen und die Gefahr des persönlichen Ausforschens der Beamtinnen
und Beamten erhöhen. Ebenso könnten sie sich verstärkt Falschanzeigen ausgesetzt sehen. Eine Kennzeichnungspflicht steht also auch im Widerspruch zu
der Fürsorgepflicht des Dienstherrn.
Schon jetzt ist es möglich, Polizistinnen und Polizisten bei Bedarf zu identifizieren: Auf Verlangen müssen
diese nämlich ihren Dienstausweis vorzeigen. Auch
werden Einsätze der Polizei bereits in starkem Maße
gefilmt und fotografiert, wodurch eine zusätzliche
Identifikation möglich ist.
Klar ist: Deutschland ist ein Rechtsstaat. Recht und
Gesetz gelten auch für die Polizei. Daher ist es selbstverständlich, dass Polizistinnen und Polizisten, die
Zu Protokoll gegebene Reden
sich im Dienst strafbar machen, wie jeder andere auch
zur Rechenschaft gezogen werden. Selbstverständlich
ist es auch, dass in solchen Fällen ebenso sorgfältig
ermittelt werden muss wie in anderen Fällen. Dass
dies auch wirklich passiert - woran die Linke ja zu
zweifeln scheint - zeigt beispielsweise die Verurteilung
eines Polizisten vor wenigen Wochen wegen Körperverletzung im Amt während eines Einsatzes im Rahmen
einer Demonstration gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Für die Linke scheint dies aber keine Selbstverständlichkeit zu sein, wie ihr Antrag zeigt. Für die
FDP ist es unverständlich, warum die Linke den Eindruck erwecken will, in unserer Polizei gebe es eine
generelle Vertuschungskultur. Dadurch schürt sie nur
Misstrauen und Ängste innerhalb der Bevölkerung.
Ebenso verhält es sich mit dem Einsatz von Pfefferspray. Die Linke erweckt in ihrem Antrag den Eindruck, als würden wir in einem Polizeistaat leben, in
dem Polizistinnen und Polizisten wahllos und willkürlich die Verletzung oder gar den Tod von Menschen in
Kauf nehmen würden. Der Pfeffersprayeinsatz unterliegt in jedem einzelnen Nutzungsfall einer Verhältnismäßigkeitsprüfung und wird beständig beobachtet.
Daher sprachen sich in der Anhörung im Innenausschuss die Sachverständigen ausdrücklich gegen eine
weitere Beschränkung der Pfefferspraynutzung aus.
Zudem handelt es sich dabei um ein vergleichsweise
mildes Mittel, ohne dauerhafte Schädigung in bestimmten Situationen gegen Randalierer vorzugehen.
Der Antrag der Linken macht den Einsatz von Pfefferspray praktisch unmöglich. Das würde der Polizei in
vielen Fällen diese Möglichkeit nehmen, unseren
Rechtsstaat zu schützen und darüber hinaus auch die
Gefahren für die eingesetzten Polizeikräfte erhöhen.
Daher halten wir es für wichtig und richtig, dass innerhalb eines klaren Regelwerks nach Verhältnismäßigkeitsprüfung die Polizei notfalls auch mit unmittelbarem Zwang durch Einsetzung von Pfefferspray zur
Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols handeln kann. Eine Nachprüfbarkeit der Maßnahme - wie
es ja auch vorgeschrieben ist - ist natürlich unverzichtbar.
Wir als FDP lassen die Polizistinnen und Polizisten,
die sich für die Gewährleistung der Sicherheit in
Deutschland regelmäßig selbst in Gefahr bringen,
nicht allein, behalten dabei aber auch immer die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel und die Wahrung der Rechte der Bevölkerung im Blick.
Mit der Kennzeichnungspflicht für Angehörige der
Bundespolizei soll eine Rechtssicherheit sowohl für
das polizeiliche Gegenüber, sprich: der Bürgerin und
dem Bürger, als auch für Polizistinnen und Polizisten
geschaffen werden. Die Identifizierbarkeit von Amtsträgern dient der Sachverhaltsaufklärung vor Gericht.
Mögliches polizeiliches Fehlverhalten und auch
Fehlanschuldigungen gegenüber Polizistinnen und
Polizisten werden so besser aufklärbar.
In der übergroßen Mehrheit der europäischen Länder sind vergleichbare Regelungen seit langem gang
und gäbe. Es ist beachtlich, dass Staaten wie Rumänien oder die Slowakei, deren Polizeikräfte lange Zeit
unter starker Kritik von EU und Bürgerrechtsgruppen
standen, inzwischen fortschrittlicheren Regelungen
unterliegen als die Bundespolizei. Es ist unwahrscheinlich, dass die 15 Regierungen und Parlamente der
europäischen Länder, die über eine Kennzeichnungspflicht verfügen, damit einen Generalverdacht gegenüber ihren Polizeien zum Ausdruck bringen wollten.
Die ablehnende Diskussion zur Kennzeichnungspflicht hat leider stark irrationale Züge. Auch bei der
anonymisierten Kennzeichnung mit Richtervorbehalt
wird ein Gefährdungspotenzial für Polizistinnen und
Polizisten sowie deren Familien unterstellt. Wie Kriminelle an die Namen gelangen könnten, wird gar nicht
mehr hinterfragt.
Die Kennzeichnung verletze angeblich die Würde.
Nun besteht seit einigen Monaten eine Kennzeichnung
von Einsatzkräften der Bundespolizei bis hin zur Gruppenebene. Ich habe dazu keine einzige Beschwerde
vernommen. Warum das Hinzufügen einer weiteren
Zahl zur persönlichen Identifizierbarkeit die Würde
dann plötzlich verletzen sollte, ist unklar.
Dass CDU/CSU im Innenausschuss mit solcherlei
sachfernen Argumentationen aufwarten, überrascht
mich nicht. Dass allerdings auch die SPD unseren Vorschlag mit einer fadenscheinigen Begründung ablehnt,
hat uns schon enttäuscht. In unserem Antrag sei nicht
vorgesehen, dass Polizeibeamte zum Schutz ihrer Familien die Herausgabe ihrer Adressdaten an Dritte
durch die Meldeämter ohne Begründung sperren lassen können, so der Vorwurf. Das hat allerdings mit
dem vorliegenden Antrag nur indirekt zu tun. Aber
wenn Sie wollen, bringen wir dazu demnächst einen
gemeinsamen Antrag zur Änderung des Meldegesetzes
ein. Mit uns kann man reden. Stimmen Sie also zu!
Nun zum Pfeffersprayantrag: Unser Antrag zur Einschränkung des Einsatzes von Pfefferspray will nicht,
wie uns immer wieder unterstellt wird, den Einsatz von
Pfefferspray verbieten. Aus meiner Zeit als Kriminaloberkommissar bei der Thüringer Polizei kann ich einschätzen, dass Pfefferspray zum übergroßen Teil bei
Maßnahmen gegen häusliche Gewalt zum Einsatz
kommt. Und natürlich ist dessen Einsatz bei körperlicher oder zahlenmäßiger Überlegenheit der Täter
nach dem Versagen niederschwelliger Maßnahmen legitim. Dieses Mittel wollen wir der Polizei also keinesfalls nehmen. Wir wollen es eben nur auf die Fälle beschränken, bei denen es zur Abwehr einer Gefahr für
Leib und Leben der Einsatzkräfte oder Dritter eingesetzt wird.
Leider wird Pfefferspray allzu oft für die bloße
Durchsetzung staatlichen Willens, etwa zur Durchsetzung von Platzverweisen, benutzt; dabei ist jeder Einsatzleiter und jede Einsatzleiterin beim Einsatz von
Gewaltmitteln zu einer Angemessenheitsprüfung verZu Protokoll gegebene Reden
pflichtet. Ein relativ niedrig stehendes Rechtsgut wie
der freie Verkehrsfluss kann in der Abwägung aber
auch nach jetziger Gesetzeslage nicht gegen das
Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit bestehen.
Auch der Einsatz zur Räumung einer Wiese zur Schaffung von Baufreiheit dürfte angesichts des erheblichen
Schädigungspotenzials von Pfefferspray und schon
gar bei der Gefahr einer Schädigung Dritter nicht angeordnet werden. Die Realität ist eine andere, was
auch oft genug in Fernsehbildern dokumentiert wird.
Da hat sich im Laufe der Jahre ein sorgloser, teils verantwortungsloser Umgang entwickelt. Insofern ist
unser Antrag nur eine Konkretisierung und eine Klarstellung der heutigen Rechtslage und kein neuer juristischer Sachverhalt.
Es kommt in der polizeilichen Praxis nicht nur zu
unangemessenen, sondern auch zu einem zu häufigen
Einsatz von Pfefferspray. Richtlinien entsprechend den
Vorschriften des Schusswaffengebrauchs und eine vorgeschriebene nachträgliche rechtliche Würdigung des
Pfeffersprayeinsatzes würden Einsatzkräfte sowie Einsatzleiter oder Einsatzleiterinnen sensibilisieren und
so die Einsatzhäufigkeit von Pfefferspray verringern.
Pfefferspray ist ein probates Mittel zur Abwehr von
Gewalttätern unterhalb der Schwelle des Schusswaffeneinsatzes. Es ist aber keine Allerweltslösung für gesellschaftliche Probleme, die auf die Straße getragen
werden.
Bilder wie die vom völlig überzogenen Pfeffersprayeinsatz bei den friedlichen Demonstrationen zu Stuttgart 21 sollten nie wieder auf den Bildschirmen der
Bundesrepublik zu sehen sein. Das war selbst vielen
Polizeibeamten und Polizeibeamtinnen, die das verfolgt haben - ich habe nach wie vor einen guten Kontakt zu den Kollegen, - unangenehm. Nehmen Sie unsere zwei Anträge ernst! Gehen Sie nicht leichtfertig
über diese berechtigten Anliegen hinweg und stimmen
Sie zu!
Die Polizei übt - im Extremfall - unmittelbaren
Zwang aus. Sie tut das in Deutschland in aller Regel
im Einklang mit den einschlägigen gesetzlichen Regeln. Die handfeste Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols bleibt aber ein sensibler Bereich; denn
wenn staatliche Organe Gewalt gegen die Bürger ausüben, ist das für den freiheitlichen Rechtsstaat immer
der Extremfall. Hier wären Willkür und Fehlverhalten
besonders schrecklich. Deshalb ist strengstens darauf
zu achten, dass die Rechtsgrundlage immer völlig klar
ist und die Anwendung unmittelbaren Zwangs immer
in jedem Sinne verhältnismäßig bleibt.
Gerade das ist aber bei einem heute sehr üblichen
Mittel fraglich - dem Pfefferspray. Es gehört ja zur
Verhältnismäßigkeit, dass man immer dasjenige Mittel
wählt, das für die Zweckerfüllung geeignet ist, aber
eben auch jenes, das dafür notwendig ist. Sprich: Der
Zweck heiligt nicht alle Mittel, sondern nur dasjenige,
das nicht übers Ziel hinausschießt.
Das trifft auf das Pfefferspray - das muss man nach
jahrelanger Erfahrung damit wohl sagen - nicht immer zu. Es ist eingeführt worden als die mildere Alternative, und bisher ist es das auch. Es ist milder als jede
Leberwursttaktik oder die alte Praxis, mit berittenen
Staffeln in Demos einzureiten und vom hohen Ross mit
dem Schlagstock loszudreschen. Und es ist milder als
die Chemiekeule CS-Gas.
Aber es ist deswegen noch lange kein problemfreies
Allzweckmittel. Wir sehen mit Sorge, dass es bei fast
jeder konfliktträchtigen Demonstrationslage eingesetzt wird. Man muss schon den Eindruck haben: Das
geschieht zu früh und zu viel. Denn man darf sich nicht
täuschen: Pfefferspray ist aggressiv, es kann Verletzungen auslösen und - für Asthmatiker oder Allergiker auch lebensbedrohlich wirken. Es ist zurzeit wohl das
mildeste Mittel; aber es ist höchste Zeit, den Einsatz
restriktiver zu handhaben und nach gesundheitlich unbedenklicheren Alternativen zu forschen. Das wäre
einmal eine Art der Sicherheitsforschung, die man unterstützen kann!
Pfefferspray ist ein Mittel für den Konfliktfall, und
um die Vermeidung und Lösung von Konfliktfällen geht
es auch beim zweiten Thema des heutigen Tages, bei
der Kennzeichnung von Polizeibeamten.
Die Forderung, dass jeder Polizist und jede Polizistin eindeutig identifizierbar sein muss, erheben wir
schon seit langen Jahren. In manchen Bundesländern
hat dieses Bemühen inzwischen auch Früchte getragen, zum Beispiel in Schleswig-Holstein. Und das
sollte auch bei der Bundespolizei endlich so sein.
Es geht darum, dass alle Vollzugsbeamten entweder
ihren Namen oder eine eindeutige, nach dem Einsatz
auch zuzuordnende Nummer gut sichtbar auf der Uniform tragen. Das erscheint uns wie eine Selbstverständlichkeit, denn im Rechtsstaat kann es nicht sein,
dass die Staatsmacht gewissermaßen getarnt auftritt.
Die Kennzeichnung ist kein Misstrauensvotum gegen Polizeibeamte. Es geht uns nicht darum, Beamte
zu drangsalieren und sie unter Verdacht zu stellen. Es
kann aber auch niemand verleugnen, dass es nach
manchen Großeinsätzen Vorwürfe gibt, dass Beamte
über das Ziel hinausgeschossen sind. Und es ist einfach nicht gut, wenn diese Vorwürfe allzu oft im Raum
stehen bleiben, weil die betreffenden Personen nicht zu
identifizieren sind. Das führt erst zum Generalverdacht bei denen, die sich falsch behandelt fühlen, gegen die sich polizeiliche Gewalt gerichtet hat. Sie müssen ihr Gegenüber benennen können, damit dann die
Vorwürfe in rechtsstaatlicher Weise geklärt werden
können. Es nutzt doch auch der Polizei nichts, wenn
die Legende Platz greift, dass alle Beamten prügeln
und sich dann gegenseitig decken. Und es würde ihr
schon gar nichts helfen, einen Fall zu vertuschen, in
dem tatsächlich ein Kollege das Maß verloren hat und
eben in nicht angemessener Weise Gewalt ausgeübt
hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viele Beamte fürchten Rache, wenn sie mit ihrem
Namen am Revers in vorderster Front einer brodelnden Großlage stehen müssen. Das kann ich nachvollziehen; es gibt ja leider Gewalttäter jeder Couleur, die
meinen, man müsste auf Internetseiten Namen und
Adressen von unliebsamen Polizeibeamten veröffentlichen, mit der Intention, gezielt gegen diese Beamten
vorzugehen. Dagegen muss der Staat als Dienstherr
vorsorgen. Das kann er aber tun, indem eben nicht der
Name auf die Uniform gedruckt wird, sondern eine
Nummer, und auch die kann von Einsatz zu Einsatz
wechseln.
Also zwei Fälle von sinnvoller Vorsorge: beim Pfefferspray gegen unbeabsichtigte Verletzungen, bei der
Kennzeichnung gegen im Raum stehende Unterstellungen. Beides sollte man angehen, denn es sind zwei
Schritte auf dem Weg zu einer bürgernäheren Polizei
im Rechtsstaat.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses. Der Innenausschuss empfiehlt auf der Drucksache 17/11263 unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/4682. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
möchte sich der Stimme enthalten? - Bei zwei Enthaltungen ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5055. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch
- Drucksache 17/11726 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})-
Innenausschuss-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Gesundheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. - Ich sehe, dagegen hat niemand et-
was einzuwenden.1) Zugleich wird die Überweisung des
Gesetzentwurfes auf der Drucksache 17/11726 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Proteste sind nicht erkennbar. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas
Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Steuerliche Transparenz von multinationalen
Unternehmen herstellen - Country-by-Country und Project-by-Project Reporting einführen
- Drucksachen 17/11075, 17/11695 Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeDr. Thomas Gambke
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem vorliegenden Antrag soll die Transparenz
über die Steuerzahlungen von international tätigen
Unternehmen hergestellt werden. Große, global agie-
rende Konzerne wie zum Beispiel Apple, Google, Ama-
zon haben es mittlerweile geschafft, ihre Steuerschuld
so zu schmälern, dass sie mitunter nur noch die Hälfte
des üblichen im Heimatland geltenden Steuersatzes
zahlen.
Dies ist möglich, da die finanzielle Abwicklung der
Geschäfte auf Niedrigsteuerländer ausgelagert wurde.
Ein deutscher Kunde des Onlinekaufhauses Amazon
erhält zum Beispiel eine Rechnung der luxemburgi-
schen Tochter. Der Gewinn aus einem in Deutschland
oder anderen Land getätigten Geschäft wird dadurch
nicht im Geschäftsland, sondern nur in den Niedrig-
steuerländern versteuert.
Durch diese Methode entgehen den europäischen
Staaten nach Schätzung des EU-Kommissars Semeta
bis zu 1 Billion Euro Steuereinnahmen.
Um diesem Problem der legalen Steuerumgehung zu
begegnen, ist es erforderlich, die Fehler nicht nur bei
den Unternehmen selber zu suchen, sondern auch im
europäischen Steuersystem. Denn nur durch die sehr
unterschiedlichen Steuersätze und Steuergesetze in
Europa und den anderen Nationen ist solch eine Ver-
schiebung der Gewinne möglich.
Zu diesem Zweck hat sich die Bundesregierung be-
reits vor einigen Monaten selber auferlegt, sich auf eu-
ropäischer und internationaler Ebene verstärkt in die
Sache einzubringen. Denn eines ist klar: Allein durch
Schaufensteranträge, wie der vorliegende von den
Grünen, schaffen wir keine Harmonisierung und Lö-
sung dieses Steuerverteilungsproblems. Insbesondere
müssen deshalb die Richtlinienentwürfe der EU-Kom-
mission zur Änderung der Transparenzrichtlinie und
den Rechnungslegungsrichtlinien, welche die Einfüh-
rung eines Project-by-Project- und Country-by-Coun-
try-Reporting vorsehen, unterstützt werden.
Bundesfinanzminister Schäuble ist aber auch schon
auf dem Weg und versucht, neben europäischen Lösun-
gen auch gemeinsame Regelungen innerhalb der G 20
und der OECD zu finden. Die Experten des Committee 1) Anlage 13
on Fiscal Affairs, CFA, der OECD haben erst kürzlich
ein Arbeitspapier zu den Steuervermeidungsstrategien
großer internationaler Konzerne erstellt. IT-Firmen
wie Google, Amazon oder Apple erzielen Milliardengewinne in Deutschland wie oben beschrieben, für die
der deutsche Fiskus aber keine Steuern erhält, weil der
Sitz der Onlinehändler in Niedrigsteuerländern liegt. In
dem Arbeitspapier werden verschiedene Probleme
- Verrechnungspreise, Finanzderivate - benannt, die
von den Regierungen angegangen werden sollten.
Die G-20-Staaten wollen nun auf ihrem Treffen
Ende Februar 2013 in Russland darüber beraten, wie
sie die Steuervermeidung der internationalen Konzerne stoppen können. Mit seinem britischen Finanzkollegen George Osborne ist Finanzminister Schäuble
auch bereits in intensiven bilateralen Gesprächen, um
im Rahmen des eben erwähnten G-20-Gipfels in Moskau den Staats- und Regierungschefs weitere Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Es sollen Niedrigsteueroasen ausgetrocknet werden und die Besteuerung in
dem Land erfolgen, wo auch der Gewinn entsteht.
Beide haben auch ihre volle Unterstützung für die
sogenannte BEPS-Initiative zugesagt. Mit dieser Maßnahme möchte die OECD die Aushöhlung der Besteuerungsgrundlagen und die Gewinnverlagerung zwischen den Staaten eindämmen.
Sie sehen also, dass das Problem nur in Absprache
mit unseren internationalen Partnern gelöst werden
kann - nicht in nationalen Alleingängen.
Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch betonen,
dass es nicht nur zu Steuerverschiebungen von Industrienationen in die Karibik oder nach Asien kommt,
sondern auch bereits innerhalb der Europäischen
Union.
Insbesondere das Großherzogtum Luxemburg hat
leider noch nicht die europäischen Mindeststandards
bei der Steuererhebung und bei Steuerkontrollen umgesetzt. Meiner Meinung nach kann Euro-Gruppenchef Juncker nicht nur die europäische Solidarität in
der Euro-Staatsschuldenkrise fordern, sondern muss
auch im eigenen Land Maßnahmen ergreifen, damit
Steuereinnahmen global und europäisch agierender
Konzerne auch in dem Land eingenommen werden, wo
sie entstehen, und nicht verlagert werden. Das wäre
wahre Solidarität und würde vielen Krisenländern in
der aktuellen Liquiditätskrise zu Mehreinnahmen verhelfen.
Wenn wir uns nämlich, auch unabhängig von OECD
und G 20, auf eigene Standards einigen, können wir als
Europäer noch geschlossener in diesen Gremien für
faire Lösungen streiten.
Die Bundesregierung ist nun zunächst am Zuge, um
auf internationaler Ebene das beschriebene Problem
anzugehen. Dieses als solches ist bereits mehr als erkannt und braucht keiner zusätzlichen Aufforderung
durch das Parlament. Deshalb wird die Unionsfraktion den vorliegenden Antrag ablehnen. Vielleicht
könnten sich die Grünen dafür engagieren, dass in den
europäischen Ländern, in denen ihre Parteifreunde mit
in der Regierung sind, die Verhandlungen für gemeinsame Lösungen schneller voranschreiten.
Abschließend sei noch einmal erwähnt, dass die Besteuerung und deren Bemessungsgrundlage nicht rein
national gelöst werden, sondern einer internationalen
Kooperation bedürfen. Wir wollen diese in Europa,
den G 7, G 20 und der OECD stärken, damit so bald
wie möglich alle Gewinne, die in Deutschland erzielt
werden, auch hier besteuert werden.
Wir beraten heute die Beschlussempfehlung und den
Bericht des Finanzausschusses zum Antrag der Grünenfraktion „Steuerliche Transparenz von multinationalen Unternehmen herstellen - Country-by-Country
und Project-by-Project Reporting einführen“. Der
Antrag fordert die Bundesregierung dazu auf, sich auf
europäischer Ebene dafür einzusetzen, bei multinationalen Unternehmen mithilfe von Offenlegungspflichten auf Länderebene, Country-by-Country Reporting,
und auf Projektebene, Project-by-Project Reporting,
Transparenz herzustellen. In langfristiger Perspektive
sollen weltweit entsprechende Standards für die Rohstoffwirtschaft etabliert werden.
Die internationale Rohstoffwirtschaft hat vor kurzem eine echte „Elefantenhochzeit“ erlebt, wie die
„Börsen-Zeitung“ in ihrer Ausgabe vom 27. November 2012 schreibt, als der Bergbaukonzern Xstrata
durch den Glencore-Konzern übernommen wurde. Aus
der Akquisition ging ein Unternehmen mit einem Börsenwert von etwa 70 Milliarden US-Dollar hervor, das
die komplette Wertschöpfungskette von der Förderung,
der Verarbeitung, dem Transport bis hin zum Verkauf
zahlreicher Rohstoffe unter einem Konzerndach vereint. Das neue Unternehmen betreibt Projekte in mehr
als 40 Staaten und generiert einen Umsatz von
210 Milliarden US-Dollar, unter anderem mit der Förderung von Aluminium, Kohle, Zink, Kupfer und Blei,
mit dem Seetransport von Rohöl und mit dem Handel
mit Weizen, Mais, Baumwolle oder Zucker.
Wir beobachten - in dieser Branche, aber auch in
anderen Bereichen - die Reintegration von Großunternehmen entlang der kompletten Wertschöpfungskette.
Aus Zusammenschlüssen und Übernahmen entstehen
riesige multinationale Konzerne, die in vielen unterschiedlichen Geschäftsfeldern und Zeitzonen, in unterschiedlichen Steuerjurisdiktionen und in sehr verschiedenen Staats- und Rechtsordnungen agieren. Global
vernetzte Steuerabteilungen optimieren die gesamte
Konzernstruktur und Prozessabläufe auf eine möglichst günstige Besteuerung.
Konzerne haben die Möglichkeit, international zu
agieren, während Staaten zunächst national begrenzt
sind. Aus diesem Widerspruch entstehen für international tätige Konzerne verschiedene Möglichkeiten, die
eine Neudefinition des Begriffs der Steueroasen, die
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({0})
durch die strukturellen Möglichkeiten eines internationalen Konzerns entstehen, notwendig machen.
Nationale Steuerverwaltungen sehen sich mit dem
Problem konfrontiert, dass beobachtbare, quantifizierbare Transaktionen zwischen einzelnen Unternehmen
in ein konzerninternes Beziehungsgeflecht aus wechselseitigen Beteiligungen, Funktionsverlagerungen
und Verrechnungspreisen abwandern und nur noch auf
konsolidierter Grundlage gemäß der internationalen
Vorschriften der Rechnungslegung - International Financial Reporting Standards, kurz: IFRS - auf Ebene
der Konzerngesellschaften ausgewiesen werden. In
welchen Ländern und mit welchen Projekten Umsätze
im Einzelnen generiert werden, erfahren wir nicht.
Zahlungsströme und finanzielle Transaktionen innerhalb hochintegrierter multinationaler Konzerne sind
nicht transparent; die steuerrechtlichen Regelungen
hingegen, die den Bezugsrahmen für die konzerninternen Transaktionen und Gestaltungen darstellen, sind
- richtigerweise - transparent. Eine Bewertung von
außen, ob Steuerzahlungen korrekt und vollständig
sind, ob sie angemessene Steuereinnahmen für Staaten
erbringen, in denen Konzerngesellschaften ansässig
oder tätig sind, ob sie unseren Vorstellungen von einer
gerechten Steuerlastverteilung zwischen inländischen
und internationalen Unternehmen entsprechen, ist unter diesen Umständen kaum möglich.
Wir sind deshalb froh, dass diese Diskrepanz zwischen den steuerlichen Möglichkeiten global agierender Konzernen und nationaler Steuerverwaltungen zunehmend als Problem für das finanzielle Fundament
vieler Staaten und für die Steuergerechtigkeit im Allgemeinen erkannt wird. Es wird mittlerweile auf verschiedenen Ebenen daran gearbeitet, Transparenz in
steuerlichen Angelegenheiten herzustellen. Ich denke
an die Regelungen im sogenannten Dodd-Frank Act
der USA von Juli 2010, und an die Vorschläge zur Änderung der Transparenz- und der Rechnungslegungsrichtlinie, die auf EU-Ebene diskutiert werden.
Der Antrag spricht sich für eine Ausdehnung der Offenlegungsvorschriften auf alle Branchen in der Europäischen Union mit Ausnahmen lediglich für kleine und
mittlere Unternehmen aus, für die Umsetzung der projektbezogenen Offenlegungspflichten insbesondere im
Rohstoffbereich, für die Festlegung niedriger unterer
Schwellenwerte bei Zahlungen, deren Überschreiten
eine Pflicht zur Offenlegung begründet und für die Ausweitung des Katalogs der offenzulegenden konzerninternen Kennziffern: Produktvolumen, Verkaufszahlen
und Gewinn, Lohnsumme, Zahl der Angestellten, Finanzierungskosten, Zahlungen an die Regierung.
Die SPD-Fraktion unterstützt diese Überlegungen
und stimmt daher dem Antrag zu. Wir arbeiten zeitgleich an einem eigenen Antrag mit dem Titel „Transparenz in Zahlungsflüssen im Rohstoffbereich und
keine Nutzung von Konfliktmineralien“, an dem Wirtschafts-, Umwelt-, Verbraucherschutz- und Finanzpolitiker beteiligt sind. Der Antrag der Grünen folgt
dabei der gleichen Denkrichtung wie unsere Überlegungen, um größere Transparenz zu erreichen und
Klarheit über das Handeln internationaler Konzerne zu
erhalten. Dabei ist Transparenz allein noch keine abschließende Lösung, aber ein erster wichtiger Schritt.
Die Antragsteller präsentieren hier eine in Teilen
durchaus korrekte Problembenennung. Die in der
Folge gebrachten Vorschläge tragen jedoch in keiner
Form zur Lösung der genannten Missstände bei. Es
wird die Illusion eines Zusammenhangs zwischen vorgeblich mangelnder Transparenz und Steuervermeidung geschaffen.
Es geht hier nicht um windige Privatleute, die ihr
Kapital klammheimlich in Nacht-und-Nebel-Aktionen
über die Grenze bringen und in Steueroasen bunkern,
die man nur erwischen und vor Gericht bringen
müsste. Nein, hier handelt es sich um etablierte und
zigfach von Wirtschaftsprüfern durchleuchtete, wasserdichte Steuervermeidungsstrategien von internationalen Großunternehmen. Alles mit Stempel und Siegel
von Finanzamt und EU abgesegnet!
Diese Modelle sind inzwischen so verbreitet, dass
sie im Fachjargon mit kreativen Namensschöpfungen
wie „Double Irish Arrangement with a Dutch Sandwich“ schon lange feststehende Begriffe sind. In diesem Fall bedeutet das auf Deutsch, dass eine irische
Tochtergesellschaft mit Sitz in einer beispielsweise karibischen Steueroase Inhaber von Marken, Patenten
oder Franchiselizenzen ist und für diese Lizenzgebühren über eine niederländische und eine weitere irische
Tochtergesellschaft von der eigentlichen geschäftsausübenden Gesellschaft in Deutschland kassiert, sodass
hier auf dem Papier kein Gewinn entsteht.
Bei dieser Praxis handelt es sich zweifelsohne um
einen Missstand, der gegen jeden Gerechtigkeitssinn
strebt. Eine zwangsweise Offenlegung und Aufschlüsselung sämtlicher Einzelumsätze nach Ländern und
Projekten jedoch - noch über die aktuellen Rechnungslegungsstandards hinaus - würde sich in der effektiven Besteuerung überhaupt nicht niederschlagen.
Das von den Antragstellern beschriebene Problem und
die vorgeschlagene Lösung stehen in keinerlei Zusammenhang.
Um zu verstehen, wie es zu dieser Diskrepanz zwischen Problem und Lösung kommen konnte, lohnt es
sich, einen Blick in den ursprünglichen EU-Entwurf zu
werfen, auf den Sie sich in Ihrem Antrag berufen. Hier
findet die Problematik der Steuervermeidung nämlich
überhaupt keine Berücksichtigung. Es geht einzig und
allein um Korruption in der Rohstoffbranche. Die Offenlegung der Zahlungsströme soll Bestechungsgelder
an Regierungsmitglieder aufdecken und im besten Fall
verhindern. Besonders in Entwicklungsländern mit autoritären Regimen gehört Korruption in dieser Form
zum Regelfall und verhindert, dass die Bevölkerung
vom Ressourcenreichtum profitieren kann. Plötzlich
kann man auch wieder verstehen, was die ursprüngliche Motivation dieser Initiative war, welche die
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundesregierung in dieser Form bisher auch stets unterstützt hat. Das plötzliche Umsatteln auf das Steuerthema durch die Grünen und die willkürliche Ausweitung, jetzt alle Branchen erfassen zu wollen, machen
das Vorhaben jedoch zu einem bürokratischen Monster, welches seine ursprüngliche Intention um Längen
verfehlt.
Die großen internationalen Konzerne, die sich der
genannten Steuervermeidungsstrategien bedienen, zu
denen unter anderem Google, Apple, Starbucks, Microsoft oder Pfizer zählen, sind bereits einer sehr genauen
Aufsicht unterworfen, und die Gewinnverlagerungsverfahren sind auch kein Geheimnis. Wen Sie wirklich
treffen, das ist der Mittelstand. Zahlreiche deutsche
Unternehmen sind wegen ihres einzigartigen Knowhows international aktiv, aber nicht groß genug, um
die von Ihnen geforderten Aufschlüsselungen für die
interne Verwendung bereits aufgestellt zu haben. Hier
entstehen unnötige zusätzliche Kosten, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit schmälern und der
Konkurrenz neugierige Blicke in Betriebsgeheimnisse
ermöglichen. Die Antragsteller gefährden damit
leichtfertig Arbeitsplätze in Deutschland, an denen
Familien, aber auch Steuereinnahmen hängen.
Dieser Antrag ist nichts als ein wenig apologetische
Kosmetik fürs Gewissen - ein moderner Ablassbrief
ohne praktischen Nutzen, der am Ende die Falschen
trifft. Sie schießen nicht nur meilenweit am Ziel vorbei;
Sie schießen in eine komplett falsche Richtung. Das ist
Ihnen aber egal, solange man sagen kann, man habe
irgendetwas getan. Wir werden den Antrag daher ablehnen.
Mit ihrem Antrag wollen die Grünen Steuerumgehung von international agierenden Unternehmen eindämmen. Deshalb sollen diese verpflichtet werden, detaillierte länder- und projektbezogene Informationen
offenzulegen und in ihren Geschäftsberichten und Jahresabschlüssen aufzuschlüsseln. Das betrifft zum Beispiel steuerrelevante Daten wie Umsatz, Gewinne,
Verluste usw. Dies ist bisher nicht der Fall, da die international vereinbarten Rechnungslegungsstandards,
IRFS, Konzerne nicht verpflichten, ihre Geschäftsberichte und Jahresabschlüsse detailliert aufzuschlüsseln. Somit bleiben konzerninterne Zahlungsflüsse sowohl den Finanzbehörden als auch der Öffentlichkeit
verborgen. Dies lädt geradezu zur Steuergestaltung
ein, Steuergestaltung mit dem Ziel, Steuerzahlungen zu
minimieren - zulasten der anderen Unternehmen und
der Allgemeinheit.
Die Erweiterung der Offenlegungspflichten auf die
Landes- und Projektebene, das heißt, das sogenannte
Country-by-Country Reporting und das sogenannte
Project-by-Project Reporting begrüßen wir. Der Vorschlag ist richtig und wichtig, und er sollte alle Branchen einbeziehen, selbstredend auch Banken, Telekommunikation und Baugewerbe. Durch die Offenlegung
steuerrelevanter Daten, projekt- und länderbezogen,
ist eine bessere Vergleichbarkeit und eine effektivere
Kontrolle möglich. Das unterstützt die Linke.
Gleichzeitig möchte ich aber auch feststellen, dass
ich den im Antrag der Grünen versprühten Optimismus, mit mehr Transparenz sei Steuerumgehung beseitigt, nicht ganz teilen kann. Mehr Offenlegungspflichten sind richtig und wichtig, selbstverständlich für alle
Branchen. Aber sie sind eben nur ein Teil der Lösung,
wenn es um die Bekämpfung internationaler Steuervermeidungsstrategien geht. Es braucht vor allem regulatorisch ausgerichtete Maßnahmen, beispielsweise
die Einführung einer Anzeigepflicht für aggressive
Steuergestaltungsmodelle. Diese sollte alle Modelle
umfassen, die zu einer Nichtbesteuerung, einem Steueraufschub oder einer Steueranrechnung bzw. Steuererstattung führen.
Mehr Transparenz ist gut; jedoch stellen sich da
mitunter auch Probleme ein. Denn Handelsbilanz und
Steuerbilanz weichen immer mehr voneinander ab. Insofern führt mehr Transparenz bei der Handelsbilanz
nicht automatisch zu mehr Transparenz bei der Besteuerung. Deren Vergleichbarkeit wird durch unterschiedliche Berechnungs- und Erfassungsgrundlagen sowie
Begrifflichkeiten mindestens erschwert, wenn nicht sogar oftmals unmöglich. Um dies zu beheben, ist eine
Vereinheitlichung bei den Bemessungsgrundlagen notwendig. Diese ist aber äußerst schwierig, wie an den
langjährigen ergebnislosen Verhandlungen zwischen
Deutschland und Frankreich zur Unternehmensteuer
gut zu sehen ist. Eine Vereinheitlichung im Sinne niedriger Steuersätze kann aber nicht das Ziel sein. Außerdem würde die Vereinheitlichung auch ein Einfallstor
für die grenzüberschreitende Verlustverrechnung darstellen. So kann mehr Transparenz und Vereinheitlichung auch zu einer weiteren Verringerung der Besteuerung von transnationalen Konzernen führen. Das
ist definitiv nicht in unserem Sinne.
Kritisch stehen wir auch zur Forderung der Grünen
nach einer umfassenden Einführung von Offenlegungspflichten für die Rohstoffwirtschaft auf globaler
Ebene. Dies bedeutet einen Eingriff in die nationale
Souveränität der Rohstoffländer und stellt daher eine
gewisse Anmaßung dar. Eine Umsetzung von Offenlegungspflichten mag auf europäischer und OECDEbene angemessen sein. Auf globaler Ebene fehlt es
aber an der notwendigen Gleichberechtigung der Rohstoffländer bei der Entscheidungsteilhabe.
Wir sehen, Transparenz ist einer von vielen Bausteinen zur Bekämpfung von organisierter Steuerumgehung, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Jedes Jahr entgehen den Mitgliedstaaten in der EU
1 000 Milliarden Euro an Steuereinnahmen durch Gestaltung und Betrug. Das sind unglaublich hohe Beträge, die den Staaten gerade in der aktuellen Schuldenkrise schmerzlich fehlen. EU-Steuerkommissar
Semeta prangert dies an, und auch BundesfinanzZu Protokoll gegebene Reden
minister Schäuble und der britische Schatzkanzler
George Osborne scheinen dieses Problem erkannt zu
haben. Beide haben gemeinsam erklärt, das Thema anzugehen. Auch in der gestrigen Finanzausschusssitzung herrschte in den Fraktionen Einigkeit über die
Pro-blemanalyse: Multinationalen Unternehmen wie
Starbucks, Apple oder Google gelingt es, ihre Steuerbelastung auf ein paar Prozent zu drücken oder gleich
gar keine Steuern zu zahlen. Gewinne werden in
Steueroasen verschoben, dabei werden die Steuerlücken verschiedener Länder auch in der EU ausgenutzt.
Seit Jahren kenne man das Problem, hieß es aus der
Unionsfraktion. Ich bin sehr erfreut, dass sich bis auf
die FDP, die zu diesem Punkt keine Aussagen getroffen
hat, alle in dieser Analyse einig sind. Man könnte also
erwarten, dass sich die Bundesregierung mit einigem
Enthusiasmus seit Jahren auf die Suche nach Instrumenten begibt, die diese Steuergestaltung eindämmen.
Doch stelle ich leider fest: Das ist nicht der Fall - im
Gegenteil. Unser Antrag wurde im Finanzausschuss
von Schwarz-Gelb abgelehnt, unter anderem mit der
Begründung, man müsse erst einmal weitere Berichte
auf G-20-Ebene abwarten.
Fakt ist: Nur dann, wenn Fälle von massiver Steuergestaltung zufällig bekannt werden - wie aktuell bei
Starbucks -, wird in hektisch einberufenen Pressekonferenzen Empörung geäußert und „konsequentes Handeln“ angekündigt. Und dann? Dann passiert nichts!
Denn es kommen eben nur Einzelfälle ans Tageslicht;
eine allgemeine Übersicht fehlt. Die Steuerzahlungen
von Unternehmen sind nicht veröffentlichungspflichtig. Wir wissen daher in der Regel nicht, welche Konzerne massiv Steuergestaltung betreiben und wie sie
dabei vorgehen. Wenn die Nationalstaaten Regelungen
beschließen, die die Steuergestaltung eindämmen sollen, werden flugs andere Steuergestaltungsmöglichkeiten ersonnen. Im Ergebnis müssen wir feststellen: Die
Nationalstaaten verlieren das Hase-und-Igel-Spiel mit
den multinationalen Konzernen, wenn es um die
Steuerzahlungen geht. Die Geschwindigkeit von Regulierung und Ausweichreaktionen der Unternehmen
sind einfach zu unterschiedlich: Unternehmen können
rasch handeln und sind damit klar im Vorteil, die Nationalstaaten dagegen müssen eine gemeinsame Position in mühsamen Verhandlungen in der Zusammenarbeit in internationalen Organisationen, wie zum
Beispiel der OECD, erarbeiten und verabschieden.
Deshalb ist Transparenz doppelt wichtig: Zum einen
wird öffentlicher Druck auf Politik und Verwaltungen
ausgeübt, und zum zweiten werden auch multinationale Unternehmen unter einen gesellschaftlichen
Druck geraten, ihre Steuergestaltungen zumindest nicht
ausufern zu lassen. Wer will schon ein Produkt kaufen
bei einem Unternehmen, das sich vor einem angemessenen Beitrag zum Erhalt der Infrastruktur drückt?
Auf EU-Ebene befindet sich die Entscheidung, projektbezogene Offenlegungspflichten für den Rohstoffbereich im Zusammenhang mit der Änderung der
Transparenzrichtlinie und den Rechnungslegungsrichtlinien einzuführen, in der abschließenden Phase.
Das Europäische Parlament setzt sich dabei stark für
die Ausweitung der Offenlegungspflichten auf weitere
Branchen ein. Dies unterstützen wir Grünen ausdrücklich. Leider hört man aus Brüssel, dass die Bundesregierung bei diesen Verhandlungen zum Thema Transparenz eher bremst und schon gar nicht die treibende
Kraft ist, wenn es um die Ausweitung der Offenlegungspflichten auf alle Branchen geht.
Ich möchte heute an die Bundesregierung, aber
auch an alle Fraktionen im Deutschen Bundestag appellieren, sich dafür einzusetzen, dass das Zeitfenster
genutzt wird, Country-by-Country Reporting verpflichtend für alle Branchen in der EU einzuführen. So
entsteht öffentlicher Druck. So bekommen wir wichtige
Informationen, um weitere Instrumente gegen Steuergestaltung einsetzen zu können. Nur so sind wir nicht
mehr abhängig von zufälligen Aufdeckungen von
ausbleibenden Steuerzahlungen wie aktuell im Fall
Starbucks. Es ist jetzt nicht die Zeit, weitere Berichte
abzuwarten, sondern zu handeln. Herr Schäuble, setzen Sie sich an die Speerspitze für Transparenz und gegen Steuergestaltung. Bei den aktuellen Richtlinienverhandlungen auf EU-Ebene ist die Gelegenheit
dazu.
In Richtung der Wirtschaftsvertreter möchte ich
ebenfalls eine Botschaft loswerden: Auch für Sie ist
das Country-by-Country Reporting ein wichtiger Schritt
hin zu einem offenen, transparenten Unternehmen. So
können Sie zeigen, dass Sie durch Ihre Steuerzahlungen einen Beitrag für die Infrastruktur leisten. Die geforderten Informationen sind Standardinformationen,
die zur effektiven Steuerung der Konzernaktivitäten
konzernintern vorhanden sind. Die Offenlegung bedeutet daher lediglich marginale Mehrkosten. Jeder
Mittelständler, der keine Möglichkeiten zu Steuergestaltung hat oder dies bewusst unterlässt, sollte ein Interesse an Transparenz haben. Denn an ihm bleibt
sonst am Ende die Steuerlast hängen und damit die Finanzierung von Straßen und Schulen.
Wir Grüne setzen uns für ein Country-by-Country
Reporting auf europäischer Ebene für alle Branchen
ein. Darunter verstehen wir neben den gezahlten Steuern auf Gewinne auch Lizenzgebühren, Förderabgaben, ausgeschüttete Gewinne, Lohnsumme, Zahl der
Angestellten, Finanzierungskosten und Zahlungen an
die Regierung. Über Einzelheiten der Berichtspflicht
muss sicher geredet werden; aber es müssen schon
tragfähige Zahlen sein, die eine Bewertung der Unternehmen zulassen. Natürlich ist es das mittelfristige
Ziel, diese Transparenz auf globaler Ebene herzustellen. Aber Europa sollte da die eigene Marktmacht als
größter Wirtschaftsraum der Welt nicht unterschätzen:
Es würde ein enormer Druck auf andere Länder ausgeübt werden, in gleicher Weise zu informieren. Keiner
hindert Deutschland daran, eine Vorreiterrolle für
Transparenz einzunehmen. Wer de facto eine Führungsrolle in Europa spielt und - zu Recht! - auf seine wirtschaftliche Stärke stolz ist, der muss diese Führungsrolle auch dazu nutzen, Country-by-Country Reporting
auf europäischer und globaler Ebene durchzusetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/11695, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf der Drucksache 17/11075 abzulehnen.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung agrarmarktrechtlicher Bestimmungen
- Drucksachen 17/11294, 17/11354 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 17/11677 Berichterstattung:Abgeordnete Josef RiefDr. Wilhelm PriesmeierRainer ErdelDr. Kirsten TackmannFriedrich Ostendorff
Auch hierzu werden die Reden zu Protokoll genommen.
Ich freue mich, dass wir uns bei der Weiterentwicklung des Marktstrukturgesetzes innerhalb des Hauses
weitgehend einig sind. Auch von der Opposition gab es
im Ausschuss keine Gegenstimmen.
Mit dem Agrarmarktstrukturgesetz setzen wir EURecht in deutsches Recht um. Das Marktstrukturgesetz, das seit 1969 in Kraft ist und unter anderem den
Milchmarkt in Deutschland regelt, hat sich bewährt.
Das europäische Milchpaket, das nunmehr von der EU
mit Blick auf das Auslaufen der Milchquotenregelung
2015 beschlossen wurde, macht aber eine Anpassung
des Strukturgesetzes notwendig. Gleichfalls werden die
bisher 18 Durchführungsverordnungen zu nur noch einer verschlankt.
Neben den Erzeugergemeinschaften können jetzt
auch Branchenverbände anerkannt werden, die bisher
vom Marktstrukturgesetz nicht erfasst wurden.
Wir erhalten weiter die Möglichkeit zur Zulassung
von Doppelmitgliedschaften. Diese Freiheit müssen
wir den Erzeugergemeinschaften schon lassen, dass
sie selbst bestimmen, ob sie ihren Mitgliedern eine
weitere Mitgliedschaft ermöglichen. Dies wird auch
weiter dafür sorgen, dass die Chancen für die Milcherzeuger und die Gemeinschaften steigen.
Für die Erzeuger wird es keinen höheren bürokratischen Aufwand geben. Durch die Zusammenführung
zu nur noch einer Durchführungsverordnung ist ebenfalls mehr Übersichtlichkeit gewonnen. Die wettbewerbsrechtliche Klarstellung der Tätigkeitsbereiche
von Erzeugerorganisationen und deren Vereinigungen
ist zu begrüßen. In Zukunft gibt es klare Regelungen
für Preisberichterstattung und Preisfeststellung. Damit ist in dem in Bewegung befindlichen Milchmarkt
mehr Transparenz möglich. Dies hilft, den Wettbewerb
zu verbessern. Die Sektoruntersuchung Milch hat gezeigt, dass kartellrechtliche Fragen nicht ausgeblendet
werden dürfen.
Wir verbessern durch das Agrarmarktstrukturgesetz
die Chancen für Erzeuger und Verarbeiter, sich am
Markt zu positionieren. Stärkere Bündelung ermöglicht auch eine bessere Verhandlungsposition gegenüber dem Handel. Dadurch erreichen wir ein höheres
Marktgleichgewicht und auch eine bessere Positionierung der Erzeuger in der Wertschöpfungskette. Dass
dies notwendig ist, das sieht jeder, der mit offenen Augen durchs Land fährt.
International gibt es immer größere Nachfrage
nach Milch und hochveredelten Produkten wie Käse.
Die diesjährige Trockenheit in den USA führte zu hohen Schlachtzahlen bei Milchvieh. Weniger Kühe heißt
weniger Milch, und das merken wir auf dem Weltmarkt
durch steigende Preise. Wir müssen hier unseren Landwirten eine weitere Teilnahme ermöglichen. Auch
wenn in Europa die Milchquote derzeit um 4,3 Prozent
unterliefert wird und der Preis der Milchquote stark
rückläufig ist, bieten wir den deutschen Erzeugern
nach dem Ende der Milchquotenregelung 2015 neue
Möglichkeiten, die durch Zusammenschluss noch besser ausgenutzt werden können. Das gilt auch für die
anderen stark nachfragenden Regionen wie Asien,
Afrika und Indien. Wenn in China ein Liter Verkaufsmilch teurer ist als in Deutschland, ergibt sich hier
Potenzial. Wir unterstützen die Milchbauern dabei, die
sich öffnenden Märkte besser zu nutzen.
Insgesamt treiben wir so die Weiterentwicklung vom
ehemals staatlich reglementierten Milchpreis über die
Milchquotenregelung zum Milchpaket voran.
Das neue Agrarmarktstrukturgesetz setzt konsequent die Regelungen des EU-Milchpakets um und
stärkt die Position von Erzeugern und Erzeugergemeinschaften. Es macht erstmals die Zulassung von
Branchenverbänden möglich und stärkt die Transparenz auf dem Milchmarkt. Wir erhalten die Möglichkeit
von Doppelmitgliedschaften und sichern damit den Zugang zu internationalen Märkten.
Die neuen Möglichkeiten müssen Bauern, Molkereien und der Handel nun aber auch nutzen, um die
Wertschöpfung für Milchprodukte und damit die Einkommen der hiesigen Bauern und aller Marktbeteiligten abzusichern.
Heute beraten wir in zweiter und dritter Lesung den
Gesetzentwurf zur Änderung agrarmarktrechtlicher
Bestimmungen. Mit diesem geplanten Gesetz wollen
Sie zukünftig die staatliche Anerkennung für Agrar25828
marktorganisationen und deren Freistellung vom
Kartellrecht regeln. Damit setzen Sie endlich die
agrarmarktrechtlichen Regelungen des europäischen
Milchpakets in Deutschland um. Nicht zuletzt soll dieses Gesetz die Marktstellung der Milchviehhalter verbessern - oder zumindest die Voraussetzungen dafür
schaffen. Sicherlich bildet dieses Gesetz eine gute
Grundlage für dieses Ziel. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ein Gesetz allein nicht dazu beitragen
wird, dass die Milchviehhalter eine bessere Marktstellung erhalten.
Die Angebotsmenge muss zukünftig stärker gebündelt werden. Damit lässt sich Marktmacht aufbauen,
um in den Preisverhandlungen entscheidenden Druck
zu erzeugen, damit die Milchviehhalter am Ende bessere Preise erhalten. Dafür müssen die Erzeuger gut
organisiert sein. Sie müssen einen hohen Marktanteil
an der gesamten Milchmenge verhandeln dürfen. Bereits in der ersten Lesung bin ich auf die Kritik bezüglich der nun festgelegten Obergrenze der Bündelungsmenge eingegangen.
Ich weise nochmals darauf hin, dass gemäß dem
EU-Milchpaket die anerkannten Erzeugerorganisationen Verträge über die Lieferung von Rohmilch aushandeln dürfen, sofern die verhandelte Milchmenge unterhalb von 3,5 Prozent der EU-Milcherzeugung liegt
und weniger als 33 Prozent der erzeugten Milchmenge
des Mitgliedstaates ausmachen. Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich jedoch nicht, welche Nachteile dies den
deutschen Milchviehhaltern bringt. Noch lange nicht
haben wir die maximal zulässige Menge erreicht.
Selbstverständlich unterstütze ich alle Maßnahmen,
damit der Bündelungsgrad weiter steigt. Darüber hinaus erwarten wir ja Fortschrittsberichte in den Jahren 2014 und 2018 für das bis zum Jahr 2020 laufende
EU-Milchpaket. Nach diesen Fortschrittsberichten
können wir gerne darüber sprechen, ob wir die erforderlichen Anpassungen der Obergrenze der Bündelungsmenge vornehmen.
Bis dahin aber haben Wirtschaftsbeteiligte und
Politik erst einmal ihre Hausaufgaben zu machen. Dafür ist jetzt viel Engagement der Rechtsbetroffenen und
zum Beispiel auch die finanzielle Unterstützung des
Staates erforderlich. Deshalb begrüße ich, dass auch
in Zukunft die Bildung und der Betrieb von Erzeugerorganisationen national über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ unterstützt wird.
In den letzten Jahren haben wir Sozialdemokraten
immer wieder mit eigenen Anträgen gefordert, dass die
Haushaltsansätze für die Unterstützung von Erzeugergemeinschaften erhöht werden. Die Koalition hat diese
Anträge regelmäßig abgeschmettert. Am Ende können
sich die deutschen Michviehhalter bei dieser Bundesregierung bedanken; denn sie tut nichts dafür, dass das
Machtgefälle zwischen Milcherzeugern und Milchabnehmern endlich deutlich besser ausbalanciert wird.
Ohne starke Erzeugergemeinschaften werden die
Milcherzeuger auch keine auskömmlichen Marktbedingungen gegenüber den privaten Molkereien durchsetzen. Statt regelmäßig anständige Preisverhandlungen in ihren Einzugsgebieten zu führen, schielen die
Privaten heute nur auf die Auszahlungspreise der genossenschaftlichen Molkereien, um sich ihnen anzugleichen. Das hat mit Marktverhalten recht wenig zu
tun, und das muss sich in Zukunft ändern. Eine aktuelle
Studie des Instituts für Genossenschaftswesen der Berliner Humboldt-Universität zeigt, dass die europäischen Milcherzeuger im Durchschnitt ganz gut mit ihren Milchgenossenschaften fahren. Sie legt dar, dass
genau dort hohe Auszahlungspreise gezahlt werden,
wo der Marktanteil aller genossenschaftlich organisierten Molkereien am höchsten ist. Das macht Mut
und gibt Ansporn, sich in diesem Bereich stärker zu engagieren.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf hat leider das
Manko, dass die Durchführungsbestimmungen fehlen,
die am Ende darüber entscheiden, wie diese Rahmenbedingungen genau ausgestaltet sind. Daher wird sich
die SPD enthalten.
Anfang dieser Woche haben mehrere Tausend
Milcherzeuger vor dem Europäischen Parlament in
Brüssel für höhere Milchpreise protestiert. An diesem
Ziel gibt es grundsätzlich nichts auszusetzen. Es ist bedauerlich und für die betroffenen Milcherzeuger teilweise existenzgefährdend, dass sie für ihr Qualitätsprodukt Milch kaum kostendeckende Preise erzielen
können. Trotz gestiegener Produktionskosten ist es vielen Erzeugern und Molkereien nur bedingt gelungen,
angemessene Verbraucherpreise und Erlöse durchzusetzen. In der Definition des Problems herrscht weitgehende Einigkeit; die Diskussion entzündet sich jetzt
vielmehr an der Frage, mit welchen Instrumenten ein
Ausweg gefunden werden kann.
Nach langen Verhandlungen, Expertenrunden und
Fachdiskussionen haben das Europäische Parlament,
der Ministerrat und die Kommission im März das
Milchpaket - Verordnung EU/261/2012 - beschlossen.
Grundgedanke dieses Pakets war, dass einzelne Milcherzeuger gegenüber den Molkereien und letztlich dem
Handel keine ausreichende Marktmacht besitzen. Sie
sind daher nicht in der Lage, ihre eigenen Interessen,
wie in einem funktionierenden Markt unabdingbar, gegenüber den Vertragspartnern durchzusetzen. Diese
Verordnung ist ein wichtiger Schritt hin zu einem
markt- und wettbewerbsorientierten Milchsektor.
Die FDP setzt sich dafür ein, dass unsere Landwirte
ihr Einkommen am Markt erwirtschaften können. Dafür benötigen sie eine gute Ausgangsbasis. Dazu zählt
insbesondere, die Einkommensseite zu stärken. Nach
unserer Ansicht sind Mengensteuerung und staatliche
Interventionen nicht geeignet, den Erzeugern langfristig ausreichende Erlöse zu sichern. Die Milcherzeuger
und Molkereien können am internationalisierten Markt
Zu Protokoll gegebene Reden
für Milch und Milchprodukte auf Dauer nur bestehen,
wenn sie hochwertige Produkte entwickeln, für die
eine Nachfrage existiert. Milcherzeuger müssen ebenso wie Molkereien die neuen Möglichkeiten nutzen, die
Wertschöpfung aus einem Liter Milch zu erhöhen. Dies
geht nur über hochwertige und innovative Produkte,
die beim Verbraucher im In- und Ausland gefragt sind.
Unsere Nachbarn Italien und Frankreich zeigen uns,
dass mit bekannten Spezialitäten und einer guten Marketingstrategie eine höhere Wertschöpfung möglich ist.
Dann können auch höhere, befriedigende Milchpreise
gezahlt werden.
Das Milchpaket ermöglicht es Milcherzeugern erstmals, ihre Verhandlungsmacht zu stärken. Sie können
sich zu Erzeugerorganisationen und Branchenverbänden zusammenschließen und ihr Milchangebot bündeln. Sie können für ihre Mitglieder Verträge aushandeln und erhalten eine stärkere Stellung in der Wertschöpfungskette Milch. Das bringt sie ihrem Ziel näher, über die Vermarktung ihrer Rohmilch mit den Molkereien auf Augenhöhe zu verhandeln. Positiv sehen
wir auch die Möglichkeiten, sich zukünftig grenzüberschreitend zu Erzeugergemeinschaften zusammenzufinden.
Mit dem hier vorliegenden Gesetz zur Änderung
agrarmarktrechtlicher Bestimmungen werden die notwendigen Anpassungen für die Umsetzung des Milchpakets vorgenommen. Das bestehende Marktstrukturgesetz aus dem Jahr 1969 wird an den neuen Rechtsrahmen angepasst, die national bewährten Regelungen werden weiterentwickelt. Aus liberaler Sicht ist
dabei besonders die Rechtsvereinfachung sinnvoll,
welche das Zusammenfassen der bisher 18 Durchführungsverordnungen in eine einzige bringt.
Durch das Milchpaket wird die Konzentration auf
Anbieterseite erleichtert und unterstützt. Dies ist sinnvoll und richtig. Dennoch muss der Wettbewerb in ausreichendem Maße gesichert sein; Monopole müssen
ausgeschlossen bleiben. Kleine und mittlere Molkereiunternehmen sollen sich weiterhin am Markt behaupten können. Deshalb gibt die EU-Verordnung vor, dass
die Angebotsbündelung nicht mehr als 33 Prozent des
nationalen und 3,5 Prozent des europäischen Marktes
umfassen darf. Dadurch, dass es keine generelle Vertragspflicht gibt, bleibt die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des einzelnen Landwirtes gewährleistet. Dies ist ein wichtiges Element für einen
funktionierenden Markt.
Weiter gehende Forderungen innerhalb der EU, regulierend in den Markt einzugreifen, lehnt die FDP ab.
Hierzu gehört etwa das geforderte Verbot von Doppelmitgliedschaften in Erzeugerorganisationen für ein
und dasselbe Agrarerzeugnis. Erzeugergemeinschaften geben sich Satzungen, in denen auch die sogenannte Andienungspflicht geregelt wird. Sie dient
dazu, dass eine Erzeugergemeinschaft von einem
Landwirt eine möglichst große Menge des erzeugten
Produktes erhält, um diese dann gebündelt vermarkten
zu können. In fast allen derzeit bestehenden Erzeugergemeinschaften beträgt diese Andienungspflicht 100 Prozent des Agrarerzeugnisses. Es gibt aber bereits Ausnahmen für geringfügigen „Ab-Hof-Verkauf“. Ein
Landwirt kann aufgrund seiner Zustimmung zur Satzung der Erzeugergemeinschaft nicht ein und dasselbe
Produkt an mehrere Erzeugergemeinschaften liefern.
Die Andienungspflicht sollte jedoch zukünftig in den
Satzungen der Erzeugergemeinschaften flexibler gestaltet werden können. Ein Verbot von vornherein lässt
später keine neuen Organisationsformen und keine
Flexibilität der Landwirte zu. Der Markt kann dies
selbst und ohne Vorgaben vom Gesetzgeber regeln.
Auch die Festlegung von Mindestmengen, Mindestmarktwerten und Mindestanbauflächen sehen wir Liberale kritisch. Erzeugergemeinschaften brauchen
eine bestimmte Größe, um sich auf dem Markt etablieren zu können; aber sie sind selbst dafür verantwortlich, tragende Strukturen aufzubauen. Hier ist ein weiterer Einsatz auf europäischer Ebene notwendig.
Das neue Agrarmarktstrukturgesetz schafft die Voraussetzungen dafür, den Landwirt in seiner Position
als Erzeuger zu stärken. Es verbessert seine Verhandlungsmacht gegenüber der Verarbeitungsebene und
dem Handel. Wichtig ist, dass die Landwirte diese
Chance nutzen. Statt nach staatlichem Dirigismus und
Interventionen zu rufen, müssen sie sich zu schlagkräftigen Gemeinschaften verbinden und gemeinsam an
hochwertigen und beim Verbraucher gefragten Produkten arbeiten. Sie können auch besser Möglichkeiten nutzen, den Verbraucherinnen und Verbrauchern
ihre Leistungen und Produkte nahezubringen. Wir
schaffen einen Rechtsrahmen, um es den unternehmerischen Landwirten zu ermöglichen, am Markt erfolgreich sein.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes zu den agrarmarktrechtlichen Bestimmungen werden Regelungen
des europäischen Milchpakets umgesetzt, die die Bildung von Erzeugerorganisation und Branchenverbänden erleichtern und damit die Marktposition der
Milchbäuerinnen und Milchbauern verbessern sollen.
Aber ob das mit den heute geschaffenen Rahmenbedingungen gelingen kann, bleibt fraglich.
Die Milchquotenregelung wird 2015 beendet, die
Globalisierung des Milchmarktes intensiviert sich, und
im Molkereisektor sowie dem Lebensmitteleinzelhandel schreitet die Konzentration zu immer weniger immer größeren Unternehmen voran. Es ist deshalb
kaum zu erwarten, dass sich die Stellung des bislang
schwächsten Glieds in der Kette, den milcherzeugenden Betrieben, unter diesen Bedingungen wirklich verbessern lässt.
Der Milchmarkt wird globaler, unübersichtlicher
und unkalkulierbarer. Länder wie Neuseeland, Kanada
oder Australien wollen ihre Milcherzeugung ausweiten, um zum Beispiel wachsende chinesische Importe
bedienen zu können. Gleichzeitig versuchen aber gerade auch Länder wie China, massiv ihre eigene ErZu Protokoll gegebene Reden
zeugung zu steigern. Dazu kommen unkalkulierbare
Entwicklungen bei den Rohstoffpreisen oder Wechselkursen, die das Exportgeschäft und damit die stark exportorientierte Molkereiwirtschaft stören können. Die
Exportorientierung bedeutet kein automatisches
„Wachstumsmodell“, das allen zugutekommt und der
Stabilisierung der Milcherzeugerpreise dient.
Im Gegenteil, es funktioniert ausschließlich nach
dem kapitalistischen Wettbewerbsmodell, das heißt,
wer im Milchmarkt mit den geringsten Kosten produzieren kann, holt sich Marktanteile im Weltmarkt.
Ökologische oder soziale Kriterien der Erzeugung
spielen dabei keine Rolle. Und genau hier liegt das
Problem in der Orientierung auf den Export. Solange
es keine reelle Chance gibt, einen Welthandel zu organisieren, der neben fairen Handelsbeziehungen ökologische und soziale Mindeststandards in der Erzeugung
sichert, ist die Außenorientierung das völlig falsche
Modell, um strukturellen Überschüssen in der Milcherzeugung zu begegnen.
Deswegen werden zur Lösung der andauernden
Milchkrise das europäische Milchpaket und die damit
verbundenen agrarmarktrechtlichen Regelungen nicht
ausreichen. Entscheidender Faktor ist, ob es künftig
wirksam möglich wird, auf die angebotene Milchmenge Einfluss zu nehmen. Hier liegt ein wichtiger
Schlüssel zur Lösung des Milchmengenproblems, zumindest solange die angebotene Milch in Deutschland
immer noch 125 Prozent des Verbrauchs ausmacht.
Die Angebotssteuerung kann nicht durch den einzelnen Milchviehbetrieb erfolgen, sonder funktioniert per
se nur durch Bündelung der Angebotsmenge und durch
eine möglichst effektive Organisation auf der Erzeugerseite. Hierbei ist auch die Höhe des zulässigen
Marktanteils an der insgesamt produzierten Menge,
den eine Erzeugergemeinschaft auf sich vereinen darf,
von elementarer Bedeutung. Wenn es den Erzeugern
nicht gestattet wird, sich mindestens in einem gleich
hohen Grad wie die abnehmenden Molkereien zu organisieren, können sie keinen entscheidenden Druck bei
den Preisverhandlungen aufbauen. Eindrucksvoll bestätigt sich das durch eine aktuelle Studie des Instituts
für Genossenschaftswesen der Humboldt-Universität
zu Berlin. Die Studie konnte zeigen, dass, je größer in
einem Mitgliedsland der Europäischen Union der Anteil an genossenschaftlichen Molkereien ist, desto
höher der Milchpreis für die Erzeuger ist. Wenn es also
gelingt, genossenschaftliche Organisation auch auf
die Produktion von Milch zu übertragen, wird ein
nachhaltig tragendes Konzept für den Milchmarkt entstehen. Aber auch die Wünsche der Verbraucherinnen
und Verbraucher nach regionaler, umweltverträglicher
und tiergerechter Erzeugung müssen mit einbezogen
werden. Dann haben die Menschen in der europäischen Milchwirtschaft auch eine Zukunftsperspektive,
zum Wohle aller.
Aber zurück zum Gesetzentwurf: In dem von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf fehlen die
Durchführungsbestimmungen, und in diesen stecken
wesentliche Elemente für die Bestimmung der Rahmenbedingungen. Daher ist eine realistische Beurteilung des Gesetzentwurfs in der vorliegenden Fassung
unmöglich.
Die Linke wird sich deshalb enthalten.
3 000 Milchbauern haben diese Woche zwei Tage
lang in Brüssel für bessere Preise und für Nachbesserungen am EU-Milchpaket demonstriert. Anders als
Frau Aigner bei ähnlichen Protesten in Deutschland
hat sich Agrarkommissar Ciolos dabei nicht lumpen
lassen und hat das direkte Gespräch mit den Milchbäuerinnen und Milchbauern gesucht - und das nicht
zum ersten Mal. Auch bei Anlässen in Deutschland,
etwa der Agrarministerkonferenz in Lübeck 2010, ist
der Kommissar auf die Milcherzeuger auf der Straße
zugegangen, während Frau Aigner lieber im Hotel
blieb.
Auch politisch hat der Agrarkommissar den Bäuerinnen und Bauern weit mehr zu bieten als die deutsche
Ministerin. So hat Ciolos diese Woche in Brüssel die
Schwächen des EU-Milchpakets offen angesprochen
und Schritte zu dessen Weiterentwicklung angekündigt.
Auch der Bundesrat hat in seiner Gegenäußerung zu
dem heute vorliegenden Gesetz Nachbesserungen beim
EU-Milchpaket gefordert.
Die Bundesregierung jedoch erklärt lediglich: „Die
Bundesregierung weist darauf hin, dass das EUMilchpaket erst 2012 in Kraft getreten ist und auf
Unionsebene breiter Konsens besteht, den lange ausgehandelten Kompromiss nicht umgehend wieder infrage zu stellen.“ Nachdem Frau Aigner lausig und
ohne jedes Interesse an einer Verbesserung der Situation der Milcherzeuger das Milchpaket verhandelt hat,
weigert sie sich jetzt, die offensichtlichen Schwächen
des Pakets wenigstens nachträglich zu beheben. Warum tut Frau Aigner das? Oder besser gesagt: Warum
tut sie nichts? Weil der Bauernverband es ihr verordnet hat. Denn während die Milchbauern bis nach Brüssel fahren, um für bessere Preise zu demonstrieren,
fällt der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands ihnen in den Rücken, indem er zeitgleich erklärt,
man befinde sich nicht im Jammertal, am Milchmarkt
sei alles wunderbar.
Den Vielfachfunktionären des Deutschen Bauernverbands in den Reihen der CDU/CSU sei gesagt:
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Ihr
Bauernverband sich um die Milchbauern einen Dreck
schert, Herr Dr. Born hat ihn diese Woche wieder einmal erbracht. Sie und Ihr DBV vertreten in dieser Auseinandersetzung eben nicht die Milchbäuerinnen und
Milchbauern, sondern die andere Seite: die Interessen
der Molkereien. So erklärt es sich auch, dass Sie mit
dem ersten Entwurf dieses Gesetzes den Bauern Doppelmitgliedschaften in Erzeugergemeinschaften und
Genossenschaftsmolkereien verbieten wollten. Damit
Zu Protokoll gegebene Reden
wollten Sie nichts anderes als eine weitere Schwächung der Milcherzeuger zugunsten der Molkereiindustrie erreichen. - Zum Glück ist die Sache öffentlich geworden, und zum Glück gibt es im Bundesrat
offenbar weniger Lobbyisten des Bauernverbands als
in der Koalition.
Aber noch ist die Kuh nicht vom Eis; denn entscheidend ist nun die Ausformulierung der Rechtsverordnung. Der heute vorliegende Gesetzentwurf besagt insgesamt ziemlich wenig, und wir als Bundestag werden
damit genötigt, über ein Gesetz abzustimmen, dessen
Umsetzungsdetails wir nicht kennen, auf die es aber
ankommt. Wir werden uns daher enthalten. Wir werden
aber auch sehr genau verfolgen, was am Ende in der
Rechtsverordnung stehen wird. Denn die Milchbäuerinnen und Milchbauern brauchen keine zusätzlichen
Steine im Weg, sondern endlich Marktbedingungen,
die ihnen das Überleben ermöglichen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/11677, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksachen 17/11294 und 17/11354 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei zahlreichen Enthaltungen ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit Mehrheit angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Mit dem gleichen
gerade schon vorgetragenen Abstimmungsergebnis ist
der Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Angelika Graf ({1}),
Wolfgang Gunkel, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Anerkennung und Wiedergutmachung des
Leids der „Trostfrauen“
- Drucksachen 17/8789, 17/10084 Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldAngelika Graf ({2})Pascal KoberNiema MovassatVolker Beck ({3})
Auch hierzu werden Reden zu Protokoll genommen.
Wir sprechen heute über den Antrag der Fraktion
der SPD zur Anerkennung und Wiedergutmachung des
Leids der „Trostfrauen“. Dabei sollten wir uns zunächst noch einmal verdeutlichen, worum es in dieser
Diskussion geht: Der Begriff „Trostfrauen“ stellt eine
verharmlosende Bezeichnung für eine brutale Form
der Zwangsprostitution dar. Im Zweiten Weltkrieg wurden Hunderttausende Frauen und Mädchen von den japanischen Streitkräften zur Prostitution gezwungen.
Der japanische Kaiser ließ damals für seine Soldaten
„Troststationen“ - nichts anderes als Militärbordelle einrichten. Damit begann für viele asiatische Frauen
ein Martyrium. Das Leid, das den „Trostfrauen“ widerfahren ist, ist unermesslich. Hier war die Zwangsprostitution staatlich angeordnet und institutionalisiert.
Der Antrag fordert die Bundesregierung dazu auf,
die Vereinten Nationen in ihren Bemühungen zur umfassenden Umsetzung der Resolutionen 1325, 1820,
1888 und 1889 zu unterstützen. Japan soll zur Anerkennung der von seinem Militär während des Zweiten
Weltkrieges an den „Trostfrauen“ verübten Menschenrechtsverletzungen als Kriegsverbrechen bewegt werden und sich bei den Überlebenden entschuldigen.
Dazu gehört auch die Aufarbeitung der Geschehnisse.
Die VN-Sonderberichterstatterin für sexuelle Gewalt
gegen Frauen bedarf dabei der besonderen Unterstützung.
Historiker schätzen die Zahl der Opfer auf 200 000
bis 300 000. Die meisten Opfer stammen aus Korea
und China, wo die japanischen Streitkräfte besonders
wüteten. Die Opfer stammen weiterhin aus den anderen im Zweiten Weltkrieg von Japan besetzten Gebieten wie Indonesien, Malaysia, den Philippinen und
Taiwan, aber auch aus den Niederlanden, Australien
und Japan. Viele von ihnen berichteten, wie sie durch
irreführende Arbeitsverträge in die Bordelle gelockt
wurden. Andere wiederum wurden verschleppt oder
entführt.
Bei den Kriegsverbrecherprozessen wurde die
Zwangsprostitution nicht thematisiert. Lange Zeit war
das Verbrechen tabu; erst in den 1980er-Jahren brachen Betroffene ihr Schweigen. Schätzungen zufolge
überlebten nur etwa 30 Prozent der verschleppten
Mädchen und Frauen den Krieg. Die allermeisten von
ihnen schämten sich, hatten Schuldgefühle und erzählten nicht einmal den engsten Familienangehörigen von
ihren schrecklichen Erfahrungen. Es herrscht in Japan
heute immer noch kein Konsens über Kriegsverbrechen und Schuld. Eine öffentliche Diskussion begann
in den 1970er-Jahren. 1990 wurden die Geschehnisse
erstmals im japanischen Parlament behandelt und
1993 von der japanischen Regierung offiziell anerkannt. Historiker hatten ein Jahr zuvor in Militärdokumenten Beweise dafür gefunden, dass die japanische
Armee an der Zwangsrekrutierung der Frauen für die
Kriegsbordelle beteiligt war. Die japanische Regierung hat sich seitdem mehrfach für die Verwicklung
der Armee in diese Taten entschuldigt. In einem weiteren Bericht im August 1993 räumte sie ebenfalls Verflechtungen der japanischen Streitkräfte in dieses Netz
ein. Die Beweise drängten die Regierung auch dazu,
dieses Kapitel der Kriegsgeschichte 1994 in die Schulbücher aufzunehmen. Allerdings hat in den vergangenen Jahren eine Gruppe von Politikern erfolgreich
darum gekämpft, alle Hinweise auf das Verbrechen
wieder aus den Büchern zu entfernen.
1996 gaben die Vereinten Nationen bekannt, dass
die Handlungen der japanischen Armee in den besetzten Gebieten in den 1930er- und 1940er-Jahren als
Kriegsverbrechen zu bewerten seien. Im Februar 1997
veröffentlichte der VN-Sonderberichterstatter zur Gewalt gegen Frauen einen Bericht, in dem er die japanische Regierung auf ihre Verantwortung gegenüber den
damaligen Zwangsprostituierten hinwies. Die Regierung in Tokio wurde aufgefordert, die moralische und
rechtliche Verantwortung für die an den Frauen verübten Menschenrechtsverletzungen zu übernehmen, sich
bei ihnen offiziell zu entschuldigen, sie finanziell zu
entschädigen und diejenigen vor Gericht zu stellen, die
Frauen zwangsrekrutiert und misshandelt hatten.
Das Leid dieser Frauen ist kaum zu beschreiben.
Viele starben an den Folgen von Krankheit, Folter und
Hunger oder durch Erschöpfung. Diejenigen, die diese
Hölle der Zwangsbordelle überlebt haben, überstanden häufig ein Weiterleben nicht: Sie fühlten sich voller Scham und Schande und nahmen sich selbst das
Leben. Die Angehörigen der Toten und insbesondere
die Überlebenden brauchen unser Mitgefühl. Die
Menschenrechtsverletzungen an den „Trostfrauen“
sind allerdings mit Entschädigungszahlungen alleine
in keiner Weise zu heilen. Die Aufarbeitung, die in Japan inzwischen begonnen hat, muss ohne auswärtigen
Druck innerhalb der japanischen Gesellschaft erfolgen.
Auf internationaler Ebene wurde sexuelle Gewalt
gegen Frauen im Krieg immer wieder behandelt. Bei
der VN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien und
der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking wurde das
Thema aufgegriffen. Erst seit Juni 2008 ist allerdings
die Vergewaltigung in militärischen Konflikten von
den Vereinten Nationen offiziell als Kriegsverbrechen
eingestuft. Doch nur selten gibt es über den massenhaften Missbrauch genaue Informationen. Systematische Vergewaltigung von Frauen in bewaffneten Konflikten ist ein Verbrechen, das in dieser Form auch
heute noch hochaktuell ist; sprechen wir nur das Beispiel Ostkongo an.
Weltweit wurde und wird noch das Mittel der Vergewaltigung als Kriegsmittel eingesetzt. Sexuelle Gewalt
gegen Frauen nahm in den Kriegen des 20. Jahrhunderts erschreckende Ausmaße an. Dabei sollten wir
nicht nur nach Asien schauen: Während des Zweiten
Weltkrieges und unmittelbar danach wurden unzählige
Frauen und Mädchen in Europa Opfer von systematischen Vergewaltigungen. In den 1990er-Jahren mussten wir auf dem Balkan fassungslos beobachten, dass
diese Pest der Kriegsführung immer noch vorhanden
ist. Afrika ist heute ein negatives Beispiel dafür, was
sich auf diesem Felde abspielt. Damit trifft man die
Menschen, aber auch die Seele eines jeden Volkes.
Angesichts dieser Tatsachen verwundert es schon,
dass sich der Antrag der SPD nur mit Japan beschäftigt. Bisher hat man sich, vor allem wenn es um Vergewaltigung und Massenvergewaltigung von Frauen
gehandelt hat, mit Afrika befasst. In dortigen bewaffneten Konflikten ist dieses Thema sehr aktuell. Es geht
hierbei um ein generelles Thema und nicht um eine
spezifisch japanische Angelegenheit. Mahnungen allein an Japan sind fragwürdig, solange man die Augen
davor verschließt, in welchen unvorstellbaren Dimensionen auf unserem europäischen Kontinent Massenvergewaltigungen als Mittel der Politik und der
Kriegsführung im 20. Jahrhundert eingesetzt worden
sind. Nichts davon ist aufgearbeitet.
Gegenwärtig werden wir auch mitten in Europa mit
solchen Problemen konfrontiert. Wir sollten uns darüber klarwerden, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen
nicht nur in Konflikten an der Peripherie Europas und
in benachbarten Kontinenten anzutreffen ist. Ganz besonders nach dem Beginn des jugoslawischen Bürgerkriegs und dem Zusammenbruch des Ostblocks Anfang
der 1990er-Jahre entbrannte in Europa der organisierte Menschenhandel. In der EU werden jedes Jahr
schätzungsweise 200 000 Zwangsprostituierte durch
Menschenhändler an Zuhälter verkauft. Rechtsstaatliche Maßnahmen dagegen verschwimmen meist im
Dschungel aus Bürokratie, Korruption und Angst auf
der Opferseite. Weitere Probleme für die Strafverfolgungsbehörden sind der hohe Organisationsgrad und
die Professionalität der Täter. Die Vereinten Nationen
schätzen die Zahl der weiblichen Zwangsprostituierten
in Europa auf 500 000. Der Sklavenhandel soll dabei
einen Umsatz von 10 Milliarden US-Dollar gemacht
haben.
Zu fragen ist daher, weswegen der Antrag nur die
Verbrechen an den „Trostfrauen“ aufgreift und aktuelle wie auch historische Entwicklungen in anderen
Ländern außer Acht lässt. Die Beschränkung des Antrages auf ein konkretes historisches Verbrechen relativiert das Leid der anderen Opfer. Das kann nicht in
unserem Sinne sein.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig hilfreich, Japan von außen zu einer Veränderung seiner offiziellen
Regierungsposition bewegen zu wollen. Gerade wir
Deutschen haben doch gezeigt, dass eine ernstgemeinte Aussöhnungs- und Aufarbeitungskultur im eigenen Land stärker zur Vergangenheitsbewältigung
und zur Verständigung mit den Nachbarstaaten führt
als Mahnungen aus dem Ausland.
Die Forderungen des vorliegenden Antrags sind in
der Sache nicht hilfreich und sind daher abzulehnen.
Vergangenen Sonntag, am 25. November, haben wir
den Internationalen Tag „Nein zu Gewalt an Frauen“
begangen. Dieser jährliche Gedenk- und Aktionstag
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
soll auf Diskriminierung und Gewalt jeder Form gegenüber Frauen aufmerksam machen. Er soll uns daran erinnern, dass Gewalt an Frauen viele Gesichter
hat und dass Gewalt vor Grenzen keinen Halt macht.
Jede dritte Frau wird einmal in ihrem Leben geschlagen, vergewaltigt oder anderweitig missbraucht, so die
erschreckende Erkenntnis einer Studie der UN.
Wir müssen jedoch darauf achten, dass Frauen
nicht nur in die Opferrolle gedrängt werden: Ihr Gestaltungspotenzial in Friedensprozessen ist wichtig,
und sie sind häufig Garanten für nachhaltige positive
Entwicklungsprozesse. Darauf weist die UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ zu Recht
hin. Deshalb ist es Aufgabe unserer Menschenrechtspolitik, Frauen weltweit in ihren Rechten zu stärken,
ihnen dadurch mehr Selbstwertgefühl zu geben und sie
für die Auseinandersetzungen um ihre Stellung in der
Gesellschaft fit zu machen. Unser Engagement soll
dazu beitragen, dass mit mehr Bildung und eigenständiger Verantwortung auch das Selbstbewusstsein der
Frauen steigt. Genauso ist es unsere Aufgabe, Frauen
aktiv zu ihrem Recht zu verhelfen. Das bedeutet, auf
Frauenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen und
Frauen in ihren Forderungen nach Anerkennung und
Wiedergutmachung zu unterstützen. Denn nichts untergräbt den Selbstbehauptungswillen und das Selbstvertrauen der Frauen, die Opfer geworden sind, so wie
die Straflosigkeit und Nichtanerkennung ihres Leides.
Um genau solche Frauen geht es in unserem Antrag. „Trostfrauen“ nannten die Japaner die Zwangsprostituierten, die von japanischen Soldaten und Geschäftsleuten zwischen 1937 und 1945 in der Zeit an
der Front im asiatisch-pazifischen Krieg missbraucht
wurden. Geschätzt 200 000 Frauen und junge Mädchen, unter ihnen viele Kinder, aus Korea, China und
anderen Ländern wurden in Bordelle verschleppt. Damit die Soldaten nicht wahllos Frauen aus den Dörfern
vergewaltigten, richtete das japanische Militär Tausende solcher „Troststationen“ in seinen besetzten Gebieten ein. Sie sollten den Kampfgeist der japanischen
Soldaten steigern. Doch eigentlich war es sexuelle
Sklaverei. „Trostfrauen“ - ein schönes, friedliches
Wort für eine schrecklich grausame Sache.
Dass Frauen in Kriegen vergewaltigt werden, das
hat es schon immer gegeben. Doch hier wurde die
Zwangsprostitution - ähnlich wie die durch die SS angeordnete Zwangsprostitution in den Konzentrationslagern im Dritten Reich - staatlich bestimmt und
institutionalisiert. Eine Pervertierung der Kriegsverbrechen! Übrigens wurde auch das Leid der KZZwangsprostituierten nach dem Krieg nie anerkannt.
Feldärzte untersuchten die „Trostfrauen“ regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten - alles zum „Schutz“
der Truppe. Für die „Trostfrauen“ war es Vergewaltigung. Nach der Niederlage wurden sie wie Kriegsgegenstände in den Bordellen zurückgelassen. Nur jede
vierte „Trostfrau“ überlebte das Martyrium und den
Krieg.
Aus Scham vor der eigenen Familie, aus Scham vor
der Gesellschaft bewahrten sie ihr Geheimnis für viele
Jahre, teilweise bis in den Tod, für sich. Fast fünfzig
Jahre Einsamkeit! Heute sind noch etwa 100 von ihnen
am Leben. Und noch immer müssen sie um Anerkennung kämpfen. Mit diesem Antrag bieten wir die Möglichkeit, den verbliebenen Frauen eine Stimme zu verleihen und ihnen dazu zu verhelfen, ihre Würde
wiederzuerlangen.
1997 veröffentlichte der UN-Sonderberichterstatter
zur Gewalt gegen Frauen einen Bericht, in dem er
über 50 Jahre nach Kriegsende die japanische Regierung auf ihre Verantwortung gegenüber den „Trostfrauen“ hinwies. Japan wurde aufgefordert, die moralische wie rechtliche Verantwortung für die an den
Frauen verübten Menschenrechtsverletzungen zu
übernehmen, sich bei ihnen zu entschuldigen, sie finanziell zu entschädigen und diejenigen vor Gericht zu
stellen, die diese Frauen zwangsrekrutiert und misshandelt hatten. Japans Regierung kritisierte den Bericht scharf und zeigte sich wenig einsichtig. Seit
20 Jahren kämpfen die Betroffenen nun schon um ihre
Würde - seit 20 Jahren protestieren die Frauen für ihre
Rehabilitierung. Über tausend Mal standen sie mittlerweile vor der japanischen Botschaft in Seoul. Aber die
japanische Regierung vertritt die Meinung, dass mit
dem 1965 mit Südkorea abgeschlossenen Reparationsabkommen sämtliche Ansprüche abgegolten seien. Von
der Zwangsprostitution ist in dem Vertrag allerdings
nirgends die Rede.
Viele der Frauen, die 1992 zum ersten Mal das
Schweigen brachen, sind inzwischen gestorben. Die
Überlebenden sind mittlerweile alle weit über 80 Jahre
alt. Doch bis heute weigert sich die japanische Regierung, die Verantwortung offiziell zu übernehmen. Es
scheint, dass Japan auf eine „biologische Lösung“ des
„Problems“ setzt.
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, auf Japan einzuwirken, sich offiziell bei den Opfern zu entschuldigen und die Menschenrechtsverletzungen als
Kriegsverbrechen zuzugeben. Außerdem fordern wir
von der Bundesregierung, die Bemühungen der UN für
Geschlechtergerechtigkeit umfassend zu unterstützen
und auch auf diesem Wege den Frauen zu ihrem Recht
zu verhelfen.
Verehrte Frau Steinbach, Sie sprachen bei der ersten Lesung gegen unseren Antrag. Sie fanden eine
Fokussierung auf Japan „unanständig“ und grenzwertig, in anderen Ländern habe es im Zweiten Weltkrieg
auch Massenvergewaltigungen gegeben, und außerdem
müsse man die aktuelle Lage Japans nach der Erdbebenkatastrophe bedenken. Ich denke, eine schreckliche
Naturkatastrophe im Jahr 2011 kann keine Rechtfertigung für das Verschweigen von Kriegsverbrechen von
vor 70 Jahren sein. Ist es nicht genau Ziel eines Antrages, zwar die ganze Welt im Blick zu haben, aber auch
das Augenmerk auf eine bestimmte Menschenrechtsverletzung zu richten und diese detailliert zu betrachten, auch um dem Individuum und seiner Geschichte
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({1})
gerecht zu werden? Mit den von Ihnen vorgetragenen
Argumenten können Sie natürlich jeden Antrag ablehnen und lächerlich machen. Sicherlich kann man auch
auf andere Massenvergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg hinweisen. Unser Antrag macht den Anfang.
Wenn Sie einen Antrag zu den Massenvergewaltigungen unter Stalins Roter Armee schreiben, können Sie
sich unserer Unterstützung sicher sein. Sie sollten dabei allerdings nicht vergessen, dass sich auch die französische Armee bei Stuttgart und Pforzheim brutal an
Frauen vergangen hat und dass auch die deutsche
Wehrmacht etwa 500 Bordelle betrieben hat, in denen
Russinnen, Französinnen und Jüdinnen als Zwangsprostituierte arbeiten mussten. Ich empfehle Ihnen
sehr, die Publikationen der Historikerin Dr. Birgit
Beck-Heppner zu lesen.
Schätzungsweise 200 000 Mädchen und Frauen
wurden im Zweiten Weltkrieg in den von Japan besetzten Gebieten zur Prostitution für die Armee gezwungen, teils mit falschen Versprechungen angeworben,
größtenteils aber entführt und verschleppt. In den besetzten Gebieten entstand so eines der größten historisch bekannten und systematisch aufgebauten Netzwerke von Zwangsprostitution.
Das schreckliche Schicksal und Leid, das die
„Trostfrauen“ erleiden mussten, ist unermesslich und
unbestritten. Genauso wie die Schuldfrage. Viele von
denjenigen, die die Gefangenschaft und Zwangsprostitution überlebt haben, starben später an den Folgen
oder nahmen sich selbst das Leben. Die Menschenrechtsverletzungen, die hier ausgeübt wurden, sind mit
Entschädigungszahlungen in keinster Weise wiedergutzumachen.
Leider wurde und wird weltweit auch heute noch
sexuelle Gewalt gegen Frauen als Kriegsmittel eingesetzt. Damit werden die Opfer traumatisiert. Man trifft
nicht nur die Menschen selbst, sondern auch das Volk.
Dass Frauen in Kriegen vergewaltigt werden, hat es
leider zu allen Zeiten gegeben und gibt es heute noch.
In Japan fand jedoch noch eine besondere Form dieser
Kriegsverbrechen statt, indem die Zwangsprostitution
staatlich angeordnet und institutionalisiert war.
In Japan begann eine Diskussion über dieses Thema
in den 1970er-Jahren. In Südkorea meldeten sich ab
Ende der 1980er-Jahre erstmals ehemalige Zwangsprostituierte in der Öffentlichkeit zu Wort, und 1992
begannen sie, jeden Mittwoch vor der japanischen Botschaft in Seoul zu protestieren.
1995 wurde der Asian Women’s Fund eingerichtet.
Die Regierung betonte jedoch, Zahlungen aus diesem
Fonds - 360 ehemalige Zwangsprostituierte erhielten
Geld - seien für „medizinische Unterstützung und Sozialhilfe“, nicht als Entschädigung gedacht. Die Zahlung war allerdings nur von einer inoffiziellen schriftlichen Entschuldigung des Premierministers begleitet.
Viele Betroffene erwarten hingegen eine direkte
Entschuldigung und Entschädigung durch den Staat.
Die japanische Regierung vertritt jedoch den Standpunkt, dass das Problem mit den Friedensverträgen
nach dem Zweiten Weltkrieg gelöst worden sei. Die japanische Regierung hat auch nicht die Absicht, erneut
Gespräche mit der Regierung in Seoul zu führen, und
hält sämtliche Ansprüche mit dem Reparationsabkommen von 1965 für abgegolten. Dies ist in dem Zusammenhang zu sehen, dass es in Japan starke Kräfte gibt,
die Japans Verantwortung für diese Verbrechen leugnen, wie überhaupt die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs in Japan sich sehr von jener in der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet. Siehe auch die
Äußerung des japanischen Premierministers Abe im
Jahr 2007, der sagte: „Es gibt keinen Beweis dafür,
dass Zwang auf Frauen ausgeübt wurde, wie es zunächst geheißen hatte.“ Eine Behauptung, die er allerdings nach Protesten aus den ehemaligen besetzten
Staaten Südostasiens zurücknahm.
Massenvergewaltigungen in Kriegsgebieten auf der
ganzen Welt sind noch nicht richtig aufgearbeitet. Allein Mahnungen an Japan zu stellen, ist unzureichend,
weil damit alle anderen Länder, in denen genau das
Gleiche geschehen ist oder geschieht, ausgeklammert
werden. Die FDP-Fraktion lehnt den Antrag unter anderem auch deshalb ab, weil er sich allein auf Japan
beschränkt. Das Thema ist richtig und wichtig, aber es
sollte uns um das Leid aller Frauen und Mädchen gehen.
Der Antrag ist nicht falsch, aber wir halten es für
schwierig, angesichts der Empfindlichkeit, mit der die
japanische Seite gerade auf dieses Thema reagiert,
Forderungen von außen zu erheben. Wie empfindlich
die japanische Regierung reagiert, zeigt ein Ereignis
vom Juli dieses Jahres. Eine koreanische Zeitung berichtete unter Berufung auf eine diplomatische Quelle
in Seoul, Außenministerin Hillary Clinton habe während eines Informationsgesprächs über die japanische
Besetzung Koreas einen Beamten ihres Ministeriums
korrigiert, als dieser bei der Behandlung des Problems
von „comfort women“ gesprochen hatte. Clinton bemerkte, es sei eher zutreffend, von „enforced sex slaves“
zu sprechen. Auf diesen Zeitungsbericht hin drückte
die japanische Regierung ihre Bedenken aus; der Außenminister sagte, Japan werde das US-Außenministerium um Klarstellung der Clinton zugeschriebenen Bemerkung bitten.
Die Aufarbeitung muss in der japanischen Gesellschaft selbst erfolgen. Daher meine ich, dass leise
Töne hier mehr bewirken können, und halte es für den
besseren Weg im Umgang mit diesem Problem, in bilateralen Gesprächen auf die japanische Seite einzuwirken. Es wäre ein Thema, das man in die deutsch-japanische Parlamentariergruppe einbringen sollte.
Die FDP-Fraktion ist der Ansicht, dass der Antrag
gut gemeint ist, aber im Hinblick auf die oben genannten japanischen Befindlichkeiten eher kontraproduktiv
wirken wird.
Daher lehnen wir den Antrag ab.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das skandalöse Verhalten der Mehrheit des japanischen Parlaments und der japanischen Regierung gegenüber dem Schicksal der zwangsprostituierten Mädchen und jungen Frauen, die im Zweiten Weltkrieg
massenhaft von Mitgliedern der japanischen Armee
vergewaltigt wurden, ist leider ein typisches Beispiel
dafür, wie Staaten mit Unrecht und Verbrechen der
Vergangenheit umgehen.
Die Fraktion Die Linke unterstützt den Antrag der
SPD und fordert die Bundesregierung auf, sich bei der
japanischen Regierung dafür einzusetzen, dass die
vom japanischen Militär an den „Trostfrauen“ verübten Massenvergewaltigungen als Kriegsverbrechen
und sexuelle Sklaverei eingestuft werden. Ausdrücklich
erwartet die Fraktion Die Linke, dass sich die Regierung von Japan bei den Überlebenden und deren Angehörigen offiziell entschuldigt.
Das Verhalten der japanischen Regierung ist jedoch
leider kein Einzelfall. Die Diskussion über die Anerkennung des Völkermords an den Herero und Nama
durch die deutschen Schutztruppen und die berechtigten Forderungen der Nachkommen der Ermordeten
nach einer Entschädigung werden von der deutschen
Bundesregierung seit vielen Jahrzehnten abgewiesen.
Und auch die Forderungen von italienischen und griechischen Gemeinden nach Entschädigung für die systematische Ermordung ihrer Bevölkerung in der Zeit
des Faschismus werden von der Bundesregierung über
Jahre hinweg nicht akzeptiert und gerichtlich bekämpft. Deshalb sollte bei der Debatte um die „Trostfrauen“ auch ein klarer Appell an die Bundesregierung gerichtet werden: Deutschland muss sich
ebenfalls seiner kolonialen und faschistischen Vergangenheit stellen und Verantwortung für die Opfer und
ihre Nachfahren übernehmen.
Wir erwarten deshalb von der SPD auch ein klares
Bekenntnis dazu, dass sie die Zeit ihrer Regierungsverantwortung kritisch aufarbeitet und sich für eine
schnelle und unbürokratische Lösung für Opfer der
Verbrechen Deutschlands einsetzt.
Der Umgang der japanischen Armee mit den
Frauen, die damals zwangsprostituiert wurden, ist ein
Beispiel für die Entmenschlichung durch Kriege und
ihre Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Für ein
möglichst „problemloses Funktionieren“ der Kriegsmaschinerie wurden junge Frauen aus Korea, China,
Taiwan, Burma/Myanmar, Malaysia, Vietnam, den
Philippinen, Niederländisch-Indien, Portugiesisch-Timor und Indonesien zu Prostitution gezwungen. Offizielle „Begründung“ dieser menschenverachtenden
sexuellen Ausbeutung der Frauen war, dass der
„Kampfgeist der japanischen Soldaten gesteigert, sie
vor Geschlechtskrankheiten geschützt und Massenvergewaltigungen von Soldaten an die übrigen Frauen
verhindert“ werden sollten. Dieses völkerrechtsverletzende Unrecht wurde von den Militärs und den japanischen Nachfolgeregierungen viele Jahrzehnte geleugnet und damit den Opfern zusätzliches Unrecht getan.
Heute geht man davon aus, dass alleine aus Korea
200 000 Mädchen und junge Frauen in die Zwangsprostitution entführt wurden. Durch sexuelle Ausbeutung wurden die jungen Mädchen dafür missbraucht,
die Soldaten für die Kriegszwecke Japans einsatzbereit
zu halten. Ein Unrechtsbewusstsein bei den Militärs
und den späteren japanischen Regierungen gab es
nicht. Vielmehr wurde versucht, geschichtliche Tatsachen zu verdrehen. Die bewusste Verbreitung von Lügen über die betroffenen Frauen war ein Beispiel dafür, diese Verbrechen zu vertuschen.
Die Zwangsprostitution war für die betroffenen
Frauen traumatisch. Keine von ihnen erhielt nach dem
Krieg Hilfe vom Täterstaat. Der japanische Staat verweigerte über Jahrzehnte den Angehörigen der verstorbenen Frauen eine Entschuldigung oder gar eine
Entschädigung. Von den betroffenen Frauen haben nur
etwa 30 Prozent ihr Martyrium überlebt. Viele begingen Selbstmord, viele wurden durch die Militärs ermordet und körperlich zerstört. Viele Frauen wurden,
wenn eine Geschlechtskrankheit bei ihnen festgestellt
wurde, einfach ermordet.
Nach dem Krieg wurden die betroffenen Frauen
stigmatisiert. Die Prostitution, in die sie gezwungen
wurden, war ein gesellschaftliches Tabuthema und
wurde als Schande für die betroffenen Frauen angesehen. So wurden die Frauen gezwungen, über ihre Misshandlungen zu schweigen, um in ihren Heimatländern
nicht stigmatisiert zu werden. Deshalb begingen viele
Frauen nach ihrer Befreiung Selbstmord, weil sie mit
dieser gesellschaftlichen Stigmatisierung oder der
„Schande“ nicht leben konnten.
Die Fraktion Die Linke möchte den mutigen
Frauen, die dieses Unrecht endlich angesprochen haben, danken, allen voran der Südkoreanerin Kim Hak
Soon, die mit ihrem mutigen Einsatz diese Ungerechtigkeit öffentlich gemacht hat. Durch sie wurde eine
gesellschaftliche Aufarbeitung dieses Völkerrechtsverbrechens erst möglich.
Völlig inakzeptabel ist, dass bereits 14-mal im japanischen Parlament ein Antrag zur Entschuldigung
und Entschädigung für die „Trostfrauen“ abgelehnt
wurde. Dank gilt den Fraktionen der Kommunistischen
Partei, der Demokratischen Partei, der Sozialdemokratischen Partei und den beteiligten Parteilosen, die
im Jahr 2008 wieder einen solchen Antrag eingebracht
hatten, der von der Mehrheit abgelehnt wurde. Es ist
nicht akzeptabel, dass sich die japanische Regierung
weigert, Entschädigungen für die Opfer zu leisten, und
mit dem von der Wirtschaft finanzierten Asian Women’s Fund versucht, von der eigenen Verantwortung
abzulenken.
Auch die Vereinten Nationen haben bereits 1998
festgestellt, dass die Regierung von Japan völkerrechtlich zur Entschädigung der Opfer verpflichtet ist. Dabei drängt die Zeit, da die Frauen heute alle schon in
einem sehr hohen Alter sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sexualisierte Gewalt im Zusammenhang mit Militäreinsätzen wird nach wie vor häufig verschwiegen.
Hier muss die gesellschaftliche und politische Aufarbeitung deutlich vorangebracht werden. Weltweit werden die Opfer stigmatisiert, und noch immer fehlt es an
einer umfassenden Sanktionierung dieser Gewalt. Wir
fordern deshalb die Bundesregierung auf, die systematische Massenvergewaltigung von Frauen durch Militärs mehr als bisher in den Fokus ihrer Menschenrechtsarbeit zu holen und sich für ein internationales
Schutz- und vor allem auch Sanktionsregime einzusetzen, das den Opfern hilft und die Täter endlich wirksam bestrafen kann.
„Wir kämpfen weiter darum, jeden Tag zu überstehen, um unsere zertretene Ehre wiederzuerlangen. Das
kann nur durch die Öffnung aller Archive, durch eine
offizielle Entschuldigung und Entschädigung entstehen.“ Mit diesen Worten hatte sich Won-Ok Gil, eine
damals 83-jährige Koreanerin, im Februar 2010 an
die japanische Regierung gewandt. Won-Ok Gils Brief
an den japanischen Außenminister wurde damals von
den 86 noch lebenden koreanischen Frauen unterzeichnet. Sie teilten Frau Gils Schicksal, ihre Verletzungen und Traumatisierungen, ihre Wut, ihre Missachtung und das erlittene Unrecht. Sie alle waren
Sexsklavinnen in japanischen Bordellen im Zweiten
Weltkrieg - und wurden „Trostfrauen“ genannt.
Schon der Begriff „Trostfrauen“ ist eine infame
Verschleierung. Aber noch viel schlimmer ist, dass bis
heute vonseiten der japanischen Regierung das Rückgrat fehlt, diese Verbrechen anzuerkennen und sich angemessen dazu zu verhalten. Bis heute dauern Ignoranz, Vertuschung und Verdrängung an.
Über 200 000 Mädchen und Frauen - genaue Zahlen gibt es nicht - wurden in japanischen Kriegsbordellen der Armee oder in Betrieben zur Prostitution
gezwungen. Manche von ihnen wurden durch falsche
Arbeitsverträge in die Bordelle gelockt, andere wurden
entführt oder verschleppt. Die jüngsten von ihnen elf,
zwölf Jahre alt. Ein Großteil dieser Frauen und Mädchen haben die Zwangsprostitution nicht überlebt. Vermutlich 70 Prozent der zwangsprostituierten und versklavten Frauen und Mädchen sind aufgrund der
massiven sexuellen Gewalt gestorben, wurden exekutiert oder haben Selbstmord begangen. Die Überlebenden dieses Martyriums sind zurückgekehrt mit unvorstellbaren seelischen und körperlichen Leiden.
Lange hat es gedauert, bis im Jahr 1991 die erste
Frau, die Südkoreanerin Kim Hak Soon, öffentlich
über ihre traumatischen Erlebnisse sprach. Durch ihren Mut hat sie einen wichtigen Schritt der Befreiung
gemacht; ihrem Beispiel folgten mehrere Hundert
Frauen. Die öffentliche Reaktion Japans jedoch war
und ist beschämend und ein Schlag ins Gesicht jeder
einzelnen noch lebenden Frau, die in den Kriegsbordellen zur Prostitution gezwungen wurde. Noch immer
hat Japan die Empfehlungen der Vereinten Nationen
nicht umgesetzt, hat weder die Opfer entschädigt noch
die Verantwortlichen bestraft.
Dazu fordern Sie, Kolleginnen und Kollegen der
SPD-Fraktion, in Ihrem Antrag auf, und dem stimmen
wir zu. Denn die Zeit, um den noch lebenden Frauen
zumindest ein Stück Anerkennung zu geben, rennt davon. Die politische, gesellschaftliche und juristische
Aufarbeitung, die dafür notwendige Veröffentlichung
der zum Teil immer noch verschlossenen Dokumente
und die von den „Trostfrauen“-Verbänden eingeforderte offizielle Entschuldigung sind mehr als überfällig.
Die Ablehnung des Antrags in den Ausschüssen
durch die Koalitionsfraktionen finde ich beschämend.
Aber sie ist konsequent in der frauenpolitischen Konzeptlosigkeit von Schwarz-Gelb. Eine Forderung im
vorliegenden SPD-Antrag bezieht sich auch auf die relevanten UN-Resolutionen und fordert deren Unterstützung durch die Bundesregierung ein: Resolution
1325 zur Schlüsselrolle von Frauen bei gewalttätigen
Konflikten und beim Friedensaufbau; Resolution 1820
zu sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen und Gefahr
für Frieden und Sicherheit; Resolution 1888 zur Präzisierung bisheriger Forderungen, Sonderberichterstatter und Sanktionsmöglichkeiten und Resolution 1889
zur Rolle von Frauen in friedensstabilisierenden Maßnahmen in Postkonfliktsituationen.
In all diesen Bereichen zeichnet sich Schwarz-Gelb
durch Drückebergerei und ein fehlendes Konzept aus.
Aktuellstes Beispiel: der nationale Aktionsplan zur
UN-Resolution 1325. Von uns schon lange eingefordert, von der Bundesregierung lange verschleppt. Der
Entwurf des Aktionsplans liegt jetzt vor; er soll noch
im Dezember vom Kabinett beschlossen werden.
Mitte Oktober haben wir einen Antrag dazu im Plenum debattiert. Da traten die Widersprüche innerhalb
der Koalition offen zutage. Während Sie, lieber Kollege Jüttner, die Meinung vertreten haben, dass ein nationaler Aktionsplan nicht erforderlich sei und „gegenüber dem bestehenden deutschen Engagement für
die Umsetzung der Resolution 1325 keinen entscheidenden Mehrwert bedeuten“ würde, hat Kollege DjirSarai von der FDP berichtet, dass der nationale Aktionsplan von der Bundesregierung bereits erarbeitet
würde, und betont, dass dieser deutsche Aktionsplan
jetzt richtig gut werden müsse. Das ist mehr als peinlich; da haben Sie die Beliebigkeit Ihrer Argumente offenbart.
Im Hinblick auf den vorliegenden Antrag zeigen wir
uns solidarisch mit diesen Frauen, mit ihrem Leid, der
erfahrenen Scham und Ungerechtigkeit. Frauenorganisationen weltweit versuchen, Japan dazu zu bewegen, diesen Frauen und Mädchen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und Entschädigungszahlungen zu
leisten. Und erst vor zweieinhalb Wochen haben mehrere japanische NGOs die Regierung in Tokio erneut
dazu aufgerufen, sich bei den ehemaligen Zwangsprostituierten zu entschuldigen und ihnen eine EntschädiZu Protokoll gegebene Reden
gung zukommen zu lassen. Das unterstützen wir. Denn
das Schicksal dieser Mädchen und Frauen ist ein weiteres erschütterndes Beispiel dafür, welchen Gefahren
Frauen und Mädchen in Kriegen und Konflikten von
der Vergangenheit bis heute ausgesetzt sind.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10084, den Antrag der SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/8789 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist von der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/11317 - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/10087 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/11699 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Geis-
Ansgar Heveling -
Burkhard Lischka-
Stephan Thomae-
Halina Wawzyniak-
Jerzy Montag
Interfraktionell wird vorgeschlagen, auch hier die Re-
den zu Protokoll zu nehmen.1)
Wir kommen gleich zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/11699 - die Sie sicher alle zur Hand haben -, den Gesetzentwurf der
Fraktion der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/11317 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit Mehrheit wiederum mit einzelnen Enthaltungen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf in der
gerade beschlossenen Ausschussfassung zustimmen
möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11699, den
Gesetzentwurf der SPD-Fraktion auf Drucksache
17/10087 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz vor Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung sicherstellen
- Drucksache 17/11365 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})InnenausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Leider werden alle dazu vorbereiteten Reden nicht
vorgetragen. Die Reden sind aber im Protokoll nachzulesen.
({2})
- Es gibt ja auch noch die Möglichkeit, durch individuelle Vorträge nach Abschluss der Sitzung einem massiven Informationsbedürfnis gerecht zu werden.
({3})
Der von der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag zur
Sicherstellung des Schutzes vor Schiffsunfällen beim
Bau der Fehmarnbelt-Querung zeigt eines ganz deut-
lich: In der Bevölkerung und im Parlament überwiegt
die Zustimmung zur festen Querung über den Feh-
marnbelt. Wir sind inzwischen so weit in der Akzeptanz
dieses großen und wichtigen Bauvorhabens, dass wir
über Details beim Bau des Absenktunnels reden, nicht
mehr über die Frage, ob der Tunnel gebaut werden soll
oder nicht.
Seitens der SPD habe ich auch nichts anderes er-
wartet; schließlich hat der damalige Verkehrsminister
Tiefensee 2008 den Staatsvertrag zwischen Deutsch-
land und Dänemark über den Bau einer festen Feh-
marnbelt-Querung unterzeichnet. Anschließend haben
Bundestag und Bundesrat dem Gesetz zum Staatsver-
trag im Sommer 2009 zugestimmt, woraufhin dieser
am 14. Januar 2010 in Kraft trat. Trotz der demokrati-
schen Legitimation für den Staatsvertrag durch dieses
Parlament mussten wir jedoch am 26. April dieses
Jahres eine von Linken und Grünen losgetretene De-
batte führen. Beide Fraktionen zielten mit ihren Anträ-1) Anlage 11
gen auf einen Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit dem
Königreich Dänemark ab.
Mir liegen zur heutigen Debatte über den Schutz vor
Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung
keine Anträge der beiden besagten Fraktionen vor. Ich
würde mich freuen, wenn dies als Zeichen der stillschweigenden Zustimmung zum Bau der Querung seitens der Linken und der Grünen zu deuten ist. Vielleicht hat unser Austausch von Argumenten im April ja
den einen oder anderen in Ihren Reihen von der Sinnhaftigkeit des Vorhabens überzeugt. Sollte an dieser
Stelle noch Nachbesserungsbedarf bestehen, dann
führe ich Ihnen unsere Argumente für den Bau der festen Fehmarnbelt-Querung gern noch einmal aus.
Mit der festen Querung über den Belt schaffen wir
eine feste Direktverbindung zwischen Skandinavien
und Kontinentaleuropa. Die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Chancen dieses Verkehrsprojektes sind immens. Daran dürfte spätestens seit
der Debatte dazu im April in diesem Hause kein Zweifel mehr bestehen. Mit dem geplanten 17,6 Kilometer
langen Absenktunnel durch den Fehmarnbelt wachsen
Nordeuropa und Zentraleuropa enger zusammen, und
das ist ein nachvollziehbarer Wunsch unserer skandinavischen Nachbarn.
Die Forderung nach einem Ausstieg aus dem Staatsvertrag zwischen Deutschland und Dänemark ist daher ein Affront gegen unsere nördlichen Nachbarn.
Davon ist heute glücklicherweise nicht die Rede. Für
die CDU/CSU-Fraktion möchte ich abermals bestätigen:
Wir stehen uneingeschränkt zur festen Fehmarnbelt-Querung. Wir wollen den deutsch-skandinavischen Ballungsraum für Wirtschaft und Wissenschaft
in der Fehmarnbelt-Region.
Wir wollen die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze
für die Menschen in Schleswig-Holstein und im Großraum Hamburg während der Bauphase und nach Inbetriebnahme des Tunnels. Deshalb haben wir in der
Großen Koalition den Staatsvertrag zwischen Deutschland und Dänemark über den Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung auf den Weg gebracht. Die Vorstellung, dass man die Strecke von Kopenhagen nach
Hamburg künftig mit der Bahn in nur noch drei Stunden
zurücklegen kann, ist doch fantastisch. Derzeit nimmt
diese Fahrt noch viereinhalb Stunden in Anspruch. Die
Fahrt mit der Fähre ist derzeit noch alternativlos und
dauert exklusive Wartezeiten 45 Minuten.
Die Fehmarnbelt-Querung ist ein gutes Stück gelebtes Europa. Gefühlte Entfernungen werden sich verringern. Mehr kultureller Austausch wird stattfinden. Es
wird auch mehr Berufspendler zwischen Deutschland
und Dänemark geben. All das sind Chancen, denen wir
uns nicht verschließen dürfen. Die Stärkung des nordeuropäischen Wirtschaftsraumes ist auch im Interesse
künftiger Generationen, für deren Chancen wir die
Weichen stellen.
Mit dem Baubeginn der festen Fehmarnbelt-Querung ist wohl im Sommer 2015 zu rechnen. Einen
schnelleren Beginn hätten wir begrüßt, aber die umfangreichen Detailplanungen haben die staatliche dänische Planungsgesellschaft Femern A/S zu diesem
späteren Baubeginn gezwungen. Auf der anderen Seite
schafft der verspätete Baubeginn Luft auf der Zeitschiene für die rechtzeitige Fertigstellung der deutschen Hinterlandanbindung. Der späte Baubeginn
schafft auch Zeit, gegebenenfalls das maritime Sicherheitssystem während der Bauphase zu optimieren,
sollte es denn nötig sein.
Die Sicherheit darf bei einem solchen maritimen
Großbauprojekt natürlich nicht aus den Augen verloren werden. Wir werden den Antrag der SPD-Fraktion
daher im zuständigen Ausschuss prüfen. Ob die Sorgen
der SPD-Fraktion um die Schiffssicherheit beim Bau
des Tunnels unbegründet sind oder tatsächlich Handlungsbedarf besteht, werden die Beratungen im Ausschuss zeigen.
Der vorliegende Antrag der SPD-Bundestagsfraktion spricht sich im Wesentlichen für den Schutz vor
Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung
aus.
Zukünftig soll uns ein Tunnel mit dem Königreich
Dänemark verbinden. Nachdem insgesamt vier mögliche Querungsvarianten geprüft wurden und wir uns
am Rande des Plenums ausgiebig über das Ja zu dieser
Verbindung und über das Wie unterhielten, steht nun
fest, dass die feste Verbindung in Form eines Tunnels
gebaut werden soll. 20 Kilometer lang, 40 Meter breit
und an die 10 Meter hoch, wird er sich unter der Ostsee entlangziehen. Zwei Spuren pro Fahrtrichtung sowie zwei Spuren für die Eisenbahn in die jeweilige
Fahrtrichtung, aus riesigen, an Land vorgefertigten
Betonelementen, die in einen Graben auf dem Grund
der Ostsee hinabgelassen werden: Wenn alles wie geplant klappt, würde dies der längste Absenktunnel aller Zeiten, ein Jahrhundertbauwerk.
Doch die Fehmarnbelt-Querung ist nicht unumstritten. Erst war es als gemeinsames Projekt von Deutschland und Dänemark gedacht. Ein Staatsvertrag zwischen den Dänen und Deutschland stieß vor allem in
meinem Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, nicht
nur auf Zustimmung. Mittlerweile sind es allerdings
die Dänen, die das Projekt finanziell verwirklichen.
Für Deutschland fallen aufgrund dessen nur die Kosten für die Anbindung zwischen Puttgarden und Lübeck an.
Über die Notwendigkeit der Verbindung als solche
lässt sich streiten. Doch bezogen auf den Antrag der
SPD lässt sich feststellen, dass vor allem die Tunnellösung langfristig gesehen die Freundlichste für die Binnenschiffer ist. Denn eine Brücke wäre ein sehr viel
größerer Unfallfaktor, als ein unterirdischer Tunnel es
ist. Zusätzlich entfallen Kreuzverkehre in der Schifffahrt, was den Wasserweg langfristig entlastet.
Zu Protokoll gegebene Reden
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion, nur weil wir uns nicht finanziell am Tunnel beteiligen, bedeutet dies nicht, dass deutsche Planungsbehörden außen vor sind und deutsche
Vorschriften außer Kraft sind. Sowohl die Anbindungen als auch der Tunnel werden von deutscher Hand
geplant und mit umgesetzt. Darüber hinaus gibt es
selbstverständlich Regularien, die die Schiffe während
des Baus vor Katastrophen bewahren werden. So wird
ein rund um die Uhr besetztes Radarsystem den
Schiffsverkehr in dieser Zeit überwachen und steuern.
Deutsche und dänische Schifffahrtsbehörden planen
den Einsatz eines gemeinsamen Vessel-Traffic-ServiceSystems, VTS, welches den Verkehr auf See rund um
die Baustelle zusätzlich absichern wird. Dies bedeutet,
dass der Schiffsverkehr während der circa siebenjährigen Bauphase sehr gut abgesichert sein wird. Das System für eine derartige Überwachung und Steuerung
basiert auf einer Risikoanalyse und einer Reihe von
Untersuchungen und Analysen sowie vorgenommenen
Schiffszählungen, die im Vorfeld des Baus durchgeführt worden sind. Das in Travemünde betriebene
VTS-System wurde zudem bereits erfolgreich beim Bau
der Querung über den Großen Belt und den Öresund
angewandt.
Es steht außer Frage, dass der tägliche Schiffsverkehr in dieser Zeit Vorrang und oberste Priorität haben muss. Die Seeleute müssen sich in der gesamten
Bauphase hundertprozentig auf die Sicherungsmaßnahmen auf See verlassen können! Neben dem Radarsystem VTS werden auch Wachschiffe und spezifische
Kennzeichnungen an der Baustelle eingesetzt. Auch
werden die dänischen und deutschen Sicherheitsbehörden sowie die WSD Nord stetig darüber befinden,
was es im Sicherheitsbereich zu verändern oder gegebenenfalls auch zu verbessern gilt. Auch der Katastrophenschutz auf beiden Seiten hat begonnen, Verfahren
für eine optimale Lösung auszuarbeiten. Ich vertraue
den zahlreichen Analysen und Bewertungen genauso
wie der Kommunikation mit dem Nachbarland. Ich
denke, dass angesichts dieser Vorkehrungen kein
Schiff mutmaßlichen Gefährdungen ausgesetzt wird.
Bereits vor Jahren, 2009, trafen sich die Dänen und
die Deutschen, um über die Sicherheitsangelegenheiten zu beraten. Gemeinsam mit Polizei, Feuerwehr und
Rettungsdienst, Ministerien der Länder und Vertretern
des Kreises wurden Probleme und Visionen in regelmäßigen Abständen diskutiert. Daher frage ich mich
ernsthaft, warum die SPD-Fraktion nun einen solchen
Antrag zur Schiffssicherheit einbringt. In dem mageren
Papier fordern Sie eine Sicherheitszone an der Baustelle, Ausweichrouten und zahlreiche Untersuchungen. Aber diese wichtigen Angelegenheiten wurden
längst in Angriff genommen und geregelt. Aufgewacht,
liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion! Sie sind etwas zu spät dran.
Man kann generell sogar feststellen, dass es angesichts von 30 IMO-Konventionen, über 40 EU-Richtlinien und Verordnungen und über 100 Empfehlungen
der Helsinki-Kommission zum Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebiets, HELCOM, nicht an Vorschriften für den Schutz der Nord- und Ostsee mangelt.
Diese Regelungen sind erfreulich, und Deutschland ist
stetig um eine Umsetzung oder Anpassung bemüht.
Schiffssicherheit ist ein Thema, das vor allem der Koalition von CDU/CSU und FDP am Herzen liegt.
Manchmal glaube ich, Sie wollen uns alle beschäftigen, um sich am Ende der Legislaturperiode mit der
Anzahl der eingebrachten Anträge zu brüsten. Aber
dies ist keine effektive Oppositionsarbeit - so gern ich
die Mitarbeiter Ihrer Büros mit Arbeit unterstützen
möchte. Dieser Antrag ist überflüssig und muss daher
abgelehnt werden.
Mehr Fracht, größere Schiffe: Der Handel im Ostseeraum wächst stürmisch - und damit auch das Verkehrsaufkommen auf Europas größtem Binnenmeer. Bereits heute entfallen auf den Ostseeraum knapp 15 Prozent des Welthandels. Die Aussichten sind gut, dass
diese Wirtschaftsdynamik in Zukunft weiter anhält.
Eine der wichtigsten „Meeresautobahnen“ zwischen Ost und West ist der Fehmarnbelt.
35 000 Schiffe passierten allein im Jahr 2010 die
knapp 19 Kilometer breite Wasserstraße zwischen der
Südküste von Lolland und Fehmarn in der westlichen
Ostsee. Hinzu kommen rund 38 000 Fährüberfahrten
zwischen Puttgarden und Rødbyhavn. In den kommenden Jahren wird die Meerenge vollends zum Nadelöhr.
Denn während der siebenjährigen Bauzeit des Absenktunnels zwischen Dänemark und Deutschland wird der
Schiffsverkehr durch Bagger- und Arbeitsschiffe stark
ansteigen.
Der Bau der festen Querung ist nicht nur das wichtigste Infrastrukturprojekt des kommenden Jahrzehnts der Fehmarnbelt wird in den nächsten Jahren auch zur
größten Baustelle Europas werden. Baubeginn für den
Tunnel ist für 2015, die Fertigstellung für 2021 geplant.
Bei einem Bauvorhaben von solcher Dimension
stellt sich unweigerlich die Frage der Verkehrssicherheit in einem Gebiet, das die International Maritime
Organization, IMO, im Jahr 2005 als „besonders empfindliches Meeresgebiet“, PSSA, ausgewiesen hat. Die
jetzt von der dänischen Regierung gewählte Bauvariante eines Absenktunnels berücksichtigt die Sicherheit der Seeschifffahrt und zeigt die geringsten Auswirkungen auf die Umwelt. Doch es handelt sich um ein in
vielerlei Hinsicht komplexes und einzigartiges Projekt.
Wir als SPD fordern die Bundesregierung mit unserem Antrag daher auf, ihrer Verantwortung für dieses
internationale Großprojekt gerecht zu werden. Sie
muss sich für verstärkte Sicherheitsvorkehrungen in
der Bauphase einsetzen, um das vom Schiffsverkehr
ausgehende Gefährdungspotenzial für die Ostsee zu
verringern. Der Meeres- und Küstenschutz ist für die
Zu Protokoll gegebene Reden
nachhaltige Entwicklung des maritimen Wirtschaftsraums Ostsee unabdingbar. Käme es zum Worst Case,
wäre nicht nur das sensible Ökosystem Ostsee gefährdet, sondern auch der Tourismus als einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in den Küstenregionen.
Wenngleich die Verantwortung für den Bau der Querung gemäß Staatsvertrag bei Dänemark liegt, ist es
auch an der Bundesregierung, sich gegenüber dem
Partner in Kopenhagen, den Ostseeanrainern und im
Rahmen der IMO für ein Höchstmaß an Sicherheit einzusetzen.
Experten gehen von einer Zunahme des Schiffsverkehrs in der Ostsee um 40 Prozent allein in den nächsten drei Jahren aus. Immer stärker bestimmen die ganz
großen Pötte im Fehmarnbelt das Bild. Inzwischen
fahren die beiden weltweit größten Containerreedereien immer öfter mit Containerschiffen aus Asien oder
Nordamerika kommend bis in die Ostsee. Ein Grund
für diese Entwicklung sind die stetig wachsenden Ladungsmengen für Osteuropa, die auch den Einsatz der
Megaliner bis in die Ostsee wirtschaftlich machen. Zugleich steigt der Anteil der Fahrten russischer Öltanker - die immer noch keinen Doppelhüllenstandard
haben, aber heute fast die dreifache Menge Öl laden
wie noch vor 15 Jahren.
Bei einem solchen Verkehrsaufkommen ist eine
Großbaustelle, wie sie der Absenktunnel erfordert,
eine Herausforderung. Der Tunnel wird - auf einer
Gesamtlänge von 17,6 Kilometern - aus Einzelelementen bestehen, die in einen ausgehobenen Graben im
Meeresboden gesenkt werden. Hinzu kommen die kurzen Anschlusstunnel bei Puttgarden und Rødbyhavn,
die der Landanbindung dienen und die auf künstlichen
Landaufspülungen erbaut werden.
Die Auswirkungen der geplanten Bauarbeiten auf
die Schiffssicherheit und die Kollisionswahrscheinlichkeit müssen vorab eingehend untersucht werden.
Als Maßnahmen müssen Verkehrsleitsysteme, verpflichtende Eskorten von Begleitschleppern und Lotsenpflicht angeordnet werden können, um die Sicherheit des Schiffsverkehrs zu erhöhen.
Leider haben die Erfahrungen gezeigt, dass die Lotsenannahmepflicht nicht so leicht umzusetzen ist.
Deutschland und Dänemark können sie nicht im Alleingang einführen, und freiwillig werden die Lotsendienste so gut wie nicht genutzt. Die Bundesregierung
muss sich daher im Rahmen der IMO nachdrücklich
für eine Lotsenpflicht für stark befahrene enge Gewässer wie den Fehmarnbelt oder die Kadettrinne einsetzen.
Außerdem fordern wir eine festgelegte Transitroute
etwa für große Tanker und Containerschiffe zum Passieren des Baustellenbereichs - insbesondere dann,
wenn Schiffe mit gefährlicher Ladung unterwegs sind.
Eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern sollte
den Bauablauf überwachen und sich eng mit dem
Baustellenmanagement der Planungsgesellschaft
Femern A/S sowie den dänischen Behörden abstimmen. Auch der Ausbau, die Weiterbildung und Ausrüstung der zuständigen Berufsfeuerwehren für seeseitige
Einsätze müssen Teil der Vorsorge sein ebenso wie die
Einbindung des Havariekommandos von Bund und
Küstenländern.
Wir müssen dringend Kurs auf mehr Sicherheit nehmen, um eine reibungslose Realisierung des Großprojekts Fehmarnbelt-Querung zu gewährleisten. Klar ist:
Das ist kein einfaches Fahrwasser. Eine Lösung für
den Ostseeraum erfordert ein eindeutiges Ziel und einen klaren Kompass. Aber fest steht auch: Maritime
Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Und: Die ökologischen und ökonomischen Kosten für einen Schiffsunfall im Fehmarnbelt wären ungleich höher.
Die Ostsee ist eines der verkehrstechnisch am besten erschlossenen und dichtbefahrensten Gewässer der
Welt. Sie schlägt die Brücke von Skandinavien nach
Mitteleuropa und verbindet Westeuropa mit den baltischen Staaten bis hin nach Russland. Die Ostsee ist
gewerbliche Schifffahrtsstraße und Freizeit- und Erholungsgebiet. Hier kreuzen sich Güterverkehre mit
Fährverkehren und der Sportschifffahrt. All das macht
die Ostsee zu einem der attraktivsten, aber auch
schwierigsten Fahrtgebiete der Welt.
Um Europa noch stärker zu integrieren, sind die
Skandinavier - die es, wie auch die Balten, so ja gar
nicht gibt, da es sich um einzelne Nationen handelt schon seit einigen Jahren dabei, Verkehrsverbindungen, die bisher mit Fähren verbunden waren, durch
Brückenbauten zu ersetzen. An Öresund und Storebaelt
ist dies bereits geschehen, die Fehmarnbelt-Querung
soll dem jetzt folgen.
Damit soll die Querung mit einer Länge von
19 Kilometern eines der größten nordeuropäischen Infrastrukturprojekte dieser Dekade werden. Mit einer
kürzeren Reisezeit von bis zu 30 Minuten zwischen
Hamburg und Kopenhagen für Passagiere und die Vermeidung eines 160 Kilometer langen Umwegs für Güterzüge soll eine wettbewerbsfähige Großregion entstehen. Dies wird Vorteile für Beschäftigung und
Wohlstand in der Region mit sich bringen. Europa
wächst auch im Norden zusammen. Die einstmals trennende Ostsee wird zur Verbindungsstelle. Das ist großartig.
Dass es durch den Bau der Querung aller Wahrscheinlichkeit nach zu gelegentlichen Beeinträchtigungen im Schiffsverkehr kommen kann, ist vorhersehbar.
Aber die Tunnellösung ist langfristig gesehen die beste
Realisierungsmöglichkeit mit den geringsten Folgebeeinträchtigungen. Natürlich wird alles nur Mögliche
getan, um Unfälle zu vermeiden; das versteht sich von
selbst.
Der Tunnel hat im Übrigen noch einen weiteren
Vorteil. Die Beeinträchtigung durch ein Brückenbauwerk hinsichtlich des Wasseraustauschs zwischen der
sauerstoffarmen Ostsee, zum Beispiel im Gotland-Tief,
Zu Protokoll gegebene Reden
und der sauerstoffreichen Nordsee wird minimiert.
Das ist auch für die Pflanzen- und Tierwelt wichtig.
Darum habe ich auch Probleme mit der Notwendigkeit
Ihres Antrags. Zum einen steht heute noch gar nicht
fest, wann genau Baubeginn sein wird. Zum anderen
vertrauen wir Liberale voll und ganz auf die Kompetenzen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes und der dänischen Küstenwache. Beide verfügen über ausreichend Know-how und Erfahrung, mit
den Herausforderungen fertigzuwerden.
Aber offensichtlich teilen Sie dieses Vertrauen in die
WSV nicht, weshalb Sie sich genötigt fühlen, einen
solchen Antrag in den Bundestag einzubringen. Aus
meiner Sicht handelt es sich um einen reinen Schaufensterantrag, den wirklich niemand braucht. Aber
vielleicht können Sie der geneigten Öffentlichkeit im
Laufe des parlamentarischen Verfahrens die Dringlichkeit dann doch noch näher bringen. Ich kann sie
nicht erkennen.
Die Ostsee gehört zu den meistbefahrenen Seegebieten der Welt. Es ist sinnvoll, Initiativen zur Verbesserung der Schiffssicherheit in der Ostsee zu diskutieren. Doch dieses Thema allein auf eine Baustelle im
Falle eines möglichen Baus eines Tunnels durch den
Fehmarnbelt zu beschränken, wird weder dem Thema
Schiffssicherheit noch dem umstrittenen Großprojekt
einer festen Fehmarnbelt-Querung gerecht.
Die Linke hatte Ihnen im März dieses Jahres in einem Antrag dargelegt, wie das Projekt gestoppt werden könnte. Wir haben eine eindeutige Position. Anders in Ihrer Fraktion, Kollegin Hagedorn: In der
ersten Lesung betonte Hans-Joachim Hacker für die
SPD-Fraktion, dass Ihre Partei „ohne Wenn und Aber“
zu dem Staatsvertrag zum Bau der Querung stehe und
er keine Grundlage sehe, mit Dänemark nachzuverhandeln. Im Kieler Koalitionsvertrag zwischen SPD,
Grünen sowie SSW wird jedoch die Bundesregierung
zur Überprüfung der veränderten Bedingungen aufgefordert und ausdrücklich die Verhandlungsmöglichkeit
nach Art. 22 des Staatsvertrages betont. Kurz nach
seinem Amtsantritt spricht sich Schleswig-Holsteins
Ministerpräsident Torsten Albig, SPD, jedoch ausdrücklich für den Bau eines Fehmarnbelt-Tunnels aus.
Die Verhandlungen zum Staatsvertrag wieder aufzunehmen, halte er für „töricht“. Das Aktionsbündnis
gegen eine feste Fehmarnbelt-Querung kritisierte dies
zu Recht und schreibt: „SPD führt bei der festen Fehmarnbeltquerung alle hinters Licht: Grüne düpiert,
Wähler getäuscht.“ Jetzt legen Sie uns einen Antrag
vor, in dem Sie sich um die Schiffssicherheit während
des Baus der Fehmarnbelt-Querung sorgen, ohne
überhaupt auf das innerhalb ihrer Landesregierung
umstrittene Großprojekt einzugehen. Das ist zu kurz
gesprungen. Wer mehr Sicherheit im Fehmarnbelt haben will, der muss das auch ohne das Tunnelprojekt
anstreben.
Übrigens, auch wenn es vielleicht später in Berlin
angekommen ist: Die dänische Regierung hat sich
nicht Anfang 2012 für einen Absenktunnel anstelle einer Schrägkabelbrücke entschieden, sondern im Februar 2011. Auch die 35 000 Schiffspassagen im Fehmarnbelt sind deutlich untertrieben. Eine Zählung von
2006/2007 ergab, dass etwa 47 000 Schiffe jährlich
den Fehmarnbelt passieren. Hinzu kommen jedes Jahr
etwa 38 000 Fährüberfahrten zwischen Puttgarden
und Rødbyhavn. Von der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, IMO, wurde auch nicht nur der
Fehmarnbelt, sondern das ganze Ostseegebiet und
nicht in 2005, sondern bereits im März 2004 als besonders empfindliches Meeresschutzgebiet, PSSA, ausgewiesen. Nicht nur im Fehmarnbelt sollte das „vom
Schiffsverkehr ausgehende Gefährdungspotenzial für
die Ostsee“ verringert werden, sondern an allen sensiblen Schifffahrtsrouten mit dichtem Verkehr. An mehreren sind bereits Verkehrstrennungsgebiete eingerichtet worden, um die Schiffe nach Fahrtrichtung zu
trennen, nicht jedoch am Fehmarnbelt. Durch eine
mögliche Baustelle würde die Situation noch verschärft. Wir fordern, dass sich die Bundesregierung
bei der IMO dafür einsetzt, dass auch am Fehmarnbelt
ein Verkehrstrennungssystem eingerichtet wird.
Das elektronische System zur Überwachung des
Schiffsverkehrs, VTS, muss wie bei der Flugsicherung
nicht nur beraten, sondern auch Weisungsbefugnis erhalten. Verbindliche Anweisungen an die Schiffsführer
würden die Sicherheit erhöhen, besonders an der Gefährdungsstelle einer schwimmenden Großbaustelle.
Die bisherige Überwachung des Schiffsverkehrs sollte
durch eine dezentrale Radarüberwachung ergänzt
werden.
Einige Forderungen in Ihrem Antrag, wie zum Beispiel der Einsatz von Verkehrssicherungsfahrzeugen
während der Bauphase, sind überflüssig, weil sie bereits bestehende Praxis sind. Dies bestätigte auch die
Betreibergesellschaft Femern A/S. Es reicht aber nicht
aus, wenn diese nur beobachtende Funktion haben. Sie
müssen ebenfalls im Notfall verbindliche Anweisungen
geben können. Was jedoch fehlt, ist eine Klarstellung,
wer für die Kosten der Sicherungsmaßnahmen während der Bauzeit und für die Einrichtung des notwendigen Geräts und Personals aufkommt. Dies ist auch
im Staatsvertrag nicht geregelt. Für die Linke ist klar,
dass der Betreiber, der die Baustelle zu verantworten
hat, auch selbstständig für alle Kosten aufkommt.
Endlich eine verbindliche Lotsenpflicht entlang
sensibler Schiffspassagen für große Frachter einzuführen, ist eine ebenso alte wie richtige Forderung und
wird auch von uns unterstützt. Dies kann aber nur bei
Zustimmung aller Anrainerstaaten von der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation erlassen werden
und wird auch bereits von Deutschland vertreten, ist
aber bislang am Widerstand Russlands gescheitert.
Laut Auskunft der Lotsen nehmen bislang leider meistens die gut ausgerüsteten Schiffe verantwortungsbewusster Reeder die Lotsen in Anspruch, während geZu Protokoll gegebene Reden
nau die alten Frachter, die es eigentlich am nötigsten
hätten, oft aus Kostengründen darauf verzichten.
Wir haben Ihre Vorschläge mit Vertretern der WSV,
der Lotsen und Nautiker beraten und dabei erfahren:
Viele Ihrer Forderungen sind bereits gängige Praxis,
während andere nicht ausreichend sind. Ihr Antrag beschränkt die dringenden Fragen zur Verbesserung der
Schiffssicherheit in der Ostsee leider allein auf die besagte Baustelle, die im Falle eines möglichen Baus in
frühestens drei Jahren relevant wird. Das wird der
Schiffssicherheit nicht gerecht - ob mit oder ohne Baustelle für eine unsinnige feste Fehmarnbelt-Querung.
Seit Jahren diskutiert dieses Hohe Haus über die
Sinnhaftigkeit einer festen Querung über den Feh-
marnbelt - leider, muss man an dieser Stelle sagen, in
einer Art und Weise, die dem Ansehen des Deutschen
Bundestages nur sehr bedingt nutzen dürfte. Die Kriti-
kerinnen und Kritiker der Querung verweisen seit lan-
gem immer wieder auf die ganz massiven ökologischen
und ökonomischen Probleme und Risiken des
Projekts - ohne dass die Befürworter der Querung hie-
rauf reagieren. Nach dem Motto „Augen zu und
durch“ halten sie weiter unbeirrt an den bisherigen
Planungen fest, ignorieren jegliche ökonomischen und
ökologischen Grunderfordernisse und lassen die Bür-
gerinnen und Bürger der Region mit ihren Sorgen wei-
ter alleine.
Wir erinnern uns: Bereits in der letzten Legislatur,
also noch vor der Verabschiedung des Begleitgesetzes
zum Staatsvertrags zwischen der Bundesrepublik und
dem Königreich Dänemark, wurden die Risiken des
Projekts in einer vierstündigen Anhörung des Ver-
kehrsausschusses des Bundestages am 6. Mai 2009
ausführlich diskutiert.
Obwohl schon damals auf die eklatanten Planungs-
mängel des Projekts und die dadurch kaum abseh-
baren Risiken für das hochsensible Ökosystem der Re-
gion, aber auch die öffentliche Hand hingewiesen
wurde, ignorierten CDU/CSU, SPD und FDP systema-
tisch die immer wieder auch empirisch untermauerten
Argumente der Kritiker und hielten an den Planungen
unbeirrt fest. Am 18. Juni 2009 verabschiedete der
Deutsche Bundestag das Gesetz zum Staatsvertrag
über den Bau einer Festen Fehmarnbelt-Querung ge-
gen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grü-
nen und Die Linke sowie von 16 Abgeordneten aus den
Fraktionen der SPD und CDU/CSU. Am 14. Juni 2010
trat der Staatsvertrag zwischen Deutschland und Dä-
nemark schließlich in Kraft.
Die eklatanten ökonomischen und ökologischen
Planungsmängel, auf die sowohl meine Fraktion als
auch die Fraktion Die Linke in zwei Anträgen, über die
wir hier erst vor wenigen Monaten gemeinsam disku-
tierten, noch einmal hinwiesen, sind auch anderen
nicht verborgen geblieben: Sowohl der Bundesrech-
nungshof als auch der Rechnungsprüfungsausschuss
des Deutschen Bundestages machen seit mehreren
Jahren in verschiedenen Stellungnahmen auf die völlig
unklaren Formulierungen des Staatsvertrags und die
sich daraus ergebenden Risiken aufmerksam.
Bereits vor Inkrafttreten des Staatsvertrags warnte
der Bundesrechnungshof in einer Stellungnahme nach
§ 88 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung, BHO, an
den Rechnungsprüfungsausschuss, einen Unteraus-
schuss des Haushaltsausschusses des Bundestages,
dass sich die bisher kalkulierten Kosten für den Aus-
bau der deutschen Hinterlandanbindung auf 1,7 Mil-
liarden Euro verdoppelt hätten - ohne dass weitere
Kosten wie der Ausbau des Knotenpunktes Hamburg
oder der zweigleisige Ausbau des Schienenteilstücks
von Lübeck bis Puttgarden überhaupt berücksichtigt
wurden. Mit Hinweis hierauf hat der Bundesrech-
nungshof wiederholt die Bundesregierung dazu aufge-
fordert, aktualisierte Kostenkalkulationen vorzulegen.
Genauso wenig wurden bisher die Kosten für eine
bei der Realisierung einer festen Fehmarnbelt-Que-
rung zwingend benötigten zweiten Brücke über den
Fehmarnsund berücksichtigt. Gleiches gilt für die
Kosten für eine immer wieder in Aussicht gestellte
Alternativtrasse der Hinterlandanbindung fernab der
Ostseebäder sowie dringend benötigte Lärmschutz-
maßnahmen. Addiert man alle bislang nicht berück-
sichtigten Kosten für die öffentlichen Haushalte, lan-
det man schnell bei einer Summe von mehreren
Milliarden Euro, wohlgemerkt für die Hinterlandan-
bindung einer Querung, die aller Wahrscheinlichkeit
nach weit unter 10 000 Autos und unter 100 Züge am
Tag nutzen würden und deren Grundlast damit unter
20 Prozent der üblichen Kapazität einer zweistreifigen
Schnellstraße mit 26 000 Autos am Tag läge.
Der Bundesrechnungshof hat in seiner Stellung-
nahme vom April 2009 folgerichtig bezüglich des Pro-
jekts vor „erheblichen Unsicherheiten für künftige
Bundeshaushalte“ gewarnt. Des Weiteren kritisierte
der Bundesrechnungshof zahlreiche unklare juristische
Formulierungen des Vertragswerks. So enthalte der
Staatsvertrag Klauseln, welche die Vertragspartner un-
ter nur unpräzise formulierten Voraussetzungen zu
Nachverhandlungen - auch über die Kostentragung -
verpflichte. Obwohl die Bundesregierung als verant-
wortliche Vertragspartnerin immer wieder mit Hin-
weis auf die eklatanten Planungsmängel, die extremen
Kostensteigerungen des Projekts und die in § 22 des
Staatsvertrags explizit vorgesehene Möglichkeit dazu
aufgefordert wurde, in Neuverhandlungen mit dem Kö-
nigreich Dänemark einzutreten, hat sie diese Ver-
pflichtung bisher ignoriert. Die Bundesregierung trägt
damit die volle politische Verantwortung für dieses mit
massiven Risiken verbundene Projekt.
Neben den enormen ökonomischen Risiken des Pro-
jekts wurde von den Kritikerinnen und Kritikern der
Querung auch immer wieder auf handfeste ökologi-
sche Gefahren einer festen Querung über den Feh-
marnbelt hingewiesen - darunter auch auf die noch
immer ungelöste Frage der Schiffssicherheit. Auch
Zu Protokoll gegebene Reden
diese Problematik wurde im Rahmen der Anhörung im
Verkehrsausschuss des Bundestages bereits am Ende
der 16. Wahlperiode ausführlich diskutiert - aller-
dings ging man damals noch von einer Brücke als
Querung aus. Heute wissen wir, dass das Projekt als
Tunnel realisiert werden soll. Während ein Tunnel
nach dessen Fertigstellung zweifelsfrei weniger Risi-
ken für die Schiffssicherheit als eine Brücke mit sich
bringt, ist dies während der Bauphase zweifellos nicht
der Fall. Daher haben wir auch in unserem Antrag
vom 25. April 2012 erneut auf die Problematik auf-
merksam gemacht und die Bundesregierung aufgefor-
dert, dies in ihre Abwägungen bezüglich der Bewer-
tung der Sinnhaftigkeit des Projekts einzupreisen.
Bereits in der Anhörung wurde durch verschiedene
Sachverständige darauf aufmerksam gemacht, dass
durch die Errichtung der Querung ein erhebliches Ge-
fahrenpotenzial für das hochsensible Ökosystem der
Ostsee entsteht, das Baugebiet sich direkt in mehrfach
ausgewiesenen Schutzgebieten befindet und es sich
beim Fehmarnbelt um eine der meistbefahrensten Was-
serstraßen der Welt handelt. In diesem Zusammenhang
wurde unter anderem auch darauf verwiesen, dass der
Begriff „Schifffahrt“ in dem vorliegenden Staatsver-
trag mit keinem Wort Erwähnung findet. Damit stellt
sich die Frage - auch hierauf haben wir bereits in
unserem Antrag vom 25. April 2012 aufmerksam
gemacht -, ob dringend benötigte Sicherungsmaßnah-
men in dem mit mehreren Zehntausend Schiffsbewe-
gungen jährlich zu den am meisten befahrenen Was-
serstraßen der Welt gehörenden Fehmarnbelt
eigenständig und durch Kostenteilung zwischen den
Vertragsstaaten finanziert werden müssen. Hierzu fehlt
jede zwischenstaatliche Vereinbarung im Staatsver-
trag, was auch hinsichtlich Haftungsfragen und Kos-
tenverteilungen bei zu prognostizierenden Havarien
nach Ansicht eines Sachverständigen der Anhörung
„eine grobe vertragliche Fahrlässigkeit“ darstellt.
Hoffentlich müssen wir niemals erleben, meine Damen
und Herren von CDU/CSU und FDP, wie Sie die poli-
tische Verantwortung für die Havarie eines Öltankers
in einem der sensibelsten Meeresgebiete Deutschlands
übernehmen.
Vor dem Hintergrund auch in dieser Hinsicht zahl-
reicher bislang ungeklärter Fragen begrüßen wir den
heute vorgelegten Antrag der SPD, der das Thema
noch einmal auf die Tagesordnung setzt und zahlreiche
wichtige Forderungen für eine verbesserte Schiffs-
sicherheit während der Bauphase der Fehmarnbelt-
Querung enthält.
Dass die Initiative es gleichzeitig verpasst, die zahl-
reichen anderen, vielfältigen Problemlagen, die sich
aus den bisherigen eklatanten Planungsmängeln be-
züglich der festen Fehmarnbelt-Querung ergeben,
auch nur stichwortartig zu erwähnen, und dringend
benötigte Nachbesserungen von der Bundesregierung
nicht einfordert, verwundert uns sehr. Wir bedauern es
ausdrücklich, dass die SPD-Fraktion mit der Vorlage
dieser Initiative ihr grundsätzliches Einverständnis zu
einem Verkehrsprojekt aus Zeiten des Kalten Krieges,
dessen tatsächliche Sinnhaftigkeit längt widerlegt ist
und dessen negativen Auswirkungen auf zahlreiche
schleswig-holsteinische Gemeinden und die Insel Feh-
marn ganz enorm sind, noch einmal dokumentiert.
Dass es der heute hier vorliegende Antrag der SPD
versäumt, zumindest mit Nachdruck Nachbesserungen
bezüglich einer zweiten Fehmarnsund-Querung, einer
Alternativtrasse der Hinterlandanbindung, zusätz-
licher Lärmschutzmaßnahmen und der Beseitigung
sonstiger durch die Querung entstehender Nadelöhre
wie dem Knotenpunkt Hamburg etc. einzufordern, ist
aus Sicht meiner Fraktion nur schwer verständlich und
wirklich bedauerlich.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11365 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu besteht of-
fenkundig Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2012/6/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
14. März 2012 zur Änderung der Richtlinie 78/
660/EWG des Rates über den Jahresabschluss
von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen
hinsichtlich Kleinstbetrieben ({0})
- Drucksachen 17/11292, 17/11353 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/11702 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Marco Wanderwitz-
Ingo Egloff-
Marco Buschmann-
Jens Petermann-
Ingrid Hönlinger
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Beate WalterRosenheimer, Dr. Thomas Gambke, Ingrid
Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Offenlegung der Jahresabschlüsse
- Drucksachen 17/11027, 17/11702 Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzIngo Egloff25844
Präsident Dr. Norbert Lammert
Marco BuschmannRichard PitterleIngrid Hönlinger
Die Reden, die dazu noch verbleibende offene Fragen
erläutern, finden sich im Protokoll.
Mit Erleichterungen im Bereich der Rechnungslegungs- und Offenlegungsvorschriften für Kleinstkapitalunternehmen treibt die christlich-liberale Bundesregierung den Bürokratieabbau voran und befreit
die Wirtschaft konsequent von entbehrlichen Verwaltungslasten.
Nachdem wir mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, BilMoG, 2009 Einzelkaufleute von der
Pflicht zur Aufstellung von Jahresabschlüssen befreit
haben, werden wir nun in Umsetzung der Richtlinie
2012/6/EU des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 14. März 2012 zur Änderung der Richtlinie
78/660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von
Gesellschaften bestimmter Rechtsformen hinsichtlich
Kleinstbetrieben mit dem Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtänderungsgesetz, MicroBilG, für Entlastungen bei rund einer halben Million kleinster
Kapitalgesellschaften sorgen.
Die nach derzeitiger Rechtslage strikte, weil umfassende Rechnungslegung wird von kleinsten Unternehmen zu Recht als Belastung empfunden. So muss
beispielsweise die Vorjahresbilanz mit Anhang verpflichtend jährlich im Bundesanzeiger veröffentlicht
werden.
Künftig sollen alle Unternehmen mit geringem Geschäftsumfang und geringer Mitarbeiterzahl auf den
umfangreichen Anhang zur Bilanz verzichten können.
Darüber hinaus wird es künftig ausreichen, wenn
Kleinstunternehmen ihre Jahresabschlüsse nurmehr
an ein Register übersenden, aus dem sie nur auf
Nachfrage zur Information an Dritte herausgegeben
werden.
Die Bundesregierung setzt die auf ihr Drängen erreichten Vorgaben aus Brüssel nicht nur zügig um,
sondern nutzt auch sämtliche Optionen, damit den
Kleinstkapitalgesellschaften die auf EU-Ebene vereinbarten Erleichterungen möglichst schnell und umfangreich zugutekommen können. Da das Bilanzgeschäftsjahr vieler Unternehmen zum Ende des Jahres endet,
wird ein Großteil der Kleinstkapitalunternehmen dann
bereits von diesem Gesetzentwurf profitieren. Zu diesem Zeitpunkt soll die Neuregelung bereits wirken.
Die schnelle Umsetzung der EU-Micro-Richtlinie
2012/6/EU ist nicht nur im Sinne des Bürokratieabbaus ein Gewinn für die Kleinstunternehmer. Sie profitieren zudem von der Rechtssicherheit.
Bereits in der ersten Lesung hatten wir angekündigt, kurzfristig umsetzbare Maßnahmen zur Modernisierung des Ordnungsgeldverfahrens im Handelsgesetzbuch bei Durchsetzung der Offenlegungspflicht
zu prüfen. Die aktuellen Ordnungsgelder in Höhe von
bis zu 2 500 Euro, die Unternehmen drohen, die der
Offenlegungspflicht nicht oder nicht fristgerecht nachkommen, sind besonders für kleinste Gesellschaften
eine enorm hohe Belastung.
Dieser Problematik wirken wir zwar einerseits
bereits durch die neuen Regelungen des MicroBilG
entgegen. Denn mit dem Entfallen der Pflicht zur Erstellung eines Anhangs zur Bilanz fällt diese bei
Kleinstunternehmen in der Vergangenheit häufige
Fehlerquelle automatisch weg.
Darüber hinaus bitten wir die Bundesregierung,
weitergehende Maßnahmen zu treffen:
Da der Umfang der Offenlegungspflichten nach
dem Handelsgesetzbuch schon heute nach der Größe
des Unternehmens abgestuft ist und das MicroBilG daran anknüpfend für Kleinstkapitalgesellschaften abgesenkte Offenlegungspflichten vorsieht, soll auch bei
den Sanktionen wegen nichterfüllter Offenlegungspflichten entsprechend differenziert werden. Folglich
sollten die Mindestordnungsgelder für Kleinstkapitalgesellschaften von 2 500 Euro auf maximal 500 Euro
und für kleine Kapitalgesellschaften von 2 500 Euro
auf maximal 1 000 Euro abgesenkt werden. Eine solche Regelung bedingt allerdings die Mitarbeit der Unternehmen, die entsprechende, für die Einordnung in
die jeweilige Unternehmenskategorie relevante Kennzahlen freiwillig und rechtzeitig zur Verfügung stellen
müssen.
Eine solche Staffelung sollte Bestandteil einer
grundsätzlichen Flexibilisierung des Ordnungsgeldverfahrens sein. Die Festsetzung eines Ordnungsgeldes sollte an ein Verschulden bei der Säumnis der
Offenlegungspflicht geknüpft werden, dessen Kriterien
gegebenenfalls festzulegen sind. Aus der Praxis ergibt
sich die Notwendigkeit, den Behörden mehr Spielraum
einzuräumen, damit sie auf Situationen reagieren können, in denen Unternehmen aus nachvollziehbaren
Gründen nicht in der Lage waren, ihre Offenlegungspflicht rechtzeitig zu erfüllen. Nur auf diese Weise können insbesondere Fälle höherer Gewalt ausgeschlossen werden.
Zudem halten wir es für sinnvoll, zur Vermeidung
unbilliger Härten den Unternehmen im Falle eines unverschuldeten Fristversäumnisses auf Antrag eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einzuräumen.
Ebenso müssen wir auch im Sinne der Rechtssicherheit eine Lösung dafür finden, dass die zwei Kammern
des am Sitz des Bundesamtes für Justiz zuständigen
Landgerichts Bonn bei Beschwerden gegen Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamtes teils divergierende Rechtsansichten haben.
Wir haben die Bundesregierung gebeten, entsprechende Regelungen zügig bis März 2013 vorzulegen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Erleichterungen sind dürftig. Sie werden auf
36 Millionen Euro beziffert; das sind pro Unternehmen 72 Euro im Jahr. Denn die Bilanzierungspflicht
bleibt bestehen; die Bilanz ist auch weiterhin dem Bundesanzeiger zu übersenden, und zwar fristgerecht und
ordnungsgeldbewehrt.
Die neu eingeführte Hinterlegung ({0}) der Bilanz beim Bundesanzeiger überzeugt
nicht. Sie führt zu weniger Transparenz im Geschäftsverkehr und zu neuen Sonderregelungen, ohne dass
dies durch eine Bürokratieentlastung für die Betroffenen aufgewogen würde.
Erfreulich ist, dass in der Entschließung die Anregung des Bundesrates aufgenommen wurde, eine Begrenzung der Ordnungsgelder vorzunehmen. Nun wird
von der Bundesregierung verlangt, binnen drei Monaten Vorschläge hinsichtlich Ordnungsgeldhöhe ({1}) und
Ordnungsgeldverfahren ({2}) vorzulegen. Wir hätten uns eine tiefere Schwelle der Ordnungsgelder gewünscht, wie sie beispielsweise im
Antrag der Grünen vorgeschlagen wurde, werden dem
Gesetzentwurf aber trotzdem zustimmen, weil zumindest in diesem Punkt unsere Forderungen berücksichtigt wurden.
Von der Handlungsfähigkeit der Bundesregierung
sind wir weiterhin nicht überzeugt: Auf die Erleichterungen im Ordnungsgeldverfahren für kleine Unternehmen hätte sie auch selbst kommen können. Wir hatten im Rechtsausschuss dazu bereits vor geraumer Zeit
einen mündlichen Bericht des Bundesamtes für Justiz.
Im Unterschied zu Kleinstkapitalgesellschaften bleiben Genossenschaften vergleichbarer Größe weiter
außen vor, obwohl wir auf diese Ungleichbehandlung
bereits in der ersten Lesung hingewiesen haben. In unserem Antrag zum Genossenschaftsrecht auf Drucksache 17/9976 fordern wir auf Anregung der Genossenschaftsverbände die Umsetzung der Richtlinie 2012/6/
EU auch für die Genossenschaften, hätten uns aber
auch sehr gewünscht, dass diese Forderung Eingang in
die Entschließung der Koalitionsfraktionen findet.
Unternehmer sollen sich so viel wie möglich auf ihr
Geschäft konzentrieren können und nur so viel Bürokratielast tragen, wie es unbedingt nötig ist. Dieser
Leitidee fühlen wir uns als FDP verpflichtet. Und diese
Leitidee verwandelt der vorliegende Gesetzentwurf ein
Stück weit in Rechtswirklichkeit.
Das Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz, MicroBilG, sieht einige sehr praktische
Erleichterungen für Kleinstkapitalgesellschaften durch
den Abbau bürokratischer Belastungen im Bereich des
Bilanzrechts vor. Deutschlandweit profitieren davon
mehr als 500 000 Unternehmen. Dazu gehören all jene
Gesellschaften, die höchstens 700 000 Euro Umsatzerlöse, 350 000 Euro Bilanzsumme und zehn Arbeitnehmer im Jahresdurchschnitt aufweisen und jeweils
zwei dieser drei Schwellenwerte an zwei aufeinanderfolgenden Abschlussstichtagen - also innerhalb eines
Jahres - unterschreiten.
Das MicroBilG erlaubt es diesen Unternehmen, bei
der Aufstellung des Jahresabschlusses auf einen Anhang zu verzichten. Informationen, die aus Gründen
des Gläubigerschutzes erforderlich sind, wie zum Beispiel die Haftungsverhältnisse, können künftig unkompliziert unter die Bilanz geschrieben werden. Zudem
sind Ausnahmen von der Verpflichtung zum Ausweis
von aktiven und passiven Rechnungsabgrenzungsposten und eine Verkürzung der Aufgliederung von Bilanz
und Gewinn-und-Verlust-Rechnung möglich.
Hierdurch mindern wir nicht nur den Aufwand bei
der Aufstellung des Jahresabschlusses. Wir werden
vermutlich auch einen Großteil der häufig sehr streitigen und zeitraubenden Ordnungsgeldverfahren nach
dem Gesetz über elektronische Handelsregister und
Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister ({0}) künftig vermeiden können. Denn von
diesem Verfahren sind fast ausschließlich Gesellschaften betroffen, die in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen, und in einem Großteil der Fälle geht es
um die Einreichung eines korrekten Anhangs. Da diese
Unternehmen künftig auf den Anhang verzichten können, wird es künftig wohl auch nicht mehr zu entsprechenden Ordnungsgeldverfahren kommen.
Damit die begünstigten Gesellschaften möglichst
früh in den Genuss dieser Erleichterungen kommen,
wollen wir das Gesetzgebungsverfahren noch in diesem
Jahr abschließen; damit profitieren die Unternehmen
rechtssicher von den Vorteilen schon zum Abschlussstichtag 31. Dezember 2012.
Das Gesetz ist also eine gute Sache. Es trägt dazu
bei, dass sich gerade die Kleinunternehmer, die besonders unter Bürokratie leiden, wieder ein Stück mehr
auf ihren Betrieb konzentrieren können. Ich werbe
daher um Ihre Unterstützung hier im Hause.
Wer seine Haftung aus seiner unternehmerischen
Geschäftstätigkeit beschränken will, muss sich höheren Anforderungen an Rechenschaft und Publizität
stellen. Diesen Grundsatz erfordert schon der Schutz
derjenigen, die etwas von dem Unternehmen zu
bekommen haben. Daher hat der Gesetzgeber auch
höhere Pflichten für Kapitalgesellschaften formuliert.
Wie ich bereits in meiner Rede am 8. November
2012 im Rahmen der ersten Lesung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf im Einzelnen ausgeführt hatte,
bringen die von Ihnen vorgeschlagenen Erleichterungen nichts, sobald eine kleine Kapitalgesellschaft
einen Kredit benötigt oder eine elektronische Bilanz,
E-Bilanz, für das Finanzamt erstellen muss, also ihren
Zu Protokoll gegebene Reden
Gewinn nach § 4 Abs. 1, § 5 oder § 5 a EStG ermittelt
und das sind praktisch alle.
Ein großer Schritt wäre die Aufhebung der Bilanzierungspflicht für Kleinstkapitalgesellschaften gewesen,
was insbesondere den vielen „ruhenden Gesellschaften“, also nicht mehr aktiv am Wirtschaftsverkehr teilnehmenden Unternehmen wirklich geholfen hätte,
doch da konnte sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene wieder nicht durchsetzen.
In der Gesamtbetrachtung fällt das von der Bundesregierung erreichte Ergebnis äußerst bescheiden aus erst recht, wenn man es mit ihren ursprünglichen Zielen vergleicht. Denn die Erleichterungen und Kosteneinsparungen sind für die Wirtschaftspraxis marginal.
Die Bundesregierung selbst schätzt die Einsparungen
in Summe auf nur rund 20 bis 25 Millionen Euro für
die gesamte Wirtschaft, also alle am Wirtschaftsleben
Beteiligten.
Ich hatte bei meiner Rede in der ersten Lesung bereits die Schutzfunktion betont, die mit der Pflicht zur
Aufstellung des Jahresabschlusses verbunden ist, nämlich dass sich der Kaufmann einen Überblick über seinen Betrieb machen soll. Das sehen offensichtlich
auch einige europäische Länder so, wie die erheblichen
Widerstände bei der Verabschiedung im Europäischen
Rat gezeigt hatten. Wir werden uns ihnen anschließen
und daher gegen den Gesetzentwurf stimmen.
Aus dem Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/
Die Grünen unterstützen wir die Härtefallregelungen,
also die Verlängerung der Frist zur Einreichung des
Jahresabschlusses und den Verzicht auf Ordnungsgelder.
Die anderen Forderungen aus dem Antrag, die Mindesthöhen bei den Ordnungsgeldern zu senken, lehnen
wir dagegen ab. Zum einen müssen Kapitalgesellschaften wegen der beschränkten Haftung bestimmte
Publizitätspflichten erfüllen, damit sich Gläubiger ein
Bild über die finanzielle Lage machen können. Zum
anderen haben kleine Kapitalgesellschaften sechs Monate nach dem Geschäftsjahr Zeit, den Jahresabschluss zu erstellen. Aus meiner langjährigen Erfahrung weiß ich, dass das reicht - wenn man das nicht
immer wieder verschiebt. Wer es dann nicht schafft,
den vorliegenden Jahresabschluss innerhalb von weiteren sechs Monaten, also nach insgesamt zwölf Monaten, elektronisch zu hinterlegen, sollte in seiner Büroorganisation etwas ändern. Mit einer Androhung von
250 Euro Ordnungsgeld motivieren Sie keinen, die von
den allermeisten Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmern als unangenehm angesehene Pflicht
zeitnah zu erfüllen.
Die Entschließung von der CDU/CSU und FDP verstehe ich nicht. Warum machen Sie keinen Antrag wie
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN? Warum lassen Sie sich
nicht vom Ministerium, wie sonst auch, einen Änderungsantrag schreiben, wenn es Ihnen so wichtig ist,
wie Sie in der Entschließung darlegen? Dann könnten
wir hier heute darüber gleich abstimmen, und es könnte
demnächst für die von Ihnen so umsorgten Kleinstunternehmerinnen und Kleinstunternehmer Realität
werden. Oder wollen Sie eigentlich gar nichts ändern,
müssen aber etwas tun, um Ihre Lobbyisten zu befriedigen? Dabei können wir Sie nicht unterstützen, und
wir werden daher diese Entschließung ablehnen.
Dann hatten Sie von der Koalition noch einen Änderungsantrag eingebracht. Damit wollten Sie an das Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz einen zusätzlichen Artikel anhängen, der Regelungen
zum Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch im Hinblick auf Therapieunterbringung und Sicherungsverwahrung enthielt. Erst versuchen Sie, es im Ausschuss
in die Beschlussempfehlung zu schmuggeln, dann
wollten Sie einen Änderungsantrag ins Plenum bringen, und nun hat die Vernunft gesiegt und uns liegt ein
eigenständiger Gesetzentwurf mit Drucksache zu dem
Thema vor.
Es freut mich, dass nicht nur wir, sondern auch Sie
inzwischen eingesehen haben, dass sich kein Zusammenhang zwischen Kleinstkapitalgesellschaften, Therapieunterbringung und Sicherungsverwahrung konstruieren lässt. Der von Ihnen dabei gewählte Weg eines
Omnibusverfahrens ist darüber hinaus verfassungsrechtlich und rechtsstaatlich - Stichwort „Transparenz“ - mehr als bedenklich. Er wird auch nicht
dadurch verfassungsgemäß, weil es Rechtspolitiker
der FDP jetzt in der Regierungskoalition für „normale
Übung“ halten. Dabei waren es gerade diese Rechtspolitiker der FDP, die selbst noch in der letzten Wahlperiode gegen diese Vorgehensweise gestritten und
rechtspolitische Prinzipien hochgehalten hatten. Ein
kleiner Beleg, wie Regierungsbeteiligung korrumpierbar machen kann!
Trotzdem brauchte es ja schon wieder zwei Anläufe,
um Sie davon abzubringen: das Verfahren um die Regelung der Zwangsbehandlung und jetzt dieses Verfahren mit der Ergänzung des Therapieunterbringungsgesetzes. Wir warten ab und beobachten Sie, ob der
Lerneffekt auf Dauer ist.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/11702, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/11292 und
17/11353 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das Erste
war die Mehrheit. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, bitte ich, sich von ihren Plätzen zu erheben. Diejenigen, die dagegen sind, haben jetzt Gelegenheit,
sich zu erheben. - Wer sich enthalten möchte, kann das
jetzt auch tun. - Die Mehrheit hat dem Gesetzentwurf
zugestimmt. Er ist damit angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11702 empfiehlt der Rechtsausschuss,
dazu eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist auch die Beschlussempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b. Wir setzen die Abstimmung mit den Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 17/11027. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Arbeitsbedingungen und Berufsperspektiven
von Promovierenden verbessern
- Drucksache 17/11044 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})Ausschuss für Arbeit und Soziales
Die Reden werden zu Protokoll genommen.
Wir debattieren heute einen Antrag der Linksfraktion zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der
Berufsperspektiven von Promovierenden. Ich erkenne
an, dass dieses Papier eine deutliche Verbesserung gegenüber dem letzten Antrag der Linksfraktion zu dieser
Thematik, Bundestagsdrucksache 17/4423, darstellt.
Forderten Sie damals noch mehr Qualifikationsstellen
für Promovierende, erkennen Sie heute gleich zu Beginn Ihres Antragstextes an, dass „Fördermaßnahmen
wie die Exzellenzinitiative und der Pakt für Forschung
und Innovation in den vergangenen Jahren Tausenden
neue Möglichkeiten zur Promotion eröffnet haben“,
Bundestagsdrucksache 17/11044. Diese Entwicklung
ist positiv; ich begrüße sie deshalb ausdrücklich.
Sie stellen in Ihrem Antrag drei Kernforderungen
auf: verbesserte Standards in der Promotionsförderung, die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes sowie die Verbesserung empirischer Erkenntnisse über die Promotionstätigkeit im deutschen
Wissenschaftssystem. Lassen Sie mich hierzu im Einzelnen Stellung nehmen.
Die Setzung von Standards in der Promotionsförderung obliegt in erster Linie den Hochschulen und den
außeruniversitären Forschungseinrichtungen selbst.
Die Rolle des Bundes muss sich darauf beschränken,
Impulse zu setzen und Veränderungen anzumahnen.
Genau dies haben wir mit unserem am 24. April 2012
eingebrachten Koalitionsantrag „Exzellente Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs fortentwickeln“, Bundestagsdrucksache 17/9396, auch getan.
Da wir uns beim Verfassen unseres Antrags - genau
wie Sie - an der Stellungnahme des Wissenschaftsrates
vom 11. November 2011 orientiert haben, sind einige
Ihrer Forderungen deckungsgleich mit unseren.
Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten. Wir befürworten genau wie Sie den Ausbau von Modellen der
strukturierten Doktorandenausbildung. Auch sehen
wir in der Einführung von Betreuungsvereinbarungen
zwischen Doktorand und Betreuer den richtigen Weg,
um die Planbarkeit des Promotionsprozesses für beide
Seiten zu verbessern. Die Fortentwicklung weiterer
Karrierestufen nach der Promotion ist auch nach unserer Meinung zur Schaffung von mehr Planbarkeit
unabdingbar. Hier enden jedoch die Übereinstimmungen.
Während Sie sich mit der Forderung nach unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen begnügen, macht
unser Antrag sehr viel weiter reichende und deshalb
auch mutigere Vorschläge. Wir sehen in der Schaffung
einer neuen, unbefristeten Associate-Professur und
der Umwidmung der bisherigen Juniorprofessuren in
Assistenzprofessuren den richtigen Weg, um mehr Karriereoptionen und Planbarkeit für Nachwuchswissenschaftler zu schaffen. Die TU München hat mit ihrem
neu geschaffenen TUM Faculty Tenure Track Modell
unlängst exakt diesen Weg eingeschlagen. Dies bestätigt uns in der Auffassung, dass wir mit unserem
Antrag und der vorgeschlagenen Ergänzung der bisherigen Stellenstrukturen genau auf dem richtigen Weg
sind. Mentoringprogramme spielen in Ihrem Antrag
keine Rolle. Dabei müssen sie durch die Hochschulen
dringend weiterentwickelt werden, um hervorragend
ausgebildeten Fachkräften künftig einen besseren
Übergang hin zu Aufgaben in Wissenschaft, Wirtschaft
oder in der Verwaltung zu ermöglichen.
Sollten Sie mit Ihrer Forderung nach einer deutlichen Erhöhung der Promotionsförderung von Fachhochschulabsolventen ein Promotionsrecht für Fachhochschulen ins Spiel bringen, lehnen wir dies
entschieden ab. Nach unserer Überzeugung muss das
Promotionsrecht auch künftig allein den Universitäten
vorbehalten bleiben. Dort erfahren die Absolventen
am stärksten eine wissenschaftsgetriebene Ausbildung, während Fachhochschulen in erster Linie für
den nichtakademischen Arbeitsmarkt qualifizieren.
Fachhochschulabsolventen sollen deshalb auch in
Zukunft nur im Rahmen einer Kooperation ihrer Fachhochschule mit einer Universität promovieren können.
Kritisch sehe ich auch Ihre Forderung nach dem
vollständigen Verzicht auf „qualifikationsfremde Leistungen“ bei Promotionen im Rahmen von Stipendien.
Zusätzliche Arbeit am Institut ist nicht automatisch
verlorene Zeit, sondern kann - so sie in geringem
Umfang anfällt - den Horizont der Stipendiaten über
das eigene Forschungsprojekt hinaus erweitern. Auch
Begabtenförderungswerke fördern schließlich nicht
nur die klügsten Köpfe, sondern fordern von ihren
Stipendiaten im Gegenzug etwas, nämlich gesellschaftliches Engagement. Hinzu kommt, dass die Sti25848
pendiensätze an einigen Einrichtungen, wie Sie selbst
ja auch anerkennen, zuletzt angehoben wurden.
Kommen wir zu Ihrer zweiten Forderung, der
Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes.
Auch hier gibt es Forderungen, die wir schon vor Ihnen erhoben haben, andere lehnen wir hingegen ab.
Bei der Befristung von Beschäftigungsverhältnissen
kommt es in der Tat - so hat es die Evaluation dieses
Gesetzes durch das HIS gezeigt - viel zu oft zu Missbrauch und Übertreibungen. Deshalb haben wir
klargestellt: Befristungen von unter einem Jahr müssen unterbleiben, ebenso das Stellensplitting in Einheiten von weniger als einer halben Stelle. Wir fordern
weiter, die Laufzeit der Arbeitsverträge grundsätzlich
an die Laufzeit der Projekte zu koppeln, in denen die
Nachwuchswissenschaftler beschäftigt sind. Die HRK
haben wir aufgefordert, einen Leitfaden mit Vorschlägen zur Behebung dieser Defizite vorzulegen. Es ist ein
ermutigendes Signal, dass sich die HRK in ihrer Entschließung vom 24. April 2012 dazu bekannt hat, dass
„das Qualifikationsziel in der Befristungszeit erreichbar … sein muss“.
Die sehr gut nachvollziehbare Forderung der Nachwuchswissenschaftler nach planbaren Karriereperspektiven muss aber auch mit dem ebenfalls wichtigen
Anliegen der Hochschulen nach Flexibilität bei der
Ausgestaltung von Arbeitsverträgen in Einklang gebracht werden. Es reicht nicht aus, nur die Interessen
der Wissenschaftler im Auge zu haben; verantwortungsvolle Politik muss vielmehr beide Seiten in den
Blick nehmen. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz
stellt hier einen vernünftigen Interessenausgleich her.
Es ist ein wirksames Instrument, um den Hochschulen
personelle Flexibilität im weitgehend nicht planbaren
Wissenschaftsprozess zu ermöglichen. Dies war eines
der zentralen Ergebnisse der Anhörung vom 28. März
2012. Die von Ihnen geforderte Aufhebung der Tarifsperre lehnen wir deshalb ab.
Drittens fordern Sie, die empirischen Erkenntnisse
über die Promotionsfähigkeit im deutschen Wissenschaftssystem deutlich zu verbessern. Auch diesen letzten Punkt haben wir in unserem Antrag bereits deutlich
formuliert. Wir wollen allerdings auch, dass dieser
Schritt nicht nur der Statistik, sondern auch den Promovierenden etwas bringt. Deshalb haben wir als ersten wichtigen Schritt die Einführung eines einheitlichen Doktorandenstatus vorgeschlagen. Dieser soll
mit konkreten Rechten wie der Hochschulmitgliedschaft und der Nutzung der Infrastruktur der Hochschule, zum Beispiel der Bibliothek, einhergehen.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Viele
unserer Forderungspunkte haben Sie in Ihrem Antrag
übernommen. Darüber freuen wir uns. Einige andere
Punkte, wie die stärkere Promotionsförderung an
Fachhochschulen oder den vollständigen Verzicht auf
qualifikationsfremde Tätigkeiten, lehnen wir allerdings ab. Bei der Weiterentwicklung unbefristeter Beschäftigungsmöglichkeiten bietet Ihr Antrag zu wenig;
konkrete Vorschläge zur Umsetzung werden nicht gemacht. Während Sie das Wissenschaftszeitvertragsgesetz grundlegend überarbeiten wollen, sehen wir in
ihm grundsätzlich einen guten Ausgleich zwischen
Hochschulen und Wissenschaftlern und wollen unzulässigen Missbrauch vermeiden. Unterm Strich macht
Ihr Antrag an den entscheidenden Punkten keine
neuen Vorschläge und bietet insgesamt wenig Neues.
Der wissenschaftliche Nachwuchs ist das Fundament wissenschaftlicher Hochschulausbildung und eines leistungsfähigen Forschungssystems. Deutschland
braucht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die
Lehre an den Hochschulen gestalten und damit auch
Fachkräfte ausbilden, die Forschung betreiben. Die
Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist
also die Grundlage dafür, die Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands zu erhalten und zu stärken, sowohl als
Entwicklungs- und Produktionsstandort als auch als
attraktiver Forschungs-, Arbeits- und Lebensort.
Deutschland mangelt es nicht an hochmotiviertem,
engagiertem Nachwuchs. Rund 14 Prozent derjenigen,
die ein Studium absolvieren, promovieren. Damit liegt
Deutschland im Vergleich zu seinen Nachbarländern
an der Spitze. Die Köpfe, in die investiert werden muss,
sind also da.
Wenn uns der wissenschaftliche Nachwuchs so
wichtig ist, dann wäre es selbstverständlich, dass diese
Menschen unter guten Arbeitsbedingungen, mit einer
ordentlichen Bezahlung und mit einer Aussicht auf
gute berufliche Perspektiven arbeiten können. Hervorragende Lehre und Forschung sind ohne gute Arbeitsbedingungen nicht zu bekommen. Aber leider sieht die
Wirklichkeit anders aus.
Mit der Vorlage der HIS-Studie „Wissenschaftliche
Karrieren“ sowie des Evaluationsberichtes des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes liegen genügend handfeste Daten und Fakten auf dem Tisch, die leider nur
allzu deutlich zeigen, in welchen prekären Beschäftigungsverhältnissen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in unserem Land arbeiten müssen. Der dringende Handlungsbedarf, die Beschäftigungssituation
in diesem Bereich zu verbessern, ist nicht von der
Hand zu weisen.
Immer mehr Leute wollen studieren - und das ist
wunderbar. Aktuell liegt für das Jahr 2012 wieder ein
Rekordwert von mehr als 490 000 Studienanfängerinnen und -anfängern vor. Dafür braucht es entsprechend Personal. Doch die Personalkapazität an den
Hochschulen wächst nicht in der gleichen Höhe wie
die Zahl der Studierenden. Der Großteil der neu entstandenen Belastungen in Lehre und Forschung wird
vom wissenschaftlichen Nachwuchs aufgefangen.
Während neben den Anforderungen und dem
Arbeitsaufwand die Anzahl der Beschäftigten im Wissenschaftsbereich stetig steigt, stagniert die Zahl der
Professuren. Für die jungen Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler bedeutet dies, dass sie nur begrenzte
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
Aufstiegschancen und geringe Aussicht auf eine
Dauerstelle haben.
Gleichzeitig verzeichnen wir einen stetig ansteigenden Trend zu befristeten Beschäftigungen in der Wissenschaft. Weniger als 10 Prozent der Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler
haben eine unbefristete Stelle. Hinzu kommt, dass viele
der befristeten Stellen eine Vertragslaufzeit von einem
Jahr oder sogar weniger aufweisen. Viele der Beschäftigten sind 40 Jahre oder älter. Befristete Arbeitsverträge sind heutzutage auf dem gesamten Arbeitsmarkt
leider zu einem Problem geworden. Im Wissenschaftsbereich ziehen sich die Unsicherheiten bezogen auf die
Lebens- und Karriereplanung besonders lange hin.
Wünsche nach Verlässlichkeit, Stabilität und besserer
Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleiben oftmals
bis ins fünfte Lebensjahrzehnt unerfüllt.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dies ist ein
Problem, von dem vor allem der weibliche wissenschaftliche Nachwuchs negativ betroffen ist. Für
Frauen ist es besonders schwer, Familie und Wissenschaft unter einen Hut zu bringen. Während rund die
Hälfte der Studierenden und Hochschulabsolventen
weiblich ist, nimmt ihr Anteil auf dem Weg über die
Promotion und Habilitation hin zu einer Professur
kontinuierlich ab. Wenn sich in unserer Gesellschaft
Begriffe wie „Frau Dr. Kinderlos“ prägen, dann müssen wir uns Gedanken machen. Zum einen gehen uns
viele wichtige, kluge Köpfe verloren, wenn viele
Frauen nicht den Weg in die Wissenschaft gehen wollen. Zum anderen müssen wir gerade den weiblichen
Nachwuchs dabei unterstützen, Familie und Beruf vereinbaren zu können.
Wir thematisieren dieses Problem nicht, um einer
speziellen Gruppe etwas Gutes zu tun, sondern weil es
ein Problem für die gesamte Gesellschaft ist, wenn uns
diese hochmotivierten Leute verloren gehen. Entweder
sie entscheiden sich von vornherein gegen den Beruf
Wissenschaftler, oder sie gehen früher oder später ins
Ausland. Sie verlassen die Wissenschaft. Es ist
schlecht für Deutschland, diese klugen Köpfe zu verlieren. Darum müssen wir gegensteuern. Wir brauchen
„gute Arbeit“, auch in der Wissenschaft.
Wir thematisieren dieses Problem heute nicht zum
ersten Mal. Studien, Berichte, Evaluationen sowie
Anregungen der Sachverständigen aus öffentlichen
Anhörungen liefern genug Material und lassen den
dringenden Handlungsbedarf erkennen.
Doch die Fraktionen CDU/CSU und FDP lassen
sich lediglich herab, einen blutleeren Alibiantrag einzubringen. Wo die Bundesregierung handeln könnte,
will die Koalition nichts unternehmen; aber an die
Länder und Hochschulen werden großartige Forderungen gestellt. Die Bundesregierung jedoch bewegt
sich gar nicht. Stattdessen ignoriert sie die Anträge
der Oppositionsfraktionen und lehnt sie vielmehr der
Reihe nach ab. Deshalb müssen wir dieses Thema
leider immer wieder auf die Tagesordnung setzen und
unsere Forderungen erneuern, bis auch endlich die
Bundesregierung aufwacht.
Wir fordern eine Personaloffensive für die Hochschulen mit 2 500 Professuren bis 2020 für bessere
Karrierechancen, aber auch für eine bessere Betreuung der Studierenden. Wir fordern 1 000 zusätzliche
Juniorprofessuren als Alternative zur Habilitation. Wir
wollen den Tenure Track stärken, um bessere Karrierewege an den Hochschulen zu schaffen. Wir brauchen
mehr strukturierte Promotionsprogramme und gleichstellungspolitische Programme sowie die Einführung
einer Frauenquote. Wir setzen uns ein für den Ausbau
von Kinderbetreuungsangeboten, damit die Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft verbessert wird. Wir
wollen eine Erhöhung des Anteils unbefristet beschäftigten Personals an den Hochschulen.
Zudem hat die Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes gezeigt, dass die Erweiterung des
Sonderbefristungsrechts für Wissenschaft und Forschung 2007 richtig war. Doch es gibt auch Befunde,
die kritisch hinterfragt werden müssen. Um nur einige
Punkte zu nennen:
Zum einen ist es sachlich nicht zu rechtfertigen,
Abweichungen von den Bestimmungen durch tarifvertragliche Vereinbarungen zu untersagen. Die Tarifsperre muss aufgehoben werden, damit Arbeitgeber
und Arbeitnehmer gemeinsam Regelungen über das
Gesetzliche hinaus treffen können.
Zum Zweiten hat die Evaluation gezeigt, dass sehr
viele Arbeitsverträge in der Qualifikationsphase eine
sehr kurze Laufzeit haben - oftmals sind die Verträge
auf weniger als ein Jahr angelegt. Auch hier muss
gegengesteuert werden, indem insbesondere in der
Postdocphase eine Mindestbefristungsdauer festgelegt
werden sollte, von der nur in begründeten Fällen abgewichen werden darf.
Zum Dritten wurde festgestellt, dass sehr häufig
Arbeitsverträge auf Basis von Drittmittelbewilligungen befristet werden, obwohl die Befristungsgrenzen
der Qualifizierungsphasen nicht ausgeschöpft sind.
Auch hier muss an den Stellschrauben gedreht werden,
um dem Schutzgedanken des Sonderbefristungsrechts
Rechnung zu tragen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke enthält einige
wichtige, richtige Punkte, denen wir uns als SPDFraktion anschließen könnten. Aber schon die Überschrift lässt erkennen, dass der Antrag zu kurz greift.
Sicherlich ist es richtig, die Arbeitsbedingungen und
Berufsperspektiven von Promovierenden verbessern zu
wollen. Doch dürfen wir in diesem Zusammenhang
nicht vergessen, dass es auch Probleme zu lösen gilt
- sowohl für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in der Postdocphase befinden, als auch für
das wissenschaftsunterstützende Personal.
Der wissenschaftliche Nachwuchs ist ein Garant für
den Erhalt des erfolgreichen Forschungs- und InnovaZu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
tionsstandortes Deutschland. Deshalb verlangt die
Entscheidung eines jungen Menschen, sich der Wissenschaft in all ihren Herausforderungen und Unwägbarkeiten hinzugeben, höchste Anerkennung und Förderung durch die Gesellschaft. In der wissenschaftlichen
Karriere ist die Promotionsphase für jeden Wissenschaftler, wenn auch nur über einen kurzen Zeitraum,
eine überaus intensive Phase. Denn die Promotionsphase legt den Grundstein für das weitere wissenschaftliche Wirken. Die Erfahrungen, die jeder Nachwuchswissenschaftler dabei sammelt, prägen sein
wissenschaftliches Engagement. Daher ist es richtig,
die Bedingungen, unter denen Doktoranden arbeiten
und forschen, stets einer kritischen Überprüfung zu
unterziehen und alles daranzusetzen, Bedingungen
und Umstände immer weiter verbessern zu wollen.
Der Antrag „Arbeitsbedingungen und Berufsperspektiven von Promovierenden verbessern“ von der
Linken leistet jedoch keinerlei geistreichen Beitrag zu
dieser politischen Herausforderung. Der Antrag taugt
eigentlich nicht einmal dazu, ihn zu debattieren. Denn
die Linke bleibt mit ihren Forderungen und Zielsetzungen unkonkret. Es kommen keine Vorschläge oder
Ideen, wie denn die Probleme, die man sieht, gelöst
werden können. So fordert man beispielsweise die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, „die Bewerbungsphase zur Promotion - „Exposéphase“ - durch
entsprechende Fördermaßnahmen besser abzusichern“.
Oder sich bei den Forschungsorganisationen dafür
einzusetzen „die Promotionsförderung von Fachhochschulabsolventinnen und -absolventen deutlich zu erhöhen“.
Und selbst die Forderungen aus dem Antrag, die
man ansatzweise diskutieren könnte, verfehlen bedauerlicherweise ihr Ziel. Denn der im Antrag von der
Linken genannte Adressat, die Bundesregierung und
die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, sind
nur ein Partner. Das Promotionsrecht selbst jedoch
liegt einzig bei den Universitäten. Die gesetzlichen
Vorgaben zur Verleihung akademischer Grade fallen
unter das Landesrecht und die Promotionsordnung.
Aus diesem Grund sind Hochschulen und Bundesländer in der Pflicht und Verantwortung, die Bedingungen
für Nachwuchswissenschaftler direkt zu verbessern.
Die Bundesregierung über den Umweg der außeruniversitären Forschungseinrichtungen nun zum Handeln
aufzufordern, ist reichlich konstruiert. Das zeugt von
blindem Aktionismus und versucht - erfolglos -, von
eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.
Allein vor diesem Hintergrund erschließt sich dann
auch leicht, warum die Linke so denkt und diesen Antrag gestellt hat. Ich lade deshalb jeden dazu ein, sich
die Wissenschaftspolitik in Brandenburg anzuschauen.
Dort, wo SPD und die Linke regieren und Wissenschaftspolitik direkt gestalten können, wird der Anspruch ihrer Politik der Wirklichkeit ihrer Politik nicht
gerecht. Denn in Brandenburg habe ich bislang keine
politische Initiative von der Linken gesehen, mit der
man, wie in dem vorliegenden Antrag gefordert, den
Promovierenden eine Vollzeitstelle als Regelfall zusichert. Auch ist mir nicht bekannt, dass man - wie im
vorliegenden Antrag gefordert - flächendeckend Promotionsvereinbarungen eingeführt hätte. Oder dass
man - wie im vorliegenden Antrag gefordert - flächendeckend objektivierte Zugangsverfahren für die Promotion eingeführt hätte.
Ich könnte mit jedem Punkt aus Ihrem Forderungskatalog fortfahren und Ihnen Ihre Untätigkeit vorhalten. Stattdessen verweise ich auf das, was Sie in der
Hochschulpolitik in Brandenburg getan und zu verantworten haben. Sie haben im vergangenen Jahr den
Hochschulen in Brandenburg 10 Millionen Euro aus
der vertraglich zugesicherten Rücklage entnommen,
um Löcher im Landeshaushalt zu stopfen, obwohl die
Wissenschaft laut Ihrem vollmundigen Versprechen im
Koalitionsvertrag höchste Priorität genießt. Da frage
ich: Wie wollen Sie also gewährleisten, dass die Nachwuchswissenschaftler unter besseren Bedingungen arbeiten und forschen können, wenn Ihr linker Finanzminister in Brandenburg den Haushalt für das
Wissenschaftsressort an der kurzen Leine hält? Es gibt
eine Umschreibung für Ihre Politik in Bund und Land,
die es am besten trifft: politischer Opportunismus!
Sie haben einen Antrag vorgelegt, der in sich obsolet ist und daher unserem Anspruch an eine verantwortungsvolle Wissenschaftspolitik nicht ansatzweise gerecht wird. Deshalb verweise ich auf unseren Antrag,
den Antrag von FDP und CDU/CSU, „Exzellente Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs fortentwickeln“, den wir am 26. April 2012 in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. In unserem
Antrag verfolgen wir mit 15 konkreten Forderungen
das Ziel, die Rahmenbedingungen für Nachwuchswissenschaftler an Hochschulen und außeruniversitären
Forschungseinrichtungen sowie für alle weiteren Doktoranden stetig zu verbessern. In dem Antrag verlieren
wir aber nicht aus dem Blick, dass Wissenschaftspolitik und damit auch die Problematik der Beschäftigung
von Nachwuchswissenschaftlern an Hochschulen und
Forschungseinrichtungen in erster Linie Ländersache
ist. Diesem Umstand tragen wir sehr klar Rechnung
und betonen, dass Bund und Länder gemeinsam eine
Verantwortung tragen und darum bemüht sein müssen,
die Rahmenbedingungen zu verbessern.
Eine Verantwortung aber, die von der Linken gerne
unterschlagen wird. Im Antrag der Linken wird beispielsweise das 2007 eingeführte Wissenschaftszeitvertragsgesetz kritisiert. Es wird mit dem Finger auf
den Bund gezeigt. Was aber unterschlagen wird, ist,
dass die Länder ihrer Verantwortung häufig nicht gerecht geworden sind. Der Bund hat seine Anstrengungen bei der Finanzierung der Hochschulen erhöht, hat
seit Jahren Milliarden an Euro durch die Exzellenzinitiative, den Qualitätspakt Lehre sowie den Hochschulpakt 2020 zu einer besseren Ausfinanzierung
der Hochschulen und Forschungseinrichtungen in
Deutschland beigetragen. Gleichzeitig aber haben einige Länder, wie das rot-rot regierte Brandenburg, die
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({1})
Grundfinanzierung der Hochschulen zurückgefahren.
Wenn die Linke also mit dem Finger auf den Bund und
das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zeigt, zeigen gleichzeitig drei Finger auf die eigene verfehlte Hochschulpolitik. Wenn kritisiert wird, dass satte 84 Prozent der
wissenschaftlichen Mitarbeiter an unseren Hochschulen befristet angestellt sind, davon wiederum die
Hälfte mit einem auf unter ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag, dann vergisst die Linke ihren Beitrag daran
einzurechnen.
Den Antrag „Arbeitsbedingungen und Berufsperspektiven von Promovierenden verbessern“ der Linken
lehnen wir ab. Ich empfehle, unseren Antrag aufmerksam zu lesen. Wir haben dort eine Vielzahl von guten
Vorschlägen gemacht. Unser Antrag ist ein Appell an
die Länder, in ihren Anstrengungen nicht nachzulassen, insbesondere attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten und verlässliche Karriereperspektiven an ihren
Hochschulen zu schaffen. Der Bund kann unterstützen,
und wir Liberale werden diese Verantwortung immer
annehmen und dieser auch gerecht werden. Schaufensteranträge wie der vorliegende bringen niemanden
weiter und stehlen uns allen nur kostbare Zeit.
„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ - diese Redensart kann man so oder ähnlich öfter hören, wenn es
um die Arbeits- und Einkommensbedingungen von
Promovierenden in unserem Land geht. Ein Denkfehler in dieser Aussage besteht darin, Promovierende als
in der Lehre befindlich anzusehen. Das Gegenteil
stimmt: Wer promoviert, hat bereits einen überdurchschnittlichen Studienabschluss in der Tasche und sich
in einem Auswahlverfahren an die Spitze vorgekämpft.
Promovierende lehren, forschen und managen Wissenschaftsstrukturen.
Dass hierbei immer noch von wissenschaftlichem
Nachwuchs gesprochen wird, sagt mehr über die äußerst hierarchische Personalstruktur unserer Wissenschaftseinrichtungen und Hochschulen aus als über
die Qualifikation der Betreffenden. Um es klar zu sagen: Die Promotion sehen wir als erste Phase einer
anspruchsvollen wissenschaftlichen Berufstätigkeit.
Wir reden von Höchstqualifizierten und Leistungsträgern. Nicht selten stellt die Dissertation die innovativste Schaffensphase einer wissenschaftlichen Karriere dar. Diese Position vertrat wohl auch ein Kollege
der Unionsfraktion, allerdings unter anderen Vorzeichen. Er meinte im Ausschuss, wir redeten hier
schließlich von der wissenschaftlichen Elite, die dürfe
man nicht als Prekariat bezeichnen. Leider muss man
dies sogar, wenn man die Arbeitsbedingungen vieler
Promovierender beschreiben will. Knapp die Hälfte
hat laut dem Institut für Forschungsinformation und
Qualitätssicherung, iFQ, ein monatliches Einkommen
von unter 1 100 Euro, wobei auch Zuschüsse von
Familienangehörigen und Nebenjobs einfließen. Besonders schwierig ist die Situation in den Sozial- und
Geisteswissenschaften, wo laut iFQ sogar ein Fünftel
der befragten Promovierenden unter der Armutsgrenze
lebt.
Ähnlich dramatisch ist es um die berufliche Sicherheit bestellt: Die Evaluierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes brachte ans Licht, dass 57 Prozent
der Verträge in der Promotionsphase an außeruniversitären Forschungseinrichtungen Laufzeiten von weniger als einem Jahr haben. An Hochschulen laufen
53 Prozent der Verträge in der ersten Qualifikationsphase weniger als ein Jahr, sogar 17 Prozent als Erstvertrag. Die Verträge der Promovierenden haben in
der Regel kürzere Laufzeiten, als dies zum Verfassen
der Dissertation nötig wäre.
Andersgelagerte Probleme ergeben sich, wenn die
Dissertation immer häufiger statt auf einer Stelle
durch ein Stipendium finanziert wird. Stipendiatinnen
und Stipendiaten ohne Stelle sind nicht über einen Arbeitgeber unfall-, kranken-, arbeitslosen- und rentenversichert. Sie müssen diese Vorsorge aus dem Stipendium finanzieren, das in der Regel zwischen 1 000 und
1 365 Euro plus kleinerer Zuschläge beträgt. Damit
stehen Stipendiatinnen und Stipendiaten in der Regel
noch schlechter da als ihre angestellten Kolleginnen
und Kollegen. Kein Wunder, dass in Umfragen die
meisten zwar einen Kinderwunsch bestätigen, aber
eine Familiengründung in weite Ferne schieben! Es
überrascht auch kaum, wenn angesichts dieser Bedingungen nach Schätzungen im Rahmen des Bundesberichtes zum wissenschaftlichen Nachwuchs zwei Drittel der Promotionen nicht zu Ende geführt werden.
Diese Bedingungen nehmen viele Betroffene nicht
länger widerspruchslos hin. Petitionen wie die FairPay-Initiative sind von vielen unterzeichnet worden,
das Templiner Manifest und der Herrschinger Kodex
der GEW inzwischen den meisten ein Begriff. Und die
Initiativen zeigen erste Erfolge: Die Max-PlanckGesellschaft hob nicht nur den Stipendiensatz an, sondern führte vor allem eine explizite Begründungspflicht ein, wenn statt einer Stelle ein Stipendium
vergeben werden soll. Die DFG hat sich bereits vor
längerem entschieden, statt der üblichen halben
Stellen mindestens 65 Prozent zu finanzieren.
Diese ersten guten Beispiele sind zu loben. Wir
brauchen nun jedoch ein politisches Umdenken auf
breiter Front, das bei der Koalition bisher nur im
Wünschen und nicht im Machen besteht. Union und
FDP hatten in einem Antrag erklärt, dass sie die Vertragslaufzeiten an die Promotionsphase angleichen
und einen einheitlichen Doktorandenstatus einführen
wollen. Allein: Das waren nur Ankündigungen. Nicht
Ihr Druck, meine Damen und Herren von der Koalition, hat die Max-Planck-Gesellschaft zur eben angesprochenen Verbesserung der Situation gebracht, sondern der Protest der Promovierenden und eine Kleine
Anfrage unserer Fraktion! Das belegt das entsprechende Rundschreiben der Geschäftsführung.
Wir wollen, dass die 200 000 Promovierenden in unserem Land endlich die verdiente Anerkennung, gute
Zu Protokoll gegebene Reden
Arbeitsbedingungen und sichere Karriereperspektiven
bekommen. Dazu gehört dann auch mehr als Bezahlung und Vertragsdauer: ein transparentes und offenes
Auswahlverfahren statt professoraler Rosinenpickerei
und eine echte und wirksame Öffnung der Promotionsverfahren für Fachhochschulen und ihre Absolventinnen und Absolventen. Die Dissertation sollte zukünftig
nicht mehr als Freizeitvergnügen gewertet, sondern
als Teil der wissenschaftlichen Arbeit im Rahmen einer
vollen Stelle vergütet werden. Die Betreuungsverpflichtung sollte flächendeckend in Promotionsvereinbarungen niedergelegt werden.
Die Promotionsphasen sind weder „Lehrjahre“
noch „Herrenjahre“. Es ist eine Zeit engagierter Arbeit im Dienste von Forschung und Wissenschaft, die
mehr Freiraum und mehr Sicherheit braucht. Unser
Antrag hat Vorschläge dazu unterbreitet.
Deutschland hat eine außergewöhnlich hohe Promotionsquote. Dafür gibt es spezifische Gründe: In
Deutschland ist die Promotionsphase nicht nur die
erste Berufsstation in der Wissenschaftskarriere. Die
Promotion in Deutschland ist auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als Qualitätsauszeichnung anerkannt - und zwar nicht nur in den Sonderfällen Medizin und Chemie. Dieser Doppelcharakter lässt sich
nicht ohne massive Verwerfungen auflösen, und wir
Grünen wollen ihn im Unterschied zur Linkspartei
auch gar nicht auflösen. Wir wollen vielmehr die Vielfalt der Wege zur Promotion erhalten.
Externe Promotionen neben dem Beruf oder Promotionen mit Stipendien haben genauso ihre Berechtigung wie Promotionen auf Qualifizierungsstellen.
Strukturierte Angebote in Kollegs und Graduiertenschulen sind auszubauen, ohne die Möglichkeit zur
klassischen Einzelpromotion einzuschränken. Entscheidend ist es, für jeden dieser Wege die Bedingungen zu verbessern. Das hilft den Promovierenden, das
wird aber auch die Qualität der Promotionen weiter
erhöhen.
Durch die Exzellenzinitiative und die Graduiertenschulen ist die Promotionspraxis in den letzten Jahren
in Bewegung gekommen. Die Universitäten übernehmen immer mehr Verantwortung für die Promotion.
Von dieser Verobjektivierung können und sollen alle
Promotionsverhältnisse profitieren.
Das beginnt mit einem einheitlichen Gruppenstatus
für Promovierende, damit endlich transparent wird,
wie viele Menschen in Deutschland überhaupt promovieren und wer, wo und bei wem promoviert oder auch
sein Promotionsvorhaben abbrechen muss. Ohne diesen Gruppenstatus ist auch eine effektive Interessenvertretung schlicht nicht möglich.
Verobjektivierte Verfahren braucht es auch beim Zugang zur Promotion, damit er fairer wird und die Qualität gesichert wird. Promotionsmöglichkeiten sollten
grundsätzlich in einem offenen und transparenten Bewerbungsverfahren vergeben werden. Das gilt für Stellen wie für Stipendien oder die Betreuung Externer.
Die Chancen zum Promovieren dürfen nicht nur diejenigen haben, die ihrem Doktorvater inhaltlich und habituell am ähnlichsten sind oder schon im Studium am
Rockzipfel ihrer Doktormutter hingen. Hierzu gehört
auch, dass sehr gute FH-Absolventinnen und -Absolventen eine faire Chance zu promovieren bekommen.
Hier müssen sich die Universitäten für Kooperationen,
zum Beispiel auch für kooperative Kollegs zwischen
Fachhochschulen und Universitäten, öffnen.
Wir wollen auch, dass es für jedes Promotionsvorhaben eine individuell zugeschnittene - beide Seiten
bindende - Promotionsvereinbarung gibt. Promotionsvereinbarungen helfen, die Promotionsphase zu strukturieren, und vergegenwärtigen den betreuenden Professorinnen und Professoren, welche Verpflichtungen
sie gegenüber den Promovierenden eingehen.
Promovierenden auf Qualifikationsstellen muss darüber hinaus ausreichend Zeit für die eigene Arbeit an
der Promotion zur Verfügung stehen. Wir wollen, dass
das im Arbeitsvertrag explizit festgehalten wird. Außerdem soll die Befristung in der Regel so terminiert
werden, dass die Qualifizierungsarbeit in diesem Zeitraum auch abgeschlossen werden kann.
Promovierenden ohne Qualifikationsstelle fehlt dagegen häufig die Anbindung an die Universität und
den Wissenschaftsbetrieb. Wir wollen, dass auch Promovierende mit Stipendium oder im Beruf regelmäßig
an Forschungskolloquien teilnehmen können, dass ihnen Qualifizierungen angeboten werden und dass sie
die Gelegenheit bekommen, Lehrerfahrung zu sammeln. Reguläre Arbeitsleistungen im Labor oder in der
Lehre haben dagegen bei einer Stipendienfinanzierung
nichts zu suchen. Stipendiatinnen und Stipendiaten
sollten aber in jedem Fall wie Studierende in der gesetzlichen Krankenversicherung einen besonderen Tarif erhalten. Auch dafür ist ein einheitlicher Status an
der Uni sinnvoll.
Bei allen berechtigten, sinnvollen und erforderlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Promotionsbedingungen: Die größten Probleme für den wissenschaftlichen Nachwuchs bestehen heute aus meiner
Sicht nicht bei den Promotionen, sondern im PostdocBereich. Das kommt im vorliegenden Antrag der
Linkspartei viel zu kurz.
Entscheidend ist es, den hochmotivierten und ausgezeichneten Postdocs verlässlichere, berechenbarere
Anschlussperspektiven im Wissenschaftsbereich zu
geben, um tatsächlich die besten Köpfe in der Wissenschaft zu halten. Dazu brauchen wir keine
200 000 Vollzeitpromotionsstellen, wie es die Linkspartei vorschlägt, sondern ausgewogenere Personalstrukturen - an den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, vor allem aber an den Universitäten.
Nötig sind genügend mehrjährige Postdoc-Stellen, Juniorprofessuren und Professuren. Nötig sind aber auch
neue Personalkategorien für selbstständige Forschung
Zu Protokoll gegebene Reden
und Lehre neben der Professur, damit nicht jede erfahrene Wissenschaftlerin und jeder erfahrene Wissenschaftler, die oder der den Sprung auf eine der wenigen Vollprofessuren nicht oder nicht gleich schafft, gar
keine Perspektive an der Hochschule mehr hat. Denn
nur mit abhängigen Forschungs- und Lehranfängerinnen und -anfängern - und genau das sind die Promivierenden - werden die gewachsenen Aufgaben der
Universitäten in Forschung und Lehre, Wissens- und
Technologietransfer, Weiterbildung oder Internationalisierung nicht zu bewältigen sein.
Der wissenschaftliche Nachwuchs ist der Garant einer guten Zukunft: Viele globale Herausforderungen,
etwa der Sieg über die Volkskrankheiten, die Bewältigung des Klimawandels oder die Sicherung der
Welternährung, werden wir nur bewältigen, wenn gute
Wissenschaftler auch in Zukunft weiter engagiert und
couragiert an deren Lösung arbeiten.
An dem Umgang mit unseren zukünftigen Talenten
und Leistungsträgern der Gesellschaft entscheidet
sich, wie unsere Hochschulen und unser Land im globalen Wettbewerb von Wissenschaft und Forschung
dastehen werden. Deshalb sind eine ausgezeichnete
Ausbildung, gute Arbeitsbedingungen und kalkulierbare Berufsperspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses und im Besonderen von Promovierenden für
die Bundesregierung von großer Bedeutung.
Die Bundesregierung kümmert sich auf vielfache
Weise um die Zukunftschancen von Promovierenden im
Besonderen und von Nachwuchswissenschaftlern im
Allgemeinen:
So schaffen wir mit der Exzellenzinitiative 5 400
neue Beschäftigungsmöglichkeiten für den Nachwuchs; 45 Graduiertenschulen sind entstanden. Auch
in den großen thematischen Rahmenprogrammen, so
etwa aktuell im Rahmenprogramm der Geistes- und
Sozialwissenschaften, und im Gesundheitsforschungsprogramm sind Nachwuchsgruppen als wichtiges
strukturbildendes Element verankert.
Die Mittel für die Promotionsstudierenden in den
Begabtenförderwerken haben wir von 30 auf 50 Millionen Euro jährlich angehoben. Damit stehen jedem
Promovierenden monatlich 1 050 Euro zur Verfügung.
Die Programme „PhD-Net“ und „International
Promovieren“ sind große Erfolge. Die Mittel des
DAAD und für die Alexander-von-Humboldt-Stiftung
steigen im jüngst beschlossenen Haushalt 2013 erneut
an. Dies ermöglicht es, dass mehr Promovierende internationale Erfahrung sammeln können.
Mit dem KISSWIN-Netzwerk fördern wir den regelmäßigen Austausch und die Information Promovierender über ihre Karriereoptionen.
Nicht zuletzt haben wir mit dem erstmals 2008 von
Bundesministerin Annette Schavan vorgelegten „Bundesbericht zur Förderung des Wissenschaftlichen
Nachwuchses“ ein neues Instrument geschaffen, das
die Situation und die Fördernotwendigkeiten transparent macht. Im kommenden Jahr werden wir den
nächsten Bericht vorlegen.
Ich glaube, diese Bilanz ist beeindruckend, und dennoch sage ich ausdrücklich: Es besteht an diversen
Stellen Verbesserungsbedarf, der jedoch vielfach nicht
durch den Gesetzgeber, sondern nur durch eine Veränderung der Kultur an den Hochschulen erreicht werden kann. Auch der Wissenschaftsrat konstatiert, dass
es kein legislatives Defizit bei der arbeitsrechtlichen
Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse von
Promovenden gibt. Die Schaffung von zusätzlichen
Stellen statt der Ausgestaltung als Stipendium, die Abkehr von unzumutbar kurzen Laufzeiten der Verträge,
bessere pädagogische Betreuung und ebenso die Planbarkeit und Flexibilität von Karriereverläufen kann
nicht gesetzlich verordnet, sondern nur durch die
Hochschulen gelebt werden.
Das bestehende Lehrstuhlsystem, in dem dem Lehrstuhlinhaber mehrere Assistenten unterstellt sind, reflektiert nicht mehr die Bedürfnisse einer modernen
Forschungspolitik. Damit Hochschulen auch für Spitzenforscher attraktiver werden, sollte man darüber
nachdenken, in Experimentalfakultäten mehr Selbstständigkeit des Nachwuchses von Anfang an zu praktizieren. Die Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen müssen Qualitätsstandards für die Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen von Promovenden
genauso wie für deren Ausbildung definieren und umsetzen.
Die im Antrag geforderte Datengewinnung über
Promovierende ist in der Tat erforderlich und wurde
von uns bereits in Angriff genommen. Wir benötigen
Daten über Promovierende auch zur Weiterentwicklung des Hochschul- und Wissenschaftssytems - und
zwar hinsichtlich seiner nationalen wie auch internationalen Bedeutung. Das Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung, iFQ, stellt zu diesem
Zweck am 30. November 2012 die mit Mitteln des
BMBF geförderte „Machbarkeitsstudie zur Doktorandenerfassung und Qualitätssicherung von Promotionen an deutschen Hochschulen“ vor. Wir versprechen
uns vergleichbare Informationen über Doktoranden
von dem Beginn ihrer Promotionsphase an, um auf der
Grundlage zuverlässiger Daten den notwendigen Reformprozess voranzutreiben. Zur Unterstützung der
Karriereforschung von Promovierten beteiligt sich
auch das Statistische Bundesamt auf Veranlassung des
BMBF an einer internationalen Studie von UNESCO,
OECD und Eurostat. Erste Ergebnisse für Deutschland werden im Frühjahr 2013 vorliegen.
Datengewinnung über Promovierende ist nur ein
Element des Engagements der Bundesregierung. Das
BMBF hat vielfältige Initiativen gestartet, um Hochschulforschung zu initiieren. Seit August 2012 läuft
unsere Ausschreibung „Forschung zu den Karrierebedingungen und Karriereentwicklungen des WissenZu Protokoll gegebene Reden
schaftlichen Nachwuchses“. Mithilfe der geförderten
Forschungsvorhaben werden wir dieses Feld systematisch und kontinuierlich aus- und aufbauen.
Hinzu kommt, dass die Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates „Karrierewege im Wissenschaftssystem“
derzeit Empfehlungen erarbeitet, die sich auch mit
den Möglichkeiten einer aktiven Personalentwicklung
durch die Hochschulen und Forschungsinstitute befasst. Dabei werden Karriereperspektiven jenseits der
ordentlichen Professur in den Blick genommen und
wird ermittelt, wie sie sich in Forschung und Lehre,
Administration und Management herausgebildet haben. Eine Erhöhung der Planstellen an unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungen kann aber nur
eine der Lösungen sein. Wir müssen den Promovenden
auch alternative Karrierewege außerhalb der Wissenschaft aufzeigen.
Die im Antrag geforderte Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes wäre kontraproduktiv: Die
sogenannte Tarifsperre des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ({0}) gilt nur für den
Kernbestand der Befristungsregelungen und besagt
konkret, dass davon nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf.
Unzulässig sind damit aber nur solche Vereinbarungen der Tarifpartner, die den konkreten Befristungstatbeständen zuwiderlaufen. Den Tarifparteien stehen
daher ausreichende Bereiche zur tariflichen Regelung
zur Verfügung. So könnten sie sich selbstverständlich
auf bestimmte Mindestvertragslaufzeiten verständigen
und sie an Qualifikationszeiten oder der Dauer von
Drittmittelförderung orientieren. Gesetzgeberische Maßnahmen wären hier nicht zielführend. Eine notwendigerweise allgemeine gesetzliche Regelung würde
zudem den spezifischen Verhältnissen in den unterschiedlichen Forschungsbereichen kaum Rechnung
tragen können.
Auf Initiative des BMBF wurde im Anschluss an die
Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes in
der Allianz der Wissenschaftsorganisationen ein
Diskussionsprozess in Gang gesetzt, der mit der im
Dezember 2011 erfolgten klaren Positionierung der
Allianz und den von der Mitgliederversammlung der
Hochschulrektorenkonferenz im April dieses Jahres
beschlossenen Leitlinien zu ersten Ergebnissen geführt
hat. Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind
sich ihrer Verantwortung für die Nachwuchsförderung,
auch im Sinne von besserer Planbarkeit und Transparenz wissenschaftlicher Karrierewege, bewusst. Dieser
eingeleitete Prozess muss jetzt zielgerichtet weitergeführt werden.
Gesetzliche Maßnahmen, wie sie in dem Antrag gefordert werden, wären daher der falsche Weg und würden das von uns angestrebte Ziel, für wissenschaftliche
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlässliche Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen, erheblich
beeinträchtigen.
Die Bundesregierung wird auch in Zukunft intensiv
für die Interessen von Promovierenden und Nachwuchswissenschaftlern eintreten. Jedem Einzelnen von
ihnen wünsche ich viel Erfolg. Denn jede Erkenntnis
eines jungen Forschers bringt unser Land voran: unseren Wohlstand, unsere Gesundheit, unsere Umwelt,
unsere Gesellschaft.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11044 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Widerspruch ist
nicht erkennbar. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian
Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Tagespflegepersonen stärken - Qualifikation steigern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neuen „Krippengipfel“ einberufen - Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung voranbringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahlfreiheit gewährleisten, Kindertagesbetreuung ausbauen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr
2010 ({2})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr
2011 ({3})
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Drucksachen 17/9925, 17/5518, 17/9929,
17/5900, 17/9850, 17/11574 Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg ({4})Caren MarksMiriam GrußDiana GolzeEkin Deligöz
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt werden die Reden zu Protokoll genommen.
Eine moderne Familienpolitik muss Antworten auf
die Frage liefern, wie Familien Berufsalltag und Familienleben in Einklang bringen sollen. An erster
Stelle steht dabei immer das Wohl der Kinder. Sie benötigen Fürsorge, Zuwendung sowie eine angemessene Betreuung und Bildung.
In der Zielsetzung einer hochqualitativen Betreuung
sind wir uns einig -das wurde in den zahlreichen Debatten, die wir hier geführt haben, deutlich -: Es muss
uns gelingen, unseren Kindern die bestmögliche Betreuung zu bieten. Und dabei darf es keine Rolle spielen, wo die Betreuung stattfindet, ob in der Kindertagesstätte, in der Tagespflege oder zu Hause.
Es ist unsere Aufgabe, Eltern die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf und somit eine echte Wahlfreiheit zu
ermöglichen. Auf keinen Fall dürfen wir und sollten
wir dabei die eine oder andere Form der Kinderbetreuung bevorzugen oder abwerten. Insbesondere haben wir uns nach den Bedürfnissen der Eltern zu richten.
Gerade immer mehr Frauen sind heutzutage erwerbstätig und steigen nach der Geburt ihres Kindes
schneller wieder in den Beruf ein. Immer mehr Männer
nehmen Elternzeit in Anspruch. Familien, in denen
beide Elternteile Verdiener sind, sind keine Seltenheit
mehr. Das Angebot an staatlich geförderter Kindertagesbetreuung wird daher immer bedeutender für die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Für diejenigen
Eltern, die sich für die Betreuung in einer Einrichtung
entscheiden, wollen wir ausreichend hochqualitative
Betreuungsplätze zur Verfügung stellen. Wie viel Gewicht wir diesem Anliegen beimessen, beweist, dass ab
dem 1. August 2013 für jedes Kind ein Rechtsanspruch
auf einen Kitaplatz geltend gemacht werden kann.
Die Verantwortung für den Krippenausbau liegt in
erster Linie bei den Ländern und Kommunen. Auf dem
Krippengipfel im Jahr 2007 haben wir uns jedoch darauf verständigt, dass sich der Bund an der Länderaufgabe „Ausbau der Betreuungsplätze“ beteiligt. Der
Bund hält sich an diese gemachte Zusage: Er investiert
4 Milliarden Euro in den Ausbau von Kindertagesstätten, ab 2014 weitere 770 Millionen in die Betriebskosten. Darüber hinaus starten das Bundesfamilienministerium und die KfW Bankengruppe Anfang 2013 zwei
neue Förderprogramme für den Ausbau von Kindertagesstätten. Für die Kommunen und die anderen Träger
von Kindertagesstätten stehen dann KfW-Kredite in
Höhe von insgesamt 350 Millionen Euro zur Verfügung.
Zielsetzung des Ausbaus war es, bis zum Jahr 2013
eine bundesdurchschnittliche Betreuungsquote von
35 Prozent zu erreichen und 750 000 Betreuungsplätze
bereitzuhalten. Allein 30 Prozent der neu zu schaffenden Plätze in der Kinderbetreuung sollen in der Tagespflege entstehen. Diese Zielmarke hat sich mittlerweile
aufgrund demografischer Entwicklungen und einer anderen Bedarfssituation auf 39 Prozent und 780 000 Plätze
erhöht. Der Bund erklärt sich deshalb bereit, den Ländern erneut unter die Arme zu greifen: Er stellt zusätzliche 580 Millionen Euro für Investitionen und 75 Millionen Euro für den Betrieb zur Verfügung.
Aber diese Mittel müssen die Länder auch abrufen.
Immer noch stehen 700 Millionen Euro der 4 Milliarden Euro Ausbaugelder zur Verfügung. Auch wenn wir
nicht verkennen, dass die Länder aufgrund der Schuldenbremse sparen müssen, darf dies nicht dazu führen,
dass der Ausbau der Kindertagesstätten vernachlässigt wird. In den vergangenen drei Jahren hätte viel
mehr passieren können und mehr passieren müssen.
Das wäre der Fall, wenn das vom Bund bereitgestellte
Geld zu 100 Prozent vor Ort in der Kindertagesbetreuung ankommen würde.
Was wurde mit den Geldern bisher aber erreicht?
Der aktuelle Dritte Zwischenbericht zur KiföG-Evaluation zeigt, dass die Betreuungsquote im vergangenen Jahr im Bundesdurchschnitt um 2,3 Prozent
gestiegen ist. Wir erreichen mittlerweile eine durchschnittliche Betreuungsquote von 25,4 Prozent vielversprechende Resultate, die bestätigen, dass die
Ausbaubemühungen grundsätzlich in die richtige
Richtung gehen.
Der Bericht bescheinigt jedoch auch, dass es zwischen den ost- und den westdeutschen Bundesländern
noch deutliche Unterschiede bei den Ausbauquoten
gibt. Regionale Differenzen bestehen darüber hinaus
auch in der Bedarfsbeschreibung zwischen Stadt und
Land: Hohe Bedarfe existieren beispielsweise mit jeweils 61 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen-Anhalt und mit 57 Prozent in Brandenburg,
während in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein Betreuungsquoten zwischen 30 und
35 Prozent nachgefragt werden. Einige Länder werden
demnach mehr als andere Probleme haben, den Wünschen der Eltern nach einer Kindertagesbetreuung
nachzukommen. Hier muss rasch nachgebessert werden.
Am Beispiel Mecklenburg-Vorpommern ist besonders bemerkenswert, dass die dortige zuständige Sozialministerin Manuela Schwesig medienwirksam den
Ausbaustand in CDU-geführten Ländern kritisiert.
Aber es zeigt sich, dass es sinnvoller wäre, zunächst
vor der eigenen Haustür zu kehren. Mecklenburg-Vorpommern bildet das Schlusslicht aller ostdeutschen
Länder, wenn es um die Diskrepanz zwischen dem Be25856
Marcus Weinberg ({0})
treuungswunsch der Eltern und der tatsächlichen Ausbauquote geht.
In den vergangenen Jahren ist nicht nur ausgebaut
worden, es ist auch gelungen, neue Fachkräfte zu gewinnen. Die Anzahl der pädagogischen Fachkräfte in
den Kindertageseinrichtungen ist um etwa ein Viertel
und die Zahl der Tagespflegepersonen um mehr als
40 Prozent gestiegen - auch wenn dies Prognosen zufolge nicht ausreichen wird.
Trotz vieler Initiativen in Bund und Ländern können
wir noch nicht vorhersagen, ob bis dahin die ausreichende Anzahl von Tagespflegepersonen für die Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Aber es ist nicht nur
Aufgabe des Bundes allein, für eine ausreichende Zahl
qualifizierter Tagespflegepersonen Sorge zu tragen.
Die Länder müssen in erster Linie dazu beitragen. Wir
fordern die Länder in unserem Antrag daher erneut
ausdrücklich dazu auf, ihre Verpflichtungen beim Kitaausbau einzuhalten. Der Bund handelt, auch die Länder müssen ihrer Verpflichtung nachkommen. Insbesondere sollten sie die vom Bund bereitgestellte finanzielle Unterstützung direkt vor Ort nutzen, um die
Betreuungssituation weiter zu verbessern.
Weitere Zukunftsaufgabe ist die Sicherstellung der
Qualifizierung des Fachpersonals in Einrichtungen
und in der Tagespflege. Tagesmütter und Tagesväter
leisten einen sehr wichtigen Beitrag zum Ausbau, und
laut dem Dritten Zwischenbericht zur KiföG-Evaluation nimmt die Zahl der Kinder, die von Tagespflegepersonen betreut werden, erfreulicherweise weiterhin
zu.
Neben der Bereitstellung finanzieller Mittel hat der
Bund die Länder auch mit Maßnahmen zur Qualifizierung der Erzieherinnen und Erzieher unterstützt. Auf
den Weg gebracht wurden die Programme „Mehr
Männer in Kitas“, die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, WiFF, oder auch das Aktionsprogramm Kindertagespflege. Initiativen wie
diese tragen dazu bei, dass die Qualifizierung der
Fachkräfte laut nationalem Bildungsbericht von 8 auf
22 Prozent gesteigert werden konnte. Ebenso hat sich
der Anteil der Tagespflegepersonen, die keinen Qualifizierungskurs absolviert haben, auf 14 Prozent und
damit auf die Hälfte reduziert.
Der von uns vorgelegte Antrag thematisiert die
Qualifikation von Tagespflegepersonen und die zum
Teil schwierigen Rahmenbedingungen für viele Tagesmütter und Tagesväter. Weil sie zum großen Teil selbstständig sind, müssen sie finanziell selbst für ihre Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Altersvorsorge
aufkommen. Darüber hinaus ist eine leistungsgerechte
Ausgestaltung der Vergütung für Tagespflegepersonen
erforderlich. Durch die EU-Hygieneverordnung und
deren Umsetzung in den Bundesländern ist unter Tagesvätern und Tagesmüttern Unsicherheit darüber entstanden, inwieweit die Eigenschaft eines Lebensmittelunternehmers erfüllt wird, aus der umfangreiche
Dokumentationspflichten und Kontrollen folgen.
Wir wollen die Fachkräfte in der Tagespflege stärken und sie dabei unterstützen, die eigene Qualifikation zu steigern. Wir fordern daher zunächst, die rechtlichen und finanziellen Bedingungen zu verbessern.
Dies betrifft vor allem eine Förderung von Festanstellungsverhältnissen. Ein weiteres Anliegen ist eine angemessene Vergütung, die Gegenstand einer gemeinsamen Initiative von Bund, Ländern und Kommunen
werden soll. Die Ergebnisse der Expertise zur leistungsgerechten Vergütung von Kindertagespflegepersonen als Grundlage für zukünftige Vergütungsmodelle
soll dabei hilfreich herangezogen werden. Ebenso
richten wir einen Appell an die Länder, die EU-Hygienevorschriften für Tagesmütter und Tagesväter unbürokratisch auszulegen.
Unser Antrag greift damit die wesentlichen Punkte
auf und wird damit der Bedeutung der Tagespflege in
der Kindertagesbetreuung gerecht. Eine breite Unterstützung durch alle Fraktionen im Hause für unseren
Antrag wäre ein mehr als positives Signal.
Früher hieß es immer nur „the economy matters“,
also: Was zählt, ist die Wirtschaft. Heute ist die Gesellschaft einen Schritt weiter. Es ist bekannt, dass Familien-, Arbeits- und Wirtschaftspolitik miteinander verzahnt und politische Maßnahmen nur dann erfolgreich
sind, wenn sie ressortübergreifend abgestimmt sind.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung aber scheint das
nicht begriffen zu haben. Wie sonst soll man sich erklären, dass ihre Politik komplett widersprüchlich ist?
Mal betonen Sie, meine Damen und Herren von
Schwarz-Gelb, die Notwendigkeit des Krippenausbaus
und einer höheren Frauenerwerbstätigkeit. Dann wieder setzen sie mit dem Betreuungsgeld sinnlose Anreize für Frauen, um daheim zu bleiben. Dann wieder
überlegen sie sich - quasi als populistisches kleines
Bonbon vor der Wahl - eine Haushaltshilfenprämie,
die voraussichtlich vor allem denjenigen nützt, die sich
ohnehin schon eine Haushaltshilfe leisten können.
Was Sie sich offenbar nicht fragen, ist: Was wollen
die Menschen in diesem Land? Egal ob auf dem Land
oder in der Stadt, eines ist klar: Die allermeisten Eltern wünschen sich mehr und bessere Angebote der
frühkindlichen Bildung und Betreuung für ihre Kinder.
Sie wollen, dass ihre Kinder sicher aufgehoben sind
und gefördert werden. Und sie wollen beruhigt ihrer
Arbeit nachgehen können. Hier gute Rahmenbedingungen zu schaffen wäre vor allem die Aufgabe der zuständigen Bundesfamilienministerin.
Es grenzt allerdings an eine Tragikomödie, wie
Frau Schröder jedes Mal den Schwarzen Peter an die
Länder und Kommunen abgibt, wenn es darum geht,
die familienpolitischen Herausforderungen in unserem
Land zu meistern. Von ihr ist dann zu hören: „Kitaausbau?“ - „Die Länder müssen sich eben mehr anstrengen!“ - „Mehr Qualität in den Betreuungseinrichtungen?“ - „Das ist Ländersache!“ - „Bessere Ausbildung
sowie bessere Bezahlung der Erzieherinnen und ErzieZu Protokoll gegebene Reden
her?“ Erneut lautet die Antwort Schröders: „Das müssen die Länder und Kommunen hinbekommen!“
Es bleibt die Frage, worin die Familienministerin
eigentlich ihre eigene Aufgabe sieht. Es ist erschreckend, dass die Bundesregierung seit Jahren eine Antwort schuldig bleibt, wie sie mit Volldampf den quantitativen und qualitativen Ausbau voranbringen will.
Das ist umso schlimmer, je näher das Inkrafttreten des
Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz für Kinder ab
dem ersten Geburtstag rückt. Es bleiben nur noch acht
Monate!
Die SPD-Bundestagsfraktion hingegen hat schon
lange ihre Hausaufgaben bei diesem Thema gemacht.
In unserem Antrag „Neuen Krippengipfel einberufen Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung voranbringen“, Drucksache 17/5518, zeigen wir die notwendigen Schritte auf, die gemacht werden müssen.
Auch hat die SPD einen umfassenden Aktionsplan zum
Kitaausbau und zur Sicherung des Rechtsanspruchs
vorgelegt.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert seit Jahren,
dass sich die Bundesregierung mit Ländern und Kommunen in einem Krippengipfel an einen Tisch setzt,
eine neue Bedarfsanalyse erstellt und konkrete Schritte
zur Forcierung des Krippenausbaus verabredet. Solche Initiativen sind zusätzlich auch auf Landesebene
notwendig. Die SPD redet nicht nur, sondern handelt
auch: So hat Nordrhein-Westfalen nach der Regierungsübernahme durch die SPD schnell einen Krippengipfel einberufen, nachdem die CDU-geführte Vorgängerregierung den Krippenausbau verschlafen
hatte. Würde die Bundesfamilienministerin jetzt einen
Krippengipfel einberufen, wäre sie schon ziemlich spät
dran. Das Statistische Bundesamt hat mit Stichtag
1. März 2013 Zahlen vorgelegt, wonach bis zum August 2013 noch rund 220 000 Plätze für Kleinkinder
geschaffen werden müssen. Der Betreuungsausbau
muss also weiter vorankommen, insbesondere in den
westdeutschen Ländern. All diese Probleme beim Kitaausbau sind nicht neu. Es ist daher unverständlich,
warum sich die Bundesregierung seit Jahren unserer
Forderung nach einem Krippengipfel verweigert. Die
Bundesregierung hat die Dringlichkeit, hier zu handeln, völlig ignoriert.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,
Ihr Antrag zur Verbesserung der Qualität in der Kindertagespflege kommt zu spät. Es ist bereits „fünf vor
zwölf“ und plötzlich kommen sie darauf, dass Sie noch
einiges zu erledigen haben. Grundsätzlich begrüßen
wir alle konstruktiven Initiativen, um die Qualität auch
in der Tagespflege zu verbessern. Deshalb lehnen wir
diesen Antrag auch nicht ab, sondern enthalten uns.
Problematisch finden wir, dass in diesem Antrag vor
allem auf bestehende Maßnahmen Bezug genommen
wird oder reine Prüfaufträge erteilt werden sollen.
Das ist uns nicht konkret genug.
Wir fordern: Der Bund soll in Zusammenarbeit mit
Ländern und Kommunen Maßnahmen zum Ausbau und
zur Qualifizierung der Tagespflege erweitern. Dabei
wollen wir Tagespflege und Kitas besser vernetzen und
die Übergänge gut gestalten. Klar ist aber auch: Zwischen März 2009 und März 2012 entstanden zum Beispiel in Westdeutschland lediglich 20 Prozent der
neuen Betreuungsplätze bei einer Tagesmutter oder einem Tagesvater. Die Bundesregierung sollte den Fokus
besonders auf die Kindertagesstätten legen; denn dort
wird der weit überwiegende Teil der Kleinkinder, die
sich insgesamt in der Kindertagesbetreuung befinden,
betreut.
Der Betreuungsausbau und die Verbesserung der
Qualität in den Einrichtungen kosten Geld - Geld, das
bald fehlen könnte. Die rund 2 Milliarden Euro, die
das Betreuungsgeld voraussichtlich Jahr für Jahr kosten wird, gefährden den Kitaausbau noch weiter. Diese
Mittel müssen dringend und dauerhaft in den forcierten Ausbau und in den Betrieb von Kitas und Tagespflege investiert werden. Rund 160 000 zusätzliche
Plätze könnten damit entstehen, und deren Betrieb
könnte damit finanziert werden. Das entspricht dem
Großteil der Plätze, die noch geschaffen werden müssen, um den Rechtsanspruch zu erfüllen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
setzen auf Kitaausbau statt auf Fernhalteprämie. Unser auf dem SPD-Bundesparteitag Ende 2011 verabschiedetes Konzept „Familienland Deutschland“
beinhaltet einen Stufenplan, mit dem flächendeckend
Ganztagskitas und Ganztagsschulen bis 2020 in
Deutschland ausgebaut werden sollen. Unsere Vorschläge sind übrigens mit einem Finanzierungskonzept
unterfüttert.
Es ist ein wichtiger Schritt, dass auf Druck der SPD
der Bund endlich seinen Finanzierungsanteil sowohl
bei den Investitionskosten als auch bei den Betriebskosten ausweitet. Natürlich sind auch die Länder in
der Verantwortung, den Kommunen zügig und ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Hier
sehen wir alle Ebenen in der Verantwortung. Mit dem
Schwarzer-Peter-Spiel der Ministerin Schröder muss
endlich Schluss sein. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Bund genauso wie in Ländern und
Kommunen betrachten den Kitaausbau als nationale
Kraftanstrengung und nehmen ihre Verantwortung
ernst.
Dringend notwendig ist es zudem, dass die Bundesregierung in enger Zusammenarbeit mit Ländern,
Kommunen und Trägern eine bundesweite Fachkräfteinitiative startet, um den steigenden Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern zu decken. Dabei sind die
Bundesagentur für Arbeit sowie die Gewerkschaften
und Berufsverbände zu beteiligen. Die Länder sind gefordert, Ausbildung, Umschulung und berufsbegleitende Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern
unter Wahrung hoher Qualitätsstandards weiter zu
fördern. Der wachsende Fachkräftebedarf wird nur zu
decken sein, wenn die Arbeitsbedingungen im Erzieherberuf verbessert werden. Erzieherinnen und Erzieher müssen besser verdienen und brauchen bessere
Zu Protokoll gegebene Reden
Aufstiegschancen, damit dieses Berufsbild für Nachwuchs attraktiver wird. Wenn wir wollen, dass die Kindertagespflege weiter qualifiziert und aufgewertet
wird, brauchen wir auch in diesem Bereich eine bessere Bezahlung. In dem Antrag von CDU/CSU und
FDP ist hierzu übrigens keine einzige Forderung enthalten.
Wir werden nicht müde, deutlich zu machen: Ein
flächendeckendes Angebot an Kinderbetreuung ist die
beste Armutsprävention: Denn nur Erwerbstätigkeit
verhilft Familien zu einer eigenständigen Existenzsicherung. Genauso wichtig ist: Gute Angebote der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung sind das
Fundament für eine bestmögliche Förderung von Kindern und ihre Inklusion in die Gesellschaft. Der Staat
muss mehr dafür tun, um den Ausbau dieser Angebote
voranzubringen. Versäumnisse im Bereich der frühkindlichen Bildung können zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr aufgeholt werden.
Spätestens jetzt ist es amtlich: Diese Bundesregierung hat für den Ausbau der Kindertagesbetreuung
mehr getan als jede andere Regierung zuvor. Der
zweite und dritte Zwischenbericht der Bundesregierung belegen die beeindruckende Entwicklung der
letzten Jahre.
Unser Antrag zur Förderung der Kindertagespflege
zeigt, dass wir nicht nur von Vielfalt in der Betreuung
sprechen, sondern sie auch ganz konkret fördern.
Im März 2011 besuchten über 517 000 Kinder im
Alter unter drei Jahren eine Kindertageseinrichtung
oder wurden in der Kindertagespflege betreut. Im
März 2012 wurden dann sogar schon 558 000 Kinder
unter drei Jahren in einer Kindertageseinrichtung
oder öffentlich geförderter Kindertagespflege betreut.
Es sind also in einem Jahr gut 40 000 zusätzliche
Plätze geschaffen worden.
Trotzdem fehlen noch immer rund 220 000 Plätze.
Das zeigt, was für eine Mammutaufgabe noch vor den
Ländern und Kommunen liegt. Aber die Dynamik ist
gut: Allein mein Heimatland Bayern hat zwischen
2006 und 2010 die Zahl der Betreuungsplätze mehr als
verdoppelt. Schleswig-Holstein hat sie sogar mehr als
verdreifacht. 97 Prozent der Bundesmittel sind bereits
verplant.
Die schwarz-gelbe Koalition hat aber noch weitere
Schritte unternommen, um die Ausbaudynamik zu steigern:
Erstens haben wir den Ländern noch einmal
580,5 Millionen Euro Investitionszuschüsse und weitere Betriebskostenzuschüsse zur Verfügung gestellt,
um die zusätzlich benötigten 30 000 Plätze zu finanzieren.
Zweitens hat die Bundesregierung mit dem ZehnPunkte-Programm auf die noch nicht ausreichende
Dynamik beim Ausbau reagiert. Das beinhaltet ein
Festanstellungsprogramm für Tagespflegepersonen,
für das bis 2014 insgesamt 10 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Und es beinhaltet eine Werbekampagne
für die Tagespflege, die Sie gegenwärtig in ganz
Deutschland sehen können. Auch ein Programm zur
Unterstützung von Betriebskitas gehört dazu.
Ich freue mich, dass wir heute auch den Antrag „Tagespflegepersonen stärken - Qualifikation steigern“
verabschieden. Damit geben die Koalitionsfraktionen
nicht nur ein klares Bekenntnis zur Tagespflege ab, die
ein wichtiger Baustein des U3-Ausbaus ist, sondern
wir machen auch ganz konkrete Vorschläge. So wollen
wir ergänzend zu „Mehr Männer in Kitas“ ein Programm für die Gewinnung von Männern für die Tagespflege starten. Auch eine Initiative für faire Bezahlung
von Tagesmüttern und Tagesvätern fordern wir. Aber
auch bei der Kindertagespflege sind die Länder gefordert. Sie müssen ihre Spielräume nutzen, zum Beispiel
bei einer unbürokratischen Auslegung und Anwendungspraxis der EU-Hygiene-Verordnung.
Auch bei der Erzieherausbildung muss mehr geschehen. Uns fehlen gut qualifizierte, liebevolle Erzieherinnen und Erzieher, Tagesväter und Tagesmütter.
Die kann man nicht von heute auf morgen einstellen,
sondern muss sie ausbilden. Das braucht Zeit. Dem
Erziehermangel muss man aber auch durch die Schaffung von mehr Vollzeitstellen begegnen. Hier sind vor
allem die Kreise und Kommunen gefordert, Teilzeitstellen in Kitas in Vollzeitstellen umzuwandeln. Das
würde eine erhebliche Ausweitung der Betreuungsangebote bedeuten und wäre auch der Wunsch vieler
Frauen im Erzieherberuf.
Wir ziehen trotz aller Bemühungen, die noch folgen
müssen, eine positive Bilanz. Wir haben dieses Land
umgekrempelt! Noch vor wenigen Jahren gab es vielerorts - vor allem in den alten Bundesländern - kaum
Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Heute
dagegen gibt es ein fast flächendeckendes Angebot zwar sind es noch zu wenig Plätze, aber es gibt sie.
Wenn die Qualität der Betreuung stimmt, dann ist
diese neue Realität ein Gewinn für alle Seiten. Und genau deshalb werden wir Liberale uns auch weiterhin
für die Qualität der Kindertagesbetreuung einsetzen weil eine familienfreundliche Infrastruktur heißt, dass
Qualität und Quantität in der Kinderbetreuung stimmen.
Kindertagesbetreuung ist ein Alltagsproblem. Noch
immer kommt vielerorts ein Kitaplatz für ein unter
dreijähriges Kind einem Lottogewinn gleich. Auch vier
Jahre nach der Einrichtung eines Sondervermögens
sind Betreuungs- und damit auch Bildungsangebote
für diese Altersgruppe in nicht ausreichender Menge
vorhanden. Von einem bedarfsdeckenden Angebot gar
kann bei Weitem keine Rede sein. Die Gründe mögen
regional unterschiedlich sein. Die Unterschiede machen sich zum einen an der Ausgangssituation fest.
Während 2008 in den ostdeutschen Bundesländern beZu Protokoll gegebene Reden
reits Betreuungsquoten über dem angestrebten Ausbauziel von 35 Prozent vorhanden waren, war der
Nachholbedarf in den westlichen Ländern immens. Vor
allem im ländlichen und kleinstädtischen Raum muss
man wohl eher von einem Auf- als von einem Ausbau
sprechen. Jenseits davon, dass man gern und trefflich
darüber streiten kann, ob die Belange und Bedürfnisse
der Kommunen beim Krippengipfel 2007 wirklich in
notwendigem Ausmaß in die Ergebnisse mit
einflossen - meine Erinnerung sagt mir hier etwas anderes. Zum anderen aber hat die damalige Bundesregierung bei der Einführung des Sondervermögens für
den Ausbau der Kindertagesbetreuungsangebote das
gemacht, was sie viel zu oft tut: Sie hat die Meinung
der Fachwelt, was die Fragen der tatsächlich benötigten Betreuungsquote und das Fehlen qualitativer Mindeststandards betrifft, genauso ignoriert wie die Berechnungen des DJI, dass die Höhe dieses
Sondervermögens bei weitem nicht ausreichen wird,
um das angestrebte Ausbauziel zu erreichen. Was wir
seitdem erleben, ist eine Politik des „Nicht-sehen-Wollens“ und des „Nicht-handeln-Könnens“. Man muss
sich nur die Zeitleiste anschauen, die anhand der heute
zu verhandelnden Vorlagen deutlich wird. Während im
Antrag der SPD herausgestellt wird, dass der Deutsche Städte- und Gemeindebund noch im April 2011
auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Familienministerium deutlich machte, dass in Sachen Ausbau „dringender Handlungsbedarf“ bestehe und sich
der Ausbau „aufgrund der kommunalen Haushaltslage
schwierig“ gestalte, kann man im Bericht der Bundesregierung aus dem Mai 2012 noch immer lesen, „dass
ein bedarfsgerechter Ausbau bis August 2013 noch immer gelingen kann“. Im gleichen Bericht wird aufgerechnet, dass die Betreuungsquote im Zeitraum 2007
bis 2011 um 10 Prozent angehoben wurde. Wer soll einer Bundesregierung noch Glauben schenken, die sich
monatelang um ein Betreuungsgeld streitet, dieses
Projekt, das auf Dauer jährlich Milliarden Euro verschlingen wird, gegen den Willen der Mehrheit in der
Bevölkerung durchpeitscht und gleichzeitig alle glauben machen will, dass man für Kinderbetreuung mit einer einmaligen Einlage alle offenen Probleme lösen
kann? Eine realistische Politik sieht anders aus, verantwortungsvolles Regierungshandeln setzt andere
Prioritäten.
Auch die Mahnungen, die unter anderem immer
wieder von der GEW kamen, dass man nicht nur über
einen Ausbau der Plätze, sondern auch über massive
Anstrengungen in der Fachkräfteausbildung diskutieren muss, verhallten ungehört. Außer - für alle Beteiligten - zweifelhaften Weiterbildungsoffensiven, die
sich auf Nachfrage als Flop herausstellten, und kleinen Projektchen für soziale Brennpunkte habe ich hier
nichts gehört! Stattdessen bezahlen diejenigen, die
diese Unfähigkeit der Bundesregierung ausgleichen
sollen, auch die Zeche. Noch immer sind Tagespflegepersonen auf sich allein gestellt, schlecht bezahlt und
werden immensen privaten Risiken ausgesetzt, wenn
sie zum Beispiel ihre Wohnung für die Betreuung von
Kindern nutzen.
Man muss also konstatieren: Es ist zu großen Teilen
das Verschulden der Bundesregierung, dass in Sachen
Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige viel zu
wenig passiert. Ich würde mir wünschen, dass die
Kanzlerin hier ein genauso machtvolles Wort spricht
wie beim Betreuungsgeld. Wer das Wort „Wahlfreiheit“ im Munde führt, muss auch dafür sorgen, dass
sie in beide Richtungen möglich gemacht wird, und
zwar mit der gleichen Anstrengung und dem gleichen
Engagement. Ich erwarte, dass den Kommunen ein Angebot unterbreitet wird, das an andere Bedingungen
geknüpft ist - wie zuletzt beim Erkaufen des Ja zum
Fiskalpakt geschehen. Denn Schwarze-Peter-Spiele
helfen nicht weiter. Diese gehen zulasten der Kinder
und der Qualität von Kinderbetreuung. Wir brauchen
nicht nur einen neuen Krippengipfel - wir brauchen
einen Krippenkrisengipfel!
Es ist eine Bankrotterklärung für die Politik der
Bundesfamilienministerin, dass wir heute - nur knapp
neun Monate vor dem Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz für die unter Dreijährigen - wieder einmal über die fehlenden Plätze debattieren müssen. Dass der U3-Ausbau nur schleppend
verläuft, ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Ich erinnere an den ersten KiföG-Bericht, erschienen im Juni
2010. Da hieß es, die Ausbaudynamik müsse sich verdoppeln - verdoppeln! -, um das Ausbauziel zu erreichen. Im Juni 2011 mussten wir im zweiten KiföG-Zwischenbericht lesen: „Um wie geplant bis 2013 eine
bedarfsgerechte Kinderbetreuung zu schaffen, muss
diese Dynamik weiter gesteigert werden“. Und auch
der dritte KiföG-Zwischenbericht attestiert: „Die Ausbauziele können nur erreicht werden, wenn die Geschwindigkeit im Ausbau deutlich zunimmt.“
Drei klare Ansagen: Da muss Ministerin Schröder
gar nicht so erstaunt tun, wenn das Statistische Bundesamt Zahlen veröffentlicht, denen zufolge bundesweit immer noch 220 000 U3-Plätze fehlen. Denn was
hat die Ministerin in all den Jahren angesichts des
schleppend verlaufenden Kitaausbaus getan? Sie hat
alle Verantwortung weit von sich gewiesen und die
Schuld gebetsmühlenartig den Ländern in die Schuhe
geschoben. Diese Analyse kann ich zum Teil sogar teilen. Auch ich sehe, dass es Landesregierungen gab, die
keine eigenen Anstrengungen beim Kitaausbau unternommen haben und die Bundesmittel nicht an die
Kommunen weitergeleitet haben. Hier spreche ich von
den früheren schwarz-gelben Landesregierungen in
Baden-Württemberg und NRW. Erst nach der Regierungsübernahme durch Grün-Rot bzw. Rot-Grün haben diese Länder eine unvergleichliche Aufholjagd gestartet, um den Rechtsanspruch zu realisieren. NRW
hat zum Beispiel 440 Millionen Euro über die mit dem
Bund vereinbarten Investitionen hinaus zur Verfügung
Zu Protokoll gegebene Reden
gestellt. Hier wäre einmal Lob seitens der Bundesfamilienministerin angesagt.
Über Jahre haben die Oppositionsfraktionen im
Bundestag eingefordert, endlich eine solide Bedarfsanalyse zu erstellen und darauf aufbauend eine
faire Finanzierungsvereinbarung zu erstellen. Passiert
ist nichts. Ministerin Schröder hat den Kopf in den
Sand gesteckt und billigend in Kauf genommen, dass
die Kommunen im August 2013 im Regen stehen. Das
späte Eingeständnis, dass 30 000 Plätze mehr benötigt
werden, haben ihr auch die rot-grün und grün-rot regierten Bundesländer abgerungen. Die zusätzlichen
580 Millionen Euro haben mit Ministerin Schröder
nichts zu tun. Sie sind Erfolg der rot-grünen Bundesländer im Rahmen der Fiskalpaktverhandlungen. Es
ist peinlich, dass die Ministerin sich dreist mit fremden
Federn schmückt.
Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die
andere Seite ist die Qualität in den frühkindlichen Bildungseinrichtungen. Auch hier möchte ich aus den
KiföG-Berichten zitieren. Im ersten mussten wir lesen,
dass in einigen Bundesländern der „Personaleinsatzschlüssel in einer Größenordnung liegt, die unter fachlichen Gesichtspunkten als bedenklich einzustufen“
ist. Wortgleich stand es im zweiten KiföG-Bericht. Wir
wissen also schon seit 2010, dass wir dringend pädagogisches Fachpersonal benötigen, um die Betreuungsqualität in den Einrichtungen aufrechtzuerhalten. Ich
betone: aufrechtzuerhalten! Von einer Verbesserung
der Qualität wage ich bei dieser Bundesfamilienministerin gar nicht zu träumen. Dabei wäre 2010 durchaus
noch Zeit gewesen, die dringend benötigten Fachkräfte auszubilden.
Ein weiteres Thema muss hier noch angesprochen
werden: die Kindertagespflege. Auch hier verläuft der
Ausbau nur schleppend. Ein Drittel der neuen Plätze
sollen hier entstehen. Aber auch in der Kindertagespflege sind wir meilenweit von dem selbstgesteckten
Ziel entfernt. Das liegt unter anderem daran, dass die
Bundesregierung es versäumt hat, frühzeitig eine Qualitätsoffensive in der Kindertagespflege zu starten.
Nach wie vor sind die Akzeptanz und die Nachfrage
der Eltern bei der Kindertagespflege nur sehr gering.
Darüber kann auch der Antrag der Koalition nicht
hinwegtäuschen, auch wenn hier einige gute Vorschläge formuliert sind. Solange Sie nicht bereit sind,
endlich Geld in die Hand zu nehmen, sind die Vorschläge nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie gedruckt stehen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
der Drucksache 17/11574 zu den Unterrichtungen durch
die Bundesregierung über den Zweiten und Dritten Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes auf den Drucksachen 17/5900 und 17/9850.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis der genannten Unterrichtungen die Annahme des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf der Drucksache 17/9925 mit
dem Titel „Tagespflegepersonen stärken - Qualifikation
steigern“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? Wer will dagegen stimmen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/5518 mit dem Titel „Neuen ‚Krippengipfel‘ einberufen - Ausbau der frühkindlichen Bildung und
Betreuung voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9929 mit dem Titel „Wahlfreiheit gewährleisten, Kindertagesbetreuung ausbauen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga
Daub, Joachim Günther ({1}), Harald
Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Weltwärts wird Gemeinschaftswerk
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel
Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Weltwärts - Ein Freiwilligendienst mit Zukunft
- Drucksachen 17/9027, 17/8769, 17/10061 Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDr. Bärbel KoflerJoachim Günther ({3})Heike HänselUte Koczy
Die Reden werden zu Protokoll genommen.
Der entwicklungspolitische Freiwilligendienst
„weltwärts“ umfasst gegenwärtig 6 639 anerkannte
Einsatzplätze und circa 200 aktive Entsendeorganisationen. Gegenwärtig sind 3 229 Einsatzplätze besetzt.
Seit Beginn des „weltwärts“-Programms im Jahre
2007 sind über 16 400 Freiwillige in 70 Länder ausgeKlaus Riegert
reist. 42 Prozent der Freiwilligen gehen nach Lateinamerika, 37 Prozent nach Afrika, 20 Prozent nach
Asien, 2 Prozent nach Osteuropa und weniger als
1 Prozent nach Ozeanien. Die beliebtesten Länder
sind Südafrika, Indien und Peru, die wichtigsten Arbeitsbereiche der Bildungssektor, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, mit Menschen mit Behinderung, der Gesundheitssektor und der Umwelt- und
Ressourcenschutz.
Ein Einsatz dauert durchschnittlich zwölf Monate.
62 Prozent aller Freiwilligen sind weiblich. Das
Durchschnittsalter liegt bei 20 Jahren.
Allein schon diese nackten Zahlen belegen: Das
Programm weckt nicht nur Interesse; es wird von jungen Menschen angenommen.
Die im Oktober 2011 abgeschlossene Evaluierung
bescheinigt „weltwärts“ Relevanz, Effizienz und weitgehende Effektivität im Hinblick auf die Erreichung
der Ziele, insbesondere auf der Ebene der Freiwilligen. Die Empfehlung der Evaluation lautet Fortführung und weitere Schärfung des Programms: Stärkung
der Arbeit mit den Rückkehrern, fachlich-pädagogische Begleitung der Freiwilligen und Einbeziehung
bisher nicht erreichter Zielgruppen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, führt das Programm weiter und hat
sich der Schärfung des „weltwärts“-Programms angenommen.
Der von Vertretern der Zivilgesellschaft und des
BMZ gemeinsam geleitete und besetzte Programmsteuerungsausschuss, PSA, hat den bisherigen Beirat
abgelöst und zwei dauerhafte Arbeitskreise, AK, zum
Thema Qualitätssicherung sowie Verfahren eingesetzt.
Darüber hinaus können je nach Bedarf weitere Adhoc-Arbeitsgruppen zu Fachthemen vom PSA eingerichtet werden.
Ein Katalog von Qualitätsanforderungen bildet die
Grundlage der Qualitätsentwicklung und -kontrolle im
Programm.
Der neu eingerichtete Arbeitskreis Qualitätssicherung prüft die Programmqualität und entwickelt sie
weiter. Die Entwicklungsorganisationen sind verpflichtet, sich einem Qualitätsverbund anzuschließen.
Diese Verbünde sind für die Qualitätsentwicklung ihrer Mitgliedsorganisationen verantwortlich und dem
BMZ und PSA gegenüber rechenschaftspflichtig. Die
Qualität wird regelmäßig von externen, unabhängigen
Prüfinstanzen kontrolliert, dem sogenannten „weltwärts“-TÜV, und die Freiwilligen werden durch Befragungen in das Qualitätssystem einbezogen.
Die „weltwärts“-Richtlinie und der Mittelleitfaden
werden entsprechend der Ergebnisse des Follow-upProzesses derzeit überarbeitet. Der Entwurf einer
neuen „weltwärts“-Richtlinie wird Ende 2012 vorliegen. Wesentliche Änderungen betreffen Regelungen in
Bezug auf Spenden, Abbrüche und Gesundheitsvorsorge der Freiwilligen.
Weil „weltwärts“ vornehmlich Abiturienten und
Abiturientinnen aus akademischen Haushalten erreicht, soll nun ein Konzept zur Diversifizierung von
Zielgruppen im „weltwärts“-Programm, verbunden
mit einer Strategie zur sozialen Inklusion, den Adressatenkreis erweitern.
Wir rücken die Zielgruppen „Menschen mit laufender
oder abgeschlossener Ausbildung“, „Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund“ sowie „Menschen
mit Behinderung“ in einer dreijährigen Pilotphase in
den Mittelpunkt.
Wir wollen doch alle, dass auch Jugendlichen mit
Behinderungen eine ehrenamtliche Tätigkeit in einem
Entwicklungsland ermöglicht wird. Wir wissen doch:
Gerade für Menschen mit Behinderungen ist der Einstieg in dieses Berufsfeld bisher nicht immer einfach.
Das wollen wir ändern und mehr Jugendlichen mit Behinderungen diese einmalige Chance geben. Deshalb:
Das BMZ arbeitet gezielt mit Organisationen zusammen, die einen direkten Zugang zu Menschen mit Behinderungen haben, um die Jugendlichen zu erreichen.
Insgesamt sollen die in der Trägerlandschaft
vorhandenen Kompetenzen besser vernetzt werden.
Erfahrene Entsendeorganisationen können so ihr
spezifisches Wissen zur Zielgruppenerreichung an andere Entsendeorganisationen besser weitergeben, beispielsweise durch spezielle Beratung/Coachingangebote, Sammlung und Weitergabe guter Praxis,
Abstimmung mit Verbünden und Netzwerken, Einbindung von weiteren Akteuren innerhalb und außerhalb
des Programms.
Wir richten die Förderung der Rückkehrarbeit stärker an dem Bedarf der Rückkehrerinnen aus. Dazu
schaffen wir keine neuen Strukturen. Vielmehr sollen
die vorhandenen Entwicklungsorganisationen, Verbände und Rückkehrvereinigungen qualifiziert werden,
die Freiwilligen bei der Beantragung von Fördermitteln zu beraten. Ein Konzept für einen Kleinstmaßnahmenfonds soll den Zugang zu Fördermitteln für Rückkehrende flexibilisieren und stärker an deren Bedarfen
ausrichten.
Schließlich wird in einer dreijährigen Pilotphase
eine sogenannten Süd-Nord-Komponente, Reverse für
das „weltwärts“-Programm eingeführt. In einem zunächst auf jährlich circa 100 Entsendungen begrenzten
Rahmen können Vertreter und Vertreterinnen der Partnerorganisationen einen Freiwilligeneinsatz durchführen, der in Zusammenarbeit mit dem Bundesfreiwilligendienst, BFD, in Deutschland durchgeführt wird.
Der BFD bietet einen rechtlich abgesicherten Rahmen,
der auch die Erlangung der erforderlichen Aufenthaltsgenehmigungen ermöglicht.
Sie sehen: BMZ und Zivilgesellschaft handeln und
bringen „weltwärts“ weiter voran. Mit unserem Antrag unterstützen und würdigen wir diese gemeinsame
Arbeit. Dies, meine Damen und Herren von der Opposition, sollte auch Sie veranlassen, unserem Antrag zuzustimmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der entwicklungspolitische Freiwilligendienst
„weltwärts“ hat seit Beginn seiner Arbeit im Jahr
2007 eine positive Bilanz gezeichnet. Als im Dezember
letzten Jahres die Ergebnisse der Evaluierung von
„weltwärts“ vorlagen, bestätigte sich, dass der Freiwilligendienst sein Ziel erreicht: Junge Menschen lernen durch tatkräftiges Handeln und bringen ihre Erfahrung aus den Einsatzländern zurück in unsere
Gesellschaft.
Die Freiwilligen werden in Partnerorganisationen
in Entwicklungsländer integriert und lernen dort die
Arbeit im Kampf gegen Hunger und Armut hautnah
kennen. Eine solche Erfahrung schärft das Bewusstsein für globale Verantwortung und weltweite Solidarität sowie für Zukunftsfragen und bürgerschaftliches
Engagement in Deutschland.
„weltwärts“ bietet jungen Menschen, die ein großes
Interesse an Freiwilligenarbeit in Entwicklungsländern
haben, ein inhaltlich wertvolles und finanziell abgesichertes Programm. Gleichzeitig wird ein wirkungsvoller Beitrag zur Entwicklung in den Einsatzländern sowie zur entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in
Deutschland geleistet.
Bevor der „weltwärts“-Dienst eingeführt wurde,
haben kirchliche Einrichtungen und private Träger bereits Freiwillige mit hohem Engagement entsandt.
Diese Freiwilligenprogramme waren allerdings wegen
der begrenzten finanziellen Ressourcen der Entsender
nur einem relativ kleinen Teilnehmerkreis vorbehalten.
Die notwendige Kostenbeteiligung stellte für viele
junge Menschen eine hohe Hürde dar.
Mit „weltwärts“ gewährleisten wir jetzt, dass sich
junge Leute unabhängig vom Geldbeutel ihrer Familien in Entwicklungsländern engagieren können.
Der Evaluierungsbericht hat eine grundsätzlich
positive Bilanz gezogen, aber auch aufgezeigt, wo es
noch Verbesserungsbedarf gibt. Dazu wurde in diesem
Jahr ein Follow-up-Prozess des Entwicklungsministeriums gemeinsam mit den deutschen Entsendeorganisationen durchgeführt. Dieser Prozess steht derzeit
kurz vor seinem Abschluss, und ab Januar 2013 sollen
die erarbeiteten Verbesserungsvorschläge in die Tat
umgesetzt werden.
Die deutschen Entsendeorganisationen haben sich
mit großem Einsatz in diesen Prozess eingebracht,
wofür ich sehr dankbar bin. Denn so fließen die Erfahrungen und das Fachwissen derjenigen in die Weiterentwicklung des Freiwilligendienstes ein, ohne die
eine solche Freiwilligenarbeit undenkbar ist. Diese
zentrale Stellung sollten die Entsendeorganisationen
auch in Zukunft bei der Umsetzung von „weltwärts“
innehaben. Dafür setzte ich mich ein. Die Ergebnisse
der jüngsten Trägertagung habe ich mit Interesse gelesen, und auch in Zukunft müssen Entscheidungen über
„weltwärts“ in enger Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft getroffen werden.
Als Ansprechpartner für die Organisationen bedarf
es zugleich eines personell gut ausgestatteten Fachreferats im Ministerium. Derzeit ist die Leitungsstelle
des „weltwärts“-Referats im BMZ vakant - ich hoffe
auf zügige Nachbesetzung.
Verschieden Themen wurden beim Follow-up bearbeitet: Die Qualitätssicherung und Verbesserung der
Ressortabstimmung war Thema. Die Qualität der
Vorbereitung der jungen Menschen auf die Zeit in einem für sie kulturell neuen, fremden Umfeld muss auch
zukünftig auf hohem Niveau gewährleistet werden.
Dazu bedarf es vor allem ausreichender finanzieller
Mittel.
Einen Vorschlag für die Finanzierung der Verbesserungsvorschläge des Follow-up-Prozesses habe ich
noch nicht gesehen. Im Haushalt 2013 sind für „weltwärts“ die gleichen Mittel wie seit Beginn der Evaluierung zu finden. Die werden aber zur Fortführung von
„weltwärts“ auf dem jetzigen Niveau gebraucht. Ich
frage mich: Wo sind die Mittel, die man zur Umsetzung
der Verbesserungsvorschläge aus dem Follow-upProzess braucht?
Daher fordern wir in unserem Antrag zu „weltwärts“ auch eine entsprechende Mittelerhöhung auf
70 Millionen Euro für das kommende Jahr. Die Zahl ist
nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern entspricht dem Vorschlag des BMZ vom Dezember 2011.
Im BMZ-Evaluierungsbericht 056 zu „weltwärts“
heißt es dort: „… Das BMZ strebt mittelfristig an …
jährlich bis zu 70 Millionen Euro zur Verfügung zu
stellen.“
Unklar ist mir, warum weder der schwarz-gelbe
Antrag vom März 2012 zu „weltwärts“ Entsprechendes fordert, noch der Entwicklungshaushalt für 2013
eine Mittelerhöhung im „weltwärts“-Titel vorsieht.
Das sieht nicht nach „anstreben“ aus.
Denn neben einer Qualitätssicherung gibt es
weitere wichtige Verbesserungen, die nächstes Jahr in
Angriff genommen werden sollen.
„weltwärts“ wendet sich an alle jungen interessierten Menschen, auch an Haupt- und Realschüler mit
abgeschlossener Berufsausbildung. Eine zentrale
Frage des Follow-up-Prozesses ist daher, wie man
eine breitere Gruppe dieser jungen Menschen erreichen kann. Auch für junge Menschen, die bereits im
Berufsleben stehen, soll „weltwärts“ eine Möglichkeit
zur Teilnahme aufzeigen. Eine entsprechende Forderung findet sich auch in unserem SPD-Antrag zu
„weltwärts“ vom Februar dieses Jahres.
Das Problem ist erkannt: Oft haben junge Menschen nach Abschluss ihrer Ausbildung Bedenken,
dass sie den Berufseinstieg verpassen, wenn der Auslandsaufenthalt direkt an die Ausbildung anschließt.
Hier müssen neue Formate gesucht werden, gegebenenfalls auch mit den Ausbildern gemeinsam.
Besonders wichtig ist mir auch, dass die Anregung
aus der Evaluation aufgegriffen wurde, eine sogeZu Protokoll gegebene Reden
nannte Reverse-Komponente für den „weltwärts“Dienst einzurichten. Es handelt sich um eine Ergänzung des bestehenden „weltwärts“-Programms, die es
den deutschen Entsendeorganisationen erlaubt, junge
Freiwillige aus den Organisationen in Partnerländern
einzuladen.
Dazu soll es eine dreijährige Pilotphase in Zusammenarbeit mit dem Bundesfreiwilligendienst in
Deutschland geben; pro Jahr werden 100 Freiwillige
aus Partnerorganisationen im Ausland in die Arbeit
der deutschen Organisationen integriert, die seit
langen Jahren Erfahrung in der Entwicklungsarbeit
haben. Ich halte das für ein wichtiges Angebot; ein
Lerndienst wie „weltwärts“ darf keine Einbahnstraße
sein. Es muss Raum für eine gegenseitige Erfahrung
von Lebenswirklichkeiten in Nord und Süd geben. Das
Reverse-Programm eröffnet neue Chancen zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch zwischen den Partnerorganisationen in Nord und Süd und bereichert auch
die Rückkehrerarbeit der deutschen Freiwilligen.
Denn auch die Inlands- und Rückkehrerarbeit soll
sich noch verbessern. Junge Menschen müssen im Anschluss an ihren Auslandsaufenthalt die Möglichkeit
haben, von dem Erlebten auch anderen zu berichten
und ihre Erfahrungen mitzuteilen. Denn auch das war
und ist Sinn und Zweck von „weltwärts“. Dafür können die Möglichkeiten der Neuen Medien genutzt werden oder Veranstaltungsformate weiterentwickelt werden, sodass die Freiwilligen ein Forum für ihre
Berichte und die Fortsetzung ihrer Unterstützerarbeit
haben.
Die uns bisher bekannten Handlungsempfehlungen
des Follow-up-Prozesses weisen in die richtige Richtung. Ab Januar 2013 beginnt die Umsetzung durch
das Ministerium. Ob und wie das BMZ diese Empfehlungen umsetzen wird - auch vor dem Hintergrund stagnierender Haushaltsmittel -, bleibt kritisch zu
verfolgen. Nur wenn die Empfehlungen der Evaluierung sowie wichtige Kernforderungen aus unserem
Antrag ernst genommen werden, ist „weltwärts“ ein
Freiwilligendienst mit Zukunft.
Ich glaube, selten ist man sich hier im Hohen Hause
so einig wie über die Sinnhaftigkeit und den bislang erreichten Erfolg des Programmes „weltwärts“. So wird
im Ergebnis der im Herbst 2011 abgeschlossenen
Evaluierung dem Programm bescheinigt, dass es im
Hinblick auf die Erreichung der gesetzten Ziele, insbesondere auf der Ebene der Freiwilligen, relevant, effizient und effektiv arbeitet. Zu den Empfehlungen der
Weiterentwicklung des Programms werde ich mich
später äußern.
Zunächst einmal: Ob es sich um den Schutz des
brasilianischen Regenwaldes, Ackerbau in Vietnam,
Solarenergie in Burkina Faso oder ein Heim für
Straßenkinder in Ghana handelt - die Arbeitsfelder
des vom BMZ ins Leben gerufenen Freiwilligendienstes „weltwärts“ sind so vielseitig wie das Themenspektrum der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Der entwicklungspolitische Freiwilligendienst
„weltwärts“ ermöglicht es jungen Menschen zwischen
18 und 28 Jahren, sich mit finanzieller Unterstützung
in Entwicklungsländern zu engagieren. Die ehrenamtliche Tätigkeit kann für 6 bis 24 Monate erfolgen.
Durchschnittlich liegt der Einsatz bei einem Jahr. Die
jungen Leute können sowohl helfen als auch wichtige
internationale Lernerfahrungen für den eigenen weiteren Lebens- und Berufsweg machen.
Seit Beginn des Programms sind über 16 400 Freiwillige in 70 Länder weltweit gereist, nach Lateinamerika, Afrika, Asien und Osteuropa. Die beliebtesten
Länder sind dabei Südafrika, Indien und Peru. Zusammenfassend kann man sagen: Die wichtigsten Arbeitsbereiche sind der Bildungssektor, die Arbeit mit
Kindern und Jugendlichen, mit Menschen mit Behinderung, der Gesundheitssektor und der Umwelt- und
Ressourcenschutz.
Das „weltwärts“-Programm umfasst gegenwärtig
über 6 000 anerkannte Einsatzplätze. Die FDP begrüßt
das koordinierte Vorgehen, mit dem das Bundesministerium gemeinsam mit den über 200 zivilgesellschaftlichen Trägern die Entwicklung des Gemeinschaftswerks
„weltwärts“ angeht und so einen wichtigen Beitrag
zur gesellschaftlichen Verankerung von Entwicklungspolitik leistet. Das Programm ist ein wichtiger Impuls
für zivilgesellschaftliches Engagement und globales
Lernen.
Verbesserungsbedarf sehen wir im Hinblick auf eine
stärkere Einbindung von jungen Menschen zum Beispiel aus dem Berufsbildungsbereich. Aufgrund der
Erkenntnis der Evaluierung, dass „weltwärts“ vornehmlich Abiturienten vielfach aus akademischen
Haushalten erreicht, wurde ein Konzept zur Diversifizierung von Zielgruppen im Programm erarbeitet, das
auch die Einbeziehung der sozialen Komponente
beinhaltet.
Ebenso soll die Rückkehrarbeit stärker am Bedarf
der Rückkehrenden ausgerichtet sein. Dazu sollen
keine neuen Strukturen, sondern vorhandene Institutionen wie Entsendeorganisationen, Verbände und
Rückkehrvereinigungen qualifiziert werden, über
Möglichkeiten des entwicklungspolitischen Engagements in ihrer Region besser zu informieren und die
Freiwilligen bei der Beantragung von Fördermitteln
zu beraten. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Entbürokratisierung. Hier wurde vom BMZ in Anlehnung an
das Aktionsgruppenprogramm ein Konzept für einen
Kleinstmaßnahmenfonds erarbeitet.
Grundlage eines jeglichen Erfolges überhaupt ist
die Qualität der geleisteten Arbeit und deren
Kontrolle. Der neu eingerichtete Arbeitskreis Qualitätssicherung prüft die Programmqualität und entwickelt sie weiter. Regelmäßig wird sie von externen,
unabhängigen Prüfinstanzen, dem sogenannten „weltwärts“-TÜV, kontrolliert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
Mir bleibt dabei nur viel Erfolg zu wünschen. Ich
freue mich über die bisher erreichten tollen Ergebnisse.
Die Fraktion Die Linke unterstützt den Freiwilligendienst „weltwärts“, der bisher mehr als 10 000
junge Menschen entsandt hat. Im Jahr 2011 gab es
eine erste Evaluierung des „weltwärts“-Programms,
diesen Monat lieferte das Entwicklungsministerium
einen Kurzbericht zum Follow-up-Prozess der Evaluierung. Die neu entwickelten Qualitätsanforderungen
sind zu begrüßen, denn natürlich wollen wir, dass nicht
nur Quantität, sondern vor allem Qualität bei der Vorund Nachbereitung des Aufenthalts im Ausland eine
Rolle spielen. Die Bundesregierung hat leider in den
Haushalten seit 2010 einen finanziellen Aufwuchs für
„weltwärts“ abgelehnt, aber immer mit dem Hinweis
auf die ausstehenden Ergebnisse der Evaluierung. Wie
die Evaluierung, so fällt auch der aktuelle Kurzbericht
sehr positiv aus. Trotzdem gibt es im vorliegenden
Antrag der Koalitionsfraktionen wieder nur schöne
Worte, aber keine Mittelerhöhung. Die Mittel stagnieren weiterhin bei 30 Millionen Euro jährlich. Die
Linke unterstützt deshalb ausdrücklich den Antrag der
SPD.
Wir haben für den Haushalt 2013 eine Aufstockung
der Mittel von 30 Millionen Euro auf 60 Millionen
Euro gefordert, bei den Verpflichtungsermächtigungen
haben wir statt der von der Bundesregierung geplanten 26 Millionen Euro ebenfalls 60 Millionen veranschlagt. Diese Aufstockung ist wichtig, um die Weiterentwicklung des Freiwilligendienstes zu ermöglichen
und sowohl den involvierten Organisationen als auch
den Freiwilligen eine gewisse Planungssicherheit zu
ermöglichen. Die Nachfrage nach „weltwärts“-Programmplätzen, die momentan nicht befriedigt werden
kann, ist groß. Aufgrund der unsicheren Finanzierung
war es in den letzten Jahren oftmals so, dass viele interessierte Jugendliche abgewiesen werden mussten, die
einen solchen Dienst eigentlich gerne angetreten
hätten.
Für viele junge Menschen nämlich handelt es sich
oft um den ersten großen Auslandsaufenthalt in ihrem
Leben. Er kann prägend wirken für die weitere
Entwicklung. Deshalb ist eine verantwortungsvolle
Begleitung notwendig. Wir fordern zudem, dass die
Nord-Süd-Ausrichtung des Dienstes erweitert wird, um
von einem gleichberechtigten Dialog sprechen zu können. Wir wollen, dass auch junge Menschen aus den
Ländern des Südens sowohl einen Freiwilligendienst
hier in Deutschland antreten können als auch vor Ort
in Projekten die Möglichkeit bekommen, gemeinsam
mit einem Jugendlichen aus Deutschland Freiwilligenarbeit zu verrichten. Dadurch würde nach unserer
Ansicht ein verbesserter direkter Dialog entstehen, mit
der Möglichkeit des gegenseitigen Verständnisses und
des Lernens voneinander. Auch wäre es wichtig,
verstärkt lokale Partner in den Ländern des Südens zu
finden, die Teil sozialer Bewegungen sind und die sich
vor Ort für soziale Rechte und Menschenrechte einsetzen.
Hier komme ich zu unserer Kritik. Obwohl wir
„weltwärts“ für ein wichtiges Instrument halten, gibt
es doch einige Punkte, die einer Weiterentwicklung
bedürfen. Mit Blick auf das notwendige Eine-WeltBewusstsein ist ein breiter aufgestelltes Reverse-Programm überfällig. Die Bundesregierung hat allerdings
bisher nur eine sehr schwache Reverse-Komponente
mit nur 100 Entsendungen jährlich in einer dreijährigen Pilotphase eingerichtet. Diesen Umfang halten
wir für viel zu gering.
Wir fordern außerdem, dass Jugendliche aus allen
sozialen Schichten, mit unterschiedlichen Schulabschlüssen und unterschiedlicher beruflicher Ausbildung erreicht werden, zum Beispiel durch gezielte Vorstellung von „weltwärts“ an allen Schulen
einschließlich Berufsschulen, Jugendeinrichtungen
und Ausbildungsstätten. Bisher beschränkt sich der
Kreis der geförderten Jugendlichen nur auf Gymnasiasten; komplizierte Antragsverfahren und doch immer
noch hohe Kosten mögen ein Grund dafür sein. Daher
muss überlegt werden, ob Jugendliche, die keinen
Förderkreis zustande bekommen und für die eine
Finanzierung durch das Elternhaus nicht möglich ist,
zusätzlich unterstützt werden können, damit eben
nicht - wie leider bisher Praxis - der Geldbeutel der
Eltern über einen solchen Freiwilligendienst im Ausland entscheidet.
Ich bekomme oft Anfragen, ob ich mich einem solchen Förderkreis anschließen will. Ich verfolge in
Weblogs, was junge Menschen vor Ort erleben und
was sie berichten. Ich glaube, das ist für alle bereichernd, auch für uns. Dieser Freiwilligendienst kann
einen konkreten Beitrag zu mehr Solidarität und weltweiter Verständigung leisten.
Für uns sind Freiwilligendienste eine wichtige
Form bürgerschaftlichen Engagements. Der Dienst im
Einsatz für eine gute Sache zeichnet sich wesentlich
durch sein Bildungs- und Lernprofil sowie den Perspektivwechsel aus. Besonders wichtig ist mir, dass die
Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Ausrichtung und Organisation weiterentwickelt werden.
Entsendeorganisationen, Einsatzstellen und Freiwillige müssen in Prozesse der Profilschärfung der Freiwilligendienste als Lern- und Orientierungsdienste
viel stärker eingebunden werden.
Erste Schritte zur stärkeren Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen wurden im Aufbau der
Arbeitsgruppen und der Qualitätssicherung in „weltwärts“ gegangen. Wir hoffen, dass dies keine kurze
Episode bleibt und nicht zum Feigenblatt der Bundesregierung verkommt. Die negativen Erfahrungen mit
der ministeriellen Gründung einer „Servicestelle für
kommunales und bürgerschaftliches Engagement“
sind noch lange nicht vergessen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ein großes Defizit gibt es in der einseitigen Fokussierung auf die Vermittlung Freiwilliger aus Deutschland in andere Länder. An fehlendem Austausch von
Freiwilligen leiden alle Freiwilligendienste, ob „weltwärts“, Internationaler Jugendfreiwilligendienst, Anderer Dienst im Ausland, Kulturweit oder FSJ im Ausland. Die Koalition thematisiert in ihrem Antrag die
Reverse-Programme erst gar nicht!
Freiwilligendienste geben Einblicke in die vielfältigen Facetten von Gesellschaft und Zivilgesellschaft
auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene. Kern der Freiwilligendienste ist aus meiner
Sicht genau dieser Perspektivwechsel, ein Austausch,
der auf Gegenseitigkeit beruhen muss. Nur so können
wir auf Augenhöhe in Dialog treten mit anderen Ländern, uns austauschen und voneinander lernen. Es gibt
weder Ansätze für Reverse-Programme, noch ist die
Visaproblematik für Freiwillige aus Nicht-EU-Staaten
tatsächlich gelöst. Aber gerade das muss unser Ziel in
der weiteren Gestaltung der Freiwilligendienste sein.
Seit Beginn des Programms „weltwärts“ sind die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer fast ausschließlich
Jugendliche mit Fachhochschulreife oder Hochschulreife. Bisher sind alle Versuche gescheitert, Azubis und
Menschen mit anderen Bildungsabschlüssen für
Weltwärts zu gewinnen. 97 Prozent der Freiwilligen
haben Abitur. Dabei qualifiziert ein Abitur doch nicht
automatisch für einen Freiwilligendienst im Ausland.
Gerade Menschen mit Berufsausbildung haben praktisches Wissen, welches sie vor Ort einsetzen können.
Gerade deshalb müssen Freiwilligendienstplätze ausreichend finanziert sein, damit Jugendliche aus sozial
schwachen Elternhäusern einen Dienst leisten können.
Wir fordern, „weltwärts“ mit 5 Millionen Euro
jährlich zusätzlich zu fördern. Eine Verdopplung der
Mittel im „weltwärts“-Programm, wie es die SPDFraktion fordert, halten wir unter Einhaltung qualitativer Standards kurzfristig nicht für möglich. Die
schwarz-gelbe Koalition hat Vorschläge zur Mittelerhöhung in den Haushaltverhandlungen blockiert. Die
Mittel für 2013 werden nicht erhöht. So werden gleiche
Zugangschancen unmöglich gemacht.
Problematisch ist auch, dass Auszubildende kein
Recht zur Rückkehr in ihre Betriebe haben, wenn sie
sich entscheiden, einen Freiwilligendienst zu leisten.
Hier muss der Gesetzgeber Nägel mit Köpfen machen.
Der Vorschlag der Koalition, Jugendliche mit beruflicher Qualifikation besser über Möglichkeiten aufzuklären und Entsendeorganisationen zu sensibilisieren,
kann nur ein erster kleiner Schritt sein.
Die Qualitätssicherung in den Freiwilligendiensten
ist entscheidend für deren Erfolg. Die Entsendeorganisationen und Einsatzstellen tragen große Verantwortung in der fundierten Vorbereitung der Freiwilligen.
Die Evaluation hat gezeigt, dass die Bereitschaft zur
Perspektivübernahme und das Verständnis des Dienstes als Lerndienst steigen, je zufriedener die Freiwilligen mit dem Vorbereitungsseminar und mit der Betreuung durch Mentorinnen und Mentoren sind. Hier ist es
Aufgabe des Staates, Mindeststandards zu setzen und
die Qualität in Freiwilligendiensten regelmäßig zu
evaluieren.
Die drei Schritte Vorbereitung auf den Einsatz,
Mentoring vor Ort und ausreichende Nachbereitung
sind alle gleichbedeutend zentral. Die Erfahrungen
der Träger und Einsatzstellen zeigen, dass das persönliche Engagement in der Phase vor Antritt eines
„weltwärts“-Freiwilligendienstes für den erfolgreichen Abschluss eines Freiwilligendienstes wichtig ist.
In der Praxis greifen die Entsendeorganisationen
leider oft zur Sammlung von Geldern durch Freiwillige. Spendensammeln für den eigenen Freiwilligendienst halten wir für problematisch. Hier muss stärker
auf eine entindividualisierte Spendenpraxis gesetzt
werden. Finanzielle Eigenleistungen dürfen auf keinen
Fall zum Maßstab der Eignung für einen Freiwilligendienst im Ausland gemacht werden. Eine Pflicht zum
Spendensammeln oder zur Gründung eines Unterstützerkreises darf es nicht geben, und es darf niemand
aufgrund dessen von einem Dienst ausgeschlossen
werden. Deshalb ist es auch so wichtig, genau zu überlegen, wie staatliche Förderung sinnvoll zur Qualitätssicherung und für faire Zugangschancen eingesetzt
werden kann.
Zukünftig müssen wir die unterschiedlichen
Dienste, die auf unterschiedlichen Ebenen - national,
europäisch, international - zusammenwirken sollen, in
ein Gesamtkonzept Freiwilligendienste einbetten.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf der Drucksache
17/10061. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/9027. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8769. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 35:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ökologische Baustoffe - Klima schützen,
Energie sparen und Ölabhängigkeit reduzieren
- Drucksache 17/11380 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})Finanzausschuss25866
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die vorgesehenen Reden werden zu Protokoll genommen.
Das Gute vorweg: Wir alle hier sind uns einig, dass
der Klimaschutz ein elementarer Grundsatz unseres
politischen Handelns sein muss. Klimaschutz muss sozusagen ein unverzichtbarer Baustoff unserer christlich-liberalen Politik sein. Ansonsten stimmt die Statik
unseres Politikgerüstes nicht.
Im Raum steht deshalb die Frage: Ist der Schutz des
Klimas bereits in einem ausreichenden Maße in unserer Politik verankert, oder muss er es noch viel mehr
werden? Und wenn er ausreichend verankert ist, sind
unsere ergriffenen Maßnahmen zum Klimaschutz bereits ökologisch genug, oder müssen sie noch ökologischer werden? Und: Wann geht Ökologie nicht mehr
Hand in Hand mit anderen Politikfeldern?
Hieraus wird ersichtlich: Der Schutz des Klimas
gehört zu den zentralen Herausforderungen unserer
Zeit. Alle Politikbereiche müssen dabei ihren Beitrag
leisten - natürlich auch der Bausektor. Wird diese Verantwortung heute nicht wahrgenommen, führt dies
morgen zu Umwelt- und Gesundheitsschäden, einem
Verlust der biologischen Vielfalt und zu hohen wirtschaftlichen Belastungen.
Deshalb achtet unsere christlich-liberale Koalition
auf einen integrierten klimapolitischen Ansatz. Bei der
Umsetzung unserer Maßnahmen haben wir Politiker
der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion stets im Blick,
dass Wettbewerbsverzerrungen vermieden und die
Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und der Sozialverträglichkeit beachtet werden. Ich behaupte, dass unsere Politik, gestaltet von einer christlich-liberalen
Koalition, dies alles bereits in einem überaus weiten
Maße praktiziert, ja, bereits vorbildlich umsetzt, gerade auch im Baubereich.
Insbesondere der öffentliche Hochbau des Bundes
nutzt innovative Technologien und den Einsatz neuer,
hochwertiger und nachhaltiger Baustoffe schon jetzt
zielgerichtet. Mit innovativen Technologien und Materialien saniert unsere Bundesregierung bereits jetzt
vorbildlich energetisch. Genannt seien hier die Stichworte Unterschreitung der EnEV-Mindestgrenzen, der
Leitfaden für nachhaltiges Bauen und das Energieeinsparprogramm Bundesliegenschaften. Des Weiteren
gibt es die Forschungsinitiative „Zukunft Bau“ des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Sie ist dafür da, bestehende Defizite insbesondere im Bereich technischer, baukultureller und organisationstechnischer Innovationen aus der Welt zu
schaffen - und das ist genau das, was sich der vorliegende Antrag zum Ziel setzt. Diese Forschungsinitiative beschäftigt sich mit neuen Konzepten und Prototypen für das energiesparende Bauen, mit neuen
Materialien und Techniken sowie mit Themen der Bauqualität.
Sie sehen also: Bereits hier und jetzt gibt es im öffentlichen Bausektor viele verschiedene stützende Eckpfeiler, die helfen, das Klima zu schützen, Energie zu
sparen und unsere Abhängigkeit von Rohstoffen zu reduzieren. Diese Vorbildfunktion des Bundes am Bau
wird gewiss auch unserer ganzen Republik Rechnung
tragen. Nach und nach wird diese Baukultur, werden
diese Prototypen Einzug in den privaten Bausektor
halten. Pilotprojekte des Bundes werden dank engagierter Ingenieure, anwendungsorientierter Architekten und umweltbewusster Bauherren Nachahmer finden. So wird es sich auch bei der Entwicklung und dem
Gebrauch ökologischer Baustoffe verhalten. Diese
werden nach und nach mehr Anwendung finden.
Im Rückschluss heißt das auch: Unsere Politik im
Bausektor wird nach und nach mehr Nachahmer finden. Und zwar nicht, weil wir sie durch gesetzliche
Vorschriften zum Klimaschutz dazu zwingen, sondern
weil sich die Menschen aus eigenem umweltpolitischem und nachhaltigem Gewissen heraus gerne in
Gebäuden aufhalten wollen, die zu ökologisch verträglichen Konditionen auf-, um- und abgebaut werden
können.
Dahinter steht auch unsere Idee - und, mit Verlaub,
der sehr viel sinnvollere und langfristigere Ansatz -,
die Einsparung von Energie und Ressourcen nicht
mehr als alleinigen Gradmesser für Wirtschaftswachstum zu betrachten. Schließlich betreiben wir, die
christlich-liberale Koalition, die Stärkung von Energieeffizienzpotenzialen ja nicht in erster Linie aus
finanziellem Gewinnstreben heraus, sondern weil uns
unsere Welt, unsere Umwelt und unsere Natur am Herzen liegen. Dabei spielen die Schaffung von Wissen
über bereits vorhandene Klimaschutztechnologien
durch Forschung und Entwicklung sowie die Weitergabe dieses Wissens eine entscheidende Rolle.
Auch eine wirklich gute Nachricht dabei ist: Unser
bislang gewählter Politikansatz - der Politikansatz einer Bundesregierung unter christlich-liberaler Führung - verbindet bereits jetzt ökologische Zielsetzungen mit ökonomischen Aspekten.
Sie sehen also: Unsere Baupolitik basiert auf vielen
und auf vielfältigen klimaschützenden, energieeinsparenden und rohstoffreduzierenden Maßnahmen.
Unsere Klimapolitik ist - um im Bild zu bleiben auch innerhalb der Bausparte statisch gut verankert.
Deshalb ist dieser Antrag zwar gut gemeint, aber dennoch überflüssig.
Die Energiewende ist für diese Regierungskoalition
eines der wichtigsten Vorhaben, die wir in dieser
Legislaturperiode initiiert haben. Wir werden weiterhin einen großen Beitrag leisten, um den Anstieg der
globalen Temperatur um mehr als 2 Grad zu vermeiden. Diese schwarz-gelbe Bundesregierung ist
weltweit an der Spitze der Bewegung für eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Bei allen Klimakonferenzen
kämpfen die Vertreter Deutschlands für dieses Ziel an
vorderster Front.
Die von uns in Deutschland eingeleitete Energiewende ist ein Mammutprojekt. Umso wichtiger ist es,
dass alle beteiligten Akteure gemeinsam an einem
Strang ziehen, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Bund, Länder, Kommunen, Unternehmen und
Bürger sind gefordert, ihren Teil zum Gelingen der
Energiewende beizutragen.
In ihrem Antrag geben sich auch die Grünen als
Kämpfer für die Reduzierung von CO2. Dann stellt sich
aber die Frage, warum diese Partei gemeinsam mit
der SPD im Bundesrat unser Gesetz zur energetischen
Gebäudesanierung blockiert. Sie reden zwar sonntags
von der Energiewende, tun aber nichts gegen den CO2Ausstoß. Umweltschützer und Handwerker dürften
sich verwundert die Augen reiben, liegen in der energetischen Gebäudesanierung doch die größten
Energieeinspar- und Klimaschutzmöglichkeiten - und
heimische Arbeitsplätze sichert sie auch.
Die im Antrag aufgestellte Behauptung „Temporäres Bauen und somit leicht recyclebare Materialien
werden eine immer größere Rolle spielen, das Ideal
‚Bauen für die Ewigkeit‛ ist überholt“ entspricht weder den anerkannten Prinzipien der Nachhaltigkeit
noch den baukulturellen Grundsätzen in Deutschland.
Unsere christlich-liberale Bundesregierung hat
eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt und
mit Indikatoren untersetzt. Der Baubereich spielt dabei eine zentrale Rolle. Beim nachhaltigen Bauen geht
es - vereinfacht - darum, Gebäude so zu errichten,
umzubauen und zu betreiben, dass sie wirtschaftlich,
ökologisch, gesellschaftlich und städtebaulich gleichermaßen zukunftsfähig sind.
Dabei setzen wir in vielen Bereichen auf nachwachsende Rohstoffe, um die Inanspruchnahme von nicht
erneuerbaren Ressourcen im Bauwesen zu reduzieren.
Es gibt bereits eine Vielzahl von Bauprodukten auf
Basis nachwachsender Rohstoffe, deren Verwendung
sich im Bauwesen zunehmend etabliert. Der Bausektor
gehört in Deutschland und weltweit zu den ressourcenintensiven Wirtschaftssektoren. Die Bauwirtschaft leistet bereits heute einen großen Beitrag zur Ressourcenschonung durch Wiederverwertung und das effiziente
Recycling von Bauabfällen. Eine Recyclingquote von
mehr als 90 Prozent zeigt dies sehr deutlich.
Die Bundesregierung unterstützt - wo dies sinnvoll
ist - im Bauwesen den Einsatz nachwachsender
Rohstoffe. Der Einsatz innovativer Bauprodukte, wie
beispielsweise Dämmstoffe oder Produkte für den
Innenausbau, die in der Gesamtbewertung Vorteile
gegenüber klassischen Bauprodukten auf Basis nicht
nachwachsender Rohstoffe haben, wird deswegen im
Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen für Bundesgebäude angemessen berücksichtigt.
Aber auch die Bauindustrie trägt ihren Beitrag zum
Umweltschutz bei. Auf freiwilliger Basis wird mit
Umweltproduktdeklarationen die Markttransparenz
auch auf Ebene der Bauprodukte verbessert, um
Planern die Möglichkeit zu geben, Ressourcenaspekte
bereits früh im Planungs- und Bewertungsprozess zu
berücksichtigen.
Die Förderprogramme der KfW zum energieeffizienten Bauen und Sanieren sind auf der Grundlage der
Energieeinsparverordnung und der zugrundeliegenden
Normen des DIN auf Energieeffizienz ausgerichtet und
technologieneutral ausgestaltet. Da die Sanierungsförderung kostenbezogen ist, werden etwaige höhere
Kosten sogenannter ökologischer Baustoffe auch
durch entsprechend höhere Kredit- oder Zuschussbeträge gefördert. Die genannten KfW-Programme
werden ausgehend von der technischen Entwicklung,
den Marktbedingungen und den gesellschaftlichen
Anforderungen der Energieeinsparung und des Klimaschutzes ständig weiterentwickelt.
Das Ressourceneffizienzprogramm hat die deutsche
Ressourcenpolitik schlüssig dargelegt. Das Programm
gibt einen Überblick über vorhandene Aktivitäten,
identifiziert Handlungsbedarf und beschreibt Handlungsansätze und Maßnahmen zur Steigerung der Ressourceneffizienz. Die Bundesregierung wird bei der
Wahl der Instrumente auf eine auch im internationalen
Maßstab wettbewerbskonforme Ausgestaltung achten,
Anreizen und freiwilligen Lösungen den Vorzug vor
staatlichen Regulierungen geben und dabei Kostenbelastungen der Wirtschaft, die die Ressourcennutzung
verteuern, vermeiden. Das Programm setzt dabei insbesondere auf Marktanreize, auf Information, Beratung, Bildung, Forschung und Innovation sowie auf
die Stärkung freiwilliger Maßnahmen und Initiativen
in Wirtschaft und Gesellschaft.
Deutschland ist ein Industrieland und muss es bleiben. Mit einem Anteil von etwa 23 Prozent an der Gesamtwirtschaft und 5,8 Millionen Beschäftigten ist die
chemische Gesamtindustrie ein wesentliches und wichtiges Standbein der deutschen Wirtschaft. Im internationalen Vergleich ist Deutschland der viertgrößte Industriestandort der Welt. Allein der Chemiepark Marl
in meinem Wahlkreis stellt rund 10 000 Arbeitsplätze.
Die chemische Produktion von Basischemikalien,
Kunst-, Kleb- und Baustoffen beruht im Wesentlichen
auf höheren Kohlenwasserstoffverbindungen und ist
somit erdölbasiert. Noch immer ist die alternative Herstellung von Kohlenstoffen für die stoffliche Produktion derzeit mit sehr hohem Energieaufwand verbunden. Hier ist die angestrebte Verbesserung der CO2Bilanz bisher noch infrage gestellt. Trotzdem oder gerade deshalb ist es wichtig - schon um Versorgungsengpässe in der Zukunft zu vermeiden und den ProdukZu Protokoll gegebene Reden
tionsstandort Deutschland zu sichern -, notwendige
Forschung in diesem Bereich zu stärken.
Die Aufhebung der Steuerbefreiung für die stoffliche Nutzung von Erdöl, wie von Bündnis 90/Die Grünen gefordert, sollte hier als langfristige Strategie gedacht werden. Aber ein deutscher Alleingang würde
den Wettbewerb im europäischen und internationalen
Raum zurzeit nur verzerren. Gerade im Zuge der Energiewende und mit dem Blick auf den erhöhten Energieaufwand für alternative Herstellung von Kohlenstoffen
und der ohnehin bereits oft energieintensiven Industrie
ist eine weitere Verschärfung der Wettbewerbsbedingungen allein für den deutschen Markt nicht fördernd.
Die Alternativen werden außerdem aufgrund der absehbaren Rohstoffverknappung von der Chemieindustrie bereits seit geraumer Zeit intensiv erforscht. Ich
besuche in regelmäßigen Abständen die „kreative Abteilung“ des Chemieparks Marl und kann Sie nur herzlich einladen, sich die hochinnovativen Ideen anzusehen.
Für Bauprodukte sollte für eine konsequente CO2Bilanz die Lebenszyklusbetrachtung von der Herstellung bis zur Entsorgung einbezogen werden. Dieses
Kriterium sollte dann auch Einfluss auf die Förderprogramme zur energetischen Sanierung nehmen. So ist es
durchaus wünschenswert, wenn die Energiegesamtbilanz stimmt. Die sogenannte graue Energie spielt zurzeit noch eine viel zu geringe Rolle bei der Bewertung
von Bauprodukten, aber nicht nur hier. In unserer heutigen Betrachtung der Energieeffizienz und Energieeinsparung wird oft nur das fertige Gebäude gesehen.
Weder die vorher zur Herstellung und zum Transport
genutzte Energie noch die Entsorgung werden in die
Berechnungen eingebunden, von Giftstoffen, Sondermüll, gesundheitsschädlichen Substanzen, die hier
ebenso zur Disposition stehen, einmal ganz abgesehen.
Ich stimme den Grünen gerne zu, wenn sie fordern,
dass ökologische Baustoffe in Brandschutzkategorien
gegenüber konventionellen Baustoffen nicht benachteiligt werden dürfen. So sieht die Bundesregierung
laut ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der SPDBundestagsfraktion zwar Polysterol im Verbundsystem
als unproblematisch und nicht brennbar an, jedoch
wird die Latte für einige ökologische Baustoffe ungleich höher angesetzt. Hier sollte ein einheitliches,
transparentes Prüfverfahren aufgestellt werden.
Generell sollte beim Thema Baustoffe das Thema
Wohnqualität und Wohngesundheit wesentlich mehr in
den Vordergrund gerückt werden. Wohnen ist Leben,
und unsere Wohnumwelt trägt zu unserem Wohlbefinden bei. Eine rechnerisch exzellente Wärmedämmung
ist nicht alles, sondern wärmespeicherfähige Materialien im Innenbereich sind eine sinnvolle Ergänzung. So
gibt es gute Kombinationen von Naturbaustoffen, deren Qualität der von konventionellen Baustoffen in
nichts nachsteht. Durch die Einbeziehung von Schadstofffreiheit, Recyclingfähigkeit und Wohngesundheit
schneiden sie jedoch deutlich besser ab.
Aber auch ökologische Baustoffe sind im Gesamtbild zu betrachten. Es muss uns klar sein, dass auch
Biomasse nicht unbegrenzt verfügbar ist, Agrarflächen
nicht endlos sind und jeder nachwachsende Rohstoff
auch in Konkurrenz zu der Nahrungsmittelproduktion
tritt. Baustoffe aus nachwachsenden Rohstoffen dürfen
nicht schlechtergestellt werden, trotzdem bleibt ein
energie- und ressourcenschonender Einsatz von Produktionsmitteln - egal ob Baustoffe oder andere Produkte - die Grundvoraussetzung für eine nachhaltige
und zukunftsfähige Wirtschaft für den Standort
Deutschland.
Die bürgerliche Koalition aus CDU/CSU und FDP
arbeitet konsequent an der erfolgreichen Umsetzung
der Energiewende und dem Erreichen der Klimaschutzziele der Bundesregierung. Dabei sind alle Mittel und
Möglichkeiten zur Steigerung der Energieeffizienz und
Absenkung von CO2-Emissionen in Betracht zu ziehen.
Angesichts des hohen Anteils der Wärmeemissionen
von Gebäuden an der Klimabilanz kommt dem Bauen
und der Verwendung von Baustoffen dabei eine hohe
Bedeutung zu. Betrachtet man das jährliche Hochbauvolumen des Bundes im Umfang von 2,6 Milliarden
Euro, wird deutlich, dass es sich hier nicht nur um einen wesentlichen Konjunkturmotor von erheblichem
Wirtschaftspotenzial handelt. Der öffentlichen Hand
kommt zugleich eine Vorbildfunktion für die gesamte
Baubranche und private Bauherren zu, die die FDPBundestagsfraktion zukünftig nachhaltig stärken will.
Um dies zu erreichen, fordert die liberale Fraktion
diesen Hohen Hauses, alle Baumaßnahmen des Bundes schrittweise vollständig hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit zu bewerten. Erst wenn Klarheit über die
Energieeffizienz der verbauten Stoffe und eingesetzten
technischen Verfahren herrscht, wird ein Umsteuern
möglich sein. Zugleich sind die bestehenden Liegenschaften in Bezug auf die laufenden Energiekosten kritisch zu evaluieren und bei Überschreiten von 100 000
Euro pro Jahr und Liegenschaft auf deren grundsätzliche Contracting-Eignung zu prüfen. Die Energieeffizienz als Planungsgröße für Nichtwohngebäude in öffentlicher Hand ist nach Meinung der FDP-Fraktion
noch unterentwickelt. Hier muss insbesondere auf europäischer Ebene darauf hingewirkt werden, dass die
Sanierungsrate auf 2 Prozent erhöht wird. Eine automatisierte, verpflichtende Sanierungsquote, die insbesondere Fragen der Wirtschaftlichkeit und der Finanzkraft der öffentlichen Haushalte unberücksichtigt lässt,
lehnen wir jedoch ab.
All dies wird nicht umsetzbar sein ohne ein dezidiertes Wissen und validierte Daten über Energie- und
Ressourceneffizienz, innovative, neue Technologien
und Baustoffe, über Herstellungsmethoden und Transportlogistik einzelner Materialien oder die Nachhaltigkeit der Baukonstruktion und Bauausführung. Kürzere Transportwege von Baustoffen senken die CO2Emissionen, bleiben jedoch unwirksam, wenn die HerZu Protokoll gegebene Reden
Petra Müller ({0})
stellertechnologie veraltet und besonders energieintensiv ist. Baustoffe günstiger Energiebilanz in der
Herstellung und gebäudebezogenen Anwendung bleiben trotzdem ineffizient, wenn die Lebenszyklen zu kurz
sind. Der Einsatz von Faserzementen, von recyceltem
Glas oder von Kunst- und Verbundstoffen kann die
Energie- und Ökobilanz deutlich verbessern - viele
Verfahren und Baustoffe sind aber im traditionellen
Handwerk und Baugewerbe wenig bekannt und nicht
langzeitig evaluiert.
Deshalb ist es das Ziel liberaler Politik, den Einsatz
biogener oder technologisch innovativer Baustoffe
nicht nur zu fördern und voranzutreiben. Wir werden
die Bauforschung und die gebäudebezogene Anwendungsforschung stärken. Es müssen darüber hinaus
Konzepte zur Energie- und Ressourcenschonung sowie
das Wiederverwenden von Baustoffen gezielt gefördert
werden. Auch hier hat der Bund als Bauherr eine Vorbildfunktion, der er im Leitfaden Nachhaltiges Bauen
gerecht wird, die in der praktischen Umsetzung jedoch
ausbaufähig ist.
Energieeffizientes und nachhaltiges Bauen sind
nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für unseren
Erfolg in der Klimawende. Sie sind darüber hinaus ein
Technologie- und Wettbewerbsvorteil unserer deutschen Bauwirtschaft. Energieeffizienz am Bau und
beim Bauen zu fördern und gesetzgeberisch zu unterstützen, hilft zugleich dem Wirtschaftsstandort Deutschland und sichert uns eine exportorientierte Technologieführerschaft. Zugleich sieht es die FDP-Bundestagsfraktion als Stärkung unserer spezifisch deutschen
Baukultur, die weltweite Anerkennung genießt aufgrund ihrer Innovationsfähigkeit bei gleichzeitiger
Pflege des traditionellen Erbes.
Die Ziele der energetischen Sanierung sind nach
liberalem Verständnis deshalb unbedingt mit der
Architekturqualität, der Stadtbildpflege und dem
Denkmalschutz in Einklang zu bringen. Ökologie,
Ökonomie und soziokulturelle Belange sind Schutzgüter und -ziele, die auch angesichts der politischen Ziele
„Nachhaltigkeit“ und „energieeffizientes Bauen“
keine Widersprüche bilden dürfen. Hier bietet das liberale Modell der energetisch-dynamischen Stadtsanierung einen zukunftsfähigen Entwurf der Bau- und
Stadtentwicklungspolitik von morgen.
Heidrun Bluhm ({1}):
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen stellt gewissermaßen einen Ergänzungsantrag zu dem ebenfalls heute zum Top 17 vorgelegten
Antrag „Energiewende im Gebäudebereich sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zukunftsweisend umsetzen“ dar, und er steht im Kontext zu dem
in der 198. Sitzung des Bundestages mit Zustimmung
aller Fraktionen verabschiedeten „Gesetz zur Anpassung des Bauproduktengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften an die Verordnung ({2}) Nr. 305/2011 zur
Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten“.
Mit diesem Antrag sollen nun weitere Detailregelungen zum privilegierten Einsatz ökologischer Baustoffe eingeführt werden; die Subventionierung „herkömmlicher“, petrochemischer Kunststoffe und CO2intensiver Baustoffe dagegen soll abgebaut werden.
Dazu schlagen Bündnis 90/Die Grünen ein ganzes
Maßnahmenbündel vor, mit dem eine Vielzahl von Anwendungsfällen erfasst und geregelt werden soll. Das
geht zum Beispiel bis hin zur Vorgabe von „mindestens
dreigliedriger Fruchtfolge, Sortimentsvielfalt, Bevorzugung von Kulturen mit geringem Nährstoffbedarf“
usw.
Und an der Stelle sage ich: Stopp! Nicht, weil ich
die Regelungen im Einzelnen für falsch hielte; sie mögen ja in die richtige Richtung zielen. Ich frage mich
aber, wie die Akteure in der Bauwirtschaft - in der
Praxis - all diese Regelungen kennen und anwenden
sollen und wer am Ende deren Einhaltung überprüft,
Nichteinhaltung gegebenenfalls sanktioniert usw.
Ich wiederhole, was ich auch schon zum vorangegangenen Antrag gesagt habe: Die allerbesten Regelungen, Normen und Vorschriften bleiben wirkungslos,
wenn sie bei denen, die sie umsetzen sollen, und bei denen, die am Ende davon betroffen sind, keine Akzeptanz finden, schon, weil niemand absehen kann, welches Aufwand-Nutzen-Verhältnis hier erzeugt wird und
wer am Ende wie viel bezahlen muss. Im Gegenteil: Sie
erzeugen Verdruss, Widerstand, das Bestreben, Vorschriften zu umgehen, oder zumindest neue Forderungen nach Ausnahme- und Befreiungsregelungen. Und
so verkehrt sich das Gewollte und gut Gemeinte in sein
Gegenteil.
Wir sind - meine ich - an einem Punkt angekommen, wo es nicht mehr darum gehen kann, das eigentliche Ziel, nämlich den Klimaschutz, mit immer mehr
Einzelvorschriften und Lösungsforderungen für jeden
Spezialfall zu überfrachten und ihn damit am Ende
möglicherweise zu diskreditieren. Vielmehr sollten wir
eine Bestandsaufnahme machen ({3}), die erfasst,
welche einschlägigen Gesetze, Vorschriften, Bestimmungen es zum Klimaschutz im Baubereich bereits
gibt. Wir sollten prüfen ({4}), wo es Parallelregelungen gibt, wo Vorschriften sich möglicherweise widersprechen, wo sie sich konterkarieren.
Wir haben uns im Parlament bei der Abstimmung
zum Bauproduktengesetz darauf geeinigt, dass die
Überwachung der dort fixierten Regelungen dem
Deutschen Institut für Bautechnik obliegen soll. Das
halte ich für vernünftig. Ich hielte es auch für einen
lohnenden Auftrag an dieses Institut, eine Bestandsaufnahme auf den Weg zu bringen und in einer Synopse
zusammenzufassen, die alles enthält, was an Klimaschutzregelungen in der Bauwirtschaft bereits vorhanden ist. Ergebnisoffen! Das, was uns dann vorliegt,
sollten wir an den langfristigen Klimaschutzzielen
messen und daraus einen Fahrplan entwickeln, wann
in welchem Bereich welche Regelung greifen muss,
welche vielleicht überholt und verzichtbar ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Heidrun Bluhm
Für die Wohnungswirtschaft sind Zielvorgaben in
Etappen bis 2020 und 2050 formuliert. Auf solche Zeiträume muss sich die gesamte Wohnungswirtschaft einstellen können, weil gerade dort Investitionsentscheidungen mit langer Laufzeit getroffen werden. Im
Ergebnis muss auch abgebildet sein, wann welche
Kosten auf wen zukommen. Schließlich muss ja auch
die Politik darauf eingestellt sein, dass Klimaschutz einen langen Atem braucht und die Kosten dafür in einem legislaturübergreifenden Finanzierungskonzept
festgeschrieben werden müssen, und zwar unabhängig
von politischer Coleur und unumkehrbar.
Wenn wir uns verlässlich auf einen solchen Rahmen
einigen können, brauchen wir nicht für jeden Spezialfall eine abschließende, dauerhaft verbindliche Regelung. Stattdessen könnten wir zu einer partei- und
wahlperiodenübergreifenden politischen Rahmenvereinbarung - im Sinne eines flexiblen, lernenden Programms - kommen, die der Generationenaufgabe
„Klimaschutz“ wirklich gerecht wird. Das jedenfalls
ist mein Verständnis von Nachhaltigkeit.
Wie wir alle wissen, spielt der Gebäudebereich für
das Erreichen der Klima- und Energieeinsparziele
eine zentrale Rolle. Aber mit den Klimazielen gehen
auch Fragen der Versorgungssicherheit einher. Das
Gros der fossilen Energierohstoffe wird aus außereuropäischen Ländern importiert, und es wird immer teurer. Deutschland lag in 2008 mit einem Erdölverbrauch von 118,1 Millionen Tonnen an sechster Stelle
der zehn Länder mit dem weltweit größten Erdölverbrauch. Die deutsche Wirtschaft zahlte im Jahr 2010
allein für ihre Ölimporte 41,6 Milliarden Euro.
Um die Klimaschutzziele zu erreichen, den Energieverbrauch sowie die CO2-Emmissionen zu senken und
die Abhängigkeit von Erdölimporten zu reduzieren, ist
also die Steigerung der Ressourcen-, der Energieeffizienz und der Nachhaltigkeit im Gebäudebestand ein
wichtiger Baustein.
In Bezug auf die Modernisierung der Wärmeversorgung von Gebäuden sind immerhin erste Schritte eingeleitet. Alternative Baustoffe haben aber trotz des
großen Substitutionspotenzials nur wenig Eingang in
die Aktionsprogramme zur Gebäudesanierung gefunden, und selbst im Neubau sind sie nur die Ausnahme.
Ein Großteil der in Deutschland benötigten energetischen und nichtmetallischen, mineralischen Rohstoffe
wird im Land gewonnen. Bausande und -kiese sind mit
einem Abbauvolumen von etwa 239 Millionen Tonnen
die wichtigsten mineralischen Rohstoffe, auf die knapp
ein Drittel der heimischen Rohstoffproduktion entfällt.
Die Entnahme von Rohstoffen beeinflusst die Umwelt negativ, unter anderem durch Veränderungen der
Landschaft, Abholzung der Vegetation für Tagebaue,
Absenken der Grundwasserspiegel, die Belastung des
Grundwassers mit Metallen oder durch Versauerung
sowie durch das Risiko von Bergschäden.
Die von Rot-Grün eingeführten Marktanreizprogramme für ökologische Baustoffe wurden von den
nachfolgenden Bundesregierungen leider nicht weitergeführt. Die Absatzzahlen im Bereich der Dämmstoffe
auf Basis nachwachsender Rohstoffe konnten durch
die Marktanreizprogramme kurzfristig gesteigert werden. Die Laufzeit der Programme war zu kurz, um
wesentliche dauerhafte Preissenkungen bei den Produkten zu erreichen. Diese konnten gegenüber den
Produkten aus der steuerbefreiten stofflichen Nutzung
von Erdöl keine gesteigerte Konkurrenzfähigkeit entwickeln, obwohl die im Neubau und der energetischen
Gebäudesanierung üblicherweise verwendeten Baustoffe hinsichtlich Energieverbrauch, CO2-Emissionen,
Haltbarkeit, Schadstofffreiheit und Recyclingfähigkeit
vielfach mangelhaft sind.
Obwohl die konventionellen organisch-synthetischen Dämmstoffe über die Steuerbefreiung für die
stoffliche Nutzung von Erdöl bereits einen Marktvorteil haben, sind ökologisch nachhaltige Baustoffe in
der Fördersystematik der KfW mit Dämmstoffen auf
petrochemischer Basis gleichgestellt. Schaut man auf
die Zahlen der CO2-Gebäudesanierungsprogramme
der KfW, so erkennt man: Seit 2006 wurden der Neubau und die energetische Sanierung von 2,4 Millionen
Wohnungen finanziert. Über die entsprechenden Fördermittel wurden Investitionen mit einem Volumen von
74 Milliarden Euro angestoßen, circa 4,6 Millionen
Tonnen CO2 eingespart und 320 000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert.
Für die Verwendung ökologischer Baustoffe gäbe es
bei Betrachtung dieser Zahlen somit ein erhebliches
Potenzial. Die Bundesregierung sollte daher erwägen,
die Subventionierung petrochemischer Kunststoffe und
CO2-intensiver Baustoffe abzubauen und die Steuerbefreiung für die stoffliche Nutzung von Erdöl abzuschaffen. Die Steuerbefreiung für die stoffliche Nutzung von
Erdöl stellt eine Marktverzerrung zugunsten umweltund klimaschädlicher sowie energieaufwendiger Produkte dar. Die steuerliche Gleichstellung würde einen
deutlichen ökonomischen Anreiz zur Nutzung nachwachsender Rohstoffe setzten.
Die Energie- und Stromsteuersubventionen für die
energieintensive Herstellung von Baustoffen wie Zement und Keramik sollten nur gewährt werden, wenn
die Produktion sonst nachweislich von der Verlegung
ins weniger stark regulierte Ausland bedroht wäre und
keine gleichwertigen Alternativbaustoffe mit besserer
Umweltbilanz bereitstehen. Auch ist es überlegenswert, das Bergrecht grundlegend zu reformieren, und
das auch aus weiteren Gründen, wie etwa mangelhaften Regelungen zu Transparenz und Bürgerbeteiligung.
In Deutschland kann von den Ländern nach dem
geltenden Bergrecht eine Förderabgabe von 10 Prozent oder mehr des Rohstoffwertes auf sogenannte
bergfreie Bodenschätze erhoben werden. Allerdings ist
die derzeitige Aufteilung in bergfreie und grundeigene
Bodenschätze und damit die Aufteilung, für welche BoZu Protokoll gegebene Reden
denschätze Förderabgaben grundsätzlich zu zahlen
sind und für welche nicht, willkürlich. Darüber hinaus
gibt es zahlreiche Ausnahmeregelungen, sodass in der
Regel überhaupt keine Förderabgabe gezahlt wird.
Diese Regelung ist wie weite Teile des übrigen deutschen Bergrechts nicht mehr zeitgemäß. Bis heute stehen hier völlig einseitig die Interessen der Bergbautreibenden im Vordergrund, nicht die Schonung von
Ressourcen. Wir wollen das Bergrecht umfassend reformieren.
Die Zahlung einer Förderabgabe muss der Regelund nicht der Ausnahmefall in Deutschland sein. Wir
wollen daher eine Förderabgabe in Höhe von mindestens 10 Prozent konsequent auch auf nicht erneuerbare Baustoffe wie Kies und Sand erheben. Dies ist gerechtfertigt, da beim Rohstoffabbau in der Regel in
erheblichem Umfang Gemeingüter in Anspruch genommen werden. Jedenfalls sind die bestehenden
Förderabgaben nicht ausreichend, und die vielen Ausnahmen machen diese ineffizient. Die konsequente Erhebung einer Förderabgabe schafft Anreize für Ressourceneffizienz, gerade bei dem bisher nicht erfassten
Abbau von Massenrohstoffen der Bauindustrie wie
Kies, Sand und Gesteinen. Die Verpflichtung zur Zahlung wollen wir auf alle hierzulande geförderten Bodenschätze ausdehnen. Sie sollte nur in begründeten
Ausnahmefällen und zeitlich eng befristet erlassen
werden und weiterhin den Ländern zugutekommen.
Wir wollen Unternehmen, die nachweislich besonders energieintensiv sind und in intensivem internationalem Wettbewerb stehen, weiterhin Erleichterungen
bei den Energiesteuern oder bei den Umlagen für erneuerbare Energien gewähren, um eine Abwanderung
von Unternehmen zu vermeiden. Allerdings müssen
diese Subventionen zukünftig an den im Einzelfall
nachgewiesenen Härten bemessen und an konkrete Effizienzverpflichtungen geknüpft werden, damit nicht
Verschwendung und technologischer Stillstand subventioniert werden.
Der Einsatz ökologischer Baustoffe sollte im Neubau und in der energetischen Sanierung stärker gefördert und daher ein Modellprogramm für ökologische
Baustoffe initiiert werden. Die Standards für Baustoffe
sollten um den Energieverbrauch ergänzt werden und
den gesamten Lebenszyklus der Baustoffe, inklusive
des Energieverbrauchs bei Herstellung, Betrieb und
Entsorgung, berücksichtigen.
Die Energieausweise für Gebäude müssen dringend
um eine Nachhaltigkeitsbewertung mit Lebenszyklusbetrachtung der Gebäude erweitert werden. Auch dürfen ökologische Baustoffe in den Bauordnungen des
Bundes und der Länder nicht länger diskriminiert werden, wie etwa bei den Brandschutzkategorien.
Sehr sinnvoll wäre es, die Programme der KfW für
Neubau und Sanierung stärker auf den Einsatz ökologischer Baumaterialien auszurichten. Denn viele der
im Neubau und in der energetischen Gebäudesanierung herkömmlich verwendeten Baustoffe erfüllen
Anforderungen an das Nachhaltigkeitsprinzip hinsichtlich ihrer Haltbarkeit, Schadstofffreiheit und Recyclingfähigkeit nur mangelhaft. Die Grundlagenforschung im Bereich der ökologischen Baustoffe und
Bauweisen, beispielweise durch ein Forschungsprogramm „Bauen mit Holz“, muss daher dringend intensiviert werden.
Zum Instrumentarium einer nachhaltigen Ressourcenpolitik gehören auch Ressourcensteuern und -abgaben. Negative gesellschaftliche Umweltauswirkungen, die durch den Abbau von Rohstoffen entstehen,
können durch Steuern und Abgaben internalisiert werden. Nötig ist deshalb ein Forschungsprogramm, das
konkrete Möglichkeiten des Einstiegs in die Rohstoffbesteuerung aufzeigt. Die vielfältige Diskriminierung
ökologischer Baustoffe in Deutschland muss endlich
ein Ende haben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 17/11380 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Impulse für einen wirksamen und umfassenden Schutz der Afrikanischen Elefanten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian
Ruck, Josef Göppel, Marie-Luise Dött, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Michael Kauch,
Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Impulse für einen wirksamen und umfassenden Schutz der Afrikanischen Elefanten
- Drucksachen 17/11554, 17/10110, 17/11715 Berichterstattung:Abgeordnete Josef GöppelDr. Matthias MierschAngelika BrunkhorstEva Bulling-SchröterDorothea Steiner
Auch hierzu werden die Reden zu Protokoll genommen.
Ich freue mich besonders, dass wir heute einen interfraktionellen Antrag zum Elefantenschutz beraten
und beschließen können.
Der Afrikanische Elefant ist seit 1989 als „unmittelbar bedrohte Art“ - also in der höchsten Kategorie im Washingtoner Artenschutzabkommen aufgeführt.
Dieses majestätische Tier erlitt durch Verfolgung und
Zerstörung seines Lebensraums einen starken Rückgang. Die Aufnahme in das Artenschutzabkommen war
eine erste Reaktion darauf und hat vor allem im südlichen Afrika Früchte getragen - ich komme noch darauf zurück.
In einigen Regionen Afrikas jedoch haben Wilderei
und illegaler Elfenbeinhandel ein besorgniserregendes
Ausmaß erreicht und zu massiven Bestandseinbrüchen
geführt. Ein besonders drastisches Beispiel ist die Tötung von etwa 400 Tieren Anfang dieses Jahres im
Bouba-Ndjida-Nationalpark in Kamerun. Hier wie
auch in anderen Bereichen sind es oft große, militärisch ausgerüstete Wildererbanden aus Nachbarstaaten, auf deren Konto diese Taten gehen. Aber auch einige afrikanische Staaten handeln illegal mit
Elfenbein. Der Kauf des „weißen Goldes“ finanziert
also korrupte Regime. Die meisten Kunden leben in
asiatischen Ländern, in denen Elfenbein als Statussymbol und Luxusobjekt gilt. Vor allem in China und
Hongkong, aber auch in Malaysia, Vietnam, Thailand
und anderen Ländern hat die positive wirtschaftliche
Entwicklung die Nachfrage nach Elfenbein so weit angefacht, dass 2011 ein Rekordjahr bei der Beschlagnahmung von illegalem Elfenbein war. Schätzungen
zufolge werden pro Jahr rund 38 000 Elefanten gewildert; das sind etwa 10 Prozent des weltweiten Bestands. Die Tendenz ist steigend aufgrund steigender
Absatzpreise. Würde sich dieser Trend fortsetzen, wäre
in weiten Regionen Afrikas mit dem vollständigen Verlust dieser Art zu rechnen.
Gesunde und tragfähige Elefantenpopulationen sind
jedoch entscheidend für viele Ökosysteme des afrikanischen Kontinents. Der Elefant leistet einen wichtigen
Beitrag zur Offenhaltung der typischen, afrikanischen
Savannen. Er reduziert den Baumbewuchs und erhält
so maßgeblich die Lebensgrundlage für zahlreiche
weitere Arten. Von einem konsequenten Elefantenschutz profitieren also auch andere Geschöpfe. Elefanten steigern, als symbolträchtige Tiere der afrikanischen Steppe, in besonderem Maße die touristische
Attraktivität vieler Regionen für Safaris und Tierbeobachtungsreisen. Gesunde Wildtierbestände stellen
also eine wesentliche wirtschaftliche Grundlage vieler
afrikanischer Kommunen dar und sind somit von materieller Bedeutung für die lokale Bevölkerung. Die zunehmende Wilderei kann demnach nicht nur das Tourismusgeschäft, sondern zugleich die wirtschaftliche
Stabilität der Region massiv gefährden. Auch anerkannten Projekten zur Armutsbekämpfung, die auf den
Einnahmen aus dem Tourismus basieren, kann durch
Wilderei die Grundlage entzogen werden. Ein erfolgreicher Schutz der Elefanten hat also positive Effekte,
die weit über den Artenschutz hinausgehen.
Der Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste und der
KAZA-Peace-Park im südlichen Afrika sind nur zwei
Beispiele der erfolgreichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit beim Schutzgebietsmanagement, die
die enge Verknüpfung eines wirksamen Natur- und
Waldschutzes mit den wirtschaftlichen Bedürfnissen
der lokalen Bevölkerung belegen. Diese Projekte gilt
es fortzusetzen und weiter auszudehnen. Die Mittel dafür stehen, auch dank deutscher Unterstützung, bereit.
Ich sagte es eingangs schon: In manchen Gegenden
wirkt sich das Artenschutzabkommen positiv auf die
Tierbestände aus. In den Bereichen Afrikas mit stabilen Elefantenpopulationen, wie Botswana, Namibia,
Zimbabwe und Südafrika, gibt es jedoch teilweise Probleme durch das Ausweichen von Elefanten aus den zu
engen verbliebenen Lebensräumen in menschliche
Siedlungen oder auf landwirtschaftliche Flächen. Hier
müssen die Schutzgebiete erweitert oder durch Korridore vernetzt werden, sodass der Lebensraum der Elefanten vergrößert und Konflikte zwischen Menschen
und Wildtieren verringert werden.
Auf internationaler Ebene gilt es, die afrikanischen
Staaten in ihren direkten Schutzbemühungen und die
Vollzugsorgane bei deren Umsetzung zu unterstützen.
Es müssen aber auch die Transit- und Abnehmerländer
deutlich auf ihre Verantwortung hingewiesen werden.
Und in der Bevölkerung der Zielländer muss das Bewusstsein für den Schutz der Elefanten gefördert werden, um die Nachfrage nach Elfenbein zu reduzieren.
Nach einer Studie des IFAW glauben viele Chinesen,
dass Stoßzähne einfach abfallen würden wie Milchzähne oder ein Hirschgeweih. Aufklärung in den Abnehmerländern ist für das Überleben der Afrikanischen Elefanten also eine wichtige Maßnahme. Wenn
die Absatzmärkte kleiner werden, wird sich die Wilderei automatisch verringern.
Unser gemeinsamer Antrag gibt der Bundesregierung klare Vorgaben bei internationalen Verhandlungen auf all diesen Handlungsfeldern.
Nach Angaben von Natur- und Artenschutzverbänden wird erwartet, dass in diesem Jahr weit über
30 000 Afrikanische Elefanten gewildert werden. Damit setzt sich der Trend der letzten Jahre fort, der die
Elefantenbestände in Afrika massiv einbrechen lässt
und alle Bemühungen, stabile Populationen zu erhalten und dauerhaft zu schützen, konterkariert. Insbesondere die ohnehin schon seltenen Waldelefanten sind
stark gefährdet.
Ursachen für die massive Wilderei sind die hohe
Nachfrage nach Elfenbein in China und anderen
asiatischen Ländern und die hohen Gewinne, die die
professionell organisierten Wilderer bei gleichzeitig
geringem Risiko gefasst zu werden, machen können.
Die neuen Regelungen im Rahmen der letzten CITESKonferenz haben diese Situation eher verschlimmert
als verbessert: Die Möglichkeit, kleinere Elfenbeinbestände kontrolliert abzuverkaufen, führte zu einer massiven Ausweitung des Handels. Zusätzlich erschweren
korrupte Regierungen, nicht funktionierende JustizZu Protokoll gegebene Reden
und Polizeistrukturen sowie Bürgerkriege den Kampf
gegen die Wilderei. Aktuell leiden die betroffenen afrikanischen Staaten in der Folge unter Einnahmeausfällen aus dem nachhaltigen Naturtourismus.
Ich begrüße, dass wir nach langen Verhandlungen
einen interfraktionellen Antrag erarbeitet haben, der
den deutschen und europäischen Verhandlungsführern
auf der 16. Vertragsstaatenkonferenz des Washingtoner
Artenschutzabkommens im März nächsten Jahres eine
gute Verhandlungsgrundlage liefert. Unser Antrag hat
zum Ziel, dem Afrikanischen Elefanten den größtmöglichen Schutzstatus zukommen zu lassen.
Ich bin auch gerade deswegen froh, dass wir dies
geschafft haben, weil zwischenzeitlich die Koalition
und insbesondere die FDP die Konsenslinie verlassen
hat. Sie hat die Bundesregierung aufgefordert, „sich
für einen Abverkauf von Elfenbeinbeständen auszusprechen, wenn sichergestellt ist, dass es sich ausschließlich um Elfenbein aus einer lokal erforderlichen Bestandsregulation handelt“.
Die FDP ließ außer Acht, dass durch diese Regelung erst das Schlupfloch aufgemacht wurde, dass der
massiven Wilderei Vorschub leistete. Darüber hinaus
suggeriert der „ehemalige“ Koalitionsantrag, die Wilderei diene der Einkommenssicherung der lokalen Bevölkerung. Auch hier irrte die Koalition. Bei den Wilderern handelt es sich um gut organisierte und
schwerbewaffnete Banden sowie marodierende ehemalige Soldaten. Die lokale Bevölkerung leidet vielmehr unter der Brutalität dieser Gruppen und unter
dem bereits angesprochenen Fernbleiben von Touristen, die Interesse an naturnaher Erholung haben. Dankenswerterweise haben sich in der Koalition besonnene Kräfte durchgesetzt, die dafür gesorgt haben,
dass dieser unsägliche Antrag, der bereits von den Koalitionsfraktionen verabschiedet und in den Deutschen
Bundestag eingebracht war, zurückgezogen wurde.
Zum Schluss möchte ich die Hoffnung aussprechen,
dass unser Antrag dazu beitragen wird, die Afrikanischen Elefanten langfristig zu schützen. Der Afrikanische Elefant spielt eine wichtige Rolle in Savannenund Waldökosystemen; sein Verlust hätte weitreichende
Folgen auch für die anderen dort lebenden Arten. Es
geht daher nicht nur um die Rettung eines „Sympathieträgers“, sondern um den Erhalt der Biodiversität in
Afrika, des nachhaltigen Tourismus und der damit verbundenen Einnahmemöglichkeiten für die lokale Bevölkerung.
Die FDP-Fraktion ist zufrieden, dass wir nach einigen Verhandlungsrunden gemeinsam mit der Union,
der SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen interfraktionellen Antrag zum Schutz der Elefanten auf den Weg
gebracht haben.
Seit dem Verbot des kommerziellen Elfenbeinhandels im Jahr 1989 haben sich die Elefantenpopulationen auf dem afrikanischen Kontinent in zwei Richtungen entwickelt. In Südafrika konnten sich die
Tierbestände nach einer herben Dezimierung in den
70er- und 80er-Jahren sehr gut erholen. Die Herden
haben sich hier teilweise derart gut entfalten können,
dass sie auf der Suche nach weiterem Lebensraum in
besiedelte Gebiete vordringen und Konflikte mit der
Bevölkerung verursachen. Ganz anders sieht die Situation in Ländern Zentralafrikas aus. Hier hat die Elfenbeinwilderei in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Vor allem die starke Nachfrage aus
Ostasien heizt die Wilderei nach den wertvollen Stoßzähnen weiter an.
Der illegale Elfenbeinhandel ist ein lohnendes Geschäft. Militärisch aufgerüstete Banden machen Jagd
auf die Großtiere und dezimieren die Elefantenpopulationen dramatisch. Die Menge des beschlagnahmten
Elfenbeins erreichte im Jahr 2011 ihren bislang höchsten Stand seit dem Handelsverbot im Jahr 1989. Wir
nehmen diese Entwicklung sehr ernst und fordern die
Bundesregierung auf, sich stärker für den Schutz der
Afrikanischen Elefanten einzusetzen. Wir wollen den
betroffenen afrikanischen Ländern dabei helfen, die
Lebensräume und Rückzugsgebiete der Elefanten
durch gezielte Vernetzung der Schutzgebiete zu verbessern.
Vor allem in Zentralafrika stehen den Elfenbeinjägern aufgrund teilweise schwacher Regierungsstrukturen und der hohen Korruptionsanfälligkeit Tür und Tor
offen, und die betroffenen Länder stoßen im Umgang
mit den professionell handelnden Wilderern an ihre
Grenzen. Wir müssen dringendst gemeinsam mit den
entsprechenden afrikanischen Staaten effektive Maßnahmen gegen die ausufernde Elefantenjagd finden.
Hier können wir Hilfe und Know-how im Kompetenzaufbau der Polizei- und Zollbehörden anbieten. Parallel gilt es, gemeinsam sowohl auf internationaler
Ebene als auch mit den Abnehmer- und Transitländern
des Elfenbeins Lösungen im Kampf gegen den illegalen Handel zu entwickeln.
Im kommenden Jahr findet die 16. CITES-Vertragsstaatenkonferenz statt. Hier wird das Elefantenthema
auf der Agenda stehen. Die Ausweitung und Vernetzung der Schutzgebiete sowie Maßnahmen im Kampf
gegen den illegalen Handel müssen diskutiert werden.
Zur Bekämpfung des illegalen Elfenbeinhandels bedarf es sowohl einer konzertierten Aktion der Herkunftsländer als auch der Abnehmerländer. Wir fordern die Bundesregierung auf, die afrikanischen
Länder aktiv im Kampf gegen Wilderei und Elfenbeinhandel zu unterstützen und vor allem im Rahmen der
Verhandlungen des Washingtoner Artenschutzübereinkommens, CITES, auf einen besseren Schutz dieser
einmaligen Tiere zu drängen.
2013 findet vom 4. bis 13. März die 16. Vertragsstaatenkonferenz zum Washingtoner Artenschutzübereinkommen - CoP16, CITES - in Bangkok statt. Dort
wird unter anderem über die Zukunft des AfrikaniZu Protokoll gegebene Reden
schen Elefanten beraten. Dazu liegt bereits ein Antrag
Tansanias zur Herabstufung des Afrikanischen Elefanten von Anhang I - unmittelbar bedrohte Arten, deren
Handel verboten ist - auf Anhang II - geschützte Arten, deren Handel mit Einschränkungen erlaubt ist vor.
Es ist Zeit, zu handeln und den Schutz der grauen
Riesen endlich konsequent voranzutreiben. 2009 wurden schätzungsweise 38 000 Elefanten in Afrika gewildert. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Zahl
sich ohne weiteres Zutun der internationalen Gemeinschaft in den nächsten Jahren ändert. Die Bundesregierung sollte sich nicht nur auf der Konferenz, sondern auch schon im Vorfeld für den verstärkten Schutz
des Afrikanischen Elefanten einsetzen und diesen über
die Konferenz hinaus kritisch begleiten. Ich bin froh,
dass es zu einem interfraktionellen Antrag kommen
konnte und so von deutscher Seite der Versuch gemacht wird, Elefanten besser zu schützen.
Die Forderung zum Abverkauf von Elfenbeinbeständen und die Bemerkung zur Wilderei als Sicherung
der lokalen ökonomischen Einkommensquelle sind
glücklicherweise gestrichen. Traurig bin ich darüber,
dass die Linke wiederum nicht in die Antragstellung
einbezogen wurde. Andererseits ergibt sich daraus für
uns die Chance, unsere Forderungen ohne Aufweichung und konsequent für den Schutz des Afrikanischen Elefanten in die Debatte einzubringen. Eine Herabstufung von Anhang I auf Anhang II in CITES ist
nach unserer Meinung nicht nur kritisch zu prüfen,
sondern generell abzulehnen; denn daraus resultiert
zum Beispiel ein verstärkter Elfenbeinhandel. Derzeit
sind Afrikanische Elefanten in Botswana, Namibia,
Simbabwe und Südafrika in Anhang II gelistet. Zusätzlich treten wir gegen das sogenannte Culling ein, bei
dem im Rahmen von Bestandsregulierungsmaßnahmen
ganze Elefantenherden geschossen werden.
Für die Stabilität von Elefantenpopulationen, aber
auch für eine Vermeidung von Mensch-Elefant-Konflikten sind der Erhalt, die Ausweitung und die Vernetzung von arttypischen Lebensräumen zwingend erforderlich. Dabei ist die betroffene Bevölkerung von
Anfang an mit einzubeziehen, um den langfristigen Erhalt der Biotope sicherzustellen. Über eine Ablehnung
der Herabstufung hinaus fordern wir eine generelle
Listung des Afrikanischen Elefanten in Anhang I von
CITES.
Da ein solches Uplisting aber lediglich das betreffende Land selbst beantragen kann, setzen wir uns
zusätzlich für ein Populationsmodell in CITES ein.
Dieses Populationsmodell steht dem bisherigen Ländermodell gegenüber, nach dem es erlaubt ist, eine Population, die im einen Land nach Anhang I geschützt
ist, im anderen Land verstärkt zu schießen, sofern der
Afrikanische Elefant dort in Anhang II gelistet ist. Das
ist absurd. Im Populationsmodell hingegen wird eine
Elefantenpopulation in ihrem Gesamthabitat betrachtet und gleich bewertet. Dieses Populationsmodell
würde bei Änderung in CITES natürlich auch für alle
anderen dort gelisteten Populationen gelten.
Schon jetzt hinkt Deutschland seinem ODA-Versprechen - ODA: Official Development Assistance - nicht
nur global, sondern auch für Afrika hoffnungslos hinterher. 0,7 Prozent des Bruttoinlandseinkommens sollten für die Finanzierung der Entwicklungshilfe ausgegeben werden. Aktuell sind es 0,4 Prozent. Die
Forderung, aus dem „bestehenden finanziellen Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit“
Gelder für den Elefantenschutz und den Polizeiaufbau
zu verwenden, ist vor diesem Hintergrund geradezu
grotesk und wird von uns natürlich abgelehnt. Vielmehr
sollen für den Elefantenschutz Gelder unabhängig von
den Entwicklungshilfezahlungen fließen. Zusätzlich
müssen die verschiedenen Kontrollmechanismen gefördert werden.
Tansania beantragt für die kommende Artenschutzkonferenz eine Herabstufung seiner Elefantenbestände
und den Abverkauf von über 100 Tonnen Elfenbein.
Zimbabwe hat seine Ankündigung zum Glück nicht
wahrgemacht. In Tansania ist in den letzten drei Jahren laut dortigen Presseartikeln der Elefantenbestand
um 42 Prozent zurückgegangen. Wilderei und Elfenbeinschmuggel sind immer noch Hauptproblem. Der
Zoll in Hongkong hat erst vor wenigen Wochen eine
Rekordmenge an geschmuggeltem Elfenbein abgefangen: Er stellte fast vier Tonnen im Wert von 3,4 Millionen Dollar - das entspricht 2,6 Millionen Euro - sicher; die Hälfte der Ware stammte aus Tansania. Dass
das Land dennoch einen solchen Antrag stellt, bekräftigt, wie klar nun die Botschaft der restlichen Welt sein
muss: nein zu jeglicher weiteren Lockerung, ein Stopp
jedes Elfenbeinhandels. Die Bundesregierung und die
EU sollten noch vor Beginn der internationalen Artenschutzkonferenz im März 2013 Tansania dazu auffordern, diesen Antrag zurückzuziehen.
Diese und die vorher erwähnten Forderungen sind
Inhalt unseres Änderungsantrages, den sie ja schon im
Ausschuss abgelehnt haben.
Ich freue mich außerordentlich, dass wir uns in diesem Haus fraktionsübergreifend verständigt haben,
den Afrikanischen Elefanten weiterhin konsequent zu
schützen. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der
Koalitionsfraktionen - und namentlich Josef Göppel dafür, dass sie ihre erste Antragsversion weiter qualifizieren konnten.
Selten sind wir uns im Natur- und Artenschutz so einig wie bei der Einschätzung der Situation der Afrikanischen Elefanten. Grund dafür sind die immer neuen
und immer dramatischeren Zahlen zum illegalen Elfenbeinhandel und zur grausamen Elefantenwilderei.
Schätzungen internationaler Natur- und Artenschutzorganisationen zufolge sind allein im vergangenen
Jahr über 2 500 Elefanten illegal getötet worden, um
an ihr vermeintlich wertvolles Elfenbein zu gelangen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Undine Kurth ({0})
Dies zeigt, dass ungeachtet des hohen Schutzstatus
durch das Washingtoner Artenschutzabkommen noch
immer keine Bestandserholung absehbar ist. Die Rote
Liste der IUCN ist Beleg für meine Aussage.
Um das drohende Aussterben der Elefanten zu verhindern, wurde 1989 im Rahmen des Washingtoner Artenschutzabkommens ein weltweites Handelsverbot für
Elfenbein beschlossen und werden Elefanten in den
Anhang I des Abkommens aufgenommen. In der Konsequenz sank der Elfenbeinhandel vorerst schlagartig,
und die Wilderei ging in vielen Ländern massiv zurück.
Doch Aufweichungen des Handelsverbots durch Herabstufungen einiger afrikanischer Elefantenbestände
auf Anhang II des Abkommens - was den Handel unter
bestimmten Auflagen möglich machte - sowie partielle
Handelserlaubnisse für Elfenbein führten seit Ende
der 1990er-Jahre zu einem Wiederanstieg der Wilderei
und einer wachsenden Bedrohung der Elefanten. Diese
Entwicklung ging unmittelbar mit den Lockerungen
des Elefantenschutzes bei CITES einher und führte zu
einer vermehrten Nachfrage nach Elfenbein.
Vor diesem Hintergrund wäre es verantwortungslos,
den Schutzauftrag erneut herabsetzen und den Abverkauf von bestehenden Elfenbeinbeständen ermöglichen zu wollen. Dies würde nicht zu einem Rückgang
des illegalen Elfenbeinhandels führen, sondern die
Nachfrage weiter anheizen und die ohnehin dramatische Wilderei weiter verschlimmern.
Die Dickhäuter sind nicht einfach nur sympathische
Tiere, sondern sie spielen darüber hinaus eine Schlüsselrolle für die lokalen Ökosysteme. Die Schutzforderungen für diese Tiere sind wegweisend für die Schutzbemühungen zu anderen bedrohten Tierarten und
Ökosystemen auf dem afrikanischen Kontinent.
Mit dem gemeinsamen Antrag senden wir ein deutliches und richtiges Signal für die kommenden Verhandlungen an unsere europäischen Partner, aber vor
allem auch an die internationale Vertragsstaatengemeinschaft des Artenschutzabkommens. Wir wollen
keine weitere Herabsetzung des Schutzstatus und setzen uns dafür ein, dass der Vorsorgegrundsatz zentraler Baustein des zu entwickelnden Entscheidungsfindungsmechanismus bleibt.
An die Adresse unserer Kolleginnen und Kollegen
der Linken frage ich vor diesem Hintergrund auch, warum sie gerade die Streichung des Vorsorgegrundsatzes und die Entwicklung eines „decision making mechanism“ fordern. Dies ist eine zentrale Forderung
des internationalen Artenschutzes, die wir unterstützen, da wir auf Verhandlungen setzen und überzeugen
wollen.
Schade ist auch, dass Sie sich erst spät in die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Elefantenschutz
eingebracht haben. Das nahm uns die Möglichkeit,
Ihre Forderungen konstruktiv und ausgiebig zu diskutieren und Ihnen die inhaltlichen Mängel aufzuzeigen.
So hätten wir Ihre Forderung nach der Existenzsicherung für die lokale Bevölkerung diskutieren können
und Ihnen belegt, dass genau diese Forderung oft als
Begründung für den Abschuss lokaler Elefantenpopulationen genutzt wird. Es braucht eine Ökosystemvernetzung durch Wanderkorridore, damit übergroße regionale Populationen nicht zu einem Problem oder
einer Gefahr für die lokale Bevölkerung werden.
Dennoch lehnen wir Ihre Position nicht vollends ab
und geben Ihnen recht, wenn Sie die Erfüllung der
ODA-Quote fordern. Zwar hat die Bundesregierung
das 0,7-Prozent-Versprechen nicht explizit gegenüber
Afrika gegeben, wie Sie behaupten; aber die Unterstützung der Entwicklungszusammenarbeit, die geforderte Unterstützung beim Strukturaufbau gegen illegalen Elfenbeinhandel oder die Förderung von Waldund Naturschutzprojekten kosten Geld, und hier muss
die Bundesregierung liefern. Ich kann ihnen versichern, dass die Grünen in Regierungsverantwortung
dazu beitragen werden, diese ODA-Zielvereinbarung
schnellstmöglich umzusetzen.
Ich möchte mich aber auch an die Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen wenden. Bitte verstehen Sie unsere Unterstützung für diesen Antrag
nicht als Ermutigung, sich nun zurückzulehnen und auf
diesem Antrag auszuruhen. Der Antrag allein bringt
den so wichtigen und nötigen Schutz der Afrikanischen
Elefanten nicht weiter. Wir verstehen ihn vor allem
auch als Aufforderung an Bundesminister Altmaier,
den internationalen Arten- und Biodiversitätsschutz zu
seinem persönlichen Anliegen zu machen und seine
Teilnahme an der kommenden Artenschutzkonferenz in
Bangkok abzusichern. Nur so wird die Bundesrepublik
auf internationaler Ebene als ernstzunehmender Verhandlungspartner wahrgenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des zuständigen Ausschusses auf der Drucksache 17/11715. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des
Antrags der vorhin genannten Fraktionen auf der Drucksache 17/11554. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Dann ist die Beschlussempfehlung mit breiter Mehrheit,
wenn auch bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/10110 für
erledigt zu erklären. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anette Kramme, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke,
Uwe Kekeritz, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Präsident Dr. Norbert Lammert
Arbeitsbedingungen von Hausangestellten
verbessern - ILO-Übereinkommen Nr. 189 ratifizieren
- Drucksache 17/11370 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Was in diesem ILO-Übereinkommen Nr. 189 steht, ist
den Reden zu entnehmen, die zu Protokoll genommen
werden.
Der vorliegende Antrag von SPD und Grünen fordert eine rasche Ratifizierung des ILO-Übereinkommens Nr. 189.
Die Übereinkunft wurde von der Internationalen
Arbeitskonferenz auf ihrer 100. Tagung im Juni 2011
angenommen. Einigen Kolleginnen und Kollegen ist
diese Tagung noch in besonders guter Erinnerung,
weil Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bedeutung
des ILO-Übereinkommens hervorgehoben hat. Es soll
die Rechte von Hausangestellten stärken und sie vor
Diskriminierung und Missbrauch schützen. Dazu sieht
es umfangreiche Regelungen unter anderem zur
Gewährung fairer und menschenwürdiger Arbeitsbedingungen, zum Arbeitsschutz, zu Arbeitszeiten, zur
sozialen Sicherheit, zur Stärkung des Rechts auf
Kollektivverhandlungen und zur Kontrolle privater
Arbeitsvermittler vor. Es hat somit vor allem große
Bedeutung für Entwicklungs- und Schwellenländer.
Auch die Bundesregierung hat an der Erarbeitung des
Übereinkommens mitgewirkt. Die christlich-liberale
Koalition begrüßt die Ziele und Instrumente des ILOÜbereinkommens.
Derzeit wird der Entwurf der Denkschrift zum ILOÜbereinkommen noch geprüft. Nach sorgfältiger
Prüfung und Ressortabstimmung werden dann noch
vor der Kabinettsbefassung die Länder und die Sozialpartner um Stellungnahme gebeten. Daher ist es momentan schwierig, einen konkreten Zeitpunkt für die
Ratifizierung zu nennen. Es entspricht aber geübter
Praxis der Bundesrepublik Deutschland, solche Übereinkommen erst dann zu ratifizieren, wenn alle gesetzlichen Regelungen materiell umgesetzt sind - die Ratifizierung ist dann der Abschluss einer etwaig
notwendigen Rechtsanpassung, nicht der Beginn.
Auch wenn eine schnelle Ratifizierung des ILOÜbereinkommens wünschenswert sein mag, müssen
wir uns die Frage stellen, was die Ratifizierung de
facto an der Situation der Hausangestellten in
Deutschland ändert. Denn: Grundsätzlich sind Beschäftigte in Privathaushalten Arbeitnehmer im Sinne
des deutschen Arbeitsrechts. Auch ist Deutschland,
was beispielsweise die Arbeitszeitregelungen angeht,
insgesamt weiter, als es das ILO-Übereinkommen verlangt. Hinsichtlich der Entlohnung würde die Ratifizierung selbst auch keine Verbesserung für Hausangestellte bringen: Die Konvention sieht zwar die Zahlung
eines Mindestlohns vor, allerdings nur dort, wo ein
solcher auch bereits existiert. Übrigens, um es deutlich
zu machen: Der von Ihnen geforderte Mindestlohn von
8,50 Euro ist nicht Bestandteil des ILO-Übereinkommens. Ich bin davon überzeugt, dass sich hier mithilfe
einer allgemeinen Lohnuntergrenze Lücken schließen
ließen.
Auch sollten wir uns über das ILO-Abkommen hinaus die geltenden Ausnahmeregelungen für Hausangestellte einmal genauer anschauen: Möglicherweise
ließen sich weitere Verbesserungen beim Arbeitsschutz
für Hausangestellte schaffen. Ebenso sollten wir uns
genauer die unterschiedlichen Pauschalbeiträge in
der Sozialversicherung von geringfügig Beschäftigten
und geringfügig beschäftigten Hausangestellten ansehen. Diese haben bei Hausangestellten geringere Ansprüche in der Rente zur Folge.
Doch selbst das beste Gesetz zum Schutz der Arbeitnehmer ist obsolet, wenn Arbeitgeber ihren
Meldepflichten nicht nachkommen, Stichwort:
Schwarzarbeit. Daher sollten wir Probleme der
Rechtsdurchsetzung sehr ernst nehmen. Dies verlangt
in erster Linie sicherlich eine möglichst unbürokratische Ausgestaltung der Regelungen für die Beschäftigung in privaten Haushalten: Gesetze sollen Beschäftigungsmeldungen erleichtern und befördern; sie
sollen keine Hürde darstellen. Welche Möglichkeiten
wir als Gesetzgeber darüber hinaus haben, werden wir
noch gemeinsam diskutieren müssen.
Das ILO-Übereinkommen Nr. 189 hat vor allem
große Bedeutung für Entwicklungs- und Schwellenländer. Eine Ratifizierung Deutschlands hätte möglicherweise Signalwirkung an andere Länder. Für Hausangestellte in Deutschland sollten wir den Fokus jedoch
vor allem auf folgende Punkte legen: auf die Einführung einer Lohnuntergrenze, auf die Prüfung bestehender Ausnahmeregelungen und auf das Problem der
Schwarzarbeit.
Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, hat
auf ihrer 100. Internationalen Arbeitskonferenz am
16. Juni 2011 das ILO-Übereinkommen 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte und die Empfehlung 201 betreffend menschenwürdige Arbeit für
Hausangestellte angenommen. Damit hat die ILO ein
grundsätzliches Problem aufgegriffen, namentlich das
der Arbeit hinter verschlossenen Türen: In vielen
Ländern fehlen verbindliche Regelungen für Hausangestellte, und wo es sie gibt, werden sie nicht immer
beachtet.
Hausangestellte arbeiten im privaten Raum, sodass
Kontrollen kaum möglich sind. Auch Gewerkschaften,
die für ihre Rechte eintreten könnten, existieren praktisch nirgends. Für viele Hausangestellte gilt nach wie
vor, dass ihre Arbeitsbelastung zu hoch ist und sie
unterbezahlt sowie ungeschützt sind. Die Arbeitsverhältnisse sind oft informell, und damit fehlt meist auch
jegliche soziale Absicherung - von Mutterschutz bis
zur Absicherung im Alter.
Die ILO will die Rechte von Arbeiterinnen und
Arbeitern auch im informellen Sektor festschreiben.
Ich begrüße das ausdrücklich und unterstütze das Anliegen. Die ILO will über die bloße Ermittlung von
Verstößen gegen die Kernarbeitsnormen wie das
Zwangsarbeitsverbot hinausgehen. Sie will Orientierung bieten bei der Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen zugunsten von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die in besonderer Weise der Unterstützung
bedürfen. Die besonderen Charakteristiken von Hausarbeit stellen keinen Grund dar, Hausangestellte vom
Schutz durch internationale Arbeitsnormen auszuschließen.
Die Nachfrage nach haushaltsnahen Dienstleistungen hat in den letzten Jahren zugenommen. Der starke
Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen, die Alterung der Gesellschaften und die vielfach unzureichende Vereinbarkeit von Familie und Beruf tragen zu
diesem Trend bei. Besonders in Entwicklungsländern
machen Hausangestellte einen beträchtlichen Teil der
Erwerbsbevölkerung aus. Die ILO schätzt ihren Anteil
an allen Beschäftigten dort auf zwischen 5 und 9 Prozent, während der Anteil in den Industrieländern bei
lediglich bis zu 2,5 Prozent liegt.
Mit dem Übereinkommen will die ILO die Rechte
der Hausangestellten stärken und sie vor Diskriminierung und Missbrauch schützen. Dazu sieht das
Übereinkommen umfangreiche Regelungen unter anderem zur Gewährung fairer und menschenwürdiger
Arbeitsbedingungen, zum Arbeitsschutz, zu Arbeitszeiten, zur sozialen Sicherheit, zur Stärkung des Rechts
auf Kollektivverhandlungen und zur Kontrolle privater
Arbeitsvermittler vor. Überdies sollen die gewerkschaftliche Vertretung von Hausangestellten und der
soziale Dialog gefördert werden. Das geplante Übereinkommen und der damit verbundene globale
Aktionsplan sollen in den Mitgliedstaaten wirksame
Gesetze und Mittel zu deren Durchsetzung fördern.
Diese sollen auch strafrechtliche Sanktionen gegen
diejenigen beinhalten, die sich der Ausbeutung ihrer
Hausangestellten schuldig machen.
Die Bundesregierung hat an der Erarbeitung des
Übereinkommens und der begleitenden Empfehlung
konstruktiv mitgewirkt und steht den politischen Zielen
der Instrumente wohlwollend gegenüber. Die Bundeskanzlerin hat an der Sitzung der Internationalen
Arbeitskonferenz am 16. Juni 2011 teilgenommen - übrigens als erste deutsche Regierungschefin überhaupt - und hat in ihrer Rede die besondere Bedeutung
des Übereinkommens hervorgehoben.
Derzeit befinden sich der Entwurf einer Denkschrift
zum Übereinkommen und die Stellungnahme zur ergänzenden Empfehlung in der ressortinternen Prüfung. Eine abschließende Aussage hinsichtlich der
Ratifizierbarkeit lässt sich damit heute noch nicht treffen. Nach Abschluss der Ressortabstimmung - und
noch vor der Kabinettsbefassung - werden die Länder
sowie die Sozialpartner um Stellungnahme gebeten.
Insoweit kann ein Zeitpunkt für den Abschluss des
Prüfungsverfahrens momentan noch nicht genannt
werden. Die Bundesregierung setzt aber alles daran,
die Prüfung so rasch wie möglich abzuschließen.
Wir haben keine Nachhilfe durch die Opposition
nötig. Der gemeinsame rot-grüne Antrag hat reinen
Symbolcharakter und macht deutlich: Die christlichliberale Koalition handelt, Rot-Grün begnügt sich mit
Schaufensteranträgen.
Im vergangenen Jahr war ich bei der Konferenz der
Internationalen Arbeitsorganisation in Genf, als das
ILO-Übereinkommen Nr. 189 zum Schutz der Arbeitsrechte von Hausangestellten verabschiedet wurde. Ich
konnte im Saal die Aufbruchstimmung miterleben.
Viele Organisationen, vor allem aus der weltweiten
Frauenbewegung, hatten jahrelang für dieses Übereinkommen gekämpft. Die Freude war groß, als die
Delegierten der ILO-Konferenz das Übereinkommen
beschlossen.
Diese Aufbruchstimmung sollte für uns Antrieb
sein, das Übereinkommen ernst zu nehmen. Deswegen
fordern SPD und Grüne in dem heute vorliegenden gemeinsamen Antrag, dass das Übereinkommen so
schnell wie möglich ratifiziert wird. Ein juristisches
Gutachten der Hans-Böckler-Stiftung belegt, dass für
die Ratifizierung zunächst keine rechtlichen Veränderungen in Deutschland notwendig sind. Von daher gibt
es keinen Grund, warum das Übereinkommen noch
nicht ratifiziert ist. Leider scheint es derzeit so, dass
die Ratifizierung durch die Bundesregierung verzögert
wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und
FDP, bitte setzen Sie sich dafür ein, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hier zügig vorankommt!
Wir haben leider schon oft genug bei ILO-Übereinkommen miterleben müssen, dass die Ratifizierung
verschleppt wurde. Erst am Montag wurde bei der Anhörung zum Seearbeitsgesetz deutlich, dass Seeleute
und Reeder Bedenken haben, dass es für sie in der internationalen Schifffahrt zum Nachteil wird, dass
Deutschland das ILO-Seearbeitsübereinkommen von
2006 noch immer nicht ratifiziert hat. Wir dürfen uns
also nicht so viel Zeit lassen bei den Ratifizierungen
der ILO-Übereinkommen, sondern müssen zügig hier
in Deutschland unsere internationalen Hausaufgaben
machen. Auch die Kanzlerin betonte 2011 in ihrer
Rede auf der ILO-Konferenz die Bedeutung der ILO
für die internationale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Diese warmen Worte reichen aber nicht aus, sondern
dieses Bekenntnis muss auch in der täglichen Arbeit
der Bundesregierung deutlich werden, insbesondere
bei der Ratifizierung von Übereinkommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Aufbruchstimmung 2011 in Genf war so groß,
weil das Übereinkommen ein Meilenstein ist, um
Hausarbeit gleichzustellen mit regulärer Erwerbsarbeit. In vielen Ländern ist die Arbeit von Hausangestellten nicht als reguläre Lohnarbeit anerkannt. Wir
haben erst heute hier im Plenum über Haushaltshilfen
diskutiert. Es ist sehr wichtig, dass wir dabei auch immer darüber sprechen, dass die Arbeit im Haushalt
auch gute Arbeit sein muss. Arbeitsbedingungen und
Lohn müssen auch für Hausangestellte gut und fair
sein!
Das Übereinkommen ist natürlich weltweit von großer Bedeutung. Besonders in Entwicklungsländern
sind meist Mädchen und junge Frauen von Arbeitsausbeutung betroffen. Oft wird kein oder nur ein sehr geringer Lohn bezahlt, die Lebensbedingungen im Haushalt sind nicht menschenwürdig, es findet manchmal
sowohl psychischer als auch sexueller Missbrauch
statt. Aber wir dürfen unsere Augen nicht verschließen
und nur auf andere Länder zeigen. Auch in Deutschland findet Missbrauch von Hausangestellten statt.
Viel Medienaufmerksamkeit haben die Fälle von migrantischen Hausangestellten in Diplomatenhaushalten erhalten, besonders der Fall einer indonesischen
Hausangestellten, die ihren Arbeitgeber, einen Diplomaten aus Saudi-Arabien, auf Zahlung von rund
70 000 Euro Lohn und Schmerzensgeld verklagt hatte.
Zunächst wurde die Klage in den ersten Instanzen abgewiesen wegen der Immunität des Diplomaten. Kurz
vor der Verhandlung am Bundesarbeitsgericht teilte
der Anwalt des Diplomaten mit, dass dieser nicht länger als Diplomat akkreditiert und zurück in Saudi-Arabien sei. Damit ist das Bundesarbeitsgericht nicht
mehr zuständig; der Fall konnte nicht mehr verhandelt
werden. Erst gestern wurde der Fall einer bolivianischen Hausangestellten bekannt, die lange Zeit keinen
Lohn erhielt, überlange Arbeitszeiten hatte und kaum
aus dem Haus gelassen wurde. Hier hat das Auswärtige Amt mit den Betroffenen verhandelt; es kam zu einer Nachzahlung des Lohnes.
Das zeigt: Ausbeutung von Hausangestellten ist
auch in Deutschland kein Einzelfall. Es muss klar sein:
Menschenrechte gelten in Deutschland auch für Hausangestellte und auch in Diplomatenhaushalten. Wir
müssen insbesondere für Diplomatenhaushalte Regelungen schaffen, um dem Missbrauch einen Riegel vorzuschieben. Unser Antrag schlägt dazu vor, dass die
Hausangestellten sowohl bei der Einreise als auch bei
der Verlängerung ihre Protokollausweise persönlich
im Auswärtigen Amt abholen müssen. So werden die
Hausangestellten aus der Isolation im jeweiligen
Haushalt herausgeholt. Nicht nur die Beratung von
Hausangestellten in Diplomatenhaushalten muss besser werden. Wir fordern daher, dass mehrsprachige
Broschüren nach dem Vorbild der NGO „Ban Ying“
erstellt werden. Nicht nur die Beratung, auch die Arbeitsverträge müssen den Hausangestellten in einer
Sprache vorgelegt werden, die sie verstehen.
Weiter fordern wir in unserem Antrag, dass für
Hausangestellte vergleichbare arbeitsschutz- und arbeitsrechtliche Regelungen gelten wie für andere Beschäftigte, dass ein allgemeinverbindlicher Branchenmindestlohn für Hausangestellte Geltung erlangt und
dass ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn
als Lohnuntergrenze eingeführt wird.
Da viele Hausangestellte hier in Deutschland Migranten sind, sind zudem zwei weitere Forderungen
wichtig: erstens eine Regelung zur Heimschaffung. Es
gibt eine Heimschaffung für Seeleute, mit der geregelt
wird, wie Seeleute nach dem Ende ihres Vertrags zurück in ihr Heimatland kommen. Eine analoge Regelung ist auch für Hausangestellte notwendig. Zweitens
muss der Missbrauch durch private Arbeitsvermittler
wirksam verfolgt werden. Private Arbeitsvermittlung
ist problematisch, da hier oft Missbrauch geschieht mit
Gebühren oder gar mit Menschenhandel.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür handeln, dass
Missbrauch von Hausangestellten in Deutschland
stärker bekämpft wird als bisher! Lassen Sie uns ein
Zeichen setzen und das ILO-Übereinkommen Nr. 189
für die Rechte von Hausangestellten schnellstmöglich
ratifizieren! Ich freue mich auf die weitere Beratung
des Antrags von SPD und Grünen in den Ausschüssen.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales befindet sich derzeit mit den betroffenen Ressorts in der
Abstimmung bezüglich der Ratifizierung des ILOÜbereinkommens Nr. 189. Der weitere Zeitplan steht
noch nicht fest.
Nach allen meinen Informationen hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales an der Erarbeitung des Übereinkommens und der begleitenden Empfehlung konstruktiv und engagiert mitgewirkt.
Die Ratifizierung des Abkommens durch Deutschland wird kommen; sie ist aber nicht drängend. Das
Übereinkommen tritt aufgrund der Ratifizierungen in
Ländern, die möglicherweise im Bereich Arbeitsrecht
und Arbeitsschutz noch größeren Handlungsbedarf als
Deutschland haben, auch so in Kraft - am 5. September 2013. Dem rechtlichen Verfahren bei der ILO steht
also nichts mehr im Weg. Damit wird in knapp einem
Jahr diese Konvention für alle 185 Mitgliedstaaten
gültig sein.
Worauf die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen selbst schon in ihrem Antrag hinweisen:
Die in dem ILO-Übereinkommen Nr. 189 gesetzten
Standards sind in Deutschland bereits erfüllt. Die
Hans-Böckler-Stiftung hat in einem Gutachten der
Jura-Professorin Dr. Eva Kocher von der Europa-Universität Viadrina Folgendes festgestellt: „Insgesamt
entspricht das deutsche Recht den Mindestvorgaben
der Konvention. Ein Anpassungsbedarf besteht nicht.“
Die Juristin, die dieses Gutachten erstellt hat, hat
übrigens im „Böckler-Impuls“, Ausgabe 12/2012, geschrieben - ich zitiere in Auszügen -:
Zu Protokoll gegebene Reden
„Arbeitszeit. Im deutschen Recht unterliegen im
Haushalt Beschäftigte dem allgemeinen Arbeitszeitschutz. Sie haben zum Beispiel Anspruch darauf, pro
Woche mindestens 24 Stunden am Stück frei zu haben.
Bereitschaftszeiten sind ebenfalls als Arbeitszeit anzusehen. Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz gelten nur
für Beschäftigte, die ’in häuslicher Gemeinschaft mit
den ihnen anvertrauten Personen zusammenleben und
diese eigenverantwortlich erziehen, pflegen oder betreuen’ - etwa bei der Arbeit in SOS-Kinderdörfern
oder in betreuten Wohngruppen. Insgesamt ist das
deutsche Recht bei diesem Thema sogar schon weiter,
als es die Konvention verlangt …“
„Entlohnung. Aktuell bestehen Tarifverträge für die
Hausarbeit zwischen dem Deutschen Hausfrauenbund
auf Arbeitgeberseite und der Gewerkschaft NahrungGenuss-Gaststätten. Einen gesetzlichen Mindestlohn
gibt es lediglich für die Pflegebranche. Pflegekräfte,
die von privaten Haushalten beschäftigt werden, sind
hiervon zumeist nicht erfasst. Die Konvention sieht nur
vor, dass ein nationaler Mindestlohn gezahlt wird,
wenn es einen gibt - ihre Ratifizierung bringt also
keine Verbesserung. Immerhin begrenzt das deutsche
Recht Sachleistungen des Arbeitgebers anstelle einer
Entlohnung in Geld - eine weitere Anforderung der
ILO-Konvention.“
„Schutz vor Missbrauch, Belästigung und Gewalt.
Aufgrund der mangelnden Sichtbarkeit und fehlenden
gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Tätigkeit ergeben sich für Hausangestellte über die Gleichbehandlung mit anderen Beschäftigten hinaus besondere
Schutzbedürfnisse … Die Gefahr von Ausbeutung und
einer mangelnden Trennung von Erwerbsarbeit und
Freizeit ist groß. Wohnen sie mit im Haushalt, haben
Beschäftigte aber ein Recht auf Schutz ihrer Privatsphäre. Den Mindestanforderungen der Konvention
genügt das deutsche Recht.“
Sie sehen also, dass eine Ratifizierung nicht notwendigerweise ganz oben auf der Prioritätenliste des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales stehen
muss.
Leider belassen Sie es bei Ihrem Antrag aber auch
nicht allein bei der Forderung, das Übereinkommen zu
ratifizieren. Wie nicht anders zu erwarten, nutzen Sie
diesen Antrag, um mal wieder die Dauerbrenner Ihrer
sozialpolitischen Forderungen unterzubringen.
Der flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro,
auf den Sie sich geeinigt haben, scheint also in Ansehung möglicher Koalitionsverhandlungen auch einfach so politisch festgelegt werden zu können - ohne
Kommission, ohne Beteiligung von Wissenschaftlern
oder Sozialpartnern. Das wollen Sie aber doch eigentlich. Damit wissen die Wähler in Deutschland zumindest jetzt schon genau, was bei einem Wahlsieg von
Rot-Grün auf sie zukommt - eine politische Lohnfestsetzung für alle.
In einem Punkt widersprechen Sie allerdings allen
Ihren bisherigen Äußerungen: Sie fordern zwar die
Verstärkung von Anreizen, um bisher schwarz geführte
Hausarbeit zu legalisieren. Auf der anderen Seite verteufeln Sie aber alle Flexibilisierungselemente auf
dem Arbeitsmarkt und haben unsere Verbesserungen
bei den Minijobs - das ideale Instrument für Hausangestellte, die bei verschiedenen Arbeitgebern
arbeiten! - strikt abgelehnt. Gerade die Erleichterungen für Hausangestellte machen es doch erst attraktiv
für einen Privathaushalt, der jemanden nur für wenige
Stunden in der Woche oder im Monat beschäftigt, diesen bei der Minijobzentrale anzumelden und Sozialabgaben zu zahlen. Das sind bereits starke Anreize. Dass
diese Anreize noch mehr kommuniziert werden können da stimme ich gerne mit Ihnen überein. Die Beschäftigung von Schwarzarbeitern ist kein Kavaliersdelikt.
Damit wir Schwarzarbeit legalisieren, müssen Sie Ihr
Sperrfeuer gegen die Minijobs einstellen. Weiter gehende Anreize brauchen wir nicht.
Aus diesen Gründen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Wir sind optimistisch, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Ratifizierung des
Übereinkommens mit den anderen Bundesministerien
abstimmen und dann auch vornehmen wird.
„Wenn Hausangestellte wie Putzlumpen behandelt
werden“ - so titelte im November 2011 die „Süddeutsche Zeitung“. Damals sorgte der Fall einer indonesischen Hausangestellten, die in der arabischen Vertretung hier in Berlin beschäftigt war, für großes
Aufsehen. Der Vorwurf: unterbezahlt, misshandelt und
vergewaltigt. Dass der saudische Diplomat zunächst
davonkam, hatte er allein seinem Diplomatenstatus zu
verdanken, der ihn schützte. Mittlerweile hat das Bundesarbeitsgericht in diesem Fall geurteilt, dass dem
Diplomaten in Deutschland der Prozess gemacht werden darf. Dass es sich bei dem geschilderten Fall
scheinbar um keinen Einzelfall handelt, beweist das im
Juni 2011 verabschiedete Übereinkommen Nr. 189 zum
Schutz der Rechte von Hausangestellten der Internationalen Arbeitskonferenz - der ILO - in Genf.
Seitdem sind bereits eineinhalb Jahre ins Land
gezogen. Selbst die Kanzlerin hielt das Thema für so
wichtig, dass sie es sich nicht nehmen ließ, in ihrer
Rede vor den Delegierten der ILO-Mitgliedstaaten zu
erklären, dass die ILO mit dem Abkommen einen
Meilenstein für faire und gerechte Beschäftigung in
ganz neuen Bereichen gesetzt habe.
Seit dem 7. August 2012 sind die Voraussetzungen
für das Inkrafttreten des Übereinkommens geschaffen.
Es war allerdings nicht die Bundesregierung, die
durch die Ratifizierung für die nötige Mindestzahl an
Staaten gesorgt hat, sondern es waren Uruguay und
die Philippinen! Damit tritt das Übereinkommen zwölf
Monate später, zum 5. September 2013, in Kraft. Mit
der zügigen Ratifizierung hätte die Bundesregierung
ein Beispiel für andere Staaten bei der weltweiten
Umsetzung von arbeits- und sozialrechtlichen StanZu Protokoll gegebene Reden
dards für Hausangestellte geben können. Allein sie hat
es bisher versäumt.
Dabei ist allein in 2,6 Millionen deutschen Haushalten mindestens eine regelmäßige Hausangestellte
beschäftigt. Angemeldet sind davon allerdings lediglich 250 000. 90 Prozent aller Beschäftigungen in
Privathaushalten finden also irregulär statt. Ohne
Arbeitsvertrag, ohne Anmeldung der Beschäftigung
und vor allem ohne Sozialversicherung und Steuerabgaben. Die überwiegende Zahl der Hausangestellten in Deutschland sind Frauen, oft im Pflegebereich
beschäftigt. Gerade die Anonymität in Privathaushalten führt oftmals dazu, dass Migrantinnen ohne
gesicherten Aufenthaltsstatus in haushaltsnahen
Dienstleistungen landen. Sie sind somit nahezu rechtlos und müssen zudem unmenschliche Arbeits- und
Lebensbedingungen ertragen. Dem schiebt das ILOÜbereinkommen einen Riegel vor.
Ein vom Deutschen Gewerkschaftsbund in Auftrag
gegebenes Rechtsgutachten kommt zu dem Ergebnis,
dass eine Ratifizierung der ILO-Konvention auch ohne
aktuelle Rechtsänderungen möglich sei. Es ist aus
Sicht der Linken deshalb unverständlich, warum die
Bundesregierung noch immer damit beschäftigt ist, die
Umsetzung des Übereinkommens in deutsches Recht zu
prüfen.
Jeder Tag der Nichtratifizierung des Übereinkommens ist deshalb ein verlorener Tag für die Betroffenen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass das
Übereinkommen so schnell wie möglich dem Bundestag vorgelegt wird. Wir werden die Kanzlerin beim Wort
nehmen und uns für eine rasche Ratifizierung im Interesse der betroffenen Hausangestellten in Deutschland
und weltweit weiter starkmachen.
In aller Regel kann ich den Einschätzungen und
Forderungen von Kanzlerin Merkel nicht zustimmen.
Am 14. Juni des vergangenen Jahres war ich aber bei
einer Rede von Angela Merkel anwesend und mit ihr in
allen wesentlichen Punkten einig. Merkel sprach auf
der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation
in Genf, und ich war dort mit einer Delegation des
Ausschusses für Arbeit und Soziales. Sie lobte die Sozialpartnerschaft in Deutschland, die sie ansonsten
gerne mal vergisst. Ganz besonders lobte sie das gerade verabschiedete Übereinkommen mit der Nr. 189
über „menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte“.
Dieses Übereinkommen gelte, und ich zitiere hier die
Kanzlerin, „für einen Bereich, der sich oft im Schatten
der offiziellen Beschäftigung vollzieht und in dem nun
aber Schritt für Schritt Standards gesetzt werden, die
dem Prinzip entsprechen, dass die Würde jedes Menschen gleich ist“. Und sie hatte auch einen Wunsch auch der ist wichtig: „Ich wünsche für die Umsetzung
dieser Konvention - es wird ja eine ganze Weile dauern, ehe sie alle Länder ratifiziert haben - viel Erfolg!“
Wenn die Kanzlerin und die von ihr geführte Koalition nicht nur Wünsche äußern, sondern selbst auch
zügig handeln würde, dann hätten wir den vorliegenden Antrag nicht stellen müssen. Doch knapp anderthalb Jahre nach Annahme des ILO-Übereinkommens
zum Schutz der Hausangestellten liegt dem deutschen
Bundestag noch kein Entwurf dazu vor, die Konvention
auch umzusetzen. Mehr noch: Es gibt noch nicht einmal eine Aussage, ob die Bundesregierung denn die
Ratifizierung empfiehlt oder nicht.
Um der Bundesregierung in dieser wichtigen Frage
zu mehr Schwung zu verhelfen, haben wir den Antrag
gestellt, das Übereinkommen nun zügig umzusetzen.
Wir haben das als Bundestagsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen von der SPD getan. Der gemeinsame Antrag
zeigt auch: Es geht uns nicht um parteipolitisches Gezänk, sondern um die Vorbildfunktion Deutschlands
bei der Umsetzung seiner internationalen Verpflichtungen. Eine zeitnahe Ratifizierung in einem wichtigen
Industrieland wie Deutschland könnte ein wichtiges
Signal für Entwicklungs- und Schwellenländer sein;
denn ratifiziert haben bisher nur Uruguay, die Philippinen und Mauritius.
Das Schicksal der Hausangestellten ist keinesfalls
nur eine Randproblematik. Weltweit arbeiten nach
Schätzungen der ILO bis zu 100 Millionen Menschen
als Hausangestellte. Die meisten von ihnen sind
Frauen. Und weltweit werden ihnen häufig nicht die
gleichen Rechte wie anderen Beschäftigten gewährt.
Sie können sich oft nicht gewerkschaftlich organisieren. Sie sind nicht renten- und krankenversichert. Sie
erhalten keinen Mutterschutz und werden zu überlangen
Arbeitszeiten gezwungen. Gleichzeitig sind sie - gerade
weil es sich häufig um Frauen und Migrantinnen handelt, die mit den Arbeitgebern unter einem Dach wohnen - von Missbrauch und Rechtsverletzungen bedroht.
Natürlich sind in Deutschland der Arbeitsschutz
und die rechtlichen Regelungen für Hausangestellte
bereits auf einem sehr hohen Niveau. Realität in
Deutschland ist aber auch, dass den nur rund
250 000 angemeldeten Arbeitsverhältnissen in Privathaushalten nach Schätzungen die 10- bis 16-fache
Menge an informell Beschäftigten gegenübersteht. Daher fordern wir in unserem Antrag ausdrücklich auch
die Schaffung von Anreizen, um die Hausangestellten
aus der Illegalität zu holen. Denn gerade im Bereich
der Hausangestellten, deren Arbeit sich in der Privatsphäre der Arbeitgeber abspielt, können Arbeitsbedingungen nicht überprüft werden. Deswegen schlagen
wir als ergänzende Maßnahme auch eine Aufklärungskampagne über die Rechte der Beschäftigten vor. Wir
wollen die Umsetzung der Rechte nicht nur formal abhaken, wie es leider oft geschieht bei der Ratifizierung
internationaler Abkommen. Wir wollen die Hausangestellten, insbesondere jene mit Migrationshintergrund,
auch direkt erreichen und aufklären - und zwar in einer Sprache, die sie verstehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Gleichstellung und gleiche Rechte sind jedoch immer auch eine Frage der gerechten Entlohnung. Auch
diesen Bereich sparen wir nicht aus. Die Situation der
Hausangestellten in Deutschland ist nur ein weiterer
Beleg dafür, dass ein flächendeckender gesetzlicher
Mindestlohn in Höhe von mindestens 8,50 Euro überfällig ist. Es ist nicht einzusehen, dass die gewerbliche
Arbeit innerhalb von privaten Haushalten ein Bereich
sein soll, der ohne allgemeinverbindliche Lohnuntergrenze auskommt. Hier sollte wie anderswo auch das
Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gelten. Der
Tarifvertrag für die Hausarbeit zwischen dem Deutschen Hausfrauen-Bund auf Arbeitgeberseite und der
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten bietet hier
eine gute Grundlage - aber er muss auch tatsächlich
zur Anwendung kommen.
Ich habe Stellen benannt, an denen Verbesserungen
nötig sind. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass der Ratifizierung keine grundsätzlichen Probleme im Wege
stehen. Zu diesem Schluss kommt im Übrigen auch
eine umfassende Studie, die von der Hans-Böckler-Stiftung in Auftrag gegeben wurde. In diesem Sinne werbe
ich für unseren Antrag und um Beschleunigung des
Ratifizierungsprozesses.
Und an die Kanzlerin gerichtet sage ich: Werden Sie
Ihrer Vorbildfunktion gerecht und handeln Sie im Geist
Ihrer Rede von Genf, Frau Merkel!
Wir kommen zur Abstimmung über den Vorschlag,
die Vorlage auf Drucksache 17/11370 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Es gibt keine Einwände, es ist damit so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({1}), Peter Altmaier, Dorothee
Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Claudia Winterstein, Burkhardt MüllerSönksen, Gabriele Molitor, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Barrierefreies Filmangebot umfassend ausweiten - Mehr Angebote für Hör- und Sehbehinderte
- zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Roth
({2}), Tabea Rößner, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sofortprogramm zur Ausweitung des barrierefreien Filmangebots auflegen
- Drucksachen 17/7709, 17/8355, 17/10029 Berichterstattung:Abgeordnete Wolfgang Börnsen ({3})Angelika Krüger-LeißnerDr. Claudia WintersteinKathrin Senger-SchäferClaudia Roth ({4})
Reden dazu gibt es, sie werden aber nicht gehalten,
sondern zu Protokoll genommen.
In unserem Land leben mehr als 9,6 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die gehandicapt sind,
11,7 Prozent der Bevölkerung. Jeder Zehnte von uns
gehört dazu.
Darunter befinden sich 1,2 Millionen blinde und
sehbehinderte Menschen und weitaus mehr, die gehörlos sind, schwerhörig, ertaubt oder die mit einer
Körper- oder Sprachbehinderung zu leben haben.
Spiel- oder Dokumentarfilme konnte dieser große
Teil unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger bislang
nicht richtig ansehen oder anhören. Sie waren von diesem Kulturgenuss ausgeschlossen. Kaum eine Filmproduktion war bislang barrierefrei ausgestattet, und
nur 1 Prozent der Leinwände verfügte über die technischen Abspielmöglichkeiten für audiodeskriptive Fassungen.
Dieser Zustand schrie nach Veränderung!
Barrierefreiheit bedeutet mehr als rollstuhlgerecht.
Dieser Satz erhebt den Anspruch, dass Menschen trotz
ihrer Beeinträchtigung beim Hören, Sehen, Sprechen
oder durch Körperbehinderungen ungehinderte gesellschaftliche Teilhabe möglich wird. Davon sind wir
nach wie vor weit entfernt. Gesenkte Kantensteine bei
Gehwegen, behindertengerechte Toiletten, Fahrstühle,
spezielle Angebote auf Sportplätzen, Bus und Bahn
machen deutlich: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Aber es geht um mehr, wenn die freie gesellschaftliche
Partizipation das Ziel sein soll.
Um den Menschen mit Handicap gerecht zu werden,
haben die UN 2006 die weltweit geltende Behindertenkonvention verabschiedet. Drei Jahre später trat sie
bei uns in Kraft. Für Kunst und Kultur ist besonders
der Art. 30 maßgebend. Er schreibt einen ungehinderten Zugang zu Film und Fernsehen, zu Kino und Theater vor. Eine Zielvorgabe ohne Wenn und Aber. Hindernisse für Behinderte gehören weggeräumt.
Teilhabe an Film, Kino und den audiovisuellen Medien darf nicht nur Theorie sein, sondern muss Wirklichkeit werden. Bereits bei der fünften Novellierung
des Filmförderungsgesetzes, FFG, 2009 unterstützten
alle die Initiative von Bernd Neumann, dem Staatsminister für Kultur und Medien, der die Schaffung von
Barrierefreiheit als Fördertatbestand in das Gesetz
eingebracht hatte. Parlament und Regierung hofften,
dass diese Kannbestimmung eine Signalwirkung für
die Filmwirtschaft haben würde, mehr für Behinderte
zu tun.
Das Resultat nach fast vier Jahren Laufzeit des Gesetzes ist mehr als ernüchternd. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband stellte fest, dass kein
Wolfgang Börnsen ({0})
einziger Auftrag einer Hörfilmproduktion auf die Gesetzesänderung zurückzuführen war. Und auch bei vielen Kinomodernisierungen - nicht bei allen - waren an
Behinderten orientierte Umbauten nicht zu erkennen.
Der Eingang für große Rollstühle blieb zu eng, ein
Fahrstuhl wurde vergessen. Anlass genug für die Abgeordneten, im neuen Filmförderungsgesetz verbindliche Regelungen für Filme und Kinosäle zu fordern;
Barrierefreiheit für die fast 10 Millionen behinderten
Mitbürger.
Für Seh- und Hörbehinderte ist die Miterlebnistechnik ausgereift, und die Kosten sind überschaubar. Für
Blinde und Sehbehinderte bietet sich die Audiodeskription an, für hörbehinderte Menschen die Untertitelung.
Die Audiodeskription eines 90-Minuten-Films kostet
circa 5 000 Euro, die Untertitelung circa 1 000 Euro.
Gemessen an den Produktionsbudgets vieler Kinofilme
sind dies sehr kleine Summen!
Es ist bei allen Akteuren ein noch größeres Problem- und Bedarfsbewusstsein notwendig. Deshalb hat
die christlich-liberale Koalition vor einem Jahr ihren
Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, über
den wir heute abstimmen. Darin wurde eine verbindliche Regelung im FFG gefordert. Durch die Filmförderungsanstalt, FFA, geförderte Filmproduktionen müssen barrierefrei ausgestattet sein.
Heute, ein Jahr nach Einbringung unseres Antrags,
sind wir ein bedeutendes Stück weiter. Alle relevanten
Akteure der Filmbranche, vor allem Produzenten, Verleiher, Kinobetreiber, die Videowirtschaft und die
Rundfunkanstalten, sind inzwischen in starkem Maße
für das Thema sensibilisiert worden. Wir haben den
berühmten Stein ins Wasser geworfen, und der zieht erfreulich weite Kreise. Plötzlich fragt sich die gesamte
Branche, warum sie die Barrierefreiheit nicht schon
viel früher verwirklicht hat. Entsprechend der Auffassung des französischen Schriftstellers Victor Hugo, der
feststellte: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren
Zeit gekommen ist.“
Die Bundesregierung hat gemäß unserem Antrag
sachgemäß und problembewusst gehandelt. In den Regierungsentwurf der Novelle des Filmförderungsgesetzes hat sie das neue Förderkriterium „Barrierefreie
Ausstattung eines Films“ aufgenommen. Zu den Allgemeinen Förderungsvoraussetzungen ({1}) zählt nun,
dass „wenigstens eine Endfassung des Films in jeweils
einer Version mit deutscher Audiodeskription und mit
deutschen Untertiteln für Hörgeschädigte hergestellt
worden ist“. Obwohl dies eine zusätzliche Förderauflage für sie ist, findet es die breite Zustimmung der
Filmwirtschaft.
Denn es geht um noch viel mehr für Film und Kino.
Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Allein
1,3 Millionen Menschen meiden das Kino, weil ihre
Augen und Ohren schwächer geworden sind. Die verdienstvolle Initiative „Vision Kino“ geht von der zehnfachen Zahl von Menschen aus, die zwar nicht als behindert gelten, aber sich von Film und Kino
ausgegrenzt fühlen, weil auf ihre Schwächen nicht eingegangen wird. Hier kann der Kinobetreiber, wenn er
es denn will, mit der Digitalisierung nicht nur die Abspielqualität verbessern, sondern durch die neue Technologie individuelles Hören und Sehen in noch nie
dagewesener Form ermöglichen. Wenn die Barrierefreiheit im Kino Realität werden soll, sind Förderhilfen
angemessen, denn gerade die mittelständischen Anbieter sind bereits jetzt durch die Digitalisierung finanziell gefordert. Unterstützung ist notwendig, Darlehen
helfen, gehören dazu. Auch die Anhebung der Förderhöchstgrenzen auf 350 000 Euro wird der Zielsetzung
Nachdruck verleihen. Beide Maßnahmen, die die Bundesregierung in die Bestimmungen zu den Förderungshilfen für Kinos aufgenommen hat ({2}), sind als Signal zum Handeln zu verstehen.
Der Beschluss des Präsidiums der FFA, bereits im
Spätherbst 2012 mit dem Ausbau der Barrierefreiheit
zu beginnen und nicht bis zum Inkrafttreten des FFG
2014 zu warten, ist begrüßenswert. Auch der Verwaltungsrat der FFA, das „Filmparlament“, hat beispielgebend unter Vorsitz von Eberhard Junkersdorf dem
Handlungszeitplan von Vorstand Peter Dinges zugestimmt. Auch der Deutsche Filmförderfonds, DFFF,
wird seine Richtlinien entsprechend zum 1. Januar
2013 anpassen.
Was für den Film gilt, gilt in Zukunft verstärkt auch
für das Fernsehen, besonders für die öffentlich-rechtlichen Sender. Wenn 2013 die Haushalts- und Betriebsstättenabgabe kommt, die auch von Seh- und Hörgeschädigten gezahlt werden muss, müssen auch die
Fernsehsender barrierefreie Filme anbieten. Die Landesmedienanstalten haben zudem gerade ProSiebenSat.1 und die Mediengruppe RTL aufgefordert, mindestens eine Sendung pro Abend mit Untertiteln für
Hörgeschädigte auszustrahlen. Eine zutreffende Forderung, die die Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion findet. Aber sie kann nur ein Anfang sein!
Doch Beschlüsse alleine reichen nicht aus. Es muss
zu einer verbesserten Wahrnehmung bei allen Beteiligten und in unserer Gesellschaft kommen, dass für Menschen mit Handicap eine uneingeschränkte Teilhabe
auch an Kunst und Kultur möglich ist, so wie es die
UN-Konvention sichergestellt wissen will.
Knapp 10 Millionen Menschen, also mehr als jeder
Zehnte in unserem Land, leben mit einer Behinderung.
Viele von ihnen begegnen im Alltag schwer überwindbaren Hindernissen, die ihnen die Teilhabe an den verschiedensten gesellschaftlichen Grundbedürfnissen
einschließlich der kulturellen, nicht nur erschweren,
sondern teils unmöglich machen.
Im Juni 2010 hat die christlich-liberale Bundesregierung ein umfassendes Maßnahmenpaket für alle
Lebensbereiche in einem über 200 Vorhaben, Projekte
und Aktionen beinhaltenden Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorgelegt. Darin wird der
Zu Protokoll gegebene Reden
Beseitigung von Barrieren im Bereich Film ein großer
Stellenwert beigemessen.
In Deutschland lebt mehr als 1 Million blinde und
sehbehinderte Menschen sowie weitere Millionen gehörlose, schwerhörige und ertaubte Menschen. Knapp
300 000 Menschen sind aufgrund ihrer Hörbehinderung schwerbehindert. Kunst und Kultur müssen, soweit es geht, ohne Abstriche auch für diese Menschen
zugänglich sein. Auch sie wollen und sollen an dem
Erlebnis Kino und Film teilhaben.
Mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes haben wir in Umsetzung des Maßnahmepakets eine Reihe von Fördermöglichkeiten für
fast sämtliche Glieder der Produktions- und Verwertungskette von Filmen in diese Richtung geschaffen. So
kann beispielsweise die Herstellung einer Endfassung
mit einer für Blinde und Sehbehinderte geeigneten Audiodeskription und der für Hörgeschädigte hilfreichen
Untertitelung als eines von drei notwendigen Kriterien
herangezogen werden, die für den kulturellen Eigenschaftstest erfüllt sein müssen. Ebenso können Kinos
nach dem Filmförderungsgesetz unterstützt werden,
die im Rahmen von Modernisierungsmaßnahmen zusätzliche Plätze für Rollstuhlfahrer einrichten oder Induktionsschleifen für hörgeschädigte Menschen einbauen.
Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen zum barrierefreien Kino aus dem November 2011 mussten wir
leider konstatieren, dass die erste Resonanz auf diese
Förderangebote nicht unseren Erwartungen entsprach. Dass bislang nur ein Prozent der Leinwände
bzw. Kinosäle für Audiodeskription geeignet sind und
laut Aussage der Filmförderungsanstalt, FFA, die Antragszahlen für eine Förderung ebenfalls gering sind,
ist schlichtweg unbefriedigend.
Im Rahmen der bevorstehenden Novellierung des
Filmförderungsgesetzes werden wir prüfen, ob es der
fehlenden Kenntnis der Förderungsmöglichkeiten oder
einem möglicherweise grundsätzlich fehlenden
Problem- und Bedarfsbewusstsein bei den jeweiligen
Akteuren geschuldet ist, dass gegenwärtig etwas einer
gesteigerten Verfügbarkeit deutscher Kinofilme mit
Audiodeskription und erweiterter Untertitelung entgegensteht.
An den geringen Kosten pro Film kann es schwerlich liegen. Die Audiodeskription eines 90-MinutenFilms kostet rund 5 000 Euro. Die vergleichbaren
Untertitelungskosten liegen bei rund 1 000 Euro.
Aufgrund steigender Nachfrage dürften alle am Produktions- und Verwertungsprozess Beteiligten von
ihrem zusätzlichen Aufwand profitieren und die Sorge
um eine Refinanzierung beseitigen.
Das Thema Barrierefreiheit wird von der christlichliberalen Koalition auch abseits gesetzlicher Handlungen aktiv vorangetrieben, wobei über die Fraktionsgrenzen hinweg Konsens besteht, dass Verbesserungen
beim barrierefreien Film im Rahmen der anstehenden
Novellierung des FFG gesetzlich festzuschreiben sind.
Einer gemeinsamen fraktionsübergreifenden Initiative
ist es bereits zu verdanken, dass die Filmförderungsanstalt im Vorgriff auf die Novelle zum Filmfördergesetz
einen Grundsatzbeschluss zur Förderung barrierefreier Filme gefasst hat. Demzufolge sollen nur noch
solche Produktionen gefördert werden, die mit zusätzlichen Bildbeschreibungen für blinde und sehbehinderte Menschen sowie mit Untertitelung ausgestattet
sind.
Als weitere kurzfristige Maßnahme ist positiv zu
erwähnen, dass im Herbst der Deutsche Filmförderfonds, DFFF, mit dem die Bundesregierung seit fünf
Jahren Kinofilmproduktionen unterstützt, von Kulturstaatsminister Bernd Neumann zum zweiten Mal um
drei Jahre bis 2015 verlängert worden ist. Die entsprechend geänderten Förderrichtlinien sehen neu vor,
dass die unterstützten Produktionen auch barrierefreie
Fassungen zu erstellen haben. Die gut 100 Filme, die
der DFFF im Jahr fördert, werden dann auch als
Hörfilme, also als Kino- oder Fernsehfilme mit zusätzlichen akustischen Bildbeschreibungen auf einem eigenen Tonkanal, zur Verfügung stehen.
Für den barrierefreien Film wird aber ebenso wichtig sein, dass die Fernsehveranstalter Ihrer Verantwortung nachkommen und diesem Beispiel folgend das
Angebot von Sendungen mit Audiodeskriptionen und
Untertitelungen deutlich ausweiten. Mögliche gesetzliche Maßnahmen lassen sich hier allerdings nicht auf
Bundesebene realisieren, da der Bund dafür keine
Gesetzgebungskompetenz hat.
Mit dem heute diskutierten Antrag geht es um die
konsequente Sensibilisierung für das Thema Barrierefreiheit, damit auch blinde sehbehinderte Mitbürger in
unserem Land ihr Recht, an diesem unverzichtbaren
Teil unserer Kultur teilzuhaben, wahrnehmen können.
Vor einer guten Woche hat das Europäische Parlament wieder den LUX-Filmpreis vergeben, dieses Mal
für einen italienischen Film über das Schicksal einer
chinesischen Gastarbeiterin in Italien.
Das Besondere an diesem Preis: Das EU-Parlament
übernimmt beim Gewinnerfilm die Kosten für die Herstellung einer für Schwerhörige oder Sehbehinderte
barrierefreien Fassung. Deren Kopien können dann in
den Kinos gezeigt werden. Eine ganz tolle und wichtige Initiative, die bisher mitgeholfen hat, das mangelhafte Angebot an barrierefreien Filmen zu verbessern.
Ich freue mich, dass wir, was bei uns geförderte
Filme angeht, künftig weniger darauf angewiesen sein
werden. Denn bei uns hat sich inzwischen einiges getan. Darauf komme ich noch zurück.
Es ist nun schon das dritte Mal innerhalb von einem
Jahr, dass wir an dieser Stelle über Barrierefreiheit
beim Film beraten. Das zeigt, dass dieses Thema endlich ernst genommen wird. Und das war überfällig.
Denn es sind sehr viele unserer Mitbürgerinnen und
Mitbürger, die auf einen besonderen Zugang zum FilmZu Protokoll gegebene Reden
http://www.digitalfernsehen.de/
http://www.digitalfernsehen.de/
erlebnis angewiesen sind. Nach Angaben der Verbände leben in Deutschland knapp 1,2 Millionen stark
Hörgeschädigte bis Gehörlose und ebenso viele Sehbehinderte und Blinde. Wir haben es also mit rund
2,4 Millionen Menschen zu tun, die auf eine technische
Hilfestellung angewiesen sind, um einen Film im Kino
erleben zu können.
Meine Fraktion hat sich im ablaufenden Jahr in
ganz besonderer Weise der Aufgabe angenommen,
dass auch Menschen mit Behinderungen die Teilhabe
am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht wird. Mit unserem Antrag „UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für eine inklusive
Gesellschaft nutzen“ haben wir alle Bereiche abgesteckt und den Handlungsbedarf aufgezeigt.
Zudem haben wir mit einer Initiative dafür gesorgt,
dass auf der Website des Bundestages kürzlich Informationen in leichter Sprache für Menschen mit Lernschwächen und Leseschwierigkeiten freigeschaltet
wurden.
Schließlich haben wir eine eigene Vorlage für den
Kulturbereich gemacht: „Kultur für alle - Für einen
gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und Kommunikation“.
Alle sollen ungehinderten Zugang zu den kulturellen
Angeboten und den Informations- und Kommunikationskanälen haben.
Leider wurde unser Antrag mit den Stimmen der
Regierungsmehrheit abgelehnt. Die Begründungen
- Finanzknappheit und Bevormundung von Unternehmen - sind für mich nicht nachvollziehbar.
Aber immerhin haben alle Fraktionen inzwischen
begriffen, dass wir im Filmbereich an einem Strang
ziehen müssen, um rasch Fortschritte zu erreichen.
Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass wir im vergangenen Frühjahr im Kulturausschuss hierzu eine gemeinsame Entschließung verabredet haben, um das
barrierefreie Filmangebot schnell und nachhaltig zu
verbessern. Und ich habe mich gefreut, dass die Filmbranche gleich ihre Zustimmung und Unterstützung signalisiert hat.
In der Richtlinienkommission der Filmförderungsanstalt, FFA, habe ich an der Umsetzung mitgewirkt.
Auch bei den Förderbedingungen des Deutschen Filmförderfonds, DFFF, ist das inzwischen eingebaut.
Nun wird es darum gehen, diese Bestimmungen
auch im Gesetz festzuschreiben. Im Gesetzentwurf zur
Novelle des Filmförderungsgesetzes, FFG, ist die Forderung des Kulturausschusses umgesetzt, dass die
Herstellung von barrierefreien Fassungen als zwingende Fördervoraussetzung aufgenommen wird. Und
wir werden mit der Novelle dafür sorgen, dass auch in
den Kinos die technischen Voraussetzungen geschaffen
werden können, damit Audiodeskription und verdeckte
Untertitelung zum Einsatz kommen.
Bisher gab es für solche Investitionen in den Kinos
Darlehen, künftig werden solche Gelder als Zuschüsse
gewährt. Ich hoffe, dass damit für die Kinos ein echter
Anreiz gesetzt wird, entsprechende technische Vorkehrungen in den Vorführsälen zu treffen und notwendige
Anschaffungen wie spezielle Kopfhörer und besondere
Brillen für die Erkennung von Untertiteln zu machen.
Damit bietet sich für die Filmtheater auch eine
echte Chance, für viele Besucher ein Stück attraktiver
zu werden. Damit können ganz neue Zuschauerkreise
erschlossen werden.
Ich hoffe, die Kinos erkennen dieses bisher ungenutzte Potenzial. Denn was nützt es, wenn künftig alle
geförderten Filme mit Hörkommentaren und Untertiteln versehen werden, aber von den Kinos dann nicht
gezeigt werden? Das müssen wir genau beobachten
und nötigenfalls nachsteuern.
Die heute vorliegenden Anträge der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der Grünen sowie unser Antrag „Kultur für alle“, der bereits abschließend beraten wurde, waren die Grundlage, auf der wir unsere
gemeinsame Erklärung im Ausschuss beschlossen haben. Unsere Forderungen sind inzwischen, wie dargestellt, erfüllt. Von daher haben sich auch die Anliegen
der vorliegenden Anträge im Kern erledigt.
Interessanterweise ist inzwischen deutlich mehr
durchgesetzt, als im Antrag der Koalitionsfraktionen
nur allzu zögerlich gewünscht wurde. Alle wichtigen
Punkte werden darin aufgeführt, aber eben nur als
Prüfaufträge formuliert. Das bleibt zu unbestimmt.
Deshalb können wir uns zu diesem Antrag nur enthalten. Hier hätte man mutiger mit mehr Verbindlichkeit
herangehen können. Die rasche Umsetzung auf der
Grundlage der Erklärung aller Fraktionen hat das
doch eindrucksvoll gezeigt.
Dem Antrag der Grünen stimmen wir zu. Die darin
enthaltenen Forderungen stimmen weitgehend mit dem
überein, was auch wir für sinnvoll und notwendig erachten und was inzwischen ja auch zum großen Teil
umgesetzt wurde.
Damit ist das Thema „Barrierefreier Film und barrierefreies Kino“ allerdings nicht erledigt. Wir müssen
da weiter am Ball bleiben.
Die nächste Gelegenheit bietet sich, wenn wir darangehen, unseren alten Filmbestand zu digitalisieren.
Gestern haben wir im Kulturausschuss über die Sicherung und das Zugänglichmachen unseres nationalen
Filmerbes beraten. Das ist eine große kulturpolitische
Aufgabe. Die Digitalisierung der Vorführtechnik in
den Kinos und der Zugang über das Internet erfordern
es, dass der Filmbestand, fast alles nur analoge Filmrollen, nach und nach digitalisiert wird. Dabei muss
nach unserer Auffassung die Barrierefreiheit natürlich
gleich mitberücksichtigt werden. Das haben wir in unserem Antrag zum Filmerbe festgeschrieben. Denn mit
der Digitalisierung haben wir inzwischen kostengünstige Möglichkeiten, eine weitere Tonspur einzurichten
oder Untertitel einzuspielen. Wenn man das nachträglich macht, wird es nur teurer.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deshalb ist es mir ganz unverständlich, warum die
Kollegen der Koalitionsfraktionen diese Maßnahme
gestern als zu teuer abgelehnt haben. Warum gehen Sie
an dieser Stelle wieder drei Schritte zurück? Dies halte
ich für eine unverantwortliche Haltung gegenüber unseren hör- und sehbehinderten Mitmenschen. Warum
sollen sie vom Zugang zu unseren Filmschätzen, die zu
unserem nationalen kulturellen Erbe gehören, ausgeschlossen werden? Das können Sie nicht wirklich wollen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen. Ich appelliere eindringlich an Sie,
Ihre Ablehnung im Interesse von Millionen Betroffenen
noch einmal zu überdenken. Die Beratung der Anträge
zum Filmerbe im kommenden Jahr hier im Plenum
wird Ihnen dazu Gelegenheit geben.
Es kommt nicht oft vor, dass man bereits bei der
zweiten Lesung eines Antrags Erfolge benennen kann.
Dass wir seitens der Filmpolitiker fraktionsübergreifend die Erfüllung gemeinsamer Kernforderungen vermelden können, ist sogar noch seltener. Anlässlich der
heute zu debattierenden Anträge zum Thema „barrierefreie Filme“ nehme ich diese seltene Gelegenheit
sehr gerne wahr und möchte mich bei allen Fraktionen
für die gute Zusammenarbeit im Ausschuss für Kultur
und Medien hinsichtlich der gemeinsamen Erklärung
bedanken. Jetzt sollten wir bei den noch offenen
Forderungen genauso eng zusammenarbeiten.
Im Ausschuss für Kultur und Medien waren wir uns
einig, dass es viel zu wenige Filme gibt, die auch
Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung erleben können. In Deutschland leben 1,2 Millionen blinde und
sehbehinderte Menschen und weitere Millionen
schwerhörige und taube Menschen. Sie alle sind von
einer Teilnahme am soziokulturellen Erlebnis Film
ausgeschlossen, wenn der Film nicht auch in einer
barrierefreien Fassung vorliegt. Filme sollen aber als
Beitrag zur kulturellen Identifikation und zur demokratischen Teilhabe für alle Menschen erlebbar sein.
Gerade deshalb werden sie mit öffentlichen Mitteln
gefördert.
Vor diesem Hintergrund lagen die Kernforderungen
fraktionsübergreifend auf der Hand und wurden auch
in einer gemeinsamen Erklärung zusammengefasst.
Für die FDP-Bundestagsfraktion begrüße ich sehr,
dass diese Kernforderungen unmittelbar von Bundesregierung und Filmförderungsanstalt, FFA, umgesetzt
wurden. So haben wir gemeinsam gefordert, die
Förderrichtlinien des Deutschen Filmförderfonds,
DFFF, anzupassen, damit kurzfristig ein Anreiz für
mehr barrierefreie Filmfassungen gesetzt wird. Diese
Forderung wurde umgehend umgesetzt.
Außerdem sollte eine verpflichtende Erstellung von
Filmfassungen mit Audiodeskriptionen und Untertitelung in der anstehenden FFG-Novelle gesetzlich fixiert
werden. Ebendies sieht der Gesetzentwurf zur FFGNovelle in § 15 Abs. 1 Ziffer 7 vor. Um weitere Förderinstrumente zielgenau einzusetzen, haben wir einen
Prüfauftrag erteilt, um den Aufwand zu ermitteln, der
betrieben werden muss, um Kinos barrierefrei zum
Abspielen von Filmen mit Audiodeskription ausstatten
zu können. Als kurzfristig wirksame Maßnahme soll
auch die unmittelbare Bezuschussung von Maßnahmen
zur Modernisierung und Verbesserung der Barrierefreiheit in Kinos in die FFG-Novelle aufgenommen
werden. Bislang wurden Darlehen gewährt, sodass in
diesem Zuschuss ein stärkerer Anreiz gesetzt wird.
Ein besonders wichtiger Punkt blieb aber noch
offen, und ich möchte ausdrücklich auch an die Oppositionsfraktionen appellieren, diese Forderung nicht
als Lippenbekenntnis stehen zu lassen, sondern ihr bei
ihren Parteifreunden in den Landesparlamenten
Nachdruck zu verleihen. Wir müssen die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten in die Pflicht nehmen,
ihre Inhalte allen Menschen zugänglich zu machen.
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben
den Auftrag, allen Bürgerinnen und Bürgern ihr
Programmangebot zu eröffnen. Dies gilt umso mehr,
als dass Menschen mit Behinderungen die Teilnahme
an Informations- und Kulturangeboten verschlossen
bleibt und sie deshalb auf den Rundfunk angewiesen
sind. Wir fordern deshalb die Länder auf, ihre Zuständigkeit in dieser Frage ernst zu nehmen und die Rundfunkanstalten zum verstärkten Ausbau barrierefreier
Angebote anzuhalten.
Aus § 3 Abs. 2 des Rundfunkstaatsvertrags ergibt
sich, dass ARD, ZDF und Deutschlandradio über ihr
bereits bestehendes Engagement hinaus entsprechend
ihren finanziellen und technischen Möglichkeiten barrierefreie Angebote vermehrt aufnehmen sollen. Wenn
ab dem 1. Januar 2013 auch hör- und sehbehinderte
Menschen die Haushalts- und Betriebsstättenabgabe
als neue Form der GEZ-Gebühr zahlen müssen, werden umfangreich neue Schuldnerkreise erschlossen.
Spätestens dann sollten finanzielle Gründe dem Ausbau nicht mehr entgegenstehen.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass nicht nur wir
hier im Bundestag für mehr barrierefreie Filmangebote als Gesetzgeber einstehen, sondern dass auch die
Landesgesetzgeber eine inklusive Kultur- und Medienpolitik einfordern. Nur mit gemeinsamem Engagement
kann es gelingen.
Die Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag
spricht sich einhellig für die Verbesserung des barrierefreien Filmangebots aus. Ganz allgemein zeigen
beide Anträge, sowohl derjenige der Koalition als
auch der von Bündnis 90/Die Grünen, dass es auf dem
Feld der kulturellen Teilhabe und Gleichbehandlung
von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung Handlungsbedarf gibt.
Meine Fraktion hat im Ausschuss für Kultur und
Medien der Protokollerklärung zugestimmt, wonach
die Filmförderungsanstalt, FFA, der Deutsche Filmförderfonds, DFFF, sowie die Rundfunkanstalten aufgeZu Protokoll gegebene Reden
fordert sind, ihre Förderrichtlinien bzw. die Produktions- und Sendemaßgaben dahin gehend auszurichten,
dass das Angebot an barrierefreien Filmen ausgeweitet
wird. Es herrscht hier Konsens, dass der Einsatz für die
Ausstattung von Film- und Fernsehwerken mit Audiodeskription, Untertitelung und Gebärdensprache in
Zukunft selbstverständlich sein muss.
Dann allerdings endet für uns auch schon die Übereinstimmung; denn wenn man sich die eingebrachten
Anträge genauer ansieht: Es gibt doch erhebliche
Misstöne, die im Detail der Lebenswirklichkeit von
Menschen mit Behinderung nicht gerecht werden.
So begrüßenswert die gestiegene Verantwortung der
Koalition für das Problembewusstsein gegenüber dem
barrierefreien Film ist, so enttäuschend ist die inhaltliche Ausrichtung des Antrags. Die Forderungen sind
rein appellativ und beschränken sich faktisch auf Prüfempfehlungen. Anstatt Barrierefreiheit in Film und
Rundfunk als gesamtstaatliche Aufgabe und als Verfassungsgebot zu begreifen, wird einerseits der Maßnahmebedarf in die Zukunft delegiert und andererseits sogar einer Refinanzierung der Investitionen in die
barrierefreie Ausstattung durch Marktmechanismen
das Wort geredet, wohl wissend, dass die soziale Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern mit Hörund Sehbehinderung bei jenen bereits per se beträchtliche finanzielle Ressourcen bindet.
Durch die neue Rundfunkabgabe mit der Abschaffung des Nachteilsausgleichs wird außerdem eine behindertenungerechte Rundfunkpolitik sanktioniert,
durch die eine Aufforderung zur Verpflichtung der
Rundfunkanstalten, für ein verbessertes barrierefreies
Rundfunkprogramm zu sorgen, als reine Heuchelei
wirkt. Anreize zur deutlichen Erweiterung des barrierefreien Filmangebots können aber nach Ansicht der
Fraktion Die Linke nicht ökonomischer, sondern nur
politischer Natur sein.
Im Gegensatz zum Koalitionsantrag finden sich im
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zumindest zwei
konkrete Handlungsvorschläge, nämlich das Vorhaben
der Sofortprogrammfinanzierung sowie die Kriteriendefinition, die in die richtige Richtung zielen. Ob sich
allerdings dadurch die grundlegenden Defizite im Bereich des barrierefreien Filmangebots nachhaltig beheben lassen, ist zu bezweifeln. Auch in diesem Antrag
fehlt der Willen, Barrierefreiheit in Film und Rundfunk
als gesamtstaatliche Aufgabe zu begreifen. Darüber
hinaus erscheinen die angestrebte Höhe der jährlichen
Mittelausschüttung als willkürlich und die Gegenfinanzierung als ungeklärt.
Ebenso wie bei der Koalition sind hier gleichfalls
eher diffuse Marktchancen für barrierefreie Filme erwähnt, die sich nicht mit der sozialen Stellung von
Menschen mit Hör- und Sehbehinderung vertragen.
Aus der Haushaltsabgabe der Rundfunkgebühren eine
Erleichterung der Finanzierung des barrierefreien
Programmangebots der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu erwarten, ist illusionär, da aus den Mehreinnahmen vorzugsweise vermutlich eher Strukturanpassungen und teure Rechteerwerbungen finanziert werden,
wie es bereits heute gängige Praxis des öffentlichrechtlichen Rundfunks ist.
Zum Schluss möchte ich auch noch auf das hinweisen, was mein Kollege Dr. Ilja Seifert in der ersten Lesung gesagt hat. Er betont zu Recht, dass Bundestag
und Bundesregierung bei der Bereitstellung barrierefreier Angebote an Kultur und Information beispielhaft
vorangehen müssen. Dies sollte auf allen gesellschaftlichen Feldern grundsätzlich zwingende Verpflichtung
werden. Ein Rückgriff auf den Markt, in welcher Form
auch immer, ist hier besonders fehl am Platz.
Aus den genannten Gründen lehnen wir den Antrag
der Koalition ab und enthalten uns bei dem Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen.
Als Mitglied der Jury des „Deutschen Hörfilmpreises“ konnte ich eindrucksvoll erfahren, dass es manchmal relativ einfache Mittel sind, die eine inklusive
Politik ermöglichen, zum Beispiel Beschreibungen eines Filmgeschehens, die zur Tonspur des Films hinzugestellt werden. Die auf diese Weise entstehenden
Hörfilme richten sich an Menschen mit Sehbehinderungen und ermöglichen es ihnen, den Film viel besser
zu verfolgen. Ähnliches gilt für Untertitelungen, die
den Zugang für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen
erleichtern. Die Kosten, die hierfür anfallen, sind relativ gering, nur circa 5 000 Euro für einen abendfüllenden Film.
Vor diesem Hintergrund hat es mich sehr verwundert, wie klein das Angebot an barrierefreien Filmen
auf dem deutschen Markt ist und wie wenig man das
Millionenpublikum der Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen beachtet. Und es geht ja nicht nur um
Marktchancen, sondern um Teilhabe am Kulturleben
und um Rechte, die sich nicht zuletzt aus der Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen
herleiten, die ganz eindeutig auch eine inklusive Kulturpolitik fordert.
Ich habe mich gefragt, wo es hier eigentlich klemmt.
Im Gespräch mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband erfuhr ich, dass das in der letzten
Novelle des Filmfördergesetzes eingeführte Förderkriterium der Barrierefreiheit offensichtlich nicht zog.
Die mit der Erstellung von barrierefreien Filmen befassten Institutionen und Unternehmen konnten jedenfalls keinen Anstieg bei der Zahl von Produktionen mit
Audiodeskriptionen und Untertitelungen feststellen,
die auf das neue FFG-Förderkriterium zurückzuführen
wären.
Mit dieser Problemanzeige wandte ich mich im
März 2011 mit schriftlichen Fragen an die Bundesregierung und auch an Kolleginnen und Kollegen im
Kultur- und Medienausschuss. Und ich freue mich,
dass im Weiteren eine ganze Reihe von Initiativen zuZu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({0})
stande kam, die das Problem thematisieren, unter anderem auch die beiden Anträge, die wir heute beraten.
Besonders wichtig war eine Initiative, die wir als
Filmpolitikerinnen und Filmpolitiker aller Bundestagsfraktionen gemeinsam ergriffen haben, nämlich
ein Schreiben an die Filmförderanstalt des Bundes, in
dem wir auf die ungenügende Situation hinweisen und
um Vorschläge bitten, wie man Abhilfe schaffen kann.
Die Antwort der FFA hat uns positiv überrascht. Man
nahm dort sogleich eine Prüfung und Veränderung der
Förderrichtlinien in Angriff mit dem Ziel, die Erstellung von Audiodeskriptionen und Untertitelungen bei
den mit Bundesmitteln geförderten Filmen verbindlich
zu machen. Auch für die Förderung aus dem Deutschen Filmförderfonds, DFFF, wurde Entsprechendes
getan.
Und was die Kostenseite anging, teilte man uns mit,
dass die Finanzierung aus laufenden Mitteln erfolgen
kann und keine zusätzlichen Mittel erforderlich seien.
Deshalb kann ich die in unserem Antrag, Drucksache
17/8355, aufgeführte zweite Forderung, nämlich ein
Sofortprogramm zur Förderung von barrierefreien Filmen aufzulegen, für erledigt erklären. Das Ziel lässt
sich mit vorhandenden Bordmitteln erreichen - und
das ist sehr erfreulich.
Und ein weiterer positiver Punkt ist schließlich,
dass im Entwurf zur jetzt anstehenden neuerlichen Novellierung des Filmfördergesetzes die Erstellung von
barrierefreien Kopien auch gesetzlich fixiert werden
soll, was eine weitere Forderung in unserem Antrag
ist. Das würde dem Anliegen endgültig das nötige Gewicht verleihen. Wir werden zwar über einige Details
noch zu reden haben, zum Beispiel über den Sinn der
im Entwurf der FFG-Novelle vorgesehenen Ausnahmeregelungen bei der Erstellung von barrierefreien
Fassungen, aber im Grundsatz gehen die Dinge in die
richtige Richtung.
Doch mit den absehbaren Verbesserungen bei der
Bundesfilmförderung sollten wir uns nicht zufriedengeben. Auch im Fernsehen brauchen wir viel mehr
barrierefreie Angebote. Auch die Fernsehveranstalter
sollten das Angebot von Sendungen mit Audiodeskriptionen und Untertitelungen deutlich ausweiten. Hierfür werben wir nachdrücklich.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
der Drucksache 17/10029. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/7709 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/8355 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Nun sind wir schon bei Tagesordnungspunkt 39:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia
Schmidt ({0}), Gabriele Hiller-Ohm, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Taubblindheit als Behinderung eigener Art
anerkennen - Merkzeichen Taubblindheit einführen
- Drucksache 17/11676 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})Ausschuss für GesundheitHaushaltsausschuss
Die Reden werden zu Protokoll genommen.
Gehörlose und blinde Menschen haben über die
Jahre und mithilfe intelligenter Unterstützungsmöglichkeiten gelernt, ihren Sinnesverlust zu kompensieren und ihren Alltag weitgehend selbstständig zu meistern.
Gehörlose nutzen zum Beispiel eine Lichtklingel,
die ihnen den Besuch ankündigt. Sie schauen auf ein
Bildtelefon, wenn sie jemanden anrufen wollen. Sie
können auch für Behördengänge einen Gebärdendolmetscher beanspruchen oder zum Beispiel im Fernsehen durch Untertitel den Tatort am Sonntagabend verfolgen.
Für Blinde und Sehbehinderte wurden in der Vergangenheit ebenfalls zahlreiche Hilfsmittel entwickelt,
um ihnen trotz des verlorenen Augenlichts ein weitgehend unabhängiges und selbstständiges Leben zu ermöglichen. Mit einer Brailletastatur können sie den
Computer bedienen und sich mit einer entsprechenden
Sprachausgabe Internetseiten vorlesen lassen. Taktile
Bodenleitsysteme in Kombination mit einem Blindenstock erleichtern ihnen, sich in der Öffentlichkeit weitgehend ohne fremde Hilfe zu bewegen. Wer kulturell
interessiert ist, kann auf Hörbücher zurückgreifen
oder mithilfe der Audiountertitelung Spielfilme verfolgen. Es gibt auch spezielle Elektrogeräte, Uhren oder
Schreibgeräte, die den Alltag für Blinde und Sehbehinderte erleichtern.
Ich könnte an dieser Stelle noch sehr viel mehr aufzählen, und es zeigt einmal mehr, wie differenziert und
nutzerfreundlich die Hilfsmittelangebote für gehörlose
und blinde Menschen geworden sind. Doch was davon
können diejenigen nutzen, die nicht nur auf ein, sondern sogar auf zwei wesentliche Sinnesorgane verzichten müssen? Was gibt es für Menschen, die blind bzw.
stark sehbehindert und gleichzeitig taub oder stark
hörgeschädigt sind?
Viele stellen sich die Welt eines taubblinden Menschen als still und dunkel vor. Für viele von ihnen trifft
dies wohl zu. Doch nicht jeder der rund 6 000 Betrof25888
fenen in ganz Deutschland ist vollkommen taub und
vollkommen blind. Tatsächlich ist jedoch ihre Behinderung, die von dem sogenannten Usher-Syndrom hervorgerufen wird, etwas sehr Besonderes. Sie sind in
gleich mehrfacher Weise eingeschränkt, was die Kommunikation und das Fortbewegen mit und in der Umwelt angeht. Viele Taubblinde leben daher sehr zurückgezogen und abseits vom gesellschaftlichen Leben.
Auch in den vertrauten vier Wänden gibt es immer
wieder Herausforderungen, wie zum Beispiel gefahrlos zu prüfen, ob das Wasser kocht, ob der Besuch das
Licht angelassen hat, wenn jemand an der Tür klingelt
oder anruft, welche Farbe die Kleidung hat etc. Die
meisten Menschen bleiben daher bei ihren Familien
wohnen, solange es geht. Häufig leben sie bei ihren Eltern oder ziehen zu ihren Geschwistern. Einige leben
auch in Partnerschaften mit nichtbehinderten Menschen und können sich so stärker von der Familie lösen. Selten kommt es vor, dass taubblinde Menschen
allein in eigenen Wohnungen den Alltag bestreiten.
Es gibt in Deutschland bisher nur wenige Einrichtungen, die taubblinden Menschen ein an ihren Bedürfnissen ausgerichtetes Umfeld bieten. Die größte
Einrichtung ist das Taubblindenwerk in Hannover. Neben Heimplätzen gibt es dort auch Wohnprojekte, in
denen mehrere taubblinde Menschen in Wohngemeinschaften zusammenleben. Ein Betreuer schaut regelmäßig vorbei und bietet Unterstützung, wenn es nötig
ist.
Immer mehr Bundesländer schaffen neue, ambulante Wohnformen für Menschen mit Behinderung. Aus
meiner Sicht sind diese Angebote auch für taubblinde
Menschen gut geeignet, die gerne mehr Kontakt zu anderen haben möchten und gleichzeitig so selbstständig
wie möglich ihren Alltag gestalten wollen. Es müssen
nur die Rahmenbedingungen stimmen, bevor ein taubblinder Mensch einziehen kann.
Wie kommunizieren taubblinde Menschen mit anderen? Die Laut- und Schriftsprache kommt für Taubblinde als Verständigungsmöglichkeit nicht in Betracht. Viele von ihnen nutzen das Tastalphabet, das
sogenannte Lormen. Diese Technik hat vielen Betroffenen geholfen, ein Stück aus ihrer Isolation herauszukommen. Diejenigen, die gehörlos geboren wurden
und die Gebärdensprache erlernt, doch im Laufe der
Jahre ihre Sehfähigkeit verloren haben, „erfühlen“ die
Gebärden. Man nennt das „taktiles Gebärden“. Dabei
müssen sich die Gesprächspartner zwangsläufig sehr
nahekommen. Betroffene berichten, dass dazu nicht
immer alle bereit sind. Auch das erschwert es, mit
neuen Menschen in Kontakt zu treten. Viele nutzen daher gerne das Internet, um den Dialog und den Austausch mit anderen zu pflegen oder sich mit Informationen zu versorgen. Voraussetzung ist natürlich auch
hier die entsprechende Technik.
Die bisher beschriebenen Kommunikationsformen
sind jedoch für Arzt- und Behördengänge, Absprachen
mit Handwerkern oder dem Postboten oder beim Einkaufen im Supermarkt keine Hilfe. In diesen Situationen sind Taubblinde auf die Unterstützung einer
persönlichen Assistenz angewiesen, um ihre Angelegenheiten regeln zu können. Nach geltendem Recht haben sie zwar im Rahmen der Sozialhilfe Anspruch auf
individuelle Teilhabeleistungen und Hilfen, etwa eine
persönliche Assistenz. Doch es gibt in Deutschland
derzeit nur sehr wenige ausgebildete Taubblindenassistenten. Dies liegt sicherlich zum einen daran,
dass die Zahl der Betroffenen insgesamt gering ist, und
zum anderen daran, dass dieses Berufsbild noch neu
ist.
In vielen Behörden und auch in Pflegeheimen sind
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bislang nicht
ausreichend mit der besonderen Situation von taubblinden Menschen vertraut. Hier ist noch deutlich
mehr Kompetenz nötig, damit diesen Menschen neben
den notwendigen Hilfen auch das angemessene Maß
an Empathie und Sensibilität entgegengebracht wird.
Entsprechende Schulungen könnten dazu beitragen,
diese Lücken zu schließen. Hier sind vor allem die
Bundesländer in der Verantwortung, aktiv vor Ort
Fachkräfte aus- und weiterzubilden. Mit all diesen Anmerkungen will ich bekräftigen, dass uns in der Union
die besondere Situation der taubblinden Menschen
sehr bewusst ist.
Taubblinde haben bislang in ihrem Schwerbehindertenausweis die Merkzeichen „Bl“ für blind und
„Gl“ für gehörlos vermerkt. Die Betroffenen fordern,
dass für sie ein eigenes Merkzeichen „Tbl“ eingeführt
wird, damit ihre besonderen Einschränkungen vor allem in den Bereichen Mobilität und Kommunikation
deutlich effizienter als bislang über entsprechende
Nachteilsausgleiche kompensiert werden können. Darauf zielt auch der Antrag, mit dem wir uns heute befassen.
Wie wir alle wissen, sahen in der Vergangenheit die
Bundesländer, unabhängig von der Regierungskonstellation, keinen Handlungsbedarf für ein eigenes
Merkzeichen. Grund dafür war, dass aus ihrer Sicht
ein eigenes Merkzeichen nur dann sinnvoll wäre, wenn
damit konkrete Rechte benannt würden, die über das,
was den Betroffenen über die anerkannten Merkzeichen
„Bl“ und „Gl“ an Hilfen zusteht, deutlich hinausgingen. Nunmehr hat sich die Arbeits- und Sozialministerkonferenz erneut mit dieser Frage befasst.
Es ist offensichtlich, dass sich diese Behinderung
nicht durch die Addition der Merkzeichen „Blind“ und
„Gehörlos“ abbilden lässt. Eins und eins ergibt in diesem Fall nicht zwei. Denn die Kombination aus einer
Hör- und Sehbehinderung führt zu einer völlig neuen
Form der Behinderung und damit auch zu neuen Herausforderungen, auf die die Umwelt und die Betroffenen gleichermaßen eingehen müssen.
Die Union setzt sich seit längerem sehr ausführlich
und auf breiter Ebene mit der Frage auseinander, wie
der Gesetzgeber dieser Gruppe von Menschen mit Behinderung in Zukunft noch besser gerecht werden
Zu Protokoll gegebene Reden
kann. So hat sich zum Beispiel bereits im Juni 2011 die
Bundesversammlung des CDA für ein eigenes Merkzeichen ausgesprochen. Auch auf europäischer Ebene
fand dazu eine Meinungsbildung statt. Aktuell liegt auf
dem Bundesparteitag der CDU nächste Woche in Hannover dazu ein Antrag zur Unterstützung vor, der zur
Annahme empfohlen wird. Einige Krankenkassen haben für Arztbesuche bzw. ambulante und stationäre
medizinische Versorgung per Satzung die Assistenz
festgeschrieben. Wir sehen also: Es ist bereits viel auf
unterschiedlichen Ebenen in Bewegung gekommen.
Das ist auch gut so.
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass
der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention die Gruppe der Taubblinden ebenfalls berücksichtigt hat. Als eine Maßnahme
hat die Bundesregierung eine Studie in Auftrag gegeben, um mehr über ihre Situation und die besonderen
Bedürfnisse in Erfahrung zu bringen. Die Untersuchung soll im Frühjahr 2013 vorliegen. Wenn wir auch
diese Daten zur Hand haben, können wir auf einer fundierten Grundlage entscheiden. Mit ausdrücklicher
Ermunterung durch das BMAS hat gestern die Sozialministerkonferenz ein einstimmiges positives Votum
zur Einführung dieses neuen Merkzeichens gegeben.
Fakt ist bereits heute, dass ein eigenes Merkzeichen
„Tbl“ für die Betroffenen identitätsstiftend wirken und
auch ihr Selbstbewusstsein deutlich stärken wird.
Gleichzeitig wird auch mit großer Sicherheit Bürokratie abgebaut. Nicht von ungefähr kommt es, dass ab
nächstem Jahr im Gegensatz zu allen anderen allein
die Taubblinden von der Rundfunk- und Fernsehgebühr befreit bleiben. Auf diese Weise gibt es ab 2013
schon einen eigenständigen Nachteilsausgleich für
taubblinde Menschen. Das steht mehr oder weniger im
Gegensatz zu der Feststellung, dass es bisher in
Deutschland keine konkrete, abgerundete und definierte Begriffsbestimmung von Taubblindheit gibt. Das
muss sich ändern. Beispielgebend können die skandinavischen Länder sein.
Wir sprechen uns ausdrücklich dafür aus, eine bundeseinheitliche Vorgehensweise einzuführen. Insofern
ist der Antrag der SPD ein Baustein in der Entscheidungsfindung. Wir wollen keine Schnellschüsse, sondern bereiten eine positive Entscheidung auf fundierter Grundlage vor.
Taubblinde Menschen sind immer noch vergessene
Menschen. Bereits am 12. April 2004 hat das Europäische Parlament erklärt, Taubblindheit als Behinderung eigener Art anzuerkennen. Das Parlament fordert
die Mitgliedstaaten auf, die Rechte der hör- und sehbehinderten Menschen anzuerkennen und ihnen Geltung
zu verschaffen. Dies soll zum Beispiel durch das Recht
auf Teilnahme am demokratischen Leben der Europäischen Union, das Recht auf Arbeit und Zugang zur
Ausbildung mit entsprechenden Beleuchtungs-, Kontrast- und Anpassungsmöglichkeiten, das Recht auf
eine Gesundheits- und Sozialbetreuung, bei der der
Mensch im Mittelpunkt steht, das Recht auf lebenslanges Lernen, gegebenenfalls mit Eins-zu-eins-Unterstützung in Form von Kommunikator-Begleitpersonen,
Dolmetschern und/oder Betreuern für Taubblinde geschehen. 2005 folgte das spanische Parlament der Aufforderung.
Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten
Nationen erwähnt in Art. 24 Abs. 3 UN-BRK neben
Blindheit und Gehörlosigkeit explizit die Taubblindheit
und unterstreicht damit deren eigenständige Bedeutung. Dort heißt es: Die Vertragsstaaten stellen sicher,
„dass … taubblinden Menschen, insbesondere Kindern, Bildung in den Sprachen und Kommunikationsformen …, die für den Einzelnen am besten geeignet
sind, sowie in einem Umfeld vermittelt wird, das die
bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet.“ Die Konvention ist geltendes Recht in
Deutschland; sie muss endlich umgesetzt werden.
Taubblinde Menschen sind besonders von den gesellschaftlichen Barrieren betroffen, die sie von der
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließen.
Bei ihnen kommen aber nicht nur die Gehörlosigkeit
oder die Blindheit zusammen; die Wechselwirkung potenziert die Behinderung. Taubblinde Menschen sind
zumeist vollständig auf die Unterstützung durch Familienangehörige und nahe Vertrauenspersonen angewiesen, um den Alltag überhaupt organisierbar zu machen und Grundbedürfnisse zu decken. Fallen diese
Personen und die enge Bindung zu ihnen weg, führt
dies nicht selten in die vollständige Isolation oder
nicht selten sogar zum Suizid.
Taubblinde Menschen sind für unser Hilfesystem
nahezu unsichtbar, ihre genaue Zahl kennt niemand.
Dies resultiert aus dem schwierigen Zugang zu den Betroffenen, der zumeist aufsuchend erfolgen muss, da
sie nicht zu den Beratungsstellen finden. Die Verbände
und Selbsthilfeorganisationen gehen von mindestens
6 000 Betroffenen bundesweit aus.
Wodurch bestimmt sich der besondere Bedarf? Die
Besonderheit der Taubblindheit wird vom Gemeinsamen Fachausschuss hörsehbehindert/taubblind beim
Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband so
beschrieben, dass bei gleichzeitigem Vorliegen einer
akustischen und optischen Funktionseinschränkung
ein wechselseitiger, für eine Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft verwertbarer Ausgleich durch Sinnesreste nicht stattfindet und auch nicht entwickelt werden
kann. Taubblinde Menschen können den Verlust eines
Sinnes nicht durch den jeweils anderen ausgleichen.
Das macht die Besonderheit der Behinderung aus, und
deshalb muss man zunächst dafür sensibilisieren und
darüber aufklären.
Ohne spezielle Taubblindenhilfsmittel und eine Assistenz, die taktile Gebärden beherrscht, ist es den Betroffenen nicht möglich, sich selbstständig im öffentlichen Raum zu bewegen. Die Sichtbarmachung der
Behinderung ist ein Ziel unseres Antrags. Dazu würde
Zu Protokoll gegebene Reden
Silvia Schmidt ({0})
die Einführung eines eigenständigen Merkzeichens
enorm beitragen, auch wenn sich daraus ohne Weiteres keine Leistungen ergeben. Darüber hinaus ist es
unser Anliegen, dass taubblinde Menschen den besonderen und spezifischen Bedarf nicht nur deutlich machen, sondern auch Hilfsmittel und Assistenz zu dessen
Deckung erhalten können.
Die SPD-Bundestagsfraktion empfiehlt daher, dass
die Hilfsmittel-Richtline des Gemeinsamen Bundesausschusses und das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung geändert werden mögen.
Dies kann die Bundesregierung nicht veranlassen, sicherlich aber befördern. Ein Bekenntnis zu dieser Notwendigkeit scheint uns in jedem Fall notwendig. Dies
wäre ein wichtiger Schritt, um auch Rehabilitationsträger wie die Sozialhilfe dazu zu bewegen, entsprechende Bedarfe zu berücksichtigen und entsprechend
zu decken.
Wichtig erscheint es uns auch, eine aufsuchende Beratung zu ermöglichen, damit die Bedarfslage erfasst
werden kann und die Betroffenen systematisch an ein
selbstständiges Leben herangeführt werden. Die
Hürde der Beratung würde so genommen. Ebenso
wichtig ist es, die Kommunikation mit taubblinden
Menschen analog zur Kommunikationsassistenz für
gehörlose Menschen bei Behördengängen und Arztbesuchen sicherzustellen und nicht nur anlassbezogen
auszugestalten. Dafür braucht es aber eine ausreichende Zahl und Verfügbarkeit von Taubblindendolmetscherinnen und -dolmetschern, die von der Gesamtheit der Gebärdendolmetscher qualifiziert werden
müssen.
In Nordrhein-Westfalen werden diese Dolmetscher
bereits ausgebildet. NRW wird noch in dieser Woche
einen Antrag einbringen, der sich unserer Forderung
anschließt. Es werden ein Beirat zur Überprüfung des
Bedarfs und eine Anerkennung der taubblinden Menschen gefordert. Zu diesem Antrag gratuliere ich
Hannelore Kraft.
Ich bin der Ansicht, dass wir alle diese Punkte in
den Ausschüssen diskutieren und am Ende zu einem
Beschluss kommen sollten, der die besondere Lebenssituation von taubblinden Menschen herausstellt und
zu ihrer Verbesserung substanziell beiträgt.
Für die meisten Menschen ist ein Druck auf die
Fingerkuppe des Daumens eine bedeutungslose Berührung. Für manche Menschen ist diese Berührung
die einzige Möglichkeit zu kommunizieren. Der Druck
auf die Fingerkuppe des Daumens ist das A im
Lormalphabet. So können sich taubblinde Menschen
verständigen.
Es gibt unterschiedliche Zahlen, wie viele Menschen taub und blind sind. Schätzungen besagen, dass
etwa 4 000 bis 6 000 Menschen mit Taubblindheit in
Deutschland leben. Während sinnesgeschädigte Menschen den Verlust eines Sinnes durch die Nutzung eines
anderen Sinnes kompensieren können, sind taubblinde
Menschen auf ganz besondere Hilfe angewiesen.
Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge haben dem
Thema Taubblindheit in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit verschafft. Betroffenenverbände und -organisationen haben auf die besondere Lage von taubblinden
Menschen aufmerksam gemacht. Ganz grundsätzlich
ist die Vorstellung, nicht mehr sehen und nicht mehr
hören zu können, mit großen Ängsten verbunden. Die
Stiftung „taubblind leben“ und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Taubblinden unterstützen mit ihren
Selbsthilfegruppen, ihrem Engagement und ihrem
Fachwissen taubblinde Menschen und ihre Angehörigen.
Die Lebenslage taubblinder Menschen schnell und
unbürokratisch zu verbessern, ist mir ein wichtiges
Anliegen. Auch im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung wurde auf die Situation taubblinder
Menschen hingewiesen. Ich habe mich mit Vertretern
der Taubblinden ausgetauscht. Gerade bei der Hilfsmittelbewilligung gibt es immer wieder Schwierigkeiten mit den Rehabilitationsträgern, da Taubblindheit
nicht als eigenständige Behinderungsform anerkannt
wird.
Aus Gesprächen mit Mitgliedern der Stiftung „taubblind leben“ weiß ich, dass oft unzureichende oder für
taubblinde Menschen nutzlose Leistungen der Sozialversicherungsträger bewilligt werden. Es ist für die
Betroffenen und ihre Angehörigen oft sehr aufwendig
und schwierig, den Leistungsträgern den speziellen
Bedarf verständlich zu machen. So zeigt zwar eine
Lichtklingel gehörlosen Menschen, wenn das Telefon
klingelt. Für gehörlose Menschen, die blind sind oder
von Erblindung bedroht sind, ist eine Lichtklingel allerdings keine Hilfe. Blinde Menschen wiederum profitieren von einem Computer mit Sprachausgabe. Blinden Menschen, die ertaubt sind oder schwer hören,
nutzt eine Sprachausgabe aber wenig.
Ich denke daher, dass es sinnvoll ist, Sacharbeiter
zu schulen und zu sensibilisieren. In NordrheinWestfalen wird überlegt, eine Handreichung für Sacharbeiter zum Thema Taubblindheit herzustellen. Ich
halte es für dringend erforderlich, dass die besonderen
Bedürfnisse taubblinder Menschen von den Leistungsträgern mehr berücksichtigt werden. Auch wenn es
viele verschiedene Formen von Behinderungen gibt,
bei denen mehrere Bereiche betroffen sind, zum Beispiel körperliche und geistige Behinderungen, erfordert die Behinderung Taubblindheit eine sehr spezifische Unterstützung. Dazu gehört zum Beispiel eine
persönliche Assistenz, die mit dem taubblinden Menschen kommunizieren kann. Mit dem Lormalphabet
werden Sätze in die Hand des anderen buchstabiert, so
dass sich taubblinde Menschen unterhalten können.
Der Antrag der SPD ist eine gute Initiative, weil er
auf die Situation von taubblinden Menschen hinweist.
Es ist jedoch nicht so, dass uns erst der Antrag auf dieses Thema aufmerksam gemacht hätte. Die Forderung
Zu Protokoll gegebene Reden
nach einem eigenen Merkzeichen im Behindertenausweis unterstütze ich. Wir müssen gemeinsam mit den
Ländern prüfen, wie diese Forderung umgesetzt werden kann. Weil wir dazu noch etwas Zeit brauchen,
müssen wir den Antrag heute ablehnen. Dennoch bin
ich sehr zuversichtlich, dass wir in absehbarer Zeit zu
einer Lösung kommen.
Um die Bedürfnisse von taubblinden Menschen
noch genauer kennenzulernen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit
dem Beauftragten der Bundesregierung für die
Belange behinderter Menschen im März 2012 ein
Fachgespräch organisiert. Betroffene, Angehörige und
Verbandsvertreter konnten so die Problemfelder erörtern. Eine Studie im Auftrag des nordrhein-westfälischen Sozialministeriums ist bereits angelaufen. Mit
ihr soll die Lebenslage taubblinder und hörgeschädigter Menschen wissenschaftlich erfasst werden. Mit den
Ergebnissen ist Mitte 2013 zu rechnen. Ich denke, dass
die Ergebnisse zu der Frage, welche Maßnahmen notwendig sind, mit einbezogen werden sollten. In
Deutschland existiert bereits ein Bündel an Sach- und
Hilfeleistungen. Diese gilt es auch passgenau auf
Menschen mit Taubblindheit auszurichten.
Es ist erschütternd, wenn taubblinde Menschen in
einem Heim für geistig behinderte Menschen leben
oder in die Psychiatrie eingewiesen werden, weil niemand ihre Taubblindheit erkennt. Hier wünsche ich
mir mehr Professionalität vor Ort: Welcher Hilfebedarf liegt vor, und was ist der eigentliche Wunsch
des Betroffenen? Wichtig sind auch frühe Hilfen, um
Familien mit taubblinden Kindern oder Menschen, die
von Taubblindheit bedroht sind, zu unterstützen.
Für uns Liberale ist vor allem die persönliche Assistenz ein Schlüssel zu mehr Selbstständigkeit. Personenzentrierte Hilfen wie die Hilfe einer Assistenz, die
über die Fähigkeit des Lormens verfügt, ermöglichen
taubblinden Menschen, ihren Alltag zu meistern. Hier
sollte geklärt werden, wie im Spektrum der Möglichkeiten des persönlichen Budgets individuelle Hilfen
geschaffen werden können.
Wir alle sind sensibilisiert und wollen, dass sich die
Situation von Menschen mit Taubblindheit verbessert.
Daher begrüße ich einen Diskussionsprozess, der sich
damit befasst, wie die Lebensbedingungen von taubblinden Menschen verbessert werden können.
Die drei Affen haben - laut Wikipedia - ihren Ursprung in einem japanischen Sprichwort und stehen
dort für den vorbildlichen Umgang mit Schlechtem.
Der Spruch „Nichts ({0}) sehen, nichts ({1}) hören, nichts ({2}) sagen“ ist Bestandteil der Lehre
des buddhistischen Gottes Wadjra. Er gelangte vermutlich im 8. Jahrhundert von Indien über China nach
Japan und wurde dort als „mizaru, kikazaru, iwazaru“
bekannt.
Während die drei Affen in Japan eigentlich die Bedeutung „über Schlechtes weise hinwegsehen“ haben,
werden sie in der westlichen Welt eher als „alles
Schlechte nicht wahrhaben wollen“ interpretiert. Aufgrund dieses negativen Bedeutungswandels gelten die
drei Affen daher häufig als Beispiel für mangelnde Zivilcourage.
Was aber haben nun die drei Affen mit dieser Debatte zur Taubblindheit zu tun?
Vor genau acht Monaten, am 29. März 2012, gab es
ein Fachgespräch mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem Behindertenbeauftragten bei
der Bundesregierung und taubblinden Menschen und
ihren Organisationen zur Lebenssituation von taubblinden Menschen. Die Bundesregierung erhielt die
Forderung zur Einführung eines Merkzeichens
„TBl“ - eine Initiative der Betroffenen, die mit
14 000 Unterschriften unterstützt wurde.
Immerhin, es geht um die nicht gerade einfache Lebenssituation von bundesweit circa 6 000 Menschen,
die weder sehen noch hören können, und deren Angehörige. Diese Menschen haben aufgrund des Verlustes
zweier Sinnesorgane riesige Probleme bei der Kommunikation, beim Zugang zu Bildung, Arbeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie sind auf qualifizierte Assistenz und spezielle Hilfsmittel angewiesen.
Insofern geht es nicht nur um ein neues Merkzeichen
im Schwerbehindertenausweis, sondern um Anerkennung der Besonderheiten, die aus der Taubblindheit
resultieren. Dies ist die Voraussetzung für wirkungsvolle Hilfen und Nachteilsausgleiche.
Natürlich kann man nicht beliebig viele Merkzeichen auf dem Schwerbehindertenausweis vermerken.
Das geht nicht aus Platzgründen, und vor allem sieht
dann niemand mehr durch. Aber eins und eins ist nicht
immer zwei. Auch nicht in der Chemie. Wenn man zwei
Substanzen vermischt, entsteht manchmal eine dritte
Substanz mit völlig anderen Qualitäten. Und das wirkliche Leben hat es bewiesen: Es reicht nicht, wenn die
Merkzeichen für „blind“, Bl, und „gehörlos“, GL, nebeneinanderstehen.
Drei Wochen nach dem Fachgespräch, am 17. April
2012, antwortete der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Brauksiepe, CDU/CSU, auf meine zwei Fragen zu
den Erkenntnissen und Schlussfolgerungen aus dem
Fachgespräch für die Bundesregierung. In der Antwort heißt es: „Das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales, BMAS, hat mit dem Fachgespräch die Erwartung verbunden, aus erster Hand zusätzliche Informationen über die Lebenssituation taubblinder Menschen zu gewinnen. Diese Erwartung hat sich erfüllt.
Deutlich wurde einerseits, welche Herausforderungen
Menschen zu meistern haben, die sowohl seh- als auch
hörbehindert sind und die deshalb Einschränkungen
bei der Nutzung des einen Sinnes nicht oder nur ansatzweise durch die Nutzung des anderen Sinnes kompensieren können. … Das BMAS hat … zugesagt, mit
Zu Protokoll gegebene Reden
den … Ländern zu erörtern … ob dafür ein eigenes
Merkzeichen erforderlich ist.“ ({3})
Diese Antwort ließ hoffen, dass sich nicht nur die
Erwartungen der Bundesregierung, sondern auch die
der Betroffenen erfüllen. Aber nichts geschah.
Spätestens seit Vorliegen der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Grünen „Zur
Lage hörbeeinträchtigter Menschen in Deutschland“
({4}) war klar,
dass die Erwartungen der taubblinden Menschen und
ihrer Angehörigen nicht ({5}) erfüllt werden. Anstatt zu handeln, wird der Schlussbericht eines vom
Sozialministerium in NRW in Auftrag gegebenen Gutachtens abgewartet. Dieser Bericht soll Mitte 2013
vorliegen. Das heißt, vor der Bundestagswahl will die
Bundesregierung nichts mehr tun. Es soll eine Aufgabe
für die kommende Regierung - frühestens im Jahr
2014 - bleiben.
Deswegen danke ich der SPD für diesen Antrag,
den die Linke unterstützen wird. Taubblinde Menschen
brauchen das Merkzeichen „TBl“ jetzt. Sie brauchen
eine bedarfsgerechte sowie einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabesicherung, vor allem durch
qualifizierte Assistenz - so, wie es die Linke mit ihrem
Antrag für ein Teilhabesicherungsgesetz vorschlug.
Sie brauchen - nicht nur in den Verwaltungen - im
Umgang mit taubblinden Menschen aufgeklärte und
sachkundige Partnerinnen und Partner. Und sie brauchen auch eine bedarfsgerechte Versorgung mit Hilfsmitteln.
Übrigens: Das hier gezeigte Vorgehen der Bundesregierung kenne ich zur Genüge, zum Beispiel im Umgang mit den durch Contergan geschädigten Menschen. Auch hier geht es nur um ein paar Menschen
mit Behinderungen, nicht um milliardenschwere Rettungspakete für Banken und deren Eigentümer. Also
lässt man sich Zeit - auf dem Rücken der Betroffenen.
Die Frage, wer die drei Affen sind, die „alles
Schlechte - in ihren Gesetzen und ihrem Handeln nicht wahrhaben wollen“, beantwortet sich hier von
selbst.
Ich freue mich, dass wir heute über Möglichkeiten
zur Verbesserung der Lebenssituation einer Gruppe
von Menschen sprechen, die gegenwärtig in ihrem Alltag besonders behindert werden. Besonders vulnerable Gruppen, also diejenigen, die stark benachteiligt
werden, dürfen wir bei den vielfältigen Herausforderungen, die sich uns im Zuge der Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention stellen, nicht unberücksichtigt lassen.
Meine Fraktion wollte bereits im Sommer dieses
Jahres von der Bundesregierung wissen, was sie zur
Verbesserung der Versorgungssituation taubblinder
Menschen unternimmt. Die Antwort, die wir auf unsere
Kleine Anfrage erhielten, lässt darauf schließen, dass
die Bundesregierung zumindest erkannt hat, dass die
Sensibilisierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den zuständigen Behörden notwendig ist. Ich
hoffe wirklich, dass sie dieser Erkenntnis auch Taten
folgen lässt.
In Hinblick auf weitere relevante Fragen - zum Beispiel die Verfügbarkeit qualifizierter Assistentinnen
und Assistenten für taubblinde Menschen - zieht sich
die Bundesregierung leider darauf zurück, erst die Ergebnisse von Studien abwarten zu wollen. Ich möchte
mich gar nicht dagegen aussprechen, wissenschaftliche Gutachten zur Lebenssituation taubblinder Menschen zu erstellen. Um zu wissen, dass es diesem
Personenkreis unter anderem an qualifizierten Assistentinnen und Assistenten mangelt, braucht man sie allerdings nicht.
In Nordrhein-Westfalen fördert die Landesregierung bereits seit 2008 die Ausbildung von Taubblindenassistenten. Da hat sich also schon einmal eine
schwarz-gelbe Regierung zu einer sinnvollen Sache
entschieden. Die nachfolgende rot-grüne Regierung
hat die Förderung gerne fortgeführt, sie hat zudem die
bundesweit erste Studie zur Lebenslage taubblinder
Menschen in Auftrag gegeben.
Allein in Nordrhein-Westfalen leben schätzungsweise 600 bis 800 taubblinde Menschen. Ende dieses
Jahres werden 40 qualifizierte Assistentinnen und Assistenten zur Verfügung stehen. Die Situation in den
anderen Bundesländern ist wesentlich schlechter. Es
ist offensichtlich: Damit taubblinde Menschen gleichberechtigt teilhaben können, ist noch viel zu tun. Meine
Fraktion stimmt dem Antrag der SPD daher gerne zu.
Ich möchte aber auch die Kolleginnen und Kollegen
der Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung
noch einmal ausdrücklich auffordern, tätig zu werden.
In NRW haben wir gesehen, dass auch schwarz-gelbe
Regierungen grundsätzlich in der Lage sind, Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation taubblinder
Menschen zu treffen. Die Bundesregierung könnte sich
daran durchaus ein Beispiel nehmen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 17/11676 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Einwände gibt es
keine. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 40:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der
Selbsttötung
- Drucksache 17/11126 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})-
Innenausschuss
Interfraktionell wird vorgesehen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden.1)
1) Anlage 12
Präsident Dr. Norbert Lammert
Vorgeschlagen wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 17/11126 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse. Anderweitige Vorschläge habe
ich nicht. Dann können wir so verfahren.
Bevor ich jetzt den nächsten Tagesordnungspunkt
aufrufe, teile ich Ihnen mit, dass sich die Fraktionen verständigt haben, den Tagesordnungspunkt 42, der jetzt eigentlich an der Reihe gewesen wäre - es handelt sich um
die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP mit dem Titel „Innovationen stärken und Lust
auf Technik wecken“ -, von der Tagesordnung abzusetzen.
({1})
Dies ist auch ein Thema, das sich für eine Behandlung
weit nach Mitternacht geradezu aufdrängen würde.
Gleichwohl habe ich Sie zu fragen, ob Sie mit der Vereinbarung einverstanden sind, diesen Punkt abzusetzen. Zögernd, aber erkennbar Zustimmung.
({2})
Der Tagesordnungspunkt ist bei hinhaltendem Widerstand der Fraktion Die Linke, deren Enthaltung zu Protokoll genommen wird, abgesetzt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 44 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Petermann, Katrin Kunert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sportförderung neu denken - Strukturen verändern
- Drucksache 17/11374 Überweisungsvorschlag:Sportausschuss ({3})InnenausschussAusschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auch hierzu werden die Reden zu Protokoll genommen.
Die hinter dem Antrag stehende Idee und Initiative
der Fraktion Die Linke, der Sportpolitik in Deutschland einen höheren Stellenwert beizumessen und eine
ebenenübergreifende Kompetenz für den Sport zu
schaffen, kann ich unterstützen. Nicht nur nach Großsportereignissen, wie den Olympischen Spielen oder
Weltmeisterschaften, wird deutlich, wie stark beispielsweise der Spitzensport mit dem Breitensport verbunden ist. Auch hinsichtlich des Schulsports wünscht
man sich einen Bedeutungszuwachs, um Kindern und
Jugendlichen wichtige Normen und Werte des sozialen
Miteinanders oder eines gesunden und ausgeglichenen
Lebensstils mit auf den Lebensweg zu geben.
Bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung in
unseren Alltag und damit auch in den Sport erleben
wir derzeit ein Umdenken und befinden uns in einem
wichtigen gesamtgesellschaftlichen Lern- und Anpassungsprozess in der Frage, wie der Weg im Einzelnen
künftig weiter beschritten werden kann. Die Bedeutung
des Sports für die Inklusion in Deutschland kann nicht
hoch genug eingeschätzt werden. Welche lebensbejahenden Wirkungen und Entwicklungschancen der
Behindertensport wie auch das gemeinsame Sporttreiben entfalten können, haben wir nicht zuletzt bei den
Paralympics in London 2012 beobachten können.
Es geht dabei aber nicht immer nur um den Spitzensport von Menschen mit Behinderungen, sondern auch
um die lokalen Sport- und Bewegungsmöglichkeiten
des Breitensports für jeden Einzelnen. Damit dies umsetzbar ist, benötigen wir in Deutschland qualifizierte
Übungsleiter, Trainer, Sportlehrer und Sporttreibende,
die den örtlichen Anforderungen und persönlichen
Bedürfnissen gerecht werden. Der Gesprächskreis
Sport der CDU Deutschlands hat sich vor wenigen
Wochen mit diesem Thema tiefer gehend befasst und
dabei zusammen mit verschiedenen Experten und
Verbänden zielführende Strategien und innovative
Lösungsansätze formuliert. Der Sanierungs- und
Modernisierungsbedarf von vielen Sportstätten in
Deutschland ist ebenfalls anzusprechen.
Wie es nicht selten in politischen Diskussionen der
Fall ist, stimmen wir bei der Feststellung der gesellschaftspolitischen Probleme und Herausforderungen
überein. Ein deutlicher Unterschied zeigt sich jedoch
bei den Lösungsansätzen und der Kompetenz, diese
auch zu verwirklichen: Der Antrag der Fraktion Die
Linke greift mit der Forderung nach einem eigenständigen Sportministerium einen alten Vorschlag der
sportpolitischen Diskussion auf. Gleichwohl besteht
seit langem Konsens, dass mit einer Auslagerung aus
dem Bundesministerium des Innern, BMI, ein deutlicher Bedeutungsverlust des Sports einhergehen würde.
Indes zeigt die Abteilung „Sport“ im Bundesministerium des Innern mit den einzelnen, gutaufgestellten
Referaten, wie mit effektiven Strukturen und engagierten Mitarbeitern der Sport in Deutschland vorangebracht werden kann. Die Arbeit und das Engagement
der Mitarbeiter der Abteilung „Sport“ und an der
Spitze natürlich unseres Bundesinnenministers sei an
dieser Stelle ausdrücklich gewürdigt. Im Blick auf eine
erfolgreiche Haushaltskonsolidierung, das Prinzip von
möglichst schlanken, unbürokratischen Strukturen
sowie eine starke Förderung des Sports selbst lehnen
wir die Forderung bezüglich der Einrichtung eines eigenständigen Sportministeriums ab.
Sosehr ich die Bedeutung des Schulsports eingangs
betont habe, muss andererseits die Kritik an den
Vorschlägen der Fraktion Die Linke diesbezüglich so
ausfallen: Die in dem Antrag genannten Forderungen
verstoßen allesamt gegen eine Vielzahl an zuwendungsrechtlichen Bestimmungen sowie gegen die
grundsätzliche Kompetenzverteilung zwischen Bund
und Ländern im Sport. Hiernach ist der Bund ausschließlich für die Förderung des Spitzensports und
sind die Bundesländer für die Förderung des Breitensports zuständig. Ich will an dieser Stelle nicht die im
Bildungsbereich seit langem geführte Diskussion um
Kompetenzbereiche eröffnen, sondern lediglich auf
diese verweisen. Dies schließt die Forderungspunkte
bezüglich des Schulsports ausdrücklich ein und heißt
schließlich, dass Bund und Länder sich ressort- und
ebenenübergreifend künftig noch stärker gemeinsam
für den Sport einsetzen. Dafür bedarf es nicht einer
einseitigen Beschneidung der Kompetenzen der Bundesländer im Sport.
Der Antrag „Sportförderung neu denken - Strukturen verändern“ der Fraktion Die Linke missachtet
ebenso die unterschiedlichen Kompetenzen und
Zuständigkeiten hinsichtlich der Sportstätten. Bei den
lokalen Sportstätten ist nicht der Bund, sondern sind
die Kommunen und die Länder zuständig. Die Sportstätten des Spitzensports entsprechen weitestgehend
den Anforderungen und der Art der Nutzung von behinderten Athletinnen und Athleten. Im Rahmen des
Konjunkturpaketes II hat der Bund ({0}) sich
mit circa 1 Milliarde Euro für eine Modernisierung der
lokalen Sportinfrastruktur kraftvoll eingesetzt. Künftig
sind hinsichtlich des Erhalts, der Sanierung und des
Baus von Sportanlagen jedoch weitere wichtige Faktoren zu beachten, wie beispielsweise der demografische
Übergang, die Urbanisierung oder die sich wandelnde
Sportnachfrage. Auch müssen Fragen der Finanzierung und der Auslastung von Sportanlagen geklärt
werden, damit Kommunen oder Sportvereine nicht an
dem eigentlichen Bedarf vorbei planen und bauen. Wie
gesagt, dies sind allgemeine Voraussetzungen für einen nachhaltigen und verantwortlichen Sportstättenbau in Deutschland. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich deshalb dafür eingesetzt, dass der
Sportausschuss des Deutschen Bundestages sich im
kommenden Jahr 2013 hiermit tiefer gehend beschäftigen wird.
Der Deutsche Behindertensportverband, DBS, setzt
sich bereits für diverse Qualifizierungsmaßnahmen
von Trainern, Übungsleitern und Lehrkräften ein. Die
Bundes-Bildungs-Konferenzen des DBS verdeutlichen
dies auf übergeordneter Ebene. Trotz der beachtlichen
Initiativen des DBS und des zu würdigenden Engagements der Involvierten stehen wir beim Thema Inklusion und der Qualifizierung von verschiedensten
Personenkreisen erst am Anfang eines langen Weges.
Hierbei werden wir den DBS sowie seine Mitgliedsverbände kraftvoll unterstützen und begleiten sowie auf
verschiedenen Ebenen uns für die Sache starkmachen.
Ungeachtet der zuwendungsrechtlichen Fehler und
der Missachtung von Zuständigkeiten in dem Antrag
der Fraktion Die Linke sollten wir die einzelnen
Aspekte und sportfachlichen Ziele in der weiteren Diskussion im Sportausschuss aufgreifen und diskutieren.
In Analogie zum Titel des Antrags sei abschließend
gesagt: Um den Sport in Deutschland weiter voranzubringen, müssen wir die Sportförderung nicht neu
denken oder alle Strukturen verändern, sondern uns
weiterhin für die Inhalte gemeinsam und ebenenübergreifend einsetzen.
Ich muss offen und ehrlich zugeben, dass ich mit
dem Titel des Antrags der Fraktion Die Linke grundsätzlich übereinstimmen kann, zumindest ohne den dazugehörenden Antrag. Nachdem ich den Antrag jedoch
gelesen habe, war mir klar, dass der Titel wohl eher
hätte lauten müssen: „Sportförderung und Föderalismus auf den Kopf stellen - planwirtschaftliche Strukturen wieder einführen.“
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Fraktion Die Linke, der Titel Ihres Antrags findet
Anerkennung, der Inhalt jedoch Ablehnung bei mir
und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und deswegen
werden wir ihn auch ablehnen, und ich werde Ihnen
das auch begründen.
Grundsätzlich gesagt hat Ihr Antrag mit den derzeitigen Zuständigkeiten und Realitäten der deutschen
Sportpolitik absolut nichts zu tun. Als ob das noch
nicht genug wäre, greifen Sie mit Ihrem Wunschzettel
auch noch in die Autonomie des Sports ein.
Gleich zu Beginn Ihres Antrags kritisieren Sie die
Verteilung der Sportfördermittel als „intransparent
und nicht nachvollziehbar“. Da wundere ich mich
doch schon ein wenig; denn Sie waren doch auch im
Sportausschuss dabei, als wir in den vergangenen Wochen, während der Haushaltsberatungen, die Mittel,
die der Bund für den Sport jährlich veranschlagt, in
mehreren Sitzungen beraten haben. Diesen Bundeshaushalt haben wir im Übrigen nicht nur im Sportausschuss, sondern in allen Ausschüssen und natürlich
auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages beraten und beschlossen. Von Intransparenz und mangelnder Nachvollziehbarkeit kann also keine Rede
sein.
Im gleichen Abschnitt wärmen Sie das Thema der
sagenumwobenen Zielvereinbarungen des Deutschen
Olympischen Sportbundes mit den einzelnen Sportfachverbänden wieder auf und behaupten, dass sich
dieses System in seiner bisherigen Form nicht bewährt
habe. Da frage ich mich doch: Woher wissen Sie das?
Natürlich hat es in diesem Jahr viel Kritik an den
erstmals in diesem Sommer veröffentlichten Zielvereinbarungen gegeben, sowohl berechtigte wie auch
unberechtigte. Zwei Dinge müssen wir aber hier in aller Klarheit sagen: Zum einen fallen die Zielvereinbarungen in die Autonomie des Sports, und zum anderen
kann niemand behaupten, dass sie sich nicht bewährt
hätten; denn es gibt kein alternatives System der Verteilung von Fördergeldern innerhalb des Dachverbandes des Sports, dem DOSB, und seinen Mitgliedsverbänden.
Kritik an den Zielvereinbarungen kann nicht konstruktiv sein, wenn diese grundsätzlich infrage gestellt
werden. Ich bin mir sicher, dass der DOSB konstruktiven Vorschlägen zu einer Verbesserung dieses Instruments immer aufgeschlossen gegenübersteht, und so
sollten wir es dann auch halten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Einen konkreten Vorschlag, wie die Mittel in Zukunft verteilt werden sollen und von wem, bleiben Sie
im Übrigen schuldig. Mehr als ungenaue Andeutungen
kann ich in Ihrem Antrag nicht erkennen. In jedem Fall
ist das System der Zielvereinbarungen dem Vorgängersystem überlegen.
Es geht nur zusammen mit dem Sport und nicht einfach ohne ihn. Die Autonomie des Sports ist ein hohes
Gut, und wir sollten es als Sportpolitiker schützen und
nicht durch die von Ihnen aufgestellten Forderungen
infrage stellen.
Das nächste Thema Ihres Antrags ist dann die Bildungspolitik und das durch die Föderalismusreform
ausgehandelte Kooperationsverbot für Bund und Länder. Hier kritisieren Sie sich daraus angeblich ergebende nachteilige Auswirkungen auf die Nachwuchsfindung und Nachwuchsförderung. Sie fordern daher
ein einheitliches Sportförderkonzept von Bund und
Ländern.
Ich frage Sie: Wo kommen da die Sportvereine und
Verbände vor? Ihnen obliegt die Nachwuchsförderung,
aber in Ihrem Antrag steht nichts davon. Bedeutet das
nun, dass Sie ein staatliches Förderprogramm haben
wollen, indem der Staat die Aufgaben der Sportvereine
übernimmt? Ich hoffe, dass Sie mit dieser Forderung
die Autonomie des Sports nicht ebenso verletzen wollen wie bei Ihrer ersten von mir erwähnten Forderung.
Den nächsten Punkt möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben; denn er ist meiner Meinung
nach der negative Tiefpunkt Ihres Antrags. Er betrifft
die Spitzensportförderung des Bundes. Hier behaupten
Sie allen Ernstes, dass Athletinnen und Athleten sich
„aus der Not heraus“ für eine Laufbahn bei der Bundeswehr, der Bundespolizei oder dem Zoll entscheiden
müssten. Die Sportlerinnen und Sportler möchte ich
sehen, die gezwungen worden sind, in eine Sportfördergruppe zu gehen, weil sie ihren Sport sonst nicht
hätten ausüben können! Mir jedenfalls sind solche
Sportler noch nicht begegnet.
Ferner schreiben Sie, dass „gerade die Bundeswehr
im Anschluss an die sportliche Karriere auch keine
ausreichenden beruflichen Perspektiven“ bieten
würde. Hierbei blenden Sie aus, dass es gerade die
Stärke der Sportfördergruppe ist, dass die Athletinnen
und Athleten immer die Möglichkeit haben, ihren regulären Dienst wieder aufzunehmen, und die Athletinnen
und Athleten - insbesondere bei der Bundeswehr während und nach ihrer Dienstzeit immer die Chance
haben, sich beruflich weiterzubilden, was von der Bundeswehr finanziert wird. So stehen sie nach einem Ausscheiden aus dem Dienst eben nicht mit leeren Händen
da.
Ob Sie, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen der Linken, diese Tatsachen einfach ignorieren
wollen oder vergessen haben, weiß ich nicht, aber unsere erfolgreichen Bemühungen zur Stärkung der dualen Karriere sollten Sie sich vielleicht noch mal ansehen, bevor Sie sie in einem solchen Antrag einfach
außer Acht lassen.
Nachdem ich Ihnen aufgezeigt habe, dass die von
Ihnen aufgestellten Forderungen mit der sportpolitischen Realität in Deutschland wenig bis gar nichts zu
tun haben, habe ich dann doch noch zumindest einen
Satz gefunden, den meine Fraktion und ich mehr oder
weniger mittragen können. „Der Sport von Menschen
mit Behinderung ist grundsätzlich nach den gleichen
Kriterien zu fördern wie der Sport von Menschen ohne
Behinderung.“ Diesen Satz können wir, kann auch ich
im Großen und Ganzen mittragen - jedenfalls mehr als
den Rest Ihres Antrags.
Bevor wir jetzt aber von zu viel Annäherung unserer
Positionen sprechen, muss ich Ihnen sagen, dass wir
jetzt - unter Berücksichtigung genau dieses Satzes nochmals auf den von mir angesprochenen Tiefpunkt
Ihres Antrags zu sprechen kommen. Dabei kritisieren
Sie das System der Sportfördergruppen stark. Genau
dieses System ist aber eine große Chance für Menschen mit Behinderungen, die im Leistungssport aktiv
sind. Wir haben bei den Bundesbehörden neue Stellen
geschaffen, damit hier ein Schritt zu mehr Gleichbehandlung von Menschen mit und Menschen ohne Behinderung vorangetrieben werden kann. Dieses System
dann in dem gleichen Antrag so zu kritisieren, lässt Ihren Wunsch nach Gleichbehandlung aber gleichzeitig
verblassen. Das sollten Sie auch im Auge behalten,
wenn Sie diese Förderprogramme so sehr kritisieren.
Zum Schluss Ihres Antrags finden sich dann fünf
Forderungen an die Bundesregierung, von denen ich
einige hier ebenfalls noch kurz aufgreifen möchte;
denn unkommentiert können wir sie so nicht stehen
lassen.
Sie fordern die Einrichtung eines Sportministeriums
und meinen, dass sich die Mittelvergabe des Bundes
dann transparenter gestalten würde. Dazu möchte ich
Ihnen wiederum zwei Dinge mit auf den Weg geben.
Zum einen ist der Bundesinnenminister bereits verantwortlich für den Sport, und der Sport ist dadurch in
einem starken Ministerium beheimatet. Der Minister,
sein zuständiger Staatssekretär und alle im Ministerium für den Sport zuständigen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter nehmen diese Verantwortung ernst und
füllen ihre Aufgaben für den Sport sehr gut aus. Ein zusätzliches Ministerium würde - außer mehr Kosten für
Bürokratie - daran nichts ändern.
Zum anderen hatte ich ja bereits zu Beginn meiner
Rede gesagt, dass die derzeitige Mittelvergabe des
Bundes an den Sport ausreichend transparent geregelt
ist. Wenn das in Ausnahmefällen nicht der Fall sein
sollte, dann bin ich mir sicher, dass das zuständige
Ministerium gerne für Aufklärung sorgt. Zu erinnern
ist hier auch nochmals daran, dass der Bund zwar die
Mittel kontrolliert, die er an den Sport übergibt, aber
nicht dafür zuständig ist, wie die autonom handelnden
Dachverbände des Sports die Aufteilung der ihnen zur
Zu Protokoll gegebene Reden
Verfügung gestellten Mittel regeln. Das fällt in die Autonomie des Sports.
Dann plädieren Sie noch für die Aufhebung des Kooperationsverbots, und zwar mit der Begründung, dass
Schulwechsel erleichtert werden müssten, die einer
sportlichen Karriere sonst im Wege stehen könnten.
Auch wenn ich es bereits gesagt hatte, so wiederhole
ich mich doch gerne; es sind die Sportvereine, die der
Motor einer sportlichen Karriere sind, und nicht die
viel zu seltenen Sportstunden im Schulunterricht. Daran würde auch eine Vereinheitlichung des Schulsystems nichts ändern, wofür wir im Bund im Übrigen
auch gar keine Kompetenz haben.
Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geht es um die
Förderung des Spitzensports und Hilfen für die Sportvereine, wie das sich gerade in den Beratungen befindliche Gemeinnützigkeitsstärkungsgesetz beweist. Wir
unterstützen dort, wo wir zuständig sind. Diese Ziele
verfolgen wir kontinuierlich und fordern keine staatliche Talentfindung und Talentförderung.
Es ist mir ein Anliegen, nochmals ein paar grundlegende Tatsachen dazu festzuhalten, wie die Förderung
des Sports in Deutschland geregelt ist und welche
Rolle insbesondere der Bund darin spielt.
Den über 27 Millionen Menschen in unserem Land,
die in einem Verein oder Verband eine Mitgliedschaft
haben, wird ein grundrechtlich abgesicherter Freiraum gewährt. Die sich daraus ergebende Stärke des
deutschen Sports liegt darin, dass er sich selbst organisiert. Er regelt seine Interessen in eigener Verantwortung und wird dabei vom Bund unterstützt. Diese
Autonomie des Sports ist ein hohes Gut, und wir sollten nicht versuchen, dieses auszuhebeln. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion wird auch weiter an der Autonomie des Sports festhalten und diese nicht infrage
stellen.
Nur die bestehende vertrauensvolle und aufeinander
abgestimmte Kooperation zwischen dem Dachverband
des Sports, dem DOSB, und dem Bund garantiert unseren Erfolg bei der Sportförderung und auch bei Sportgroßveranstaltungen, wie Weltmeisterschaften oder
Olympischen Spielen. Natürlich haben wir ein großes
Interesse daran, dass deutsche Athletinnen und Athleten auch in Zukunft bei internationalen Sportveranstaltungen gut abschneiden. Aus diesem Grund beteiligen
sich der Bund und andere an den Kosten der Vorbereitung und Entsendung der Mannschaften, aber für die
Umsetzung ist der Sport eigenverantwortlich und nicht
der Staat. Wir wollen, dass das auch in Zukunft so
bleibt.
Ihren Antrag können wir daher nicht unterstützen
und werden ihn ablehnen. Wir wenden uns gegen eine
vollständige Verstaatlichung des Sports. Wir sehen die
Förderung des Sports in Deutschland auf einem guten
Weg und werden auch in Zukunft die Weiterentwicklung dieses Konzepts zusammen mit den Fachverbänden des Sports machen und nicht ohne oder gar gegen
sie.
Als ich den Titel des Antrags der Linken gelesen
habe, war ich sehr gespannt: „Sportförderung neu
denken - Strukturen verändern“, das hört sich interessant an, und wir sind gespannt, was sich die Kolleginnen und Kollegen überlegt haben. Leider muss ich
nach der Lektüre des Antrags sagen: Viel überlegt
haben Sie sich da nicht.
Natürlich haben wir im föderalen System in manchen Sportarten große Probleme, da die Vereinbarkeit
von Schule und Ausbildung mit Spitzensport nur über
eine enge Kooperation mit den Schulen geht. Und natürlich haben Sie recht, wenn Sie schreiben, dass das
Kooperationsverbot hier und da ein großes Hindernis
für unsere jungen Nachwuchssportlerinnen und Nachwuchssportler ist.
Aber: Sie müssen doch zunächst eine Grundlage für
Ihre Forderungen schaffen. Oder, um es in Ihrer Terminologie auszudrücken: Man muss die Sportpolitik vom
Kopf auf die Füße stellen. Und das fängt mit der Aufnahme von Sport ins Grundgesetz an. Denn mit der
Aufnahme des Sports als Staatsziel kann der Bund
seine Kompetenz im Bereich des Sports deutlich besser
auf ungeschriebene Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten aus der Natur der Sache oder kraft
Sachzusammenhangs gründen, wie es im 12. Sportbericht der Bundesregierung zutreffend heißt. Solange
wir den Sport nicht ins Grundgesetz aufnehmen, kann
der Bund kaum eine der von Ihnen geforderten Aufgaben übernehmen. Insofern fehlt es Ihrem Antrag an der
grundlegenden Basis für alle weiteren Forderungen,
die Sie hier heute stellen.
Der organisierte Sport und die SPD-Bundestagsfraktion kämpfen seit vielen Jahren dafür, dass Sport
als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen wird und
dadurch eine grundgesetzliche Kompetenz des Bundes
für den Sport geschaffen wird. Wenn dies gelingt,
könnten wir besser über die Verzahnung der Förderung von Breiten- und Nachwuchssport mit dem
Spitzensport nachdenken. Insofern bauen Sie von der
Linken Ihre Forderungen auf Sand. Die Aufnahme von
Sport ins Grundgesetz wäre der erste Schritt vor allen
anderen.
Wir werden im Sportausschuss noch hinreichend
Gelegenheit haben, miteinander Ihren Antrag zu diskutieren. Daher will ich für die SPD-Fraktion nur
stichwortartig unsere Bedenken skizzieren: Zunächst
zu den berühmt-berüchtigten Zielvereinbarungen. Sie
schreiben: „Das Instrument der Zielvereinbarungen
hat sich in seiner bisherigen Form nicht bewährt.“ Genau das wissen wir ja nicht. Das ist doch das Problem
an den Zielvereinbarungen. Die Präsidenten der olympischen Verbände haben zum Teil durchaus Sympathie
für dieses Instrument geäußert. Und kaum jemand bestreitet, dass die Zielvereinbarungen auf jeden Fall
besser geeignet sind als die vorherige Förderung nach
dem Gießkannen-Prinzip. Das Problem ist nur, dass
wir als Haushaltsgesetzgeber diese Zielvereinbarungen nicht kennen und uns deshalb kein Bild über die
Zu Protokoll gegebene Reden
Effektivität des Instruments machen können. Insofern
sind Sie mit Ihrer Schlussfolgerung etwas schnell bei
der Hand - auch wenn wir uns in der Kritik einig sind.
Zu Ihren etwas diffusen Forderungen zur Aufhebung des Kooperationsverbots in der Bildung und der
Aufhebung der Kompetenzverteilung zwischen Bund
und Ländern: Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen
den kooperativen Bildungsföderalismus stärken und
die Zusammenarbeit von Bund und Ländern zur
Verbesserung des Bildungswesens fördern, indem wir
einen neuen Art. 104 c in das Grundgesetz einfügen.
Damit würden dauerhafte Finanzhilfen des Bundes für
Bildung ermöglicht, ohne die Bildungshoheit der
Länder einzuschränken.
In Ihren Forderungen beschäftigen Sie sich in den
Nrn. 2, 3 und 4 mit dem Verhältnis der Sportförderung
von Bund und Ländern. Dabei ist vielleicht etwas
durcheinander geraten. Im Einzelnen möchte ich hier
kurz ansprechen:
Unter Nr. 2 fordern Sie, das Kooperationsverbot
aufzuheben, um den Schulsport einheitlich zu qualifizieren und Schulwechsel zu ermöglichen. Das geht etwas am Problem vorbei, denn nicht der Schulwechsel
ist das gravierendste Problem, sondern die Vereinbarkeit von sportlicher und schulischer Ausbildung.
Unter Nr. 3 fordern Sie, dass Bund und Länder die
Talentsichtung in gemeinsamer Verantwortung wahrnehmen. Ich muss Ihnen sagen: Da klingeln bei mir die
Ohren. Denn wir wollen keinen Staatssport haben. Für
die Talentförderung und Talentsichtung sind die Sportfachverbände zuständig, und das ist auch gut so. Von
Staatssport haben wir in diesem Land genug!
Und schließlich fordern Sie unter Punkt 4 eine existenzsichernde Tätigkeit der hauptamtlichen Trainerinnen und Trainer. Ich glaube, Sie meinen eine existenzsichernde Bezahlung der hauptamtlichen Trainerinnen
und Trainer. Das würde Sinn ergeben und deckt sich
mit den Vorschlägen der SPD, zunächst den Trainerberuf besser zu bezahlen und erst dann über Prämien
nachzudenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, gut
gemeint ist noch nicht gut gemacht. Ihrem Antrag fehlt
es an Substanz. Ich bin auf die Diskussionen im
Ausschuss gespannt.
Der Sport und seine zahlreichen segensreichen Wirkungen liegen uns allen am Herzen. Deshalb begrüße
ich auch jeden Denkanstoß, der dazu führt, dass wir
diskutieren, wie wir noch mehr Menschen für Sport begeistern können. Denn meiner Meinung nach wissen
diejenigen, die nichts mit Sport am Hut haben, gar
nicht, was sie verpassen.
Aber: Ich bin Liberaler. Die Freiheit ist für mich das
höchste Gut. Daher werde ich niemanden zwingen
oder durch aufwendige Indoktrination dahin gehend
manipulieren, sich sportlich zu betätigen. Für Winston
Churchill galt „No sports“ als erfolgreiches Rezept,
um ein möglichst hohes Alter zu erreichen. Auch das
muss man akzeptieren.
Aus dieser Perspektive gruselt es mich - einmal
mehr - bei der Lektüre Ihres Antrags, liebe Kollegen
der Fraktion Die Linke. Ihnen schwebt die vollständige Erfassung aller Menschen unserer Gesellschaft
unter das Diktat Ihrer kollektivistischen Zielvorstellungen vor. Sportförderung flächendeckend von der
Wiege bis zur Bahre - es gibt kein Entkommen. Das
kann doch keiner wollen!
Um ihre Ziele zu bewerkstelligen und - das ist der
Kracher! - bürokratische Hürden abzubauen, schlagen Sie als Erstes die Einrichtung eines Sportministeriums vor. Ich wüsste nicht, wann die Einrichtung eines neuen Ministeriums jemals zu weniger Bürokratie
geführt hätte. Das ist so falsch, dass man so etwas
auch einmal ganz offen als Murks bezeichnen muss.
Weiter geht’s mit der Aufhebung des Kooperationsverbotes. Liebe Kollegen, das gibt es aus gutem
Grund. Wir wollen, dass die Länder auch weiterhin
über die alleinige Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Bildung und damit im Bereich des Sports verfügen. Nur so sind wir in der komfortablen Lage, dass
wir in Deutschland über eine vielfältige Bildungslandschaft verfügen und diese weiterentwickeln, statt sie
durch realitätsferne, zentralstaatliche Vorgaben zu ersticken. Sollte das Kooperationsverbot je gelockert
werden, dann nur, wenn sichergestellt ist, dass es beim
Bildungsföderalismus bleibt.
Außerdem wollen Sie auch die Aufhebung der Kompetenzteilung zwischen Bund und Ländern in allen anderen denkbaren sportlichen Fragestellungen. Ihr Antrag trägt im Titel den Slogan „Sportförderung neu
denken“. - Ich frage mich: Haben Sie hier überhaupt
irgendetwas durchdacht? Oder haben Sie einfach zufällig gewählte Worte aneinandergereiht? Was soll die
Aufhebung der Kompetenzteilung denn konkret bewirken? Wäre damit irgendwas erreicht? Irgendetwas
praktisch verbessert? Nun ja, Papier ist geduldig.
Auch die Entwicklung einer flächendeckenden qualifizierten Übungsleiter- und Trainerausbildung steht
auf Ihrem Wunschzettel. Wo ist da die Effizienz? Es
mag einige Punkte in unserer Sportförderpraxis geben,
die es zu optimieren gilt, aber die Konzentration der
Sportförderung auf bestimmte Leistungszentren und
Förderstützpunkte gehört mit Sicherheit nicht dazu.
Schließlich wollen Sie auch darauf hinwirken, dass
alle Sportstätten in Deutschland in einen barrierefreien Zustand versetzt werden. Liebe Kollegen von der
Linken: Das wird doch Schritt für Schritt unternommen. Dafür brauchen wir Ihr „Hinwirken“ nun wirklich nicht.
Aus all diesen Gründen lehnen wir den Antrag ab.
Zu Protokoll gegebene Reden
„Um der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports
auch politisch gerecht zu werden, braucht der Sport
ein eigenes Sportministerium.“ Dies ist nicht nur eine
der Forderungen unseres Antrags, der heute behandelt
wird, sondern eine Forderung, die auch der ehemalige
Tennisprofi Michael Stich, der unter anderem das
Turnier von Wimbledon und eine Goldmedaille bei den
Olympischen Spielen in Barcelona gewann, kürzlich in
einem Interview geäußert hat.
Nach unserem Verständnis von Sport muss dieser in
seiner Gesamtheit begriffen werden. Er umfasst Breiten-, Leistungs-, Gesundheits- und Schulsport, und alle
diese Bereiche stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Diese Wechselbeziehung muss entsprechend gewürdigt werden, damit sich die positiven
Funktionen des Sports auch in der Gesellschaft auswirken können. Ein eigenständiges Sportministerium
könnte dieser Aufgabe gerecht werden, indem es die
sportpolitischen Querschnittsaufgaben ohne Kompetenzgerangel bündelt. Derzeit sind die Sportfördermittel in neun Einzelplänen des Haushalts verteilt. Für
mich als Mitglied des Sportausschusses ist es absolut
inakzeptabel, dass die Vertreterinnen und Vertreter der
einzelnen Ressorts in den Haushaltsberatungen häufig
keine aussagekräftigen Informationen geben können
und die Zielvereinbarungen zwischen BMI und DOSB
erst durch den Druck von Journalisten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens teilweise öffentlich gemacht
werden.
Das Fördersystem ist auch für sportpolitisch Interessierte nur schwer zu verstehen und in seiner Gesamtheit intransparent. Das führt häufig dazu, dass die
Beantragung von Sportfördermitteln mit hohen bürokratischen Hürden verbunden ist und die eine Hand
nicht weiß, was die andere macht. Durch eine Konzentration der Kräfte und Fördermittel könnte das System
der Sportförderung transparenter und effizienter gestaltet werden.
Die Debatte um die Sportförderung in Deutschland
ist nach den diesjährigen Olympischen und Paralympischen Spielen in London voll entbrannt, und es ist an
der Zeit, althergebrachte Strukturen auf den Prüfstand
zu stellen. Wir müssen nun unserer Verantwortung
nachkommen und den Worten auch Taten folgen lassen
und den Weg für notwendige Veränderungen bereiten!
Sport kann in die Gesellschaft wirken. Dies kann er
aber nur, wenn alle einen Zugang zum Sport haben,
wenn alle ihren Fähigkeiten und Wünschen entsprechend Sport treiben können und den Menschen die
große Bedeutung des Sports vermittelt wird. Die
Bevölkerung muss mitgenommen werden. Nur so kann
jeder für sich erkennen, wie wichtig Bewegung und
Sport für ein gesundes Leben sind. Und nur so entscheiden sich junge Talente für eine anspruchsvolle
Laufbahn im Spitzensport. Wenn sich die Gesellschaft
mit dem Sport identifizieren kann und ihr dessen Werte
bewusst sind, wird es künftig auch leichter möglich
sein, Olympische und Paralympische Spiele in
Deutschland auszutragen.
Dafür ist es jedoch auch dringend notwendig, dass
Bund, Länder und Kommunen eine umfassende Sportund Bewegungsförderung vom frühkindlichen Alter
über den Kinder-, Jugend- und Breitensport hinaus in
gemeinsamer Verantwortung wahrnehmen. Es kann
nicht sein, dass eine umfassende Förderung den Zwängen des föderalen Systems zum Opfer fällt und die
Möglichkeit sportlicher Betätigung davon abhängig
ist, in welchem Bundesland oder in welcher Kommune
man lebt. An dieser Stelle muss auch erwähnt werden,
dass es zwingend erforderlich ist, die Situation der
Sportstätten in Deutschland zu überprüfen. Eine
Vielzahl von ihnen ist in einem maroden Zustand und
muss dringend saniert werden. Der Sanierungsstau
wird immerhin auf 42 Milliarden Euro geschätzt, und
diese Zahl ist bereits einige Jahre alt. Bei der Instandsetzung muss unter anderem auf Barrierefreiheit sowie
die Einhaltung energetischer Standards geachtet werden. Hier steckt auch ein enormes Sparpotenzial.
Ein weiterer wichtiger Pfeiler des deutschen Sportsystems ist der Nachwuchs. Es wird sehr oft das Fehlen
des sportlichen Nachwuchses beklagt. Dies hat vielfältige Gründe! Zum Teil kommen viele Kinder gar nicht
mehr mit den Freuden des Sports in Berührung.
Der Schulsport, der für viele die erste sportliche Anlaufstelle ist, fällt häufig aus oder ist qualitativ nicht
ansprechend. Hier müssen bundesweit einheitliche
Standards her, damit alle Schulkinder unter
gleichen Bedingungen Sport treiben können und auch
ein Schulwechsel keine Auswirkungen auf den sportlichen Weg hat. Außerdem müssen die Sportlehrerinnen
und -lehrer regelmäßig weitergebildet werden, damit
sie einen ansprechenden Sportunterricht durchführen
können und auch in der Lage sind, sportliche Talente
zu erkennen und diese an einen speziellen Sportverein
weiterzuempfehlen. Ebenso muss geklärt werden, wie
sichergestellt werden kann, dass Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung entsprechend ihrem sportlichen Talent Sport treiben können und nicht pauschal
eine Sportbefreiung erhalten oder zum Schwimmen
geschickt werden.
Von ebenso großer Bedeutung für die Nachwuchsgewinnung sind natürlich auch die Trainerinnen und
Trainer sowie die Übungsleiterinnen und Übungsleiter. Sie müssen umfassend aus- und weitergebildet
werden, und vor allem müssen sie eine existenzsichernde und faire Vergütung für ihre Arbeit erhalten.
Wenn man die Arbeit der Trainerinnen und Trainer
nicht angemessen wertschätzt, muss man sich nicht
wundern, wenn diese auf der Suche nach mehr
Anerkennung das Land verlassen und der Nachwuchs
trainerlos zurückbleibt.
Ich habe Ihnen nur einige Baustellen in der deutschen Sportlandschaft aufgezeigt. Aber glauben Sie
mir, es gibt wesentlich mehr, und mit jedem Tag des
Nichtstuns werden die Probleme drängender. Sicherlich, die Ergebnisse der Olympischen und insbesonZu Protokoll gegebene Reden
dere der Paralympischen Spiele können sich sehen lassen, und wir können stolz auf unsere Teams sein. Aber
es gibt keinen Automatismus und keine Garantie, dass
es auch in Zukunft so weitergeht. Wir haben gemeinsam gejubelt. Lassen Sie uns nun auch gemeinsam etwas für den Sport tun. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag.
Lassen Sie mich mit einigen Bemerkungen zu aktuellen Fragen der Sportförderung beginnen. In der
letzten Woche wurde der Bundeshaushalt 2013 verabschiedet. Er sieht eine Gesamtsportförderung von rund
250 Millionen Euro aus neun verschiedenen Bundesministerien vor. Aus unserer Sicht steckt jedoch besonders die Spitzensportförderung des Bundesinnenministeriums voller Widersprüche.
Denn seit Olympia in London findet eine Debatte innerhalb des Sports um die Grundsätze der Spitzensportförderung statt. Es liegen interessante Anträge
vom Deutschen Tischtennisbund ({0}) oder auch
vom Deutschen Leichtathletik-Verband ({1}) vor.
Auch die Athletenvertreterinnen und -vertreter haben
diskutiert. Diese Debatte ist im Sport noch nicht abgeschlossen. Jetzt müsste daher der richtige Zeitpunkt
sein, dass auch wir in der Sportpolitik die notwendigen
Schlussfolgerungen ziehen.
Aber: Schwarz-Gelb ignoriert diesen Sachverhalt
komplett und handelt nach dem Motto „Unbeirrt weiter so!“. Die Regierungskoalition sattelt sogar noch
drauf: 1 Million Euro mehr für die Olympiastützpunkte
und 1 Million Euro mehr für die Verbandslehrgänge,
obwohl es für beides in einem Nach-Olympia-Jahr
keine sportfachliche Notwendigkeit gibt. Die bestehenden Probleme von fehlenden Synergieeffekten und vorhandenen Doppelstrukturen werden mit Geld zugekleistert. Stattdessen kürzen Sie bei den Trainerinnen
und Trainern um 1 Million Euro, also in einem Bereich, wo die Förderung dringend gebraucht wird.
Wer sich die Entwicklung der Spitzensportförderung
für Verbände, Olympiastützpunkte und Leistungssportpersonal seit 2007 genauer ansieht, der muss feststellen, dass es hier eine Abkoppelung vom Erfordernis
der Haushaltskonsolidierung gibt:
Wir haben bei den zentralen Maßnahmen einen
Aufwuchs um über 30 Prozent gesehen. Im Jahr 2007
waren noch 72 Millionen Euro veranschlagt. Für das
Jahr 2013 sind dagegen schon 95 Millionen Euro
vorgesehen.
In der Sportpolitik wurde bisher bedauerlicherweise keine kritische Debatte geführt über die Notwendigkeit einer Förderung von überteuerten Sportarten
wie Bob, Rodeln oder Skispringen oder auch von mitgliederschwachen Sportarten wie Eisschnelllauf.
Um es klar zu sagen: Wir Grüne wenden uns nicht
gegen die Ausübung dieser Sportarten. Wir erkennen
die Leistungen der Sportlerinnen und Sportler durchaus an. Aber wir kritisieren die fehlende Breitensportwirkung, und daher kann aus unserer Sicht die finanzielle Förderung durch den Bund nicht so weiterlaufen
wie bisher.
Unser Vorschlag: Wenn der Sport diese Sportarten
weiter als Aushängeschild hervorheben möchte, dann
sollte er die Skischanzen von Garmisch-Partenkirchen, Oberhof und Schonach selbst finanzieren oder
einen angemessenen Eigenbeitrag leisten. Gleiches
gilt für die vier Bob- oder Rodelbahnen in Deutschland, also Winterberg, Königssee, Altenberg und
Oberhof. Im internationalen Wettbewerb werden wir
mit dieser staatlichen Gießkannenförderung nicht weiterkommen. Es ist doch nur noch eine Frage der Zeit,
bis auch der Bundesrechnungshof die bestehende Vielfachförderung kritisch hinterfragen wird.
Die grüne Position ist klar: Spitzensportförderung
darf kein Selbstbedienungsladen von Sportfunktionären sein, die ständig eine Krise oder eine vermeintlich
fehlende Wettbewerbsfähigkeit des Spitzensports in
Deutschland reklamieren, um zur Finanzierung ihrer
Sportart oder ihrer Region die notwendigen Steuergelder bewilligt zu bekommen. Das ist häufig Regionalmarketing, aber keine professionell gemanagte Spitzensportförderung. Wir benötigen hier mehr Transparenz
und Professionalität in der Sportförderung und brauchen dringend auch eine Überprüfung der Förderkriterien. Ein Anstoß zur weiteren Debatte kann sicherlich auch das neue Baukastensystem der Stiftung
Deutsche Sporthilfe leisten.
Durchaus kritisch zu hinterfragen sind allerdings
die vorliegenden Vorschläge der Fraktion Die Linke.
Der vorgenommenen Analyse kann ich mich zwar in
einigen Punkten anschließen, aber ihre daraus folgenden Vorschläge brechen mit der traditionellen Kompetenzteilung des Grundgesetzes in Fragen der Sportförderung. Auch in die verfassungsrechtlich garantierte
Autonomie des Sports in Fragen von Trainerausbildung oder Talentsichtung kann vom Bund nicht so einfach eingegriffen werden, wie es sich die Fraktion Die
Linke vorstellt. Wir werden sicher in den parlamentarischen Beratungen noch Möglichkeiten haben, die
aufgeworfenen Fragen umfassend zu diskutieren.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 17/11374 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 43:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Diplomatische Beziehungen zu Palästina
aufwerten
Präsident Dr. Norbert Lammert
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller ({1}), Volker Beck ({2}), Marieluise
Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zwei-Staaten-Perspektive für den israelisch-palästinensischen Konflikt erhalten Entwicklung der C-Gebiete in der Westbank fördern - Abrissverfügungen für Solaranlagen stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller ({4}), Volker Beck ({5}), Marieluise
Beck ({6}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zwei-Staaten-Perspektive für eine
friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts retten
- Drucksachen 17/8375, 17/9981, 17/10640,
17/11452 Berichterstattung:Abgeordnete Joachim HörsterDr. Rolf MützenichDr. Rainer StinnerWolfgang GehrckeKerstin Müller ({7})
Auch hierzu werden die Reden zu Protokoll genommen.
Diesen November ist der israelisch-palästinensische Konflikt erneut in das Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt worden. Nachdem
radikal-islamische Gruppierungen wie Hamas und Islamischer Dschihad ihren Raketenbeschuss auf Israel
intensiviert hatten, machte Israel von seinem legitimen
Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch. Über
1 500 Raketen sind allein in diesem Jahr auf Israel abgefeuert worden. Die Bedrohungslage für die israelische Zivilbevölkerung hat dabei eine neue Dimension
erreicht. Es war der Iran, der Raketen des
Typs Fadschr-5 in den Gazastreifen geliefert hat, die
über eine Reichweite von bis zu 75 Kilometern verfügen.
Die Verantwortung für die Eskalation der Lage in
Nahost trägt eindeutig die Hamas. Es ist ihre feindselige Haltung gegenüber Israel, die einem dringend
benötigten Friedensprozess im Wege steht. Die Hamas
missbraucht die Menschen im Gazastreifen nicht nur
als Schutzschilde gegenüber dem israelischen Militär;
sie nimmt die dortige Bevölkerung insgesamt als Geisel einer fanatischen Terrorstrategie mit dem Ziel der
Vernichtung Israels. Solange Hamas dieses Ziel verfolgt, ist ein Friedensschluss im Nahen Osten nicht in
Sicht. Hamas muss sich bewegen. Das Existenzrecht
des jüdischen Staates Israel muss anerkannt, die
Gewalt muss beendet und die Entwaffnung aller radikalen Kräfte im Gazastreifen muss umgehend eingeleitet werden.
Wie will man eine Zwei-Staaten-Lösung verwirklichen, wenn ein Teil der Palästinenser den Staat Israel
gar nicht anerkennt? Ein ebenso großes Problem ist
die tiefe Spaltung der Palästinenser selbst. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde regiert
nur in der Westbank, nicht aber im Gazastreifen. Die
Anliegen der Palästinenser werden nicht mit einer
Stimme vertreten - im Gegenteil. Fatah und Hamas,
Mahmud Abbas und Ismail Hanija, stehen einander
unversöhnlich gegenüber. In diesem Kontext macht
eine diplomatische Aufwertung der Palästinensischen
Autonomiebehörde, vor allem auf Ebene der Vereinten
Nationen, keinen Sinn. Deswegen werden die USA und
eine Reihe von EU-Staaten wie Italien, die Niederlande, die Tschechische Republik und Bulgarien mit
Nein stimmen. In diesem Zusammenhang sei eine
Anmerkung erlaubt: Es ist sehr bedauerlich, dass trotz
aller Bemühungen der Bundesregierung innerhalb der
Europäischen Union kein Konsens in dieser Frage gefunden wurde. Ein Signal europäischer Geschlossenheit wäre besser gewesen.
In nahezu allen Friedensplänen, welche die internationale Gemeinschaft für den israelischen-palästinensischen Konflikt erarbeitet hat, wird eines deutlich
herausgestellt: Die Frage über die letztliche Form
eines palästinensischen Staates ist den Endstatusverhandlungen vorbehalten. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Eine diplomatische Aufwertung der
Palästinenservertretungen kann erst dann erfolgen,
wenn die Friedensverhandlungen zwischen beiden Seiten erfolgreich verlaufen sind. Alles andere wird Verhandlungen, die auf eine dauerhafte Zwei-Staaten-Lösung abzielen, auf unzulässige Weise vorweggreifen.
Das sollte all jenen klar sein, die meinen, mit einer
Aufwertung des diplomatischen Status der Palästinensischen Autonomiebehörde zur jetzigen Zeit werde ein
Schritt in Richtung Frieden getan - im Gegenteil! Gerade nach den dramatischen Ereignissen der letzten
Wochen ist es zunächst wichtig, wieder Vertrauen
zwischen Israel und den Palästinensern herzustellen.
Einseitige Aktionen sind vor diesem Hintergrund sehr
schädlich.
Eine tragfähige Friedenslösung, welche die friedliche Existenz zweier Staaten ermöglicht, muss zudem
in einen viel weiteren Kontext eingebettet werden. Israel ist geradezu eingekeilt zwischen mehreren Fronten, an denen feindlich gesonnene Kräfte agieren: Im
Norden, an der israelisch-libanesischen Grenze, befindet sich die hochgerüstete Hisbollah-Miliz. Im
Nordosten grenzt Israel an das Syrien des Diktators
Baschar al-Assad. Im Südwesten liegt der Gazastreifen, in dem Hamas und Islamischer Dschihad noch
immer über ein großes Raketenarsenal verfügen. Von
allen Seiten geht eine latente und nicht zu unterschätzende Gefahr für die Sicherheit Israels aus.
Hinzu kommt der Iran, der offen mit der Vernichtung Israels droht und sein Atomwaffenprogramm mit
Hochdruck vorantreibt. Eine Lösung des israelischpalästinensischen Konflikts kann nicht ohne die EinPhilipp Mißfelder
beziehung dieser Akteure gelingen; denn sie gießen beständig Öl ins Feuer. Der Iran ist in großem Umfang
an der Bewaffnung palästinensischer Terrorgruppen
beteiligt. Gemeinsam mit Syrien unterstützt er die
Hisbollah, die jederzeit zu Angriffen auf Israel in der
Lage ist. Beide Staaten liefern nicht nur Waffen, sondern unterminieren mit massiver antiisraelischer und
antisemitischer Rhetorik jeden Versuch der Entspannung. Dabei haben sie aber nicht das Wohlergehen der
Palästinenser im Sinne. Sie brauchen Israel als Feindbild für einen ideologischen Kampf, mit dem sie ihre
Macht im Innern stabilisieren wollen. Genauso wie
Hamas und Islamischer Dschihad ist die Situation der
Palästinenser ein willkommener Vorwand für eine
Gewaltstrategie, die jeglichen Ausblick auf eine friedliche Annäherung verdunkelt.
Ägypten hat 1979 einen Friedensvertrag mit Israel
geschlossen, Jordanien 1994. Auch ein Frieden Israels
mit Syrien und dem Iran, so unwahrscheinlich er unter
heutigen Bedingungen sein mag, wird zum Teil einer
umfassenden Friedenslösung im Nahen Osten gehören. So lange jedoch Baschar al-Assad und Mahmud
Ahmadinedschad die Geschicke dieser Länder führen,
muss die internationale Gemeinschaft durch empfindliche Sanktionen die Regime schwächen und auf einen
politischen Wandel in Damaskus und Teheran hinwirken.
Ägypten wird eine entscheidende Rolle auf dem Weg
zu einer Zwei-Staaten-Lösung spielen. Staatspräsident
Mursi musste in den letzten Wochen einen regelrechten
Balanceakt leisten. Einerseits versuchte er, die Emotionen in der Bevölkerung zu kanalisieren, die sich mit
den Einwohnern im Gazastreifen solidarisierten. Andererseits hat aber auch Ägypten kein Interesse daran,
einen offenen Konflikt mit Israel einzugehen. Der Friedensvertrag von 1979 ist bindend. Ägypten ist als Vermittler unverzichtbar, gerade was den Dialog mit den
radikalen Kräften im Gazastreifen angeht. Dieser Einfluss muss geltend gemacht werden. Zudem spielt
Ägypten die entscheidende Rolle bei der Sicherung der
Grenze zwischen Gazastreifen und dem Sinai, besonders bei der Unterbindung des Waffenschmuggels
durch die Tunnelsysteme. Die internationale Gemeinschaft könnte bei diesem Vorhaben unterstützend zur
Seite stehen. Der Erfolg der Zwei-Staaten-Lösung
hängt also nicht allein von palästinensisch-israelischen Verhandlungen ab, sondern auch von der Einbeziehung der eben genannten Akteure.
Die Vereinten Nationen können eine wichtige Rolle
spielen, wenn es darum geht, eine Zwei-StaatenLösung völkerrechtlich abzusichern oder die Einhaltung eines Friedensvertrages zu überwachen. Die
Europäische Union kann ihre Beziehungen zu Israel
und der Palästinensischen Autonomiebehörde nutzen,
um beispielsweise beim Aufbau eines funktionierenden
palästinensischen Staatswesens zu helfen. Nicht zuletzt
werden es aber die USA sein, die als langjährige Vermittler im Nahostkonflikt eine Schlüsselposition einnehmen. Es ist begrüßenswert, dass die ObamaAdministration nach den Präsidentschaftswahlen ihre
diplomatischen Bemühungen im Nahen Osten wieder
verstärkt hat. Das ist vor allem bei der Vereinbarung
der Waffenruhe am 21. November in Kairo deutlich geworden.
Die Herbeiführung der Zwei-Staaten-Lösung kann
nicht durch einseitige Maßnahmen gelingen, sondern
nur durch das gemeinsame Vorgehen Israels und der
Palästinenser. Eine tragfähige Zwei-Staaten-Lösung
braucht direkte Verhandlungen, in der beide Seiten
ihre berechtigten Anliegen vorbringen können. Sie
muss vor allem in einen regionalen Kontext eingebunden sein, in dem Staaten wie Syrien und der Iran und
Akteure wie die Hisbollah ihre Feindseligkeit gegen
Israel endgültig beenden.
Eines stimmt positiv: Nach jedem Rückschlag im israelisch-palästinensischen Aussöhnungsprozess sind
auch wieder neue Verhandlungen aufgenommen worden. Gescheitert sind sie jedoch immer an einem Ausbruch neuer Gewalt. Das muss den radikalen Kräften
im Gazastreifen klar sein: Ihre Gewaltstrategie hat in
eine Sackgasse geführt und versperrt den Weg zu einer
Zwei-Staaten-Lösung. Es liegt an ihnen, diesen Weg
endlich freizumachen - zum Wohle des Staates Israels
und der Palästinenser.
Es war gut und richtig, dass die Bundesregierung
Anfang des Jahres der Forderung der SPD entsprochen und die palästinensische Generaldirektion zu einer
diplomatischen Mission aufgewertet hat. Der vorliegende Antrag der Linksfraktion ist somit weitestgehend gegenstandslos. Allerdings möchte ich darauf
hinweisen, dass trotz der Aufwertung die Bundesregierung immer noch davor zurückscheut, der legitimen
Vertretung des palästinensischen Volkes vollen Botschaftsrang zuzugestehen.
Nun haben die gewaltsamen Auseinandersetzungen
zwischen Israel und der Hamas den Nahostkonflikt mit
einem Paukenschlag zurück in das Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Während sich in
der gesamten Region Umbrüche historischen Ausmaßes vollziehen, scheint sich die Hoffnung, dass diese
Transformationen auch in der Auseinandersetzung
zwischen Palästinensern und Israelis zu einem Paradigmenwechsel führen, zerschlagen zu haben.
Die Hamas wollte den Ruf der arabischen Jugend
nach wirtschaftlichen Perspektiven und politischer
Partizipation nicht hören und hat mit dem ständigen
Raketenbeschuss Israels eine harte Reaktion der israelischen Armee provoziert. Israel hat die Chance verpasst, in dem regionalen Umbruch neue Akzente für
den Frieden zu setzen, und verlässt sich nach wie vor
auf seine militärische Stärke.
Dass die militärische Eskalation vor dem Einsatz
von israelischen Bodentruppen gestoppt und ein Waffenstillstand erreicht werden konnte, ist eine gute
Nachricht für die Bevölkerung des Gazastreifens und
Zu Protokoll gegebene Reden
die Menschen in Sderot, Aschkelon und Tel Aviv. Nun
gilt es, so nachdrücklich wie möglich für eine dauerhafte Lösung zu werben, die für alle beteiligten Parteien akzeptabel ist.
In dieser schwierigen und festgefahrenen Situation
ist es so wichtig wie nie zuvor, die moderaten Kräfte zu
unterstützen, die zu Verhandlungen bereit sind. Mit
Präsident Abbas haben wir einen solchen Partner.
Auch der jüngste Konflikt hat gezeigt, dass die Autonomiebehörde, bei aller Solidarität mit ihren Brüdern
im Gazastreifen, eine Kraft des Dialogs ist. Diesen
Partner gilt es zu stärken und zu bestärken! Dazu gehört natürlich der diplomatische Kontakt auf der
höchstmöglichen Ebene.
Gleichzeitig wird heute in der VN-Generalversammlung der palästinensische Antrag auf einen
„Non-Member Observer State“-Status debattiert. Es
ist bedauerlich, dass hierzu keine gemeinsame Position in Europa gefunden wurde. Umso wichtiger ist es
da, dass die Bundesregierung Präsident Abbas und
Ministerpräsident Fajjad nicht mit einer Ablehnung
der Initiative weiter schwächt.
Das Ziel bleibt eine faire Zwei-Staaten-Lösung, und
um es zu erreichen, braucht es starke Partner auf beiden Seiten.
Genau heute vor 65 Jahren beschloss die Vollversammlung der Vereinten Nationen den Teilungsplan
für Palästina. Dieser Plan wurde von der Mehrheit der
jüdischen Seite angenommen und von der Mehrheit der
arabischen Seite abgelehnt. Die Folge war Krieg und
ein bis heute andauernder Konflikt.
Heute, am Tage der Entscheidung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über den Antrag der
Palästinenser, können wir uns die Frage stellen, ob es
einen Fortschritt gegeben hat. Ich glaube aber, dass
wir alle eines aus dem bisherigen Konfliktverlauf gelernt haben: Noch so gute und noch so durchdachte
Pläne von außen werden nichts helfen, wenn nicht die
Bevölkerung in der Region, und zwar auf beiden Seiten, mitgenommen und von den Vorteilen eines Abkommens überzeugt werden kann. Darauf müssen also alle
unsere Bemühungen gerichtet sein.
Nun stehen wir aber vor der konkreten Frage: Wie
gehen wir mit dem palästinensischen Antrag auf einen
Beobachterstatus in der Generalversammlung der Vereinten Nationen um? Ich habe nie verhehlt, dass ich
grundsätzlich für dieses Ansinnen großes Verständnis
habe.
Als ich das gesagt habe, lag mir allerdings der konkrete Resolutionsentwurf noch nicht vor. Das ist nun
der Fall. Um mit dem Positiven zu beginnen: Ich begrüße es sehr, wie deutlich sich die palästinensische
Führung hier für die Zwei-Staaten-Lösung ausspricht.
Es gibt aber auch einen ganz wichtigen Passus in dem
Dokument, über den ich nicht hinweggehen kann,
nämlich die Referenz auf eine Vollmitgliedschaft Palästinas in den Vereinten Nationen. So weit sind wir
wirklich noch nicht, und daher unterstütze ich die Entscheidung der Bundesregierung. Die Entscheidung
Deutschlands ist nicht isoliert zu sehen, muss vielmehr
in einen europäischen Kontext gestellt werden.
Ich möchte auch hier noch einmal mein großes Bedauern ausdrücken, dass es nicht zu einem gemeinsamen europäischen Abstimmungsverhalten gekommen
ist. Das soll uns aber nicht den Blick dafür verstellen,
dass es natürlich eine große Einigung über das gemeinsame Ziel, nämlich die Zwei-Staaten-Lösung gibt.
Die Bundesregierung hat sehr intensiv daran gearbeitet, eine gemeinsame europäische Position zu finden.
Ich bedauere auch, dass die Hohe Repräsentantin für
die europäische Außenpolitik auch in diesem Falle
nicht als aktivierender Faktor vernehmbar geworden
ist.
Nun debattieren wir hier auch über einen Antrag
zur israelischen Siedlungspolitik. Diese Bundesregierung braucht keinerlei Nachhilfe über den kritischen
Umgang mit dieser Politik. Die Äußerungen dazu sind
absolut eindeutig, und die Kritik daran wird klar und
deutlich, aber eben auf der Grundlage von Freundschaft und unseren besonderen Beziehungen zu Israel
ausgedrückt. Deshalb sind auch alle Vorwürfe,
Deutschland agiere einseitig, völlig aus der Luft gegriffen. Und wie gesucht Deutschland und der deutsche Außenminister als vermittelnder Gesprächspartner sind, das haben die letzten Wochen ganz deutlich
gemacht. Wir danken Außenminister Westerwelle ausdrücklich für seine Bemühungen um eine Waffenruhe
in Gaza. Und wir teilen völlig seine Auffassung, dass
Deutschland in dem Konflikt eine durchaus helfende,
aber eben auch nur begrenzte und unterstützende Rolle
spielen kann. Die Hauptanstrengungen müssen von
den Beteiligten vor Ort geleistet werden, und natürlich
wird ohne die ganz wesentliche Rolle der USA nichts
gehen. Ich bin optimistisch, dass Präsident Obama
sich in seiner zweiten Amtszeit diesem Feld intensiv
widmen wird.
Unverkennbar ist die Rolle Ägyptens massiv gewachsen. Wir begrüßen die aktive positive Vermittlerrolle Ägyptens in den letzten Wochen. Daran ändert
auch die „Machtübernahme“ Mursis in Ägypten gegenwärtig noch nichts. Meine Beurteilung erfolgt erst,
nachdem ich die neue Verfassung Ägyptens gesehen
habe und nachdem ich verstanden habe, wie sich
Mursi in diese neue verfassungsmäßige Ordnung einfindet.
Das alles sind schwierige, komplexe Fragen, die
von der Bundesregierung ein flexibles und pragmatisches Vorgehen verlangen. Dass die Bundesregierung dazu in der Lage ist und dass sie genau deshalb
ein wichtiger Gesprächspartner ist, hat sie in der Vergangenheit bewiesen. Und ich entnehme den Debatten
der letzten Woche auch, dass wir hier im Deutschen
Bundestag weiterhin, trotz Differenzen in Einzelfragen, mit dieser grundsätzlichen Ausrichtung der Bundesregierung übereinstimmen. Wir wünschen ihr viel
Zu Protokoll gegebene Reden
Erfolg bei diesen richtigen Bemühungen. Die heute
vorliegenden Anträge liefern dazu keinen Mehrwert,
und deshalb lehnen wir sie ab.
Heute hat die UNO-Generalversammlung beschlossen, dass Palästina künftig einen erweiterten Beobachterstatus erhalten soll. Das ist ein historischer Beschluss auf dem Wege zu einem eigenständigen,
lebensfähigen, demokratischen Staat. Ich gratuliere
Präsident Abbas und seinem Ministerpräsidenten
Fajjad und freue mich über diesen Beschluss der Vereinten Nationen.
Gleichzeitig bin ich voller Ärger über das schwächliche Verhalten der Bundesregierung, die ihre UNOVertretung angewiesen hat, sich der Stimme zu enthalten. Der Bundesregierung fehlt es an Mut, Charakter
und Rückgrat, sich positiv zum palästinensischen Antrag zu verhalten.
Meine Fraktion Die Linke hatte noch heute, in letzter Minute, versucht, die Bundesregierung darauf festzulegen, in der UNO mit Ja zu stimmen. Leider hat dieses Ansinnen keine Mehrheit im Parlament gefunden.
Es bleibt aber dennoch richtig.
Die Entscheidung der Bundesregierung hat Deutschland in eine außenpolitische Isolierung, in eine kleine
radikale Minderheit gebracht. Das Regierungsargument, dass bereits die Stimmenthaltung ein bedeutender Schritt im Unterschied zu einer Neinstimme wäre,
ist nicht überzeugend. Auch nicht überzeugend ist das
Argument, dass man mit dieser Entscheidung den besonderen Beziehungen zu Israel Rechnung getragen
habe. Besonders Beziehungen und die Freundschaft zu
Israel hätten es erfordert, alles einzusetzen, um die israelische Regierung von weiteren Schritten in die eigene Isolierung abzubringen. Freundschaft beweist
sich auch darin, mit den Freunden Klartext zu reden.
Auch dazu fehlt es der Bundesregierung an Mut und
Rückgrat.
Die Entscheidung der Bundesregierung, dem Antrag Palästinas nicht zuzustimmen, schwächt den Palästinenserpräsidenten Abbas und Ministerpräsident
Fajjad. Die linksliberale römische Zeitung „La Repubblica“ kommentiert das: „Sie - die Europäer müssen aber wissen, dass eine Stimme gegen die Palästinenser oder auch nur eine Enthaltung - mit dem
unweigerlichen Beigeschmack der Feigheit - eine Niederlage für den Palästinenserpräsidenten Abbas bedeuten wird.“ Dieser Vorwurf der Feigheit bleibt zu
Recht an der Außenpolitik der Bundesregierung hängen.
Entgegen der amtlichen Feigheit wünschen wir uns
ein Signal des Deutschen Bundestages an Israel und
Palästina. Wir werden nicht müde, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass Sicherheit für Israel
und Gerechtigkeit für Palästina zusammengehören.
Viele Initiativen aus dem Bundestag, so auch unser Antrag, waren ein Signal an die Friedensbewegung, an
die linken Parteien und Bewegungen in Israel, dass
wir sie selbstverständlich nicht gleichsetzen mit der
Rechtsregierung von Benjamin Netanjahu. Wir wissen,
dass in Israel viele Menschen für eine Politik der Vernunft kämpfen.
Unser Antrag und viele Debatten im Bundestag sind
ebenso ein Signal an die Bürgerinnen und Bürger in
Palästina: Wir wollen euch bestärken in der Gewaltenlosigkeit eures Kampfes und darin, dass euer Recht auf
einen eigenständigen, lebensfähigen Staat überall in
der Welt Widerhall und Rückhalt findet.
Ich bitte die Freundinnen und Freunde in Israel und
in Palästina: Setzt uns nicht gleich mit dem Verhalten
unserer Regierung!
Im Wesen stimmen der Antrag der Fraktion Die
Linke und die beiden Anträge von Bündnis 90/Die
Grünen überein. Damit endlich positive Bewegung in
die Nahostpolitik des Bundestages kommt, wäre es
sinnvoll, solche Anträge inhaltlich zu bündeln und mit
Charakterstärke, Mut und Rückgrat gemeinsam zu
vertreten.
Bitte bedenken Sie auch, dass der Tag der Abstimmung über diese Anträge nicht nur historisch ist angesichts der Entscheidung in der UN-Generalversammlung. Am 29. November 1947 entschieden die Vereinten
Nationen über die Errichtung zweier Staaten in Palästina. Und im Jahre 1977 wurde dieser Tag von den Vereinten Nationen zum Internationalen Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk erklärt. Vor diesem
Hintergrund bitte ich Sie um ihre Zustimmung zum vorliegenden Antrag.
Die jüngste militärische Konfrontation zwischen Israel und der Hamas hat den Nahostkonflikt mit einem
Schlag wieder auf die internationale Tagesordnung zurückgebracht und allen vor Augen geführt, wie schnell
die angespannte Lage zu einem Krieg eskalieren kann.
Und der Konflikt hat die politischen Verhältnisse in
Nahost etwas durcheinandergebracht.
In Kairo wird zwischen Israel und der Hamas verhandelt. Das geschieht zwar nicht direkt, sondern unter ägyptischer Vermittlung, aber es geht um konkrete
Vereinbarungen.
Im Zusammenhang mit der am 21. November 2012
verkündeten Waffenruhe hat Israel bereits Erleichterungen der Blockade des Gazastreifens insbesondere
für die Zivilbevölkerung verfügt. Sowohl für die palästinensischen Fischer und Bauern als auch für wichtige
Bereiche der palästinensischen Wirtschaft gibt es
wichtige Erleichterungen.
Mit denjenigen palästinensischen Kräften, die Israel anerkannt haben und die explizit nach einer verhandelten Zwei-Staaten-Regelung streben, gibt es dagegen keine Verhandlungen, nicht einmal indirekte.
Das hat zur Folge, dass die jüngste Eskalation in Gaza
Zu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Müller ({0})
Präsident Abbas und seine Fatah noch weiter politisch
geschwächt hat. Fast scheint es so, als ob gerade diejenigen moderaten palästinensischen Kräfte, die auf
Kompromiss und Versöhnung setzen, die Verlierer der
politischen Verschiebungen im Nahen Osten sind. Dies
auch deshalb, weil Präsident Abbas gegenüber der palästinensischen Bevölkerung trotz seiner Kompromissbereitschaft keine Erfolge vorweisen kann. Der Siedlungsbau wird weiter massiv vorangetrieben, und die
Infrastruktur für die in der Westbank lebenden Israelis
wird gebaut.
Die Stimmen, die eine Zwei-Staaten-Regelung nicht
mehr für realisierbar halten, werden mehr und lauter.
Nicht nur auf palästinensischer, auch auf israelischer
Seite. Dort erhalten sogar diejenigen zunehmend Zuspruch, die eine Zwei-Staaten-Regelung ganz offen ablehnen. Die Ergebnisse der Wahl zur Listenaufstellung
des Likud sind nur ein Beispiel dafür.
Vor diesem Kontext muss die UN-Initiative von Präsident Abbas gesehen werden. Sie ist ein Versuch, die
Zwei-Staaten-Perspektive zu retten sowie in die blockierten Verhandlungen eine neue Dynamik hineinzubringen. Der Text des palästinensischen Antrages belegt, dass es hier gerade nicht um eine einseitige
Präjudizierung von Verhandlungen geht, sondern Verhandlungen werden direkt im Antrag gefordert.
Der Antrag spricht von einem Staat Palästina auf
der Grundlage der Grenzen bis 1967. Noch nie hat ein
palästinensischer Text sich derart weitgehend auf die
Anerkennung eines israelischen Staates festgelegt.
Umso unverständlicher ist mir, dass das von Israel
nicht gesehen wird: Auch Israel hat doch ein Interesse
daran, dass endlich die Grenzen seines Staates festgelegt werden.
Die sehr weitgehenden Formulierungen des Antrages bieten also eine große Chance auch für Israel. Sie
könnten eine gute Grundlage für die dringend notwendigen Verhandlungen über künftige Grenzen zwischen
dem Staat Israel und dem künftigen Staat Palästina
sein. Denn neue Verhandlungen über die endgültige
Festlegung der Grenzen sind im Interesse beider Konfliktparteien. Aber es müssen ernsthafte Verhandlungen sein, das heißt solche, die eine Beendigung der israelischen Besatzung und damit der Kontrolle über die
Palästinenser zum Thema haben. Es müssen Verhandlungen sein, die die Schaffung eines Staates Palästina
neben dem Staat Israel zur Perspektive haben.
Was glaubt die Bundesregierung und was glauben
alle anderen Staaten, die die palästinensische Initiative vor der UNO ablehnen, eigentlich, welche Wirkung ihr Verhalten haben wird? Sehen sie nicht die Gefahr, dass dies zu einer weiteren Schwächung von
Abbas und denjenigen Kräften, die er führt, beiträgt?
Wer wird künftig überhaupt noch an eine Zwei-Staaten-Regelung glauben und sie politisch verfolgen?
Die Blockade eines politischen Ausweges aus der
Konfrontation spiegelt sich in Umfragen in der israelischen und palästinensischen Gesellschaft wider: Es
gibt Mehrheiten für eine Zwei-Staaten-Regelung.
Diese scheinen aber eher theoretisch. Denn gleichzeitig sind auch jeweils Mehrheiten davon überzeugt,
dass es nicht dazu kommen wird. Die Schuld wird der
jeweils anderen Seite und ihren politischen Vertretungen gegeben.
Die palästinensische Initiative zur Erhöhung des
Status innerhalb der UN zu dem eines Nichtmitgliedstaates bietet daher eine große Chance, die gefährliche Blockade zu lockern. Vielleicht ist es sogar die
letzte Chance für Verhandlungen. Israel sollte sie nutzen und sie nicht leichtfertig vom Tisch wischen. Und
wir - die internationale Gemeinschaft - haben die Verantwortung, unseren Partnern dies auch klipp und klar
zu sagen. Sonst stehen wir am Ende ohne Partner da,
und der Nahe Osten brennt wieder.
Ich stelle die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses auf Drucksache 17/11452 zur Abstimmung.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8375 mit dem Titel „Diplomatische Beziehungen zu Palästina aufwerten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9981 mit dem Titel „Die ZweiStaaten-Perspektive für den israelisch-palästinensischen
Konflikt erhalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10640 mit dem Titel „Die Zwei-Staaten-Perspektive für eine friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts retten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({0})
Erstaunlicherweise ist es noch vor Mitternacht, obwohl
die ausgedruckte Tagesordnung die Aussicht begründete,
dass wir bis 6.05 Uhr oder 6.10 Uhr hätten verhandeln
können.
({1})
Das hätte gerade noch gereicht, durch den Saal zu gehen,
um für den Finanzminister, der eine Regierungserklärung abgeben wird, alles herzurichten.
Präsident Dr. Norbert Lammert
So schließe ich die heutige Sitzung mit dem Dank an
alle, die so lange ausgeharrt haben. Es gibt verlässliche
Indizien, dass dies möglicherweise die bisher längste
Sitzung dieser Legislaturperiode war. Ganz sicher dürfte
das für die Anzahl der behandelten Tagesordnungspunkte gelten. Sie können sagen, dass Sie dabei gewesen
sind.
({2})
Schön wäre, wenn Sie auch morgen früh wieder dabei
sind. Bleiben Sie dran.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag,
den 30. November 2012, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche eine gute Nacht.