Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/22/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich. Es ist heute nur darauf hinzuweisen, dass es eine in- terfraktionelle Vereinbarung gibt, die verbundene Tages- ordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP VI a) Erste Beratung des von den Abgeordneten HansChristian Ströbele, Volker Beck ({0}), Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen ({1}) - Drucksache 17/11415 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Volker Beck ({4}), Marieluise Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den am 12. September und am 4. Oktober 2001 ausgerufenen NATO-Bündnisfall beenden - Drucksache 17/11555 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({6}) Verteidigungsausschuss ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- sprache Ergänzung zu TOP VII Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Groneberg, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wertschöpfung im ländlichen Raum absi- chern - Erzeugung und Einsatz reiner Pflan- zenöle in der Land- und Forstwirtschaft aus- bauen - Drucksache 17/11552 - Wie in solchen Fällen üblich, soll dabei von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, ab- gewichen werden. Gibt es dazu schon zu diesem frühen Zeitpunkt des Tages größeren Widerstand? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das damit so vereinbart. Wir setzen nun die Haushaltsberatungen - Tagesord- nungspunkt I - fort: a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2013 ({7}) - Drucksachen 17/10200, 17/10202 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses ({8}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2012 bis 2016 - Drucksachen 17/10201, 17/10202, 17/10826 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({9}) Otto Fricke Priska Hinz ({10}) Ich rufe Tagesordnungspunkt I.14 auf: Einzelplan 09 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Präsident Dr. Norbert Lammert - Drucksachen 17/10809, 17/10823 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Luther Dr. Florian Toncar Priska Hinz ({11}) Zu diesem Einzeletat liegt ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion vor. Interfraktionell ist eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. - Auch dies findet offenkundig große Zustimmung. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Klaus Brandner für die SPD-Fraktion. ({12})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Es ist immer sehr schön, zu hören, dass man freundlich dabei ist. Bevor ich zum Haushalt komme, möchte ich es nicht versäumen, mich zuallererst wirklich aufrichtig bei den Berichterstattern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Haushaltsreferats im Wirtschaftsministerium und auch bei Ihnen, Herr Minister, für die offene und faire Zusammenarbeit zu bedanken. Sie war, wie immer, durch Vertrauen geprägt, auch wenn es inhaltlich durchaus Unterschiede gibt. Die Zusammenarbeit auf dieser Ebene war in der Tat sehr ordentlich; ich finde, so muss es auch sein. Heute gilt es, Resümee zu ziehen. Der Bundesminister hat Deutschland noch im letzten Jahr in der Haushaltsdebatte als die „Wachstumslokomotive in Europa“ gelobt. ({1}) So schwach, wie diese Lokomotive inzwischen auf der Strecke ist, müssen selbst Sie von den Koalitionsfraktionen sagen: Da fehlt es ein bisschen an Kohle und Befeuerung. - Von Wachstumslokomotive kann ja nun wahrlich keine Rede mehr sein. Beim Wirtschaftswachstum treten wir auf der Stelle. Die Konjunkturprognosen der EU sprechen von einem rückläufigen Bruttoinlandsprodukt, und auch die steigende Arbeitslosenquote ist signifikant. ({2}) Auch die Eckdaten des Sachverständigenrates zeichnen für Deutschland ein schlechtes Bild, sowohl beim Bruttoinlandsprodukt als auch - man höre! - bei den Konsumausgaben, die rückläufig sind. Bei einem Rückgang der Investitionen, insbesondere auch der Ausrüstungsinvestitionen, und einem sehr deutlichen Rückgang der Exporte ({3}) verzeichnen wir zudem steigende Arbeitslosenzahlen. Das muss uns alarmieren. ({4}) - Sie mögen das ja verhöhnen, Herr Lindner, aber uns ist schon aufgefallen, dass die Arbeitslosenzahlen vor dem Hintergrund der konjunkturellen Entwicklung steigen. Wenn Sie mit Ihrer Lächerlichkeit, die Sie hier preisgeben, deutlich machen wollen, dass Sie die Lage nicht als ernst bezeichnen, dann tut es mir leid; denn dann sind Sie nicht auf der Höhe der Zeit, Herr Lindner. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, keiner kann darüber hinwegtäuschen, dass die Unternehmen weniger Expansionspläne haben. Viele Unternehmen denken über Jobabbau nach. In dieser Ausgangssituation legen Sie einen wenig ambitionierten Haushalt vor, der keine besonderen Impulse für ein dauerhaftes, nachhaltiges Wachstum setzt. Der Haushalt ist kraftlos und nicht ambitioniert. Zusätzliche Wachstumsimpulse sucht man in der Tat vergebens. Herr Bundesminister, ich finde, diese Entwicklung war absehbar. Es war absehbar, dass die Folgen der Finanzkrise vor Deutschland nicht haltmachen würden. Natürlich hat diese Krise auch Auswirkungen auf unsere wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Situation. ({6}) Ihre Aufgabe wäre gewesen, hierfür Vorsorge zu treffen, auch in dem Wissen, dass Reformen, die man heute angeht, erst nach einem Jahr oder sogar noch später greifen werden. Jetzt geht die Reise rückwärts. Und was tun Sie? Ein aktiver Gestaltungswille ist jedenfalls im Haushalt des Wirtschaftsministeriums nicht erkennbar. Auch im letzten Jahr haben Sie willkürlich und zaghaft überall ein bisschen verändert. Man konnte den Eindruck gewinnen, hier bewegt sich etwas. Aber es war eben überall nur ein bisschen: ein bisschen hier gekürzt, ein bisschen da zugegeben. Eine erkennbare Linie war nicht gegeben. Schon gar nicht haben Sie die Spielräume genutzt, um ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu aktivieren. Als Beispiel sei nur die Steinkohlebeihilfe zu nennen. Wegen der anhaltend guten Weltmarktpreise ist es möglich, die Mittel dafür im Haushalt 2013 sogar um 52 Millionen Euro zu kürzen. ({7}) Diese 52 Millionen Euro fallen Ihnen quasi in den Schoß. ({8}) Doch auch von diesen 52 Millionen Euro nutzen Sie nur einen geringen Teil, um zum Beispiel die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ aufzustocken. Hier wäre es ein Leichtes gewesen, unserem Antrag zu folgen und die benötigten Mittel zumindest wieder wie auf Vorjahresniveau zur Verfügung zu stellen. ({9}) Schließlich, so sei deutlich angemerkt, ist die GRW ein Wachstumstreiber. Bei den Haushaltsberatungen vor zwei Wochen haben Sie noch verkündet, dass für die schwarz-gelbe Koalition der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern nach wie vor hohe Priorität habe. Die Realität ist aber eine andere. Wo Mut und Entschlossenheit gefragt sind, wo Sie Gas geben müssten, da kommen Sie nur im Kriechgang voran. Schaut man sich die Zahlen für die GRW aus den letzten Jahren an, so stellt man fest, dass hier kontinuierlich gekürzt wurde. Dass wir uns überhaupt noch auf dem heutigen Niveau befinden, ist insbesondere dem Engagement der SPD und, wie ich meine, auch dem Abgeordneten Luther zu verdanken, der sich immer wieder für eine ausreichende Finanzausstattung im Bereich der GRW ausgesprochen hat. ({10}) Ja, der Ansatz für das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand wird um 11 Millionen Euro erhöht. Das begrüßen wir natürlich. Dennoch kann eine Erhöhung beim ZIM kein Ersatz für eine Kürzung bei der GRW sein. Im Übrigen muss deutlich sein, dass man zwei sinnvolle Förderprogramme nicht gegeneinander ausspielen darf, sondern dass sie sich sinnvoll ergänzen müssen. ({11}) Meine Damen und Herren, Wachstumsimpulse vermisse ich auch bei der Energiewende. Der Koalitionsvertrag von 2009 sieht noch ein neues Energiekonzept vor. Wir alle wissen, dass das zwischenzeitlich bei Ihnen mehrmals hin und her gegangen ist. Am Anfang setzten Sie auf Atomstrom. Jetzt setzen Sie auf den schnellen Ausstieg. Das ist gut so. Aber die Hausaufgaben dazu haben Sie nicht gut gemacht. Sie sagen, Sie wollen eine szenarienbezogene Leitlinie für eine saubere, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung entwickeln. Was ist eigentlich davon übrig geblieben? ({12}) Sie wollen eine Erhöhung der Energieeffizienz. Was ist davon übrig geblieben? ({13}) Das hört sich zwar schön an, aber erreicht haben Sie in diesem Bereich nach drei Jahren nicht viel. Die Energiewende - das wissen wir - ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Ziel muss sein, bezahlbare Energie zur Verfügung zu stellen und Versorgungssicherheit herzustellen. Aber dazu fehlt Ihnen ein Masterplan. Es fehlt eine vernünftige Koordinierung der Energiekonzepte zwischen Bund und Ländern. Während Bayern beispielsweise auf Autarkie setzt und am liebsten den Strom, der dort verbraucht wird, vollständig selbst herstellen möchte, möchte SchleswigHolstein selbstverständlich den Strom, den es in den Offshorewindparks erzeugt, an die ganze Bundesrepublik verteilen. Das passt nicht zusammen. Hier muss ein schlüssiges Gesamtkonzept her. Das schreit geradezu nach Koordinierung, zu der Sie bisher keine ausreichenden Beiträge geleistet haben. Weiterhin stellt sich die Frage, wie es vereinbar ist, dass Sie erneuerbare Energien ausbauen und die Effizienz erhöhen wollen, aber gleichzeitig die Mittel für Energieforschung um annähernd 5 Prozent und die Mittel für Energieeffizienz um 2 Prozent kürzen. Auch im weiteren Verlauf der Haushaltsberatungen haben Sie nicht die Kraft besessen, dem Einhalt zu gebieten, diesen falschen Weg zu verlassen und deutlich zu machen, dass Sie das, was Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben, durch finanzielle Unterlegung tatsächlich umsetzen können. Ich finde, das ist ein fatales Signal. ({14}) Noch können Sie auf eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen der Energiewende - die Akzeptanz und die Unterstützung durch die Mehrheit der Bevölkerung - zurückgreifen. Diese Chance nutzen Sie aber nicht. Die Akzeptanz beim Netzausbau schwindet. Wegen fehlender Koordinierung blühen die Einzelinteressen. Wir erleben überall in unseren Wahlkreisen, dass da, wo Netzausbau stattfinden soll, der Ruf nach gallischen Dörfern, nach Selbstversorgung, nach Autarkie zu hören ist. Oft wird auf den kompletten Erdkabelausbau gesetzt. Der Zickzackkurs, den Sie eingeschlagen haben, hat dazu geführt, dass die Akzeptanz für die Energiewende immer weiter schwindet. Das haben Sie, Herr Minister, alleine zu verantworten. ({15}) Da hilft es auch nicht, wenn Sie sagen, dass Sie dafür Sorge tragen wollen, dass neue Trassen anstatt in zehn in vier Jahren gebaut werden können, und dass Sie das dadurch erreichen wollen, dass über Klagen gegen den Netzausbau sofort höchstrichterlich entschieden werden soll und dass Sie Umweltauflagen zeitweise außer Kraft setzen wollen. Das ist gerade kein Paradebeispiel für ordentliche Bürgerbeteiligung. Dabei können Sie nicht auf unsere Unterstützung zählen. ({16}) Sie werden natürlich sagen: Ihr habt die EEG-Umlage eingeführt. - Das ist ein richtiger Schritt gewesen. Wir haben das mit Augenmaß gemacht. Ihre ausufernden Ausnahmeregelungen für Unternehmen führen dazu, dass die privaten Verbraucher am Ende derart belastet werden, dass auch aus diesem Grund die Akzeptanz für die Energiewende schwindet. Einzig erfreulich in diesem Zusammenhang ist der Aufwuchs an Personal bei der Bundesnetzagentur. Diese Erhöhung ist wichtig. Damit ist ein Beitrag geleistet, dass die Aufgaben dort zukünftig schneller und kompetenter erledigt werden können, damit die Energiewende doch noch gelingt. Ein anderes Beispiel dafür, dass Wachstumschancen vergeben werden, ist die Förderung der Existenzgründung. In der Tat gibt es gerade durch Existenzgründungen gute Möglichkeiten, dringende Wachstumsimpulse zu setzen. Doch indem Sie die Aufhebung des Gewinnausschüttungsverbots der KfW beschließen, sorgen Sie dafür, dass erstens die Eigenkapitaldecke der KfW schwindet und zweitens die Möglichkeiten für das Fördergeschäft erheblich eingeschränkt werden. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, Sie denken bitte an Ihre Redezeit.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Damit sorgen Sie dafür, dass ein weiterer wichtiger Beitrag für Wachstumsimpulse durch Ihre Politik der angeblichen Haushaltskonsolidierung unterlaufen wird. Die Wachstumslokomotive, die wir jetzt dringend brauchen, wird dadurch nicht gestärkt, sondern geschwächt. Sie haben im Haushalt zu wenig Wachstumsimpulse gesetzt und zu wenig Zukunftsvorsorge getroffen. Deshalb können wir den Haushalt in dieser Form nicht mittragen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Philipp Rösler. ({0})

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich ebenfalls bei den Berichterstattern für die vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit bedanken. Trotzdem wundere ich mich ein bisschen, sehr geehrter Herr Abgeordneter Brandner, über das eben Gesagte. Schauen Sie sich die Zahlen doch einmal ganz in Ruhe und objektiv an - Sie sind doch auch Haushälter -: die niedrigste Arbeitslosigkeit seit mehr als 20 Jahren, ({0}) die höchste Beschäftigung überhaupt in der Geschichte unseres Landes, ({1}) 1 Million Arbeitsplätze mehr als zu Ihrer Regierungszeit. ({2}) Deutschland geht es gut. Den Menschen geht es gut. Diese Regierungskoalition steht dafür, dass genau dies auch in Zukunft so bleibt. ({3}) Natürlich wissen wir alle, Herr Brandner: Die Zeiten werden schwieriger, ({4}) zurückgehende Wachstumsdynamik in allen Regionen der Welt, auch in Europa und in der Euro-Zone. Deswegen ist es unsere Aufgabe, alles dafür zu tun, die Wachstumskräfte zu stärken und gleichzeitig die EuroZone weiter zu stabilisieren. ({5}) Genau das werden wir erreichen. Dabei sind wir gemeinsam auf gutem Wege. Alle europäischen Staaten arbeiten daran, ihre Haushalte in den Griff zu bekommen, anders als die Opposition im Deutschen Bundestag. Gleichzeitig wird versucht, durch strukturelle Reformen auf dem Arbeitsmarkt, ({6}) in den sozialen Sicherungssystemen, in der Verwaltung und bei der Privatisierung die Schwierigkeiten zu lösen und durch eigenes Wachstum aus den selber gemachten Schulden wieder herauszukommen. ({7}) Ihr Weg der Konjunkturpakete, noch dazu durch Schulden finanziert, ist falsch; er ist eine Sackgasse. ({8}) Das zeigt, dass es gut ist, dass Sie keine Verantwortung tragen, weder in Deutschland noch für Europa. ({9}) Die beste Basis für mehr Wachstum sind natürlich solide Haushalte. Das gilt zuallererst auch für den Bundeshaushalt. ({10}) Was haben die Grünen auf ihrem Bundesparteitag beschlossen? Ein neues Motto: „Grün statt Sparen“. Ich finde das angesichts einer weltweiten Krise aufgrund zu hoher Staatsschulden nicht witzig oder lustig. ({11}) Es ist zynisch, meine Damen und Herren, wenn man sieht, wie sehr Sie die Gefahr, die von Staatsschulden ausgeht, unterschätzen. ({12}) Sie sind die parteigewordene Verschuldung in Deutschland. ({13}) Deswegen will ich Ihnen eines sagen: Ihre Schulden führen am Ende immer genau zu dem, was Sie danach in einem zweiten Schritt fordern, nämlich neue Steuern und Abgaben, weil Sie irgendwie die Schulden, die Sie gemacht haben, wieder decken müssen. Das führt zu weiteren Belastungen. Das beste Beispiel ist doch Ihre merkwürdige Idee einer Vermögensabgabe bzw. in der Folge eine Vermögensteuer. ({14}) Man kann immer über Ertragsteuern diskutieren - zugegebenermaßen nicht mit uns. Aber über eine Substanzsteuer sollten wir alle gemeinsam nicht reden. Denn sie trifft gerade den unternehmerischen Mittelstand in Deutschland und die gesellschaftliche Mitte gleichermaßen. ({15}) Was tun Sie denn für die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland? Nichts. Die Regierungsfraktionen haben gehandelt, ({16}) als es zum Beispiel darum ging, ein Hauptproblem gerade für den Mittelstand zu lösen. Sprechen Sie mit mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmern! ({17}) Sie werden Ihnen sagen: Wir brauchen zuallererst Spezialisten, Techniker und natürlich auch Akademiker; wir brauchen Fachkräfte. ({18}) Wir arbeiten gemeinsam daran durch Hebung des inländischen Fachkräftepotenzials. Aber gleichzeitig kämpfen wir auch für die qualifizierte Zuwanderung in den ersten Arbeitsmarkt. ({19}) All das, was wir auf den Weg gebracht haben - unser Willkommensportal, aber auch die gezielte Suche nach Zuwanderern aus einzelnen Staaten, ob Indonesien, Indien oder Vietnam; da kommen übrigens hervorragende Fachkräfte her -, leisten wir gemeinsam, ({20}) auch mit dem vorliegenden Haushalt für 2013. Denn wir wissen: Eine der Hauptwachstumsbremsen ist der Fachkräftemangel in Deutschland. Diese Regierungskoalition handelt. Wir sorgen dafür, dass es auch künftig Fachkräfte geben kann, die zu uns kommen und willkommen sind, weil sie einen Beitrag dazu leisten, für unser Wachstum in Deutschland, für Wohlstand und Beschäftigung. ({21}) Herr Brandner, Sie haben die Energiepolitik angesprochen. Ich habe, um auf den großartigen Parteitag zurückzukommen, ({22}) bei den Grünen gelesen, dass dort ein Antrag verabschiedet wurde: Wo erneuerbare Energien wachsen, weicht die Kohle. Das klingt ein bisschen wie ein Kirchenlied. Das ist der Einfluss von Frau Göring-Eckardt. Bei der Energiepolitik hilft aber nicht beten, sondern wir müssen handeln. ({23}) Wir müssen bei den Hauptkostentreibern bei den Strompreisen in Deutschland ansetzen. Wir brauchen eine grundlegende Reform des Gesetzes zur Förderung der erneuerbaren Energien. ({24}) Anders werden wir die Strompreise nicht in den Griff bekommen. Dazu haben wir uns gemeinsam entschlossen. ({25}) Geradezu absurd ist Ihr Vorwurf, wir würden nichts im Bereich der Energieeffizienz machen. ({26}) Mit der Verbesserung der steuerlichen Absetzbarkeit stellen wir 1,5 Milliarden Euro zur Förderung der Energieeffizienz zur Verfügung. Ein Regierungsentwurf dazu liegt im Vermittlungsausschuss. ({27}) Und wer blockiert diesen Entwurf aus rein ideologischen Gründen? Das sind die Kollegen von der Opposition. Es ist doch unglaubwürdig, wenn hier jetzt Maßnahmen zur Energieeffizienz gefordert werden. ({28}) Wenn es darauf ankommt, dann können sich die Menschen eben nicht auf Rote und Grüne, schon gar nicht auf die Linken, verlassen, auch nicht bei dem Thema Energieeffizienz. ({29}) Wenn wir schon beim Thema Vermittlungsausschuss sind: Wer Wachstumskräfte stärken will, der stärkt diejenigen, die Wachstum für unser Land möglich machen. ({30}) Das sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deswegen haben wir einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der kalten Progression auf den Weg gebracht. Wir wollen, dass gerade die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen etwas von ihrer geleisteten Arbeit haben. Auch diesen Gesetzentwurf blockieren Sie im Bundesrat. Ich frage mich: Was ist eigentlich aus der sozialdemokratischen Partei geworden, wenn sie aus parteitaktischen und ideologischen Gründen eine Politik gegen die kleinen Leute in unserem Lande macht? ({31}) - Ich weiß, dass Ihnen das wehtut, Herr Kollege Heil, aber das ist nun einmal die Wahrheit. Sie haben längst vergessen, wer eigentlich in Deutschland die Leistung tatsächlich erbringt. ({32}) Deswegen werden wir alles dafür tun, um unseren Unternehmen neue Märkte zu erschließen. Ein gutes Beispiel ist die künftige Verschmelzung der Industrie - eine bekannte Stärke der deutschen Wirtschaft - mit modernen Kommunikationstechnologien. ({33}) Wir nennen das Industrie 4.0, wenn Industrie und Telekommunikation miteinander verschmelzen. ({34}) - Ich weiß, Sie haben ganz aktuell einige Probleme mit Telekommunikation und IT-Beratern. - Aber das ist die Chance für die deutsche Industrie. Gerade hier setzen wir Akzente, auch mit dem vorliegenden Etat. ({35}) Es geht darum, junge, kreative Menschen und Unternehmen zu fördern. Wir wollen die Gründungskultur in Deutschland stärken. ({36}) Deswegen haben wir erstmals die Möglichkeit geschaffen, auf Risikokapital zurückzugreifen. Im nächsten Jahr stellen wir 30 Millionen Euro zur Verfügung, in der Folge 120 Millionen Euro, also 150 Millionen Euro zur Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen. Gerade wenn es darum geht, in dem hochinnovativen Bereich der IT-Technologie neue Unternehmen zu fördern, ist das sehr wichtig. ({37}) Das ist ein ganz konkretes Beispiel für die Stärkung des Mittelstandes in Deutschland und für die Stärkung der neuen Industrien. ({38}) Fachkräftesicherung, Bezahlbarkeit von Energie, neue Chancen durch neue Märkte, durch Neugründungen, durch Innovation - all das zeigt, dass wir es natürlich schaffen, die Wettbewerbsfähigkeit auch in schwierigen Zeiten weiter zu stärken. In Kombination mit solidem Haushalten ist das der beste Weg, um für Wachstum auch in dem schwierigen Jahr 2013 zu sorgen. Ihre Rezepte werden am Ende nicht funktionieren: nur neue Schulden, auch zulasten nachfolgender Generationen, und Steuern und Abgaben zulasten aller Generationen in unserem Lande. Daran zeigt sich der entscheidende Unterschied zwischen der Opposition, die es auch ewig bleiben wird, ({39}) und der Regierungskoalition. Sie denken nur an das Umverteilen, aber diese Koalition kämpft für diejenigen, die den Wohlstand, den wir erleben dürfen, alltäglich erarbeiten. Wir denken an das Erwirtschaften. Es würde Ihnen gut anstehen, wenn Sie das Gleiche täten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({40})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Roland Claus ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Rösler, damit sich dieser Irrtum nicht bei Ihnen festsetzt und Sie die Opposition im Deutschen Bundestag und die Kirchen gleich mit nicht weiter diskriminieren, ({0}) sage ich Ihnen hier eindeutig: Opposition ist Verantwortung und nicht Verantwortungslosigkeit. Das haben Sie bis vor kurzem auch noch so gesehen. Daran muss man Sie erinnern. ({1}) Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es angebracht ist, sich mit Schadenfreude über die Umfragewerte anderer Parteien zurückzuhalten. Dem will ich auch gerne nachkommen. Aber es geht hier nicht um den Parteivorsitzenden Philipp Rösler, sondern um den Bundeswirtschaftsminister. Was Sie für Ihren Nebenjob versprochen haben, Herr Minister, muss doch auch für das Ministeramt gelten: Sie wollten liefern. Mit Ihrem Etat und mit der Rede, die wir soeben gehört haben, sind Sie aber - das muss ich Ihnen so deutlich sagen - in einen einzigen Lieferstreik getreten, und das nehmen wir natürlich nicht hin. ({2}) Das würde Ihnen keine Opposition dieser Welt durchgehen lassen und schon gar nicht die demokratische Linke im Deutschen Bundestag. Sie sagen: Es ist alles gut am Arbeitsmarkt. Aber Fakt ist: Leiharbeit und Niedriglohn haben ein ungeheures Ausmaß angenommen. Dieses Ausmaß ist im Osten - daran will ich erinnern - doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Junge Leute beginnen ihr Arbeitsleben in aller Regel mit Zukunftsungewissheit. Sie erhalten beispielsweise im Gastronomiegewerbe Arbeitsverträge mit einer Laufzeit von zehn Monaten und sollen dann die restlichen zwei Monate bei der Bundesagentur für Arbeit quasi überwintern. Gestern haben wir Ihre neue Losung gehört, wir hätten es hier mit der erfolgreichsten Bundesregierung seit der Wiedervereinigung zu tun. ({3}) Das Bundespresseamt hatte die Losung der Woche formuliert - das ist von Ihnen, nicht von mir -: Der Aufschwung ist bei den Menschen angekommen. - Ich erlebe immer wieder, dass Menschen, die in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, diese Losungen und diese Schönrederei als einen Zynismus und als eine Verhöhnung ihres Lebens empfinden. ({4}) Ihr Haushaltsplan ist während der Beratungen leider nicht besser geworden. Aber wir haben redlich versucht, ihn zu korrigieren. Bei aller selbstkritischen Analyse, die ich unserem Antrag gegenüber noch einmal an den Tag gelegt habe, musste ich feststellen: Es waren allesamt gute Vorschläge. Ich will Ihnen nur vier Beispiele nennen: Erstens. Wir wollten uns dafür einsetzen, dass es eine bessere Ausstattung des Bundeskartellamtes gibt. Das ist eine Behörde, bei der interessanterweise jeder Euro, den man ihr zukommen lässt, 7 Euro hervorbringt. Eine bessere Ausstattung ist auch deshalb erforderlich, weil das Kartellamt bekanntlich dafür zuständig ist, den Wettbewerb zu überwachen. Die Leute interessiert es momentan wirklich sehr, ob es an den Zapfsäulen und an den Stromzählern mit rechten Dingen zugeht. ({5}) Es wäre also gut gewesen, unserem Antrag zu folgen. Ich bin mir ziemlich sicher: An diesem Vorschlag kommen Sie nicht vorbei. Irgendwann werden Sie das Ganze selber machen, und Sie werden sehen: Opposition wirkt; Opposition ist alles andere als Verantwortungslosigkeit. Mir wird zuweilen mit Blick auf das Kartellamt vorgehalten: Man darf das mit der Kontrolle nicht übertreiben. Ich gehe einmal davon aus, dass auch der Freiheitsbegriff der Liberalen nicht die Freiheit zu Gesetzesverletzungen meint. ({6}) Zweitens. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, im Bereich von Luft- und Raumfahrt Subventionen abzubauen. Dieser Bereich wird gigantisch subventioniert. Sie protegieren hier staatsnahe Monopolisten, und das mit einem FDP-Minister. Dass Ihnen das noch ein Sozialist sagen muss, das ist ja nun wirklich ein dicker Hund. Mit diesen Subventionen fördern Sie auch die Rüstungs25368 produktion. Wir sagen Ihnen: Wer Rüstungsgüter produziert, verdient natürlich auch am Gebrauch dieser Güter. Klarer gesagt: Rüstungsproduktion verdient am Krieg. Das wollen wir nicht. Sie haben zwar auch unsere Anträge, die sich darauf bezogen, abgelehnt, aber Sie werden damit wieder zu tun haben. ({7}) Drittens. Die Wirtschaft im Osten verdient mehr Unterstützung. Die Kürzung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ - sie ist hier schon angesprochen worden - betrifft zu sechs Siebteln den Osten. Deshalb unterstützen wir auch die Anträge, die Mittel für diese Aufgabe wieder auf das bisherige Niveau anzuheben. Ich muss Ihnen noch eine Vorhaltung machen. Sie haben vollmundig verkündet, bis zum Jahre 2019 500 Millionen Euro mehr für die Forschung in Ostdeutschland einzubringen. Das hat natürlich auch mit Ihrem Etat zu tun, Herr Minister Rösler. Wir haben einmal nachgeschaut, was genau passiert ist. Ich wiederhole: 500 Millionen Euro zusätzlich waren versprochen. Was haben Sie gemacht? Sie haben alles, was bisher schon vorhanden ist, neu sortiert, haben neue Überschriften formuliert. Sie haben es gerade einmal geschafft, im Etat für 2013 zusätzlich 10 Millionen Euro - versprochen waren 500 Millionen Euro - einzustellen. Das kann man Ihnen nicht durchgehen lassen. ({8}) Viertens. Wir haben angesichts komplizierter wirtschaftlicher Entwicklungen, die bevorstehen, vorgeschlagen, wenigstens die Kriseninstrumente auf Standby zu stellen, also sicherzustellen, dass man das Arbeitslosengeld I schnell abrufen könnte, dass man den Investitions- und Tilgungsfonds und Konjunkturprogramme, so wie Sie es eben getan haben, nicht diskriminiert, sondern gewissermaßen vorhält. Auch diese Vorschläge haben Sie abgelehnt. Meine Damen und Herren, die Linke will eine Wirtschaftspolitik, die Mittelstand und Existenzgründern Chancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft, von der Beschäftigte sorgenfrei leben können, und die so zu mehr Stabilität und sozialer Gerechtigkeit gleichermaßen beiträgt. Kleiner geht es nicht. Die Linke hat mindestens vier Alleinstellungsmerkmale, vielleicht auch Erfahrungsvorsprünge in Sachen vernünftiger Wirtschaftspolitik. ({9}) Erstens. Die Linke weiß genau, wie es nicht geht. ({10}) Es möge sich melden, wer mit mir in den Wettbewerb treten will. ({11}) Zweitens. Die Linke will als Einzige die Übermacht der Finanzmärkte über die Realwirtschaft stoppen. ({12}) In dieser Woche haben wir bei den sogenannten Schattenbanken von einem Umsatz von über 50 Billionen Euro gehört. Da geht es nicht mehr um Regulieren, sondern um Abschalten. ({13}) Drittens. Die Linke kann als einzige von sich sagen: Wir können auch Osten. ({14}) Die Linke ist die Einzige, die nicht von der Finanzbranche und der Großindustrie Parteispenden einsteckt. Die wollen wir auch gar nicht. ({15}) Ihr Plan A von einer vernünftigen Wirtschaftsentwicklung hat versagt. Es muss ein Plan B her. ({16}) Viertens. Auch der Nachbau des Westens im Osten funktioniert nicht. Deshalb brauchen wir einen neuen sozialökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, bei dem Soziales und Ökologisches in der Tat zusammengehen. Das geht zu machen. Das geht immer auch anders, aber das geht nur mit links. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Luther das Wort. ({0})

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als die Debatte heute durch den Kollegen Brandner eröffnet wurde, habe ich mich kurz orientiert, ob wir tatsächlich im Deutschen Bundestag sind. Der Adler zeigt mir, dass ich doch richtig bin. Dann ist Herr Brandner gedanklich woanders, vielleicht vor dem französischen Parlament oder dem spanischen Parlament. Wenn er davon redet, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt, dann erinnere ich ihn daran, dass die rot-grüne Regierungszeit mit 5 Millionen Arbeitslosen geendet hat. Wir haben diese Zahl jetzt fast um die Hälfte reduziert. ({0}) Sie ist im Monatsvergleich von September bis Oktober wiederum, wenn auch nur leicht, zurückgegangen. Ich weiß nicht, von wem Sie geredet haben, aus welchem Land Sie berichtet haben. Wir sind hier in Deutschland. ({1}) Sie haben bezweifelt, dass Deutschland die Wachstumslokomotive in Europa ist. Vielleicht schauen Sie tatsächlich einmal in andere Länder. Ich will Ihnen das an einem Beispiel versuchen zu erklären. Schauen Sie sich die Goethe-Institute in Südeuropa an: ({2}) in Spanien, in Portugal, in Griechenland. Sie können sich kaum vor Leuten retten, die Deutsch lernen wollen. ({3}) Warum? Weil sie eine Chance für sich sehen, in Deutschland Arbeit zu finden. Das heißt also, die Menschen außerhalb von Deutschland schätzen die Situation hier ganz anders ein. Deswegen stellt sich für mich die Frage, über welches Land Sie in Ihrer Rede gesprochen haben. ({4}) Meine Damen und Herren, ich will klar sagen: Wir stehen gut da in Europa. Wir bieten Chancen für die Menschen in unserem Land. Sie haben Arbeit. Sie bekommen Arbeit. Die Beschäftigungsquote ist so hoch wie noch nie. Die Arbeitslosgenquote ist so niedrig wie seit langem nicht mehr. Das sind Fakten, an denen man einfach nicht vorbeikommen kann. Dafür gab es auch Gründe. Wir haben in Deutschland zeitig genug einen Reformkurs eingeleitet, im Übrigen mit der SPD. Sie hat sich allerdings heute von den richtigen Erkenntnissen und den Fakten, die damals eingeleitet wurden, mittlerweile verabschiedet. Das ist das Wichtige und das Wesentliche. Die schwarz-gelbe Koalition hat in dieser Legislaturperiode mit ihrer soliden Konsolidierungspolitik ganz konsequent diesen Weg fortgesetzt. Das Ergebnis sehen wir heute: Deutschland steht so gut da, wie seit langem nicht mehr. Meine Damen und Herren, darauf dürfen wir uns aber nicht ausruhen, sondern wir müssen nach vorn schauen. Wie geht es weiter? Wir leben in einer globalen Welt, und eine globale Welt verändert sich. Dabei denke ich zum Beispiel an China, an Brasilien und an andere Länder. Diese werden in einer globalen Welt immer stärker. Wir müssen uns darauf einstellen, dass es in Zukunft andere Wettbewerbsbedingungen gibt, und das machen wir. Das machen wir auch ganz konkret mit unserem Haushalt. Ich will mit ein paar Beispielen zeigen, wie wir diesen Prozess durch Haushaltspolitik unterstützen. Dabei denke ich an den Bereich Innovation, Mobilität und Technologie sowie den Bereich der Spitzentechnologie. So erhält zum Beispiel die Luft- und Raumfahrt im nächsten Jahr 35 Millionen Euro mehr. Die Opposition hat in den Haushaltsberatungen bisher immer eine Absenkung dieser Mittel verlangt. Ich glaube, Sie haben nicht begriffen, dass es hierbei um Hightechförderung geht. Das ist keine sinnlose Spielerei, vielmehr sind die Erkenntnisse der Hightechforschung, die wir heute gewinnen, die Basis für die Wirtschaft von morgen. Ich denke auch an den Mittelstand, das Rückgrat unserer Gesellschaft. Wir unterstützen die Forschungsinfrastruktur des Mittelstands mit 200 Millionen Euro. Das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, kurz ZIM genannt, wird im nächsten Jahr über ein Volumen von über einer halben Milliarde Euro verfügen. Das ist mehr als am Anfang der Legislaturperiode. Ich denke aber auch an den Außenhandel. Als größte europäische Volkswirtschaft können wir auf eine überzeugende Außenwirtschaftsförderung nicht verzichten. Aus vielen Gesprächen mit Mittelständlern weiß ich, dass wir gerade auf diesem Gebiet gut aufgestellt sind. Das Engagement auf internationalen Fach- und Industriemessen braucht keinen Vergleich zu scheuen. Als Haushälter tragen wir auch gerne dafür Sorge. Auch das neu gebündelte Programm „Erschließung von Auslandsmärkten“ mit einem Volumen von 80 Millionen Euro leistet einen Beitrag zu diesem Erfolg. Da ich gerade beim Außenhandel bin, will ich an dieser Stelle einen kleinen Einschub machen. In diesem Jahr fand die Weltausstellung in Südkorea statt. Der deutsche Pavillon hat zum zweiten Mal in Folge nach der Expo in Schanghai den ersten Preis gewonnen. Damit hat der deutsche Pavillon gezeigt, was Deutschland ist, nämlich ein Land, das in der Lage ist, Zukunftsfragen zu beantworten, und ein Land, das innovativ ist. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal recht herzlich bei der Mannschaft des BMWi bedanken. ({5}) Ich will noch ein Wort zur Energiewende sagen. Die Energiewende ist und bleibt unsere gemeinsame wichtige Herausforderung. ({6}) Die Bundesregierung hat beschlossen, dass wir weg vom Atomstrom wollen. Mittelfristig bedeutet das auch, dass wir weg wollen von fossilen Energieträgern und hin zu erneuerbaren Energien. Ein Anfang ist gemacht. Ich sage aber ganz bewusst: nur ein Anfang. ({7}) Ich weiß nicht, ob jedem hier im Haus und insbesondere jedem bei der Opposition wirklich klar ist, was es bedeutet, die Energiewende zum Erfolg zu führen. ({8}) Ich will eines unterstreichen, was der Minister auch schon gesagt hat. Das EEG hat bislang seine gute Wirkung gezeigt. Es muss aber geändert werden; denn es ist eine grenzenlose Angebotsförderung. ({9}) Deshalb muss das EEG geändert werden hin zu einer nachfragegerechten Förderung; denn sonst wird uns die Energiewende nicht gelingen. ({10}) Mit dem Haushalt konnten und mussten wir die Voraussetzungen schaffen, dass der Netzausbau gelingt. In diesem Zusammenhang gibt es das Netzausbaubeschleunigungsgesetz. Deshalb haben wir bei den Behörden, die für die Umsetzung verantwortlich sind, dem Bundeskartellamt und der Bundesnetzagentur, die entsprechenden auch personellen Voraussetzungen geschaffen, damit sie ihre Aufgaben administrativ bewältigen können. Meine Damen und Herren, ich möchte noch Bezug nehmen auf ein besonderes Thema, und zwar auf das Thema Wismut. Ich bin mit dieser Situation bestens vertraut. Seit 1990 bin ich im Parlament; etwa 1991 war ich im Wirtschaftsausschuss zuständiger Berichterstatter für dieses Thema. Es begleitet mich also seit 20 Jahren. Wir befinden uns jetzt in der finalen Phase. Es ist gelungen, mit diesem Haushalt die finanziellen Voraussetzungen zu schaffen und den bis 1990 aktiven Wismut-Bergbau mit ausreichend finanziellen Mitteln auszustatten, sodass die Sanierung zu Ende gebracht werden kann. Darüber hinaus kann man sagen, dass das sogenannte Folgeabkommen zur Sanierung der Wismut-Altstandorte, das sich etwas schwierig gestaltet hat, auch auf einem guten Weg ist. Wir haben im Haushalt auf jeden Fall die Voraussetzungen geschaffen und für 2013 und die folgenden Jahre die Barmittel und die entsprechenden Verpflichtungsermächtigungen eingestellt. Das Geld steht bereit. Sobald die Länder die letzten rechtlichen Voraussetzungen geschaffen haben, kann das Geld dann abfließen. Ich will mich an dieser Stelle noch einmal herzlich beim Deutschen Bundestag für die hervorragenden solidarischen Leistungen bedanken, die bei diesem schwierigen Thema mittlerweile zu einem guten Erfolg geführt haben. Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ist ebenfalls angesprochen worden. Es ist schon richtig erwähnt worden, dass wir bei den Haushaltsberatungen in der Bereinigungssitzung dafür gesorgt haben, dass die GRW-Mittel gegenüber dem Regierungsentwurf aufgestockt worden sind, und zwar um den Betrag, den wir Anfang der Legislaturperiode vereinbart hatten, nämlich 14 Millionen Euro in den Barmitteln und entsprechend in den Verpflichtungsermächtigungen. Man kann sich natürlich mehr wünschen, aber man kann nicht auf der einen Seite von Haushaltskonsolidierung reden und dann auf der anderen Seite keine Maßnahmen treffen. Wir haben, glaube ich, einen guten Mittelweg gefunden, indem wir sagen: Wir erhöhen um den Betrag, der notwendig ist - um die besagten 14 Millionen Euro - und leisten gleichzeitig einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung. Im Übrigen reduzieren wir den Einzelplan 09 insgesamt um 60 Millionen Euro, um damit auch einen Beitrag zur Konsolidierung zu leisten. ({11}) Herr Brandner, eines muss ich an dieser Stelle noch einmal sagen - das habe ich bereits in der ersten Lesung gesagt -: Die SPD hat in der Zeit rot-grüner Regierungsverantwortung die GRW halbiert. Ja, halbiert. In der Opposition ist es einfach, zu erzählen, wie schön das Leben ist. ({12}) Wenn es jedoch drauf ankommt, dann müssen Sie zeigen, was Sie können. ({13}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Bemerkungen machen. Auch ich will mich recht herzlich beim Wirtschaftsminister und bei seinen Mitarbeitern für die gute Vorbereitung des Haushaltes bedanken. Ich möchte mich auch bei meinen Mitberichterstatterkollegen für die kollegiale Zusammenarbeit bedanken. An dieser Stelle möchte ich mich auch einmal bei unseren Mitarbeitern bedanken, die, glaube ich, in den letzten Wochen und Monaten viel zu leiden hatten und immer unsere Zuarbeit machen mussten. Der Etat des Wirtschaftsministeriums ist solide und gut beraten. Aus diesem Grunde kann ich die Annahme empfehlen. Danke schön. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Priska Hinz vom Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Rösler, ich habe mich bei Ihrer Rede gefragt, auf welchem Weg Sie eigentlich sind, und bin zu dem Schluss gekommen: Sie sind mit Ihrer Wirtschaftspolitik auf dem Weg ins Nirwana. ({0}) Die Euro-Krise geht ins vierte Jahr. Aufgrund der einseitigen Sparpolitik, die die Regierung in Europa durchgedrückt hat und an der der Wirtschaftsminister ja nicht unschuldig ist, gibt es inzwischen in vielen EU-Mitgliedstaaten eine Rezession, darauf folgend eine Konjunktureintrübung auch in Deutschland. Man fragt sich: Mit welchem Politikansatz stemmt sich ein Wirtschaftsminister in Deutschland gegen diesen Trend? Welche wirtschaftlichen Anreize werden im positiven Sinne gegeben? Welche Rahmenbedingungen werden denn für uns und die EU verändert? Da kann ich nur sagen: große Fehlanzeige, was das Handeln dieses Wirtschaftsministers und dieser Koalition angeht. ({1}) Priska Hinz ({2}) - Uns ist keine einzige Initiative von diesem Wirtschaftsminister in Erinnerung, die irgendwie zu etwas Positivem geführt hat. Da paart sich aus meiner Sicht Unvermögen mit Unwillen. Zum Thema Energiewende. Wir hören da nur, dass das EEG geschleift werden muss. Von der Steigerung der Energieeffizienz und ihren positiven Konsequenzen hat der Wirtschaftsminister anscheinend noch nie etwas gehört. Er hat auf die Frage der steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung angespielt. ({3}) Da kann man doch nur sagen: Es ist ein Unding, zuerst immer nach Steuersenkungen zu rufen, den Ländern die Kassen zu leeren ({4}) und hinterher zu glauben, die Länder könnten bei der steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung die Hauptbürde tragen. Das funktioniert so nicht, meine Damen und Herren. ({5}) Der Wirtschaftsminister hat der Einrichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“, EKF, zugestimmt. Damit ist er die Hauptverantwortlichkeit für das Energiethema sozusagen los. Denn bei diesem Topf herrscht so ein Gemauschel: Keiner weiß so recht, was daraus eigentlich finanziert wird. Das Ende vom Lied ist, dass nicht einmal die Energieforschungsmittel erhöht werden. Zum Thema „Nationale Plattform Elektromobilität“. Da ist auch kein positives Signal zu vermelden. Sie erreichen doch gar nicht die Zielzahlen, die Sie in den Raum gestellt haben. Das ist keine positive Politik für die Wirtschaft in diesem Lande, meine Damen und Herren. ({6}) Zum Thema Mittelstand und Mittelstandsförderung. Außer einer eigenwilligen Interpretation des Ministers, was eigentlich „Mittelstand“ bedeutet, haben wir in den Beratungen nicht viel gehört. Mittelstand sei, wenn sich ein Eigentümer mit seinem Unternehmen verbunden fühle, das ist die Aussage des Wirtschaftsministers. Kein Wunder, dass viele Förderprogramme so ausgestaltet sind, dass der Anteil der KMUs an den geförderten Unternehmen unter 5 Prozent liegt. Man muss die Programme doch so ausrichten, dass sie den Mittelstand erreichen, dass sie kleine und mittlere Unternehmen in der Transformation unterstützen. Wir haben mit unseren Anträgen gezeigt, wie man ökologische Modernisierung buchstabieren muss und sie in einem Haushalt ausfinanzieren kann. ({7}) Meine Damen und Herren, wo bleibt eigentlich der Wirtschaftsminister, wenn es um die KfW geht? ({8}) Da sitzt er in einer Koalitionsrunde, die beschließt, dass die KfW künftig ({9}) Gewinnausschüttung betreiben und den Haushalt sanieren soll. Aber die KfW ist eine Förderbank für die Wirtschaft, für die kleinen und mittleren Unternehmen, für die ökologische Modernisierung. Und da hebt der Wirtschaftsminister die Hand, wenn beschlossen wird, dass die KfW geplündert werden soll? So sieht Wirtschaftspolitik bei Ihnen aus. ({10}) Ich weiß gar nicht, woher Sie es nehmen, zu behaupten, dass Sie auf einem guten Wege sind, zum Beispiel bei den Fachkräften. Die Bluecard - die Einführung war Ihre wunderbare Initiative für die Gewinnung von Fachkräften aus dem Ausland - wurde bislang 139-mal vergeben. ({11}) 139 Bluecards wurden vergeben, und 112 der Menschen, die sie bekommen haben, waren bereits in Deutschland. Das ist die positive Bilanz dieses Wirtschaftsministers, was Fachkräftegewinnung angeht. Man glaubt es einfach nicht. ({12}) Man fragt sich, warum Fachkräfte jetzt primär in Indonesien, Indien und Vietnam angeworben werden sollen. Wenn man nach Portugal und Spanien reist, erlebt man, dass dort händeringend darum gebeten wird, gemeinsam mit ihnen die Sprachbarrieren zu senken, um gut ausgebildeten, hochqualifizierten Menschen die Möglichkeit zu geben, in Krisenzeiten Mobilität zu beweisen und hierherzukommen, zumindest temporär, bis der Aufschwung in diesen Ländern wieder ankommt. Das wäre gelebte europäische Solidarität und eine Möglichkeit, hier den Bedarf an Fachkräften zu decken. Aber davon versteht der Wirtschaftsminister auch nichts. ({13}) Beim Thema Euro-Krise und Griechenland hat er sich völlig vergaloppiert. Während der Wirtschaftsminister von einem Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone geschwafelt hat, ist er mit einer Unternehmerdelegation dorthin gereist. Aber wenn man Unsicherheiten verbreitet, dann bringt man natürlich keinen deutschen Unternehmer dazu, zu investieren. Die Troika hat deutlich gemacht - wörtlich -: Priska Hinz ({14}) Die breite Diskussion über einen „Grexit“ auf den Märkten und sogar unter den Gläubigern hat Griechenland sehr geschadet. Das müssen Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen, Herr Minister Rösler. Noch am 26. August haben Sie wörtlich gesagt: Die Forderung der Griechen, ein halbes oder gar zwei Jahre nachzugeben, kann schon deswegen nicht funktionieren, weil es nicht nur eine Frage der Zeit ist. … Sondern jeder muss wissen: Zeit bedeutet immer auch Geld. ({15}) Damals haben Sie das also noch abgelehnt. Als Fazit kann man nur ziehen: Wenn Sie in Bezug auf den Euro und die Wirtschaftspolitik in Deutschland immer so falsch liegen, dann gehören Sie in die Opposition. ({16}) Wenn Sie, falls überhaupt, in der Opposition sitzen, werden Sie erleben, dass die Wählerinnen und Wähler klüger sind, als Sie uns heute in Ihrer Rede Glauben machen wollten. Danke schön. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Martin Lindner nun das Wort. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Nach drei Jahren Regierungszeit ist es Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen, und die macht man in einer Haushaltsdebatte üblicherweise mit Zahlen. Die erste schwarz-gelbe Zahl, die ich hier in den Raum stelle, ist 41,6 Millionen. Im August 2012 waren insgesamt 41,6 Millionen Menschen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig und damit 423 000 mehr als im Vorjahr. Noch nie hatten mehr Menschen Arbeit in Deutschland als heute. Das ist gut so. ({0}) 500 Industriearbeitsplätze entstehen jeden Tag, auch 2012. 6,5 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote. Unter Schwarz-Gelb hat die deutsche Wirtschaft 1,6 Millionen zusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen. Das ist eine Erfolgsstory, wie sie im Moment kaum in einem anderen Land der Erde geschrieben wird. ({1}) Das hat eine Ursache. Herr Heil, es ist doch kindisch, zu behaupten, das alles habe mit Schwarz-Gelb nichts zu tun. ({2}) Schröder war 1998 noch gar nicht im Amt und hat den Aufschwung Ende 1998 bereits damit erklärt, dass dies im Vorgriff auf seine Kanzlerschaft geschehen sei. ({3}) Nun billigen Sie uns nach über drei Jahren an der Regierung unsere Erfolge nicht zu. Damit machen Sie sich lächerlich. An der Wahrheit geht das vorbei. Das ist ganz klar. ({4}) Die nächste Zahl: 12 Milliarden. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt im Klassenzimmer, sagte Henry Ford. Das haben wir verinnerlicht. ({5}) Wir haben bis 2013 12 Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung investiert, so viel wie keine andere Regierung vorher. Auch das ist eine Ursache für die Arbeitsmarktzahlen. ({6}) Nächste Zahl: 1 Billion. Die deutschen Exporte sind im Jahr 2011 weiter gewachsen und haben mit über 1 Billion Euro erstmals die magische Billionengrenze geknackt. Das Einzige, was Ihnen, vor allem von der Ultralinken, dazu einfällt, ist, herumzumäkeln, dass dies auf Rüstungsexporten beruhe. So etwas Lächerliches! Die haben nur einen marginalen Anteil daran. Es ist eine Exportleistung der deutschen Industrie. Mit der Einführung der Erleichterungen in der Novelle zum deutschen Außenwirtschaftsgesetz werden wir an dieser Erfolgsstory weiterschreiben. Wir kümmern uns darum, dass der deutsche Export weiter stark bleibt. Sie können rummäkeln und rumkritteln, wie Sie wollen. Die deutsche Industrie kann sich auf uns verlassen. ({7}) Auf Sie kann man sich nicht verlassen. Sie haben den deutschen Industriearbeiter doch schon längst aufgegeben. ({8}) Sie haben doch nur noch Assistenten, Referenten, Politologen und Soziologen in Ihrer Anhängerschaft. Man muss klar sehen: Der deutsche Industriearbeiter kann sich auf alle verlassen, nur nicht auf die SPD. ({9}) Dr. Martin Lindner ({10}) 1 307 Weltmarktführer gehören dem deutschen Mittelstand an. Zum Vergleich: Deutschland hat damit mehr Weltmarktführer als die USA, Japan, Österreich, die Schweiz, Italien, Frankreich, China und Großbritannien zusammen. Auch für diese Unternehmen tun wir etwas: Mit der Stärkung der GWB-Novelle haben wir dafür gesorgt, dass in Deutschland weiterhin ein fairer Wettbewerb stattfindet. Wir haben dafür gesorgt, dass gerade kleine und mittlere Betriebe beim Markteintritt faire Möglichkeiten vorfinden, sodass auch sie sich entwickeln können und nicht nur die Großindustrie. Auch dies ist eine Erfolgsstory von Schwarz und Gelb. ({11}) 17,3 Milliarden Euro. Schwarz-Gelb investierte im Jahr 2011 ganze 17,3 Milliarden Euro in den Kampf gegen den Klimawandel. Im internationalen Vergleich war das das größte Budget. Damit ist Deutschland Umweltmeister. ({12}) Das ist der Unterschied, meine lieben grünen Freunde, zwischen uns und Ihnen: Sie schwätzen, wir handeln. ({13}) Das Einzige, was Sie können, ist, dreiste Klientelpolitik zu betreiben, die ihresgleichen sucht. ({14}) Sie schämen sich nicht, in Debatten, in denen es darum geht, die üppigen Pfründe, die üppigen Subventionen, die es auch für die Solarwirtschaft gibt, in vernünftige Bahnen zu lenken, Ihre ganze Garde von Eurosolar-Lobbyisten auftreten zu lassen. ({15}) Sie kümmern sich um Ihre Lobby, wir kümmern uns ums Land, das ist der Unterschied. ({16}) 18,9 Prozent. Schwarz-Gelb hat die Senkung des Rentenbeitragssatzes um weitere 0,7 Prozent auf 18,9 Prozent beschlossen und damit gegen die Forderung der rot-grünen Opposition geltendes Recht durchgesetzt. ({17}) So werden Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen entlastet, und auch die Rentner profitieren. Gleichzeitig haben wir einen Puffer in zweistelliger Milliardenhöhe in der Rentenkasse geschaffen. Auch dies ist in der jüngeren Geschichte dieses Landes beispiellos. 515 800. In Deutschland gibt es so viele Studienanfänger wie noch nie. 515 800 Neueinschreibungen konnten die deutschen Hochschulen im Jahr 2011 verzeichnen. Das ist eine Steigerung gegenüber rot-grünen Zeiten um 45 Prozent, trotz oder vielleicht auch gerade wegen Studiengebühren; auch das sage ich an dieser Stelle einmal. ({18}) Die Studiengebühren haben die Studienanfängerquote nicht verringert, sondern gestärkt. Die Universitäten sind besser ausgestattet. Deswegen ist es richtig - auch das sage ich an dieser Stelle -, dass unsere bayerischen Freunde dafür kämpfen, dass sie erhalten bleibt. ({19}) 50 Prozent. Schwarz-Gelb hat die Neuverschuldung trotz - trotz! - der Erleichterungen für die Menschen um 50 Prozent im Vergleich zu den Plänen Ihres großen Kanzlerkandidaten reduziert. Unser nächstes Ziel - auch dies werden wir erreichen - ist ein ausgeglichener Haushalt. Wir haben weitere Stärkungsmaßnahmen für die Bürger beschlossen, die aber von Ihnen blockiert werden. Wir sehen für die Bürger Entlastungen in Höhe von 6,1 Milliarden Euro vor. Dabei geht es nicht um üppige Steuersenkungen. Dabei geht es darum, dass die Menschen, die täglich für diese Erfolgszahlen arbeiten, ein Stück mehr davon haben. ({20}) Das gönnen Sie ihnen nicht. Sie gönnen ihnen die Beitragssenkungen bei der Rentenversicherung nicht. Sie gönnen ihnen auch die Abschaffung der Praxisgebühr nicht. ({21}) Sie gönnen ihnen die steuerlichen Entlastungen nicht. Sie blockieren alles. Sie blockieren auch die steuerlichen Ermäßigungen für den Bereich der energetischen Haussanierung. Frau Hinz, Sie haben hier erklärt, dass das auf Kosten der Länder geht. Das kann doch nicht ernsthaft Ihre Auffassung sein. Wir haben die Länder allein im Jahr 2013 um 10,5 Milliarden Euro entlastet. 2014 entlasten wir sie um weitere 12 Milliarden Euro. In den Jahren 2010 bis 2016 entlasten wir die Länder um 62 Milliarden Euro. Angesichts dessen ist es ein dreister Akt, sich hier hinzustellen und die Tatsache, dass Sie den Menschen die steuerlichen Entlastungen nicht gönnen, damit zu begründen, dass die Länder davon - angeblich - nichts haben. ({22}) Dr. Martin Lindner ({23}) Sie können nicht wirtschaften. Das zeigt sich in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen. Das ist aber eine völlig andere Geschichte. Das hat nichts damit zu tun, dass die Länder kein Geld haben. Sie sind unfähig, hauszuhalten. Das zeigen Sie überall dort, wo Sie Regierungsverantwortung tragen. ({24}) Sie blockieren das Steuerabkommen mit der Schweiz. Diese Information läuft gerade wieder über den Ticker. Sie blockieren alles, was Geld in die Kasse bringt. Sie ergehen sich stattdessen in Fantasien über noch mehr Steuern, die Sie einnehmen wollen. Schauen Sie sich doch Frankreich an! Das Aufkommen aus der dort erhobenen Milliardär- bzw. Millionärsteuer beträgt gerade einmal 230 Millionen Euro pro Jahr. Gleichzeitig wird die Industrie aus dem Land getrieben; das ist doch keine sinnvolle Politik. Das ist aber Ihre Blaupause für unser Land. Dies werden wir verhindern. ({25}) Diese Bundesregierung ist - da hat die Bundeskanzlerin recht - die beste Regierung seit der Wiedervereinigung. ({26}) Diese Bundesregierung wird auch im nächsten Jahr bestätigt werden. Wir werden weiterhin regieren, Sie werden weiterhin schwätzen. Dafür werden wir sorgen. Herzlichen Dank. ({27})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Tiefensee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, ich möchte meine Redezeit in dieser Haushaltsdebatte nutzen, um mich mit Ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Kurz eine Vorbemerkung: Herr Minister, mich stört massiv die Chuzpe, mit der Sie sich hier hinstellen und die Erfolge, die es in Deutschland - auch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten - gibt, für sich reklamieren. Warum die Entwicklung in Deutschland irgendetwas mit Ihrer Wirtschaftspolitik zu tun haben soll - Sie tun so, als ob das der Fall wäre -, erschließt sich mir nicht. Das nehmen wir so nicht hin. ({0}) Erster Punkt. Sie stellen sich hier hin und sagen, wir hätten eine niedrige Arbeitslosenquote und eine hohe Beschäftigungsrate zu verzeichnen. Das ist richtig. Aber by the way, der Bericht aus Ihrem Wirtschaftsministerium zeigt, dass wir von August bis Dezember eine Stagnation beim Aufwuchs der Beschäftigungsverhältnisse und eine leicht ansteigende Arbeitslosenquote zu verzeichnen haben. ({1}) Unabhängig davon nehme ich es nicht hin, dass Sie das Konjunkturpaket für Verkehr und Bau, das wir während der Zeit der schwarz-roten Koalition in meinem Haus zwischen Weihnachten 2008 und Neujahr 2009 konzipiert haben, auf diese Weise desavouieren. Sie reklamieren die Erfolge dieses Konjunkturpakets für sich und ruhen sich auf ihnen aus. Dieses Konjunkturpaket war die Grundlage dafür, dass der Mittelstand in den Jahren 2009, 2010 und 2011, also mitten in der Krise, überhaupt noch Aufträge bekommen hat. ({2}) Wenn Sie das nun desavouieren, dann kann ich nur feststellen, dass Sie weder dieses Instrument noch die Ursachen für den damaligen Aufschwung verstanden haben. ({3}) Zweiter Punkt. Sie stellen sich nun hier hin und reden davon, dass das industrielle Rückgrat Deutschlands wichtig sei und eine Erfolgsbasis darstelle. Herr Minister und Herr Lindner, ich habe bei Ihren Reden ganz genau zugehört und frage Sie nun: Welche Maßnahme können Sie hier am Pult verkünden, die dazu geführt hat, dass in den letzten zwei, drei Jahren die industrielle Basis gestärkt worden ist? Nennen Sie mir ein einziges Beispiel, und tun Sie nicht so, als ob das Ihr Erfolg wäre! ({4}) Der entscheidende Punkt ist, Herr Minister: Wenn man sich auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruht - wir wollen uns damit nicht zu lange aufhalten -, dann vergisst man, das zu tun, was notwendig ist, um Vorsorge für die kommenden Jahren zu treffen. Wir haben - die Frau Bundeskanzlerin hat es gestern leicht angedeutet - schwierige Jahre vor uns. Sie haben die Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt von 1,6 auf 1,0 Prozent senken müssen. Die Sachverständigen gehen sogar von nur 0,8 Prozent aus. Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und der Beschäftigungsquote habe ich bereits angedeutet. Das europäische Umfeld ist höchst kritisch. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie gegensteuern und konkrete Maßnahmen ergreifen und nicht einfach nur Zahlen vortragen, Herr Lindner, die wir auch den statistischen Jahrbüchern entnehmen können. Was tun Sie? Sie kürzen die Mittel für die GRW, also die Förderung für strukturschwache Gebiete. Prima! Genau diese Förderung ist für die industrielle Basis und den Mittelstand nicht zuletzt im Osten wichtig. Wenn Sie also im Rahmen des Haushalts wirklich fördern und ein Signal setzen wollen, sollten Sie die GRW-Mittel auf das alte Niveau aufstocken. Noch besser wäre es, wenn Sie die fehlende Investitionslage durch eine Erhöhung der GRW-Mittel kompensierten. Das tun Sie nicht. Wir können Ihnen das so nicht durchgehen lassen. ({5}) Wenn ich, sehr verehrter Herr Minister, Ihre Koalitionsvereinbarung richtig in Erinnerung habe, dann muss ich feststellen, dass darin etwas zur steuerlichen Forschungsförderung steht. Sinngemäß heißt es: Wir streben an, mit der steuerlichen Forschungsförderung Forschungsimpulse für die kleinen und mittleren Unternehmen auszulösen. - Was haben Sie geliefert? Wo ist die steuerliche Forschungsförderung, die wir dringend brauchen und die ja in Ihrer Koalitionsvereinbarung steht? Wie erklären Sie das dem Mittelstand? Wie sollen Innovationen im Mittelstand entstehen, wenn Sie dort nicht vorankommen? Ich komme zu einem weiteren Punkt. Wir brauchen die KfW, um mittelständische Unternehmen zu fördern. Was tun Sie stattdessen? Sie plündern das Geld und stecken es in die Schuldentilgung und damit in die allgemeine Haushaltssanierung. Damit minimieren Sie das, was an Investitionshebel für Mittelstand und Industrie nötig ist; denn Sie wissen, jeder eingesetzte Euro generiert einen Effekt von mindestens 6 bis 8 Euro. Wir können nicht hinnehmen und akzeptieren, dass Sie die KfW in dieser Weise plündern. Das ist der völlig falsche Weg. ({6}) Ich komme zur energetischen Gebäudesanierung. Das ist ein wunderschönes Beispiel für Ihre Politik. Ich möchte dazu coram publico - vor allen Dingen für unsere Zuschauer - Folgendes sagen: An einem Verhandlungstisch sitzen auf beiden Seiten Verhandlungspartner. Auf der einen Seite sitzen ein Finanzminister und ein Wirtschaftsminister, dem nichts anderes einfällt, als die energetische Gebäudesanierung auf dem Wege steuerlicher Förderung voranzubringen. Daher müssen Sie doch verstehen, dass die andere Seite sagt: Moment mal! Das kommt doch gar nicht bei denen an, bei denen es ankommen soll. - Warum ergreifen Sie nicht die gleichen Instrumente, die einzusetzen wir seit 2005 geübt haben, nämlich über die KfW Gelder auszureichen bzw. verbilligte Kredite an die entsprechenden Hausbanken zu geben, damit aus 1 Euro wieder 8 Euro werden und der Mittelstand endlich zu seinen Aufträgen kommt? ({7}) Bewegen Sie sich an der anderen Seite des Tisches, damit wir uns aufeinander zubewegen können! Erzählen Sie nicht das Märchen, dass die Länder sich dagegen sperren! Wir müssen die Förderung richtig machen, dann werden die Länder auch zustimmen. ({8}) Ich komme zur Vermögensabgabe. Sie kritisieren die Vermögensabgabe und wissen doch ganz genau, dass in unserem Lande in den letzten fünf, sechs Jahren das Vermögen - Sie wissen, dass es sich aus Geldvermögen, Immobilien und Wertpapieren zusammensetzt - von 4 Billionen Euro auf 10 Billionen Euro angestiegen ist. ({9}) Diese 10 Billionen Euro befinden sich zu 40 Prozent bei den oberen 10 Prozent. ({10}) Wieso ist es nicht vernünftig, diejenigen, die starke Schultern haben, heranzuziehen, damit wir zum Beispiel bei der Infrastruktur vorankommen? Wir stehen dafür, dass die starken Schultern in der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, der Bildungspolitik sowie auch bei ökologischen Fragen herangezogen und nicht die kleinen Leute belastet werden. ({11}) Ich komme zur Energiepolitik. Da fehlt ein Masterplan. Ich habe auch heute wieder nicht gehört, dass von diesem Pult aus etwas dazu gesagt wurde, wie wir die Länder untereinander, die Länder mit dem Bund und die Länder mit den Kommunen koordinieren wollen. Die Frau Bundeskanzlerin hat gestern von einer Art Koordinationsgremium gesprochen, das es geben wird. Es ist gut, dass wir das nach eineinhalb Jahren endlich bekommen. Da wird sich aber bis zum September 2013 vermutlich nichts tun. Wieso belasten Sie die Bürger - insbesondere die Privathaushalte und auch die von Ihnen so viel gelobten und angeblich von Ihnen unterstützten Mittelständler -, indem Sie bei den Offshorewindparks die Haftungsregelung so ausgestalten, dass über 1 Milliarde Euro von den privaten Stromkunden zu tragen ist, anstatt im Energiewirtschaftsgesetz dafür Sorge zu tragen, dass die Haftung anderweitig getragen wird? Das ist ein Teil der Infrastruktur. Sehen wir uns einen anderen Teil der Infrastruktur an. Ich schaue da meinen Nachfolger im Amt an. Wir müssen bei der Infrastruktur etwas tun. Auch das ist Mittelstandsförderung. Genauso wie Sie die KfW plündern, plündert der Finanzminister die Deutsche Bahn AG. Sie zahlt 525 Millionen Euro Zwangsdividende pro Jahr in den Jahren 2012, 2013 und 2014. 25 Millionen Euro von diesen 525 Millionen Euro gehen wieder in die Infrastruktur. 500 Millionen Euro werden zur Haushaltssanierung verwandt. Sie fehlen dann, um die Infrastruktur über der Erde voranzubringen. Das soll Wirtschaftspolitik sein? Ich kann darin überhaupt keine Wirtschaftspolitik erkennen, sondern nur ein weiteres Durchwurschteln. ({12}) Sehr verehrter Herr Minister, ich kann nur sagen: Ruhen Sie sich nicht auf dem aus, was andere für Sie vorbereitet haben. Legen Sie sich nicht in das gemachte Nest. Schlafen Sie nicht in einem Bett, das andere Ihnen aufgeschüttelt haben. Fangen Sie endlich an, zu arbeiten, und ergreifen Sie konkrete Maßnahmen, die dazu führen, dass Deutschland weiter so gut dasteht wie bisher. Der aktuelle Erfolg ist nicht Ihr Erfolg. Wir erwarten, dass Sie in den nächsten Monaten zumindest ein kleines Stückchen zum weiteren Erfolg beitragen. Das wäre Ihre Aufgabe. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort der Kollege Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Tiefensee, Sie müssten es eigentlich besser wissen. Sie waren so lange im Amt, dass man davon ausgehen kann, dass Sie es besser wissen. Diese Regierung schafft weit mehr Investitionsmöglichkeiten, als Sie jemals fertiggebracht haben. ({0}) Sie wissen auch, dass wir beispielsweise in den Etat des Bundesverkehrsministers zusätzlich 750 Millionen Euro eingestellt haben. ({1}) Das haben die Fraktionen beschlossen. Damit werden wir zum Beispiel im Straßenbau neue Akzente setzen. Das ist notwendig, das ist gut, und das werden wir so tun. ({2}) Deutschland geht es gut. Daher kann ich dieses Gejammer der Opposition nicht mehr hören. Es gibt jetzt halb so viele Arbeitslose als zu Ihrer Regierungszeit unter Gerhard Schröder; die hohe Arbeitslosigkeit hatten Sie mit zu verantworten. ({3}) Wir haben vor allen Dingen eines: Wir haben eine ganz stark reduzierte Jugendarbeitslosigkeit. Das ist für mich eine der großen Erfolgsstorys dieses Landes. ({4}) Schauen Sie sich doch die Zahlen an. In etlichen Regionen in Deutschland gibt es de facto keine Jugendarbeitslosigkeit. Ich kann die Zahlen für meinen eigenen Wahlkreis nennen. Wir haben 300 offene Stellen und noch 150 zu vermittelnde Jugendliche, die aber, wie die Agentur sagt, multiple Einstellungshemmnisse haben. Mit anderen Worten: Sie haben schlechte Deutschkenntnisse, sie können nicht richtig rechnen, nicht richtig schreiben und nicht richtig lesen. Das muss geändert werden. Diesen Jugendlichen muss geholfen werden. Dafür müssen Programme aufgelegt werden. Da sind wir dran; das ist richtig. Für mich ist eine der zentralen Aufgaben der Politik, jungen Menschen eine Perspektive zu geben. Das haben wir geschafft. Darauf können wir stolz sein. Alle haben dabei mitgeholfen. Ich bin froh, dass es gelungen ist, dass wir die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa haben. Wir haben außerdem die Möglichkeit, jungen Menschen aus anderen Ländern zu helfen. Ich habe in meinem Wahlkreis mit der Handwerkskammer ein Programm aufgelegt, mit dem wir junge Spanier aus Valencia zu uns holen. Wir geben ihnen zuerst in Spanien Deutschunterricht, anschließend werden sie in Deutschland ihre Lehre machen. Ich finde, das ist ein ganz hervorragendes Programm. Ich bin der Handwerkskammer dankbar, dass sie solche Programme auflegt. Das ist Zukunft und gelebte europäische Solidarität. Darüber können wir froh sein. ({5}) Allerdings ist nicht alles gut. Ein Punkt macht mir erhebliche Sorgen. Das sind die Energiepreise. ({6}) Sie entwickeln sich überall, und zwar weltweit, zu einem extrem wichtigen Standortfaktor. Bei uns hängen Wohlstand und Beschäftigung in weit größerem Umfang von der Leistung und Wettbewerbsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes ab als in vergleichbaren Ländern; denn wir sind nach wie vor ein gutes Industrieland. Wir sind ein Land mit Wertschöpfungsketten vom Grundstoff bis zum Hightechendprodukt. Genau das ist der Grund, warum gerade wir bei den Strompreisen für die Industrie besonders aufpassen müssen. Wir haben hier vor zwei, drei Tagen ein Gespräch mit italienischen Senatoren geführt. Sie sagten mir: Eure Probleme würden wir gerne haben. ({7}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben Deutschland gut geführt. Das hat dazu geführt, dass die Italiener uns heute beneiden und uns sagen, dass sie dankbar wären, wenn sie unsere Probleme hätten und nicht ihre. ({8}) Ich glaube, dass wir gerade bei den Strompreisen sehr aufpassen müssen. Ich ärgere mich darüber, Herr Kollege Heil, dass hier ständig behauptet wird, die EEGUmlage sei aufgrund der Freistellungen der energieintensiven Industrie so hoch. ({9}) Selbst wenn wir alle Ausnahmen strichen, wäre die Umlage 2013 immer noch rund 0,7 Cent höher als in diesem Jahr. Interessanterweise ist dieses Befreiungsgesetz unter Rot-Grün entstanden. Wer hat denn den Blödsinn gemacht und zum Beispiel die Verkehrsunternehmen befreit, obwohl sie nicht im internationalen Wettbewerb stehen? Ich weiß nicht, inwiefern die S-Bahn in Rostock im internationalen Wettbewerb steht. Das war Herr Trittin, das war Rot-Grün. Das ist aber Unfug, und den müssen wir ändern. Der Bundesumweltminister ist dabei. ({10}) Es waren Ihre ideologischen Vorstellungen, aufgrund derer Sie Straßenbahnen und ähnliche Verkehrsträger von der EEG-Umlage ausgenommen haben. ({11}) Das ist Quatsch. Sie gehören in das Gesetz zur Befreiung von der EEG-Umlage nicht hinein. Wir müssen dafür sorgen, dass sie den Strom genauso bezahlen wie alle anderen auch. Es kommt ein weiterer Punkt hinzu. In etlichen Ländern hat man mittlerweile erkannt, dass es im Boden Energiereserven gibt, die bis jetzt nicht genutzt werden, und zwar Schieferöl und Schiefergas. Die Amerikaner werden in kürzester Zeit unabhängig von Energieimporten sein. Im Gegenteil, Amerika wird sogar zum Energieexporteur. Die Amerikaner sind zurzeit dabei, ihre LNG-Terminals, die Liquefied-Natural-Gas-Terminals, die bis jetzt auf Import eingestellt sind, auf Export umzubauen. Das wird uns, meine Damen und Herren, Schwierigkeiten bereiten. ({12}) Machen wir uns nichts vor: In Amerika wird es mit ziemlich großer Sicherheit die niedrigsten Energiepreise auf der Welt geben. Auf diese Art wollen die Amerikaner ihr Land reindustrialisieren. ({13}) Das wird für uns zu einer neuen Wettbewerbsszenerie führen, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. ({14}) Wir müssen dafür sorgen, dass die Energiepreise in Deutschland wettbewerbsfähig genug sind, damit die Industrie in Deutschland nicht verloren geht. ({15}) Die geschätzten Schiefergasreserven, die wir in Deutschland haben, sollen für bis zu 23 Jahre ausreichen. Nebenbei: Das steht im Gegensatz zu dem, was der Club of Rome in der Vergangenheit schon alles behauptet hat, zum Beispiel, dass es nach 1990 keine fossilen Energien mehr geben wird. ({16}) Daran kann man wunderbar erkennen, dass all diese Prognosen in die völlig „richtige“ Richtung gehen. ({17}) Mir macht es Sorge, wenn in anderen Ländern die Energiepreise nach unten gedrückt werden. Die Amerikaner wollen die Kilowattstunde für unter 2 US-Dollarcent anbieten. Dann dürfte es für unsere besonders energieträchtigen Unternehmen nicht gerade einfach werden. Die Firma SGL Carbon zum Beispiel ist bereits abgewandert. Die Produktion ist in die USA verlegt worden. Die Firma hat ihren Sitz zwar nach wie vor in Wiesbaden; aber die Produktion wird nicht mehr in Deutschland stattfinden, weil das Unternehmen zu deutschen Strompreisen nicht mehr wettbewerbsfähig arbeiten kann. Vor diesem Hintergrund wird es für uns allerhöchste Zeit, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie wir verhindern, dass Wertschöpfungsketten in Deutschland durchbrochen werden. Wenn das nämlich erst einmal passiert ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann werden wir sehen, dass ganze Industriezweige abwandern. Dann wandern nämlich andere Unternehmen hinterher. ({18}) Was SGL Carbon angeht, muss man sagen: Was dieses Unternehmen macht, ist absolut Hightech. Es produziert Kohlenstofffasern, die zusammen mit Aluminium völlig neue Werkstoffe bilden. Ein A380 würde nicht fliegen, wenn es diese Werkstoffe nicht gäbe; er wäre nämlich schlicht zu schwer, wenn er konventionell hergestellt würde. Wir müssen darauf achten, dass solche Industriezweige nicht abwandern. ({19}) Deutschland ist nach wie vor eine Technologienation, und die wollen wir auch bleiben. Als ich am letzten Samstag ein paar Stunden Zeit hatte, habe ich mir Teile des Parteitags der Grünen angesehen. ({20}) Ich habe gedacht, ich bin auf einem fremden Stern; denn die Forderungen, die da aufgestellt wurden, sind bemerkenswert. Allein Ihre Forderung, den Hartz-IV-Satz um 50 Euro pro Monat anzuheben, kostet - die Bundesagentur für Arbeit hat das gerade ausgerechnet - 7,5 Milliarden Euro. ({21}) Außerdem haben Sie beschlossen, den Grundsatz des Forderns, den Sie selbst in die Hartz-IV-Gesetze eingebaut haben, abzuschaffen. Sie wollen die Herrschaften, die Hartz IV beziehen, von jeglichen Nachfragen der Bundesagentur freistellen. Ja, sagen Sie mal: Haben Sie denn aus Ihrer eigenen Historie überhaupt nichts gelernt? ({22}) Es kann doch nicht wahr sein, dass alles, was Sie 2004/ 2005 vernünftigerweise eingeführt haben, jetzt nicht mehr gelten soll. Die Vaterschaft für Hartz IV haben Sie komplett abgelegt. Machen Sie sich aber keine Sorgen: Wir werden sie für Sie übernehmen. Wir achten darauf, dass es hier weitergeht; denn nur so werden wir Deutschland über die Runden bringen. ({23}) Ich finde es unverschämt, dass Sie den Menschen die Möglichkeiten, die wir ihnen jetzt bieten können, vorenthalten wollen. Wir haben endlich die Chance, den Rentenversicherungsbeitragssatz zu senken. ({24}) Nach dem Gesetz müssen wir das tun. Also tun wir das auch. Wir ändern doch nicht das Gesetz, nur damit das Geld in der Kasse bleibt. Sie haben das nicht fertiggebracht. Eichel musste sogar Kassenkredite aufnehmen, um die Rente überhaupt auszahlen zu können. Wir hingegen sind in der Lage, den Rentenversicherungsbeitragssatz zu senken; darauf sind wir stolz. ({25}) Wir sind auch in der Lage, quasi den Krankenversicherungsbeitragssatz zu senken, und zwar aufgrund des Wegfalls der Praxisgebühr; auch das ist etwas Positives. ({26}) Allein diese beiden Maßnahmen entlasten die Bürgerinnen und Bürger zum 1. Januar um fast 10 Milliarden Euro. Das ist das beste Konjunkturprogramm. ({27}) Wir meinen: Das Geld ist in den Taschen der Bürger besser aufgehoben als in den Taschen des Staates. Vielen Dank. ({28})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erteile ich nun dem Kollegen Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Kanzlerin und ihr Herausforderer wie auch andere streiten sich hier über das Copyright einer vermeintlich besseren wirtschaftlichen Entwicklung. Das Entscheidende haben sie aber noch nicht gemerkt: dass die Wirtschaftspolitik, die hier betrieben worden ist, gescheitert ist. Der nächste Abschwung droht. Im nächsten Jahr will jedes vierte Unternehmen Arbeitsplätze abbauen. Ergreifen Sie Gegenmaßnahmen? Fehlanzeige. Das ist das eigentliche Thema, mit dem wir uns hier beschäftigen müssen. ({0}) Der Ausgangspunkt dieser gescheiterten Wirtschaftsentwicklung ist die von Ihnen, Herr Fuchs, so hoch gelobte Agenda 2010. Sie hat viele Missstände herbeigeführt. Der Ausgangspunkt der Agenda 2010 war die Kampfformel: Wir müssen die deutsche Wettbewerbsfähigkeit stärken. - Eingedenk dieses Leitsatzes haben damals SPD und Grüne in Tateinheit mit Union und FDP - Herr Fuchs hat diese Tateinheit gerade noch einmal erwähnt - die Löhne in Deutschland nach unten gedrückt, die Arbeitszeitflexibilität dramatisch nach oben getrieben und darüber hinaus - das ist der eigentliche Skandal - Millionen von Menschen in prekäre, in miese, in schlechte Jobs hineingetrieben. Das geben Sie heute als großes Beschäftigungswunder aus. Was hier veranstaltet wird, ist zynisch hoch drei. ({1}) Die Reallöhne sind in Deutschland seit 2000 um 5 Prozent gesunken. Gleichzeitig sind die Profite um 30 Prozent gestiegen. Wenn Sie meinen, Sie hätten eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik betrieben, dann heißt das, dass Sie meinen, dass es sinnvoll sei, den Menschen weniger Geld zu geben, aber die Profite nach oben zu treiben. Das ist Klientelpolitik von den anderen vier Fraktionen in diesem Hause. Wir unterstützen das nicht, wir wollen etwas anderes. ({2}) Sie loben, dass das Exportvolumen deutlich ansteigt. Mit der Strangulierung der deutschen Binnennachfrage, mit der Strangulierung der Löhne und der öffentlichen Ausgaben in Deutschland haben Sie dafür gesorgt, dass das Importvolumen längst nicht in dem Tempo gestiegen ist, wie es notwendig gewesen wäre. Im Resultat haben wir seit 2000 eine enorme Spreizung zwischen Exporten und Importen. Dies hat zu einem Außenhandelsüberschuss von mittlerweile 1,5 Billionen Euro geführt. Finanziert worden ist dieser Außenhandelsüberschuss immer durch die Verschuldung anderer Länder, vor allen Dingen der Euro-Länder. Sie wundern sich, dass wir eine Euro-Krise haben, und beschreiben immer die Verschuldungskrise in Europa. Der Ausgangspunkt für diese Verschuldungskrise liegt jedoch hier in Deutschland: in der Politik der Agenda 2010. Das muss umgekehrt werden. ({3}) Alle reden seit Jahren von der Euro-Krise und darüber, was man machen kann, um die Verschuldung abzubauen. Doch auch im Jahre 2012 hat Deutschland einen Außenhandelsüberschuss von rund 150 Milliarden Euro. ({4}) Das heißt im Klartext: Ihre Wirtschaftspolitik hat dafür gesorgt, dass sich das Ausland, vor allen Dingen die Länder der Euro-Zone, bei uns um weitere 150 Milliarden Euro verschuldet hat. Das hat Methode: Man sieht nicht das Loch im Eimer, man kippt einfach immer mehr Wasser in den Eimer und hofft, dass er irgendwann wieder voll wird. Das ist natürlich ein vollkommen untaugliches Unterfangen; denn das Loch muss gestopft werden - durch eine andere Wirtschaftspolitik in diesem Lande. Zentral ist, dass wir im Hinblick auf die binnenwirtschaftliche Entwicklung wieder zu einer ganz anderen Orientierung kommen. Wenn wir eine andere binnenwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland haben wollen, dann müssen wir zuallererst dafür sorgen, dass die Löhne in Deutschland wieder deutlich ansteigen. Es muss Schluss mit dem Lohndumping sein. Dafür müssen wir auch die Rahmenbedingungen für die Gewerkschaften verbessern, damit sie wieder vernünftige Lohnerhöhungen aushandeln können. Das muss das oberste Ziel sein. Dazu gehört natürlich vor allem, dass eine entscheidende Bremse für die Kampffähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit der deutschen Gewerkschaften gelockert wird, nämlich das Sanktionsregime von Hartz IV, das Sie, Herr Fuchs, eben noch so gelobt haben. Das Sanktionsregime von Hartz IV muss beendet werden, weil heutzutage Millionen von Menschen Angst vor Hartz IV und davor haben, in Arbeitslosigkeit zu rutschen. ({5}) Dies hat eine ungeheuer negative Wirkung auf zig Millionen Menschen, die heute noch arbeiten und die durch Sie in menschenunwürdige Verhältnisse getrieben werden. Das ist Zynismus und eine zynische Politik, die alle Parteien außer der Linken hier im Parlament betreiben und betrieben haben. Das muss beendet werden; wir kämpfen dafür. Vor allen Dingen das Sanktionsregime von Hartz IV muss weg. ({6}) Wenn Sie die Zeichen der Zeit erkennen würden, dann würden Sie wissen, dass es in Anbetracht der bedrohten weiteren wirtschaftlichen Entwicklung sehr viele Gegenmaßnahmen, auch Sofortmaßnahmen, gäbe, die man ergreifen könnte. ({7}) - Ich meine zum Beispiel die sofortige Wiedereinführung des Kurzarbeitergeldes. ({8}) - Es ist auch keine schlechte Idee, den Sozialismus einzuführen. Ich danke Ihnen für das Stichwort. ({9}) Ich will Sie jetzt aber mit solchen intellektuell anspruchsvollen Themen gar nicht weiter belasten, Herr Lindner. Das ist, glaube ich, eine Nummer zu groß für Sie. ({10}) Ich bleibe erst einmal bei ganz einfachen Dingen: Wir brauchen die Wiedereinführung des Kurzarbeitergeldes, damit die notwendigen Maßnahmen sofort bereitstehen, wenn im nächsten Jahr die konjunkturellen Gefahren deutlich zunehmen und Arbeitsplätze verlustig gehen könnten. Über diese Maßnahme hinaus gibt es natürlich die Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen für die Löhne wieder zu verändern, sodass es zu Lohnsteigerungen kommt. ({11}) Daneben besteht die dringende Notwendigkeit, endlich auch den Kurs der öffentlichen Ausgaben zu ändern. Wir brauchen einen sozial-ökologischen Umbau und wieder viel mehr Ausgaben für Erziehung und Bildung. Hier liegt vieles im Argen. In meinem Bundesland hat die grün-rote Landesregierung, die mit vielen Vorschusslorbeeren gestartet ist, als eine ihrer ersten Aktionen 6 000 Lehrerstellen gestrichen. Das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die Finanzausstattung der öffentlichen Hände zu schlecht ist. Wir müssen deshalb eine Millionärssteuer einführen, damit wir mehr für Bildung tun und den sozial-ökologischen Umbau voranbringen können. Diese entscheidenden Punkte sind momentan notwendig. Sie werden bei dieser Regierung aber vollkommen ausgeblendet. Wir treten dafür ein! Sozial-ökologischer Umbau und höhere Löhne: Das sind die entscheidenden Punkte, die wir nach vorne treiben müssen. Danke schön. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich mache nur der Übersichtlichkeit halber darauf aufmerksam, dass ein konkreter Antrag zur Einführung des Sozialismus dem Präsidium im Rahmen der Haushaltsberatungen nicht vorliegt. Darüber werden wir heute also auch nicht abstimmen können. ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei manchem, was man heute Morgen gehört hat - Einführung des Sozialismus -, kann einem in der Tat angst und bange werden. Was sind die Tatsachen? Kollege Lindner hat sie vorhin anhand der Zahlen und Fakten bereits hervorragend dargestellt. Wir konsolidieren. Deutschland geht in Rich25380 tung Reduktion der Staatsverschuldung. Der Anteil der Verschuldung am Bruttoinlandsprodukt wird zurückgehen, weil das Wachstum höher als die Verschuldung ist und weil wir in diesem und auch im letzten Jahr gesamtwirtschaftlich bereits mehr oder weniger die schwarze Null geschrieben haben. Wenn Sie sich den Rest Europas anschauen, dann sehen Sie, dass es dort ganz anders aussieht. Insofern stimmt die Richtung hier eindeutig. Wir machen den Einstieg in den Schuldenabbau. Was passiert aber in den Ländern, wo Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von Grün und Rot, Verantwortung tragen? Frau Kraft in Nordrhein-Westfalen ist die Schuldenweltmeisterin. Dort, wo Sie die Regierung übernommen haben, gibt es nichts als neue Schulden. ({0}) - Herr Krischer und Herr Lindner, jetzt komme ich zu Ihnen. Schauen wir einmal nach Baden-Württemberg: Dort kann man lernen, was Grün statt Sparen heißt. ({1}) Das kann man dort besichtigen. Die Vorgängerregierung hat zweimal einen Haushalt ohne Neuverschuldung vorgelegt. ({2}) Die Vorgängerregierung hat dafür gesorgt, dass wir - wie auch Bayern - die Schulden hätten abbauen können. Und was macht die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg? Zweimal war der Haushalt ausgeglichen; auch im letzten Jahr war er ausgeglichen. Jetzt sagen Sie: Wir übernehmen einen Haushalt, der ausgeglichen ist, und deshalb müssen wir uns die nächsten acht Jahre verschulden und können die Neuverschuldung erst 2020 auf null bringen. - Das ist Grün statt Sparen, und zwar dort, wo Sie Verantwortung tragen. ({3}) Reden Sie also bitte nicht von Konsolidierung und Schuldenabbau; denn das glaubt Ihnen sowieso kein Mensch. Zu Forschung und Entwicklung. In Deutschland wurde in der Tat noch nie so viel wie jetzt für Forschung, Entwicklung und Bildung ausgegeben. ({4}) Herr Tiefensee, Sie haben vorhin gefragt, wo die industrielle Basis gestärkt wird. Das kann ich Ihnen sagen. Sie wissen es eigentlich; wahrscheinlich war das eine rhetorische Frage. In dieser Legislaturperiode haben wir beispielsweise die Mittel für das ZIM-Programm - das ist das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand - mit 500 Millionen Euro verstetigt. Das kommt direkt an und stärkt die industrielle Basis, weil es die mittelständischen Unternehmen in die Lage versetzt, ihre Ideen sowie ihre Forschung und Entwicklungen unbürokratisch auf die Piste zu bringen. Das stärkt die industrielle Basis in diesem Land. Seit 2005, als wir die Regierung übernommen haben, haben wir den Forschungsetat des Bundes um über 50 Prozent auf fast 14 Milliarden Euro im nächsten Jahr erhöht. Das stärkt die industrielle Basis. Nach dem, was wir bereits getan haben, hören wir aber nicht auf, sondern wir machen in diesem Haushalt neue wichtige Schritte voran. Wir stärken beispielsweise die Gründungen und das Wagniskapital. In diesem Haushalt wird ein Investitionszuschuss für Wagniskapital, insbesondere zur Verbesserung der Finanzsituation junger innovativer Unternehmen, neu eingeführt. In den kommenden vier Jahren werden rund 150 Millionen Euro dafür zur Verfügung gestellt. Das ist Säen zur rechten Zeit, damit wir auch in Zukunft Wachstum und Arbeitsplätze ernten können. Jetzt möchte ich die Gelegenheit nutzen - dazu ist heute schon sehr viel gesagt worden -, noch das eine oder andere zum Thema Arbeitsmarkt zu sagen. Wenn man Sie hört, Herr Claus, Herr Schlecht - und wie Sie alle heißen -, dann kann einem wirklich angst und bange werden. Da meint man, wir wären hier in einem Land des Prekariats und die Leute würden am Straßenrand sitzen und verhungern. Diesen Eindruck kann man wirklich gewinnen. Aber das Gegenteil ist der Fall - der Kollege Lindner hat das angesprochen -: 41,6 Millionen Menschen sind in Lohn und Brot und nicht in Not. ({5}) Vor allem sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind entstanden, keine Teilzeitbeschäftigungen und keine nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. ({6}) Das ist doch die Wahrheit. Die Menschen, die in Lohn und Brot sind, zahlen in diesem und im nächsten Jahr so viele Steuern wie noch nie. Wir haben die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte, rund 260 Milliarden Euro, und die Kassen der Sozialversicherung sind voll. Das ist beschäftigungsorientierte Lohnpolitik, wie wir sie uns vorstellen. Das führt dazu, dass wir nicht nur die höchste Beschäftigung haben, sondern dass auch die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Sie geht insbesondere auch dort zurück, wo sie problematisch ist. Kollege Fuchs hat die Jugend angesprochen. Ich möchte die Langzeitarbeitslosen ansprechen. Es ist gelungen, die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 1,7 Millionen auf 1 Million zu reduzieren. Das ist noch immer 1 Million zu viel - nicht dass wir uns falsch verstehen -, aber die Richtung stimmt. Das sind 700 000 Langzeitarbeitslose weniger, als es in der Vergangenheit waren. ({7}) Was schlagen Sie vor? Die Grünen haben gerade beschlossen, den Regelsatz für Hartz IV von 374 auf 420 Euro anzuheben. Was bedeutet dies? Das bedeutet einen Anstieg der Neuverschuldung um 15 Prozent im nächsten Jahr. Das wäre die Wirkung Ihres Vorschlags, wenn wir ihn umsetzen würden. Was wollen Sie noch? Sie wollen die Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger abschaffen, nicht nur die Grünen, sondern auch die Linken und die ganz Linken. ({8}) Das ist aber nicht nur populistisch. Nein, das ist auch sachlich falsch. Ich sage es einmal ganz pointiert: Es wäre asozial, sie abzuschaffen. ({9}) Warum wäre das asozial? Die Zahl der Bezieher von Grundsicherung beträgt heute statt 5 Millionen 4,3 Millionen Menschen, also 700 000 weniger, als das noch 2008 der Fall war. Die Betreuungsintensität hat zugenommen. Das ist genau das, was wir in den letzten Jahren gepredigt haben. Die Arbeitsuchenden werden nicht verwaltet, sondern sie werden wirklich betreut und aktiviert. Es werden Eingliederungsvereinbarungen geschlossen. Weiterbildung wird angeboten, und diese Angebote werden wahrgenommen. Die Zahl der Jobangebote für Arbeitsuchende nimmt zu. Das heißt, es gibt Auswahlmöglichkeiten. Es gibt ein wirkliches Kümmern - Fordern und Fördern - um die Arbeitslosen. Sie werden durch die Fallmanager gefordert. Was würde es bedeuten, wenn wir jetzt die Sanktionen abschafften? Was ist der Grund für diese Sanktionen? Sie sind im Wesentlichen auf Meldeversäumnisse zurückzuführen. Das kann man auch andersherum interpretieren. Wenn ich wirklich eine Arbeit suche, dann bin ich bereit, zu arbeiten, und dann melde ich mich auch. Bei einigen ist es aber vielleicht so: Ich will gar keine Arbeit und suche auch gar keine Arbeit. Deshalb melde ich mich nicht oder versäume es, mich zu melden. - Es ist vorhin schon angesprochen worden: Vielleicht hat der eine oder andere Angst vor der Arbeit, die ihm angeboten wird. Genau deshalb ist das asozial. Die Mehrheit der Menschen sucht nämlich Arbeit. Diese Menschen werden dann in einen Topf mit denen geworfen, die keine Arbeit wollen. Deshalb wäre es grundfalsch, dieses Verfahren jetzt zu ändern. ({10}) Das wäre ein Schlag ins Gesicht derer, die ernsthaft nach Arbeit suchen. Es ist ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die dafür sorgen, dass die Gelder für die Hartz-IV-Empfänger zur Verfügung gestellt werden. Hartz-IV-Leistungen sind nämlich für diejenigen gedacht, die ihre Arbeitsleistung zur Verfügung stellen und sich nicht nur alimentieren lassen. Insofern wäre das das völlig falsche Signal. Das werden wir nicht mitmachen. Sie reden immer von der Stärkung des Binnenkonsums und des Binnenmarktes. Wir haben durch unsere beschäftigungsorientierte Lohnpolitik eine Lohnsteigerung von 3,7 Prozent der Bruttolöhne in diesem Jahr und von 3,2 Prozent im nächsten Jahr erreicht. Wir wollen, dass diese Bruttolöhne beim Arbeitnehmer und beim Rentner auch ankommen. Was machen Sie? Sie blockieren im Bundesrat das Gesetz zur Abschaffung der kalten Progression und zur Erhöhung des Grundfreibetrages. Damit verhindern Sie, dass diese Lohnsteigerungen beim Arbeitnehmer und Verbesserungen beim Leistungsempfänger ankommen. Damit machen Sie das Gegenteil dessen, was Sie hier immer im Munde führen. Ich möchte am Ende ganz kurz auf das Thema Vermögensteuer eingehen. Die Kapitalflucht ist hier schon angesprochen worden, auch die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, was die Grünen fordern. ({11}) Was heißt das? Sie tun im Rahmen einer Neidkampagne so - das Stichwort „Millionäre“ ist schon gefallen; es wird auch immer von Jachten gesprochen -, als ginge es darum, diese Menschen zu treffen. In Wahrheit würden Sie mit den von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen aber das Herz der deutschen Wirtschaft treffen, den Mittelstand. 80 Prozent der Personengesellschaften wären von einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Einführung der Vermögensteuer betroffen. Das heißt, Ihre Steuerpläne sind ein Angriff auf den deutschen Mittelstand, auf den Träger von Wachstum und Beschäftigung. Das werden wir so nicht mitmachen. Angesichts dessen, was Grün und Rot hier planen, hat der Satz von Heine: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“ eine ganz neue und andere Bedeutung. ({12}) Wir werden dafür sorgen, dass die Deutschen auch weiterhin ruhig schlafen können und dass es mit Wachstum, Konsolidierung und Beschäftigung in diesem Land weiter vorangeht. Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer kurzen Intervention erhält der Kollege Michael Schlecht das Wort. ({0})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Pfeiffer, ich will Sie nur darauf hinweisen, dass Sie von einer vollkommen falschen Faktenlage zur Beschäftigung und vor allen Dingen zu der mittlerweile einsetzenden Prekarisierung ausgehen. Wir haben in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2011 in der Tat einen Aufwuchs von 4,1 Millionen Arbeitsplätzen erlebt. Aber diese 4,1 Millionen Arbeits25382 plätze sind praktisch samt und sonders sogenannte Bad Jobs. Das sind Jobs von Leiharbeitern bis hin zu Soloselbstständigen. Sie haben in der gleichen Zeit, als wir einen Aufwuchs von etwas mehr als 4 Millionen Arbeitsplätzen hatten, die, wie gesagt, deutlich minderer Qualität sind, um das noch höflich zu formulieren, 2,3 Millionen Vollzeitarbeitsplätze vernichtet, sodass unter dem Strich ein Plus von 1,8 Millionen an zusätzlichen Arbeitsplätzen übrigbleibt. Das sind aber schlechte Arbeitsplätze: Leiharbeit, Soloselbstständige, Werkverträge und dergleichen mehr. Das sind häufig Jobs, von denen man nicht leben und nicht sterben kann. Die guten Jobs - ich wiederhole die Zahl: 2,3 Millionen Vollzeitarbeitsplätze - sind vernichtet worden. - Danke schön. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schlecht, durch ständiges Wiederholen werden falsche Zahlen auch nicht richtig. Sie haben sich gerade schon selber korrigiert. Auf der einen Seite sagen Sie, dass sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze weggefallen sind. Auf der anderen Seite konstatieren Sie, dass es einen Zuwachs von fast 2 Millionen Arbeitsplätzen gibt. ({0}) In der Tat: Wir haben 2 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mehr als vorher. Das ist das Ergebnis der Politik. Differenzieren wir doch einmal: Die Beschäftigungsquote hat zugenommen. Sie umfasst aber alle Beschäftigten. Es gibt viele Menschen, ({1}) die beispielsweise noch in der Familienphase sind oder ein gewisses Alter haben. Die Alterserwerbstätigkeit zum Beispiel ist dramatisch - im positiven Sinne - ausgeweitet worden. Wie Sie wissen, haben im Jahr 2000 in Deutschland gerade einmal 38 Prozent der Menschen im Alter zwischen 55 und 64 Jahre gearbeitet. Heute sind es 60 Prozent. Das sind 22 Prozentpunkte mehr. Das heißt, wir schöpfen das Arbeitskräftepotenzial besser und mehr aus. ({2}) Zu diesem Ausschöpfen gehört natürlich auch die Teilzeit. Es gibt Menschen, die nur teilzeitbeschäftigt sein wollen. Deshalb ist die Zahl dieser Arbeitsplätze ausgeweitet worden. Insofern vergleichen Sie Äpfel mit Birnen. Sie haben die richtige Zahl genannt. Insofern haben Sie sich schon selber entsprechend korrigiert. Es gibt nicht 27 Millionen, sondern 29 Millionen sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze. Das sind die Zahlen und Fakten. Nur wenn wir diese Beschäftigungsquote weiter erhöhen und auf über 70 Prozent ausweiten - das sind auch die europäischen Ziele; manche skandinavischen Länder haben bereits 75 Prozent erreicht -, haben wir die Chance, bis 2025 dem Defizit, das sich aus der Demografie ergibt und das schon angesprochen wurde, zu begegnen. Das ist nicht mehr lange hin; diese Zeit werden hoffentlich alle von uns noch erleben. In zwölf Jahren fehlen in diesem Land 6 Millionen Fachkräfte. Deshalb müssen wir alle mobilisieren: die Menschen, die noch in der Familienphase sind, die Älteren und auch die Mühseligen und Beladenen. Ich habe es vorhin angesprochen: Wir können es uns nicht mehr leisten, ({3}) dass jemand zurückbleibt und alimentiert werden muss. Es müssen vielmehr alle aktiviert werden, damit wir den Herausforderungen im Hinblick auf die Fachkräfte auch in Zukunft entsprechend begegnen können. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kein Redner der Koalition hat es ausgelassen, den grünen Parteitag zu erwähnen. Das muss eine beeindruckende Veranstaltung gewesen sein. ({0}) Damit haben wir das Hauptziel schon erreicht. Unsere Botschaften sind bei Ihnen in der richtigen Art und Weise angekommen. ({1}) Herr Pfeiffer, im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit Menschen in unserem Land, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, den Begriff „asozial“ zu gebrauchen, finde ich skandalös. ({2}) Dafür müsste es eine Entschuldigung geben. Sie hätten sich beinahe versprochen. Sie hätten fast „Not und Brot“ gesagt. Genau das trifft es nämlich. Wenn etwas asozial in unserem Land ist, dann ist es die Tatsache, dass Menschen Vollzeit arbeiten und von dem Geld, das sie dafür bekommen, nicht leben können und aufstocken müssen. Das gehört durch einen gesetzlichen Mindestlohn abgestellt. ({3}) Meine Damen und Herren, auch wenn man es nicht glauben mag und wahrscheinlich der Großteil der deutschen Öffentlichkeit das noch nicht mitbekommen hat: Herr Rösler und das Wirtschaftsministerium sind in Deutschland für die Energiewende zuständig. Bei einem Blick in den Wirtschaftsetat, den Einzelplan 09, finden sich viele schöne Dinge wie Luft- und Raumfahrt und maritime Wirtschaft. Aber eines finden Sie dort überhaupt nicht: Die Energiewende findet in diesem Etat nicht statt. ({4}) Das ist ein Skandal. Wenn sein Kabinettskollege Altmaier sagt, dass das das größte industriepolitische Projekt in diesem Land ist, dann hat dieser Minister versagt, weil es im Etat nicht vorkommt. ({5}) Herr Lämmel, das wird nirgendwo deutlicher als bei der Energieeffizienz. Wir kommen bei der Energieeffizienz nicht voran. Und was macht diese Bundesregierung? Sie verkündet, Deutschland solle Energieeffizienzweltmeister werden. Gleichzeitig blockiert Deutschland in Brüssel alles, was mit dem Thema Energieeffizienz zu tun hat. ({6}) Nun hat Brüssel endlich eine Richtlinie verabschiedet. Das Einzige, was das Wirtschaftsministerium tut, ist, daran zu arbeiten, wie man diese Richtlinie wieder umgehen kann. Das ist ein Skandal. ({7}) Ich sage: Wir brauchen einen Energieeffizienzfonds, der uns beim Thema Energieeffizienz endlich voranbringt. ({8}) Ich komme zum Netzausbau. Dafür ist - man glaubt es nicht - Herr Rösler zuständig. Aber was haben wir von Herrn Rösler zum Thema Netzausbau in den letzten Jahren gehört? Das Einzige, was in der breiten Öffentlichkeit wirklich angekommen ist, war, dass er gegen Naturschutzverbände gepöbelt hat, um Stammtische zu bedienen, und behauptet hat, Naturschutz würde den Netzausbau verhindern. Aber hier in diesem Hause musste Herr Hintze - er sitzt dort hinten - zugestehen, dass die Bundesregierung all das, was der Minister fordert, nämlich die Änderung der Naturschutzgesetzgebung, nicht machen wird. Nur Sprechblasen, nur Stammtischparolen - das ist das, was wir von Herrn Rösler zum Thema Netzausbau hören. ({9}) Kommen wir zu dem Thema Offshore. Es ist seit Jahren allen, die sich damit auseinandersetzen, klar, dass wir bei der Netzanbindung der Offshorewindparks auf ein riesiges Problem zusteuern. Was macht dieser Minister? Er macht jahrelang überhaupt nichts. Er lässt das Problem auflaufen, und jetzt sind Schäden von mindestens 1 Milliarde Euro entstanden, für die Schadensersatzzahlungen geleistet werden müssen. Man verständigt sich darauf, dass wieder die Verbraucher zahlen sollen. Wieder sind es die Privatverbraucher, die alleine zahlen, die Industrie ist komplett von der Zahlung ausgenommen. Das ist ein Skandal. Das können Sie so nicht machen. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Krischer, darf der Kollege Pfeiffer Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wollte keine Zwischenfrage stellen, sondern eine Kurzintervention machen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ja, aber der Zweck unserer Tagesordnung besteht nicht darin, dass sich die Redner anschließend jeweils noch einmal durch Kurzinterventionen zusätzliche Redezeit verschaffen. ({0}) - Ist ja in Ordnung. Das kann durch eine Zwischenfrage geklärt werden.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann versuche ich, das, was ich sagen wollte, in eine Frage zu kleiden. Kollege Krischer, gehe ich recht in der Annahme, dass wir hier keine falschen Behauptungen oder Feststellungen machen wollen? Sind Sie mit mir der Meinung, dass ich in meiner Rede vorhin keinen Menschen als asozial bezeichnet habe, sondern dass ich es als asozial, als unsozial bezeichnet habe, dass Sie die Regelung, die Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger vorsieht, wenn sie die Meldepflicht verletzen, zurücknehmen wollen? Denn damit erreichen wir das Gegenteil von dem, was wir wollen. Ich glaube, ich habe ausführlich beschrieben, was ich damit meinte. Insofern will ich klarstellen, dass ich hier niemanden als asozial bezeichnet habe, sondern das, was Sie vorschlagen, als asozial und als unsozial kritisiert habe. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Pfeiffer, ich wäre mit dem Benutzen des Begriffs „asozial“ vorsichtig, gerade in diesem Raum und gerade im Zusammenhang mit Menschen, die wirklich nicht auf der Sonnenseite der Gesellschaft stehen. ({0}) In diesen Zusammenhang haben Sie das gestellt. ({1}) Bei mir ist es so angekommen, und das ist nicht in Ordnung. Sie sollten mit Ihrer Wortwahl vorsichtiger sein. Das sollten Sie einfach üben. ({2}) Sie sollten lernen, ein Vokabular zu benutzen, das Ihrem Anspruch von Bürgerlichkeit entspricht. ({3}) - Dass sich jemand von Ihnen hier hinstellt und solche Worte benutzt, finde ich nicht in Ordnung. Da sollten Sie sich an die eigene Nase fassen. ({4}) Ich will zu einem Punkt kommen, den wir nächste Woche hier im Plenum beraten werden. Eben war viel von Sozialismus und Planwirtschaft die Rede. Der Wirtschaftsminister dieser Bundesregierung plant etwas, was nichts anderes als Sozialismus und Planwirtschaft ist: ein - man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen „Kraftwerkszwangsbetriebsgesetz“. Kraftwerksbetreiber in Deutschland sollen zur Aufrechterhaltung des Betriebs ihres Kraftwerks verpflichtet werden, wenn die Bundesnetzagentur bzw. die Bundesregierung das will. Meine Damen und Herren, was anderes als Sozialismus und Planwirtschaft kann es sein, wenn man ein solches Gesetz macht? ({5}) Das kann nicht sein. Wir schlagen etwas anderes vor. Wir brauchen marktwirtschaftliche Instrumente in der Energiewirtschaft. Wir müssen dafür sorgen, dass die Schaffung von Kapazitätsmärkten endlich vorankommt. Ich könnte mir eigentlich vorstellen: Wenn man ein solches Gesetz macht, dann müsste das bei den Linken zu Verzückungen führen. Es müsste sie verzücken, dass der Staat anordnen kann, dass ein Kraftwerk weiter betrieben wird. Diese Regierung toppt es ja noch. Ich habe vor drei oder vier Tagen in einer Tickermeldung gelesen, dass man jetzt sogar den Neubau von Kraftwerken anordnen will. Das werde in der Bundesregierung überlegt. Hier vorne sitzt die Kollegin Gesine Lötzsch. Sie befindet sich auf der Suche nach dem Kommunismus. Sie wird bei Herrn Rösler fündig; denn genau das, was für die Energiewirtschaft geplant wird, ist Sozialismus, wie ihn die Linke offensichtlich anstrebt. ({6}) Vor diesem Hintergrund möchte ich zu einem weiteren energiepolitischen Punkt kommen. Dieser Minister will das EEG quasi abschaffen; auch das ist heute schon ein paarmal angesprochen worden. Er will es nicht reformieren, sondern er will ein Quotenmodell einführen. Gerade zu dem Zeitpunkt, wo in Großbritannien das Quotenmodell gescheitert ist und die konservative britische Regierung es abschaffen will, will dieser Wirtschaftsminister es in Deutschland einführen. Diese Woche habe ich auf der ersten Seite der Aachener Nachrichten gelesen, dass das von Herrn Rösler verwendete Wort „Anschlussverwendung“ noch im Rennen ist als mögliches Unwort des Jahres 2012. Meine Damen und Herren, „Unwort des Jahres“, das passt zu diesem Wirtschaftsminister. Ich danke Ihnen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich wollte eigentlich mit ein paar Worten zum Haushalt anfangen. Ich muss aber zunächst auf das eingehen, was Sie, Herr Krischer, hier gerade abgeliefert haben. Es ist nämlich ein Skandal - um eines Ihrer Worte zu gebrauchen -, was Sie hier tun. Sie haben es sich einfach gemacht: Sie verunglimpfen das, was der Kollege vorher gesagt hat. Ich unterstelle Ihnen einmal, dass Sie es intellektuell durchaus begriffen haben. Aber Sie schaffen sich eine Basis, um leichter dagegen anargumentieren zu können, und das ist, mit Verlaub, extrem unanständig. ({0}) Kollege Pfeiffer hat ganz deutlich formuliert, dass er nicht Menschen, sondern das, was Sie als Regelungen vorschlagen, gemeint hat. Er hat nicht einmal gesagt, er habe Sie gemeint. Auch das könnte man vielleicht noch glauben; das wäre in diesem Zusammenhang ja nicht ganz abwegig. Er hat klar gesagt, er habe Regelungen gemeint, zu denen Sie sagen: Derjenige, der in Zukunft Hartz IV bekommt, soll sich dem Arbeitsmarkt nicht mehr zwingend zur Verfügung stellen. - Sie wollen einen falschen Weg einschlagen. Das wird man im Deutschen Bundestag doch wohl noch sagen dürfen. ({1}) Wenn Sie wenigstens nicht so weitergemacht hätten. Sie behaupten falsche Dinge, nur weil es gerade in Ihre Argumentation passt. Sie sagen: Offensive Energiepolitik findet mit diesem Etat nicht statt. - Das ist falsch. Das Ganze wird allerdings von einem Jahrzehnte währenden Subventionstatbestand überlagert, nämlich der Steinkohlethematik. Sie hätten sagen können: Lassen Sie uns alle miteinander aufpassen, dass uns dergleichen mit den erneuerbaren Energien nicht noch einmal passiert. Das wäre einmal ein richtiges Wort von Ihnen gewesen. Wir sollten uns Probleme dieses Ausmaßes nicht noch einmal einhandeln. Sie behaupten, offensive Energiepolitik fände nicht statt, wohl wissend, dass sich die Finanzierung der Energiewende über mehrere Etats verteilt. Beispielsweise sind die Mittel für die Umsetzung des EEG insbesondere im Einzelplan des Umweltministeriums veranschlagt. Das alles wissen Sie, und trotzdem stellen Sie die Dinge hier in einen falschen Zusammenhang. Ich halte das für ausgesprochen unredlich. Ich würde mir wünschen, dass Sie das in Zukunft unterlassen. Ich hatte mehrfach genau dieses Problem mit Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Es ging sogar so weit, dass ich einmal jemanden abmahnen musste, weil sie explizit das Gleiche gemacht hat, nämlich etwas Falsches behauptet und dann dagegen argumentiert hat. Das sollte man im Umgang miteinander nicht tun. Das sagt jemand, der durchaus etwas hemdsärmelig ist. Es ist nicht so, dass ich nichts ertragen kann. Aber es wäre schön, bei der Wahrheit zu bleiben. ({2}) Lassen Sie mich, weil es schon angemahnt wurde, jetzt über das Thema reden. Der Etat des BMWi beträgt 6,1 Milliarden Euro. Überschlägig sind es 2 Prozent des Gesamthaushaltes. Er ist klein, aber oho. Das mag vorkommen. Aber, meine Damen und Herren, die Schwerpunkte sind spannend. Die Innovationsförderung ist mit 2,3 Milliarden Euro einer der Schwerpunkte im Haushaltsansatz des BMWi. Darunter fällt das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, kurz: ZIM, das auf 510 Millionen Euro aufgestockt werden soll. Ich habe mir erlaubt, die IHK Schwaben zu bitten, dieses Programm zu evaluieren. Dies ist ganz spannend. Ich kann Ihnen nur empfehlen, vor Ort zu schauen, was wir damit organisieren und provozieren. 40 Prozent der 200 Unternehmen, die an dieser Umfrage, die die IHK organisiert hat, teilgenommen haben, hätten ihr Innovationsprojekt ohne das ZIM nicht bewerkstelligt. 37 Prozent verfügen nun durch das ZIM über Kontakte zu anderen Unternehmen des Kammergebietes, welche zuvor nicht bestanden. Fast jedes fünfte Unternehmen hat auf Grundlage des ZIM Kontakte zu Universitäten, zu Hochschulen und zu diversen Forschungseinrichtungen geknüpft. 95 Prozent der neu entstandenen Jobs sollen über den Programmlauf hinaus beibehalten werden. Und 96 Prozent der Unternehmen haben angegeben, sie würden sich wieder an einem solchen Innovationsprojekt beteiligen. Das ist beeindruckend. Es hat mich nicht nur gefreut, dass die Umfrage gemacht wurde, sondern auch, dass sich die Wirkung dieses Programmes bestätigt hat. Das zeigt, dass wir einerseits zu Recht auf Innovation und andererseits zu Recht auf den Mittelstand setzen. Dem Mittelstand ist ein spezielles Kapitel im Haushalt gewidmet unter dem Motto „Gründen, Wachsen, Investieren“. Es wird mit 874 Millionen Euro dotiert. Ich möchte noch einmal sagen, weil wir heute schon viel über die Konjunktur gehört haben: Wir alle wissen - jedenfalls unsere Seite; bei Ihnen bin ich mir nicht immer sicher -, dass wir die robuste konjunkturelle Lage dieses Landes dem deutschen Mittelstand und den produktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verdanken. ({3}) Wir haben viele negative Dinge zur konjunkturellen Lage gehört. Dies ist offenbar dem Wahlkampf geschuldet. Wir übersehen überhaupt nicht, dass das europäische Umfeld natürlich Auswirkungen darauf hat, was sich in Deutschland abspielt, Herr Schlecht. Spannend fand ich Ihre Abgrenzung nach Good and Bad Jobs. Ich verstehe nicht, wie Sie diese Abgrenzung machen. So wie Sie es beschreiben, kann es nicht sein. Selbst wenn es so wäre, hätten wir keine Überschusse in den Sozialkassen. Das wäre doch nicht so, wenn dies alles Jobs wären, die prekär bzw. jenseits der Sozialversicherungspflicht sind. Das glaube ich nicht. Das ist angesichts der Zahlen unrealistisch. Deshalb bitte ich auch Sie, keine Unwahrheiten zu verbreiten. ({4}) Natürlich spielt das europäische Umfeld eine Rolle. Man kann sich die Frage stellen: Wie geht man damit um? Die Linke hat angedeutet, die deutschen Exporte seien daran schuld. Ich weiß nicht, was Sie tun wollen. Wollen Sie dafür Sorge tragen, dass wir weniger exportieren? ({5}) Bei einer exportorientierten Nation bedeutet das im Umkehrschluss den Abbau von Jobs. Das halte ich für ausgesprochen schlecht, Herr Schlecht. Im Übrigen finde ich, dass die Themen, die hier sonst angesprochen werden - Euro-Bonds, Bankenunion, die grüne Altschuldentilgung -, sicher kein Beitrag dazu sind, mit der Schuldenkrise richtig umzugehen. Diese Vorschläge senken die Zinsen in den Schuldnerländern. Damit verursachen wir falsche Marktsignale. Ferner gehen sie zulasten unserer Bonität. Sie erhöhen unsere Zinsen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, welche Schwierigkeiten das in unseren Haushalten auslösen würde. In den Haushaltsdebatten habe ich vielfach gehört, wie wenig ambitioniert dieser Haushalt in toto sei. Ich möchte einmal festhalten: Die Aufstockung des Stammkapitals des ESM um 8,7 Milliarden Euro belastet unseren Haushalt. Die SPD hat - wenn ich es richtig zusammengerechnet habe - 6,3 Milliarden Euro Mehrausgaben beantragt. Dabei haben Sie vorgeschlagen, was man denn alles noch zusätzlich machen könnte. Bei den Grünen habe ich nur die Vorschläge zum Umwelt- und dem Entwicklungshilfeetat zusammengezählt. Dabei bin ich auf 3,4 Milliarden Euro gekommen, die Sie gern mehr hätten. ({6}) Also, Haushaltskonsolidierung heißt bei Ihnen jedenfalls nicht sparen. ({7}) Jetzt komme ich zum Parteitag der Grünen und zu dem, was gelegentlich von der SPD vorgeschlagen wird. Sie haben ganz deutlich gesagt, was Sie machen wollen: Sie wollen Steuern erhöhen; Sie wollen Substanzsteuern erheben. ({8}) Sie wollen genau die Dinge, die hier mehrfach andiskutiert wurden. Das ist Ihre Vorstellung von Sparen. Mich ärgert in diesem Zusammenhang, dass Sie es auch noch fertigbringen, die Leute zu täuschen. Ich habe vor kurzem mit einer netten Ärztin gesprochen. Diese hat mir erklärt, dass sie alles toll findet: Die Millionäre werden zur Kasse gebeten. Ich habe ihr daraufhin gesagt: Überlege einmal, was du verdienst und was du am Ende bezahlen wirst. - Sie hat mir das erst dann geglaubt, als ich ihr vorgerechnet habe, ab wann Ihr erhöhter Spitzensteuersatz greifen wird. Dann ist ihr klar geworden, dass sie mit dabei ist. Tun Sie also doch hier nicht so, als ob es am Schluss die Millionäre treffen würde. Das stimmt doch nicht. Die Mittelschicht wird es sein. Sie sind wieder auf dem Weg, eine Kuh auf einer Wiese melken zu wollen, auf der es keinen Zaun gibt. Nur die wenigen Kühe, die angepflockt sind, die Mittelständler, die Mittelschicht, werden Sie am Schluss damit erwischen, wenn Sie denn gewählt werden. Ich glaube nicht, dass man mit einem solchen Vorschlag, mit einem solchen Programm gewählt wird. Ich glaube, dass es gut ist, dass wir auf dieser Seite des Hauses dafür sorgen, dass der konjunkturelle Aufschwung in Deutschland anhält. Die Voraussetzung hierfür ist, dass wir im nächsten Jahr eine entsprechende Mehrheit bekommen, und diese werden wir bekommen. Vielen herzlichen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Georg Nüßlein. - Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ganz offen sagen: Ich bin mir mit Blick auf die Menschen, die uns vor den Fernsehschirmen und auf der Tribüne zuschauen, nicht ganz sicher, ob die unterkomplexe Art und Weise, in der die politischen Ränder eine wirtschaftspolitische Debatte führen, wirklich immer eine Werbung für unsere Demokratie ist. ({0}) Was meine ich? Was haben wir heute gehört? Auf der einen Seite haben wir das eine Extrem gehört: Alles wunderbar, rosarote Brille, regierungsamtlich. Auf der anderen Seite hat die Linkspartei gesagt: Die Welt geht unter. Ein realistischer Blick auf unsere wirtschaftspolitische Situation würde uns auf Folgendes bringen: Ja, es ist richtig: Wir stehen nach wie vor stärker da als andere Volkswirtschaften in Europa, die vergleichbar sind. Das hat Ursachen, über die man diskutieren kann. Es stellt sich die Frage, wer das gemacht hat. Sie sagen: Wir haben es gemacht. - Wir sagen: Wir haben es gemacht. - Ich glaube, das interessiert die Leute gar nicht mehr; denn Tatsache ist: Es ist vor allem das Verdienst von fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von tüchtigen Unternehmen in diesem Land, die dafür gesorgt haben, dass wir so gut dastehen. ({1}) Tatsache ist, dass wir eine starke industrielle Wertschöpfungsbasis haben. Es ist vollkommen richtig, Herr Fuchs, was Sie da beschrieben haben. Auf der anderen Seite gibt es aktuell in diesem Land aber auch Fehlentwicklungen. Es ist sozialversicherungspflichtige, gute Arbeit entstanden. Es ist aber auch prekäre Arbeit entstanden, die man zurückdrängen muss. Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen 3 oder 4 Euro pro Stunde verdienen. Es gibt einen Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit. Meine Bitte an die beiden extremen Ränder hier im Hause ist, ({2}) weder mit einer rosaroten Brille noch mit Untergangsszenarien unser Land zu beschreiben, sondern mit einem realistischen Blick festzustellen, dass wir nach drei Jahren guter konjunktureller Entwicklung im kommenden Jahr in schwieriges Fahrwasser geraten. Herr Rösler, was Sie sich zurechnen lassen müssen, ist Folgendes: Sie haben sich in den letzten drei Jahren auf einer guten Konjunktur ausgeruht sowie auf Entscheidungen von Vorgängerregierungen, auf den Leistungen von anderen. Sie mahnen jetzt immer Strukturreformen in anderen Ländern an. Das ist gar keine Frage; das muss in vielen Ländern sein. Aber sagen Sie mal: Hubertus Heil ({3}) Welche einzige Strukturreform haben Sie eigentlich in Ihrer Amtszeit zu verantworten? Mir fällt keine ein. Sie müssen sich als Bundesminister für Wirtschaft berechtigte Fragen stellen lassen. Diese sind vorhin angesprochen worden. Ich will diese nur noch einmal unterstreichen. Dabei geht es um die Frage, welche Initiativen Sie ergriffen haben, um dem Mittelstand in Deutschland wirksam zu helfen. Wo sind Ihre Initiativen für eine durchgreifende Entlastung des Mittelstands von überflüssiger Bürokratie? Wo ist Ihre versprochene steuerliche Forschungsförderung, um Innovationen zu unterstützen? Worin besteht eigentlich Ihre Initiative gegen den Fachkräftemangel? Kommen Sie mir jetzt nicht mit der Bluecard! 138 Menschen sind darüber ins Land gekommen. Ist das wirklich die Antwort auf die sich auftuende Spaltung des Arbeitsmarktes? Immer mehr Unternehmen suchen händeringend qualifizierte Fachkräfte, und auf der anderen Seite sind Menschen in unserem Land nach wie vor abgehängt in prekärer Beschäftigung oder stehen ganz draußen. Meine Damen und Herren, zum Thema „Fachkräftesicherung“ muss man eines sagen: Wenn die Fachkräfte in der Regierung fehlen, ist es kein Wunder, dass das Fachkräftekonzept dieser Regierung fehlt. ({4}) - Herr Kauder, Sie können in Ihrer berühmten Art herumblöken, wie Sie wollen. ({5}) Sie werden nicht verhindern können, dass dieser Wirtschaftsminister sich einer weiteren Frage stellen muss, nämlich der Frage, ob er seiner Verantwortung im Bereich der Energieversorgung gerecht wird. Mit dieser Frage möchte ich mich etwas intensiver auseinandersetzen. ({6}) Sie halten sehr viele Reden dazu. Dabei muss ich Folgendes feststellen: Die Energiewende in diesem Land droht aufgrund Ihrer Untätigkeit zu stocken oder gegen die Wand gefahren zu werden. ({7}) Sie beklagen die Erhöhung der EEG-Umlage in diesem Herbst. Ja, seit wann ist die denn explodiert? Seit dem Jahr 2010, unter schwarz-gelber Regierungsverantwortung, und das deshalb, weil Sie keine Vorstellung haben, wie diese Energiewende gemanagt wird und wie eine Umsetzung erfolgen muss. Lassen Sie uns darüber unterhalten, wie man die Energiewende angesichts dieser kurzen Zeiträume bewerkstelligen könnte. Es handelt sich ja um eine doppelte Energiewende, mit sehr ehrgeizigen Klimaschutzzielen und dem Ausstieg aus der Atomkraft. Versuchen Sie nicht immer, den anderen die Schuld zuzuschieben, sondern werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht! Wir werden Vorschläge machen und durchsetzen, die klar besagen: Wir wollen den Ausbau erneuerbarer Energien. Wir brauchen ein Marktdesign, um Stück für Stück über das EEG die Erneuerbaren marktfähig zu machen und in die Direktvermarktung zu überführen. Wir müssen dafür sorgen, dass auch im konventionellen Bereich gesicherte Kapazitäten vorhanden sind, um die Versorgungssicherheit in diesem Land zu gewährleisten. Sie haben nichts gemacht seit Fukushima. Sie sind einen Zickzackkurs gefahren. Sie haben Planungs- und Investitionssicherheit kaputt gemacht. Mit Blick auf Niedersachsen - unsere gemeinsame Heimat, Herr Rösler will ich Ihnen ein aktuelles Beispiel nennen: Sie haben im Bereich Offshore große Ankündigungen gemacht, sind untätig geblieben, und heute erleben wir die katastrophalen Folgen. Sagt Ihnen das Unternehmen SIAG Nordseewerke in Emden etwas? ({8}) Da verschwinden gerade Tausende von Arbeitsplätzen im Bereich der erneuerbaren Energien, in der Offshoreanbindung, weil Sie nicht dafür gesorgt haben, dass die Voraussetzungen für Planungs- und Investitionssicherheit geschaffen werden konnten. Große und kleine Unternehmen, sowohl die großen EVU als auch die Stadtwerke, ziehen sich von den Offshoreinvestitionen zurück, weil Sie keine Planungs- und Investitionssicherheit geschaffen haben. Sie haben keine Antwort darauf gegeben, wie der Netzausbau vorankommen soll. Damals, als wir gesagt haben: „Wir brauchen eine deutsche Netz AG, um privates Kapital öffentlich abgestützt zum Netzausbau zu mobilisieren“, haben Sie sich geweigert. Heute haben wir den Salat, weil das zuständige Unternehmen - übrigens ein holländisches Staatsunternehmen - nicht investitionsstark ist. Meine Damen und Herren, dieser Minister ist ein Energiewendeversager. Das ist ein Standortrisiko für Deutschland. ({9}) Sie müssen sich zurechnen lassen, dass Sie Verantwortung dafür tragen, dass nicht nur die Versorgungssicherheit für dieses Industrieland mittlerweile zu einem Problem geworden ist, sondern auch die Bezahlbarkeit der Energie sowohl für die Unternehmen als auch für die Verbraucher. Lassen Sie mich einen Satz sagen zu den Ausnahmen für energieintensive Unternehmen. Es bleibt dabei: Ausnahmen für energieintensive Betriebe, die im internationalen Wettbewerb stehen, für Betriebe in den Grundstoffindustrien, sind hochgradig richtig; denn diese Unternehmen würden sonst ihre Standorte verlagern, weil es in anderen Ländern bestimmte Regime nicht gibt und die Energiekosten niedriger sind. Für die energieintensiven Unternehmen, die alle Effizienzmaßnahmen Hubertus Heil ({10}) ausgeschöpft haben, die im internationalen Wettbewerb stehen, sind diese Ausnahmen richtig. Aber falsch ist Ihre Ausweitung auf Unternehmen, die überhaupt nicht im Wettbewerb stehen. Sie diskreditieren die notwendigen Ausnahmen für energieintensive Betriebe, indem Sie diese Ausnahmen ohne Sinn und Verstand ausgeweitet haben. Das Ergebnis ist, dass die Verbraucher, aber auch andere Unternehmen für die Folgen zu zahlen haben, nämlich durch eine erhöhte EEG-Umlage. Das ist die Wahrheit. Wir müssen diese Ausnahmen zurückführen auf die Unternehmen, die sie tatsächlich brauchen. ({11}) Sie bekommen es nicht einmal hin, ein vernünftiges Management dieser Energiewende zu organisieren. Da verhakeln sich Ressorts. Früher war es Herr Röttgen gegen Herrn Rösler, heute ist es Herr Altmaier gegen Herrn Rösler. Ramsauer sitzt noch irgendwo herum, Schavan wäre auch zuständig. Ich sage ja nicht, dass es nicht auch zu anderen Regierungszeiten Ressortauseinandersetzungen gegeben hätte. Das ist ganz natürlich, weil man ja unterschiedliche Zuständigkeiten hat. Nur: In rot-grüner Zeit gab es damals am Ende des Tages beispielsweise immer eine Koordinierung durch das Kanzleramt. Als sich Werner Müller und Jürgen Trittin nicht immer einig waren, hat Frank-Walter Steinmeier dafür gesorgt, dass wir zu Lösungen gekommen sind. Wo ist eigentlich Herr Pofalla im Bereich der Energiewende, meine Damen und Herren? Wenn Sie es nicht schaffen, auf Bundesebene einig zu sein, dann ist es kein Wunder, dass Sie die Koordinierung mit den Ländern nicht hinbekommen. Sie haben keinen Masterplan. ({12}) Sie haben keine Antworten auf die Frage, wie wir die Energiewende hinbekommen. Sie sind verantwortlich für steigende Strom- und Energiekosten in diesem Land. Sie haben Planungs- und Investitionssicherheit kaputt gemacht. Deshalb sage ich: Wir müssen 2013 mit dem aufräumen, was Sie hinterlassen haben. ({13}) Das ist für mich der entscheidende Punkt: Sie haben sich drei Jahre lang auf einer guten Konjunktur ausgeruht. Sie haben keine Zukunftsvorsorge betrieben, weder in der Energiepolitik noch in Bezug auf die demografische Entwicklung. Wie Sie es nach drei Jahren guter konjunktureller Entwicklung schaffen, ein Loch von 1,6 Milliarden Euro in die Arbeitslosenversicherung zu reißen, das müssen Sie uns eigentlich einmal erklären. Sie haben die Sozialversicherungskassen ausbluten lassen. Sie plündern die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Diese Regierung hat keine Zukunftsvorsorge für die schwierigen Zeiten getroffen, vor denen wir jetzt stehen, weil die Euro-Krise wie ein Bumerang auch nach Deutschland zurückkommt. Hoffentlich wird es nicht so schlimm wie 2008/2009, als wir gegengesteuert haben, hoffentlich nicht! Aber es gibt erhebliche Risiken. Ich kann Ihnen nur sagen: Ergreifen Sie Maßnahmen, um Schlimmeres von unserem Land abzuwenden! Ändern Sie zum Beispiel die Regelungen zur Kurzarbeit. Frau von der Leyen hat sich da offen gezeigt; Sie blockieren, hoffentlich nicht so lange, bis es zu spät ist. Das Instrument der Kurzarbeit hat uns schon einmal geholfen, durch die Krise zu kommen. Sorgen Sie dafür, dass die Kreditanstalt für Wiederaufbau ihren Job als Förderbank machen kann! Sie wird in vielen Bereichen gebraucht. Plündern Sie nicht ihre Kassen! Meine Damen und Herren, wir werden 2013, nach einem Regierungswechsel, im Bereich der Wirtschaftspolitik die Dinge anpacken müssen, die Sie drei Jahre liegen gelassen haben. Deutschland ist ein starkes Land - wir sind nach wie vor stark -; aber wir dürfen uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen. Wir stehen in einer stärkeren internationalen Konkurrenz. Wir haben den demografischen Wandel zu bewerkstelligen. Es gibt einen Fortschritt in Wissenschaft und Forschung, bei dem wir mithalten müssen, zum Beispiel mithilfe steuerlicher Forschungsförderung, damit auch der Mittelstand profitiert. Schließlich haben wir die Energiewende in diesem Land zu schultern. Das sind die Zukunftsaufgaben, denen wir uns stellen werden. Herr Rösler, es ist gut, dass es Restlaufzeiten gibt, nicht nur für Atomkraftwerke, sondern auch für Ihre Amtszeit. Ich bin mir sicher: Die Laufzeiten werden von den Wählerinnen und Wählern nicht verlängert werden, weder bei der niedersächsischen Landtagswahl noch bei der Bundestagswahl. Um dafür zu sorgen, dass Deutschland ein starkes, auch ein soziales Land bleibt, brauchen wir diesen Regierungswechsel, gerade im Bereich der Wirtschaftspolitik. Sie haben die schlechteste Bundesregierung seit 1949 zu verantworten. ({14}) Das gilt auch für die Wirtschaftspolitik. Herzlichen Dank. ({15})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege Dr. Martin Lindner.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Man überlegt sich in einem solchen Moment, ob es sich überhaupt lohnt. ({0}) Aber ich muss Ihre Äußerungen natürlich förmlich zurückweisen. Die Tatsache, dass Sie eine Partei wie die FDP, die von 1949 bis heute mehr als doppelt so lang in Regierungsverantwortung stand wie die SPD, ({1}) als „extremen Rand“ bezeichnen, und Ihre Ausfälligkeiten und Pöbeleien gegenüber dem Vorsitzenden der Unionsfraktion zeigen doch, wo Sie gerade stehen, in Dr. Martin Lindner ({2}) welch orientierungslosem Zustand Sie sich gerade befinden. Eine Partei, die vormals eine Industriepartei in der linken Mitte war und sich heute selber ein Programm wie das Ihrige gibt, das irgendwo zwischen Hollande und der Linkspartei mäandert, und auf der anderen Seite einen Kanzlerkandidaten kreiert ({3}) - anders kann man es gar nicht bezeichnen; richtig gewählt ist er ja nicht -, der selber für die Rente mit 67, für das Betreuungsgeld, für die Flexibilisierungselemente am Arbeitsmarkt stand und überhaupt nicht zu Ihrem komischen Programm zwischen Hollande und Linkspartei passt, eine solche Partei - Herr Heil, das haben Sie uns gerade wirklich eindrucksvoll vorgeführt - braucht noch vier bis acht Jahre, um sich zu regenerieren, um sich zu finden, um einen Diskurs zu führen, ob man Deutschland aus der Mitte oder eben vom Rand regieren will. Treten Sie hier wieder an und bemühen Sie sich um die Wählerschaft, wenn dieser Prozess abgeschlossen ist und Sie jemanden gefunden haben, der zu Ihrem Programm passt, ({4}) damit es Hand in Hand geht! Bis dahin wünsche ich Ihnen, Herr Heil, einen wirklich erfolgreichen Selbstfindungsprozess. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das Wort zur Antwort hat unser Kollege Hubertus Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich widerstehe der Versuchung, über Cannabis zu reden, Herr Lindner; das ist Ihr privates Vergnügen. Ich will Ihnen erklären, warum ich von Rändern gesprochen habe. Das meine ich nicht im Sinne von Extremismen in allen möglichen Politikfeldern, sondern im Bereich der Wirtschaftspolitik. Die wirtschaftsradikale Vorstellung, die Sie liberal nennen, nach dem Motto „Der Markt kann alles viel besser; wenn jeder sich um sich selbst kümmert, dann ist an alle gedacht“, das ist nicht meine Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft. ({0}) Sie müssen begreifen, dass Ihre Vorstellung von Entstaatlichung in allen Lebensbereichen nicht mehr zeitgemäß ist. Das sehen wir an den Finanzmärkten, wo Regulierung gefragt ist. Das gilt für viele andere Bereiche auch. Unsere Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft ist klar: So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig. Das unterscheidet uns von radikalen Entstaatlichern, wie Sie es sind. Ich habe zwei Parteien beschrieben, die in wirtschaftspolitischer Hinsicht - das sieht man auch an der Sitzordnung in diesem Hause - an den Rändern sitzen. ({1}) Wir wollen, dass wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit keine Gegensätze sind; wir wissen: Das sind wechselseitige Bedingungen. Wir wollen uns darum kümmern, und zwar gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen, mit denen wir viele Gemeinsamkeiten haben, wenngleich es vereinzelt Unterschiede gibt. ({2}) Eines lasse ich mir von Ihnen nicht nachsagen, Herr Lindner. Mit Blick auf meinen Wahlkreis und mit dem, was ich politisch zu verantworten habe, können Sie alles dumm finden. ({3}) Offensichtlich sind Sie der Meinung, der politische Gegner hat immer unrecht. Dass Sie jemand sind, der sich für die Industriearbeiterschaft in diesem Land einsetzt, das halte ich für ein schräges Gerücht. Wir haben durch die Reformpolitik der rot-grünen Bundesregierung dafür gesorgt, dass dieses Land nach wie vor eine Industrienation geblieben ist. Als Sie Leitbildern wie Irland hinterhergelaufen sind, die rein auf Finanzwirtschaft und nicht mehr auf produzierendes Gewerbe gesetzt haben, als Sie uns als kranken Mann Europas darstellen wollten, ({4}) weil wir auf die Wertschöpfungsketten, angefangen bei den Grundstoffindustrien, gesetzt hatten, als Sie gesagt haben: „Die Zukunft liegt allein bei Dienstleistung“ - und gemeint war Finanzdienstleistung -, in dieser Zeit haben wir dieser Mode widerstanden. Das unterscheidet uns, Herr Lindner. In meiner Heimat in Niedersachsen, in der es Stahlindustrie, Volkswagen und Grundstoffindustrien gibt, bleibt die Wirtschaft nicht stehen. Sie wird sich weiter wandeln und sich den anstehenden Herausforderungen stellen, ({5}) und das mit einer gesunden industriellen Basis. Welchen Bezug Sie zum Thema Industriepolitik haben, erschließt sich mir überhaupt nicht. Das haben wir in den Verhandlungen darüber, was in Europa notwendig ist, gemerkt. ({6}) Hubertus Heil ({7}) Sie halten allein eine Politik des Kürzens für richtig. Sie halten überhaupt nichts von Wachstumsimpulsen. ({8}) Insofern sage ich Ihnen ganz deutlich, Herr Lindner: Machen Sie sich um meine Partei nicht so wahnsinnig viel Gedanken. Wir kümmern uns schon um uns selbst. Machen Sie sich lieber Gedanken darüber, warum die Wählerinnen und Wähler der Meinung sind, dass Sie nicht nur nicht mehr in die Regierung gehören, sondern in vielen Ländern auch nicht mehr in die Parlamente. Setzen Sie sich besser mit sich selbst auseinander. ({9}) Ich sage es noch einmal: Ich halte Sie politisch, was demokratische Fragen betrifft, nicht für einen Extremisten. Sie sind ein liberaler Geist. ({10}) Aber ich stelle fest: Wirtschaftspolitisch sind Sie nicht nur am Rand des Mainstreams, wirtschaftspolitisch befindet sich die FDP am Rand der Gesellschaft.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Hubertus Heil, bitte Ihren letzten Satz.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich finde, Sie sind eine zu vernachlässigende Größe. Danke schön. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. ({0}) Letzter Redner in unserer Aussprache ist unser Kollege Andreas Lämmel für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Andreas Lämmel. ({1})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Heil, man kann überall lesen, dass Sie in das Schattenkabinett aufgerückt sind als zukünftiger Wirtschaftsminister. Ich kann nur sagen: Im Schatten ist es kalt und auch dunkel; das scheint Ihr Gesichtsfeld ziemlich einzutrüben. ({0}) Wir sind sicher, dass Sie in diesem Schatten bleiben werden. Das ist auch gut für Deutschland; denn Sie als Wirtschaftsminister, das wäre ein Abstieg für unser Land. ({1}) Vielleicht sollten Sie mit Herrn Steinbrück noch einmal reden. Sie würden sich besser für Agitation und Propaganda eignen. ({2}) Wie man das macht, darüber können Sie mit Ihren linken Freunden sprechen. Dort wären Sie wirklich sehr gut verortet. In wenigen Minuten wird die Mehrheit des Plenums den Haushalt für das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie verabschieden. ({3}) Sie würden gut daran tun, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wenn Sie diesem Haushalt zustimmen würden. Ich habe die Debatte intensiv verfolgt. Ich habe wirklich versucht, Argumente zu finden, die gegen den vorliegenden Haushaltsentwurf sprechen. ({4}) Ich habe keine gefunden. Ich werde gleich auf zwei Themen eingehen, die Sie immer wieder angesprochen haben. Ansonsten haben Sie über die Welt und die Energiewende gefaselt. Die Grünen haben gesagt, dass sie sich im Haushalt des Bundeswirtschaftsministerium nicht wiederfindet. Die Milliarden, die über das EEG ausgegeben werden, laufen nicht über den Haushalt des Bundeswirtschaftsministers. Das hätten Sie in den letzten Jahren eigentlich lernen können. Sie fordern immer wieder, dass wir Vorsorge treffen für eine Zeit, in der es wirtschaftlich schwieriger ist. Das ist unbestritten. Ich glaube, das haben alle Redner hier so dargestellt. ({5}) Herr Brandner, mit diesem Haushalt sorgen wir für die Zeit einer wirtschaftlichen Abschwächung vor. Vor allen Dingen treffen wir eine Vorsorge für den deutschen Mittelstand. ({6}) Dabei geht es um die Ideen, die Projekte und die Produkte der Zukunft. Schauen Sie sich das einmal genau an: 70 Prozent der gesamten Haushaltsmittel des BMWi, wenn man die Mittel für die Steinkohle abzieht, fließen in die Bereiche Investitionsanreize und Innovationsanreize. Zeigen Sie mir einen anderen Haushalt, in dem dieser Anteil so enorm hoch ist. ({7}) Herr Brandner, Ihnen ist sicherlich noch nicht aufgefallen, dass der Haushalt des BMWi völlig neu strukturiert ist. Er ist ziemlich klar strukturiert, sodass auch jemand, der nicht in der Politik tätig ist, die Chance hat, durch den Haushaltsplan durchzusteigen. Sie können ganz schnell erkennen, dass 36 oder 38 Prozent, also fast 40 Prozent, des gesamten Geldes für Innovationen, Technologien und neue Mobilität ausgegeben werden. Verschiedene Redner, vor allen Dingen mein Kollege Nüßlein, Herr Fuchs und auch Herr Pfeiffer, haben schon darauf hingewiesen, dass dieses Geld benötigt wird, um neue Ideen umzusetzen, um neue Produkte zu schaffen, die der deutschen Wirtschaft morgen und übermorgen helfen werden, ihren Weltrang zu behalten. ({8}) Herr Dr. Nüßlein hat die Umfrage zum ZIM-Projekt angesprochen. Es fehlen nur noch zwei Aussagen dazu, die aber sehr wichtig sind: Erstens. Das ZIM ist das erste wirklich kompakte Förderprogramm. Früher war das eine sehr zersplitterte Landschaft. Im ZIM wurden verschiedene Programme zusammengefasst. Zweitens. Alle Unternehmen, die man auf dieses Programm anspricht, sagen ganz klar: Das ist das unbürokratischste Förderprogramm im Bereich Forschung und Technologie, das es in Deutschland je gegeben hat. Das ist der große Erfolgsfaktor dieses Programms. Jetzt komme ich zu Ihren Argumenten. Die SPD hat das Thema GRW angesprochen. Kollege Tiefensee, das, was Sie diesbezüglich hier von sich gegeben haben, war ein bisschen lächerlich. ({9}) Ich kann mich erinnern, dass Sie Aufbau-Ost-Minister waren. Damals gab es auch noch den Herrn Stolpe. Ich kann mich daran erinnern, dass damals - ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob das in der Amtszeit des Kollegen Tiefensee oder in der Amtszeit von Herrn Stolpe war; ({10}) das ist auch egal; jedenfalls war es ein SPD-Minister über Nacht die Mittel für die GRW halbiert wurden. Damals haben Sie nichts getan, ({11}) um die GRW-Mittel wieder auf eine angemessene Höhe zu bringen. Trotzdem stellen Sie sich heute hier hin und sagen: Die SPD hat mit ihrem Antrag dafür gesorgt, dass die GRW-Mittel aufgestockt wurden. ({12}) Das ist lächerlich, Herr Brandner. Wir haben die Mittel aufgestockt, weil wir die Verantwortung für die GRW haben. ({13}) Sie müssen bei Ihren Argumenten redlich bleiben. Sie dürfen die Jahre, in denen Rot-Grün regiert hat, nicht einfach ausblenden. ({14}) Zu der GRW stehen wir. ({15}) Auch das BMWi steht zu der GRW. Gefahr droht im Moment eher aus Brüssel; denn die Strukturfonds, über die zurzeit in Brüssel verhandelt wird, sind ja letztendlich eine Ergänzung der GRW-Mittel auf Bundes- und Landesebene. Wir müssen aufpassen, dass auch auf europäischer Ebene eine angemessene Ausstattung der Strukturfonds erhalten bleibt. Frau Hinz, Sie haben - das war der größte Schlager die steuerlichen Anreize für die energetische Gebäudesanierung angesprochen. Sie haben gesagt: Wir stimmen doch nicht zu, wenn Sie die Kassen der Länder plündern wollen. - Das ist wirklich grenzwertig und einfach lächerlich. Herr Tiefensee hat ähnlich argumentiert. Die Koalition entlastet die Bürger in Deutschland um 10 Milliarden Euro pro Jahr. Nun stellen Sie sich einmal vor, wir hätten die steuerliche Förderung der CO2Gebäudesanierung und die Bürger würden 5 Milliarden Euro in die Sanierung ihrer Häuser und Wohnungen stecken. Was würde das für die Einnahmesituation der Länder bedeuten? Dann gäbe es wieder Arbeit für das Handwerk. Das Handwerk ist ein ganz entscheidender Teil der deutschen Wirtschaft. Lohn- und Einkommensteuern sowie Gewerbesteuern würden generiert. Das Argument, wir würden die Kassen der Länder ausräumen, ist einfach lächerlich. Geben Sie doch die Blockade auf! ({16}) Es gibt überhaupt kein vernünftiges Argument gegen die steuerlichen Anreize zur energetischen Gebäudesanierung. Sie wollen das nur ideologisch und parteipolitisch ausnutzen. Nun auch noch zu Herrn Schlecht. Herr Schlecht, Sie sind ja Sozialismustheoretiker und haben das in Gewerkschaftsseminaren gelernt. Fragen Sie doch einmal Ihre Parteikollegen, die mehr Erfahrung haben und es geschafft haben, die ehemals siebtgrößte sogenannte Volkswirtschaft der Welt gegen die Wand zu fahren. Ihre Kollegen hatten damals die gleichen Ideen. Der einzige Unterschied ist, dass Sie das in schwäbischem Dialekt aussprechen, während Ihre Kollegen das zum Beispiel in brandenburgischem Dialekt ausdrücken. Aber die Ideen sind die gleichen. Angesichts der von Ihnen abgelieferten Darstellung des Arbeitsmarktes frage ich Sie: Warum sind denn die Sozialkassen in Deutschland so hervorragend gefüllt? Doch nicht deswegen, weil es keine ausreichende Anzahl an sozialversicherungspflichtigen Jobs in Deutschland gibt, sondern deswegen, weil die christlichliberale Koalition dafür gesorgt hat, dass die Menschen in sozialversicherungspflichtige Jobs kommen. Das hat eine unmittelbare positive Wirkung auf die Sozialkassen und damit auf das Gesamtsystem. Damit ist die Theorie, die Sie hier verbreitet haben, eigentlich hinfällig. Zur Bluecard. Sie dürfen nicht verschweigen, dass die Regelung zur Bluecard gerade einmal acht Wochen in Kraft ist. Liebe Kollegen von der SPD, denken Sie nur an die Greencard-Initiative von Gerhard Schröder! Wir sollten hier keinen Popanz aufbauen. Es ist schwierig, in Deutschland ausländische Arbeitskräfte anzuwerben. Der Grund dafür ist, dass Sie jahrelang blockiert haben. Wir müssen die Arbeitsmarktregelungen erst so weit lockern, dass es für ausländische Fachkräfte überhaupt attraktiv wird, in Deutschland tätig zu sein. Wir finden, dass der Haushalt des BMWi sehr ausgewogen ist. Wir setzen damit auf Innovationen und Investitionen und setzen damit ganz klar den Fokus auf die Zukunft. Ich kann Ihnen nur empfehlen, Ihre Stimme heute für diesen Haushalt abzugeben. Vielen Dank. ({17})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Andreas Lämmel. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 09 - Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11543 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Das sind die Fraktion der SPD und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzelplan 09 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Einzelplan 09 ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Einzelplan 11 - Punkt I.15 - auf: Einzelplan 11 Bundesministerium für Arbeit und Soziales - Drucksachen 17/10811, 17/10823 Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer ({0}) Dr. Claudia Winterstein Priska Hinz ({1}) Zum Einzelplan 11 liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der Sozialdemokraten, ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Sie sind alle damit einverstanden und haben sich auf die Debatte vorbereitet. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer Aussprache ist unsere Kollegin Bettina Hagedorn für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Frau Kollegin Bettina Hagedorn. ({2})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zu Beginn der Debatte möchte ich mich als Hauptberichterstatterin für den Etat des Arbeits- und Sozialministeriums im Haushaltsausschuss - sicher auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen - bei den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Arbeitsund Sozialministeriums, der Bundesagentur für Arbeit, der Rentenversicherungsträger, des Bundesrechnungshofes und vor allen Dingen unseres Haushaltsausschusssekretariats bedanken. Wir haben in den letzten Wochen intensive Beratungen gehabt und viele Berichte angefordert. Die Antworten waren umfassend, sie kamen zügig. Damit wurde unsere parlamentarische Arbeit sehr erleichtert. Es ist in diesem Haus gute Sitte, dass man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Anfang einer sicherlich kontroversen Debatte dafür ein Dankeschön ausspricht. ({0}) Dieser versöhnliche Einstieg, Frau Ministerin, ist leider schon alles, was ich an Positivem über Ihren Etat berichten kann. Die Schwerpunktsetzungen stellen - Frau Ministerin, man muss es so deutlich sagen - Ihren persönlichen Offenbarungseid dar. ({1}) Schon in den letzten Tagen war zu Recht davon die Rede, dass der schöngerechnete Wahlkampfetat, den Sie hier vorlegen, letzten Endes einem Bankraub gleichkommt, und zwar in erster Linie einem Raub an den sozialen Sicherungssystemen und damit an der zukünftigen Absicherung der Menschen in diesem Lande. Das ist ein Skandal, unangemessen, unverantwortlich, und das ist Ihnen, Frau Ministerin, persönlich anzulasten; denn der größte Teil von den sage und schreibe über 70 Milliarden Euro, die mit diesem Haushalt und diesem Finanzplan den sozialen Sicherungssystemen von 2013 bis 2016 entnommen werden, spielt sich in Ihrem Etat - und zwar bei der Bundesagentur für Arbeit, bei den Jobcentern und bei der Rente - ab. ({2}) - Nein, da kann man nicht klatschen, das ist wahr. Man muss es aber deutlich aussprechen; denn am Anfang jeder Debatte gehört erst einmal die Wahrheit auf den Tisch. ({3}) Mit Ausgaben von knapp 120 Milliarden Euro ({4}) - wenn Sie die Zahlen nicht nachvollziehen können, können Sie mir eine Zwischenfrage stellen; ich erläutere Ihnen die gerne - umfasst dieser Etat knapp 40 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes. Diese Tatsache bemühen Sie von der schwarz-gelben Koalition immer wieder - allerdings völlig zu Unrecht - als angebliches Indiz dafür, dass der Sozialbereich bei Ihnen einen hohen Stellenwert hat. Mit dieser Aussage betreiben Sie aber vorsätzliche Volksverdummung; ({5}) denn Sie verschweigen, dass dieser Etat das dritte Mal in Folge der große Steinbruch von Schwarz-Gelb ist. Es gab allein in Ihrem Etat, Frau von der Leyen, seit 2010 ein Minus von 24 Milliarden Euro. Das ist die bittere Wahrheit und Zeugnis eines beispiellosen sozialpolitischen Kahlschlags in der Verantwortung dieser schwarzgelben Koalition. ({6}) Sicherlich: Aufgrund drei Jahre brummender Konjunktur, sprudelnder Steuerquellen und klingelnder Beitragskassen mit sinkenden Arbeitslosenzahlen und glücklicherweise hoher Beschäftigungsquote bilden sich in diesem Etat erfreulicherweise milliardenschwere konjunkturelle Einsparungen ab, über die wir uns alle gemeinsam freuen. Diese Einsparungen aber, Frau Ministerin, die Ihnen anstrengungslos in den Schoß fallen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie seit 2010 darüber hinaus mit Ihrem damals so genannten Sparpaket einen brachialen Kahlschlag - auf dem Rücken der Arbeitsuchenden und ihrer Familien vollzogen - haben. ({7}) Zusätzlich haben Sie die Bundesagentur für Arbeit ausgequetscht wie eine Zitrone, sodass es dort ab 2014 praktisch keine nennenswerte Rücklage geben wird, die den Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Vergangenheit bei sich eintrübender Konjunktur - Stichwort „Kurzarbeitergeld“ - Perspektive und Chance gab und Belegschaften in der Krise vor Arbeitslosigkeit bewahrt hat. Mit dem Haushalt 2013 legen Sie null Vorsorge für eine sich abzeichnende Krise vor. Damit werden Sie Ihrer Verantwortung für die Menschen in diesem Land nicht gerecht. ({8}) - Wenn Sie sagen, das sei gar nicht wahr, antworte ich Ihnen: Wir wollten in der Großen Koalition - dies war das gemeinsame Ziel -, dass die Bundesagentur für Arbeit mit abgesenkten Beitragssätzen - wir haben sie von 6,5 auf 3 Prozentpunkte gesenkt - trotzdem langfristig auskömmlich finanziert ist. Dafür haben wir ihr die Einnahmen aus einem Prozentpunkt der Mehrwertsteuer gegeben, was mindestens 8 bis 9 Milliarden Euro pro Jahr ausmacht. Mit diesem Haushalt ist der Mehrwertsteuerpunkt komplett aus der Finanzierung verschwunden. Sie wollen die Öffentlichkeit glauben machen, dass die Bundesagentur für Arbeit mit einem Beitragssatz von 3 Prozentpunkten dennoch stabil finanziert ist. Das ist mitnichten der Fall, und Sie wissen das ganz genau. Sie haben die Rücklage geplündert. Sie umfasst jetzt gerade einmal 2 Milliarden Euro. Schon im nächsten Jahr muss die Bundesagentur für Arbeit wieder auf die Rücklage zurückgreifen. Das heißt, sie löst sich in Luft auf, falls sich die Krise verstärkt. Dies hoffen wir zwar nicht; wir tragen aber die politische Verantwortung, dafür Vorsorge zu treffen. ({9}) Sie tun also das Gegenteil dessen, was wir in der Großen Koalition gemacht haben, und wir sind damals gut damit gefahren. Weil wir der BA 2008 eine Rücklage von 18 Milliarden Euro zugestanden hatten, war sie in der Lage, mit uns die Konjunkturpakete aufzulegen und die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes zu verlängern. Unsere Maßnahmen waren gut und richtig. Sie profitieren seit drei Jahren von den Auswirkungen dieser Maßnahmen. Aber statt Ihre Schlüsse daraus zu ziehen, machen Sie genau das Gegenteil. Sie versündigen sich so an der Zukunft. ({10}) Sie behaupten, die Tatsache, dass dieser Haushalt 40 Prozent des Gesamtetats ausmacht, zeige, wie sozial der Haushalt ist. Dazu muss man sagen: Sie machen den Leuten etwas vor; denn schon 85 Milliarden Euro in Ihrem Etat sind durch den Rentenzuschuss und die Grundsicherung gesetzlich gebunden. Bis 2016 werden diese Leistungen auf 93,5 Milliarden Euro anwachsen. Das heißt: 8,5 Milliarden Euro mehr in nur vier Jahren. Es ist normal, dass eine älter werdende Gesellschaft etwas kostet und sich dies in Ihrem Etat abbildet. Das ist aber eben kein Ausweis von sozialer Gerechtigkeit; denn bei dem Einzelnen kommen nicht mehr Leistungen an. Wenn wir sehen, wie Ihre Zukunftsaufgaben wachsen und Ihr Etat sinkt, dann ist klar, dass Kahlschlag stattfindet. Wo findet er statt? Ausnahmslos bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik. ({11}) Viele können sich nicht vorstellen, dass der große Kahlschlag noch bevorsteht. Sie dachten vielleicht, dass sie ihn schon hinter sich haben. Sie sehen im Finanzplan bis 2016, von 2013 an gerechnet, bei den Jobcentern Kürzungen in Höhe von 18,5 Milliarden Euro vor und bei der Bundesagentur für Arbeit zusätzliche Kürzungen in Höhe von 36 Milliarden Euro. Das sind gewaltige Summen. Herr Weise hat gesagt, dass er schon gar nicht mehr weiß, wo er noch kürzen soll. Zunächst einmal wird die Bundesagentur bis zu 15 000 Mitarbeiter in den Jobcentern und bei der BA in den nächsten Jahren abbauen müssen. Dort sind diese Botschaften längst angekommen. Nicht nur die Budgets der Fallmanager sind leer. Diejenigen, die befristete Verträge haben, wissen schon heute, dass sie in ein paar Jahren auf der anderen Seite des Tisches sitzen werden. Sie planen diese Kürzungen, Frau von der Leyen, obwohl wir alle, die wir uns mit Arbeits- und Sozialpolitik beschäftigen, wissen, dass man zwar einerseits Geld im Budget braucht, um Maßnahmen zu finanzieren, dass man andererseits aber vor allen Dingen engagierte Mitarbeiter braucht. Um zum Beispiel die 900 000 Menschen, die langzeitarbeitslos sind, die keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung haben, wieder in Lohn und Brot zu bringen, braucht man Geld. Ihnen ist mit einem Bewerbungstraining nicht gedient. Sie brauchen qualifizierte Maßnahmen; aber sie brauchen auch eine enge und intensive Begleitung durch eine motivierte Mitarbeiterschaft. An dieser Stelle, Frau von der Leyen, wird im Haushalt die Axt angelegt. ({12}) Ich komme zum Thema Rente. Zum Thema Rente haben Sie, Frau von der Leyen, hier vor einem Jahr gesagt, dass Sie einen Rentendialog machen werden. Super. Was ist das gewesen? Eine Showveranstaltung. Sie haben sich wieder medienwirksam verkauft. ({13}) Es gab wieder einmal viele bunte Broschüren, Interviews und Talkrunden, obwohl das Ergebnis - jedenfalls für Sie - von Anfang an feststand. Eine echte Partizipation war das ja nicht. Das Ergebnis sollte Ihre werbewirksam intonierte Zuschussrente sein. Die Zuschussrente war ein echter Rohrkrepierer, aber nicht etwa, weil die Opposition gesagt hätte: „Die Zuschussrente ist ein Fake“, sondern weil das alle gesagt haben. Das haben nicht nur die Gewerkschaften, die Arbeitgeber oder die Wohlfahrtsverbände gesagt, sondern alle. Dann fand ein Koalitionsgipfel statt, vier Tage vor der Bereinigungssitzung. Dabei kam etwas Neues heraus: Über Nacht wurde aus der Zuschussrente die Lebensleistungsrente. ({14}) „Etikettenschwindel“ ist dafür noch eine zurückhaltende Bezeichnung. ({15}) Ganz genau wissen Sie ja selbst noch nicht - das gilt auch für Ihre Koalition -, wie Sie sie eigentlich ausgestalten wollen. Aber eines kann man den Menschen schon sagen: Um sie zu bekommen, müssen sie auf jeden Fall 40 Jahre gearbeitet haben; ob es sich dabei allerdings um Versicherungsjahre oder Beitragsjahre handelt, weiß man noch nicht genau. Außerdem müssen sie private Vorsorge betrieben haben, auch das 40 Jahre lang. Oder nur 30 Jahre? Wie lange eigentlich? Was heißt übrigens: „nur“ 30 Jahre? Wer von den Menschen, die heute in Rente gehen wollen, hat schon 30 Jahre zusätzlich privat vorgesorgt? So viele sind das nicht. Aber es sollen auch gar nicht viele sein. Denn das Ganze ist ja ein Billigmodell; dafür sorgt schon die FDP. Sie sagen also: Wer 40 Jahre gearbeitet und jahrzehntelang privat vorgesorgt hat, der soll für diese Lebensleistung - man höre und staune - 10 bis 15 Euro im Monat mehr bekommen. ({16}) Wissen Sie, was das ist, Frau von der Leyen? Das ist eine Verhöhnung der Menschen und ihrer Arbeit. ({17}) Frau Ministerin, dass Sie sich als Arbeits- und Sozialministerin damit überhaupt an die Öffentlichkeit wagen und auch noch erwarten, dass dieses Ergebnis einen Schulterklopfer wert ist, ist vor allen Dingen deshalb bitter, weil Sie den ganzen Sommer über das Thema Altersarmut gesprochen haben. An dieser Stelle will ich mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie dieses Thema in die Öffentlichkeit getragen haben. ({18}) Aber eine Ministerin sollte ein Problem nicht nur ansprechen, sondern auch Lösungsvorschläge machen. ({19}) Das, was Sie getan haben, hat mit der Bekämpfung von Altersarmut jedenfalls überhaupt nichts zu tun. Vielen Dank. ({20})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Axel Fischer. Bitte schön, Kollege Axel Fischer. ({0})

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Hagedorn, es ist schon bezeichnend, wenn in einer Debatte zum Thema „Arbeit und Soziales“ einer Sozialpolitikerin der SPD kein Wort zur guten Arbeitsmarktlage und zur guten Konjunkturlage in Deutschland über die Lippen kommt. ({0}) - Trotz der Regierung? ({1}) Das ist ja wieder das übliche Spiel. Sind die Arbeitsmarktdaten gut, wenn die Union mit der FDP regiert, sagen Sie: trotz der Regierung. - Sind die Arbeitsmarktdaten gut, wenn Sie mit den Grünen regieren, sagen Sie: wegen Ihrer Regierung. Axel E. Fischer ({2}) ({3}) - Genau, Herr Heil, so ist das; das ist Ihre Position. Sie passt zu dem, was vorhin gesagt wurde: Sie betreiben Propaganda durch und durch. Das hat mit der Realität aber nichts zu tun. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir ordentlich gearbeitet haben. Ich werde Ihnen das jetzt an Beispielen darlegen. ({4}) Der Bundeshaushalt 2013, den wir debattieren, ist nach überwundener Wirtschafts- und Finanzkrise ein weiterer Schritt auf dem erfolgreichen Konsolidierungspfad der christlich-liberalen Koalition. Wir haben die vorgesehene Neuverschuldung gegenüber dem Regierungsentwurf um knapp 10 Prozent auf 17,1 Milliarden Euro verringert. Für 2014 sehen wir damit einem strukturell ausgeglichenen Bundeshaushalt entgegen. Das ist eine Leistung, die man anerkennen muss. ({5}) Im Bereich des Einzelplans 11 sollen die Ausgaben für 2013 gegenüber dem Regierungsentwurf um rund 500 Millionen Euro auf 119,2 Milliarden Euro ansteigen. Das sind über 7 Milliarden Euro weniger, als für 2012 eingeplant waren. Damit beweisen wir, dass man auch mit weniger Geld für den Einzelplan 11 eine bessere Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik machen kann. ({6}) Außerdem, Frau Hagedorn, entlasten wir die Kommunen bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung um weitere 555 Millionen Euro. Das gibt den Kommunen die Luft zum Atmen, die sie so dringend brauchen. ({7}) Wir entlasten Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch die Senkung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung auf 18,9 Prozent und stärken so die Binnenkonjunktur. Wir kümmern uns um die Menschen, die mit ihrer Arbeit unsere Gemeinschaft tragen. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals an die Solidarleistung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erinnern, die mit der Kürzung des Bundeszuschusses zur allgemeinen Rentenversicherung in Höhe von 1 Milliarde Euro im Jahr 2013 einen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushalts leisten. Trotz abnehmender Konjunkturdynamik haben wir eine anhaltend gute wirtschaftliche Entwicklung, vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. ({8}) Dank unseres mutigen Vorgehens, insbesondere dank des Wachstumspaktes und einer zeitgemäßen Modernisierung unseres Arbeitsmarktes in den vergangenen Jahren, haben wir die krisenhaften Untiefen des Jahres 2009 hinter uns gelassen. Zentrale Faktoren unserer erfolgreichen Politik sind neben der schrittweisen Umsetzung der Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission die Entlastung bei den Sozialausgaben durch den Bund, vor allem aber eine auf Wachstum ausgerichtete Politik dieser erfolgreichen Koalition. ({9}) Mit der Neuorganisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Jahr 2010 haben wir eine neue Phase der Zusammenarbeit von kommunalen Trägern und Bundesagentur für Arbeit eröffnet. Ziel war eine möglichst effiziente und nachhaltige Hilfestellung für Hilfsbedürftige. Die Zahl der Arbeitslosen ist auf unter 3 Millionen gesunken. Wir bringen Menschen in Arbeit. ({10}) Im Jahr 2012 haben wir bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik mit 8 Milliarden Euro den Stand von 2006 wieder erreicht. Damals lag die Zahl der Arbeitslosen jedoch bei 4,5 Millionen Menschen, das heißt, um mehr als 1,5 Millionen höher als heute. Das bedeutet: Für jeden Arbeitslosen stehen heute über 50 Prozent mehr Mittel zur Verfügung als damals. Um diese Mittel möglichst erfolgreich für die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt einsetzen zu können, stecken wir erheblich mehr Geld in die Erforschung der Wirkungen der einzelnen arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Die Evaluation der Arbeitsmarktpolitik liefert laufend Ergebnisse, die von Einzelfall zu Einzelfall helfen, die jeweils beste Maßnahme zu finden. Ziel ist es, mit den Mitteln, die zur Verfügung gestellt werden, jedem Arbeitslosen die optimale Hilfe zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu geben. An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ganz besonders aber dem Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Herrn Weise, für die engagierte Arbeit danken. Nicht zuletzt durch seinen Einsatz ist die Entflechtung der Finanzen zwischen Bundesagentur für Arbeit und Bund möglich geworden. ({11}) Aus heutiger Sicht erscheint die Finanzausstattung der Bundesagentur für die Erfüllung ihrer laufenden Aufgaben wie zum Aufbau einer Rücklage für Krisenzeiten auskömmlich und langfristig tragfähig. Dieser Tage haben die Grünen auf ihrem Parteitag die Abschaffung der Sanktionsmöglichkeiten bei Hartz IV und damit ein bedingungsloses Grundeinkommen gefordert. Alle Menschen im Land sollen ein Anrecht auf einen auskömmlichen Lebensunterhalt von Staats wegen haben. Das Ziel ist sozusagen: Deutschland, Land der Sozialrentner. ({12}) Axel E. Fischer ({13}) Das erinnert mich ein wenig an meine Jugendzeit, als die Jusos in der Nach-Schmidt-Ära das „Recht auf Faulheit“ proklamierten. Meine Damen und Herren, Solidarität ist keine Einbahnstraße. Es gibt nicht nur ein Holrecht für Bedürftige, es gibt auch eine Bringschuld jedes Einzelnen gegenüber der Gesellschaft wie gegenüber der Gemeinschaft. ({14}) Hartz-IV-Empfänger sind arbeitsfähig, und unser Sozialsystem ist subsidiär aufgebaut, insbesondere auf Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade deshalb nehmen wir mit dem Haushalt 2013 diejenigen Menschen stärker in den Blick, die in unserer Wirtschaft für geringe Löhne teilweise große Anstrengungen auf sich nehmen. Sie ernähren sich selbst ohne Staatshilfe und leisten auch noch einen Beitrag dazu, dass andere arbeitsfähige Menschen ohne eigenes Zutun auch ihr Auskommen haben. Wir müssen diese gesetzestreuen, fleißigen Menschen mehr als bisher in den Blick nehmen; denn es gibt eine zunehmende Verärgerung über dreiste Beispiele des Missbrauchs staatlicher Leistungen. Wir haben in den vergangenen Jahren den gesamten Hartz-IV-Prozess optimiert. Das System Hartz IV gibt jetzt endlich auch Langzeitarbeitslosen einen stärkeren Anreiz und mehr Möglichkeiten, sich aus der Abhängigkeit von staatlichen Transfers zu befreien. ({15}) Wir wollen und können nicht hinnehmen, dass sich zu viele Menschen dauerhaft darauf einrichten, Arbeitslosengeld II mit Minijob oder gar Schwarzarbeit zu kombinieren. Eines muss klar sein: Hartz IV ist kein garantiertes Grundeinkommen. Es ist eine Unterstützung für Menschen, die Arbeit suchen. ({16}) Deshalb ist es nur richtig, dass die Sanktionsmöglichkeiten von der Bundesagentur für Arbeit ausgeschöpft und Leistungen gekürzt werden, wenn zumutbare Arbeit mutwillig abgelehnt wird oder vereinbarte Termine nicht eingehalten werden. Unser Ziel lautet: Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt und nicht Durchfüttern mit Sozialtransfers. ({17}) Wenn wir dauerhaft Akzeptanz für unseren Staat sichern wollen, dann müssen wir auch und gerade diejenigen in den Blick nehmen, die mit ihrer Arbeit unseren Staat, insbesondere auch unseren Sozialstaat, tragen. Ob Facharbeiter oder Angestellte, Selbstständige oder Freiberufler, ({18}) sie alle finanzieren mit ihren Steuern und Sozialabgaben unseren Staat. Auch und gerade diese vielen gesetzestreuen Bürger, deren Verzicht unseren Staat am Leben hält, haben ein Recht auf die Berücksichtigung ihrer Belange durch die Politik; denn unser jetziger Aufschwung und unser Konsumniveau sind Ergebnisse ihrer Leistung. Bei aller Freude an der Umverteilung und bei aller Hilfsbereitschaft darf Leistungsgerechtigkeit nicht zum Fremdwort werden. Meine Damen und Herren, mit der beispiellosen finanziellen Entlastung der Kommunen haben wir die einstige rot-grüne Politik korrigiert, ({19}) und kommunale Aufgaben und Finanzausstattung sind wieder im Gleichgewicht. 3,9 Milliarden Euro erstatten wir den Kommunen für die laufenden Nettoausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Durch die beschlossene dauerhafte Übernahme der Nettoausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ({20}) entlastet der Bund die Kommunen allein bis 2016 voraussichtlich um 20 Milliarden Euro. ({21}) Die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter steht für einen Paradigmenwechsel in der Bundespolitik. Wir belasten die Kommunen nicht mit immer neuen Aufgaben und Ausgaben, sondern wir stärken die Städte, Gemeinden und Landkreise. Das ist die größte Kommunalentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({22}) Der vorgelegte Haushalt ist ein zukunftsgerichteter Haushalt, der die Schwerpunkte für den Bereich der Arbeit und für die Fortentwicklung unseres Sozialstaats ausgewogen abdeckt. Ich danke an dieser Stelle ganz besonders unserer Hauptberichterstatterin Bettina Hagedorn sowie den Kolleginnen Winterstein, Hinz und Lötzsch und der Bundesregierung, namentlich Ministerin Dr. von der Leyen und Staatssekretär Fuchtel, für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit. ({23}) Ihnen allen danke ich für die Aufmerksamkeit. ({24})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist unsere Kollegin Frau Dr. Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! „Sozial ist, was Arbeit schafft“ - dieser Satz ist Programm für Kanzlerin Merkel. Immer mehr Menschen spüren aber am eigenen Leib, wie zynisch er sein kann. Über 1 Million Menschen in unserem Land müssen aufstocken. Das heißt, sie können von ihrem geringen Lohn nicht leben und müssen beim Jobcenter betteln. ({0}) Bei 350 000 vollzeitbeschäftigten Menschen reicht der Lohn nicht für das tägliche Überleben. Das ist nicht sozial. Das verletzt die Würde jedes Einzelnen und steht im Widerspruch zum Grundgesetz. ({1}) Allein im Jahr 2010 wurden 4 Milliarden Euro an Steuergeldern ausgegeben, um diese Hungerlöhne anzuheben. Arbeitgeber von über 1 Million Menschen weigern sich, gerechte Löhne zu zahlen, und die Bundesregierung unterstützt Lohndrücker und bestraft Unternehmen, die ehrliche Löhne zahlen. Dagegen gibt es ein wirksames Mittel, nämlich den gesetzlichen Mindestlohn. Den müssen wir hier im Bundestag endlich beschließen. ({2}) Wir Linke fordern einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro die Stunde. Bisher hat Frau von der Leyen viel über Mindestlöhne gesprochen; aber real subventioniert sie weiter Hungerlöhne. Das, Frau von der Leyen, ist nicht Ihre Aufgabe. ({3}) Über 1 Million Menschen wurden von Juli 2011 bis August 2012 vom Jobcenter mit Sanktionen abgestraft; das spielte in dieser Debatte schon eine Rolle. Das ist ein neuer Negativrekord. Aber zwei Drittel dieser Sanktionen beruhten auf Meldeversäumnissen. Das sind also keine Missbrauchsfälle, wie hier immer suggeriert wird. Die Missbrauchsfälle betragen laut dieser Statistik nur 3,2 Prozent. Es geht also nicht um Arbeitsverweigerung; diese Menschen haben nur einen Termin nicht wahrgenommen. - Ich mache einen Vorschlag an alle, Herr Präsident: Es wäre doch nur gerecht, wenn auch das Gehalt der Minister bei Meldeversäumnissen gesenkt würde. Wer zum Beispiel einen Bericht an den Bundestag nicht rechtzeitig vorlegt, dem wird das Gehalt um 20 Prozent gekürzt. ({4}) Das wäre eine sehr wirksame Maßnahme, um die Autorität des Bundestages wieder zu stärken. Vielleicht besprechen Sie das einmal im Ältestenrat. Die Bundesagentur für Arbeit besteht auf diesen Sanktionen. Die Begründung lautet - ich zitiere -, es solle „keine Hängematte auf Kosten des kleinen Arbeitnehmers geben“. Ich frage Sie: Warum dürfen Arbeitgeber auf Kosten von Arbeitnehmern Hungerlöhne zahlen? Und warum liegt die Ministerin in der Hängematte und schaut diesem Lohndumping zu? Das muss endlich ein Ende haben. ({5}) Der aktuelle Konjunkturbericht der Deutschen Bank ist mit folgendem Satz überschrieben: „Euro-Krise bringt Wirtschaft im Winterhalbjahr zum Stillstand“. Frau Ministerin, meine Damen und Herren von der Koalition, Ihre Freunde von der Deutschen Bank sagen das, nicht nur die Linke. Da sollte man doch endlich Vorsorge treffen. Sie fordern jeden Tag die Menschen auf, für das Alter und Probleme vorzusorgen. Doch diese Regierung ist unfähig, Vorsorge auch nur für das nächste halbe Jahr zu treffen. Das ist doch ein Armutszeugnis. ({6}) Wir brauchen dringend einen Schutzschirm für Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose und Familien. Erinnern wir uns: In der Krise 2008 wurde die Regelung zur Kurzarbeit vereinfacht. Das brauchen wir jetzt wieder. Schützen Sie die heutigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rentner vor Altersarmut! Schon heute arbeiten immer mehr über 70-Jährige, weil die Rente nicht zum Überleben reicht. Sollen sie etwa bis zum Tod malochen? ({7}) Das können wir nicht hinnehmen. Wir brauchen endlich eine solidarische Mindestrente. ({8}) Doch was machen Sie in Ihrem Haushalt? Sie nehmen der Bundesagentur für Arbeit Geld weg; Frau Hagedorn ist schon darauf eingegangen. Sie schwächen im Angesicht der Krise die solidarische Arbeitslosenversicherung. Damit öffnen Sie das Tor für mehr und nicht für weniger Altersarmut, und das ist absolut verantwortungslos. ({9}) Erinnern wir uns: Die Mehrwertsteuererhöhung aus dem Jahr 2005 war eine Wahllüge der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Um sie den Menschen einigermaßen schmackhaft zu machen, wurde versprochen, die Einnahmen aus einem Prozentpunkt der Mehrwertsteuer in die Arbeitslosenversicherung zu geben. Doch jetzt fließen diese Steuergelder nicht mehr in die Arbeitslosenversicherung, sondern versickern irgendwo im Haushalt. Das, meine Damen und Herren, ist eindeutig eine Zweckentfremdung von Steuermitteln. Das dürfen wir nicht hinnehmen. ({10}) Die Linke fordert: Es muss weiter ein Zuschuss an die Bundesagentur für Arbeit gezahlt werden. Alles andere ist grob fahrlässig. Zum Schluss möchte ich auf etwas hinweisen, das augenscheinlich in Vergessenheit geraten soll. Das größte Kürzungspaket in der Geschichte der Bundesregierung wurde im Jahr 2010 beschlossen. Alle Sozialkürzungen wurden eins zu eins umgesetzt: Sie haben das Elterngeld für Arbeitslosengeld-II-Empfänger abgeschafft. ({11}) Sie haben den Heizkostenzuschlag gestrichen. Sie haben den befristeten Zuschlag auf das Arbeitslosengeld II und den Zuschuss an die Rentenversicherung gestrichen. Alles das haben Sie umgesetzt. Die vorgesehene Beteiligung der Unternehmen, insbesondere der Finanzindustrie, ist teilweise oder ganz ausgefallen. Das zeigt, dass für diese Regierung soziale Gerechtigkeit nichts anderes als ein Fremdwort ist. ({12}) Fazit: Kein Mitglied dieses Hauses, das sich ehrlich für soziale Gerechtigkeit einsetzt und seinen Wählerinnen und Wählern zu Hause in die Augen schauen können will, kann diesem Haushalt zustimmen. Wir Linke lehnen ihn ab. Vielen Dank. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin Frau Dr. Claudia Winterstein. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Winterstein. ({0})

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss zu Beginn erst einmal etwas richtigstellen. Bettina Hagedorn, das waren eben lauter reißerische Schlagwörter: sozialpolitischer Kahlschlag, Bankraub, Skandal. ({0}) Alles Unsinn! ({1}) Sie reden hier von einem Griff in die Sozialkassen. ({2}) Sie unterstellen also, es würden Beitragsgelder zweckentfremdet. Das trifft nicht zu. Bei der Rentenversicherung werden die Beiträge gesenkt. Das nützt den Arbeitnehmern wie auch den Arbeitgebern. ({3}) Nach wie vor fließen über 80 Milliarden Euro aus Steuermitteln als Zuschuss in die Rentenversicherung. Wenn aber die Kassen übervoll sind wie zurzeit, dann ist es nur recht und billig, diesen Zuschuss aus Steuermitteln etwas zurückzuführen. Das tun wir hier bei der Rentenversicherung, und zwar lediglich in einer Höhe von 750 Millionen Euro. ({4}) Das sind die Fakten. Nehmen Sie sie bitte zur Kenntnis! ({5}) Nun zurück zum Haushalt. Nach all dem Lamentieren der Opposition möchte ich erst einmal festhalten: Wir haben wirklich ausgesprochen erfolgreiche Haushaltsplanberatungen hinter uns. Die Gesamtausgaben 2013 liegen niedriger als zu Beginn der Legislaturperiode. Das ist Ausgabendisziplin. Die Neuverschuldung für 2013 ist auf dem niedrigsten Stand dieser Legislaturperiode. Sie liegt nicht bei 86,1 Milliarden Euro, wie zuletzt bei Peer Steinbrück für das Jahr 2010 vorgesehen, sondern bei 17,1 Milliarden Euro. Das ist Konsolidierung, meine Damen und Herren. ({6}) Das Volumen des Einzelplans 11 wurde im Laufe der Beratungen gegenüber dem Entwurf um etwa eine halbe Milliarde Euro erhöht. Die Ursache dafür ist eine zusätzliche Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung im Alter in Höhe von 555 Millionen Euro. Insgesamt werden die Kommunen im kommenden Jahr allein in diesem Bereich um 3,2 Milliarden Euro entlastet. Auch das muss man einmal zur Kenntnis nehmen. ({7}) Der Einzelplan 11 liegt mit seinen Gesamtausgaben jetzt bei 119,2 Milliarden Euro. Das sind 6,9 Milliarden Euro weniger als im Haushaltsplan 2012, ({8}) hat aber überhaupt nichts mit Kahlschlag zu tun. Zu verdanken ist das vor allem der guten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Das ist gut für die Menschen, und das ist natürlich auch gut für den Bundeshaushalt. Nehmen Sie doch einfach einmal die positiven Zahlen zur Kenntnis, Frau Hagedorn! Wir haben mit 41,8 Millionen so viele Erwerbstätige wie noch nie. ({9}) Wir haben mit 29,1 Millionen so viele sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie noch nie. Wir haben mit 2,7 Millionen Arbeitslosen den niedrigsten Stand seit 20 Jahren. ({10}) Zugleich haben wir so wenig Hartz-IV-Empfänger wie noch nie. Die aktuellen Zahlen zeigen also: Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor in einer robusten Verfassung. ({11}) Im Übrigen sorgen wir mit der Senkung des Rentenbeitragssatzes von 19,6 auf 18,9 Prozent und damit der Senkung der Lohnnebenkosten gerade für einen weiteren positiven Impuls für den Arbeitsmarkt. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, schlagen vor, mehr Geld für Arbeitsmarktprogramme auszugeben - und das gleich in Milliardenhöhe. ({12}) Die SPD will 1,6 Milliarden Euro ausgeben, die Linke 2,7 Milliarden Euro und die Grünen 330 Millionen Euro. Wir dagegen setzen unser Sparpaket konsequent um und führen die Mittel auf circa 8 Milliarden Euro zurück, also auf das Niveau von 2006. Das ist für die Betroffenen keine Kürzung; denn heute gibt es - das ist sehr erfreulich - deutlich weniger Arbeitslose im SGB-II-Bezug, nämlich 1,9 Millionen Menschen, als im Jahr 2006, da waren es nämlich 2,8 Millionen Menschen. Wenn wir für diesen Personenkreis nun aber die gleiche Summe an Fördermitteln zur Verfügung stellen wie 2006, dann ist das logischerweise ein deutlicher Pro-Kopf-Anstieg. Das müsste uns Haushältern doch klar sein. Das Lamento der Opposition ist hier also völlig unverständlich. ({13}) Im Bereich der Rentenversicherung haben wir zwei Elemente, die sich auf den Bundeshaushalt auswirken: Zum einen senken wir den Bundeszuschuss an die Rentenversicherung für die Jahre 2013 bis 2015 vorübergehend ab. Das ist ein gezielter Konsolidierungsbeitrag von 750 Millionen Euro - das wurde schon gesagt - in 2013. Wenn die Kassen überquellend voll sind, dann ist es zulässig, diesen Zuschuss aus den Steuermitteln entsprechend zurückzufahren. Zum anderen wirkt sich positiv aus, dass der Rentenversicherungsbeitragssatz sinkt; denn damit haben wir auch beim Bundeszuschuss eine Einsparung. Frau Hagedorn, dass Sie sich gegen die Entlastung der Beitragszahler wenden und das als Griff in die Sozialkassen diskreditieren, kann wirklich keiner verstehen. ({14}) Wenn wir den Beitragssatz jetzt nämlich nicht gesenkt hätten, käme es bei der Rentenversicherung bis 2020 zu einer Rücklage von 82 Milliarden Euro. Dieses Geld wollen Sie den Beitragszahlern vorenthalten? Nein, meine Damen und Herren, das Geld ist bei den Beitragszahlern besser aufgehoben. ({15}) Bei der Bundesagentur für Arbeit liegen nach der Herbstprognose jetzt neue Haushaltszahlen vor. Das Jahr 2012 wird die BA voraussichtlich mit einem Überschuss von 2,2 Milliarden Euro abschließen. Das ist ein gutes Ergebnis, das auch die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt zeigt. ({16}) Im kommenden Jahr wird nun auch endlich eine alte Forderung der FDP umgesetzt. Sie haben es schon angesprochen. Wir entflechten die Finanzbeziehungen zwischen Bundeshaushalt und Bundesagentur. Ab 2013 erhält die Bundesagentur vom Bund keine laufenden Zahlungen mehr - das ist der Mehrwertsteuerpunkt -; ({17}) im Gegenzug muss die BA auch nichts mehr an den Bund zahlen. Das ist der Eingliederungsbeitrag. ({18}) Sie haben recht: Im nächsten Jahr entsteht ein Defizit von 1,14 Milliarden Euro. Das weiß ich sehr wohl. Das ändert sich aber sofort in den Jahren darauf. Insofern werden wir bis zum Jahr 2017 wieder eine Rücklage von 6,2 Milliarden Euro zu verzeichnen haben. Auch das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. ({19}) Die Vorschläge von SPD und Grünen hingegen laufen fast ausschließlich auf Steuererhöhungen hinaus. Damit wollen Sie Mehrausgaben finanzieren. 6 Milliarden Euro Mehrausgaben haben die Grünen in den Haushaltsberatungen gefordert; 7 Milliarden Euro Mehrausgaben sind es bei der SPD. Das kann sich Deutschland nicht leisten. Diese Regierung geht einen soliden Weg. Wir schaffen es bereits 2013, die Schuldenbremse einzuhalten, und damit drei Jahre früher als notwendig. ({20}) Unser Ziel ist ein strukturell ausgeglichener Haushalt im Jahr 2014. ({21}) Mit diesem Haushalt sind wir auf einem sehr guten Weg. Danke. ({22})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Brigitte Pothmer. Bitte schön, Frau Kollegin Brigitte Pothmer.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin von der Leyen, Sie sind in diesem Monat seit drei Jahren Arbeits- und Sozialministerin. ({0}) Ich hätte Ihnen, quasi von Niedersächsin zu Niedersächsin, gerne einen großen Blumenstrauß überreicht. Ich habe mir dann aber Ihre Bilanz noch einmal genau angeguckt und beschlossen, den Strauß doch lieber selber zu behalten. ({1}) Dabei fehlt es Ihnen wahrlich nicht an Talent, zumindest was die Präsenz in den Medien angeht. Der Mangel zeigt sich woanders: Der Mangel zeigt sich bei der Empathie für die Schwächsten in dieser Gesellschaft. Es fehlt dieser Regierung ein Gerechtigkeits-Gen. ({2}) Soziales rangiert bei Schwarz-Gelb auf der Resterampe. Das kann man anhand dieses Haushaltsentwurfs deutlich nachempfinden. Kein Etat wurde in Ihrer Zeit so geschröpft wie der Etat des Sozial- und Arbeitsministeriums. Gemeinsam mit Herrn Schäuble haben Sie, Frau von der Leyen, die Axt an die Arbeitsförderung gelegt. ({3}) In Ihrer Amtszeit wurden die Mittel hierfür um 40 Prozent reduziert. Die Arbeitslosigkeit ist aber im SGB-II-Bereich nur um 10 Prozent und die Langzeitarbeitslosigkeit ist nur um 1 Prozent zurückgegangen. Nein, Frau Ministerin, die Langzeitarbeitslosen sind die großen Verlierer Ihrer Arbeitsmarktpolitik. ({4}) Für sie waren Schwarz-Gelb drei verlorene Jahre. Aber auch die prekäre Beschäftigung hat sich in Ihrer Amtszeit deutlich ausgeweitet. Fast 8 Millionen Niedriglöhner, fast 5 Millionen Minijobberinnen, Hunderttausende Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter - für diese Menschen gilt: Armut trotz Arbeit im Hier und Jetzt und Altersarmut für die Zukunft. Diesen Menschen, die ein Leben lang fleißig gearbeitet haben - um das einmal mit Ihren Worten zu sagen, Frau von der Leyen -, treten Sie mit einem regelrechten Betrugsmanöver entgegen. ({5}) Sie versprechen diesen Menschen eine Lebensleistungsrente. Sie versprechen sie denen, denen Sie den gesetzlichen Mindestlohn verweigern, ({6}) Sie versprechen sie denen, denen Sie Equal Pay vorenthalten, und Sie versprechen sie denen, die Sie selber durch die Ausweitung von Minijobs ins berufliche Abseits gedrängt haben. ({7}) All diesen fleißigen Leuten versprechen Sie nach 40 Jahren Arbeit, am Ende ihrer prekären Erwerbsbiografie, 10 Euro zusätzlich zur Grundsicherung im Alter. Meine Damen und Herren, das ist zynisch; das ist mehr als zynisch. ({8}) Sie wissen genauso gut wie ich: Entscheidend ist, was vor der Rente kommt. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn, wir brauchen Equal Pay, wir brauchen eine Reform der Minijobs, und wir brauchen endlich gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. ({9}) Das wäre im Übrigen auch ein Instrument zur Armutsbekämpfung. Der Armuts- und Reichtumsbericht hat in aller Deutlichkeit gezeigt, in welchem Ausmaß die soziale Spaltung in dieser Gesellschaft zugenommen hat. Es ist nicht nur eine Spaltung entlang der Einkommensgrenzen - das auch -, sondern es geht um eine völlig neue Qualität von Armut, um eine Armut, die sich geradezu vererbt. Sie, Frau von der Leyen, nehmen für sich in Anspruch, dass Sie mit dem Bildungs- und Teilhabepaket dieser kulturellen Armut begegnen wollen. Ich will an dieser Stelle gar nicht darüber reden, dass das Bildungsund Teilhabepaket ein bürokratisches Monster ist, das bei den meisten Kindern nicht ankommt. ({10}) Ich rede vom Inhalt dieses Bildungs- und Teilhabepakets. Ich rede zum Beispiel vom Nachhilfeunterricht. Ich war letzte Woche in meinem Wahlkreis unterwegs und habe eine Kinderbetreuungseinrichtung besucht, die in einem sozialen Brennpunkt liegt. Die Mitarbeiterinnen dieser Einrichtung engagieren sich in hohem Umfang dafür, mit Nachhilfeunterricht den Kindern neue Chancen zu eröffnen. Wissen Sie, Frau von der Leyen, was das Drama ist? Wenn diese Kinder sich mühselig von einer Fünf auf eine Vier hochgearbeitet haben, dann wird ihnen der Nachhilfeunterricht gestrichen. So belohBrigitte Pothmer nen Sie die Anstrengung dieser Kinder: Dann ist diese Unterstützung weg. ({11}) Mit diesem Bildungs- und Teilhabepaket verhindern Sie vielleicht das Sitzenbleiben; den sozialen Aufstieg ermöglichen Sie damit mit Sicherheit nicht. ({12}) Frau von der Leyen, zu Ihrem Jubiläum wird es keine Lobeshymnen geben. Auch die Medien reagieren inzwischen ziemlich sparsam. Als Staatsschauspielerin wurden Sie neulich im Spiegel beschrieben. ({13}) Drei Rollen wurden Ihnen zugeordnet: die Powerfrau, die Supermutti und die Barmherzige. Alle drei Rollen hatten Sie gut einstudiert, aber das ist alles nur Theater. Ihr Krippenprogramm kam nicht in Gang, Ihre Bildungsgutscheine sind ein bürokratisches Monster, und Ihre Zuschussrente ist ein falsches Versprechen. Sie dürfen sich wirklich nicht beschweren, dass dafür keine roten Rosen regnen. Ich danke Ihnen. ({14})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. Bitte schön, Frau Bundesministerin. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dann fangen wir einmal an mit der Bilanz, die Sie, Frau Pothmer, gerade eingefordert haben. Das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann: ({0}) Wir haben in Deutschland so viel Beschäftigung wie noch nie. Wir haben die geringste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Dafür werden wir international hoch anerkannt. ({1}) Das sind nachhaltige Entwicklungen. Wir haben seit 2005 einen Rekord bei den Erwerbstätigen. Wir haben einen Rekord bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Übrigens, der Anteil der erwerbstätigen über 55-Jährigen ist auf 60 Prozent gestiegen, der Anteil der erwerbstätigen über 60-Jährigen ist auf 44 Prozent gestiegen. Wir haben damit in Europa Platz zwei hinter Schweden. Das ist eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht, Frau Pothmer. ({2}) Wir haben die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen halbiert. Wir haben die Zahl der Langzeitarbeitslosen gesenkt, ({3}) und zwar um 40 Prozent seit 2007. Meine Damen und Herren, das sind die Fakten in dem Land, in dem Angela Merkel seit sieben Jahren Kanzlerin ist. Darauf sind wir stolz. ({4}) Wir haben übrigens auch in der Grundsicherung nachhaltige, langfristige Erfolgszahlen. Die Hilfequote ist heute so niedrig wie noch nie seit Einführung von Hartz IV; das muss man der Opposition einmal sagen. Wir haben die Hilfequote gesenkt. ({5}) Wir haben rund 450 000 Bedarfsgemeinschaften in Hartz IV weniger als 2007. Wir haben rund eine Viertelmillion Kinder weniger in Hartz IV, und das ist etwas, worüber wir uns freuen, meine Damen und Herren. Das ist der richtige Weg. ({6}) Wir haben 900 000 Menschen aus der Grundsicherung herausgeholt und ihnen den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht. Das zeigt, dass wir es mit Fordern und Fördern ernst meinen, dass wir den Menschen wirklich eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt geben, dass wir mehr Arbeitsangebote machen können. Wir haben inzwischen einen besseren Betreuungsschlüssel in den Jobcentern. Die Arbeitsmarktdaten sind der beste Beweis dafür, dass unsere Politik stimmig ist. ({7}) Es sind die Reformen der letzten Jahre, die sich als richtig erwiesen haben. ({8}) Es sind die Arbeitsmarktreformen vom Anfang des letzten Jahrzehnts, von denen Sie sich gerade förmlich im Schweinsgalopp verabschieden. ({9}) - Ich werde Ihnen das gleich noch zeigen. - Es ist im Übrigen die Jobcenterreform, die Sie nicht geschafft haben. ({10}) Wir haben diese Reform zum Abschluss gebracht. Heute stehen die Jobcenter deshalb hervorragend da. ({11}) Wir haben die Zeitarbeit als flexibles Instrument erhalten, aber wir haben sie reguliert. Das war nötig, Stichworte „Drehtürklausel“ und „Mindestlohn“. ({12}) Das heißt, wir haben die schlechten Anteile des rot-grünen Gesetzes korrigiert. Das war nötig. Wir haben in der Tat das SGB II reformiert und das Bildungspaket eingeführt. Ich freue mich, dass Sie mehr davon fordern, Frau Pothmer. Es ist der richtige Weg, den wir gegangen sind. Wir haben den Übergang von Schule in den Beruf neu geordnet. Es spricht Bände, dass sich Europa in diesen Tagen genau nach diesen Erfolgsrezepten ausrichtet, aber die Opposition sich davon verabschiedet und eine Rolle rückwärts macht. ({13}) Wir stehen zu diesem Erfolgspfad. Wir stehen zu den Arbeitsmarktreformen, und wir stehen auch zu der schrittweisen Einführung von Arbeit bis 67. Wir haben uns einmal angeschaut, was Sie auf den letzten Parteitagen bzw. die SPD in ihrem Rentenpapier beschlossen haben. ({14}) - Der Parteitag kommt noch! - Die Grünen haben auf ihrem Parteitag beschlossen, den Regelsatz auf 420 Euro zu erhöhen. ({15}) Das betrifft Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, steuerlichen Grundfreibetrag. Meine Damen und Herren, die Grünen haben beschlossen: auf einen Schlag 8 Milliarden Euro Kosten mehr ({16}) und auf einen Schlag 1,5 Millionen Menschen in Hartz IV mehr. ({17}) Das müssen Sie nicht nur denen erklären, die Sie jetzt neuerdings zu Bedürftigen machen, ({18}) sondern auch den Menschen, die jeden Tag aufstehen und fleißig dafür arbeiten, dass dieses Geld dann auch in der Kasse klingelt. ({19})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Markus Kurth, bitte. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Das haben wir gerade gemacht. Unsere Bilanz haben wir gerade dargestellt. Soll ich sie Ihnen noch einmal darstellen?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Jetzt stellt der Kollege Markus Kurth seine Zwischenfrage.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. - Frau von der Leyen, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil im Februar 2010 klar gesagt hat, dass das soziokulturelle Existenzminimum dem Grunde nach unverfügbar ist, und dass es klare Kriterien festgelegt hat, nach denen ein Regelsatz zu berechnen ist? ({0}) Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie in Ihren Berechnungen weder die verdeckte Armut ausgeschlossen haben noch zum Beispiel Mittel, die für die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen notwendig sind, in den Regelsatz einbezogen haben? Sind Sie bereit, nachzuvollziehen, dass man, wenn man diese Bestandteile einberechnet, auf diese rund 420 Euro kommt? Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir auf unserem Bundesparteitag ein Steuerkonzept beschlossen haben, in dem die Erhöhung des Grundfreibetrages, die den geringen Einkommen zugutekommt, durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes gegenfinanziert ist? Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nach den Angaben Ihres eigenen Hauses im Bereich der Transferzahlungen direkt zu einer Entlastung von 1,5 Milliarden Euro führt ({1}) und das dann sowohl verfassungsrechtlich und menschenrechtlich geboten als auch zusätzlich gut gegenfinanziert ist? ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das war also eine Frage. Bitte schön, Frau Ministerin.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Das war ein ausführliches Statement. - Da Sie das Bundesverfassungsgericht bemüht haben, bitte ich Sie, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Erstens. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz explizit auf unser gutes Gesetz Bezug genommen und damit indirekt bestätigt, dass diese Rechnungen richtig sind. ({0}) Zweitens. Kommen wir zum Rentenpapier der SPD. Wir stellen fest, dass die SPD in ihrem Rentenpapier die Rentenpolitik von Schröder und Müntefering rückabgewickelt hat. ({1}) - Es war die Frage von Herrn Kurth nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil und danach, ob wir zur Kenntnis nehmen, dass seine Ausführungen richtig seien. ({2}) Nein. Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes zu den Hartz-IV-Regelsätzen, nach denen Sie gefragt haben, ({3}) richtig sind, so wie wir sie berechnet haben. Ich kann aber gerne, Herr Präsident, diesen Satz noch dreimal wiederholen, falls Herr Kurth es nicht versteht. - Danke. Jetzt zu den Rentenplänen der SPD. Ich merke, wenn Sie versuchen, immer wieder auf Herrn Kurth abzulenken, dann, weil Sie Angst davor haben, dass wir Ihnen jetzt sagen, was in Ihren Papieren steht. ({4}) In Ihren Papieren steht nämlich - ich finde das ganz spannend -: Erstens. Alles, was Schröder und Müntefering in der Rentenpolitik gemacht haben, wird wieder rückabgewickelt. ({5}) Der Gedanke von Generationengerechtigkeit - nicht drin! Beitragszahler werden massiv belastet. Ich zähle es Ihnen einmal auf: Erwerbsminderungsrente, Teilrente, abschlagsfreier Zugang, Aussetzung der Rente mit 67, Anhebung des Sicherungsniveaus, Solidarrente. Kostenpunkt 2030: 90 Milliarden Euro. ({6}) Wie verträgt sich das eigentlich mit der Beinfreiheit des Kandidaten, meine Damen und Herren? Diese Frage stellen wir uns gemeinsam. ({7}) Für uns bleibt nach wie vor nicht das Ziel, mehr Menschen in Hartz IV zu bringen, nicht das Ziel, die junge Generation mehr zu belasten, wie es offensichtlich Ihre Ziele sind. ({8}) Unsere Ziele bleiben, die Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen und Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. ({9}) Deshalb stehen 8 Milliarden Euro für Eingliederung und Verwaltung bereit. Das sind pro Arbeitslosen genauso viel Mittel wie vor der Wirtschafts- und Finanzkrise in 2008 und deutlich mehr, als es 2006 der Fall war. Wir setzen die Akzente auf Bildung, auf Ausbildung und Weiterbildung. Der Eingliederungstitel der Bundesagentur für Arbeit bleibt nicht nur stabil. Er wächst. 2013 stehen 800 Millionen Euro mehr zur Verfügung, als das voraussichtliche Ist für 2012 - also das, was tatsächlich gebraucht wird - beträgt. ({10}) Frau Hagedorn, Sie haben die Bundesagentur für Arbeit als Zitrone bezeichnet. ({11}) Nein, die Bundesagentur für Arbeit ist keine Zitrone, und die Unkenrufe aus dem Frühjahr, ({12}) als Sie uns sagten, welche Defizite entstehen würden, haben sich nicht bestätigt. ({13}) Die BA braucht keine Zuschüsse. Sie hat 2,1 Milliarden Euro Überschuss. Das ist der richtige Weg. Sie geht sogar selbst davon aus, dass wir 2017 wieder 6 Milliarden Euro Rücklage in der BA aufgebaut haben. Ich möchte noch einmal zur Rente Stellung nehmen, was unsere eigenen Pläne angeht. Das Rentensystem ist gut aufgestellt. Wir sind der Meinung, dass wir mit der gesetzlichen und der privaten oder betrieblichen Absi25404 cherung das Risiko auf zwei Beine verteilt haben, aber auch die Chancen auf zwei Beine verteilt haben. Dafür werden wir weltweit gelobt. Wenn das Rentenniveau zum Schutz der jungen Erwerbstätigen sinkt, dann ist unsere Antwort nicht, dass wir das gesamte Niveau wieder erhöhen nach dem Motto: Vor allem die hohen und mittleren Renten bekommen etwas, aber - nach uns die Sintflut! - die Jungen können das bezahlen. ({14}) Wir wollen gezielt für die Geringverdiener etwas tun. Wer jahrzehntelang in den Generationenvertrag eingezahlt hat, ihn durch Beiträge oder Kindererziehung sichert, und wer privat oder betrieblich vorsorgt - wir halten beide Formen der Vorsorge für richtig -, muss im Alter eine Rente aus dem Rentensystem erhalten. ({15}) Deshalb führen wir die Lebensleistungsrente ein, meine Damen und Herren. ({16}) Wir werden die Höhe der Entgeltpunkte festlegen. Das ist im Rentensystem üblich. Die Niedrigrenten werden durch Steuermittel aufgewertet. ({17}) Dabei wird die private und betriebliche Vorsorge nicht verrechnet. Wir wollen nicht, dass Bezieher von Niedrigrenten umsonst in die private oder die betriebliche Vorsorge eingezahlt haben, ({18}) sondern wir wollen einen Anreiz für sie schaffen, sozialversicherungspflichtig zu arbeiten. Außerdem wollen wir einen Anreiz für sie schaffen, private und betriebliche Vorsorge zu betreiben. Nach unserer Vorstellung muss nach wie vor gelten: Es muss einen Unterschied machen, ob man sich anstrengt oder nicht. ({19}) Das gilt für den Arbeitsmarkt genauso wie für die Rente, meine Damen und Herren. Deshalb ist dieser Haushalt gut aufgestellt. Vielen Dank. ({20})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Bundesministerin. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin von der Leyen, bei Ihrer Rede habe ich mich erinnert an ein großartiges Buch von George Orwell aus dem Jahr 1948. Das Buch heißt: Big Brother is watching you. ({0}) - 1984. Entschuldigung. Das Buch heißt: 1984. Danke für die Hilfe! Literarisch bewanderte Kollegen! ({1}) - Hören Sie kurz zu! 1984 ist ein wunderbares Buch. In diesem Buch gibt es eine Regierung, die eine Sprache erfindet, die immer das Gegenteil dessen zum Ausdruck bringt, was gemeint ist. Diese Sprache heißt „Neusprech“. Übertragen wir das einmal auf Ihre Rede und gehen die einzelnen Begriffe durch, die Sie in den Raum geworfen haben. Sie sind eine Meisterin darin, Begriffe zu erfinden. Sie haben einen ganzen Sommer lang den Begriff der Bildungschipkarte in Interviews verbreitet. Damit haben Sie die Erwartungshaltung geweckt - ich stelle es einmal überspitzt dar -, dass Kinder von HartzIV-Empfängern demnächst alle Reitunterricht und Geigenunterricht bekommen. Herausgekommen ist ein Bildungspaket, das wir zwar verbessern konnten, das aber in der Abwicklung ein bürokratisches Problem ist. ({2}) Auch da: viel Wortgeklingel, wenig Substanz. Wir haben erlebt, dass Sie beim Thema Mindestlohn mit dem Begriff der Lohnuntergrenze operieren. ({3}) Herausgekommen ist dabei nichts. ({4}) Meine Damen und Herren, Frau von der Leyen ist eine Anscheinserweckerin. Sie tut so, als ob. Aber Tatsache ist: Diese Regierung hat es nicht hinbekommen, Sie persönlich haben es nicht hinbekommen, das zu tun, was notwendig ist, nämlich einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland durchzusetzen, damit Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit leben können. Schweigen Sie lieber von Ihrer Lohnuntergrenze und handeln Sie! ({5}) Bei den Themen „Frauenquote“ und „Gleichstellung“ sind Sie bei Appellen offensichtlich auf der richtigen Seite. Durchgesetzt haben Sie aber nichts. Auch wieder nur Wortgeklingel! Ihre Kollegin Frau Schröder hat dann einen neuen schönen Klingelbegriff erfunden, die sogenannte Flexi-Quote. ({6}) Hubertus Heil ({7}) Das setzt sich fort mit dem Wortgeklingel „ Zuschussrente“, die Sie jetzt umgetauft haben in „Lebensleistungsrente“. An dieser Stelle hört der Spaß auf, Frau Ministerin. Wer Menschen, die hart arbeiten, so verhöhnt, wie Sie das mit diesem Unsinn tun, der sollte bei diesem Thema schweigen. Eine Bundesministerin für Arbeit und Soziales, die sich über Altersarmut und über Ängste von Menschen vor Altersarmut verbreitet, aber bei den Themen „Erwerbsarmut“ und „Kampf gegen prekäre Arbeit“ schweigt, hat ihren Job verfehlt, meine Damen und Herren. ({8}) Ich sage Ihnen das, weil Frau Pothmer vollkommen recht hat: Altersarmut ist das Ergebnis von Erwerbsarmut, von Langzeitarbeitslosigkeit, von prekärer Arbeit und von schlechter Entlohnung. Die Frage, ob wir im Jahr 2025 oder 2030 die Altersarmut abwenden können, die die Menschen heute fürchten, hängt mit der Frage zusammen, welche Ordnung wir am Arbeitsmarkt haben, ob wir dafür sorgen, dass Menschen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse hineinkommen und dass sie von ihrer Arbeit leben können, dass das Arbeitsvolumen von Frauen durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf steigt und sie nicht in Teilzeitfallen gefangen sind. Es kommt darauf an, dass wir den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit nicht mit einem Wortgeklingel abtun, wie Sie es vorhin getan haben, sondern durch den Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ abwenden, dass wir gegen den Missbrauch von Werkverträgen angehen und dass wir den Unsinn der Minijobs nicht ausweiten, sondern den Missbrauch von Minijobs in diesem Land zurückdrängen, meine Damen und Herren. Das sind die Aufgaben. ({9}) Frau von der Leyen, die Sprache bei George Orwell heißt „Neusprech“. Sie sind eine Meisterin des „Neusprechs“. Sie erfinden neue Begriffe. Ihre Aufgabe ist es aber nicht, als stellvertretende Parteivorsitzende der CDU das Spiel - wie nennen Sie das in Ihrer Partei? der asymmetrischen Demobilisierung anderer Parteien durch Wortgeklingel zu spielen. Es ist nicht Ihre Aufgabe, lediglich Begriffe zu besetzen, sondern Ihre Aufgabe ist es, als Ministerin für Arbeit und Soziales die Verhältnisse der Menschen in diesem Land substanziell zu verbessern. Was haben Sie aber in den vergangenen drei Jahren in Ihrem Amt getan, nachdem Sie dieses ziemlich plötzlich von Herrn Jung geerbt haben? Drei Jahre lang gab es eine gute konjunkturelle Entwicklung, auf der Sie sich ausgeruht haben! ({10}) Sie haben aber als Arbeitsministerin keine Vorsorge für konjunkturell schlechtere Zeiten getroffen. Nach drei Jahren guter konjunktureller Entwicklung in der Abschlussbilanz des kommenden Jahres, wenn Sie das Amt verlassen werden, Frau von der Leyen, ein Loch von 1,6 Milliarden Euro bei der Bundesagentur für Arbeit zu hinterlassen - das hinzubekommen, ist schon eine richtig dolle Leistung! ({11}) Zu vielen Themen haben Sie hier nichts gesagt, zum Beispiel zur Frage: Welche Vorsorgemaßnahmen treffen wir eigentlich am Arbeitsmarkt, wenn sich die Konjunktur durch die Krise in Europa verschlechtert? Wir haben Ihnen vorgeschlagen, nachdem Sie die Fristen für Kurzarbeit verkürzt haben, die früheren Regelungen wieder einzuführen, ins Gesetz zu schreiben bzw. per Rechtsverordnung in Kraft zu setzen. Das haben Sie beim letzten Mal noch abgelehnt. Inzwischen habe ich erlebt, dass Sie eine solche Überlegung im Stil von Copy and Paste in einem Interview wieder als prüfenswert ausgegeben haben. ({12}) Ihr Minister Rösler findet das ganz blöd. Inzwischen geht Zeit ins Land, die dringend für Vorsorge am Arbeitsmarkt genutzt werden müsste. Frau von der Leyen, ich kann es Ihnen nicht ersparen: Sie sind eine Ministerin, für die Interviews wichtiger sind als Initiativen, ({13}) eine Ministerin, die auf Show setzt und nicht auf Substanz, ({14}) eine Ministerin, die mithilfe des großen Apparats für Öffentlichkeitsarbeit im Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine wunderbare Fassade entwickelt hat. Sie sind sehr begabt, sich in den Medien, in Talkshows selbst zu inszenieren. In diesem Land brauchen wir jedoch eine Politik, die sich am Arbeitsmarkt orientiert, und eine vernünftige Sozialpolitik, in der nicht die Selbstinszenierung der Ministerin im Vordergrund steht, sondern die Lebenslagen von Menschen. Der soziale Aufstieg in diesem Land, der soziale Zusammenhalt sind viel zu wichtig, als dass man diesen Bereich weiterhin Staatsschauspielern überlassen darf. Herzlichen Dank. ({15})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Hubertus Heil! Ich gehöre nun auch schon einige Jahre diesem Hause an, und mich besorgt wirklich, dass wir in letzter Zeit bei den Debatten hier den Trend erle25406 ben, dass kein Vergleich zu billig ist und überdies die Hemmschwellen fallen. ({0}) Man kann die Regierung sicherlich hart attackieren. Das kann man tun. Ich finde es aber unerträglich, wenn diese Bundesregierung oder ein Mitglied dieser Bundesregierung in Bezug zu George Orwells 1984 gesetzt wird. ({1}) Wir sind keine Regierung im Sinne von „Big Brother“ oder „Big Sister“, sondern wir sind eine Regierung, die sehr darauf achtet, dass die Unverletzlichkeit der Privatsphäre der Menschen in diesem Lande gewährleistet ist. Das will ich zu Beginn erst einmal feststellen. ({2}) Weiterhin haben Sie sich nach unserer Sprache erkundigt. Wir sprechen eine klare Sprache. ({3}) Ich will es Ihnen für die FDP-Bundestagsfraktion sehr deutlich sagen: Für uns ist Haushaltskonsolidierung ein hohes Ziel, ({4}) und das insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir derzeit in Europa mit der Schuldenkrise machen müssen. Wir arbeiten wirklich hart an dieser Aufgabe, Frau Hagedorn. Wir betreiben nicht eine „angebliche Haushaltskonsolidierung“, wie der Kollege Brandner uns heute Morgen vorzuwerfen meinte, sondern eine Haushaltskonsolidierung mit echten Zahlen. Ich will Ihnen noch einmal in Erinnerung führen: Als wir den Haushalt übernommen haben - Sie haben die Zahlen doch selbst genannt -, ({5}) 2010, da gab es im Einzelplan 11, Arbeit und Soziales, ein Soll von 143,2 Milliarden Euro. ({6}) Dieses Soll ist jetzt bis 2012 auf 119,2 Milliarden Euro zurückgeführt worden. ({7}) Und dennoch - das will ich Ihnen ganz deutlich sagen machen wir mit weniger Geld die bessere Sozialpolitik, als Sie es damals gemacht haben. ({8}) Die Zahlen sind doch heute schon genannt worden. Man kann sie gar nicht oft genug nennen: ein absoluter Hochstand bei der Erwerbstätigkeit: 41,8 Millionen, ({9}) Niedrigstand bei der Arbeitslosigkeit: 2,7 Millionen, und vor allen Dingen ein Rekordniedrigstand bei der Jugendarbeitslosigkeit, im Grunde ein Europarekord: Wir sind mit diesem Niedrigstand Europameister. Das sind wir übrigens aufgrund eines Systems, nämlich der dualen Ausbildung, um das uns ganz Europa beneidet. ({10}) Diese duale Ausbildung, Frau Kollegin Hagedorn, wird übrigens zum ganz überwiegenden Teil von dem Mittelstand in unserem Lande geschultert. ({11}) 70 Prozent der Ausbildung in Deutschland findet im Mittelstand statt, ({12}) aber 75 Prozent der mittelständischen Unternehmen in Deutschland werden in der Rechtsform der Personengesellschaft geführt. Das sind genau diejenigen, die Sie mit Ihrer Anhebung des Höchststeuersatzes treffen wollen. ({13}) Sie greifen tief in den Mittelstand in Deutschland ein ({14}) und zerstören so die Bereitschaft, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Das werfen wir Ihnen in aller Deutlichkeit vor. ({15}) Wir sind der Meinung, dass es jetzt unsere Aufgabe ist, diesen Erfolg eines Hochstandes bei der Beschäftigung in Deutschland, auch bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, fortzuführen. Ich will übrigens mit einem Vorurteil aufräumen. Es wird immer gesagt, es gäbe für junge Menschen in unserem Lande keine Chancen mehr. 2005 gab es in der Gruppe der 15- bis 25-Jährigen 1,18 Millionen Normalarbeitsverhältnisse - so will ich es einmal nennen -, also unbefristete, sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in Vollzeit. 2011 waren es 1,24 Millionen eine Steigerung um 5 Prozent. Das zeigt deutlich: Die Entwicklung ist nicht so, wie Sie sie gerne darstellen. Vielmehr findet der Hauptzuwachs bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung über alle Altersklassen hinweg im Bereich der Vollzeitbeschäftigung statt, und andere Beschäftigungsformen entwickeln sich notwendigerweise entsprechend mit. Ich will Ihnen ein Weiteres sehr deutlich sagen. Wenn die SPD, was wir alle nicht hoffen und auch nicht erwarten, in Deutschland wieder an der Regierung wäre, wäre es mit dem Jobwunder, das ich eben beschrieben habe, sehr schnell wieder vorbei. Denn Sie sind nicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, Frau Hagedorn, dass auch Beschäftigte in den Beschäftigungsformen, die Ihnen nicht genehm sind, aber aus unserer Sicht notwendigerweise zum gesamten Repertoire der Beschäftigungsformen dazugehören, in die öffentlichen Kassen einzahlen. Man kann darüber streiten, ob Teilzeitarbeit sinnvoll ist oder nicht. Es gab einmal Zeiten, in denen manche die Teilzeitarbeit als Errungenschaft gefeiert haben, weil Frauen dadurch Familie und Beruf besser vereinbaren konnten. ({16}) Jedenfalls zahlen auch Teilzeitbeschäftigte in die Sozialkassen ein und tragen dazu bei, dass die Steuerkassen in unserem Land aktuell so überbordend gefüllt sind. Man kann darüber streiten, ob befristete Beschäftigung ein erstrebenswerter Zustand ist. Tatsache ist, dass auch diese Beschäftigungsverhältnisse durch Steuern und Beiträge zur derzeitigen komfortablen Situation in Deutschland beitragen. ({17}) Das gilt auch für die Zeitarbeit. Ich will Ihnen hier Ihr ganzes Problem deutlich machen. Es waren SPD und Grüne, die die Zeitarbeit in Deutschland sehr stark dereguliert haben, mit dem Effekt, dass wir dann fast 900 000 Beschäftigte in diesem Bereich hatten. Als dann die ersten Probleme aufkamen - Schlecker und anderes -, da waren Sie diejenigen, die das sofort wieder dichtmachen wollten und sagten: Wir wollen das nicht länger haben. - Wir, Karl Schiewerling und ich, haben gesagt: Wir müssen da mit Augenmaß herangehen, wir regulieren das; der Drehtüreffekt muss vermieden werden. Als dann die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Menschen aus Osteuropa kam, sagten Sie: Die Osteuropäer werden Deutschland überrennen, und dann wird das hier alles ganz schlimm. - Der 1. Mai 2011 kam, und es ist nichts passiert. Wir haben ein halbes Jahr später einen Mindestlohn eingeführt. Aber schon damals war klar, dass in der Zeitarbeit nicht der Mindestlohn das Problem ist, sondern die Frage des Equal Pay. Wir haben diesen Begriff übrigens als erste Fraktion in diesem Haus in die Diskussion eingeführt. ({18}) Dann waren Sie sofort wieder dabei, zu sagen: Zeitarbeit nur, wenn es vom ersten Tag an Equal Pay gibt. ({19}) - Die Kollegin möchte eine Zwischenfrage stellen, Herr Präsident.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. - Der Redner hat es schneller gesehen. Bitte schön, Frau Kollegin.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kolb, ich habe eine ganz kurze Frage an Sie: Ab welchem Tag nach der Einstellung wollen Sie Leiharbeitnehmern gleiches Geld für gleiche Arbeit garantieren? Ich habe gehört: nach neun Monaten.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Mast, ich habe eine etwas längere Antwort auf Ihre Frage.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Aber Sie denken daran, dass Ihre Redezeit ohnehin abgelaufen war?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich denke daran. Ich versuche, die Antwort ein bisschen zu kürzen. ({0}) Ich glaube, Equal Pay ist wichtig, um die Akzeptanz von Zeitarbeit in Deutschland auf Dauer zu garantieren bzw. herzustellen. ({1}) Sie wollen Equal Pay vom ersten Tage an; wir wollen das nicht. ({2}) Wir haben übrigens immer gesagt: Das ist eine Frage, über die man die Tarifpartner in unserem Land entscheiden lassen kann. Wir haben den Tarifpartnern die entsprechende Zeit eingeräumt. Sie müssen jetzt feststellen, dass in Branche für Branche Lösungen mit Augenmaß gefunden werden, unter Zustimmung der IG Metall, der IG Chemie, der EVG und anderer. ({3}) Die Frist von neun Monaten, die Sie jetzt immer ansprechen, ist übrigens genau die Schwelle, auf die sich die Tarifpartner jetzt Branche für Branche verständigen; ({4}) ab diesem Zeitpunkt erreichen die Branchenzuschläge sozusagen ihren Höchststand. Das ist der beste Weg. Sie von der SPD wollen immer staatlich regulierend eingreifen. Warum soll man das tun? Die Tarifpartner regeln das sehr viel besser selbst; ({5}) sie werden das in den genannten Bereichen und auch in anderen Branchen weiterhin tun. Es besteht hier für den Gesetzgeber überhaupt keine Notwendigkeit, zu handeln. Seien Sie ganz entspannt. Diese Regierung trägt mit großer Sorgfalt dazu bei, dass sich die Beschäftigung in Deutschland positiv entwickelt und dass Sozialbeiträge und Steuereinnahmen sprudeln. Dafür werden wir auch in Zukunft sorgen. Für einen Aktionismus nach rot-grüner Art stehen wir nicht zur Verfügung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Sabine Zimmermann. Bitte schön, Kollegin Sabine Zimmermann. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Pothmer, lieber Kollege Heil, Sie haben gerade den Niedriglohnsektor gegeißelt, berechtigterweise. ({0}) Sie erinnern sich aber schon noch daran, dass Sie mit Hartz IV die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen haben? Das werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürger nicht vergessen, und das sollten Sie nicht vergessen. ({1}) Des einen Freud ist des anderen Leid, so ein englisches Sprichwort. Während sich die Regierungskoalition darüber freut, dass es ihr gelungen ist, auch in diesem Haushalt wieder drastische Einsparungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zu erzielen, ({2}) verschlechtern sich die Chancen erwerbsloser Menschen, einen ordentlichen Job zu bekommen. ({3}) Die Betonung liegt auf „ordentlich“. Das ist einfach so. Angesichts der Kürzungen der vergangenen Jahre könnte man wirklich sagen, dass es wahrlich eine Leistung von Ihnen ist, immer noch in dieser Größenordnung zu sparen. Die Linke sagt Ihnen ganz deutlich: Diese Kahlschlagpolitik ist unanständig und arbeitsmarktpolitisch unsinnig. ({4}) Mit dem Wegfall der Beteiligung des Bundes an der Arbeitsförderung zementieren Sie die chronische Unterfinanzierung der Bundesagentur für Arbeit. Ich weiß nicht, ob es bei Ihnen schon angekommen ist, dass wir auf eine Krise zusteuern bzw. schon längst drin sind. Selbst die BA weist darauf hin, dass sie im Falle einer Krise keine nennenswerten Rücklagen mehr hat. ({5}) Das ist doch eine klare Botschaft, aber Sie, die Bundesregierung, ignorieren das beharrlich. Frau Ministerin von der Leyen, wir fordern Sie auf: Hören Sie auf, die Bundesagentur für Arbeit und die erwerbslosen Menschen wie eine Zitrone auszupressen. ({6}) Sie sollten sich ein Herz fassen und sagen: So kann es nicht weitergehen. ({7}) Im Bereich Hartz IV standen 2010 noch 6,6 Milliarden Euro für Eingliederung in Arbeit zur Verfügung, im nächsten Jahr sollen es nur noch 3,9 Milliarden sein. In der beruflichen Weiterbildung hatten wir in den letzten zwei Jahren einen Rückgang an Teilnehmerinnen und Teilnehmern von 30 Prozent zu verzeichnen. Das ist Ihre Politik: 1 Milliarde mehr für Panzer, aber bei der Qualifizierung sparen. Das tragen wir nicht mit. ({8}) Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition: Was sollen denn die Arbeitsvermittler vor Ort in Zukunft noch anbieten, wenn ihnen kaum noch Mittel zur Verfügung stehen? Somit wird den Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit der Schwarze Peter zugeschoben. Das finden wir nicht richtig. ({9}) Damit nicht genug: 17 000 Stellen sollen bei der BA abgebaut werden. In vielen Jobcentern sind schon derzeit die Beschäftigten völlig überlastet. Gehen Sie einmal in ein Jobcenter oder in eine Arbeitsagentur, und lassen Sie sich erzählen, wie der Stand dort ist. Die Betreuungsschlüssel sind schöngerechnet. Mit guter Vermittlung, Chancen eröffnen und Fördern hat das alles aus meiner Sicht überhaupt nichts zu tun. ({10}) Fakt ist: Die Langzeiterwerbslosigkeit ist in den letzten zwei Jahren von 33,5 auf 37 Prozent gestiegen. Fast die Hälfte aller Arbeitslosen verfügt nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Da ist doch Qualifizierung das A und O. Hier streichen Sie. ({11}) Wo bitte sind denn die bahnbrechenden Erfolge am Arbeitsmarkt, die Sie, Herr Schiewerling, Herr Vogel - mein netter Kollege Vogel ist gerade nicht da -, immer so hochhalten ({12}) Deutschland hat einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen. Diejenigen, die in Arbeit sind, sind überwiegend in prekärer Beschäftigung wie Leiharbeit und Minijobs gelandet, und davon kann man nicht leben. Wir fordern Sie zu einem grundlegenden Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik auf; denn Sie haben Langzeitarbeitslose, ältere Erwerbslose und Menschen mit Behinderungen abgeschrieben, und das ist aus unserer Sicht ein Skandal. ({13}) Angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen brauchen wir mehr Geld für Förderleistungen. Die Krise ist auf dem deutschen Arbeitsmarkt angekommen, doch die Bundesregierung verschließt davor die Augen. Wir brauchen eine solide Finanzierung und Ausstattung der Jobcenter und Arbeitsagenturen. Deshalb fordern wir, dass sich der Bund an den Kosten für Arbeitsförderung beteiligt und die Leistungen für Eingliederung in Arbeit auf dem Niveau von 2010 stabilisiert. Ich komme zum Schluss. ({14}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, beherzigen Sie einfach unsere Vorschläge! Dann klappt es auch mit guter Arbeit. Dann können Sie wirklich inbrünstig das Jobwunder Deutschland hier präsentieren. Danke schön. ({15})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl Schiewerling. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ziel von Arbeitsmarktpolitik ist es, gute Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Menschen wieder in Beschäftigung kommen. Ziel von Arbeitsmarktpolitik ist es nicht, Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist Aufgabe der Wirtschaft. Das geschieht in den Unternehmen. Wir haben die Rahmenbedingungen zu setzen und den Menschen zu helfen, damit der Sprung in Beschäftigung gelingt. ({0}) Und wir haben denen, die möglicherweise von Arbeitslosigkeit bedroht sind, durch Weiterbildung und Qualifizierung zu helfen, damit sie in Beschäftigung bleiben. Und denjenigen, die arbeitslos sind, haben wir die nötige Unterstützung zu geben, damit sie wieder in Beschäftigung kommen. Weil genau das in den letzten Jahren gelungen ist, wird und kann im Haushalt der Bundesarbeitsministerin gekürzt werden. Ein hoher Etat eines Ministeriums sagt noch nichts darüber aus, ob das eigentliche sozialpolitische Ziel erreicht worden ist. ({1}) Wir haben unser Ziel erreicht: Wir haben 42 Millionen erwerbstätige Menschen - das ist Rekord -; 29 Millionen Menschen üben eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus. Vorhin hat die Bundesarbeitsministerin zu Recht auf diese Entwicklung hingewiesen und unsere Leistungen herausgestellt: weniger als 3 Millionen Arbeitslose - darum beneiden uns andere Länder -; ein Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit um 16 Prozent im Vergleich zu 2009 - wir haben die niedrigste Quote in Europa -; die Beschäftigungsquote bei den über 55-Jährigen ist gestiegen; die Quote der Langzeitarbeitslosen ist seit 2007 um 40 Prozent gesunken. ({2}) Ich will Ihnen sagen: Wir sind stolz auf diese Entwicklung. Ich gestehe gerne zu, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dazu geführt haben; aber die Arbeitsmarktpolitik hat eben geholfen, damit diese Schritte bewältigt werden konnten. Übrigens hat auch das, was damals im Rahmen der Agenda 2010 beschlossen wurde, mit dazu beigetragen, dass wir diesen erfolgreichen Weg gehen konnten. Deswegen verteidigen wir die richtigen Schritte, die damals gegangen worden sind, und setzen uns weiter dafür ein. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben die Instrumente reformiert. Deswegen haben wir eine Organisationsreform bei den Jobcentern durchgeführt. Wir haben im Bereich der Zeitarbeit, in dem die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind, Regulierungen vorgenommen; Herr Kollege Kolb hat darauf hingewiesen. Wir haben im Bereich der Zeitarbeit einen Mindestlohn. Wir haben es geschafft, dass sich die Tarifpartner mit den Zeitarbeitsfirmen auf ein vernünftiges System verständigt haben, sodass sie sich jetzt nach und nach an das Ziel Equal Pay heranarbeiten, aber nicht aufgrund von staatlichen Vorgaben, sondern weil es die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer verstanden haben, entsprechende Lösungen zu finden. Das alles zu begleiten, ist unsere Aufgabe. ({4}) Wir haben auch Überschüsse im Bereich der Sozialversicherungen. Das ist natürlich ein Zeichen für die Prosperität und den Aufwuchs im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. In den letzten zwei Jahren sind übrigens über 900 000 Menschen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse eingetreten, während die Zahl der Minijobber, die immer wieder beklagt wird, in diesem Zeitraum nicht nennenswert angestiegen ist. ({5}) Es ist also wichtig, die Zusammenhänge richtig darzustellen, und man darf nicht so tun, als gäbe es in Deutschland eine blanke Verelendung und eine Versandung des gesamten gesellschaftlichen Klimas. Meine Damen und Herren, das stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein. ({6}) In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, ob wir die Rahmenbedingungen richtig setzen. Ich habe nicht verstanden - das muss ich ehrlich sagen -, dass auf dem Parteitag der Grünen gefordert wurde, den Hartz-IVSatz auf 420 Euro zu erhöhen. ({7}) - Frau Kollegin Hinz, Sie haben gleich Gelegenheit, sich entsprechend zu äußern. - Das Bundesverfassungsgericht hat Kriterien benannt und uns die Aufgabe erteilt, die Leistungen transparent darzustellen. Das Bundesarbeitsministerium hat sorgsam gerechnet. Klagen gegen Leistungsbescheide sind bei vielen Landessozialgerichten eingegangen. Von allen Sozialgerichten - mit Ausnahme von einem - sind die Klagen zurückgewiesen worden. Wenn Sie wirklich davon überzeugt wären, dass das, was wir getan haben, verfassungswidrig ist, dann wäre schon längst eine Klage beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Weil aber die obersten Sozialgerichte bestätigt haben, dass das nicht der Fall ist, rate ich Ihnen dringend, mit Äußerungen wie „Das ist nicht verfassungskonform“ sehr vorsichtig zu sein. ({8}) Meine Damen und Herren, in der jetzigen Situation müssen wir uns nicht nur mit - Gott sei Dank - sinkender oder stagnierender Arbeitslosigkeit befassen, sondern auch über Fachkräftemangel reden. Deshalb ist es gut, dass zum Beispiel im Haushalt der Bundesarbeitsministerin - leider von der Öffentlichkeit kaum bemerkt - Mittel zur Verfügung gestellt werden, um jungen Leuten aus Osteuropa die Möglichkeit zu geben, in Deutschland eine Ausbildung zu machen oder hier beruflich tätig zu werden. Das Bundesarbeitsministerium schafft die Voraussetzungen für die nötige Mobilität. Ich halte diesen Hinweis auch im europäischen Kontext für einen wichtigen Punkt. Wir stehen vor der großen Herausforderung, das hohe Beschäftigungsniveau in Deutschland auf Dauer zu halten und mehr Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Es ist viel geschafft worden. Schauen Sie auf den Haushalt der Bundesarbeitsministerin. Das Bildungs- und Teilhabepaket - oft geschmäht entwickelt seine positive Wirkung für Kinder, deren Eltern im Hartz-IV-Bezug sind bzw. auf Wohngeld angewiesen sind. Das Programm „Gesünder Leben und Arbeiten“ zielt darauf ab, dass die Zukunft Deutschlands davon abhängt, wie in den Betrieben miteinander umgegangen wird und welche Rahmenbedingungen gesetzt werden. Hier hilft die Bundesregierung, neue Wege zu gehen. Das Instrument der Bürgerarbeit entfaltet ebenfalls seine Wirkung. Es gibt Hilfe für junge Menschen, spezielle Angebote und Unterstützung für Alleinerziehende sowie Hilfen für Ältere und Langzeitarbeitslose. Ich freue mich - das liegt mir sehr am Herzen -, dass die Bundesregierung im Rahmen des Nationalen Aktionsplans für Menschen mit Behinderungen - übrigens in guter Zusammenarbeit mit den behindertenpolitischen Sprechern aller Fraktionen und dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung - weiterhin alles dafür tut, dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben, in unsere Gesellschaft inkludiert zu werden. Inklusion ist das große Thema. Ich danke ausdrücklich allen, die sich hier bemühen und Akzente setzen. Ich freue mich, dass ein Kongress zu Inklusion und Arbeitswelt stattgefunden hat. Damit hat der Bundestag ein wichtiges Zeichen gesetzt. Ich danke allen behindertenpolitischen Sprechern. ({9}) Meiner Kollegin Maria Michalk, die die Federführung hatte, gebührt ein herzliches Dankeschön. ({10}) Meine Damen und Herren, es geht natürlich auch um die Zukunft der gesetzlichen Rente. Wir drücken uns hier nicht. Aber ich will Ihnen ehrlich sagen: Wenn wir genügend Geld hätten, wenn wir eben 50 Milliarden oder sogar 90 Milliarden Euro in die Hand nehmen könnten, dann hinge der Himmel voller Geigen, und wir könnten die Welt bunt malen. Das können wir aber nicht. ({11}) Ich erinnere die Kolleginnen und Kollegen von der SPD daran, dass Gerhard Schröder, als er den Nachhaltigkeitsfaktor, der nichts anderes als der zuvor von ihm abgeschaffte Demografiefaktor ist, einführen musste, am 10. September 2003 - übrigens um 9.40 Uhr, wie mir ein Sachkundiger mitgeteilt hat - gesagt hat: „Wir haben uns geirrt.“ Ich rate Ihnen dringend, bei Ihren rentenpolitischen Vorstellungen nicht die finanziellen Gesichtspunkte außer Acht zu lassen. Sonst werden Sie eines Tages wieder hier stehen und sagen müssen: „Wir haben uns geirrt.“ Ich halte es aus Gründen der Ehrlichkeit für notwendig, darauf hinzuweisen, dass wir uns in der Rentenpolitik manches wünschen, aber unter finanziellen Gesichtspunkten leider nicht alles umsetzen können. ({12}) Dennoch müssen die alten Menschen und die zukünftigen Generationen darauf vertrauen können, dass wir sie nicht im Stich lassen, sie fördern und in ihrer Lebenssituation unterstützen. ({13}) Meine Damen und Herren, es kommt darauf an, dass wir die Grundprinzipien der christlichen Gesellschaftslehre beachten: Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Davon lassen wir uns in unserem politischen Handeln leiten. ({14}) Das hat bisher zum Erfolg geführt. Ich freue mich, dass wir auch im kommenden Jahr erfolgreich Arbeitsmarktpolitik in Deutschland betreiben können. ({15})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Priska Hinz. Bitte schön, Frau Kollegin Priska Hinz.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition redet bei diesem Einzelplan im Wesentlichen ausdrücklich von Konsolidierung. Damit haben Sie auch völlig recht. Das Einzige, womit Sie sich bei diesem Einzelplan rühmen können, ist, dass dies der einzige Etat ist, der seit Jahren gekürzt wird. Er ist der einzige, der dafür herhalten muss, dass der Haushalt insgesamt konsolidiert wird, und zwar auf Kosten der Arbeitslosen sowie der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Ich wundere mich allerdings, dass Sie angesichts Ihrer angeblich ach so erfolgreichen Sozialpolitik kein Wort darüber verlieren, dass die soziale Schere in diesem Land weiter auseinandergeht, dass es immer noch keinen Mindestlohn gibt, dass es kein Konzept für eine armutsfeste Rente von Erwerbstätigen gibt, dass es keine Qualifizierung Langzeiterwerbsloser gibt und dass es keine auskömmliche Existenzsicherung von Arbeitslosen gibt. ({0}) Frau Ministerin, es ist richtig: Die Konjunkturdaten sind noch einigermaßen gut. Die Konjunktur trübt sich aber ein. Wenn Sie sagen, dass auch die BA gut aufgestellt ist und einen Puffer von 2,5 Milliarden Euro hat, müssen Sie aber, bitte schön, nicht nur dazusagen, dass der Bundesagentur für Arbeit in diesem Jahr 2 Milliarden Euro entnommen werden, sondern auch, dass der Präsident der Bundesagentur für Arbeit deutlich gemacht hat, dass die BA ab nächstem Jahr ins Defizit geht, weil nämlich die Prognose der Arbeitslosenzahlen erwarten lässt, dass es schwieriger wird. Wenn die BA nächstes Jahr ins Defizit läuft, kann sie ihren Puffer für Krisenzeiten - gemäß der Planung sollte er 2016 9,5 Milliarden Euro betragen - nicht aufbauen. Wenn nun die Zeiten schwieriger werden und wir wieder Kurzarbeitergeld brauchen, muss aus dem Bundeshaushalt zugeschossen werden, da Sie keine Vorsorge für diese Zeiten treiben. ({1}) Frau Ministerin und liebe Kollegen von der Koalition, dass Sie behaupten, unser Beschluss, das Arbeitslosengeld II auf 420 Euro pro Monat aufzustocken, würde über 7 Milliarden Euro kosten, verblüfft mich etwas. Zunächst einmal bin ich verblüfft, dass Sie eine falsche Grundlage der BA zur Grundlage Ihrer Ausführungen machen. ({2}) Ich hätte von Ihnen zumindest erwartet, dass Sie so viel Redlichkeit an den Tag legen, das auch deutlich zu machen. Im Übrigen scheinen Sie alle sich nicht mit dem auseinandergesetzt zu haben, was wir für den Haushalt 2013 beantragt haben. Da haben wir die Aufstockung auf 420 Euro beantragt, und wir haben die Aufstockung des Grundfreibetrages beantragt. Wir haben auch deutlich gemacht, dass wir, wenn ein Mindestlohn von 8,50 Euro eingeführt wird - und dieser muss kommen -, nicht davon ausgehen, dass der Empfängerkreis ausgeweitet wird. ({3}) Damit haben wir unsere Haushaltsanträge gegenfinanziert. Man höre und staune: Nach unseren Planungen liegt die Nettokreditaufnahme im Endeffekt trotzdem noch um 4,6 Milliarden Euro niedriger als die der Koalition, ({4}) weil wir nämlich auch an ökologisch schädliche Subventionen und andere Tatbestände herangehen. Wir sind nicht der Meinung, dass man zuallererst in der Sozialpolitik kürzen muss, sondern wir sind der Meinung: Existenzsicherung tut not; wir sind der Meinung, Garantierente tut not; wir sind der Meinung, dass Qualifizierung nottut, deswegen auch ein sozialer Arbeitsmarkt ausfinanziert werden muss; und wir sind der Meinung, dass eine Existenzsicherung in Höhe von 420 Euro - fragen Sie einmal die Sozialverbände, auch die Diakonie; die liegen weit darüber - verfassungsgerecht ist. Deswegen streben wir das auch an. ({5}) Frau Ministerin, Sie sind wirklich gut darin, Begrifflichkeiten zu bilden. Ich finde aber besonders interessant, dass Sie sich der von Ihnen als bildungspolitische Katastrophe bezeichneten Maßnahme jetzt gar nicht mehr entgegenstemmen - es geht um das Betreuungsgeld -, sondern in Ihrem Haushalt tatsächlich auch noch Vorsorge dafür treffen. Beim Betreuungsgeld handelt es Priska Hinz ({6}) sich nun um eine Leistung, die zuallererst von alleinerziehenden Frauen oder alleinerziehenden Männern in Anspruch genommen werden muss. Diese Frauen und Männer müssen zum Jobcenter gehen und diese Leistung beantragen. Das verursacht Verwaltungskosten in Millionenhöhe, aber hilft keiner Frau und keinem Mann, einen Kinderbetreuungsplatz zu finden, um erwerbstätig sein zu können. ({7}) Damit bewahrheitet sich bei Ihrer Politik wieder der Spruch: Wer arm ist, wird arm bleiben. Wir wollen die Spirale durchbrechen. Deswegen sagen wir: Weg mit dem Betreuungsgeld, und her mit den Kinderbetreuungsplätzen! Das wäre echte Bildungspolitik.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Reden allein hilft nicht, Frau Ministerin, man muss auch etwas tun, wenn man solche Begriffe in die Welt setzt. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich zuerst bei meinem Kollegen Karl Schiewerling bedanken; denn er hat die Ehre der Koalition gerettet. Er hat zwei wichtige Themen angesprochen, die weder von der Ministerin noch von irgendeinem anderen Redner heute angesprochen worden sind. Er hat über Behindertenpolitik und Inklusion gesprochen, und er hat über den drohenden Fachkräftemangel in dieser Gesellschaft gesprochen. Dafür ein herzliches Dankeschön. ({0}) Ich möchte mich mit den Argumenten, die genannt wurden, befassen. Gestern in der Generaldebatte hat die Kanzlerin hier gesagt: Wir sind die Koalition, die die Bildungsausgaben in dieser Republik erhöht hat. ({1}) Das stimmt, zumindest wenn ich mir nur den Haushalt des Bildungsministeriums anschaue. Ich habe die Zahlen einmal herausgesucht. Von 2011 bis 2016 gibt es im Bildungshaushalt ein Plus von 1,9 Milliarden Euro. Das ist eine gute Leistung; das ist ordentlich. Im Bund ist aber die echte Bildungspolitik die Arbeitsmarktpolitik; ({2}) denn dort wird gefördert und gefordert. Dort kürzen Sie im gleichen Zeitraum um 36,5 Milliarden Euro. Ergo kürzen Sie die Mittel für Bildung von 2011 bis 2016 um 38,4 Milliarden Euro. Sie sind die größte Bildungsklauregierung, die diese Republik jemals hatte. ({3}) Diese Kürzungen nehmen Sie in einer Situation vor, in der Fachkräftemangel droht. In einigen Bereichen, zum Beispiel bei Erzieherinnen und Erziehern und in der Altenpflege, besteht er sogar schon. Deshalb hat die Opposition Ihnen diese Anträge zum Haushalt vorgelegt. Unsere Anträge setzen auf vorsorgende Arbeitsmarktpolitik, auf Arbeitsmarktpolitik, die heute agiert und nicht erst reagiert, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, auf Arbeitsmarktpolitik, die vorsieht, dass wir mehr Geld für Bildung in der Bundesrepublik Deutschland ausgeben. Deshalb haben wir Sie mit unserem Antrag konfrontiert, den Sie übrigens abgelehnt haben. Wir hatten beantragt, den Eingliederungstitel nur im Jahr 2013 - um diesen Haushalt geht es in dieser Debatte - um 1,6 Milliarden Euro zu erhöhen, und zwar solide gegenfinanziert, unter anderem durch die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. ({4}) Daran lassen wir uns gerne messen, wenn wir an der Regierung sind. ({5}) Mit diesem Geld können wir an den Arbeitsmarktreformen der SPD festhalten. Denn nicht wir sind diejenigen, die das Prinzip des Förderns und Forderns aufgeben wollen, sondern Sie schaffen es durch Ihre Arbeitsmarktpolitik ab. ({6}) Ich will auf die Punkte, die wir fordern, eingehen; denn Politik wird immer im Konkreten nachvollziehbar. ({7}) Erstens. Wir haben einen Antrag gestellt, in dem wir fordern, dass ein Programm der zweiten Chance aufgelegt wird. Es gibt in Deutschland 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29, die keine Berufsausbildung haben. Sie stehen teilweise im Erwerbsleben. Diese Menschen müssen wir dringend zu Fachkräften qualifizieren. Deshalb sagen wir: In einer guten Arbeitsmarktsituation müssen wir Geld in die Hand nehmen, um diesen jungen Leuten eine zweite Chance auf Ausbildung zu geben. ({8}) Zweitens. Es gibt auch viele Menschen über 30 Jahre - sie sollen ja alle länger arbeiten -, die keine Ausbildung haben oder die eine Ausbildung haben, die vom Arbeitsmarkt heute nicht mehr nachgefragt wird. Auch diese Menschen wollen wir für den beruflichen Aufstieg qualifizieren. Das wäre ebenfalls möglich, wenn man den Eingliederungstitel, wie wir fordern, um 1,6 Milliarden Euro erhöhen würde. Drittens. Eine Gruppe wurde von Ihnen heute noch gar nicht erwähnt - es handelt sich um eine am Arbeitsmarkt benachteiligte Gruppe -: Menschen mit Migrationshintergrund. Für Menschen mit Migrationshintergrund braucht man manchmal besondere Antworten bei der Arbeitsvermittlung und der Qualifizierung; dabei geht es unter anderem um den Spracherwerb. Auf diese Gruppe reagieren Sie in Ihrer Arbeitsmarktpolitik gar nicht. Wir sagen: Wir brauchen die Initiative MigraPlus. Wir wollen nicht die Isolation von Menschen mit Migrationshintergrund, sondern ihre Integration in diese Gesellschaft. ({9}) Viertens. Perspektivisch wollen wir die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Wir wollen vorsorgende Arbeitsmarktpolitik. Vorsorge heißt, dass wir nicht erst dann reagieren, wenn jemand arbeitslos geworden ist, sondern dass wir agieren, und zwar schon dann, wenn jemand noch in der Erwerbstätigkeit ist. ({10}) In unserem Antrag fordern wir, dafür die notwendigen Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen. ({11}) Noch einmal: Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik bedeutet für Sie „keine Chance“, für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten „zweite Chance“. Bei Ihnen heißt es Stillstand, bei uns Aufstieg. Sie wollen Isolation, wir Integration. Von Ihnen hört man warme Worte, wir handeln. Sie wollen reagieren, wir agieren und schauen mit Zuversicht in die Zukunft. Wir brauchen nämlich qualifizierte Fachkräfte in der Bundesrepublik Deutschland. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Max Straubinger für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Kollegin Hagedorn hat ihre Rede ja mit den Worten begonnen: Man muss die Wahrheit sagen. ({0}) Diesen Weg hat sie allerdings ziemlich schnell verlassen. Daher ist es wichtig, zum Schluss noch einmal kurz über die Wahrheit zu reden. Die sozialen Grundlagen, die wir in Deutschland haben, sind dank der Arbeit der Ministerin und der Bundesregierung hervorragend. Wir können auf einige Erfolge verweisen: Wir haben die seit über 21 Jahren niedrigste Arbeitslosenquote und die niedrigste Jugendarbeitslosenquote in Europa zu verzeichnen. Bei sämtlichen Arbeitslosenzahlen ist ein starker Rückgang zu beobachten, besonders bei den Langzeitarbeitslosen. Frau Kollegin Zimmermann, Sie haben eben versucht, durch einen Zahlendreher darzulegen, dass die Langzeitarbeitslosigkeit gestiegen sei. Sie ist aber nicht gestiegen. ({1}) Vielmehr ist die Vermittlung von Kurzzeitarbeitslosen wesentlich schneller vorangegangen als die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen. Deshalb ist möglicherweise noch ein etwas höherer Anteil von Langzeitarbeitslosen zu verzeichnen. Aber auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist effektiv zurückgegangen. Das ist ein Erfolg der Politik, die wir betrieben haben. ({2}) Es befinden sich wesentlich mehr Ältere im Erwerbsleben. Wir haben die höchste Erwerbstätigenquote zu verzeichnen, die es in dieser Republik jemals gab. Dies, werte Kolleginnen und Kollegen, zeigt sich auch daran, dass die Zahl der Menschen in Deutschland, die auf soziale Hilfe angewiesen sind, mittlerweile den niedrigsten Stand erreicht hat. ({3}) Das lässt sich an Zahlen belegen. 2006 waren 10,1 Prozent der Menschen in Deutschland auf soziale Hilfe angewiesen. Im Jahre 2011 waren es - das sind die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes - nur noch 8,9 Prozent. Bei den Hartz-IV-Empfängern war in diesem Zeitraum ein Rückgang um 16 Prozent zu verzeichnen. Trotzdem, werte Kolleginnen und Kollegen, wurde nicht daran gespart, Geld für Soziales auszugeben. Im Gegenteil: Die Sozialausgaben sind vom letzten Jahr bis heuer um 4,5 Prozent gestiegen; sie betragen über 27 Milliarden Euro. ({4}) Dies zeigt sehr deutlich: Diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen kommen ihrer sozialen Verantwortung nach und unterstützen die Menschen in unserem Land. Die Arbeitsmarktpolitik baut auf dem Prinzip „Fordern und Fördern“ auf. Die Frau Bundesministerin ist auf die Arbeitsmarktreformen, die Bündnis 90/Die Grünen vornehmen wollen, eingegangen, insbesondere unter finanziellen Gesichtspunkten und unter dem Gesichts25414 punkt, dass wesentlich mehr Menschen der Sozialhilfe anheimfielen. Damit verbunden fordern die Grünen, dass die Sanktionsmöglichkeiten eingeschränkt werden ({5}) bzw. abgeschafft werden. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, das ist letztendlich die Unterstützung von Faulenzertum und Drückebergerei. ({7}) Das wollen wir nicht in unserem Land. Es gab jüngst Kritik daran, dass über 1 Million Sanktionierungen stattgefunden haben, über 60 Prozent davon nur deshalb, weil Termine nicht eingehalten worden sind. Ich sage Ihnen: Die arbeitenden Menschen haben ein Anrecht darauf, dass, wenn jemandem Arbeit zugewiesen werden kann, wenn Arbeit vermittelt werden kann, diese Arbeit auch angenommen wird - ob der Zumutbarkeit von Arbeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Straubinger, Sie wissen, dass ich Sie persönlich sehr schätze.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich Sie auch.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke. ({0}) - Nein; aber das darf parteiübergreifend einmal möglich sein. Ich habe eine ganz herzliche Bitte an Sie. Ich möchte nicht, dass Gift in der Debatte bleibt. Mein Job ist nicht, die Grünen zu verteidigen. Aber ich habe zur Kenntnis genommen, dass die Grünen nicht die Abschaffung von Sanktionen fordern, sondern lediglich über den Umfang andere Vorstellungen haben. Das ist schon ein kleiner Unterschied. Herr Straubinger, bitte nehmen Sie eines mit: Niemand bei Bündnis 90/Die Grünen oder bei der SPD will das Prinzip „Fordern und Fördern“ infrage stellen. Wir finden es richtig, dass man Anstrengungen an dieser Stelle verlangt. Meine Bitte ist allerdings, in der Argumentationsführung im aufziehenden Wahlkampf nicht auf dem Rücken von Langzeitarbeitslosen eine Stimmung zu befördern, in der arbeitende Menschen und Langzeitarbeitslose gegeneinander ausgespielt werden. Das finde ich nicht in Ordnung. Die Mehrheit der Menschen - auch der arbeitslosen - will Arbeit. ({1}) Herr Straubinger, das ist nur eine Bitte; denn ich traue Ihnen nicht zu, ein solches Gift zu versprühen, wie wir es bei Herrn Westerwelles „spätrömischer Dekadenz“ schon einmal erlebt haben. ({2}) Ich weiß, dass wir von verschiedenen Standpunkten ausgehen. Meine Bitte ist einfach, von dieser Form des Argumentierens abzusehen. Sie vergiftet nur die Debatte. Das ist kein Meinungsstreit um eine vernünftige Lösung. „Faulenzer befördern“ will hier keiner, glaube ich. Wir reden über die Ausgestaltung des Prinzips „Fördern und Fordern“.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Heil, ich muss Sie fragen: Sind Sie der Meinung, dass die jetzigen Sanktionsmöglichkeiten falsch sind? ({0}) Ich bin überzeugt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsagenturen mit den Instrumentarien sehr verantwortungsvoll umgehen. Das alles kann ja gerichtlich überprüft werden. ({1}) Ich bin überzeugt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit eine hervorragende Arbeit leisten. Deshalb gibt es keine Kritik an den Sanktionsmöglichkeiten, die gegeben sind. ({2}) - Die Sanktionsmöglichkeiten wurden unter Rot-Grün eingeführt, sagt der Kollege Kolb zu Recht. Das kann also nicht so schlecht gewesen sein. Dass die Grünen die Sanktionsmöglichkeiten einschränken wollen, zeigt sehr deutlich, dass sie das Fordern nicht mehr wollen, dass sie sozusagen nur noch das Fördern wollen. Das ist meines Erachtens ein falscher Weg. ({3}) - Das ist ein falscher Weg, Frau Müller-Gemmeke. Ein Letztes noch: Wir diskutieren aktuell über die Rente und über mögliche Altersarmut. Bezeichnenderweise wird die SPD dieses Wochenende ein Programm beschließen, das dem Motto folgt: Wünsch dir was, Weihnachten steht bevor. - Damit hat sich die SPD bei der Rentenpolitik schon einmal fürchterlich verrannt: als sie - noch unter einem anderen Vorsitzenden - 1998 im Bundestagswahlkampf gegen den demografischen Faktor polemisierte. Darüber hinaus musste sie später feststellen, dass zur Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels hier entsprechende Grundlagen geschaffen werden müssen. Ich bin schon erstaunt über die gesamten Beschlüsse, die hier vorbereitet werden. Die Frau Bundesministerin hat ja bereits aufgezeigt, welche Kosten das verursachen wird. Ich bin auch ganz gespannt darauf, wie der zukünftige Kanzlerkandidat der SPD - wir wissen das ja noch nicht abschließend; bis dahin ist ja noch eine Wegstrecke zu bewältigen - diese Beschlüsse mit sich vereinen kann. Ich erinnere nur daran, was er in seinem Buch Unterm Strich niedergeschrieben hat - Herr Präsident, mit Ihrer Zustimmung darf ich daraus zitieren -: Die ungebrochene Tendenz, Lasten in der Sozialversicherung in die Zukunft zu verschieben und dort anzuhäufen, um heute notwendigen Korrekturen zu entfliehen, die natürlich auf konfliktträchtige Zumutungen hinauslaufen, wird die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen immer weiter anspannen. … Zusammen mit der ausgewiesenen Staatsschuld ergibt dies eine Nachhaltigkeitslücke von etwa 7,8 Billionen Euro, die voll auf die Knochen nachfolgender Generationen schlägt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, das hat Ihr zukünftiger Kanzlerkandidat niedergelegt. Es zeigt sehr deutlich: Das, was Sie im Rentenkonzept beschließen werden, wird letztendlich die kommende Generation zu bezahlen haben, und das ist verantwortungslos. In diesem Sinne wollen wir hier eine sachgerechte Rentenpolitik diskutieren und dann auch verabschieden - im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und vor allen Dingen auch im Sinne einer guten Altersversorgung für die Menschen in unserem Land. Es wäre gut, Sie würden diesem Haushalt Ihre Zustimmung geben, weil Sie damit etwas Gutes für Deutschland tun würden. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 11 - Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der Ausschussfassung. Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor. Wir beginnen mit der Abstimmung über zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD: Änderungsantrag auf Drucksache 17/11544. Wer stimmt dafür? ({0}) Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt. Änderungsantrag auf Drucksache 17/11545. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor abgelehnt. ({1}) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11546. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt. Wir kommen schließlich zu dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11547. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stim- men der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel- plan 11 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzel- plan 11 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak- tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio- nen angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte VI a bis d so- wie Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf: VI a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und Männern in Führungsgremien ({2}) - Drucksache 17/11270 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neue Impulse für einen wirksamen und umfassenden Schutz der Afrikanischen Elefanten - Drucksache 17/11554 25416 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Jung ({5}), Marie-Luise Dött, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die UN-Klimakonferenz in Doha - Globalen Klimaschutz wirksam vorantreiben - Drucksache 17/11514 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Stellungnahme der Bundesregierung zu den Fortschrittsberichten „Aufbau Ost“ der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen für das Berichtsjahr 2010 - Drucksache 17/8342 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({7}) Innenausschuss ({8}) Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Federführung strittig ZP 1a) Erste Beratung des von den Abgeordneten HansChristian Ströbele, Volker Beck ({9}), Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen ({10}) - Drucksache 17/11415 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11}) Rechtsausschuss ({12}) Innenausschuss Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Volker Beck ({13}), Marieluise Beck ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den am 12. September und am 4. Oktober 2001 ausgerufenen NATO-Bündnisfall beenden - Drucksache 17/11555 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({15}) Verteidigungsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu zwei Überweisungen, bei denen die Federführung strittig ist. Tagesordnungspunkt VI d. Interfraktionell wird Über- weisung der Stellungnahme der Bundesregierung zu den Fortschrittsberichten „Aufbau Ost“ auf Drucksache 17/8342 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wün- schen Federführung beim Haushaltsausschuss. Die Frak- tionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen wün- schen Federführung beim Innenausschuss.1) Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen ab- stimmen, also Federführung beim Innenausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs- vorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- fraktionen und der Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung beim Haushaltsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor ange- nommen. Zusatzpunkt 1 a. Es wird vorgeschlagen, den Entwurf eines Korruptionsregistergesetzes der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11415 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei- sen. Auch hier ist die Federführung strittig. Die Fraktio- nen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, Bünd- nis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Rechts- ausschuss. Ich lasse zuerst über den Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim Rechts- ausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei- sungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt. Wir kommen nun zum Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also Federführung 1) Anlage 3 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse beim Wirtschaftsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen. Tagesordnungspunkte VI a bis c sowie Zusatzpunkt 1 b. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten VII a bis f sowie Zusatzpunkt 2. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt VII a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von 2004 zur Kontrolle und Behandlung von Ballastwasser und Sedimenten von Schiffen ({16}) - Drucksache 17/11052 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({17}) - Drucksache 17/11433 Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11433, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11052 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist ebenso einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt VII b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 494 zu Petitionen - Drucksache 17/11358 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 494 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt VII c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 495 zu Petitionen - Drucksache 17/11359 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 495 ist mit den Stimmen des Hauses bei Ablehnung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt VII d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 496 zu Petitionen - Drucksache 17/11360 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 496 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt VII e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 497 zu Petitionen - Drucksache 17/11361 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 497 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt VII f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 498 zu Petitionen - Drucksache 17/11362 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 498 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 2: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Groneberg, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wertschöpfung im ländlichen Raum absichern - Erzeugung und Einsatz reiner Pflanzenöle in der Land- und Forstwirtschaft ausbauen - Drucksache 17/11552 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Haushaltsberatungen fort. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ich rufe Tagesordnungspunkt I.16 auf: Einzelplan 17 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Drucksachen 17/10816, 17/10823 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Mattfeldt Dr. Florian Toncar Sven-Christian Kindler Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD sowie zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über einen Änderungsantrag der Fraktion der SPD werden wir später namentlich abstimmen. Des Weiteren haben die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen je einen Entschließungsantrag eingebracht, über die wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Caren Marks für die SPD-Fraktion das Wort. ({23})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob eine Bundesregierung einen gesellschaftspolitischen Kompass hat oder nicht, offenbart kaum ein anderer Etat so deutlich wie der des Bundesfamilienministeriums. Hier zeigt sich wirklich, welche Vorstellungen die Regierung von Familien-, von Kinder- und Jugend-, von Gleichstellungs- und Seniorenpolitik hat. Wenn man so will, ist der Etat Ihres Hauses, Frau Schröder, der Lackmustest dafür, ob eine Bundesregierung Antworten auf drängende gesellschaftliche Fragen unserer Zeit hat. Wie können Eltern Beruf und Familie unter einen Hut bringen? Wie können Frauen und Männer gleichberechtigt leben und ihre Potenziale wirklich entfalten? Wie kann ein junger Mensch es schaffen, in der Gesellschaft Fuß zu fassen und sich auch zu engagieren? Wie können ältere Menschen möglichst lange selbstbestimmt leben? Das alles sind wichtige gesellschaftliche Fragen, auf die auch der Bundeshaushalt Antwort geben muss - wenn diese Bundesregierung all diese gesellschaftspolitischen Herausforderungen und Fragen denn ernst nehmen würde. Das Betreuungsgeld, das Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, in der letzten Sitzungswoche beschlossen haben, ist jedenfalls keine vernünftige Antwort auf die drängende Vereinbarkeitsfrage, die Zigtausende Familien und insbesondere Alleinerziehende tagtäglich beschäftigt. ({0}) Ganz im Gegenteil: Das kleine Handgeld für Familien, das statt der Inanspruchnahme einer öffentlich geförderten Kita gezahlt werden soll, ist ein familien- und gleichstellungspolitischer Rückschritt. Es konterkariert den seitens des Staates vorangetriebenen Ausbau der frühkindlichen Bildung. Das sieht eine große Mehrheit in unserem Land so. Das Betreuungsgeld verschlingt mittelfristig Milliarden im Bundeshaushalt. Das ist einfach absurd. Deshalb wollen und werden wir es zügig wieder abschaffen. ({1}) Meine Kolleginnen und Kollegen, auch beim Thema Jugendpolitik vermissen wir von der SPD ernsthafte Antworten. Von der großspurig angekündigten eigenständigen Jugendpolitik, Frau Ministerin, ist im Haushalt nichts, aber auch wirklich gar nichts spürbar. Der Kinder- und Jugendplan fristet - so kann man das wirklich sagen - ein Schattendasein. Die Jugendverbände brauchen definitiv mehr Geld, als eingeplant ist. Beispielsweise fehlen Mittel, um die Tariferhöhung für ihre Beschäftigten nachzuvollziehen. Dieses Problem hat unsere Fraktion schon mehrfach angesprochen. Sie haben das in den Haushaltsberatungen wieder einmal einfach ignoriert und zur Seite geschoben. Nicht nur ich befürchte, dass sich ab 2013 die Lage für den Kinder- und Jugendplan dramatisch zuspitzen wird. Die derzeit noch vorhandenen Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds brechen in den kommenden Jahren weg. Das ist jetzt schon ganz deutlich abzusehen. Wenn Sie als Bundesregierung nicht schnell gegensteuern, dann ist die wichtige Infrastruktur für junge Menschen in unserem Land gefährdet. Das ist definitiv nicht hinnehmbar. ({2}) Ich komme zur Gleichstellungspolitik. ({3}) - Völlig richtig. Wenn ich mich bei der Gleichstellungspolitik auf den Tatendrang der Ministerin beziehe, bin ich eigentlich fertig. - In der Gleichstellungspolitik bewegt diese Ministerin rein gar nichts. ({4}) Auch hier fallen ESF-Mittel weg, mit fatalen Auswirkungen. Ob es um drängende Probleme der Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern oder um die Einführung einer Quote geht, damit Frauen endlich vermehrt in Führungspositionen ankommen, still ruht der See oder auch die Ministerin. Es gibt zwar Veranstaltungen des Ministeriums unter dem Titel „Frauen verdienen mehr“, in denen faire Einkommensperspektiven für Frauen gefordert werden. Doch es lebe die Doppelzüngigkeit, ganz besonders bei Ihnen, Frau Ministerin, ({5}) zur gleichen Zeit stimmen Sie nämlich am Kabinettstisch der Ausweitung der Minijobs zu: prekäre Beschäftigung und Minijobs - eine Frauendomäne und gleichzeitig eine Sackgasse für die Frauen - und eine Ministerin der blumigen Worte und gleichzeitig der Tatenlosigkeit. ({6}) Aber in der Debatte um die Notwendigkeit zur Einführung einer Quote entrüsten Sie sich dann ganz plötzlich über die Aktivitäten aus der EU und wollen sich gegen unnötige Vorgaben aus Brüssel wehren. Hört! Hört! Welch plötzlicher Tatendrang, Frau Ministerin, wenn es darum geht, wichtige Dinge zu verhindern. Das ist also leider wieder einmal ein Tatendrang an der falschen Stelle. ({7}) Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, falls Sie heute vorhaben, sich auf die eigenen Schultern zu klopfen, weil für den Kitaausbau zusätzliche Bundesmittel in Höhe von über einer halben Milliarde Euro bereitgestellt werden, sage ich Ihnen schon jetzt: Dieses Finanzpaket geht mitnichten auf das Konto der Bundesfamilienministerin, sondern vor allem auf das der SPDgeführten Länder. ({8}) - Ja, die Wahrheit tut weh. - Wir haben in den vergangenen Jahren in Anträgen und auch in Haushaltsberatungen immer wieder zusätzliche Hilfen für den Krippenausbau gefordert, mit den Grünen und den Linken oftmals an unserer Seite. Aber die Familienministerin hat sich stets weggeduckt. Erst im Juni dieses Jahres, in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern zur Umsetzung des Fiskalvertrages, konnten Kurt Beck und Olaf Scholz erreichen, dass der Bund endlich mehr Investitionen in den Krippenausbau bereitstellt. Das ist die Wahrheit, Frau Ministerin. ({9}) Im nächsten Schritt wollen wir mehr in die Qualität der frühkindlichen Bildung und in den Ausbau von Kitas zu Familienzentren investieren. Daher hat die SPD-Fraktion einen Antrag auf Erhöhung von über 300 Millionen Euro vorgelegt. Unsere Forderung ist im Übrigen sauber gegenfinanziert. Wir schlagen den Abbau von Subventionen wie zum Beispiel Steuergeschenken für Hoteliers vor. Mit unserem Finanzierungskonzept wollen wir jährlich 2 Milliarden Euro mehr in Bildung und Ausbildung investieren. Wir machen auch Vorschläge, wie die Finanzsituation der Kommunen verbessert werden kann. Zur Sicherung der kommunalen Infrastruktur für Familien, Kinder und ältere Menschen ist es wichtig, die Kommunen zu unterstützen. Hier haben Sie, SchwarzGelb, mit einer verantwortungslosen Steuersenkungsund Klientelpolitik großen Schaden in den Kommunen angerichtet. Unser Fundament ist ein solides Fundament für eine zukunftsfähige Familien-, Gleichstellungs-, Kinder-, Jugend- und Seniorenpolitik. Die Haushaltspolitik der Regierungskoalition hingegen ist nicht nur unsolide; sie ist auch nicht zukunftsfähig und schon gar nicht sozial gerecht. Es ist definitiv Zeit für eine Ablösung von SchwarzGelb, zumindest in der Politik. Zukünftige Erfolge für diese Farbkombination sehe ich definitiv nur im Fußball. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Andreas Mattfeldt für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Mattfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir blicken in diesem Jahr auf sehr konstruktive Beratungen des Bundeshaushaltes 2013 zurück. Ich möchte mich vor allem bei Ministerin Schröder und allen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. ({0}) Wir Koalitionäre haben immer das Ziel der Schuldenbremse in den Beratungen im Blick gehabt; dies kann ich leider von der Opposition nicht behaupten. Ich habe oft den Eindruck, dass dieser Seite des Hauses der Umgang mit hart erarbeiteten Steuergeldern mehr am Herzen liegt als Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. ({1}) Ihre Anträge nur in der Bereinigungssitzung auf immense Mehrausgaben in Höhe von fast 9 Milliarden Euro allein im Familienetat sprechen eine deutliche Sprache. ({2}) Deshalb ist es gut, dass es unserer christlich-liberalen Koalition in den Haushaltsberatungen gelungen ist, die Nettokreditaufnahme im Gesamthaushalt um 1,7 Milliarden Euro zu senken. Damit werden wir drei Jahre früher als geplant die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einhalten. Das ist gerade für die junge Generation in unserem Land von besonderer Bedeutung und deshalb Familien- und Jugendpolitik pur. ({3}) Wir setzen damit die erfolgreiche Politik der wachstumsfreundlichen Konsolidierung fort, und wir schaffen die Grundlage dafür, dass Deutschland Wachstumslokomotive und Stabilitätsanker in Europa bleibt. Deutschland zeigt, dass die richtige Mischung aus Haushaltskonsolidierung und Wachstumspolitik, gepaart mit einer ausgewogenen Entlastung der Bürger, der erfolgreiche Weg für die Zukunft kommender Generationen ist. Gerade das ist für das Familienressort von besonderer Bedeutung. ({4}) Wir haben den Familienetat an einigen Stellen angehoben, an anderen Stellen ein wenig gesenkt, sodass wir jetzt bei einem Volumen von 7,127 Milliarden Euro sind. Das sind immerhin 567 Millionen Euro mehr als noch im Entwurf für den Haushalt 2010. Beispielhaft möchte ich den größten Ausgabeposten des Familienetats anführen: Das ist das Elterngeld. Hierfür sah der Ansatz 2010 noch 4,48 Milliarden Euro vor. Für 2013 haben wir 4,9 Milliarden Euro bereitgestellt. Mit diesem höheren Ansatz tragen wir nicht nur dem Umstand Rechnung, dass erfreulicherweise die Löhne derzeit steigen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Aufschwung partizipieren, sondern auch dem Umstand, dass das Konstrukt der Vätermonate stetig Erfolg zeigt. Ich bin dankbar, dass sich immer mehr Männer dafür entscheiden, einen oder mehrere Monate Auszeit zu nehmen, um ihre Kinder in den ersten Lebensmonaten intensiv zu begleiten. Deshalb sage ich hier auch ganz offen: Die Verkürzung der Elternzeit - darüber wird zurzeit diskutiert - steht für mich nicht zur Disposition. Es ist nicht hinnehmbar, dass Frauen ausschließlich als arbeitsmarktpolitische Manövriermasse betrachtet werden. Das geht zu weit, und das erschreckt mich zutiefst. Wir haben die Gelder für einige sinnvolle Projekte erhöht. Beispielhaft möchte ich hier die Zuwendung für das Deutsch-Französische Jugendwerk nennen. ({5}) Wir haben den Titel um 1 Million Euro angehoben, um zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages ein Zeichen zu setzen. Seit 50 Jahren wurden die Mittel nicht erhöht. Ich bin sicher, dass unsere Entscheidung dazu beitragen wird, dass auch unsere französischen Freunde in sehr schwierigen Zeiten ihren Beitrag zum Deutsch-Französischen Jugendwerk in gleicher Höhe aufstocken werden. Somit kann das Jugendwerk im Jubiläumsjahr mit über 2 Millionen Euro mehr an Mitteln rechnen. Wir haben aber auch die Gelder für einige Einrichtungen in den vergangenen Jahren reduziert. Bemerkenswert dabei war, wie einige Einrichtungen versucht haben, uns über Medien unter Druck zu setzen. Noch bemerkenswerter war, dass andere noch nicht einmal bemerkt haben, dass sie weniger Geld erhalten. Als Berichterstatter für den Familienetat habe ich mir in den vergangenen Jahren zahlreiche Einrichtungen und Institute, die Geld aus unserem Einzelplan bekommen, angesehen. Ich darf sagen: Ich bin auf engagierte Menschen gestoßen, die wertvolle und gute Arbeit leisten, ich habe aber gleichzeitig durch Besuche vor Ort auch erschreckende Erkenntnisse gewonnen. ({6}) Das ging von der Beschreibung der eigenen Arbeit als „Wir machen Netzwerke für Netzwerker“ bis hin zum Bekenntnis, gerne weiterhin mit Organisationen zusammenarbeiten zu wollen, die ganz offen diesen Staat bekämpfen. ({7}) Um Letzteres zu unterbinden, ({8}) hat Kristina Schröder gemeinsam mit dem Innenminister völlig zu Recht die Demokratieerklärung eingeführt, die Einrichtungen zu unterzeichnen haben, die Gelder aus ihrem Haushalt erhalten. Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Herr Kindler, diese Demokratieerklärung ist für Sie eine Zumutung. Aber, mit Verlaub, es muss doch dem Geldgeber erlaubt sein, ein Bekenntnis zum Grundgesetz unseres Landes zu verlangen. Diejenigen, die eben nicht auf dem Boden unserer Verfassung stehen, können doch nicht ernsthaft meinen, dass sie hierfür auch noch Unterstützung vom Staat bekommen. Das geht für mich eindeutig zu weit. ({9}) In keiner Weise hinnehmbar ist für mich die stets wiederkehrende Unterstellung der Opposition, die Ministerin setze sich nicht genügend gegen den Extremismus ein. Ich habe häufig den Eindruck, Sie leiden unter kollektivem Gedächtnisverlust. Es war nämlich Ministerin Schröder, die erst kürzlich den Extremismustitel um 5 Millionen Euro angehoben hat. Wir hatten allein im vergangenen Jahr dadurch, dass wir die Verwaltung von Extremismustiteln selbst übernommen und nicht teuren Fremdfirmen überlassen haben, zusätzliche Mittel in Höhe von 2 Millionen Euro für Maßnahmen zur Extremismusbekämpfung zur Verfügung. Zu Ihren Vorwürfen, wir verhinderten eine kontinuierliche Arbeit der Institutionen, die sich gegen Extremismus einsetzen, weil wir keine ausreichenden Verpflichtungsermächtigungen ausgebracht hätten, kann ich nur sagen, dass Sie doch ganz genau wissen, dass erhebliche Ausgabereste von fast 4 Millionen Euro in diesem Jahr und aufgelaufene Reste im kommenden Jahr zur Verfügung stehen. Hiermit und mit der vorläufigen Haushaltsführung stehen genügend finanzielle Mittel zur Verfügung, die auch in 2014 genutzt werden können. Dadurch ist eine kontinuierliche Finanzierung gesichert. Ich betone, dass niemand in dieser Koalition auch nur ein Wort darüber verloren hat, diesen Ansatz zu kürzen. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich habe fast den Verdacht, das mag bei Ihnen anders sein. Wenn wir der Logik Ihres Antrags folgten, dann müssten wir in unzähligen Haushaltsstellen Verpflichtungsermächtigungen einbringen, überall dort, wo genau das Gleiche gilt. Dies macht man unter Demokraten bewusst nicht. ({10}) Eine Ausbringung von Verpflichtungsermächtigungen in der von Ihnen geforderten Höhe im letzten Haushalt vor einer Bundestagswahl bindet nachfolgende Regierungen in einer nie dagewesenen Weise. Wenn wir im Gesamthaushalt boshaft wären, könnten wir überall, wo uns Dinge wichtig sind, VEs einbringen, um damit für nachfolgende Regierungen unsere Prioritäten schon heute zu zementieren. ({11}) Meine Damen und Herren, ich finde es bedauerlich, dass Sie in jedem Jahr ein derart emotionales Thema wie die Bekämpfung des Rechtsextremismus zur ideologischen Agitation benutzen. ({12}) Das ist für uns - ich sage das auch vor meinem ganz persönlichen familiären Hintergrund - inakzeptabel. Dieses Problem ist viel zu ernst, als dass man Extremismus derart missbrauchen dürfte. Deshalb kann ich nur an Sie appellieren: Orientieren Sie sich bitte an Fakten und nicht an populistischen Aussagen. ({13}) Wir als Demokraten sollten hier Seite an Seite stehen. ({14}) Bei den Haushaltsberatungen hat sich mir aber ein ganz anderer Verdacht aufgedrängt. Es ist schon interessant, dass allein zum Etat des Familienministeriums insgesamt sieben gemeinsame Anträge von SPD, Grünen und Linksfraktion eingebracht wurden. Auch wenn vor allem Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, eigentlich nicht müde werden, immer wieder zu betonen, Sie möchten mit der Linksfraktion nicht regieren, verhärtet sich durch derartige Fakten doch einfach der Verdacht, dass Sie bereits von einer gemeinsamen Koalition träumen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, träumen ist erlaubt. Ich sage Ihnen aber: Es ist immer hart, in der Realität aufzuwachen. ({15}) Ich bin fest davon überzeugt, die Bürger dieses Landes wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen einer Koalition der Konsolidierung, des Wachstums und der sinkenden Arbeitslosenzahlen, auch zugunsten einer guten Familienpolitik und Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, die Sie für eine massive Verschuldung und ausufernde Ausgaben stehen. Lassen wir ruhig im kommenden Jahr die Wähler entscheiden. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Steffen Bockhahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Steffen Bockhahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004014, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man kurz vor der eigenen Rede eine Rede hört, von der einem so schlecht wird, dann ist das Wettbewerbsverzerrung. ({0}) Herr Kollege Mattfeldt, Sie haben sehr wohl recht damit, dass wir als Demokratinnen und Demokraten im Kampf gegen den Rechtsextremismus an einem Strang ziehen sollen und gemeinsame Sache machen sollten. Das Problem ist nur, dass diejenigen, die immer wieder den Keil in die Front der Demokraten treiben, Sie sind, indem Sie sich gemeinsamen Aktionen verweigern. ({1}) Das kann ich Ihnen an Beispielen belegen. Sie meinen, dass noch nie so viel gegen Extremismus getan worden sei wie jetzt unter dieser Koalition. Ich sage Ihnen: Es ist richtig, dass noch nie so viel Geld in den Etat eingestellt worden ist. Ich muss Ihnen allerdings auch sagen, dass noch nie so oft versucht wurde, das Geld wieder einzusparen bzw. in Richtungen zu drängen, wo man es gar nicht mehr loswerden kann. Anders gesagt: Vor einem Jahr gab es noch Bestrebungen Ihrer Fraktion, diesen Teil des Haushaltes zu kürzen. Es gab dann das Auffliegen des NSU. Das wiederum hat dazu geführt, dass die Kürzungen nicht durchgeführt worden sind. Das sind die Fakten. Das muss Ihnen nicht passen, aber das sind die Fakten. ({2}) Insofern tun Sie nicht so, als ob Sie die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer im Kampf gegen den Rechtsextremismus wären. Das sind Sie nicht. Das erkennt man allein daran, dass während Ihrer Regierungszeit die Titel für die verschiedenen vermeintlichen Phänomene des Extremismus in einen Haushaltstitel zusammengefasst wurden und nicht mehr getrennt werden und Sie meinen, dass das alles die gleiche Soße sei. Das ist eine unzulässige Verharmlosung des Rechtsextremismus. ({3}) Wenn Sie auf Fakten bestehen, dann sage ich Ihnen: Seit 1990 sind 180 Menschen durch Nazis ermordet worden. Das sind die Fakten. Das müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Das macht deutlich, wie notwendig die Arbeit gegen Rechtsextremismus ist. Bei Ihnen ist da leider viel zu wenig. ({4}) Das gleiche Engagement, mit dem Sie erklärt haben, dass es in diesem Bereich keine Verpflichtungsermächtigung geben darf, wünsche ich mir auch in Bezug auf andere Punkte, beispielsweise bei der Frage, wie es mit den Bildungszentren, den ehemaligen Zivildienstschulen, weitergehen soll. Kurz zur Genese: Am 15. Dezember 2010, also vor fast zwei Jahren, hat das Kabinett beschlossen, den Wehrdienst und damit auch den Zivildienst auszusetzen. Das ist am 28. April 2011 zum Gesetz geworden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass man sich Gedanken über die Zukunft der Bildungszentren machen muss. Am 29. September 2011 hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages dem Ministerium den Auftrag erteilt, ein Konzept für die Zukunft der Bildungszentren vorzulegen. Die haben sich beeilt und schon am 22. Juni dieses Jahres ein Papier vorgelegt, das den Namen Konzept leider nicht verdient. Das hat auch der Bundesrechnungshof so gesehen. Freundlich formuliert habe ich mir aufgeschrieben: Er hat dieses Konzept nicht gelobt. Mehr Zurückhaltung geht nicht. Dann haben auch Sie festgestellt, dass das, was vorgelegt wurde, nicht haltbar ist. Dann sind Sie ganz schlau geworden und haben zur Bereinigungssitzung am 8. November den Antrag eingebracht, dass ein Jahr lang, bis zum 30. November 2013, extern evaluiert werden soll. Was lernen wir daraus? Erstens. Sie brauchen drei Jahre, um sich auf eine vergleichsweise kleine Aufgabe einzustellen. Das ist ein solches Armutszeugnis für die Handlungsfähigkeit dieser Regierung. Das kann man gar nicht besser beschreiben. ({5}) Zweitens. Sie vertrauen offensichtlich den eigenen Institutionen nicht so weit, dass sie das selbst evaluieren können; denn sie müssen auch dort externe Evaluationen in Anspruch nehmen. Das ist ziemlich traurig. Das Schlimmste dabei ist, dass das alles auf dem Rücken derer passiert, die in den Bildungszentren arbeiten und für die völlig unklar ist, ob sie sich um einen neuen Job kümmern müssen oder ob sie mit einer gesicherten beruflichen Perspektive rechnen können. Das ist nicht anständig. Das ist leider Ihre Form der Politik. Ein Punkt ist noch offen: das Betreuungsgeld. Zu diesem sensationellen Wahnsinn ist schon alles gesagt worden. Ich finde es aber beachtenswert, dass Sie es schaffen, selbst bei einer solch sinnfreien bildungs- und integrationsfeindlichen Maßnahme die soziale Spaltung in diesem Land noch weiter voranzutreiben. Das muss man erst einmal schaffen. Darauf kann man stolz sein, sollte man aber nicht. Warum sage ich das? Betreuungsgeld bekommt nämlich nur der, der schon etwas hat, der offensichtlich auch genug hat. Wenn man ALG-IIEmpfängerin ist, wenn man Elterngeld bezieht, wenn man Asylbewerberin ist, dann bekommt man nichts. Sie bekommen es nur dann, wenn die Partnerin zu Hause bleibt, weil der Partner - selten die Partnerin - ein gutes Einkommen hat. Das heißt, es werden diejenigen animiert, zu Hause zu bleiben, die zweifelsfrei keine Sorge haben, Kitagebühren zu entrichten. An dieser Stelle tut sich der Verdacht auf, dass wir nicht über ein Betreuungsgeld reden, sondern über eine Kitafernhalteprämie, und das ist, meine Damen und Herren, ein echtes Problem. ({6}) Deshalb kann ich Sie nur dringend dazu ermahnen, sich das genau zu überlegen. Ich wünsche mir, dass wir in der Opposition gemeinsam dazu kommen, gegen dieses Gesetz zu klagen, und es damit den Betroffenen ersparen, selbst vor Gericht ziehen zu müssen. Ich kann Sie wirklich nur dazu einladen, zu einem Konsens zu kommen. Die SPD hat zwar versprochen - ich kann es mir nicht verkneifen, das zu sagen -, das im Falle eines Wahlsieges rückgängig zu machen. Allerdings haben Sie im Jahr 2005 auch versprochen, dass es keine Mehrwertsteuererhöhung geben soll. Das muss man leider auch dazu sagen. Meine Damen und Herren, wenn wir über den Etat des Familienministeriums reden, darf man auch einmal an seine Familie denken. Ich denke heute an meine Mutti: Mutti, du bist immer die Allerbeste gewesen und wirst es auch immer bleiben. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! ({7}) - Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Für deine Mutti klatschen sogar wir!)

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Miriam Gruß von der FDP-Fraktion. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Marks, ich kann Ihnen überhaupt nicht zustimmen. Ich finde, Sie haben hier von A bis Z eine Fehlanalyse vorgetragen. Die Kanzlerin hat gestern gesagt, dass wir die erfolgreichste Koalition seit der Wiedervereinigung sind. Das kann ich nur noch einmal bestätigen. ({0}) Das gilt auch für die Familienpolitik. Ich möchte die nächsten Minuten nutzen, um Ihnen das aufzuzeigen. Die Rahmenbedingungen sind grandios. Wir haben die geringste Jugendarbeitslosenquote Europas. Damit haben wir im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, eben doch gute Bedingungen für die jungen Menschen. Mein Kollege Jörg von Polheim wird auf die Jugendpolitik und auf das Thema Extremismus noch genauer eingehen. Ich will mit den Kindern beginnen. Kinder brauchen Schutz und Chancen. Ich freue mich, dass wir im nächsten Jahr mit dem Programm Familienhebammen starten können. Hierfür haben wir 45 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt. Das ist oft vorgestellt und versprochen worden. Wir haben das erste deutsche Kinderschutzgesetz eingeführt. Ich denke, das ist ein erster Erfolg. ({1}) - Ein Meilenstein. Ebenso ein Meilenstein ist es, dass wir die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen haben. In dieser Woche haben wir den Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention begehen können. Ich freue mich, dass wir das dritte Land sind, das dieses Zusatzprotokoll ratifiziert hat. Damit sind wir weltweit eines der Länder, das dieses Protokoll am schnellsten ratifiziert hat. Vor über 20 Jahren, als die UN-Kinderrechtskonvention geschaffen wurde, waren wir nur der 108. Staat, der unterzeichnet hat. Auch daran erkennt man den Bewusstseinswandel, was uns als christlichliberale Koalition Kinderrechte bedeuten. ({2}) Wir haben die Klagemöglichkeit gegen Kinderlärm abgeschafft. Außerdem haben wir die „Offensive Frühe Chancen“ auf den Weg gebracht. Damit profitieren 360 000 Kinder von einer frühen Sprachförderung. Auch für die Familien haben wir viel geleistet. Wir haben die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege verbessert. Wir freuen uns gemeinsam, dass die Vätermonate beim Elterngeld so angenommen werden, wie es heute das statistische Bundesamt erneut gemeldet hat. Darüber hinaus haben wir die Finanzierung der künstlichen Befruchtung verbessert. Auch das ist etwas, bei dem Rot-Grün die Zuschüsse zurückgeführt hat. Wir werden die Zuschüsse wieder aufstocken und die Länder unterstützen wie beispielsweise Sachsen und SachsenAnhalt, die eigene Programme aufgelegt haben. Wenn Sie dabei nicht mitmachen, müssen Sie das den verzweifelten Paaren erklären, die uns wöchentlich Briefe schreiben, dass sie sich nichts sehnlicher wünschen als Kinder. Wir tun etwas dafür. Auch das ist ein Beleg dafür, dass wir es ernst meinen mit der Familienfreundlichkeit in Deutschland. Lassen Sie mich noch etwas zum Ausbau der U-3Betreuung sagen. Wir sind die Koalition, die hierfür am meisten Geld ausgibt. Keine Bundesregierung vor uns hat jemals so viel Geld für den Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen ausgegeben, für eine Aufgabe, für die wir nicht originär zuständig sind. Deshalb lasse ich Ihr Argument nicht gelten, wir hätten hierbei versagt. Im Gegenteil, wir schreiten voran. Sagen Sie endlich einmal Ihren Ländern, dass sie dabei endlich hinterherkommen sollen. Ich nenne nur das Beispiel Bayern. Wir sind ziemlich weit hinten gestartet und sind jetzt ganz weit vorne. Das müssen uns Ihre Länder erst einmal nachmachen. ({3}) Zur spezifischen Unterstützung von Frauen und Männern kann ich nur sagen, dass Sie das immer wieder gefordert haben. Wir aber haben beispielsweise das Frauenhilfetelefon gesetzlich eingeführt, mit dem es im nächsten März losgeht. Auch das ist eine spezifische Förderung. Sie können sich aufregen, so viel Sie wollen. Wir halten das aber für richtig. Unsere Politik kommt aber auch dem anderen Geschlecht zugute. Deshalb haben wir eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik auf den Weg gebracht und die Rechte unverheirateter Väter gestärkt, meine Damen und Herren. Wir werden uns auch einer Regelung zur anonymen vertraulichen Geburt widmen. Ich freue mich, dass wir hier weit vorangeschritten sind. Von daher kann sich unsere Bilanz durchaus sehen lassen. Ich freue mich auch, wenn im nächsten Jahr die Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen vorgelegt wird; denn wir müssen nach wie vor konstatieren: Wir geben eine Menge Geld aus, wir haben eine geringe Geburtenrate. Daher brauchen wir eine familienpolitische Gesamtstrategie. Hier schreiten wir voran. Die Argumente von der Opposition kann ich nicht gelten lassen. Unsere Arbeit ist erfolgreich, auch in der Familienpolitik. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sven Christian Kindler Bündnis 90/ Die Grünen.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor kurzem war ich in Hannover bei einer Gedenk- und Mahnaktion der Türkischen Gemeinde in Niedersachsen zum ersten Jahrestag der Aufdeckung der Naziterrorzelle NSU. In den Reden dort, in den Gesprächen mit den Menschen konnte ich immer wieder feststellen: Es gibt bei unseren deutsch-türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein großes Misstrauen, eine große Skepsis gegenüber dem Staat angesichts des katastrophalen Versagens der Sicherheitsorgane, auch angesichts eines strukturellen Rassismus in den Medien sowie bei den Sicherheitsorganen. Ich sage nur: „Soko Bosporus“ oder „Döner-Morde“, zu Recht das Unwort des Jahres 2011. ({0}) Die Frage lautet: Was ist eigentlich in diesem Jahr passiert? Was hat die Bundesregierung, was hat die Ministerin Schröder in diesem Jahr gemacht? Noch vor einem Jahr haben wir genau hier im Deutschen Bundestag einstimmig einen gemeinsamen Entschließungsantrag aller Fraktionen beschlossen; das war eine Premiere. Ich zitiere aus diesem Antrag, da heißt es: Wir müssen gerade jetzt alle demokratischen Gruppen stärken, die sich gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagieren. Was haben Sie gemacht? Diese Regierung hat nichts gemacht. Nichts ist passiert. Sie haben nur Lippenbekenntnisse im Kampf gegen Nazis und gegen Rassismus übrig. ({1}) Zu den Fakten. Die Frage ist nämlich, Kollege Mattfeldt: Haben Sie geprüft, welche Hindernisse es für demokratische Gruppen gibt, die sich gegen Nazis und gegen Rassismus engagieren? Nein, das haben Sie nicht geprüft. Sie halten weiter an der Extremismusklausel fest, obwohl das Verwaltungsgericht Dresden entschieden hat, dass diese Klausel mit der Verfassung nicht vereinbar ist. Sie haben die Klausel zwar inhaltlich leicht verändert; trotzdem halten Sie im Grundsatz am Misstrauen gegenüber der Zivilgesellschaft fest. Das ist schwarz-gelbe Politik. Diese Politik zeugt von Misstrauen gegenüber der Zivilgesellschaft. Darum muss die Extremismusklausel endlich weg. ({2}) Was ist mit den Kofinanzierungsanforderungen, die für einige Programme ein großes Problem darstellen? Diese Anforderungen haben Sie auch nicht heruntergesetzt. Oder haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, wie man diese Programme langfristig finanzieren kann? Das haben Sie nicht gemacht. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen: Man braucht dafür Verpflichtungsermächtigungen im Haushalt. Das Problem besteht nämlich darin, dass die Programme planmäßig Ende 2013 auslaufen und dass man sie nicht nur aus Ausgaberesten finanzieren kann. Es handelt sich nicht um eine dauerhafte Ausgabe, sondern um ein Programm, bei dem immer wieder Modellprojekte aufgelegt werden. Dadurch besteht immer wieder eine Form von Unsicherheit für die Initiativen. Deshalb brauchen wir hier die Verpflichtungsermächtigungen. Kollege Mattfeldt, ich kann ja nichts dafür, wenn Sie das Thema „Kampf gegen Nazis und Rassismus“ nicht kapiert haben. Wir machen dann natürlich gemeinsame Anträge mit der SPD und der Linkspartei. Das ist in diesem Fall notwendig. ({3}) Sie halten lieber an Ihrem ideologischen Extremismusansatz fest, bei dem alles gleichgesetzt wird. Das ist gefährlich, falsch und unwissenschaftlich. Was wir jetzt eigentlich bräuchten, wäre ein langfristiges Programm mit mehr Geld für demokratische Kultur, für den Einsatz von Menschenrechten und gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie gegen Rechtsextremismus. Die Zivilgesellschaft braucht endlich wieder Vertrauen in diesem Land; sie braucht keine schwarz-gelben Störaktionen. ({4}) Ich will noch auf einen zweiten Punkt eingehen. Wir haben in diesem Plenum schon häufig über den Irrsinn des Betreuungsgeldes diskutiert. Gestern ist auch Kanzlerin Merkel in der Generalaussprache kurz darauf eingegangen. Sie wollte allerdings nicht weiter darüber reden. Das kann ich verstehen, das ist ihr ziemlich peinlich. Das wäre es mir auch, wenn ich es beschlossen hätte. Das Problem ist nur, dass die Koalition immer behauptet, es gehe um Wahlfreiheit. Darum geht es im Kern aber nicht. Wir haben so lange keine Wahlfreiheit, solange Eltern ihre Kinder nicht in die Krippe ihrer Wahl schicken können, nämlich wohnortnah und bedarfsgerecht. Leider haben wir bislang keine Wahlfreiheit erreicht. Deswegen ist das Betreuungsgeld ein bildungspolitischer Irrsinn. ({5}) Kristina Schröder konnte sich übrigens drei Jahre lang nicht gegen Wolfgang Schäuble und gegen das Finanzministerium durchsetzen. Es gab drei Jahre lang kein zusätzliches Geld für den Krippenausbau. Das zu ändern, war ein Verhandlungserfolg der rot-grünen Länder und, Frau Marks, des grün-roten Landes; denn Herr Kretschmann hat eine Menge dazu beigetragen. Das war ein wichtiger Erfolg der Länder, hat aber nichts mit dieser Bundesregierung zu tun. ({6}) Wir wissen aber auch: Wir müssen noch mehr für echte Wahlfreiheit tun, weil es Kommunen und insbesondere Städte mit einem besonders hohen Bedarf gibt; wir müssen ihnen helfen. Wir müssen mehr für qualitativ gute Kitaplätze und den Ausbau der Ganztagsbetreuung tun. Wir haben dazu Änderungsanträge eingebracht. Wir wollen ein Sonderprogramm für Kommunen, die einen hohen Bedarf haben, und ein Sonderprogramm für den Ausbau der Ganztagsbetreuung schaffen. Dafür wollen wir in den nächsten zwei Jahren 1 Milliarde Euro mehr einsetzen. Kollege Mattfeldt, wir sehen auch eine sinnvolle Gegenfinanzierung vor: Wir wollen nicht mehr Schulden machen, sondern das Betreuungsgeld streichen und das Ehegattensplitting abschmelzen, weil diese beiden Maßnahmen Frauen Anreize geben, eben nicht am Arbeitsmarkt aktiv zu werden. Auf diese Weise gelingt uns eine sinnvolle Gegenfinanzierung des Kitaausbaus. Bei diesem Haushalt zeigt sich die Alternative ganz klar: Sie verteilen mit dem Betreuungsgeld ein Wahlgeschenk zugunsten der CSU in Bayern; wir wollen einen schnellen Kitaausbau, um echte Wahlfreiheit für Familien zu schaffen. ({7}) Ich möchte kurz auf einen weiteren Punkt eingehen, der sich auf den Bundeshaushalt insgesamt bezieht. Wir diskutieren in dieser Haushaltswoche auch über die Frage: Wie kann ein Haushalt eigentlich geschlechterpolitisch sensibel aufgestellt werden? Ich habe die Bundesregierung gefragt, was sie eigentlich tut, um geschlechterpolitische Maßnahmen zu analysieren und zu evaluieren, was sie im Bereich des Gender Budgeting tut, um die Vorgaben des Grundgesetzes wirklich umzusetzen und für eine tatsächliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu sorgen. Die Antwort der Bundesregierung auf meine Anfrage war: nichts, nada. Die Bundesregierung macht in dem Bereich also gar nichts. Das ist schon ziemlich peinlich; denn die Europäische Union sieht so etwas in ihren Programmen vor. Aber das ist nicht der erste Fall, in dem sich Kristina Schröder gegen Europa, gegen Brüssel wendet. Es ist ein Armutszeugnis, dass die Ministerin für Frauen in Brüssel gegen die Frauenquote kämpft. ({8}) Frauenpolitisch waren es leider drei verlorene Jahre unter Kristina Schröder. Deswegen ist es gut, dass es der letzte Haushalt von Kristina Schröder und von SchwarzGelb ist. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Ministerin Kristina Schröder. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Menschen in der Familie Verantwortung füreinander übernehmen. Der erneute Mittelaufwuchs im Einzelplan 17 auf knapp 6,9 Milliarden Euro im Haushalt 2013 stärkt die Verantwortungsgemeinschaft Familie. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss und im Familienausschuss für die konstruktiven Beratungen, insbesondere den Berichterstattern im Haushaltsausschuss, Herrn Bockhahn, Herrn Mattfeldt, Herrn Dr. Toncar, Herrn Schwanitz und Herrn Kindler. Der größte Posten im Einzelplan 17 bleibt das Elterngeld, und das aus guten Gründen. Das Elterngeld ermöglicht etwas, was sich nahezu alle Familien in Deutschland wünschen, nämlich nach der Geburt eines Kindes eine Auszeit aus dem Beruf nehmen zu können. Heute früh hat das Statistische Bundesamt neue Zahlen zur Väterbeteiligung veröffentlicht: Sie liegt jetzt bei stolzen 27,3 Prozent. ({0}) Die 4,9 Milliarden Euro, die wir 2013 für das Elterngeld ausgeben, sind also nicht nur in familienpolitischer, sondern auch in gleichstellungspolitischer Hinsicht gut angelegtes Geld. Eltern haben damit mehr Wahlfreiheit. Zur Wahlfreiheit tragen auch das Betreuungsgeld und der Kitaausbau bei. Mit dem Betreuungsgeld, für das im Jahr 2013 55 Millionen Euro vorgesehen sind, unterstützen wir Eltern, ({1}) die die Betreuung ihrer ein- oder zweijährigen Kinder selbst organisieren wollen. Genauso unterstützen wir mit Milliardeninvestitionen in den Kitaausbau diejenigen Eltern, die für ihr Kind Betreuung wollen oder brauchen. ({2}) Die Eltern verlassen sich auf unsere Zusagen. ({3}) Auch deswegen wird in der christlich-liberalen Koalition nicht am Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz gerüttelt. ({4}) Wir, der Bund, unterstützen die Länder bei der Mammutaufgabe des Kitaausbaus, wo wir nur können. Die zusätzlich von uns zur Verfügung gestellten 580 Millio25426 nen Euro können von den Kommunen rückwirkend zum 1. Juli eingesetzt werden. Sie ermöglichen Ländern und Kommunen die Einrichtung von 30 000 zusätzlichen Betreuungsplätzen. Ich freue mich, dass wir uns mit den Ländern darauf geeinigt haben, dass sie in Zukunft deutlich häufiger über den Ausbaufortschritt berichten. Wichtig war auch, dass wir in Bezug auf die neuen Gelder die parallele Gemeinschaftsfinanzierung festgeschrieben haben. Zur Erinnerung: Bisher hatten wir die sogenannte serielle Gemeinschaftsfinanzierung. Die serielle Gemeinschaftsfinanzierung war ein vornehmer Ausdruck für das Prinzip „Erst zahlt der Bund, dann zahlen die Länder“. Was als Tempomacher gedacht war, wurde von einigen Ländern allerdings missverstanden. Sie haben serielle Gemeinschaftsfinanzierung übersetzt mit „Erst einmal alle Bundesgelder verbraten, und dann schauen wir mal“. Frau Marks, Sie hatten vorhin Rheinland-Pfalz und Kurt Beck erwähnt. Die rheinland-pfälzischen Kommunen haben gestern öffentlich die Verweigerungshaltung ihres Landes kritisiert. Ich möchte den Geschäftsführer des Gemeinde- und Städtebundes Rheinland-Pfalz zitieren: „Vom Land kam bisher nicht einmal 1 Cent.“ ({5}) Deshalb rate ich Ländern wie Rheinland-Pfalz dringend, einen Blick in die schriftlich fixierten Abmachungen von vor fünf Jahren zu werfen. Dort heißt es wörtlich: Die Länder werden ebenfalls finanzielle Voraussetzungen dafür schaffen, dass die vereinbarten Ziele erreicht werden. Im Klartext heißt das: Der Bund hilft den Ländern beim Ausbau. Es heißt aber nicht: Die Länder dürfen zuschauen, wie der Bund für sie die Arbeit macht. ({6}) Bei allem Engagement für den Kitaausbau sollten wir nicht vergessen, dass die Bedürfnisse von Eltern unterschiedlich sind. Der Anteil der Eltern, die ihre Kinder im Alter von einem oder zwei Jahren in einer Kita betreuen lassen wollen, liegt bei knapp 40 Prozent. Wir wollen, dass die Eltern selbst entscheiden, was gut für ihre Kinder und was gut für ihr Familienleben ist, und wir wollen, dass diese Entscheidungen respektiert werden. ({7}) Ich sehe es deshalb mit Sorge, dass sich in der Familienpolitik zunehmend eine Allianz aus Volkswirten und Volkserziehern gebildet hat, der es nur darum geht, dass möglichst alle Mütter und Väter schnellstmöglich nach der Geburt eines Kindes wieder Vollzeit arbeiten. ({8}) BDA-Präsident Hundt hat das mit seinem Vorschlag, die Elternzeit zu verkürzen, ganz deutlich gemacht. Mir macht diese Haltung Sorge, weil sie die Bedürfnisse von Eltern und Kindern komplett ignoriert oder sie nur als Sand im Getriebe der ökonomischen Effizienz wahrnimmt, ({9}) den man loswerden muss, damit Mütter und Väter dem Arbeitsmarkt als Humankapital zur Verfügung stehen. Familien sind aber nicht der Steinbruch der Wirtschaft zur Fachkräftesicherung. ({10}) Bis zu Peer Steinbrück scheint sich das leider noch nicht herumgesprochen zu haben; denn Herr Steinbrück hat kürzlich allen Ernstes erklärt, das Betreuungsgeld gefährde das Recht der Frau auf berufliche Selbstbestimmung. ({11}) Da frage ich mich: Was hat Herr Steinbrück eigentlich für ein Frauenbild? ({12}) Glaubt er ernsthaft, nur weil man uns Frauen 100 Euro hinhält, würden wir sofort sämtliche Ambitionen und Wünsche vergessen und töricht in irgendwelche Fallen tappen? Wenn das das Bild ist, das Herr Steinbrück von Frauen in Deutschland hat, dann zeigt das: Er hat wirklich ein Problem mit Frauen. ({13}) Herr Hundt und Herr Steinbrück sind Brüder im Geiste. Beide denken, sie wüssten besser, was gut für Familien ist. Beide haben nicht verstanden, worum es in der Familienpolitik geht. Es geht um die Frage, wie sich Eltern ein gutes und erfülltes Familienleben vorstellen. Sie dabei zu unterstützen, das ist Aufgabe von Familienpolitik. ({14}) Eine Verkürzung der Elternzeit wird es mit mir daher nicht geben. Die Wirtschaft hat es selbst in der Hand, für familienfreundliche Arbeitsbedingungen zu sorgen: Sie kann Betriebskitas schaffen - diesbezüglich startet im nächsten Monat ein neues Programm -; sie kann die Arbeitszeiten familienfreundlicher gestalten; sie kann sich von der unseligen Präsenzkultur - bester Mitarbeiter ist, wer am längsten hinterm Schreibtisch sitzt - verabschieden. Die Wirtschaft kann selbst genug dafür tun, damit Mütter und Väter gerne an den Arbeitsplatz zurückkehren. ({15}) Zum Schluss komme ich auf einen Punkt zu sprechen, den Sie, Herr Kindler, angesprochen haben, nämlich auf die Präventionsprogramme gegen Extremismus. Ich habe im Haushaltsausschuss klar und deutlich gesagt, dass die bestehenden Programme zur Prävention von Extremismus auf jeden Fall weiterlaufen werden. Ich habe immer wieder betont - das ist der politische Wille von uns allen -, dass wir 24 Millionen Euro für die Bekämpfung des Rechtsextremismus und 5 Millionen Euro für die Bekämpfung des Linksextremismus und des Islamismus - so viel zu Ihrem Vorwurf der Gleichmacherei - zur Verfügung stellen und dass es unser aller Wille ist, dass diese Mittel auch für das Jahr 2014 bereitstehen. Deswegen kann ich nur sagen: Dieses Versprechen steht. Hören Sie auf, die Menschen, die sich gegen Extremismus engagieren, zu verunsichern! Ihr Engagement ist viel zu wertvoll, um im Wahlkampf als Spielball zu dienen. ({16}) Mit dem Einzelplan 17 - es ist ein vergleichsweise kleiner Etat - geben wir Antworten auf eine Vielfalt von gesellschaftlichen Herausforderungen. Wir haben unsere knappen Mittel gut investiert: in die Unterstützung des familiären Zusammenhalts, insbesondere durch das Elterngeld; in die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere durch den Kitaausbau; in die frühkindliche Bildung, insbesondere durch die „Offensive Frühe Chancen“; in einen besseren Kinderschutz, insbesondere durch das neue Kinderschutzgesetz; in die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements - ich nenne den Bundesfreiwilligendienst und die Jugendfreiwilligendienste -; in den Zusammenhalt zwischen Alt und Jung durch die Fortführung des Programms für die Mehrgenerationenhäuser; in Unterstützung für Frauen in Notlagen, insbesondere durch das neue Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“. Das ist eine breite Vielfalt an gesellschaftspolitischen Maßnahmen, ({17}) die für faire Chancen sorgen, die die Übernahme von Verantwortung unterstützen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und die den Menschen dabei die Freiheit lassen, so zu leben, wie sie selbst leben wollen. Das ist moderne Familienpolitik. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rolf Schwanitz für die SPDFraktion. ({0})

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen in der heutigen Debatte über den Haushalt 2013. Damit haben wir zum ersten Mal die gesamte Legislaturperiode im Blick. Mein Fazit, was Ihre Arbeit, Frau Ministerin, angeht, ist völlig klar: Das sind vier verlorene Jahre. ({0}) Aus dem reichhaltigen Angebot an Fehlleistungen, die bei Ihnen zu beobachten sind, will ich drei herausgreifen: Ich fange mit dem Thema Kitaausbau an. Wir haben schon am Anfang dieser Legislaturperiode gesagt, dass dies das wichtigste Thema für Ihr Ressort ist. Sie haben dieses Thema ungefähr zweieinhalb Jahre lang grundsätzlich ignoriert. Sie haben so getan, als sei das überhaupt nicht Ihre Angelegenheit. ({1}) Sie haben sich auf das schon existierende Programm gesetzt, und das war es dann. Vor einem Jahr haben die Sozialdemokraten Ihnen im Rahmen der Haushaltsdebatte einen Vorschlag unterbreitet: Wir brauchen aufgrund des Rechtsanspruchs ein Ergänzungsprogramm mit einem Volumen von 300 Millionen Euro. Das haben Sie abgelehnt. ({2}) Dann hat man sich für das Verstärkungsprogramm entschieden. Aufgrund der Initiative des Bundesrates und nicht aufgrund Ihrer Tätigkeit ist es zum Verstärkungsprogramm gekommen. Weil dieses Programm ein halbes Jahr vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs natürlich zu spät kommt, wenden Sie nun mehr Kraft für die Beschimpfung der Länder als die Sache selbst auf. Das ist eine glatte Fehlleistung. ({3}) Die zweite Fehlleistung - auch wenn Sie es nicht mehr hören wollen - ist das zentrale Versagen beim Thema Betreuungsgeld. Als Familienministerin wäre es eigentlich Ihre Aufgabe gewesen, sich gegen diese Vergangenheitspolitik zu stellen. Das hätte man aufgrund Ihres Amtes erwarten können. ({4}) Stattdessen haben Sie Vorschläge zur Umsetzung gemacht. Nirgendwo sonst ist der konservative Eifer von Frau Schröder so klar erkennbar geworden wie beim Thema Betreuungsgeld. ({5}) Ich glaube, dass das ramponierte Image der Ministerin in der Öffentlichkeit damit zu tun hat; denn für innerparteiliche Auseinandersetzungen braucht man Stärke und Kraft. Aber Frau Schröder ist schon längst der Rückhalt von Kanzlerin Merkel viel wichtiger als die Interessenlagen des eigenen Ressorts. Das ist die Situation. ({6}) Frau Schröder, Sie haben sich als koalitionstreu erwiesen, und die CSU-Landesgruppe wird Ihnen sicherlich anerkennend auf die Schulter klopfen, keine Frage. Aber Ihre Aufgabe, Anwältin für Familien und Kinder zu sein, haben Sie nicht wahrgenommen. Sie sind an dieser Stelle eine komplette Fehlbesetzung. ({7}) Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem Änderungsantrag machen, über den in der letzten Sitzungswoche hier im Plenum entschieden wurde. Dieser Änderungsantrag hat die politische Lage noch einmal verändert. Das Ganze steht schlicht und einfach unter der Überschrift „Tarnen und Täuschen“. ({8}) Warum? Das Ganze diente nur einem einzigen Zweck, nämlich die milliardenschweren Finanzlasten aus dem Bundeshaushalt 2014 in den Bundeshaushalt 2015 zu verschieben. Das ist der Vorgang, der hier letzte Woche passiert ist. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass Sie noch vor der Bundestagswahl im nächsten Jahr einen Entwurf für den Bundeshaushalt 2014 vorlegen müssen. Das ist nichts anderes als der Versuch, vor der Bundestagswahl die finanziellen Belastungen und die Kürzungen, die Sie im Sozialbereich zur Gegenfinanzierung vornehmen müssen, aus dem Blickfeld der Wählerinnen und Wähler verschwinden zu lassen. Aber das ist bemerkt worden. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. ({9}) Der Gipfel Ihres Amtsversagens ist aber - das ist die dritte Fehlleistung -, wie Sie sich in den letzten drei Jahren beim Thema Rechtsextremismus verhalten haben. Ich wollte an dieser Stelle die Koalition eigentlich dafür loben, dass es doch noch gelungen ist, einen fraktionsübergreifenden Konsens herzustellen. Aber das kann ich mir seit gestern leider schenken. Was hat Frau Schröder als Erstes gemacht? Als Erstes hat sie die Mittel für die Programme gegen Linksextremismus und Islamismus, ihre beiden Spezialthemen, in die Ansätze für Präventionsprogramme gegen Rechtsextremismus eingestellt. Dann hat sie unwissenschaftliches und fehlerhaftes Material für die deutschen Schulen, die sich mit Linksextremismus befassen sollten, erarbeiten lassen. Das waren die ersten Aktionen von Frau Schröder. Sie hat dann als Zweites eine Verfassungstreueerklärung aufgelegt und damit quasi kollektiv alle Initiativen vor Ort unter Extremismusverdacht gestellt. ({10}) Sie hat damit gespalten und Vorbehalte aufgegriffen, die sie wahrscheinlich selber hat. Im letzten Jahr - Kollege Bockhahn, das haben Sie zu Recht in Erinnerung gerufen - gab es den Versuch, die Mittel für diesen Bereich um 2 Millionen Euro zu kürzen. Was heißt „Versuch“? Das sah der Entwurf von Frau Schröder vor. Die Koalition hat hier im Plenum - ein außergewöhnlicher Vorgang - gerade noch einmal diese Kürzung um 2 Millionen Euro verhindern können. Nun, Frau Schröder, verweigern Sie den bruchlosen Übergang der Projektförderung in das Jahr 2014 nach dem Auslaufen des Programmes 2013. Ich finde es übrigens schamlos, zu sagen, wir instrumentalisierten das. Monatelang haben wir mit Ihnen verhandelt und auf die Notwendigkeit von Verpflichtungsermächtigungen hingewiesen, damit nach Auslaufen des Programms die Projekte weiterlaufen können. Das ist übrigens auch intern von Ihnen nie infrage gestellt worden. Es hat nur nie einen Konsens, was Handeln betrifft, gegeben. Deswegen sage ich: Was hier droht, ist in seiner Dimension eigentlich noch gar nicht richtig zu erfassen. Dieses Programm mit 29 Millionen Euro ist das wichtigste Förderprogramm des Bundes, das wir an der Stelle haben. Aufgrund der bestehenden Unterdeckung kann der Übergang nach 2014 nicht vollständig erfolgen. Angesichts der bereits laufenden Projekte können in 2014 also nahezu keine Neubewilligungen vorgenommen werden. Es wird monatelang dauern - ich schätze, ein halbes Jahr -, bis der Haushalt 2014 in Kraft ist und das neue Förderprogramm anlaufen kann. Ich finde das unverantwortlich. ({11}) Frau Schröder, Sie werden Ende 2013 hoffentlich nicht mehr im Amt sein. Ihre Verantwortlichkeit zieht sich aber bedauerlicherweise in das Jahr 2014 hinein. Dieser Verantwortlichkeit sind Sie in keiner Weise gerecht geworden. Es waren vier verlorene Jahre, meine Damen und Herren. Unsere ausgestreckte Hand ist nicht angenommen, sondern arrogant zurückgewiesen worden. Die Demokraten sollten an dieser wichtigen Stelle zusammenstehen und nicht nur reden, sondern gemeinsam handeln. Das ist nicht gelungen. Dafür trägt die Koalition Verantwortung. Frau Schröder hat die Zusammenarbeit von Anfang an nie gewollt. Ich sage deswegen: Nirgendwo hat es ein so sichtbares Versagen der Merkel-Regierung gegeben wie in Ihrem Amt. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Florian Toncar für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Sie nicht überraschen, dass sich die Wahrnehmung der Politik der letzten vier Jahre, die ich hatte, deutlich von dem unterscheidet, was der Kollege Schwanitz gerade vorgetragen hat. Wir befinden uns nicht in der leichtesten Phase, um Politik zu machen bzw. sie finanziell zu gestalten. Nach einer schweren Wirtschaftskrise haben wir einen Haushalt übernommen, der nicht mehr in der Balance war. Er wies ein hohes Defizit auf. Nach den Vorschlägen der Vorgängerregierung sollte ungefähr jeder vierte Euro über neue Schulden finanziert werden. Für nur 3 von 4 Euro waren Einnahmen eingeplant. Das war die Ausgangslage, und das musste korrigiert werden. Wir sind da mit diesem Haushalt auch schon ein ganzes Stück vorangekommen. Ich würde davor warnen, den Bürgern oder unseren Zuhörern irgendwie vorzugaukeln, dass es in den letzten vier Jahren einfach gewesen sei, teure Projekte oder teure Ideen umzusetzen. Das war es nicht, sondern das musste mit Augenmaß geschehen. Uns ist das auch gelungen. Wir haben gleichwohl vor allem im Bildungsbereich Schwerpunkte setzen können, ohne die Schulden nach oben zu treiben. Auch der Haushalt dieses Einzelplans hat davon profitiert. Über die Qualifizierungsoffensive wurde Personal für Kindertagesstätten geschult und in den Kommunen auch eingestellt, um eine Sprachförderung für Kinder, die diese brauchen, durchzuführen. Diese Förderung wird ausgesprochen gut angenommen. Es ist ein Beispiel dafür, dass wir gerade auch in diesem Haushalt den Bildungsbereich verstärkt haben. Ich darf daran erinnern, dass wir im Jahr 2010 unter anderem die Familien durch Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages mit 5,5 Milliarden Euro gefördert haben. Sie sind also trotz Haushaltskonsolidierung in finanzieller Hinsicht die großen Gewinner der letzten vier Jahre gewesen. ({0}) Ich komme zum wichtigen Thema Kitaausbau. Das haben wir uns von Anfang an immer zu eigen gemacht. Der Kollege Schwanitz hat jetzt kritisiert, man hätte sich auf ein schon existierendes Programm draufgesetzt. Daran merkt man, Kollege Schwanitz, dass Sie mehr oder weniger nach irgendetwas suchen, was Sie beanstanden können. Sie hätten doch sagen können: 2007 wurde ein Krippengipfel durchgeführt, an dem der Bund, die Länder und die Kommunen - eigentlich alle staatlichen Ebenen - teilgenommen haben, und man hat sich darauf verständigt, wie man zwischen 2008 und 2013 die Kindertagesstätten ausbauen bzw. die entsprechenden Plätze schaffen könnte. Das Programm von damals war bis 2013 angelegt. Niemand musste sich also auf dieses Programm draufsetzen, sondern man musste sich nur einfach an die Vereinbarungen halten, die getroffen wurden. Dass dies ausgerechnet von Ihnen kritisiert wird, zeigt, glaube ich, sehr deutlich, dass es Ihnen hier gar nicht um die Sache geht. ({1}) Sie haben Ihre Aussage, dass man sich auf das bestehende Programm sozusagen draufgesetzt hat, noch mit dem Nachsatz ergänzt, dass es das dann war. Aber auch das ist falsch. Denn wir sind nicht nur die Qualifizierung von Personal für Sprachförderung angegangen - das habe ich gerade schon erklärt; das ist während der letzten Jahre dazugekommen -, sondern wir haben darüber hinaus 580 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt. Ich frage mich übrigens, wo da die Länder waren. Die Länder, die ja von Anfang an dabei waren, sollten eigentlich ein Drittel zahlen. Sie haben sich aber von ihrer Beteiligung verabschiedet, und der Bund macht den Rest jetzt allein. Das muss man einmal hervorheben. Wir haben da mehr getan, als ursprünglich geplant war. ({2}) Wir alle sollten die Entlastungen für die Kommunen nicht unterschätzen. Die Kommunen sind natürlich zurzeit ganz stark dadurch finanziell beansprucht, dass sie viele Betreuungsplätze schaffen müssen. Diese kosten viel Geld. Deswegen haben sie zu Recht darauf hingewiesen, dass es schwer ist, alles gleichzeitig zu finanzieren. Wir haben die Kommunen in noch nie dagewesener Weise entlastet. Sie werden insgesamt über 4 Milliarden Euro pro Jahr mehr zur Verfügung haben. Dieses Geld kann natürlich dafür eingesetzt werden - damit fällt es den Kommunen zumindest leichter -, Kitaplätze zu schaffen und sich um Familien zu kümmern. ({3}) - Kollege Bockhahn, ich weiß nicht, ob Sie hier das Monopol auf Ahnung von irgendetwas beanspruchen sollten. Nach Ihrer Rede hier heute wäre ich da an Ihrer Stelle eher zurückhaltend. ({4}) Ich glaube, dass es den Kommunen etwas bringt, wenn sie zusätzliches Geld bekommen oder sie an anderer Stelle entlastet werden. Ich möchte noch einen Punkt herausstellen, der oft als Selbstverständlichkeit betrachtet wird. Es geht um das Thema Bundesfreiwilligendienst. Durch die Aussetzung der Wehrpflicht musste innerhalb kürzester Zeit etwas Neues aufgebaut werden. Man musste schauen, wie man die Zivildienstleistenden ersetzt. Ich muss sagen: Gemessen an der Größe dieser Aufgabe, Frau Ministerin, ist es ausgezeichnet gelungen. Es gab fast keine Brüche. Der Bundesfreiwilligendienst ist sehr gut angenommen worden. ({5}) Das war nicht selbstverständlich. Viele - hier und auch außerhalb dieses Hauses - hatten vorher Zweifel, ob es wirklich so gut laufen wird, wie es letzten Endes gelaufen ist. Man muss festhalten: Hier ist etwas gut gemacht worden. Mein Herz als Liberaler schlägt höher, wenn ich feststellen kann: Es gibt Menschen, die bereit sind, sich freiwillig für eine gute Sache zu engagieren. Das ist ein tolles Zeichen der Stärke der Gesellschaft in Deutschland. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Toncar, wenn sich jemand zurückhalten sollte, dann Sie. Sie sagen hier, man müsse sich an Verabredungen halten. Angesichts der Tatsache, welche Verabredungen laut Koalitionsvertrag existieren und an welche man sich nicht gehalten hat, könnte ich ein Fass aufmachen. ({0}) In der ersten Lesung zum Haushalt hat unsere Ministerin gesagt - ich zitiere -: Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten können sich Familien in Deutschland auf Union und FDP verlassen. ({1}) Ich sage: Die sind schon verlassen. ({2}) Wenn ich die Aktivitäten unserer Ministerin zur Bekämpfung von Extremismus sehe, bin ich im Grunde froh, dass man so wenig von ihr sieht und hört. Ich persönlich nenne das Schadensminimierung. ({3}) Der zitierte Aufwuchs im Einzelplan 17, der ja so hoch gelobt wird, soll vor allem Familien und Kindern zugutekommen. Frau Ministerin, das ist die Zielgruppe im Einzelplan 17. ({4}) Dass man Sie daran erinnern muss, finde ich erstaunlich. Einer der größten Posten bei diesem Aufwuchs ist dummerweise das Betreuungsgeld. ({5}) - Frau Fischbach, zu Ihnen komme ich noch. ({6}) Zum Thema „Faire Chancen für Frauen und Männer“ - ich nenne jetzt einzelne Punkte - kann ich nur fragen: Wo bleiben die entsprechenden Maßnahmen? Nichts. Quotierung ist für Frau Schröder ja ein Bäh-Wort, solange nicht „Flexi“ davor steht. Mit ihrer Flexi-Quote würde es in den Dax-Unternehmen eine Steigerung der Quote bis zum Jahr 2014 um 0,8 Prozent geben. Super! Frau Reding will auf EU-Ebene 40 Prozent erreichen. Wir wollen doch immer EU-konform sein. Was sagt Frau Schröder dazu? Nichts. Equal Pay Day. Alle trafen sich am Brandenburger Tor und haben geschrien, dass ungleiche Bezahlung eine Unverschämtheit ist. Auch die Frauen von der CDU waren dort. Frau Fischbach hat auf der Bühne ins Mikrofon getönt: Es ist eine Sauerei, dass die Frauen weniger verdienen. ({7}) Was passiert? Nichts. ({8}) Für die Antidiskriminierungsstelle gibt es nach unserer Auffassung nicht ausreichend Mittel. Nun sind die Kürzungen Gott sei Dank zurückgenommen worden. Aber jeder, der sich einmal den Aufgabenbereich der Antidiskriminierungsstelle angeschaut hat - die Berichterstatter und die Ausschussmitglieder können sich hier nicht auf Nichtwissen berufen -, weiß, dass die Mittel bei weitem nicht ausreichen und eigentlich 1,5 Millionen Euro zusätzlich notwendig sind. ({9}) Das Unterhaltsvorschussgesetz ist hier schon mehrfach debattiert worden. Es gab Versprechungen, den Unterhaltsvorschuss auszubauen. Aber was ist passiert? Nichts. Das Elterngeld sollte ausgebaut werden. Im Haushalt heißt es, dass es aufgestockt worden ist. Ja, aber das geschah aufgrund von Sachzwängen. Das liegt nämlich daran, dass die Gehälter gestiegen sind und ein paar Väter statt eines Monats zwei Monate Elternzeit in Anspruch genommen haben. Für eine Anspruchsverlängerung auf 24 Monate und die Anhebung des Mindestelterngeldes wären 4 Milliarden Euro notwendig gewesen. Was ist passiert? Nichts. Das Hilfetelefon sollte Anfang 2013 freigeschaltet werden. 6 Millionen Euro waren dafür veranschlagt. Jetzt sind dafür nur noch 5 Millionen Euro vorgesehen. Es ist preiswerter geworden, soll dafür aber auch erst später freigeschaltet werden. Noch in der ersten Lesung des Haushalts hat Frau Schröder gesagt: Wer eine ungefähre Vorstellung davon hat, was gewaltbetroffene Frauen physisch und psychisch durchmachen, der weiß auch, wie wichtig dieses Hilfetelefon ist. Aber dann wurde ständig verschoben, verschoben, verschoben. Zur Familienpflegezeit brauche ich nichts zu sagen. Hier kommt es auf den Goodwill der Arbeitgeber an. In der Form, in der der Gesetzentwurf jetzt vorliegt, könnte man auch auf ihn verzichten. Zum Betreuungsgeld ist schon genug gesagt worden; das muss man nicht aufwärmen. Es ist eine Katastrophe. Über die Mittel für den Kitaausbau ist, wie gesagt, im Rahmen des Fiskalpakts mit den Ländern verhandelt worden. Frau Schröder hat immer betont: Der Bund hat geleistet, was er leisten konnte. - Wir haben von Anfang an gesagt: „Das reicht nicht aus“, und eine Aufstockung des Sondervermögens um 4 Milliarden Euro gefordert. Was ist passiert? Nichts. Nun zu der so viel gepriesenen Initiative „Offensive Frühe Chancen“. Da macht Frau Schröder einmal etwas Gutes - die 4 000 Stellen für die frühe Sprachförderung im Kindergarten sind ja bewilligt -, und dann haut das Betreuungsgeld voll rein. Gerade die Zielgruppen, die damit erreicht werden sollten, bleiben der Kita jetzt fern. Super! Das ist „verantwortungsvolle“ Politik aus Sicht unserer Ministerin. ({10}) Seit der 16. Legislaturperiode wird evaluiert und evaluiert und evaluiert. Ich sage Ihnen: Wir Fachpolitiker, die wir hier sitzen, haben doch keine Erkenntnisprobleme. Die Regierung hat Umsetzungsprobleme. Konstruktive, zielführende, gute Vorschläge der Opposition werden rigoros abgelehnt. Außer heißer Luft und Langeweile - ab und zu hören wir, wie vorhin beim Wort „Verbrechen“, auch einmal einen kleinen Versprecher verströmte Frau Schröder eigentlich nichts. Wenn ich es mir genau überlege, muss ich sagen: Das ist auch gut so. Ich hoffe nur, dass in Bälde wieder jemand Verantwortung hat, der weiß, was zu tun ist. Bestimmt fragt noch jemand: Was ist denn mit der Finanzierung? Ja, die Finanzierung ist wichtig. Wir haben in unserem Antrag Finanzierungsvorschläge gemacht. Durch die Vorschläge der Linken könnte man Mehreinnahmen in Höhe von 68 Milliarden Euro erzielen. Allein durch die Einführung des Mindestlohns könnten wir steuerliche Mehreinnahmen bzw. Minderausgaben in Höhe von 12 Milliarden Euro verzeichnen. Auf den Einzelplan 17 bezogen bedeutet das: Wenn wir lediglich die Bundeswehrgroßprojekte Fregatte 125 ({11}) und Eurofighter nicht fortsetzen würden, könnten wir durch die Umsetzung unserer Forderungen den Einzelplan 17 komplett, also in Gänze, finanzieren und darüber hinaus 3 000 - ich wiederhole: 3 000 - zusätzliche Kindertagesstätten bauen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen Kindler und Wunderlich, Sie sollten einmal in sich gehen. Sie meinen wohl, gegenüber der Ministerin persönlich werden zu müssen, weil sie keine Argumente mehr haben. ({0}) Sie beide sollten sich einmal fragen, ob Sie sich auch so benehmen würden, wenn der Familienminister ein Mann wäre. ({1}) Ich fand es sehr chauvinistisch, wie Sie beide die Ministerin angegangen sind. Das ist nicht redlich. ({2}) Aber Sie müssen sich vor Ihrem eigenen Spiegelbild dafür verantworten, ob es in Ordnung ist, so mit ihr umzugehen. ({3}) Ich habe vorhin gegoogelt und mich erkundigt: Wo ist Steinbrück? Diese Frage richte ich nun an die SPDFraktion. Er hat sich ja in der letzten Sitzungswoche hier hingestellt, als sei er plötzlich Deutschlands Familienpolitiker. ({4}) Wo ist er denn heute, da es um den Einzelplan des Bundesfamilienministeriums geht? ({5}) Herr Steinbrück meint, jetzt der große Frauenversteher zu sein. Er besucht Frauensalons, ({6}) wo er nicht gut ankommt, und er hat hier eine Rede zum Betreuungsgeld gehalten, die nicht gut ankam. ({7}) In seiner viel beachteten Rede hat er gesagt - wörtliches Zitat des Kollegen Steinbrück -: „Das Erwerbspersonenpotenzial geht deutlich nach unten.“ Das ist natürlich entlarvend. Ich habe nachgeschaut, ob das Wort „Kinder“ in Steinbrücks Rede überhaupt einmal vorgekommen ist. ({8}) Ergebnis: Das Wort „Kinder“ ist immer nur dann vorgekommen, wenn er gemeint hat, dass Kinder nicht der Grund dafür sein dürfen, dass das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland nicht ausgeschöpft werden kann. Das finde ich schon beeindruckend. Als die Ministerin vorhin davon gesprochen hat, dass Mütter und Väter von manchen nur als ökonomische Manövriermasse betrachtet würden, und in diesem Zusammenhang auf Dieter Hundt verwiesen hat, hat sich bei keiner der drei Oppositionsfraktionen auch nur eine Hand gerührt. Das zeigt ganz deutlich, dass Sie das genauso sehen, dass Sie nie vom Kind her denken, sondern immer nur von der Ökonomie her. Hier hat sich leider, wie man bei Frau Marks und Herrn Schwanitz gehört hat, nichts geändert. Da agiert immer noch die alte Fraktion mit ihren Ansichten von „Gedöns“ und „Lufthoheit“. Das finde ich sehr schade. ({9}) Im Haushalt des Bundesfamilienministeriums ist - man kann es nicht oft genug sagen - ein Aufwuchs zu verzeichnen. Wir sind diejenigen, die es wirklich geschafft haben, dass Eltern in diesem Lande etwas zugetraut wird, dass es Eigenverantwortung gibt in der Familienpolitik, dass es Wahlfreiheit gibt. Es tut mir wirklich leid, Herr Kindler, ich dachte, Sie würden verstehen, was Wahlfreiheit bedeutet. Wahlfreiheit bedeutet nicht, dass eine 100-prozentige Abdeckung da sein müsste. Das wäre Wahnsinn, das wäre weit über Bedarf. ({10}) Es geht vielmehr darum, den Eltern zuzutrauen, dass sie am besten wissen, was gut für ihre Kinder ist. Wir lösen ein Versprechen ein, das der Bevölkerung bereits 2007 gegeben wurde. ({11}) Zu einer redlichen Politik gehört es, zu sagen: 2007 versprochen, 2012 nicht gebrochen. Zum 1. August 2013 können die Eltern in diesem Land wirklich wählen. ({12}) Sie können wählen, und sie haben einen Rechtsanspruch. ({13}) Es ist unserer christlich-liberalen Koalition zu verdanken, dass an diesem Rechtsanspruch nicht gerüttelt wird, dass dieser Rechtsanspruch aufrechterhalten bleibt. Bis zum Starttermin werden genügend Plätze zur Verfügung stehen. Schauen Sie sich einmal an, wer die Länder regiert, in denen der Ausbau nicht vorankommt! ({14}) Fassen Sie sich an die eigene Nase! Es ist Wahnsinn, wie Sie hier behaupten können, dass Sie etwas tun, während die Länder, die rot-grün oder grün-rot oder wie auch immer regiert werden, ihre Hausaufgaben nicht machen. ({15}) Der Bund hat, obwohl er primär nicht zuständig ist, viel für den Ausbau getan. Wir haben für die Schaffung von mindestens 30 000 zusätzlichen Plätzen noch einmal 580,5 Millionen Euro zugesagt. Bis 2013 stellt der Bund für den Ausbau insgesamt 4,6 Milliarden Euro zur Verfügung. Ab 2014 beteiligt er sich an den laufenden Betriebskosten mit 845 Millionen Euro jährlich. ({16}) - Das ist schon spannend: Wenn irgendetwas gut ist, dann heißt es: Da waren wir mit in der Regierung. Wenn Ihnen dagegen etwas nicht passt, dann wollen Sie davon nichts wissen. Auf der linken Seite des Hauses ist eine Teilamnesie zu beobachten, die schon beeindruckend ist. Das ist nicht akzeptabel. ({17}) Den größten Posten im Etat des Bundesfamilienministeriums bildet das Elterngeld. Das Elterngeld bleibt da können noch so viele Arbeitgeberpräsidenten meinen, daran rütteln zu müssen. Ich freue mich, dass wir bei der Zahl der Väter, die Elternzeit nehmen, einen neuen Höchststand verzeichnen. Wir erleichtern jungen Paaren damit das Ja zu Kindern. Es ist ein unschätzbarer Gewinn, dass immer mehr Väter aussteigen, um sich an der Betreuung der Kinder partnerschaftlich zu beteiligen. Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, bei dem wir eine wirklich nachhaltige Politik betrieben haben und auch Haushaltsmittel bereitgestellt haben: Das ist die Bundesinitiative Familienhebammen, für die im Jahr 2012 im Zusammenhang mit dem Bundeskinderschutzgesetz extra ein neuer Titel geschaffen wurde. Familienhebammen stärken als Teil der Frühen Hilfen nachhaltig den Kinderschutz. Hierfür stellt der Bund 2013 45 Millionen Euro, 2014 und 2015 jeweils 51 Millionen Euro zur Verfügung. ({18}) Seitens der Länder gab es an dieser Stelle Kosteneinwände. Nach den Vorstellungen der Länder sollten normale Hebammen die Betreuung weiterführen. Das sehen wir anders. Kinderschutz gibt es nicht umsonst. Er ist uns diese zweistelligen Millionenbeträge wert. Wir haben - das ist gelobt worden, aber von Herrn Wunderlich mit dem anderen Teil seines Körpers gleich wieder eingerissen worden ({19}) eine ganz wichtige Maßnahme - „Schwerpunkt-Kitas Sprache und Integration“ - auf den Weg gebracht. Der Bund fördert dabei in 4 000 Einrichtungen besonders Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien mit und ohne Migrationshintergrund, die einen hohen Sprachförderbedarf haben. An diesen ganzen Positionen sehen Sie, dass innerhalb der letzten drei Jahre in der Familienpolitik der christlich-liberalen Koalition ein Erfolgsmodell das nächste jagt. ({20}) - Dass Ihnen das wehtut, ist doch völlig klar. An Ihrer Stelle würde es mich natürlich auch nerven, wenn ich wüsste, dass ich die nächsten Jahre und Jahrzehnte in der Opposition bleiben muss. ({21}) Natürlich tut es weh, dass wir eine gute Politik für Familien machen ({22}) und die Eltern, wie eingangs erwähnt, primär selbst Verantwortung tragen lassen. Damit komme ich zu einem weiteren Erfolgsmodell. Sie sehen: Wir können gar nicht genug davon aufzählen. Meine Redezeit reicht gar nicht aus, um alle Erfolgsmodelle zu erwähnen. ({23}) Wir haben den Bundesfreiwilligendienst eingeführt. Ich bin Florian Toncar dankbar dafür, dass er ihn schon angesprochen hat. Dieser Bundesfreiwilligendienst war von Ihnen schon totgesagt, bevor er begonnen hat. ({24}) Herr Wunderlich hat gefragt: Warum hören Sie nicht öfter auf die Opposition? Genau deswegen nicht, weil Sie nicht wissen, wie es richtig funktioniert! Junge Menschen in diesem Land verschreiben sich freiwillig der guten Sache. ({25}) Im Moment engagieren sich 37 000 Freiwillige im Bundesfreiwilligendienst. In einigen Regionen würden sich gerne noch viel mehr junge Leute engagieren. Uns wird beim Bundesfreiwilligendienst also wirklich die Bude eingerannt. Ganz besonders wichtig ist mir auch, dass wir mit den über 27-Jährigen eine ganz neue Zielgruppe erschlossen haben. Diese stellen einen Anteil von knapp 40 Prozent der Freiwilligen. Rund 21 Prozent sind älter als 50 Jahre. Auch das ist wirklich positiv. Ich kann dazu nur sagen: Jawohl, hier ist gelebtes Engagement, gelebte Freiwilligkeit und gelebtes Bürgerengagement, das gar nicht hoch genug bewertet werden kann. Sie sehen also: Wir haben in allen Bereichen schon jetzt unsere Hausaufgaben gemacht, obwohl die Legislaturperiode noch ein Jahr läuft. Wir werden unsere Familienpolitik selbstverständlich mit dem gleichen Engagement und der gleichen Leidenschaft weiterführen. ({26}) Meine Mutter hat heute nicht Geburtstag, aber der Staatssekretär hatte gestern Geburtstag. Deswegen an dieser Stelle: Hermann Kues, meine Rede widme ich dir. Vielen Dank. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Bär, Gleichberechtigung und Gleichstellung bedeuten natürlich auch, dass eine Debatte auf Augenhöhe geführt wird, und zur Debatte auf Augenhöhe gehört auch, Kritik auf Augenhöhe äußern zu dürfen. ({0}) Wenn man sich den Einzelplan 17 anschaut, dann erkennt man: Die Kollegen hier haben komplett recht. Die Ministerin hat wenig gesät, und deshalb ist die Ernte auch so dürftig. Das darf man hier auch einmal so sagen. ({1}) Schauen Sie sich doch einfach einmal den Bereich Kitaausbau an. Warum kritisieren wir das so? Lange Zeit wurde hier nichts getan. Ich weiß von wirklich unzähligen Anträgen, Entwürfen und Debattenbeiträgen von allen Fraktionen, in denen gesagt wurde: Sie kann da nicht nur zuschauen. Der Rechtsanspruch kommt. Wir müssen das ernst nehmen. - Bewegt hat sich aber nichts. Erst als Druck von den Eltern mit ihren Klagedrohungen, von den Kommunen, die gesagt haben: „Das kommt auf uns zu“, und von den Ländern, die gesagt haben: „Da muss etwas getan werden“, aufkam, gab es hier Bewegung - und auch das nur im kleinsten Stil. Wir haben noch immer keine Antwort darauf, was wir eigentlich machen, wenn uns 220 000 Kitaplätze fehlen, und darauf, woher die Erzieherinnen und die Erzieher kommen sollen und wo wir sie ausbilden. Wir haben überhaupt noch keine Antwort darauf, ({2}) wie wir sie für ihre Arbeit mit unseren Kindern jemals besser bezahlen können. Noch weniger Debatten gibt es darüber - zumindest kenne ich aus Ihren Reihen, geschweige denn vom Ministerium, keine einzige Debatte darüber -, wie es eigentlich um die Qualität in den Tagesstätten bestellt ist. Wo sind Ihre Antworten, wenn es um Bildung geht? Sie tun nichts und sitzen die Dinge aus. Das muss man hier auch einmal sagen. ({3}) Schauen Sie sich zum Beispiel Nordrhein-Westfalen an. Ihre Partei, die CDU, hat doch immer wieder gebremst. Jetzt stehen Sie da und sagen: Wir waren erfolgreich mit unserer Bremse. - Deshalb sind Sie hintendran. So funktioniert das nicht. ({4}) Entweder wir haben ein Ziel für die Kinder, dann müssen wir handeln, oder aber Sie lassen es sein. Das zeigen Sie uns auch mit Ihrer Debatte über die Betreuung. Aber dann sagen Sie doch einmal ehrlich, was Sie eigentlich wollen. ({5}) Ich will Ihnen noch etwas sagen, Frau Ministerin, da Sie das Betreuungsgeld als eine Falle für Frauen bezeichnen. Herrgott, warum haben Sie es dann vertreten? Warum verteidigen Sie es noch immer? Dann können Sie sich doch davon verabschieden. Das ist übrigens Politik - für den Fall, dass es Ihnen noch niemand erklärt hat. Politik hat auch dann Stellung zu beziehen, wenn es etwas schwieriger wird, und dann muss man das auch durchhalten. Ich habe noch nie erlebt, dass Sie einmal Stellung bezogen und das dann auch durchgehalten haben. Das wünschte ich mir von einer Familienministerin für alle Familien in diesem Land. ({6}) Vorhin wurde gesagt, bei Hartz IV machten Sie jetzt Bildungssparen. Ich bitte Sie: Warum schaffen Sie nicht einfach gute Bildungseinrichtungen für Kinder, statt auf Bildungssparen zu setzen? ({7}) Sie verlangen von Menschen, die von Hartz IV leben, dass sie auch noch Geld zurücklegen sollen, das sie aber nicht haben. Woher sollen sie es denn nehmen? Wie nachhaltig ist das denn? Am Ende gewinnt immer die Bank. Das werden Sie erreichen, aber die Kinder bleiben auf der Strecke. Das können Sie drehen und wenden, wie Sie wollen. Das funktioniert nicht. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe gestern noch etwas Furchtbares gehört. Ich habe einen Anruf von einer Journalistin erhalten, die aus der Pressekonferenz der Ministerin gekommen ist. Dabei ging es um sexuellen Missbrauch. Sie sagte: Wissen Sie was, Frau Deligöz, ich bin verzweifelt. Ich sehe in diesen Ministerien die organisierte Nichtverantwortlichkeit. Alle machen Pressekonferenzen, aber niemand hat eine Antwort. Was ist denn eigentlich mit der Lage der Opfer und der Opferentschädigung? Es geht hin und her. Keiner verhandelt, keiner macht etwas, keiner tut etwas. Alle reden darüber, alle feiern sich. Aber niemand nimmt etwas in die Hand und bringt etwas voran. Die Opfer bleiben bei der ganzen Geschichte auf der Strecke. - Die organisierte Nichtverantwortung prägt die Zeit, in der Sie Ministerin waren, Frau Ministerin. ({9}) Sie werden als die Ministerin in die Geschichte eingehen, die nie da war, weder im Parlament noch in den Debatten noch wenn es darum ging, Lösungen für die Probleme der Familien zu finden. Das prägte die Zeit, als Sie Ministerin waren. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jörg von Polheim für die FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Polheim (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004220, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin, zum Thema Bildungssparen kann ich nur sagen: Sie haben effektiv nicht verstanden, was da gemacht wird. ({0}) - Doch, es ist sehr gut zu verstehen. Man muss nur lesen. Wir beraten heute den Einzelplan 17. Hierzu ist schon einiges gesagt worden. Ich muss erst einmal mein Erstaunen ausdrücken angesichts der Vorschläge der Opposition, vor allem des Änderungsantrags der SPD-Fraktion. War es nicht Ihr Kanzlerkandidat, der dieser schwarz-gelben Koalition in der Generalaussprache mangelnden Sparwillen vorgeworfen hat? Weil Sie uns ja immer vorwerfen, wir würden nicht genug für die Menschen tun, also nach Ihren Vorstellungen nicht genug Geld ausgeben, wobei Sie im nächsten Atemzug schon wieder kritisieren, dass wir nicht genug sparen würden, habe ich mir einmal die Frage gestellt: Was machen Sie eigentlich, wenn Sie regieren? ({1}) Zwei Beispiele: Grün-Rot in Baden-Württemberg ist mit vollmundigen Versprechungen gestartet. Im Bildungsbereich sollte es Millioneninvestitionen geben. Was ist davon geblieben? Sie haben die Verschuldung des Landes nach oben geschraubt und streichen im nächsten Jahr 11 600 Lehrerstellen. Das ist wohl die neue grün-rote Bildungspolitik - gut zu wissen. ({2}) Oder schauen wir uns einmal die Jugendpolitik in Hamburg an: Die SPD-Regierung reduziert den Ansatz für die Jugendsozialarbeit um 3,5 Millionen Euro - auch hochinteressant. ({3}) Im Gegensatz zur SPD haben wir keine neuen Ausgaben auf Pump finanziert. 2013 gibt der Bund weniger Geld aus als zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damit sind wir die erste Regierung, die das in der Geschichte dieses Landes überhaupt hinbekommt. Darauf können wir stolz sein. ({4}) Damit schaffen wir die Perspektiven für einen strukturell ausgeglichenen Haushalt 2014 und für mehr Generationengerechtigkeit. Das ist ein wichtiger Erfolg; denn nur so erhalten wir auch in Zukunft Handlungsspielräume für junge Menschen. Trotzdem haben wir andere Aufgabenfelder nicht außer Acht gelassen. Zum Beispiel haben wir mit der Freiwilligendienstreform das bürgerschaftliche Engagement in unserem Land in historischem Maße vorangebracht. Oder nehmen wir die Extremismusprävention. Es ist schon abenteuerlich, wenn sich Politiker der Opposition öffentlich hinstellen und behaupten, diese Koalition unternähme nicht genug gegen den politischen Extremismus. Wir haben die Mittel hierfür von 24 Millionen auf 29 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt. Damit gibt der Bund heute fast dreimal so viel aus wie im Jahr 2005 unter Rot-Grün. ({5}) Wir haben durch die Verlagerung von Verwaltungsaufgaben auf das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben zusätzlich 2 Millionen Euro für die Programme ermöglicht. Wir haben mit dem neuen Programm „Demokratie stärken“ die Perspektive erweitert und auch den religiösen Extremismus ins Visier genommen. Angesichts mehrerer Übergriffe auf jüdische Mitmenschen in den letzten Monaten war das eine vorausschauende Entscheidung. Abschließend möchte ich auf etwas eingehen, was mich während der ersten Beratung des Haushaltes im September wirklich gestört hat. Es ist in Ordnung, wenn man sich in der Sache hart und klar auseinandersetzt. Aber unsachliche Vorwürfe, mit deren Hilfe die Realität absichtlich verzerrt dargestellt wird, gehören nicht dazu. ({6}) Der Vorwurf, Union und FDP hätten die Jugendpolitik vernachlässigt, ist genauso unsachlich wie falsch. ({7}) Sie ignorieren damit wissentlich und absichtlich eine Menge Erfolge dieser Koalition, sei es die Stärkung des Partizipationsgedankens im Kinder- und Jugendplan, die Förderung der U-18-Wahl oder die von uns erreichte Fortsetzung des Programms „Schulverweigerung - Die 2. Chance“. Das alles haben wir mit unserem Antrag zur eigenständigen Jugendpolitik beschlossen. Wenn all das für Sie, liebe Damen und Herren der Opposition, nicht erwähnenswert ist, dann stellen Sie das öffentlich klar. Sagen Sie doch, dass Sie die Mittel für diese Programme kürzen wollen. Dann schenken Sie den Menschen wenigstens reinen Wein ein. Aber hören Sie mit der Schwarzmalerei auf. Diese dient nicht den Menschen, sie dient nur Ihren eigenen Zwecken, dem Wahlkampf. Aber da machen wir nicht mit. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sönke Rix für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal zu der Frage, ob man in solchen Debatten etwas schärfer angreifen darf. Anscheinend hat das, was wir gesagt haben, gesessen, Frau Bär; denn Kritik, die ankommt und vielleicht auch einmal wehtut, ist vielleicht berechtigte Kritik. Wenn die Ministerin für diesen Haushalt nicht die Verantwortung übernehmen und sich vor Kritik wegducken will, dann tut sie mir wirklich sehr leid. ({0}) Wir haben heute schon öfter gehört: Das ist die beste Regierung seit 1990 oder sogar aller Zeiten. ({1}) Gerade eben haben wir sogar gehört, das sei die erste Regierung seit langem, die keine neuen Schulden aufnehme. - Das stimmt nicht: 17 Milliarden Euro neue Schulden werden gemacht. Aber gut, man kann auch einmal mit Unwahrheiten hantieren, um sich zur besten Regierung aller Zeiten zu machen. Damit sollten Sie aber vorsichtig sein, das werden die Wähler nicht honorieren. ({2}) Ein Erfolgsmodell jagt also das nächste. Da haben wir zum Beispiel die eigenständige Jugendpolitik. Da wurde uns gerade - mein Vorredner hat es gesagt - klargemacht: Natürlich ist man in der Jugendpolitik sehr aktiv. Die Ministerin hat dazu sehr wenig oder fast gar nichts gesagt. Aber gut, wir nehmen einmal an, dass auch die Ministerin weiß, dass sie für die Jugend zuständig ist. Gerade wurde die Förderung der U-18-Wahlen erwähnt. Es ist interessant: Das sehen Sie also als gutes Projekt an, das halten Sie für eine gute Maßnahme. Dann ziehen Sie doch einmal die richtigen Schlüsse aus diesem Projekt, und führen Sie als Wahlalter 16 Jahre ein. Damit würden Sie eine konkrete Maßnahme umsetzen. ({3}) Das nächste Erfolgsmodell soll angeblich das Betreuungsgeld sein, auch wenn dazu von der FDP auffälligerweise nicht intensiv Stellung bezogen worden ist. Na ja, man muss nicht jedes Erfolgsmodell mittragen. Aber Sie werden sich vorwerfen lassen müssen: Sie haben es mitgetragen. Sie haben mitgestimmt. Die Mehrheit Ihrer Fraktion war dafür. Sie haben dazu beigetragen, dass es jetzt tatsächlich kommen wird. Diesen Vorwurf müssen Sie sich immer wieder anhören, auch wenn Sie sich lieber wegducken und zu dem Thema am liebsten nichts sagen würden. Es ist etwas anderes, ob ein Gesetzentwurf noch geprüft wird oder ob man mit den eigenen Stimmen dazu beiträgt, dass dieser Entwurf als Gesetz in Kraft tritt. Das haben Sie zu verantworten. ({4}) Jetzt wird immer darauf hingewiesen, es sei ein schlechtes Argument, dass der BDA-Präsident dies als schlecht für den Arbeitsmarkt bezeichnet hat. Mir ist es neu, dass Schwarz-Gelb selten auf den BDA-Präsidenten hört. Aber es gibt eine Vielzahl von Argumenten, die dagegensprechen, und ein Argument ist das, was der BDAPräsident gesagt hat: Es ist für den Arbeitsmarkt kontraproduktiv. Das ist eines von vielen Argumenten, aber nicht einmal dem hören Sie zu. ({5}) Andere Argumente wie die damit einhergehende Integrationsfeindlichkeit und Bildungsfeindlichkeit muss ich nicht noch einmal erwähnen. Aber es wird auch immer wieder von wirklicher und wahrer Wahlfreiheit gesprochen; Frau Bär hat das heute auch wieder getan. Kein Mensch hat gesagt, wir brauchen für 100 Prozent der Kinder Plätze. Für jedes Kind ein Platz würde schließlich in der Konsequenz bedeuten: Wir wollen auch, dass unbedingt jedes Kind in eine Kita geht. ({6}) Wir sagen: Das entscheiden die Eltern selbst. Wir müssen aber den Eltern die Möglichkeit geben, dass genügend Plätze zur Verfügung stehen, damit sie wirklich die Wahlfreiheit haben. Das erreichen Sie aber nicht, wenn Sie so etwas Kontraproduktives einführen wie das Betreuungsgeld. Das ist das Gegenteil von Wahlfreiheit, Frau Bär. ({7}) Die Kanzlerin hat in ihrer Rede zum Haushalt ganz beiläufig erwähnt, dass man den Wehrdienst abgeschafft hat - auch wenn das wahrscheinlich eher eine Zufallsentscheidung der schwarz-gelben Regierung war - und dass man den Bundesfreiwilligendienst eingeführt hat, der, so die Kanzlerin wortwörtlich, „seinesgleichen“ sucht. Natürlich sucht er seinesgleichen, aber man hätte ihn gar nicht einführen müssen; ({8}) denn es gab erfolgreiche Modelle von Freiwilligendiensten durch den Jugendfreiwilligendienst. Das hätten Sie sich sparen können. Hätten Sie stattdessen Geld in erfolgreiche Projekte wie FSJ und FÖJ gesteckt, dann wären wir alle zufrieden, und die Kanzlerin hätte wahrscheinlich gar nicht sagen müssen, dass es ein Modell gibt, das seinesgleichen sucht. ({9}) Denn was Sie mit dem neuen Modell geschaffen haben, sind Doppelstrukturen und Konkurrenz unter den Modellen. Sie haben es geschafft, dass man innerhalb einer Einrichtung für Freiwilligentätigkeiten unterschiedlich bezahlt wird bzw. unterschiedliches Taschengeld bekommt und dass es verschiedene rechtliche RahmenSönke Rix bedingungen gibt. Das hätten Sie sich sparen können. Das hätten Sie nicht machen müssen, hätten Sie einfach FSJ und FÖJ gestärkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend zur Debatte um die sogenannten Extremismusprogramme. Wir haben tatsächlich einstimmig einen überparteilichen Antrag beschlossen, in dem wir gesagt haben: Wir wollen die demokratischen Gruppen stärken, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Ich habe dann zuerst gedacht: Wunderbar! Wir haben einen einstimmigen Beschluss des Parlaments; jetzt wird die Regierung ja wohl handeln. Der Innenminister hat in seinen Bereichen gehandelt, indem er mehr Geld für die Bekämpfung von Rechtsextremismus ausgibt, und er wird andere Strukturen schaffen. Ich habe mich darauf gefreut, dass sich wahrscheinlich auch die Jugendministerin dazu äußern wird und entsprechend handeln wird. Aber was ist passiert? Nichts. Gar nichts ist passiert. Es ist keine Erhöhung erfolgt. Es werden keine Grenzen abgebaut. An dieser Stelle ist überhaupt nichts passiert. Dafür sollten Sie sich angesichts dieses einstimmigen Beschlusses des Parlaments schämen, Frau Ministerin. ({10}) Wir haben nach wie vor die Extremismusklausel. Wir haben nach wie vor Ungerechtigkeiten, was die Kofinanzierung anbelangt. Wir haben nach wie vor eine Vermischung verschiedener angeblicher Extremismusformen, und wir haben nach wie vor keine kontinuierliche Finanzierung, obwohl wir es eigentlich alle gemeinsam wollen. Oder behaupten wir nur, dass wir es alle gemeinsam wollen? Jetzt hätten wir die Möglichkeit, in der namentlichen Abstimmung zumindest ein kleines Signal an die Verbände, Organisationen und Projekte zu senden, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Es wäre ein kleines Signal, indem wir ihnen sagen: Ihr müsst euch bis zum nächsten Haushaltsjahr keine Sorgen machen; wir schaffen eine Verpflichtungsermächtigung. Ihr bekommt weiter euer Geld für die guten Projekte gegen Rechtsextremismus. - Aber dafür sind Sie sich wohl zu schade. Warum machen Sie nicht mit, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({11}) Sie haben heute die Möglichkeit, dieses kleine Zeichen zu setzen, statt nur dann ein paar Worte zu sagen, wenn man tatsächlich einmal aktuell darauf angesprochen wird. Wenn Sie dieses Zeichen jetzt nicht setzen, dann werden wir spätestens nach der nächsten Wahl dafür sorgen, eine kontinuierliche Finanzierung hinzubekommen, so wie wir auch versuchen werden, Ihre Fehler auszubügeln. Das wird eine harte Arbeit, aber ich glaube, wir werden es auf jeden Fall besser machen. Danke schön. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Erwin Rüddel für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 17 macht deutlich, dass die christlich-liberale Koalition auch vor dem Hintergrund von Schuldenbremse und Haushaltskonsolidierung nachhaltig in die Zukunft unserer Gesellschaft investiert. Familien und Kinder, Frauen und Senioren können sich auf diese Koalition verlassen. ({0}) Wir fördern den gesellschaftlichen Wandel mit zukunftsweisenden Projekten, von denen ich in der Kürze der Zeit nur einige wichtige anführen kann. Dazu gehört das Elterngeld, mit dem Mütter und Väter dabei unterstützt werden, Familie und Beruf partnerschaftlich zu gestalten. Dass sich immer mehr Väter - wir haben es heute lesen können - in den ersten Monaten um ihre Kinder kümmern, begrüßen wir ausdrücklich. Übrigens fördern wir damit auch den frühen Wiedereinstieg von Müttern in den Beruf. ({1}) Ich betone das deshalb, weil die Opposition in diesem Haus mit Vorliebe das Phantom des Heimchens am Herd beschwört. Das Gegenteil ist richtig: Wir sorgen mit dem Elterngeld dafür, dass die Kindererziehung keineswegs den Abschied vom Beruf bedeutet; vielmehr haben Frauen die Chance, frühzeitig wieder in den Beruf einzusteigen und sich eine eigene Altersversorgung aufzubauen. Zu unseren herausragenden familienpolitischen Leistungen gehören die Zuwendungen für die Kitas, die weit über die ursprünglichen Zusagen des Bundes hinausgehen: 4,6 Milliarden Euro für den Kitaausbau und ab 2014 über 800 Millionen Euro jährlich für die Betriebskosten. Das sind enorme Summen. Ich wünsche mir nur, dass endlich das Gejammere und die falschen Schuldzuweisungen einiger Bundesländer aufhören. ({2}) Aber das Thema Kitaausbau ist nur die Spitze des Eisberges. Beim Engagement für die Familienhebammen, für die Sprachförderung benachteiligter Kinder und für ungewollt kinderlose Paare stehen wir vor derselben Sachlage. Der Bund hat die Initiative ergriffen und den Löwenanteil der Kosten übernommen. Das gilt für die Familienhebammen - Stichwort „Frühe Hilfen“ -, das gilt für die Sprachförderung in 4 000 Kitas - Stichwort „Frühe Chancen“ -, das gilt für die Bereitschaft des Bundes, die Zuschüsse für Leistungen bei ungewollter Kinderlosigkeit aufzustocken. Dagegen haben wir von manchen Landesregierungen höchst fadenscheinige Argumente zu hören bekommen. In besonderer Weise hat sich hier Frau Dreyer aus Mainz hervorgetan. Wenn es allein nach ihr gegangen wäre, würde auch die Erfüllung des Kinderwunsches weiter entscheidend von den individuellen Vermögens- und Einkommenssituationen der betroffenen Paare abhängig sein. Was daran sozial sein soll, weiß ich nicht. Aber jetzt zahlen ja die Kassen. Auch so kann man sich aus der Verantwortung stehlen und aus der Affäre ziehen. Wir sind der Frau Ministerin Schröder besonders für das Projekt „Frühe Chancen“ dankbar, geht es doch darum, in einem schwierigen Umfeld möglichst schnell die deutsche Sprache zu lernen. So bringen wir die Integration voran und schaffen die Voraussetzungen für gute Bildung und gute berufliche Chancen. Beleg für die erfolgreiche Arbeit der Ministerin ist in besonderer Weise auch der Bundesfreiwilligendienst. Die Opposition hat dieses Projekt zu Unrecht in Zweifel gezogen und ist beeindruckend widerlegt worden; denn der Bundesfreiwilligendienst ist ein Erfolgsmodell, das alle Erwartungen übertrifft. ({3}) Wir haben ebenfalls dank einer Initiative der Ministerin die Familienpflegezeit, mit der wir die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf erleichtern. Mit dem Gesetz werden wir sicherlich nicht alle Probleme lösen, aber es ist ein sehr wichtiger Schritt auf dem Weg, das große Thema der bedarfsgerechten Pflege in einer rasch alternden Gesellschaft zu bewältigen. Ein weiteres Erfolgsmodell sind die Mehrgenerationenhäuser. Sie stehen exemplarisch für die Förderung eines bürgerschaftlichen Engagements, das alle Generationen zusammenführt. Kurz vor dem Abschluss steht ein wichtiges frauenpolitisches Projekt, nämlich das bundesweite Hilfetelefon. Wir verbinden damit, auch mit Blick auf die Integration, ein konkretes Ziel; denn das Hilfetelefon wird gerade Frauen, die der deutschen Sprache vielleicht nur unvollkommen mächtig sind, Rat und Hilfe in ihrer Muttersprache bieten. ({4}) Nicht vergessen sollten wir die Finanzierung der beiden Entschädigungsfonds für die Heimkinder West und Ost in Höhe von 15 Milliarden Euro. Nicht vergessen sollten wir außerdem, dass wir die Kinderrechte gestärkt haben. ({5}) Abschließend noch ein Wort zum Betreuungsgeld; denn für die Opposition scheint es ja kaum ein wichtigeres Thema zu geben. Wir wollen Wahlfreiheit und Vielfalt. Deshalb bieten wir die unterschiedlichsten Instrumente in der Familienförderung und alternative Anreize zur privaten Altersvorsorge und zum Bildungssparen an. Wir halten nichts davon, die Lebensentwürfe von Familien polemisch oder gar diffamierend gegeneinander auszuspielen. ({6}) Wir betrachten es als Beleidigung für alle Mütter und Väter, wenn so getan wird, als bestünde die größte Gefahr für ein Kleinkind in Deutschland ausgerechnet darin, von den eigenen Eltern betreut zu werden. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- plan 17 in der Ausschussfassung. Hierzu liegen vier Än- derungsanträge vor. Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11548, zu dem namentliche Abstimmung verlangt wurde. Ich bitte die Schriftführe- rinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Wir setzen die Abstimmungen über weitere Ände- rungsanträge fort. Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/11549. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsan- trag abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion, die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dage- gen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Wir kommen zu zwei Änderungsanträgen der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen. Wir stimmen zunächst über den Antrag auf Drucksa- che 17/11550 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abge- lehnt bei Zustimmung durch die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Die SPD-Frak- tion hat sich enthalten. CDU/CSU und FDP haben ihn abgelehnt. Änderungsantrag auf Drucksache 17/11551. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustim- 1) Ergebnis Seite 25439 C Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt mung durch die Oppositionsfraktionen. Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich jetzt die Sitzung. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 261, mit Nein haben gestimmt 306. Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 567; davon ja: 261 nein: 306 Ja SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({0}) Gerd Bollmann Willi Brase Bernhard Brinkmann ({1}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({2}) Gabriele Groneberg Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Michael Hartmann ({3}) Hubertus Heil ({4}) Wolfgang Hellmich Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({5}) Frank Hofmann ({6}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({7}) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({8}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Hilde Mattheis Ullrich Meßmer Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({9}) ({10}) Annette Sawade Axel Schäfer ({11}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({12}) Werner Schieder ({13}) Ulla Schmidt ({14}) Carsten Schneider ({15}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({16}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Waltraud Wolff ({17}) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Paul Schäfer ({18}) Dr. Ilja Seifert Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Sabine Zimmermann Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({19}) Volker Beck ({20}) Cornelia Behm Birgitt Bender Agnes Brugger Viola von Cramon-Taubadel Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({21}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Monika Lazar Jerzy Montag Kerstin Müller ({22}) Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Claudia Roth ({23}) Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Arfst Wagner ({24}) Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({25}) Manfred Behrens ({26}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({27}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({28}) Axel E. Fischer ({29}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({30}) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({31}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({32}) Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Hans-Georg von der Marwitz Stephan Mayer ({33}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({34}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({35}) Michaela Noll Franz Obermeier Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({36}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht ({37}) Anita Schäfer ({38}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({39}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({40}) ({41}) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({42}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({43}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({44}) Peter Weiß ({45}) Sabine Weiss ({46}) Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({47}) Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Joachim Günther ({48}) Dr. Christel Happach-Kasan Manuel Höferlin Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth ({49}) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({50}) Michael Link ({51}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({52}) ({53}) Dirk Niebel Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Serkan Tören Johannes Vogel ({54}) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({55}) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel- plan 17 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Einzelplan 17 angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte II a und II b auf: II a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes - Drucksache 17/11295 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({56}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Marlene Rupprecht ({57}), Katja Dörner, Diana Golze und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge und die Rechte des männlichen Kindes bei einer Beschneidung - Drucksache 17/11430 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({58}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({59}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. ({60}) Ich eröffne die Aussprache, wenn im Saal Ruhe herrscht. Ich bitte diejenigen, die anderweitige Gespräche führen, diese entweder zu unterbrechen oder woandershin zu verlegen. Ich gebe das Wort der Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. ({61})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt auf der Welt kein Land, das die religiöse Beschneidung von Jungen generell unter Strafe stellt. Dass sich Eltern straffrei für eine medizinisch fachgerechte Beschneidung ihres Sohnes entscheiden können, wurde bis vor kurzem auch in der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte hinweg nicht ernsthaft bezweifelt. Im Mai dieses Jahres bewertete das Landgericht Köln einen einzigen Fall anders. Erstmalig seit dem Bestehen der Bundesrepublik hat damit ein deutsches Gericht die insbesondere von Juden und Muslimen praktizierte Beschneidung von Jungen rechtlich infrage gestellt. Das Kölner Urteil hat über den Einzelfall hinaus zwar keine Bindungswirkung. Dennoch führte es zu großer Verunsicherung - ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Bundesministerin. - Ich bitte sehr um Ruhe. Wir führen hier eine wirklich ernsthafte Debatte. Ich finde, wenn Gespräche jenseits dessen, was hier diskutiert wird, geführt werden sollen, dann können sie woanders stattfinden, aber nicht hier im Saal. - So.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Das Kölner Urteil hat über den Einzelfall hinaus zwar keinerlei Bindungswirkung. Dennoch führte es zu großer Verunsicherung bei Ärzten. Es wurden Strafanzeigen gestellt. Juden und Muslime sehen sich in ihrer Religionsausübung gefährdet. Mit dem heute zu beratenden Gesetz wollen und müssen wir zu der Normalität zurückkehren, die weltweit und bis zum Mai dieses Jahres auch in Deutschland als selbstverständlich galt. Eltern dürfen einer fachgerechten Beschneidung ihres nicht einwilligungsfähigen Sohnes zustimmen, ohne den Staatsanwalt fürchten zu müssen. Das ist die weit überwiegende Auffassung dieses Hauses, wie der fraktionsübergreifende Beschluss vom 19. Juli 2012 gezeigt hat. Dies entspricht auch der Vorgabe unseres Grundgesetzes. Das Grundgesetz legt in Art. 6 die Pflege und Erziehung der Kinder in die Hände der Eltern. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass Eltern - ich zitiere grundsätzlich frei von staatlichem Einfluss nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen. Ziel, Inhalt und Methoden der elterlichen Erziehung liegen im Verantwortungsbereich der Eltern. Nicht der Staat, sondern die Eltern entscheiden also zuallererst, was für ihre Kinder das Richtige ist. Der Staat muss sich zurücknehmen. Er hat eine Reservefunktion und ist auf ein Wächteramt beschränkt. Grenzen des elterlichen Sorgerechtes können sich aus dem Recht des Kindes auf Persönlichkeitsentfaltung ergeben, wie zum Beispiel im Fall der Verwahrlosung, wo der Staat einzuschreiten hat. Genauso gilt das für das Recht des Kindes auf Achtung seiner körperlichen Unversehrtheit. Deshalb ist zum Beispiel eine Genitalverstümmelung von Mädchen wegen der dauerhaften und schwerwiegenden physischen und psychischen Belastung ein auch mit der Personensorge nicht zu rechtfertigender Eingriff. Dies hat auch der Bundesgerichtshof festgestellt. ({0}) Die männliche Beschneidung kann damit nicht gleichgesetzt werden. Deshalb umfasst die Personensorge auch die Zirkumzision, wenn sie die Regeln ärztlicher Kunst, wie zum Beispiel Sterilität oder maximale Schmerzlinderung, einhält. Eltern können eine Beschneidung ihres Sohnes aus unterschiedlichen - nicht nur religiösen - Gründen für geboten halten. Solange das Kindeswohl damit nicht verletzt ist, hat der Staat kein Recht, in diese Auffassung der Eltern korrigierend einzugreifen. ({1}) Die Personensorge umfasst auch das Recht der Eltern, zu entscheiden, welcher Religionsgemeinschaft ihre Kinder angehören sollen. Denn das Recht der Eltern umfasst zusammen mit der von Art. 4 Grundgesetz geschützten Religionsfreiheit auch die Kindeserziehung in religiöser und weltanschaulicher Sicht. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass - ich zitiere die Eltern ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen vermitteln können, die sie für richtig halten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland möglich sein muss, darin sind wir uns bestimmt einig. ({2}) Wie die Religion ausgeübt wird, ist nicht der Gestaltung des Gesetzgebers unterworfen. Die weltanschauliche Neutralität des Staates ist im Sinne einer kooperativen Zuordnung zu verstehen, nicht negativ ausgrenzend. Ein moderner, pluralistischer Staat braucht auch die Glaubens- und Religionsgemeinschaften als bedeutsame gesellschaftliche Akteure. Zur Glaubensfreiheit gehört … nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Der Schutz umfasst - so das Bundesverfassungsgericht die Teilnahme an religiösen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet. Nach dem Selbstverständnis des Judentums ist die Beschneidung des männlichen Kindes am achten Tag nach der Geburt zentraler Bestandteil der jüdischen Identität. Im Islam gilt die Beschneidung bei Sunniten und Schiiten als islamische Pflicht bzw. empfohlene Tradition und gehört zu den Glaubensüberzeugungen der Muslime, auch bei den Aleviten. Die vorgesehene Regelung im Personensorgerecht der Eltern im Bürgerlichen Gesetzbuch enthält jetzt die Voraussetzungen, die die Zirkumzision rechtfertigen: die Vornahme nach den Regeln der ärztlichen Kunst und natürlich nach umfangreicher Aufklärung der Eltern. Auch haben die Eltern wie bei allen Erziehungsentscheidungen vorhandenen Kindeswillen in ihre Entscheidung miteinzubeziehen. Wenn im Einzelfall das Kindeswohl gefährdet würde, ist selbstverständlich von der Beschneidung abzusehen. Dies wird auch in die vorgesehene Vorschrift ausdrücklich aufgenommen. Der Gesetzentwurf enthält auch eine besondere Regelung für von einer Religionsgemeinschaft vorgesehene Personen, die auch die erforderlichen Kenntnisse und eine Ausbildung für die Vornahme dieses Eingriffes haben müssen. Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis eines äußerst intensiven Austausches mit Vertretern der Religionsgemeinschaften, mit Medizinern, mit Rechtswissenschaftlern, mit vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Experten in den letzten Wochen und Monaten. Auch wenn es Stimmen gibt, die dem Gesetzentwurf kritisch gegenüberstehen, appelliere ich ausdrücklich an uns alle, mit großem Respekt und gegenseitiger Toleranz dieses wichtige Thema zügig zu beraten. Wir brauchen Rechtssicherheit. ({3}) Die Bundesregierung bringt mit diesem Gesetzentwurf auch zum Ausdruck, dass jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland ausdrücklich erwünscht ist. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Burkhard Lischka hat das Wort für die SPD-Fraktion.

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will nicht verhehlen: Die Debatte, die seit der Entscheidung des Kölner Landgerichts zu religiös motivierten Beschneidungen geführt wird, löst bei mir teilweise sehr zwiespältige Gefühle aus. Ich weiß: In dieser Debatte kann kein noch so guter Gesetzentwurf rundum zufriedenstellende Antworten geben, auch der heute vorliegende nicht. Es geht hier nämlich weniger um rein formaljuristische Fragen und Abwägungen; es geht hier um einen echten Wertekonflikt, einen Wertekonflikt, der zum Teil sehr grundsätzliche Fragen aufwirft, die sehr weit über das Thema Beschneidung hinausgehen. Da ist zum einen das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das insbesondere auch für die Schützenswertesten in unserer Gesellschaft, nämlich die Kinder, gilt. Dieser Schutz ist für unsere Rechtsordnung, für unsere Verfassung genauso elementar wie mancher Glaubensinhalt für eine Religion. Auf der anderen Seite wirft diese Debatte aber auch die Frage auf, wie viel Toleranz und Freiräume wir uns in einer Gesellschaft, die weltoffen und plural sein will, gegenseitig zugestehen, wie viel Respekt die Mehrheit dieser Gesellschaft einer Minderheit entgegenbringt. „Respekt“ ist übrigens ein gutes Stichwort. Denn diesen Respekt habe ich bei der Debatte außerhalb dieses Hauses in den letzten Monaten leider manches Mal vermisst. ({0}) Die teilweise doch sehr aggressive Argumentation sowohl aufseiten der Befürworter als auch aufseiten der Gegner einer gesetzlichen Regelung hat mich manches Mal irritiert. Nein, egal welchen Standpunkt man in dieser Debatte einnimmt: Es ist weder gerechtfertigt, dem jeweils anderen Antisemitismus und Islamophobie in seiner Argumentation zu unterstellen, noch der anderen Seite vorzuwerfen, sie betreibe hier einen Ausverkauf der Kinderrechte zugunsten barbarischer Riten. Wir sollten es aushalten, uns gegenseitig zuzuhören bei diesem Wertekonflikt. Eine Demokratie ist der beste Ort, einen solchen Konflikt sachlich und mit dem gebotenen Respekt zu diskutieren. ({1}) Aber am Ende all dieser Diskussionen muss eine Entscheidung stehen, wohl wissend, dass jeder Versuch, diese Werte mithilfe eines einzigen Paragrafen in ein Gleichgewicht zu bringen, unperfekt bleiben muss. Ich räume ein: Ja, die Beschneidung ist mir persönlich fremd, sehr fremd sogar. Sie entspricht nicht meinen Vorstellungen, wie ich mit meinem Sohn umgehen möchte. Aber will ich damit meinen jüdischen und muslimischen Mitbürgern, will ich Eltern mit einem anderen Glauben absprechen, dass auch sie ihre Kinder lieben, nur weil sie eine Beschneidung vornehmen, die für ihren Glauben identitätsstiftend ist? Nein, ich glaube, weder unsere muslimischen noch unsere jüdischen Mitbürger brauchen Nachhilfeunterricht in Sachen Kinderliebe und Menschenrechte. ({2}) Diesen Eindruck sollten wir in unserer Debatte hier unbedingt vermeiden; denn das würde viel, unendlich viel Porzellan zerschlagen. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung - das ist zumindest meine Überzeugung -, weil die Alternative wäre, alle Eltern, alle Ärzte und Rabbiner, die eine Beschneidung vornehmen, mit Freiheitsstrafen und Geldstrafen zu belegen, gläubige Juden und Muslime zu Rechtsbrechern und Straftätern zu erklären. Nein, es ist eben nicht Aufgabe des Strafrechts, dass eine Mehrheitsgesellschaft einer Minderheit erklärt, ihr Glaube sei unzureichend oder sogar mittelalterlich. Das Strafrecht ist auch kein Instrument zur religiösen und kulturellen Belehrung und Bekehrung. Im Übrigen ist auch für mich undenkbar, dass wir ausgerechnet in Deutschland als erstem Land weltweit einen elementaren Teil jüdischen Glaubens unter Strafe stellen und jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger mit strafrechtlichen Mitteln nur deshalb verfolgen, weil sie eine Praxis ausüben, die für sie seit Jahrtausenden identitätsstiftend ist. Wir haben aufgrund unserer Geschichte die dauerhafte Verpflichtung, gerade mit jüdischen Belangen in unserem Land besonders sensibel umzugehen. Es wäre eine unentschuldbare Geschichtsvergessenheit, wenn wir diese Sensibilität in Zukunft nicht mehr aufbringen würden. ({3}) Das alles enthebt uns aber nicht der Verpflichtung, Regelungen zu finden, um Kinder vor unnötigen Schmerzen und unsachgemäßen Eingriffen zu schützen. Klar ist deshalb für mich, dass ein Eingriff medizinisch fachgerecht durchgeführt werden muss, dass über Art, Umfang und Folgen des Eingriffs eine medizinische Aufklärung erfolgt, dass unnötige Schmerzen durch eine lokale Betäubung vermieden werden und dass älteren Jungen ein Vetorecht hinsichtlich einer Beschneidung eingeräumt wird. Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist eine gute Diskussionsgrundlage. Lassen Sie uns gemeinsam in den kommenden Tagen darüber beraten, ob und gegebenenfalls wie dieser noch verbessert und präzisiert werden kann. Lassen Sie uns das ruhig, sachlich und vor allen Dingen mit dem gebotenen Respekt tun. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Anfang meines heutigen Redebeitrages steht der Dank an das Bundesministerium der Justiz, an die Ministerin. Der Deutsche Bundestag hat auf Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD in diesem Sommer mit einer sehr großen Mehrheit die Bundesregierung aufgefordert - ich zitiere das auszugsweise -, „unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist“. Dieser Bitte bzw. Aufforderung des Bundestages ist die Bundesregierung vollumfänglich nachgekommen. Von daher bedanke ich mich für diesen wirklich gut ausgearbeiteten, hervorragend abgewogenen Entwurf. Ganz herzlichen Dank! ({0}) Ähnlich wie mein Vorredner habe auch ich sehr großes Verständnis, wenn die Praxis der Beschneidung in Deutschland von vielen als sehr fremd, ja, archaisch wahrgenommen wird. Trotz dieses Gefühls, das viele bei diesem Thema überkommt - das ist festzuhalten -, müssen wir einigen Wahrheiten ins Auge sehen: Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass dies eine seit zumindest 6 000 Jahren geübte Praxis in mehreren Teilen der Welt ist, dass 30 Prozent der männlichen Weltbevölkerung beschnitten sind, dass die Beschneidung der Jahr für Jahr weltweit am häufigsten vorgenommene chirurgische Eingriff ist, dass es kein Land auf der Welt gibt, in dem die Beschneidung von Jungen grundsätzlich verboten ist, und dass es zwei große Weltreligionen gibt - Moslems und Juden -, die die Beschneidung als ein wichtiges, zum Teil sogar als ein die Mitgliedschaft begründendes Ritual ansehen. Die Angehörigen dieser Religionen leben auch in unserem Land, und sie gehören zu uns. Ich will allerdings auch Folgendes sagen: Ich nehme gerne all die Kolleginnen und Kollegen, die sich bisher nicht zu einer Unterstützung dieses Gesetzentwurfs haben durchringen können, vor dem Vorwurf in Schutz, dass sie vorhätten, das Leben von Moslems und Juden in Deutschland unmöglich zu machen. Ich glaube, das ist das Anliegen von niemandem. ({1}) Fakt ist aber auch, dass dieses Leben sehr stark erschwert würde, wenn wir die Beschneidung von Jungen nicht rechtsklar regeln und für zulässig erklären würden. Genau das wollen diejenigen, die diesen Gesetzentwurf unterstützen, nicht. Meine Fraktion will das nicht. Deshalb werbe ich auch heute bei jedem Einzelnen in diesem Haus um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf. ({2}) Ich will auch klarstellen: Dieser Gesetzentwurf ist keine Befürwortung inhaltlicher Art oder gar eine Werbung für die Praxis der Beschneidung. Schon im 19. Jahrhundert gab es in Deutschland, etwa im Reformjudentum, kontroverse Debatten darüber, ob man die Beschneidung durch symbolische Handlungen ersetzen kann. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn diese Diskussion in den Religionsgemeinschaften und auch in der Gesellschaft als solche weiter ernst und offen geführt würde. Aber sie darf eben nicht unter dem Damoklesschwert einer Strafandrohung geführt werden. ({3}) In der Sache geht es bei diesem Gesetzentwurf um eine Grundrechtsabwägung zwischen dem Elternrecht und der Religionsfreiheit der Eltern einerseits und dem Persönlichkeitsrecht, dem Recht auf Unversehrtheit und Religionsfreiheit des Kindes andererseits. In einem Verfassungsstaat kann ein Konflikt zwischen Grundrechten aber nicht durch eine K.-o.-Entscheidung gelöst werden - einer muss dem anderen weichen -, sondern eben nur durch eine Abwägung, wenn man so will, durch eine praktische Konkordanz. Die Religionsfreiheit darf auch aus Sicht des Kindes nicht primär als eine Freiheit von Religion verstanden werden, sondern eben auch als eine Freiheit zur Religion. ({4}) Natürlich ist auch und gerade bei der Frage der Knabenbeschneidung das Kindeswohl der entscheidende Maßstab. Dieses Kindeswohl kann aber nicht isoliert von der Vorstellung der Eltern definiert werden. Art. 6 Abs. 2 unseres Grundgesetzes legt sehr klar offen - ich zitiere -: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Ich glaube, diese Lektüre rückt die Perspektive auch für die Politik zurecht. Hier geht es um ein natürliches Recht. Das heißt, dass der Staat die Kinder nicht den Eltern anvertraut bzw. sie ihnen zeitweise zur Erziehung überantwortet, um sie nach seinen, nach staatlichen Maßstäben zu erziehen. Kinder gehören vielmehr von Natur aus zu ihren Eltern. Die Eltern wiederum haben eine korrespondierende Pflicht zu Pflege und Erziehung. Daher ist es für mich gar nicht anders vorstellbar, als dass die Eltern im Rahmen ihrer primären Erziehungsverantwortung einen Vertrauensvorschuss genießen, solange die Grenzen der Kindeswohlgefährdung nicht erreicht sind. Natürlich gibt es klare Grenzen für die elterliche Sorge. Es gibt wichtige Beispiele im Familienrecht. Entscheidungen beispielsweise, die die ganze Lebensführung eines Kindes unwiderruflich determinieren, können natürlich nicht getroffen werden. Ein ganz extremes Beispiel ist § 1631 c, das Verbot der Sterilisation. Aber eine Sterilisation beispielsweise ist in keiner Weise vergleichbar mit einer Beschneidung; denn eine Beschneidung bedeutet ebenso wenig wie die christliche Taufe eine lebenslange Festlegung auf eine Religion oder auf eine soziale Gruppe. Zudem gibt es im Strafrecht die Grenzen der Sittenwidrigkeit bei der Einwilligung. Auch diese Grenze wird hier nicht erreicht; denn die Beschneidung, die seit Jahrtausenden in verschiedenen Religionen gängige Praxis ist und in nahezu allen Staaten anerkannt ist, kann man in Deutschland kaum mit dem Verdikt der Sittenwidrigkeit versehen. Wichtig ist ebenfalls, dass die Regelung im Familienrecht und nicht im Strafrecht verankert werden soll. Es geht eben um mehr als um den bloßen Ausschluss von Strafbarkeit. Während im Strafrecht nur verbotenes Tun definiert wird, umschreibt das Familienrecht positiv die Reichweite der elterlichen Sorge. Hierhin gehört die Regelung auch. In allen Punkten des Regelungsinhalts ist klar ersichtlich, dass exakte Grenzen gesetzt werden. Die Beschneidung wird aus der elterlichen Sorge heraus legitimiert. Aber sie ist an sehr klare Voraussetzungen geknüpft, nämlich zuerst an eine fachgerechte Durchführung nach den Regeln der ärztlichen Kunst, wie es im Gesetzentwurf heißt. Diese ärztliche Kunst beinhaltet eine Aufklärung der Eltern über den Eingriff und seine Risiken, eine effektive Schmerzbehandlung, eine schonende Durchführung und eine dem Einzelfall angemessene Betäubung. Die Eltern dürfen selbstverständlich nur für Kinder entscheiden, die selbst noch nicht einsichts- und urteilsfähig sind. Kann ein Junge seinen Willen bereits selbst bilden, entscheidet er. Auch unterhalb der Schwelle einer wirklichen Urteilsfähigkeit im Rechtssinne muss ein irgendwie zum Ausdruck gebrachter entgegenstehender Wille des Kindes ernst genommen werden. Der Eingriff muss in der Regel durch einen Arzt und darf nur ausnahmsweise von fachkundigen Personen ohne Medizinstudium, die eine besondere fachliche Ausbildung, eine dem Arzt vergleichbare Befähigung haben, unter strengen Bedingungen vorgenommen werden. Das alles geht aus dem Gesetzestext und der Begründung klar hervor. Wenn man den Gesetzestext und die Begründung aufmerksam liest, dann wird einem klar, dass sich die Kernforderungen aller bisher vorliegenden Änderungsanträge hier in wesentlichen Punkten widerspiegeln. Damit können meines Erachtens manche Befürchtungen und Bedenken zumindest im Kern als erledigt angesehen werden. Wichtig ist, dass der Gesetzentwurf keine Beschränkung der Beschneidung auf religiöse Gründe vorsieht. Auch andere Gründe sind achtenswert. Ich möchte nicht, dass unser Staat in die Lage kommt, eine Art Glaubenskontrolle bei diesem Eingriff vornehmen zu müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi ({5}) Lassen Sie mich einen letzten wichtigen Aspekt nennen, der für uns hier im Haus selbstverständlich ist, der aber nach außen, in die Öffentlichkeit, noch einmal klar kommuniziert werden sollte. Dieser Gesetzentwurf enthält auch eine klare Abgrenzung von der barbarischen Praxis der Genitalverstümmelung bei Mädchen. Viele Mädchen sterben dabei oder werden lebensgefährlich verletzt. Dieser barbarische Eingriff bei Mädchen ist eben nicht Ausdruck der Aufnahme in eine religiöse Gemeinschaft, sondern Ausdruck einer Erniedrigung von Frauen. Deshalb lehnen wir ihn hier im Deutschen Bundestag strikt ab. ({6}) Die Genitalverstümmelung ist und bleibt deshalb in Deutschland eine schwere Straftat. Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir über die Grenzen Deutschlands hinaus noch viel konsequenter dagegen vorgehen müssen. ({7}) Dieser Eingriff ist mit der Beschneidung von Jungen in keiner Weise vergleichbar. Vor uns liegt ein ausgewogener Gesetzentwurf, der die Beschneidung von Jungen unter klaren und strengen Voraussetzungen zulässt. Bei einer Praxis, die weltweit akzeptiert ist, muss man schon sehr gute Gründe haben, um sie ausgerechnet in Deutschland von der elterlichen Sorge auszunehmen und im Ergebnis unter Strafe zu stellen. Ich sehe solche guten Gründe nicht und werbe sehr für die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Raju Sharma hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt, wie bei vielen Fraktionen hier, auch in unserer Fraktion unterschiedliche Auffassungen zum Thema Beschneidung. In einer Sache sind wir uns einig - ich habe die Debattenbeiträge so verstanden, dass das eigentlich für das ganze Haus gilt -, nämlich darin, dass wir das jüdische und muslimische Leben in Deutschland schätzen und achten. Wir betrachten es als eine kulturelle Bereicherung unserer Gesellschaft. Daran führt kein Weg vorbei. ({0}) Ich kann hinzufügen, dass ich kein Jude, kein Moslem und auch kein Christ bin; aber ich bin dankbar für jeden Menschen in Deutschland, der den Menschen nicht als Mittelpunkt des Universums betrachtet. Gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden in Schleswig-Holstein habe ich dafür gekämpft, dass die Synagogen in Kiel, Flensburg und Lübeck vor Übergriffen von Rechtsextremen bzw. Nazis geschützt und gesichert werden. Ich habe in Schleswig-Holstein zwischen den Moscheevereinen und den Anwohnern vermitteln dürfen, als es darum ging, wie laut der Muezzin zum Gebet rufen darf. Ich durfte an den Freitagsgebeten in den Moscheen teilnehmen. An hohen jüdischen Festen durfte ich teilnehmen und habe die Gastfreundschaft in Synagogen genossen. Die Gastfreundschaft meiner Gastgeber ging so weit, dass sie Wert darauf gelegt haben, dass ich nicht nur koscheres, sondern auch vegetarisches Essen bekam. Ich weiß um die Toleranz und die Gastfreundlichkeit von Juden und Muslimen, und ich weiß sie sehr zu schätzen. Als in diesem Sommer das Kölner Urteil kam, haben mich meine Freunde gefragt: Willst nicht auch du eine Solidaritätsadresse abgeben bzw. eine Erklärung, damit wir uns gegen dieses Urteil verwahren können? Ich bin in mich gegangen, habe das Urteil studiert und mich mit Ärzten - Kinderärzten, Chirurgen, Anästhesisten und Urologen - beraten. Danach musste ich schweren Herzens sagen: Nein, ich kann euch da leider nicht unterstützen, weil ich finde, dass das Urteil abgewogen, nachvollziehbar und in der Sache richtig ist. ({1}) Der Staat hat nicht die Aufgabe, die Religionsausübung zu gestalten und Vorgaben zu machen. Er hat aber die Aufgabe, Interessen abzuwägen und einen Rahmen vorzugeben, in dem sich alle in dieser Gesellschaft bewegen müssen. Wenn wir anfangen, Sonderrechte für diese oder für jene Religionsgemeinschaft zu schaffen, sind wir auf einer schiefen Bahn. Dann gibt es auch keine Unteilbarkeit von Menschenrechten bzw. von allen Rechten. Das aber ist genau das, was wir brauchen. Religionsfreiheit ist wie jede Freiheit in einem demokratischen Staat nie grenzenlos. Sie findet ihre Schranken dort, wo die Rechte bzw. die schutzwürdigen Interessen anderer beeinträchtigt werden. Genau das ist hier der Fall. Das Landgericht Köln hat dies auch richtig festgestellt. Wir hätten eine ruhige, ausgewogene und sachliche Debatte gebraucht mit einer Offenheit, wie sie zum Beispiel der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, an den Tag gelegt hat, als er sehr offen, ohne die Position seiner Religionsgemeinschaft aufzugeben, gesagt hat: Wir haben so vieles über Bord geworfen, was in der Thora steht. Wir können und müssen auch über diese Frage reden. - Vor allem die Religionsgemeinschaften müssen darüber reden; aber auch der Staat muss seiner Aufgabe gerecht werden. Was hat der Staat gemacht? Ich hätte von der Bundeskanzlerin, die ansonsten nicht für Hyperaktivität bekannt ist, erwartet, dass sie hier mit ruhiger Hand versucht, zu mäßigen, auszugleichen und die unterschiedlichen Interessen darzulegen. Das hat sie nicht getan. Frau Merkel hat hier davor gewarnt, dass wir zu einer Komikernation werden. Dazu sage ich: Die Komikernation Deutschland hat vor 20 Jahren auch die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Die Ratifizierungsurkunde zu dieser Kinderrechtskonvention trägt die Unterschrift unserer Bundeskanzlerin. Da frage ich mich natürlich auch - ich hätte gerne Frau Merkel gefragt, wenn sie denn hier gewesen wäre -, was ihre Unterschrift eigentlich wert ist. Hat das alles keine Bedeutung? ({2}) Die UN-Kinderrechtskonvention wird wie viele Gesetze, die wir hier im Bundestag beschlossen haben - allerdings nicht mehr einstimmig; oft war die CDU/ CSU dagegen -, von dem Gedanken getragen, dass die Kinder nicht nur reine Erziehungsobjekte ihrer Eltern, sondern Träger eigener Rechte und zu schützen sind. Ich möchte es mit den Worten des libanesischen Dichters und Philosophen Khalil Gibran sagen: Unsere Kinder gehören uns nicht. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Diesen Gedanken haben wir mittlerweile in vielen Rechtsordnungen verankert, auch im BGB. Die Kinderrechte wurden im Laufe der Jahre gestärkt. Ich hätte mir gewünscht, die Bundesregierung wäre bei ihrem Gesetzentwurf nach ruhiger Abwägung zu der Auffassung gekommen, dass wir auch die Kinderrechte schützen müssen. Das hat sie aber nicht gemacht. Sie haben die Regelung zwar richtigerweise im Recht der Personensorge verankert - dort muss es geregelt werden -, aber überhastet und leichtfertig. Sie haben nicht ein Recht geschaffen, mit dem wir alle leben können und mit dem auch Kinderrechte geschützt werden. Sie haben übrigens auch nicht die Betroffenen gehört. Es wäre das Mindeste gewesen, diejenigen, die heute unter den Folgen einer Beschneidung leiden, in die sie als KinRaju Sharma der nicht einwilligen konnten oder durften, anzuhören. Das haben Sie nicht zugelassen. Uns liegt ein alternativer Gesetzentwurf vor. Ich danke den Verantwortlichen aus der Kinderschutzkommission und den kinderschutzpolitischen Sprecherinnen der Grünen, der Linken und der SPD, dass sie diesen Gesetzentwurf eingebracht haben. Er ermöglicht es uns, nicht nur Nein zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zu sagen; er bietet auch eine Alternative, zu der wir Ja sagen können, weil hier sorgfältig abgewogen wird: die Religionsfreiheit auf der einen Seite und die Kinderrechte auf der anderen Seite. In diesem Gesetzentwurf steht: Es ist keine Beschneidung zulässig bei einem Kind unter 14 Jahren. Der Betroffene muss selbst einwilligen. Die Beschneidung muss von einem Facharzt oder einer Fachärztin vorgenommen werden, und das Kindeswohl muss betrachtet werden. - Diese Abwägung brauchen wir, wenn wir zu einem sachgerechten Gesetzentwurf kommen wollen. Ich bin dankbar, dass es diesen Gesetzentwurf gibt, und werbe nachhaltig dafür, dass wir uns diesem Gesetzentwurf anschließen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jerzy Montag hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wollt ihr uns Juden noch?“ Mit diesem verzweifelten Zwischenruf hat die Grande Dame des deutschen Judentums, Charlotte Knobloch, auf die Beschneidungsdebatte in Deutschland reagiert. Ihre bitteren Worte zeigen, wie tief und essenziell diese Debatte und manchmal auch der in der Öffentlichkeit angeschlagene Tonfall die religiösen Minderheiten der Juden und der Muslime bewegen. Wir Abgeordnete sind diejenigen, die den Menschen mit Grenzen vorschreiben, was richtig und was falsch ist, was sie dürfen und was nicht. Wir entscheiden, was erlaubt ist und was verboten ist in Deutschland. Deshalb müssen wir uns der Konsequenzen bewusst sein, die aus unserem Handeln, aus unseren Entscheidungen erwachsen. An die Kolleginnen Marlene Rupprecht und Katja Dörner sowie die Unterstützer ihres Gesetzentwurfs gerichtet, sage ich: Sie wollen festlegen, dass eine Einwilligung von Eltern zur Beschneidung ihres Sohnes vor dem 14. Lebensjahr die den Eltern zustehende Personensorge nicht umfasst. Dies macht - Sie müssen sich dieser Konsequenz bewusst sein - alle diese Beschneidungen zu Körperverletzungen, die verfolgt und bestraft werden. Dies macht alle diese Eltern und auch die Ärzte und Beschneider zu Straftätern. Egal, wie man zur Beschneidung steht - mir ist sie auch fremd; auch ich lehne sie ab -: Ich will über die betroffenen Eltern kein sozialethisches Unwerturteil fällen. ({0}) Ich will weder gegen die Eltern noch gegen die Ärzte mit dem Mittel des Strafrechts vorgehen. Nach Deutschland sind über Jahrzehnte hinweg Muslime eingewandert. Nach langen Jahren des Gastarbeiterstatus sehen wir alle die Notwendigkeit der Integration dieser circa 4 Millionen Menschen in unsere Gesellschaft. Ich habe in dieser Integrationsdebatte von der CSU bis zu den Linken noch nie von jemandem die Aussage vernommen: Ihr seid in Deutschland willkommen, ihr könnt und sollt in Deutschland leben, wir wollen euch als einen Teil von uns; aber ihr müsst euren Ritus der Beschneidung ablegen. Wenn ihr das nicht tut, wird der Staat euch deswegen verfolgen. Erinnern wir uns an die Worte, die wir bei jeder passenden Gelegenheit an Jüdinnen und Juden in Deutschland richten. Es ist ein Geschenk, für das wir uns zu bedanken haben, dass Juden wieder in Deutschland leben wollen. Neue Synagogen werden eingeweiht, Rabbiner werden in Deutschland wieder ausgebildet, jüdische Kindergärten und Schulen entstehen, und jedes Mal erklären wir ihnen: Ihr seid willkommen. - Jetzt plötzlich soll es heißen: Schön, dass ihr da seid. Schön, dass ihr Kinder habt. Aber Hände weg von euren Söhnen! ({1}) Sonst schicken wir euch die Kripo, die Staatsanwaltschaft und das Jugendamt ins Haus. - Das will ich nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Keine muslimische Mutter, kein muslimischer Vater - für die Juden gilt das genauso - will die eigenen Söhne beschneiden lassen, weil ihnen dies Schmerzen zufügt. Weder ist ihnen das Wohl ihrer Kinder egal, noch wollen sie entgegen dem Wohl der Kinder handeln. Ganz im Gegenteil: In ihrer Vorstellung, die wir nicht teilen müssen, wollen sie das Beste für ihre Söhne. Das hat die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland jahrzehntelang akzeptiert. Jetzt plötzlich soll, jedenfalls nach dem Gesetzentwurf der Kolleginnen und Kollegen, das Gegenteil richtig sein. Ich sage noch einmal in vollem Ernst: Die Verfolgung, die Bestrafung, das Jugendamt im Hause, das alles erwächst als Konsequenz aus dem Gesetzentwurf, der die Beschneidung männlicher Kinder als eine Kindeswohlverletzung durch die eigenen Eltern zu einer Straftat werden lässt. Ich persönlich unterstütze den Gesetzentwurf der Bundesregierung, den ich für richtig halte und zu dem ich lediglich zwei für mich wirklich wichtige Änderungsvorschläge habe. Mir ist es zu wenig, Herr Kollege Krings, dass in der Begründung steht, dass der kindliche Wille von den Eltern zu bedenken, aber nicht immer zu befolgen ist. Ich möchte gerne, dass das kindliche Veto ein Ausschlussgrund für eine Beschneidung des Kindes ist. Ich möchte auch gerne, dass die Ausnahmevor25448 schrift, die wir für Nichtärzte installieren, auf das wirklich notwendige Mindestmaß, nämlich auf 14 Tage und nicht auf sechs Monate, verkürzt wird. Ich hoffe, dass wir in den Debatten, die wir in den nächsten Tagen führen werden, zu einer guten Lösung kommen werden. Ich danke Ihnen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Stephan Thomae hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Deutschland ist ein tolerantes Land. Von Zeit zu Zeit muss diese Toleranz Bewährungsproben bestehen. Das heutige Thema ist eine solche Prüfung, weil hier Grundrechte miteinander konkurrieren. Deshalb verdient diese Debatte Ernst, Sachlichkeit und Respekt vor anderen Meinungen als der eigenen. Bei Grundrechtskollisionen müssen immer Grundrechte untereinander zum Ausgleich, in eine praktische Konkordanz gebracht werden. Das eine Grundrecht muss oft ein wenig zurücktreten, damit das andere noch wirken kann. Heute geht es um das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes aus Art. 2 Grundgesetz, um das Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Grundgesetz und um das Recht der Eltern und des Kindes auf freie Religionsausübung aus Art. 4 Grundgesetz. Aus vielen Zuschriften, die uns alle in den letzten Wochen und Monaten erreicht haben, spricht echte Sorge um das Kindeswohl. Aus manchen spricht aber auch eine Religionsfeindlichkeit, die sich manchmal hinter einer vorgetäuschten Sorge um Kinder und einer vorgetäuschten Aufgeklärtheit nur verbirgt. ({0}) Gewiss, für denjenigen, der für sich selbst vom Grundrecht auf Religionsfreiheit keinen Gebrauch macht, weil er nicht religiös ist, hat dieses Recht verständlicherweise keinen hohen Rang. Er kann die Bedeutung, die dieses Grundrecht für andere Menschen hat, nur schwer nachvollziehen. Objektiv hat dieses Recht aber für viele Menschen eine hohe Bedeutung. In vielen Zuschriften sind wir aufgefordert worden, den demokratischen Mehrheitswillen der Bevölkerung nicht zu missachten und das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit über das Recht auf freie Religionsausübung zu stellen. In dieser Logik stecken zwei Punkte, denen ich nicht zu folgen vermag: Erster Punkt. Es geht diesmal nicht um demokratische Mehrheitsentscheidungen; denn das Recht auf freie Religionsausübung schützt gerade auch Minderheiten. ({1}) Insbesondere ist das Grundrecht auf freie Religionsausübung kein Grundrecht zweiter Klasse; denn - damit komme ich zum zweiten Punkt - unser Grundgesetz kennt keine Rangfolge von Grundrechten. Die Grundrechtsdogmatik verlangt von uns, kollidierende Grundrechte in einen solchen Ausgleich zu bringen, dass jedes Recht seine Wirkung behalten und entfalten kann. Es geht bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht darum, etwas bisher Verbotenes künftig zu erlauben, sondern es geht darum, etwas Sozialadäquates und in der Vergangenheit von unserer Rechtsordnung bisher immer Akzeptiertes gesetzlich zu untermauern. Zugleich behält der Regierungsentwurf das Kindeswohl im Auge, weil - erstmals - ausdrücklich verlangt wird, dass der Eingriff nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu erfolgen hat - wozu eine Schmerzbehandlung, eine Aufklärung und anderes gehören - und dass der Eingriff ab einem gewissen Alter nur noch von einem Arzt vorgenommen werden darf. Derartiges gab es bislang nicht. Damit gelingt es dem Regierungsentwurf, die kollidierenden Grundrechte in einen bestmöglichen Ausgleich zu bringen. In vielen der Zuschriften, die wir erhalten haben, ist versucht worden, die Beschneidung zu ironisieren oder sie rhetorisch ad absurdum zu führen, indem sie mit eindeutig nicht mehr sozialadäquaten Praktiken wie etwa der Genitalverstümmelung von Mädchen in eins gesetzt wurde. Es geht bei der Beschneidung aber nicht um ganz und gar abstruse oder menschenverachtende Praktiken, die einen Menschen erniedrigen oder bestrafen sollen oder bei denen ihm ein Leid oder ein Schaden zugefügt werden soll, sondern es geht um kulturelle und religiöse Riten, mit denen Kinder Mitglieder einer anerkannten Glaubensgemeinschaft werden. Das ist ein Unterschied. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend unmittelbar ein Wort an Menschen jüdischen und moslemischen Glaubens in Deutschland richten: Viele von Ihnen haben auf die öffentliche Diskussion in unserem Land mit Unverständnis und nachvollziehbarer Empfindlichkeit reagiert. Ich kann nachvollziehen, was Sie in dieser Diskussion bewegt haben muss. Einige von Ihnen haben an uns die Frage gerichtet: Will man uns überhaupt noch in Deutschland? Ich möchte Ihnen stellvertretend antworten: Ja; Sie sind in Deutschland nicht nur geduldet, Sie sind in Deutschland erwünscht. ({2}) Dafür ist der Regierungsentwurf ein Beleg, und er ist eine gute Beratungsgrundlage. Ich freue mich auf die Beratung dieses Entwurfes. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Marlene Rupprecht hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr verehrte Gäste, die Sie heute von der Tribüne aus hören, worüber wir debattieren! Ich kann Ihnen eines versichern: Auch die, die den Alternativentwurf eingebracht haben, haben ihn mit großer Ernsthaftigkeit erstellt. Vorne auf dem Entwurf stehen die Namen derjenigen aus drei Fraktionen, die seit Jahren für die Belange von Kindern zuständig sind. Wir haben es uns nicht leicht gemacht, sondern haben abgewogen. Wir haben die Kinderrechte und das Kindeswohl in den Mittelpunkt gestellt; ({0}) denn jedes Kind hat ein Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Das war uns wichtig. Darauf zu achten, dass Kinder ihre Rechte bekommen, ist die vornehme Pflicht und die große Verantwortung der Eltern. Diese Verantwortung will ihnen niemand hier in diesem Hause - das unterstelle ich gar nicht - nehmen. Es heißt dann weiter: „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Das ist Art. 6 des Grundgesetzes. Sie wissen, dass ich das Grundgesetz immer bei mir habe, weil ich nicht alle Artikel auswendig kenne. Diesen kenne ich aber; den habe ich mit der Muttermilch aufgesogen. Das gilt genauso für die UN-Kinderrechtskonvention. Eltern haben das Recht, ihre Kinder zu erziehen, auch religiös. Goethe sagte einmal: Eltern müssen ihren Kindern Wurzeln und Flügel mitgeben, damit sie leben können. - „Wurzeln mitgeben“ heißt, sie kulturell und religiös oder auch nicht religiös zu verankern, jedenfalls mit Werten auszustatten. Dieses Recht der Eltern endet aber dann, wenn es mit dem Grundrecht des Kindes auf Unversehrtheit kollidiert. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lösekrug-Möller zulassen?

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Liebe Kollegin Rupprecht, ich weiß, Sie sind Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, und hier ist mehrfach angesprochen worden, dass wir uns zu Recht sehr sorgfältig auf eine Gesetzgebung vorbereiten. Ich denke, dass Sie das Thema Kinderschutz auch im Europarat vertreten. Deshalb möchte ich einfach wissen - das ist wichtig für unsere Beratung -, wie es in anderen europäischen Staaten aussieht. Wird dort eine ähnliche Auseinandersetzung geführt wie hier, und gibt es dort Lösungsvorschläge, die möglicherweise denen entsprechen, die wir hier im Hause haben? Das könnte ja in der gemeinsamen Beratung helfen.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Ja, dort gibt es ähnliche Diskussionen. Im April dieses Jahres bin ich von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats einstimmig als Generalberichterstatterin für die Belange von Kindern eingesetzt worden. Ich habe den Auftrag, auf die Kinderrechte hinzuweisen und darauf hinzuarbeiten, dass sie in den 47 Mitgliedstaaten gewahrt und umgesetzt werden. Am Montag hatten wir eine Sitzung des Sozialausschusses. Dort ging es um einen großen Bericht über körperliche Unversehrtheit, für den ich als Berichterstatterin benannt wurde. Die Beschneidung ist dabei ein Thema, aber es geht noch viel weiter. Dort geht es auch um Intersexualität, Schönheitsoperationen und um die Frage, was Eltern an ihren Kindern vornehmen lassen dürfen. Das ist europa- und weltweit ein Thema, und zwar nicht erst seit dem Urteil in Deutschland. Dieses Urteil hat das Thema vielleicht nur noch mehr an die Öffentlichkeit gespült. Viele Organisationen beschäftigen sich schon seit Jahren damit - übrigens auch in Deutschland. Die Kinderärzte haben schon vor Jahren Stellungnahmen darüber verlangt, wie sie mit der Thematik umgehen sollen, und sie von Strafrechtlern und Verfassungsrechtlern auch bekommen. Ich denke, das ist kein neues Thema. Es kam nicht erst durch das Urteil auf, sondern wurde dadurch nur mehr an die Oberfläche gespült. Das vielleicht noch zur Ergänzung: Für uns im Parlament ist das Thema neu. Es hätte uns gut angestanden, uns viel Zeit zu lassen, um zu lernen und mit all den Gruppen zu reden, die es betrifft, ({0}) weil Veränderungen wehtun. Sie sind schmerzhaft, und man muss sich auf den Weg machen. Dazu braucht man Zeit. Ich hätte mir gewünscht, dass wir hier so souverän sind, uns diese Zeit zuzugestehen. ({1}) Unser Gesetzentwurf, den wir als Alternative vorlegen, stellt klar, dass die Einwilligungs- und Einsichtsfä25450 Marlene Rupprecht ({2}) higkeit des Kindes Voraussetzung für einen solch massiven und vor allem irreversiblen Eingriff in den Körper des Kindes ohne medizinische Notwendigkeit sein muss. Da aber der Gesetzgeber nicht jedes Kind individuell darauf prüfen kann, ab wann es einwilligungs- und einsichtsfähig ist, generalisiert er und setzt Altersgrenzen fest. Die Altersgrenze von 14 Jahren spielt ja auch schon bei der Religionsmündigkeit, der Teilgeschäftsfähigkeit usw. eine Rolle. Wir gehen davon aus, dass man mit 14 Jahren schon sehr genau weiß, ob man in seinen Körper eingreifen lassen will oder nicht. Deshalb haben wir das Alter von 14 Jahren festgelegt. Die Beschneidung des männlichen Kindes hat weitreichende Folgen. Deshalb darf der Eingriff nur nach heutigem medizinischem Standard erfolgen. So ist unser Gesetzentwurf ausgelegt. Das heißt, er darf nur von Medizinern durchgeführt werden, die in der Kinderchirurgie oder Urologie ausgebildet sind. Wie kommen wir zu dieser Auffassung? Ich glaube, hier unterscheiden wir uns gravierend. Die Regierung geht in ihrem Entwurf davon aus, dass dies ein minimaler Eingriff in den Körper des Kindes ist und dass deshalb die Eltern aufgrund ihrer elterlichen Sorge darüber entscheiden dürfen. Wir sagen: Es ist ein sehr massiver Eingriff. Auch er unterliegt der Sorge. Wir wollen dies den Eltern nicht nehmen. Aber er ist so gravierend, dass er weitreichende, in ein Erwachsenenleben hineinreichende Folgen hat. Deshalb muss das Kind mit einbezogen werden. ({3}) Wir haben aus 30 Jahren medizinischer Entwicklung Erfahrungen gesammelt. Denken Sie einmal zurück: 1987 hat man neugeborene Kinder ohne Narkose operiert, weil man glaubte, sie hätten kein Schmerzempfinden. Das sind Erkenntnisse, die wir doch nicht ignorieren dürfen, wenn wir hier Entscheidungen treffen. Wir wissen heute, dass sich Schmerzen im Gehirn niederlegen, dass sie ein Leben lang dort verankert sind. Das wollen wir nicht außer Acht lassen. Manches muss einfach neu gelernt werden. Im Rechtsbereich ist es ähnlich. Erinnern wir uns einmal daran, dass im Jahr 2000 die gewaltfreie Erziehung im BGB niedergelegt wurde. Hier im Haus ist der Untergang des Abendlandes beschworen worden, als wir dies durchsetzten. 1989 ist die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet worden - wir haben sie ratifiziert, und 2010 sind auch die Vorbehalte zurückgenommen worden -, in der die Rechte der Kinder verankert sind. 1968 hat das Bundesverfassungsgericht festgelegt und eindeutig festgestellt: Kinder sind Grundrechtsträger und damit Rechtssubjekte. Auch das dürfen wir doch nicht ignorieren. ({4}) Ich bedauere es wirklich, dass wir durch den Antrag vom Sommer so massiv unter Zeitdruck geraten sind. Wir haben uns bei der Verankerung der gewaltfreien Erziehung im BGB Zeit gelassen, um mit den Menschen zu reden und sie nicht zu kriminalisieren. Jerzy Montag, wir beide sind in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Wir haben dort Kämpfe für Menschenrechte gefochten, auch für Kinderrechte. Das, was gerade gelaufen ist, war nicht ganz fair. Wir wollen niemanden kriminalisieren, weder Eltern noch Ärzte. ({5}) Wir wollen, dass Eltern die Entscheidung treffen können. Aber wir wollen, dass sie aufgeklärt sind, bevor sie ihr Kind beschneiden lassen, damit sie wissen, welche Folgen dies für ihr Kind hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Montag zulassen?

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Marlene, ich danke dir dafür, dass du darauf aufmerksam machst, dass wir beide in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sind und dass wir dort Schulter an Schulter gegen so manche stehen, die von Menschenrechten wenig verstehen und sie oft mit Füßen treten. Ich habe dir persönlich und auch allen anderen Kolleginnen und Kollegen, die diesen Gesetzentwurf von euch unterschrieben haben, nicht vorgeworfen, dass ihr Leute kriminalisieren wollt, dass ihr die Eltern und die Ärzte kriminalisieren wollt. Ich habe lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass das die logische Konsequenz eures Gesetzes ist. ({0}) Ich habe an euch appelliert, dass ihr euch diese Konsequenz vor Augen haltet.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ihr formuliert kein Strafrecht.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ihr formuliert ausschließlich eine Tatsache. Ihr sagt: Die Eltern dürfen zu einer solchen Beschneidung keine Einwilligung erteilen. Das heißt aber - das ist die logische Folge; das kann gar nicht anders sein -: Wenn euer Vorschlag Gesetz wird, begehen Eltern, die die Beschneidung durchführen lassen, obwohl ihr Kind noch nicht 14 Jahre alt ist, eine Straftat und sehen sich der Strafverfolgung ausgesetzt, im Übrigen auch einer Nachschau durch das Jugendamt im präventiven Bereich. Ich habe lediglich - dazu stehe ich - auf die Konsequenzen und Folgen eures Vorschlags aufmerksam gemacht. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Rupprecht, die Antwort auf diese Zwischenfrage wäre mit dem Ende Ihrer Redezeit verbunden.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Wir wollen nicht, dass Eltern vor den Kadi gestellt werden. Wir alle wären bereit gewesen, ein zweijähriges Moratorium mitzutragen, in dem wir Straffreiheit zusichern. Dann wären alle, die unterschrieben haben, dabei gewesen. Wir werden aber jetzt gezwungen, uns zu entscheiden. Da haben wir abgewogen zwischen dem Leid der Eltern, zwischen Tradition und Religion, die sie vertreten, und dem Recht und dem Leid des Kindes, beschnitten zu werden. Es ist nun einmal ein körperliches Leid, wenn ich die Erkenntnisse der modernen Medizin, Psychologie und Hirnforschung ernst nehme. Deshalb kann ich da nicht mitmachen. Wir leben im Jahrhundert des Kindes. Deshalb brauchen wir die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung, wo eindeutig ablesbar ist, dass Kinder gleichrangig auch mit all den Menschen sind, die nicht nur 5 Pfund, sondern 50 Pfund oder 100 Pfund wiegen. Es kommt nicht aufs Körpergewicht oder Alter an. Auch ein kleines Kind ist ein Mensch mit gleichen Rechten - von Geburt an. Für dieses Recht kämpfen wir, die wir hier unterzeichnet haben. Danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Bundesministerin Kristina Schröder hat das Wort. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die religiöse Beschneidung von Jungen im Judentum und im Islam musste sich nach dem Urteil des Landgerichts Köln in Deutschland erstmals einem breiten öffentlichen Diskurs stellen. Eine weit zurückreichende, historische, kulturelle und religiöse Tradition, die bisher ganz selbstverständlich praktiziert wurde, musste sich die Frage gefallen lassen, ob sie im Widerspruch zu einem fundamentalen Grundrecht steht: dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Umgekehrt musste sich unsere säkulare Gesellschaft die Frage gläubiger Eltern gefallen lassen, welche Bedeutung die ebenfalls grundgesetzlich verbriefte Religionsfreiheit und das Elternrecht haben, wenn die Ausübung eines Jahrtausende alten religiösen Brauchs unter Strafe gestellt wird. Nicht zuletzt steht die Frage im Raum, ob wir es wirklich verantworten wollen, dass gläubige Menschen uns sagen, dass ohne das Recht auf Beschneidung für sie jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich ist. Diesen Konflikt zwischen unterschiedlichen Grundrechten können und wollen wir zum einen juristisch klären, indem wir - das ist der Auftrag heute - einen staatlichen Rahmen schaffen, in dem Beschneidungen von Jungen möglich sind. Damit können wir Rechtsfrieden schaffen. Diesem Auftrag kommen Bundesregierung und Parlament mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nach, und zwar, wie ich denke, in guter und ausgewogener Weise. Das ist aber nur ein Teil der Aufgabe, vor der wir stehen. Der andere Teil ist die gesellschaftspolitische Debatte, eine Debatte, die über die Frage der Beschneidung weit hinausweist. Es geht um eine Verhältnisbestimmung, um das Verhältnis zwischen den Rechten des Kindes und dem Recht der Eltern und ebenso zwischen Religionsfreiheit und anderen grundgesetzlich garantierten Rechten. Mir persönlich - das gebe ich offen zu - ist diese schwierige Abwägung nicht leicht gefallen. Als Kinderund Jugendministerin, aber auch als Mutter eines kleinen Kindes, tue ich mich schwer damit, zu akzeptieren, dass männliche Säuglinge oder kleine Jungen als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Religion einen keinesfalls harmlosen Eingriff über sich ergehen lassen müssen. Umgekehrt möchte ich natürlich wie wir alle, dass Juden und Muslime in Deutschland weiterhin ihren Glauben leben können. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir heute auch für gegenseitiges Verständnis in dieser manchmal sehr emotional geführten Debatte über religiöse Beschneidung werben. Niemand sollte den Befürwortern religiöser Beschneidung unterstellen, das Kindeswohl gering zu schätzen. Umgekehrt sollte niemand das Argument des Kindeswohls abtun als Ausdruck eines religionsfeindlichen Zeitgeistes. Vor allem sollten wir nicht zulassen, dass diese Debatte genutzt wird, um antisemitische und islamfeindliche Ressentiments zu pflegen. Wenn Sie die Debatte hierüber im Internet verfolgt haben - Sie alle haben sicherlich auch Briefe bekommen -, dann ist für Sie offenkundig: Es gab in dieser Debatte glasklaren Antisemitismus, und es gab antimus25452 limische Ressentiments. - Das ist beschämend. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir hier in diesem Haus die Debatte anders geführt haben und anders führen und dass wir uns vollkommen einig sind: Juden und Muslime gehören zu unserem Land. Sie sind Teil unserer Gesellschaft. Wer glaubt, diese Debatte nutzen zu können, um gegen Juden und Muslime zu hetzen, stellt sich damit selbst ins Abseits und wird auf Widerspruch und Widerstand der breiten Mehrheit in unserer Gesellschaft stoßen. ({0}) Wichtig ist mir aber auch: Diejenigen, die wirklich gewichtige Argumente gegen das Recht auf Beschneidung anführen und deren Argumentation nichts, aber auch gar nichts mit Antisemitismus oder mit antimuslimischen Ressentiments zu tun hat, müssen gegen Vorwürfe in Schutz genommen werden. Hinterfragen, Kritik und Diskussion sind demokratische Errungenschaften, und auch religiöse Traditionen dürfen kritisch hinterfragt werden. Es gibt auch viele Juden und Muslime, die die Beschneidung selbst kritisch hinterfragen. Stephan Kramer zum Beispiel, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, hat dazu kürzlich in einem Interview sehr differenziert Stellung bezogen. Er sagte, an die jüdische Gemeinde gerichtet: Wir müssen begründen, wie wir rechtfertigen, dass die körperliche Züchtigung eines Kindes - zu Recht - verboten ist, aber ihm ein Stück von der Vorhaut abzuschneiden soll in Ordnung sein. Auch innerhalb der Religionsgemeinschaften gibt es also ein Bewusstsein dafür, dass Religion offen sein muss für Verständigung und für Veränderung. Verständigung setzt Verständnis voraus. Verständnis haben sollten wir dafür, dass viele jüdische und muslimische Gläubige das Urteil des Landgerichts Köln als existenzielle Bedrohung empfinden. Ich bin dankbar für die Gespräche, die ich unter anderem mit dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden oder auch mit dem Oberrabiner Israels darüber geführt habe. Es war für mich wichtig, nachvollziehen zu können, warum Beschneidung religiös konstitutiv ist und warum erst die Beschneidung Zugehörigkeit verwirklicht. Denn wir sind doch verpflichtet, die Bedeutung und damit das Motiv religiöser Beschneidungen zu verstehen, um uns ein sachgerechtes Urteil bilden zu können. Für Juden besiegelt die rituelle Beschneidung am achten Tag nach der Geburt körperlich sichtbar den Bund mit Gott. Es ist die traditionelle Form, jüdisch zu werden. Deshalb betrachten die meisten Juden es als eine moralische Verpflichtung, ihre Söhne beschneiden zu lassen. Es gehört zu ihrer Vorstellung von einem guten Leben. Für sie verwirklicht sich gerade darin auch das Kindeswohl. Das verdient, auch wenn man anderer Auffassung ist, zumindest Respekt in der Auseinandersetzung. Unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, ist deswegen nicht mehr und nicht weniger, als uns zu verständigen und damit in diesem Konflikt eine Kluft zu überbrücken, die nicht verschwinden wird. Es gehört zu den Merkmalen einer pluralistischen Gesellschaft, dass es weltanschauliche Unterschiede gibt, die sich nicht auflösen lassen. Dazu gehört zweifellos die Frage, ob die religiöse Beschneidung des männlichen Kindes notwendig ist oder nicht. Das ist eine Frage, die wir nicht politisch entscheiden können, sondern die die Religionsgemeinschaften für sich klären müssen. Unsere politische Aufgabe besteht darin, uns darüber zu verständigen, unter welchen Rahmenbedingungen eine säkulare Gesellschaft Beschneidungen dulden kann. Das leistet der vorliegende Gesetzentwurf. Er trägt zur Verständigung bei. Er sagt zum einen klar Ja zu jüdischem und muslimischem Leben in Deutschland. Er sagt zum anderen aber auch: Zum Wohle des Kindes müssen bei einer religiösen Beschneidung bestimmte Bedingungen erfüllt sein; sie wurden eben bereits vorgetragen. Ich halte den Gesetzentwurf der Bundesregierung für ausgewogen und angemessen. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin Christine Buchholz. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche hier für den Teil meiner Fraktion, der im Grundsatz den Gesetzentwurf der Bundesregierung unterstützt. Ich sage „im Grundsatz“, weil ich vor dem Kölner Urteil nicht der Meinung war, dass ein Gesetz zur Regelung der religiös motivierten Beschneidung in Deutschland nötig ist. Aber das Kölner Urteil war ein Schock für die übergroße Mehrheit der Juden und Muslime in Deutschland. Es hat eine Situation geschaffen, in der ein Ritus, der für die Mehrheit der Juden und Muslime zentrale Bedeutung hat, kriminalisiert wird und bereits beschnittene Jungen und Männer als andersartig und nicht zur Gesellschaft dazugehörig stigmatisiert werden. Ich glaube, vor zehn Jahren wäre ein solches Urteil nicht möglich gewesen. Ich kann es mir nicht anders erklären: Es steht im Zusammenhang mit steigendem antimuslimischen Rassismus und einer in diesem Land immer noch weitverbreiteten antisemitischen Haltung. Vor wenigen Wochen haben wir hier den Antisemitismusbericht diskutiert. Daher war es absolut richtig, dass die Regierung die Initiative ergriffen hat, eine Lösung zu suchen, die den Kindern und Eltern hilft, die niemanden an den Pranger stellt und keine weiteren Ressentiments schürt. In der teilweise sehr emotional geführten öffentlichen Debatte wird die Beschneidung mit der Verstümmelung weiblicher Genitalien gleichgesetzt oder in einem AtemChristine Buchholz zug mit Körperverletzung, Gewalt und Misshandlung genannt. Damit wird Vorurteilen Vorschub geleistet. Das ist nicht die Intention vieler Befürworter der Einschränkung des Rechts auf Beschneidung, aber es ist leider die Wirkung. Damit müssen sie sich auseinandersetzen. Ich halte es auch für in der Sache nicht gerechtfertigt; denn auch medizinische Fachmeinungen haben immer einen Bezug zu der Gesellschaft, in der sie entstehen, und sind keine universellen Urteile. Im Gesetzentwurf der familienpolitischen Sprecherinnen der Oppositionsfraktionen selbst wird auf die „weltweit unterschiedlichen Fachmeinungen und -empfehlungen“ in Bezug auf die Beschneidung hingewiesen. Sie könne, so ist zu lesen, durchaus „Ausdruck von im Interesse des Kindes gelebter Elternverantwortung“ sein. Es heißt: Aus der Sicht von deutschen Ärzten ist eine medizinisch nicht notwendige Beschneidung nicht ratsam. Meine Damen und Herren, ich halte es für unzulässig, den Juden und Muslimen in Deutschland die christlich geprägte Sichtweise eines Teils der medizinischen Zunft zum Maßstab zu machen. Das ist nicht mein Verständnis einer lebendigen, toleranten, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Es wurde hier von der Kinderrechtskonvention gesprochen. Ich möchte auf den Art. 14 hinweisen, der die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit beinhaltet und in dem ganz klar formuliert ist, dass Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit auch Teil dieser Konvention sind und dass das Kind bei der Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten ist. Daher denke ich, dass die Beschneidung nicht im Widerspruch zur Kinderrechtskonvention steht. ({0}) Manche setzen das Bekenntnis zur Religionsfreiheit mit Freiheit von Religiosität gleich. Ich als Nichtjuristin möchte den Blick auf die Rolle zweier Juristen richten, die gewissermaßen Stichwortgeber des Kölner Urteils sind, auf den Strafrechtler Holm Putzke, der zufrieden erklärt, mit dem Kölner Urteil sei nun mittel- und langfristig das Ende der religiösen Beschneidung eingeleitet, und auf seinen Doktorvater, Rolf Dietrich Herzberg, der erklärt, schließlich habe man ja auch die Praxis der Kastration im Morgen- wie im Abendland überwunden. Wer die theologische Bedeutung der Beschneidung, die im Judentum das Schließen des Bundes mit Gott ist, mit der historischen Praxis der Kastration gleichsetzt, ist nicht nur ignorant gegenüber den Gläubigen; er haut in die Kerbe des alten christlichen antijüdischen Klischees, das in dem geistigen Bund mit Gott eine Erhebung über die angeblich barbarische Praxis des Judentums sieht. Das dürfen wir nicht zulassen. ({1}) Eine Änderung der Religionspraxis muss von innen, aus den Religionsgemeinschaften selbst, kommen. Es ist doch auffällig, dass es zwar viele Berichte von Einzelnen gibt, die ihre Beschneidung als traumatisch erlebt haben - und keiner in diesem Raum spricht ihnen diese Erfahrung ab -, aber es gibt keine innerjüdische oder innermuslimische Initiative von Betroffenen gegen die Beschneidung. ({2}) Das muss man zur Kenntnis nehmen. Ich möchte in diesem Sinne mit den Worten des Schriftstellers Navid Kermani schließen: Darum müssen Minderheiten in dem Augenblick nervös werden, in dem sie vom Recht nicht mehr gegen die Urteile und Vorurteile der Mehrheit geschützt werden. Das ist jetzt Deutschlands Minarettverbot - allerdings mit viel weitreichenderen praktischen und symbolischen Folgen, falls das Urteil Bestand haben sollte. Deswegen unterstützen ich und einige meiner Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion den Gesetzentwurf der Bundesregierung. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Katja Dörner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Thema „Beschneidung von Jungen“ kann man nur sehr sensibel diskutieren. Bis zu dem vorangegangenen Beitrag wollte ich mich eigentlich dafür bedanken, dass wir heute eine so sensible, respektvolle Diskussion führen. An die Adresse aller anderen Rednerinnen und Redner möchte ich diesen Dank auch weiterhin richten. ({0}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Bundestag hat die Bundesregierung im Juli beauftragt, einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach „unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung“ die Beschneidung von Jungen grundsätzlich zulässig sein soll. Diesem Anspruch wird der Gesetzentwurf aus unserer Sicht nicht gerecht. Er wird dem Anspruch nicht gerecht, weil die Rechte des Jungen, sein Recht auf körperliche Unversehrtheit, unzureichend berücksichtigt werden. ({1}) Das ist der Grund, weshalb ich gemeinsam mit rund 65 Kolleginnen und Kollegen von Grünen, SPD und Linken einen alternativen Gesetzentwurf zur Beratung eingebracht habe. Wir sind der Ansicht, dass die körperliche Unversehrtheit des Kindes, hier die körperliche Unversehrtheit des Jungen, nicht zur Disposition gestellt werden darf - nicht aus religiösen Gründen und auch nicht aus anderen Erwägungen. ({2}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eine Beschneidung ist keine Bagatelle. Sie ist schmerzhaft, gerade auch im Heilungsprozess, und sie ist risikobehaftet. Hierauf weisen insbesondere die deutschen Kinder- und Jugendärzte eindringlich hin. Deren Dachverband unterstützt unseren Gesetzentwurf auch ausdrücklich. Jenseits der Frage der Komplikationen führt die Beschneidung zur Entfernung eines Körperteils, das durchaus wichtige Funktionen hat. Sie kann negative Folgen für die Psyche und auch die Sexualität haben, und sie ist - das versteht sich von selbst - nicht rückgängig zu machen. Das ist, wie ich finde, in diesem Zusammenhang ein ausgesprochen relevanter Punkt. Ein solcher Eingriff darf nicht ohne die Zustimmung des Jungen selbst erfolgen. Der Junge muss das Recht haben, über einen solchen nicht rückgängig zu machenden Eingriff in seinen Körper selbst zu entscheiden. Unser Gesetzentwurf fordert deshalb ein, dass eine Beschneidung nur durchgeführt werden kann, wenn auch der mindestens 14-jährige Junge diesem Eingriff zustimmt. ({3}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist richtig: Damit greifen wir in Elternrechte ein. Das macht der Gesetzentwurf der Bundesregierung übrigens auch, indem er für die Zulässigkeit bestimmte Bedingungen formuliert. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass er auch diejenigen, die eine Beschneidung durchführen, unter Strafe stellt, wenn sie sich nicht an diese Bedingungen halten. ({4}) Wir haben uns in Deutschland nach vielen Jahren Diskussion entschieden, das Recht auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich zu verankern. In Deutschland ist nicht einmal eine kleine Backpfeife erlaubt, und es ist auch absolut richtig so, dass das so ist. Jetzt soll die Einwilligung der Eltern in eine medizinisch nicht notwendige, risikobehaftete Operation, die zudem unwiderbringlich einen Körperteil entfernt, in Ordnung sein. Ich finde, das steht einfach in keinem Verhältnis zueinander. ({5}) Ich will noch einen anderen Aspekt ansprechen, der auch schon thematisiert worden ist und den viele in dieser Debatte nicht so gerne hören. Selbstverständlich ist die Beschneidung von Jungen nicht mit der barbarischen weiblichen Genitalverstümmelung zu vergleichen, die uns in den Kopf kommt, wenn wir an Genitalverstümmelung denken.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Dörner, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck zulassen?

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Selbstverständlich.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegin, ich möchte eine Frage stellen, von der ich weiß, dass sie eher vermieden wird und dass man sich, wenn man sie stellt, auf einem sehr schmalen Grat bewegt. Sie ist wohl deshalb bisher nicht auf die Tagesordnung gesetzt worden, weil sie an sehr schwierige Debatten erinnert, die wir hier geführt haben, bevor es zu einem gesellschaftlichen Kompromiss kam. Ich meine die Erlaubnis bzw. das Verbot bei gleichzeitiger Nichtstrafverfolgung der Abtreibung. Ich habe an den Debatten Ihrer Gruppe nicht teilgenommen, möchte Sie aber bitten, mir zu erklären, ob Sie diese Überlegungen mit einbezogen und eine entsprechende Abwägung vorgenommen haben. Es geht ja immer um die Abwägung von Rechtsgütern. Bei der Straffreistellung der Abtreibung haben wir die Abwägung der Rechtsgüter damals so vorgenommen, dass es erlaubt ist, wenn sich Frauen in entsprechenden Zwiespaltsituationen befinden, dass zugunsten der Frau und zugleich gegen das Leben des heranwachsenden Embryos entschieden wird.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben bei der Vorbereitung des Gruppenantrages sehr wohl auch diese Variante diskutiert. Ich wünsche mir, dass sie beispielsweise bei den Beratungen im Rechtsausschuss und in der Anhörung eine Rolle spielt. Wir sind aber bei der Abwägung zwischen Unversehrtheit des Körpers des Kindes versus Elternrecht bzw. Religionsfreiheit zu dem Ergebnis gekommen, den Gesetzentwurf so vorzulegen, wie wir ihn hier eingebracht haben. ({0}) Ich komme noch einmal zu dem Thema zurück, das ich gerade angesprochen habe, nämlich zur Frage der weiblichen Genitalverstümmelung. Namhafte Verfassungsrechtler, einige NGOs und eben auch Terre des Femmes als eine in diesem Punkt besonders prominente NGO weisen auf Parallelen zu bestimmten Formen der weiblichen Genitalverstümmelung hin. Ich mache mir einfach Sorgen hinsichtlich dieser Fragestellung. Deshalb ist an dieser Stelle aus meiner Sicht eine klare Regelung angesagt, damit wir keine Türen aufmachen, die niemand von uns öffnen möchte. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es uns mit der Abwägung der unterschiedlichen Rechtsgüter nicht leicht gemacht. Selbstverständlich nehme ich die Haltung der jüdischen Gemeinden und der Vertreter und Vertreterinnen der Muslime sehr ernst. Ich habe insgesamt große Bauchschmerzen. Ich hätte mir gewünscht, dass der Deutsche Bundestag an dieser Stelle keine Entscheidung fällen muss. Aber Fakt ist, wir müssen uns zum Gesetzentwurf der Bundesregierung verhalten. Hier ist für mich klar, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht der Jungen vor Tradition und Religion gehen müssen. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Norbert Geis hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beschneidung hat eine in die Jahrtausende zurückgehende Tradition in der Menschheit. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, wie Herr Krings schon gesagt hat, dass weltweit 30 Prozent der Männer beschnitten sind, und sie empfiehlt die Beschneidung im Kampf gegen HIV. Diskussionen über Beschneidung haben in unserem Land keine Rolle gespielt. Sie war eigentlich unbestritten bis zum Urteil von Köln. Durch dieses Urteil von Köln ist tatsächlich eine Unsicherheit entstanden. Deswegen muss durch ein Gesetz diese Unsicherheit beseitigt werden. Die Bundesregierung hat ein Gesetz vorgelegt, das von der Begründung her kaum besser gemacht werden kann. Ich habe noch nie einen Gesetzentwurf gesehen, der auf die verschiedenen Argumentationen so intensiv und so begründet eingegangen ist wie der vorliegende Gesetzentwurf. Dafür ist, denke ich, ein Dankeschön angebracht. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Gesetzentwurf beschränkt sich die Bundesregierung allein auf das Sorgerecht und schaut nicht auf die hinter einer Beschneidung stehende Motivation. Für mich ist allein die Frage entscheidend: Ist die Beschneidung erfasst vom Sorgerecht oder widerspricht sie dem Sorgerecht? Ein richtig verstandenes Sorgerecht, verehrte Frau Rupprecht, bindet natürlich die Rechte des Kindes mit ein. Eine richtig verstandene Wahrnehmung des Sorgerechts nimmt immer Rücksicht auf das Wohl des Kindes. Ansonsten würde eine solche Maßnahme, die das Wohl des Kindes nicht berücksichtigt, dem Kindessorgerecht entschieden widersprechen, das aus der Verfassung kommt und im BGB festgelegt ist. ({1}) Ich glaube aber nicht, dass die Kinderrechte nicht berücksichtigt werden, wenn wir die Beschneidung zulassen, wie Sie es sagen, Frau Rupprecht. Sicherlich liegt eine Zeit hinter uns, in der die Rechte der Kinder nicht so gewahrt worden sind, wie das heute der Fall ist. Aus dem römischen Recht wissen wir, dass das Kind der Gewalt des Vaters unterworfen war. Außerdem stand der Begriff der elterlichen Gewalt bis in unsere Zeit hinein im Gesetzbuch. Es ist also schon ein Kampf notwendig gewesen, an dem auch Sie mitgewirkt haben, liebe Frau Rupprecht, bis die Rechte der Kinder anerkannt worden sind. Inzwischen sind sie aber anerkannt. Wir wissen auch, dass sich diese Rechte auf unser Grundgesetz gründen können. Deswegen glaube ich nicht, dass insoweit noch eine Diskussion erforderlich ist. Die Frage ist nur, ob diese Rechte verletzt werden, wenn sich die Eltern dazu entscheiden, das Kind beschneiden zu lassen. Da gehen die Meinungen auseinander. Sie sagen, diese Rechte würden allein schon deshalb verletzt, weil dem Kind Gewalt angetan werde. Das ist aber so nicht zu sehen. Sie beziehen sich dabei auf § 1631 Abs. 2 BGB, in dem es heißt, dass eine Bestrafung des Kindes nicht mit gewaltsamen Mitteln durchgeführt werden darf. Dies ist aber nicht so bei der Beschneidung. Die Beschneidung ist keine Bestrafung und hat deshalb mit dieser Vorstellung, die Sie erwähnt haben und die auch Frau Dörner erwähnt hat, nichts zu tun. Bei der Beschneidung geht es um etwas ganz anderes.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Geis, möchten Sie die Zwischenfrage von Frau Rupprecht zulassen?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass ich nicht von einer Bestrafung gesprochen habe. Vielmehr habe ich darauf hingewiesen, dass in § 1631 Abs. 2 BGB das Recht auf gewaltfreie Erziehung verankert ist. Damit ist zum Beispiel das Elternrecht beschnitten. Wir können mit den Kindern also nicht alles machen. Ich habe keineswegs Beschneidung als Bestrafung gewertet. Das möchte ich ganz weit von mir weisen. Das habe ich niemals in den Mund genommen. Die Beschneidung sehe ich nicht als Gewaltanwendung an. ({0}) Marlene Rupprecht ({1}) Der einzige Unterschied besteht darin - das möchte ich hier feststellen -, dass wir von einem massiven körperlichen Eingriff ausgehen. Medizinisch kann ich begründen, warum massiv eingegriffen wird. Sie gehen davon aus, dass der Eingriff harmlos ist und daher im Rahmen der elterlichen Sorge durchgeführt werden kann. Wir stimmen dem zu, dass das in den Bereich der elterlichen Sorge fällt. Ein solcher Eingriff ist aber so massiv, dass man den Willen des Kindes sowie die Einsichtsfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit des Kindes beachten muss. Das habe ich hier zum Ausdruck gebracht. Darauf lege ich sehr großen Wert. Es kommt ganz leicht ein falscher Zungenschlag hinein, was ich Ihnen nicht unterstelle. Ich möchte aber, dass das klargestellt ist.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich akzeptiere das. Mit dem, was Sie sagen, bringen Sie aber indirekt zum Ausdruck, dass die Beschneidung ein gegen das Kind gerichteter Akt der Gewalt ist. Wenn Sie das so sehen, dann - ({0}) - Sie haben gesagt, dass sei keine Bestrafung, aber ein Akt der Gewalt. Sonst hätten Sie § 1631 Abs. 2 BGB gar nicht heranziehen können. Lassen wir das aber einmal auf sich beruhen. Ich akzeptiere jedenfalls Ihre Erklärung. Wir können das auf sich beruhen lassen. Liebe Frau Rupprecht, Sie sagten eben noch einmal, es handele sich um einen schwerwiegenden Eingriff. ({1}) Dem widerspricht der Entwurf ganz entschieden. Der Entwurf sagt, dass es sich nicht um einen schwerwiegenden Eingriff handelt. Wir wissen, dass dies in anderen Ländern genauso gesehen wird. Auch viele Mediziner werten dies nicht als einen schwerwiegenden Eingriff. Wenn es ein schwerwiegender Eingriff wäre, was ich verneine, muss man sich aber doch die Frage stellen: Entspricht dieser Eingriff dem Wohl des Kindes? Das ist die ganz entscheidende Frage. Die ganz entscheidende Frage ist, ob das Wohl des Kindes gewahrt ist, wenn sich die Eltern für die Beschneidung entscheiden. Ich glaube, das ist der Fall. Hier kommt man allerdings nicht allein mit dem Sorgerecht aus, sondern muss auch nach dem Motiv der Beschneidung fragen. Deswegen wird ja immer in diese Debatte wieder eingebracht, dass entscheidend ist, aus welchen Motiven heraus die Beschneidung geschieht. Im jüdischen Glauben und auch im muslimischen Glauben geschieht sie aus dem Motiv heraus, dass gerade dadurch das Wohl des Kindes gewahrt bleibt, wenn es in die Religionsgemeinschaft aufgenommen wird. Das ist zumindest im jüdischen Glauben der Fall. Wir wissen aus der Thora und aus dem Buch Genesis, dass es über Abraham einen Bund gibt zwischen Gott und den Menschen. Und da sagt eben Gott: Damit dieser Bund nach außen hin klar sichtbar ist, sollen die Kinder beschnitten werden. Das ist so im Buch Genesis zu finden. Deswegen - das sagt auch der Zentralrat der Juden - ist die Beschneidung konstitutiv für den jüdischen Glauben. Wenn dem jedoch so ist, dann muss man den Eltern das Recht einräumen, eine solche Beschneidung vornehmen zu lassen, und zwar im Interesse des Kindes. Die Eltern wollen ja das Wohl des Kindes. Für sie besteht das Wohl des Kindes eben darin, dass es im richtigen Glauben erzogen wird und diesen Glauben auch lebt. Ähnliches gilt für die Muslime. Auch die Muslime wollen durch die Beschneidung sicherstellen und dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder im muslimischen Glauben erzogen werden. Die Beschneidung geschieht nach der Vorstellung besagter Eltern ganz und gar zum Wohle des Kindes. Das, glaube ich, berücksichtigen Sie zu wenig. Bei den Eltern herrscht ganz klar der Gedanke vor: Ich handele zum Wohl des Kindes, wenn ich es aus religiösen Gründen beschneiden lasse. Diese Denkweise ist den Menschen in einem säkularisierten Staat fremd und tut ihnen weh. Zu den Prinzipien eines säkularisierten Staates gehört es aber vor allen Dingen auch, die Religionsfreiheit zu achten. Die Religionsfreiheit ist wie alle anderen Freiheitsrechte konstitutiv für unser Staatsverständnis. Deswegen ist es auch richtig, dass die Religionsfreiheit hier eine wichtige Rolle spielt; Herr Thomae hat das vorhin sehr schön dargelegt. Art. 6 Grundgesetz regelt das Recht der Eltern auf Sorge für die Kinder sowie die ihnen obliegende Pflicht. In diesen Diskussionszusammenhang gehört aber auch Art. 4 Grundgesetz, das Recht auf Religionsfreiheit. Eine Abwägung dieser Rechte - Recht auf Religionsfreiheit sowie Recht der Eltern auf Sorge für ihre Kinder - führt dazu, dass wir sagen können: Es entspricht unserer Rechtsordnung, wenn wir zulassen, dass Kinder beschnitten werden. Es ist natürlich wichtig, dass die Kinder in einer Weise beschnitten werden, die wir de lege artis nennen. Der Eingriff sollte von Medizinern vorgenommen werden. Gemäß § 1631 d Abs. 2 des Gesetzentwurfs dürfen auch Personen Beschneidungen durchführen - sogenannte Beschneider -, wenn sie dafür besonders ausgebildet sind. Auch diese Personen müssen aber nach den Regeln der ärztlichen Kunst handeln. Diese Bedingung, liebe Frau Dörner, ist nicht so auszulegen, dass wir eine Beschneidung gar nicht zulassen dürften. Es handelt sich nur um eine Bedingung, wie die Beschneidung durchzuführen ist. Eine solche Bedingung darf man durchaus stellen. Wir müssen sie auch stellen, in diesem Fall im Interesse des Wohles des Kindes. Zusammenfassend möchte ich noch einmal sagen: Das „Wohl des Kindes“ kann sich nicht allein auf den Aspekt der körperlichen Unversehrtheit beziehen, sondern darunter ist auch die Erziehung des Kindes zu verstehen und seine religiöse Ausrichtung. Auch das gehört zum Wohl des Kindes. ({2}) Wir dürfen beides nicht trennen, sonst würden wir der Sache nicht gerecht werden. Danke schön. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion hat Wolfgang Thierse das Wort. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es in unserer Debatte - das ist jetzt schon oft gesagt worden - über das Erlaubtbleiben der Beschneidung mit einer Güterabwägung zwischen verschiedenen Grund- und Menschenrechten zu tun: dem Recht des Kindes auf körperliche und seelische Unversehrtheit, dem elterlichen Sorgerecht und der Religionsfreiheit. Letztere ist als Gedanken-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit ein umfassendes Menschenrecht und in einer pluralistischen Gesellschaft besonders anstrengend; wir erleben es gerade. Deswegen will ich mich diesem Aspekt in aller notwendigen Kürze widmen. Jürgen Habermas hat in einer kritischen Kommentierung des Kölner Urteils betont: In der Rolle von demokratischen „Mitgesetzgebern“ gewähren sich alle Staatsbürger gegenseitig den grundrechtlichen Schutz, unter dem sie als Gesellschaftsbürger ihre kulturelle und weltanschauliche Identität wahren und öffentlich zum Ausdruck bringen können … Das universalistische Anliegen der … Aufklärung erfüllt sich erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten. Darum geht es beim heutigen Thema. ({0}) Eine Gemeinschaft kann nicht funktionieren ohne den Respekt vor den Unterschieden. Dieser Respekt ist auch vom Staat zu verlangen. Wollen wir uns daran gewöhnen, dass der Staat darüber entscheidet, was zum Kern der Identität einer Religionsgemeinschaft gehört, gehören darf, und was nicht, ein veralteter Ritus zum Beispiel nicht? Nein, das zu entscheiden, ist Sache der inneren Auseinandersetzung in der Religionsgemeinschaft selbst und in der Zivilgesellschaft. Der weltanschaulich neutrale Staat darf die Änderung traditionaler Einstellungen jedenfalls nicht strafrechtlich erzwingen wollen. ({1}) Schließlich ist der Staat des Grundgesetzes kein Staat einer säkularistischen Weltanschauung. Den lebensgeschichtlich prägenden Einfluss auf die religiöse, die weltanschauliche Entwicklung des Kindes weist unser Grundgesetz ausschließlich den Eltern zu. Das nicht zu berücksichtigen, widerspräche auch und gerade der UN-Kinderrechtskonvention, liebe Marlene Rupprecht. Dort ist nämlich vom untrennbaren Zusammenhang von Kindeswohl und Elternrechten und -pflichten die Rede, ebenso vom Kinderrecht auf auch religiöse Erziehung und auf Zugehörigkeit zu einer kulturellen und religiösen Gemeinschaft. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, kulturelle Eigenarten oder religiöse Motive und Praktiken sind allerdings nicht einfach sakrosankt. Auch sie müssen abgewogen, die Gründe gewichtet, die Schwere des Eingriffs berücksichtigt werden. Ich sage es auch: Die Vorhautbeschneidung bei Jungen ist eben keine Verstümmelung, wie es die Klitorisbeschneidung von Mädchen ist. Der Staat, der Gesetzgeber hat sich bei der Wahrnehmung seiner Schutzpflicht gegenüber dem Schutzrecht des Kindes gerade im Respekt vor der Religionsfreiheit von Kind und Eltern sowohl eines Übermaßes wie auch eines Untermaßes an Regelungen zu enthalten. Das scheint mir durch den von der Regierung vorgelegten Gesetzentwurf gewahrt. Die im Änderungsantrag von Lischka und Lambrecht formulierten Ergänzungen sollten aber ernsthaft erwogen werden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Entscheidung in der Sache wird nicht zuletzt von der Antwort auf die Frage abhängen: Sollen wir uns daran gewöhnen, dass das Kindeswohl, also das Menschenwohl, allein in materiellen Dimensionen bestimmt wird, sodass darüber am Schluss allein Ärzte befinden, und geistige, geistliche und kulturelle Dimensionen ausgeschlossen zu sein haben? - Der Nutzen der Beschneidung müsse messbar und rational begründbar sein, so Holm Putzke, der geistige Vater des Kölner Urteils; deshalb sei sie nicht zu erlauben. „Metaphysische Behauptungen“ seien in der Rechtsordnung nicht zu berücksichtigen, so Rolf Dietrich Herzberg. Heiner Bielefeldt nennt das „inquisitorischen Rationalismus“. ({4}) Wer dem folgt, der reduziert das volle Freiheitsrecht der Religion auf negative Religionsfreiheit und propagiert faktisch Säkularismus als staatlich verordnete Weltanschauung. Bei der Diskussion um Beschneidung geht es eben auch um eine mögliche Beschneidung der Religionsfreiheit ({5}) und - das füge ich hinzu - eben nicht um ein Sonderrecht für Juden und Muslime, wie es ein Professor Merkel behauptet hat. Ein Verbot oder eine radikale Beschränkung der Beschneidung jüdischer und muslimischer Kinder aber würde faktisch bedeuten, dass jüdisches und islamisches Leben in Deutschland auf Dauer legal nicht mehr möglich sein würde. Ich sage ganz deutlich: Das will ich nicht, ({6}) und zwar nicht nur aus historischen Gründen, die gewichtig genug sind, auch nicht, weil Deutschland das erste Land wäre, das diesen Weg ginge, sondern um der Freiheit der jüdischen und muslimischen Bürgerinnen und Bürgern und aller religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse in unserem Land willen. ({7}) Wir waren uns doch gelegentlich einig: Wenn Freiheit auch die der Andersdenkenden ist, so darf diese nicht nur von denen definiert werden, die sich selbst zu den Aufgeklärt-Säkularen zählen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Maria Flachsbarth das Wort. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! In fast allen Reden wurde betont: Es geht uns um das Kindeswohl. Genau um das Wohl ihres Kindes willen entscheiden sich Eltern, die dem jüdischen oder muslimischen Glauben angehören, ihren Sohn beschneiden zu lassen. Wie alle anderen Eltern verfolgen auch diese Eltern in allem, was sie tun, vor allem ein Ziel: Sie möchten das Beste für ihr Kind. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus: Das Elternrecht beruht auf dem Grundgedanken, daß in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution. Diese Tatsache sollten wir bei unserer Debatte nicht aus den Augen verlieren. Wir sollten auch mit der notwendigen Sensibilität darüber diskutieren, was wir Gott sei Dank heute Nachmittag getan haben. Wir sprechen nämlich über einen religiösen Ritus, der für einige Bürgerinnen und Bürger in unserem Land eine zentrale Bedeutung für ihr Leben hat. Auch ich warne vor dem Zungenschlag, den ich in der öffentlichen Debatte - noch einmal ausdrücklich: heute Nachmittag hier nicht - und auch in Zuschriften, die ich bekommen habe, wahrgenommen habe. Es gibt nämlich Stimmen, die ausklammern oder vielleicht sogar bewusst infrage stellen, dass selbstverständlich das Kindeswohl das Motiv ist, das die Eltern dazu veranlasst, ihr Kind beschneiden zu lassen. Ich möchte betonen, dass sich dieses Wohl des Kindes eben nicht nur in seiner körperlichen Unversehrtheit erschöpft. Das Wohl des Kindes zu fördern, heißt, seine ganzheitliche Entwicklung zu fördern. Gerade die religiöse Sozialisation ist ein zentrales Element des Kindeswohls. Eltern, die selbst religiös sind, möchten doch auch ihrem Kind Räume erschließen, in denen es Gott begegnen kann, Räume, in denen es Antworten finden kann auf Fragen, die in seinem Leben unausweichlich sind: Fragen nach dem Sinn, nach Leben, nach Tod und nach Liebe. Sie möchten ihm ethische und religiöse Orientierung geben, ja, eine geistige Heimat geben, und ihr Kind auch dem besonderen Schutz Gottes unterstellen. Das ist die Motivation, die Eltern dabei leitet, auch jene Riten vollziehen zu lassen, die ihre Religion als unverzichtbar für die Annahme und Zugehörigkeit in einer Glaubensgemeinschaft sieht. In meinem Glauben gehört die Taufe dazu, für Menschen jüdischen und muslimischen Glaubens die Beschneidung ihres Sohnes. Eltern lassen ihren Sohn beschneiden, weil sie ihm die Möglichkeit einer religiösen Heimat geben wollen. Ich sage bewusst „Möglichkeit“; denn natürlich gilt das Menschenrecht, seine Religion frei wählen zu dürfen und damit auch zu wechseln oder sich gegebenenfalls völlig von der Religion abzuwenden, auch für Jungen, die im Knabenalter beschnitten wurden. Alle Jugendlichen haben das Recht, sich mit Erreichen der Religionsmündigkeit, also mit 14 Jahren, gegen eine Religion zu entscheiden, die ihre Eltern ihnen im Kindesalter angeboten haben. Ich kenne keine Religion, die die Aufnahme eines Mitglieds ablehnt, weil jemand beschnitten ist. Wir wissen zum Beispiel aus den USA, wo sehr viele Jungen aus Gründen gesundheitlicher Prävention beschnitten sind, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass auch Christen beschnitten sind. Den Vorschlag, die Beschneidung eines Jungen bis zum 14. Lebensjahr zu verbieten, lehne ich ab. Als Christin und auch als Mutter kann ich sehr gut nachvollziehen, dass Eltern ihrem Kind so früh als irgend möglich eine religiöse Heimat, und zwar die volle und nicht eine vorläufige oder möglicherweise symbolische Aufnahme in ihre Religionsgemeinschaft wünschen. Ich respektiere, wenn mir Juden darlegen, dass für sie das Gebot der Thora, ihre Söhne am 8. Lebenstag zu beschneiden, um in den Bund mit Gott und in die Gemeinschaft der Juden aufgenommen zu werden, bindend ist. Genauso respektiere ich, wenn muslimische Familien nach dem Beispiel des Propheten Mohammed die Beschneidung ihres Sohnes vornehmen lassen und feiern möchten. Ich sage deshalb auch: Wir haben als Staat einfach nicht das Recht, diese Glaubensinhalte infrage zu stellen. Das ist eine Frage des Respekts vor der Trennung von Kirche und Staat in unserem Land; das hat der Kollege Thierse eben sehr zutreffend ausgeführt. Doch natürlich legitimiert die religiöse Erziehung keineswegs alles. Ihr sind Grenzen gesetzt, die sich am Maßstab des Kindeswohls orientieren müssen. Deshalb nennt der Gesetzentwurf ausdrücklich die Voraussetzungen, unter denen Eltern in die medizinisch nicht erforderliche Beschneidung ihres Kindes einwilligen dürfen: Sie wird nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt. Das umfasst eine umfassende Aufklärung der ElDr. Maria Flachsbarth tern über die Risiken, die fachliche Qualifikation und eine angemessene Schmerztherapie. Urologen bestätigen uns, dass die Komplikationsrate bei Beschneidungen, egal welcher Indikation, insgesamt bei unter 1 Prozent liegt. Die Kritik an der Ausnahmeregelung für die beauftragten Personen der Religionsgemeinschaften, die in den ersten Monaten nach der Geburt die Beschneidung vornehmen dürfen, teile ich nicht. Gerade Beschneidungen in Israel, wo sie besonders häufig durch Mohalim, also jüdische, durch medizinische und religiöse Ausbildung beauftragte Personen, durchgeführt werden, weisen nach Studien eine besonders geringe Komplikationsrate auf. Eine potenzielle Gefährdung der kindlichen Gesundheit würden wir dagegen zumindest billigend in Kauf nehmen, würde ein Verbot der Beschneidung durchgesetzt. Dann nämlich wären religiöse Familien wirklich gezwungen, die Beschneidung ihrer Söhne unter gegebenenfalls schlechteren Bedingungen in einem anderen Land oder gar in der Illegalität vornehmen zu lassen. Die Beschneidung von Jungen wurde und wird in Deutschland seit Jahrhunderten durchgeführt, in der Bundesrepublik seit Beginn ihrer Geschichte, und sie stand vor dem Kölner Urteil niemals zur Disposition. Es gibt weltweit kein Land, das die Beschneidung nichteinwilligungsfähiger Jungen völlig verbietet. Der Verzicht auf Beschneidung durch jüdische Eltern stand dagegen historisch immer im Zusammenhang mit antisemitischer Repression. Ich finde es abstrus, dass man nun gerade in Deutschland auf den Gedanken kommt, jüdische Söhne vor ihren Müttern und Vätern zu schützen. Es ist ein großes und unverdientes Geschenk für uns, dass sich nach dem Grauen der Schoah wieder jüdisches Leben in all seinen Glaubensrichtungen in Deutschland entfaltet. Mit einer breiten Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf könnten wir einmal mehr beweisen, dass dies nicht nur so dahergesagt ist, sondern es uns mit dieser Aussage ernst ist. Wir freuen uns über lebendige jüdische Gemeinden in Deutschland genauso wie über die muslimischen Gemeinden. Lassen Sie uns dieses Gesetz deshalb nach parlamentarischer Diskussion und Expertenanhörung mit breiter Mehrheit verabschieden, als Zeichen der Verbundenheit, der Toleranz und des Respekts vor den jüdischen und muslimischen Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kerstin Griese für die SPD-Fraktion.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Ende dieser Debatte will ich mich erst einmal dafür bedanken, dass wir diese Debatte in einer sehr ernsthaften und sehr respektvollen Art und Weise geführt haben. Es ist gut, dass wir jetzt nach einigen aufgeheizten Diskussionen in diesem Hause so respektvoll darüber sprechen. Vielen Dank dafür! ({0}) Ich möchte noch einmal auf den Auslöser unserer Debatte zurückkommen, auf das Urteil der kleinen Strafkammer des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012, das interessanterweise zunächst öffentlich gar nicht zur Kenntnis genommen worden ist, sondern erst sechs Wochen später, als die Financial Times Deutschland darüber berichtet hat. Dann setzte eine, glaube ich, beispiellose Entwicklung ein, die viele Juden und Muslime in unserem Land sehr verunsichert hat. Seit über 50 Jahren leben Muslime in Deutschland. Bis zu diesem Urteil hat niemand ihren Ritus, ihre Söhne beschneiden zu lassen, wenn diese im Grundschulalter oder jünger sind, infrage gestellt. Auch das jüdische Ritual, männliche Säuglinge am achten Tag nach der Geburt zu beschneiden, stand bisher nicht zur Disposition. Aber in diesem Sommer war die Empörung groß. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir zuerst einmal unseren jüdischen und muslimischen Bürgerinnen und Bürgern zugehört hätten, dass wir sie gefragt hätten: Warum macht ihr das? Welche Bedeutung hat das für euch? Gibt es vielleicht eine Veränderung, eine Diskussion innerhalb der Religionsgemeinschaften darüber, wie sich diese Praxis ändern, entwickeln kann? ({1}) Wenn man zuerst zuhört, dann kann man anschließend auf Augenhöhe miteinander darüber sprechen, welche Regeln der Staat dafür setzen soll und wie sich die Praxis in Zukunft vielleicht verändern kann. Ich weiß - das habe ich in vielen Gesprächen erfahren -, wie verletzt Juden und Muslime von dieser Debatte sind, in der ihnen - nicht heute hier, wohl aber sehr häufig an anderer Stelle, wie wir alle in den Zeitungen und im Internet lesen konnten - unterstellt wird, sie quälten ihre Kinder und missachteten Kinderrechte. Ich halte eine solche pauschale Herabwürdigung von Menschen für unerträglich. ({2}) Für mich und sicherlich auch für viele andere in diesem Parlament gilt: Juden und Muslime gehören zu Deutschland. Sie leben hier. Sie sind hier willkommen. Sie sind Bestandteil unserer Gesellschaft, und zwar mit ihrer Religion. ({3}) Das gilt für mich nicht nur aufgrund unserer historischen Verantwortung, sondern auch und gerade für die Zukunft einer multireligiösen Gesellschaft. Mir ist besonders wichtig, dass wir die Kinderrechte und die Religionsfreiheit nicht gegeneinander ausspielen; denn sie sind kein Gegensatz. Wir können und wol25460 len beides vereinbaren. Deshalb habe ich besonders darauf geachtet, was der UN-Kinderrechtsausschuss zu diesem Thema gesagt hat. Ich habe mit dem langjährigen deutschen Vertreter im UN-Kinderrechtsausschuss gesprochen. Laut Art. 14 der UN-Kinderrechtskonvention - sie wurde schon zitiert - haben Kinder das Recht, dass Eltern sie bei der Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit leiten, also das Recht auf religiöse Erziehung. Der UN-Kinderrechtsausschuss kritisiert zwar, dass die Beschneidung von Jungen in afrikanischen Ländern teilweise unter hygienisch nicht einwandfreien Bedingungen stattfindet. Aber die Beschneidung von Jungen wird vom UN-Kinderrechtsausschuss nicht grundsätzlich infrage gestellt. Mir ist wichtig, das noch einmal zu betonen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines der großen Missverständnisse in der aktuellen Debatte ist die Annahme, dass man Religion von Kindern so lange fernhalten müsse, bis sie sich im Alter von 14 Jahren - quasi vollkommen aus dem Nichts heraus - für die eine oder andere Religion entscheiden könnten. Selbstverständlich gilt ab 14 Jahren die Religionsfreiheit. Jugendliche könnten sich dann entscheiden, aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten oder in eine Religionsgemeinschaft einzutreten. Aber das kann man doch nur, wenn man die Chance hatte, in einer Religion aufzuwachsen und sie kennenzulernen und zu erleben. Selbstverständlich kann man dann mit 14 Jahren aus der Religionsgemeinschaft austreten. Viele Schüler wählen den Religionsunterricht ab, egal ob sie beschnitten oder getauft sind. Die Praxis, dass jüdische und muslimische Söhne beschnitten werden, ist nicht ein Akt der Misshandlung, sondern ein Akt des Aufwachsens in ihrer Religion und Kultur. Heribert Prantl hat das in der Süddeutschen Zeitung treffend beschrieben - ich zitiere -: „Sie macht das Kind zum Subjekt des Glaubens, bedeutet den Eintritt in die Gemeinschaft.“ Man mag das für sich selbst nicht glauben oder annehmen - das muss auch niemand -, aber es geht darum, dass wir akzeptieren, was das für Juden und Muslime bedeutet. Deshalb ist es mir wichtig, noch einmal daran zu erinnern - darauf haben schon viele hingewiesen -, dass die Beschneidung am achten Tag für Juden konstitutiv ist, wenn nicht der Gesundheitszustand dagegenspricht. Wir haben in vielen Gesprächen erfahren, wie wichtig die Gesundheit gerade im Judentum ist. Die Beschneidung findet durch jüdische Mohalim in der Synagoge statt, die eine medizinische und theologische Ausbildung haben. Einige sind auch ausgebildete Ärzte. Schon jetzt ist es so, dass zuvor ein Kinderarzt das Kind begutachtet und dass schmerzstillende Mittel eingesetzt werden. Wichtig ist auch zu wissen, dass die Beschneidung von allen jüdischen Richtungen unterstützt und durchgeführt wird. Bei den Muslimen findet die Beschneidung meistens in einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis unter Betäubung oder Narkose statt. Wir haben in den letzten Wochen mit vielen aus den Bereichen der Medizin und der Rechtswissenschaft sowie mit jüdischen und muslimischen Vertretern gesprochen. Dafür bedanke ich mich ganz ausdrücklich; denn das war sehr hilfreich. Besonders hilfreich waren die Vorschläge des Ethikrats, der vier Punkte definiert hat, unter denen die Beschneidung von Jungen in Deutschland geregelt werden soll und die meines Erachtens im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Großteil umgesetzt worden sind. Ich plädiere dafür, über die Änderungsanträge sehr ernsthaft zu beraten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für unsere Debatte im Bundestag ist wichtig: Es geht jetzt in der Gesetzgebung um die Frage, ob wir, wie es das Kölner Urteil nahelegt, die Beschneidung von Jungen verbieten wollen oder nicht. Eigentlich wäre ein solches Gesetz unnötig, wenn nicht ein einzelnes Gericht ein solches Verbot erlassen wollte. Ein solches Verbot lehne ich ab. Wir brauchen jetzt ein Gesetz, mit dem wir - das ist sicherlich ein guter Schritt - auch Standards für die Beschneidung von Jungen regeln. Ich bin sehr dafür, dass wir im Gesetz klare Standards setzen, und zwar bei der medizinischen Ausbildung der Mohalim, bei der fachgerechten Durchführung, bei der qualifizierten Schmerzbehandlung und bei der umfassenden Aufklärung sowie bei der Anerkennung des Vetorechts des Kindes. Das Kindeswohl muss in unseren Beratungen im Vordergrund stehen; das ist mir besonders wichtig. Ich hoffe und wünsche, dass wir eine Regelung finden, die das Kindeswohl berücksichtigt sowie Juden und Muslime auch in Zukunft bei uns willkommen heißt. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11295 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie mit diesem Überweisungsvorschlag einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/11430 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die Abgeordneten Rupprecht, Dörner, Golze und weitere wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Abgeordneten Rupprecht, Dörner, Golze und weitere also Federführung beim Familienausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit mehrheitlich abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung beim Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mehrVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse heitlich angenommen. Damit liegt die Federführung beim Rechtsausschuss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen nun die Haushaltsberatungen fort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.17 auf: Einzelplan 30 Bundesministerium für Bildung und Forschung - Drucksachen 17/10823, 17/10824 Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Rehberg Heinz-Peter Haustein Michael Leutert Die Fraktion Die Linke hat einen Entschließungsantrag eingebracht, über den wir morgen nach der Schlussabstimmung abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen René Röspel das Wort. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte, die wir gerade geführt haben, bedürfte es eigentlich, dass man sie noch ein bisschen reflektiert. Es fällt mir gar nicht leicht, nach diesem schwierigen ethischen Thema wieder auf die Haushaltspolitik umzuschalten. Ich will aber trotzdem versuchen, jetzt den Angriff zu starten. Es überkommt einen doch ein bisschen Wehmut, wenn man hier steht; denn das wird für viele Jahre der letzte Etatentwurf einer schwach-gelben Regierung im Bildungsbereich sein. ({0}) Dabei fing das damals gar nicht so schlecht an. Ich erinnere mich, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel vor einigen Jahren fast wie das Ungeheuer von Loch Ness in der Bildungspolitik auftauchte: ({1}) Sie verkündete die Bildungsrepublik Deutschland und tauchte dann wieder ab. Das war übrigens ein Plagiat; denn der Begriff „Bildungsrepublik Deutschland“ wurde viele Jahre vorher vom Wissenschaftsminister der SPD Jürgen Zöllner geprägt. ({2}) - Eben! - Bei Loch Ness überlegen einige, ob es dieses Ungeheuer wirklich gibt. Bei der Bildungsrepublik Deutschland ist die Meinung relativ einhellig: Sie ist nicht gekommen. Es ist jetzt Zeit, Bilanz zu ziehen und zu fragen: Was haben denn die Menschen von diesen vier Jahren schwach-gelber Regierungszeit im Bildungsbereich gehabt? Woran werden sie sich erinnern? Was wird bleiben? Wir werden sicherlich gleich auch ein paar buchhalterische Reden hören, wie viel Geld ausgegeben worden ist. Wir finden es ausdrücklich gut, dass diese Regierung den Kurs fortgesetzt hat, den die rot-grüne Regierung 1998 begonnen hat, ({3}) nämlich Bildung und Forschung endlich wieder einen neuen Stellenwert zu geben. ({4}) Nachdem der Etat jahrelang abgewirtschaftet worden war, hat Rot-Grün ihn wieder nach oben gefahren. ({5}) Wir haben das in der Großen Koalition fortgesetzt. - Das war mein Lob an Sie. Wir finden es ausdrücklich gut, dass Sie das - nämlich Geld für Bildung und Forschung auszugeben - in Ihrer Regierungszeit fortgesetzt haben. Wir sind überzeugt, dass es von Ihnen sehr klug war, einen Großteil dieses Geldes - 75 oder 80 Prozent; das kann man nicht genau beziffern - in Projekte zu investieren, die nicht diese Regierung auf den Weg gebracht hat, sondern eben die Vorgängerregierung. Das waren im Wesentlichen Projekte, welche die Sozialdemokratie auf den Weg gebracht hat. ({6}) - Herr Schirmbeck, es ist, wie es ist. ({7}) Den Pakt für Forschung und Innovation hat nämlich nicht die CDU/CSU ins Leben gerufen, sondern das war die SPD-Bildungs- und Forschungsministerin Edelgard Bulmahn. ({8}) Es war ein wichtiges Versprechen gegenüber Wissenschaftlern und Forschern, ihnen jedes Jahr einen kontinuierlichen Zuwachs an Geldmitteln für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen. Wir sind froh und dankbar, dass Sie das aufgenommen und sogar noch von 3 auf 5 Prozent pro Jahr erhöht haben. Das zweite für diese Republik und für die Menschen so wichtige Projekt war die Exzellenzinitiative - auch dies war eine SPD-Initiative -, die viel Bewegung und Dynamik in die deutsche Forschungs- und Hochschullandschaft gebracht hat. Von dem dritten Projekt, dem Hochschulpakt, der mithilfe der SPD-regierten Länder geschlossen wurde, wird gleich noch die Rede sein. Diese Projekte waren und sind wichtig. Es war gut, dass Sie viel Geld hineingesteckt haben. Aber wenn man sich den Haushalt genau ansieht, erkennt man, dass Sie die Mittel zwar 2013 noch einmal ein bisschen erhöhen - das ist das Wahljahr -, aber dann nicht das Versprechen halten, das wir alle gemeinsam den Wissenschaftlern gegeben haben, nämlich 2014 und 2015 erneut für einen Zuwachs zu sorgen. ({9}) Die mittelfristige Finanzplanung - Herr Schirmbeck, lesen Sie es nach - weist keine Zuwächse mehr auf. Vielmehr werden die Ausgaben für Bildung und Forschung eingefroren. Das ist keine nachhaltige Politik. Unser Versprechen werden Sie 2014 und 2015 brechen bzw. Sie würden es brechen, wenn Sie noch an der Regierung wären, ({10}) worüber die Menschen nächstes Jahr entscheiden werden. Jedenfalls braucht man kein großer Prophet zu sein, um zu behaupten, dass diese Koalition nicht mehr an der Regierung sein wird. - Herr Braun möchte eine Zwischenfrage stellen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Prof. Dr. Helge Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003510, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Röspel, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass es die SPD war, die die Exzellenzinitiative auf den Weg gebracht hat. Dann haben Sie darauf hingewiesen, dass Sie sich Sorgen um die Zukunft machen, weil die CDU/CSU-geführte Regierung keine ausreichenden Mittel in die mittelfristige Finanzplanung einstellt. Können Sie bestätigen, dass der damalige Finanzminister, der 2005 Steinbrück hieß, für die Exzellenzinitiative in der mittelfristigen Finanzplanung nicht einen einzigen Euro vorgesehen hatte? ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es war in der Großen Koalition nicht immer einfach mit Ihnen als Partner. ({0}) Wir werden in unserem Wahlprogramm entsprechende Maßnahmen aufführen. Auch für diesen Haushalt hatten wir Maßnahmen vorgeschlagen, die dazu beitragen, dass man diese Programme weiterhin finanzieren kann. Wir wollen zum Beispiel höhere Steuereinnahmen über einen höheren Spitzensteuersatz und die Wiedereinführung der Vermögensteuer erreichen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie diese Maßnahmen, wenn Sie sie denn fortsetzen möchten, finanzieren wollen. Dazu findet sich bei Ihnen überhaupt nichts. Sind Sie bereit, Steuern zu erhöhen? Wo wollen Sie einsparen, um die Exzellenzinitiative und den Pakt für Forschung und Innovation weiterzuführen? Nichts, aber auch gar nichts findet man bei Ihnen dazu. Ich bin gespannt, zu hören - das können die nachfolgenden Redner gleich erklären -, wie Sie das finanzieren wollen. ({1}) Ich denke, dass Sie nichts dazu sagen werden. ({2}) An den Stellen, an denen Sie Verantwortung tragen oder überlegt haben, selbst Maßnahmen auf den Weg zu bringen, kann man wirklich nicht von Erfolgen sprechen. Wir haben Sie mehrfach aufgefordert, im Bereich der Validierungsforschung etwas zu tun. Dabei geht es um die Überlegung, wie man gute wissenschaftliche Ergebnisse aus den Hochschulen sozusagen kommerziell in Technologie umsetzen kann. Da haben Sie lange nicht reagiert. Dann hat das Bundesministerium die Fördermaßnahme VIP aufgelegt; das ist alles andere als Validierungsforschung. Das ist nichts anderes als fortgesetzte Projektförderung. Das überzeugt nicht wirklich. Über das Deutschlandstipendium - eine Ihrer großen Hoffnungen - wird gleich noch etwas gesagt werden. Dafür reicht meine Redezeit nicht. Sie haben das Vorhaben, steuerliche Forschungsförderung zu machen, also jene Unternehmen steuerlich zu entlasten, die in Forschung und Entwicklung investieren, in den letzten Jahren wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Dieses Vorhaben haben Sie nicht umgesetzt. Ein letztes Beispiel: Im Rahmen des Programms „Zwanzig20“ wollen Sie in Ostdeutschland 500 Millionen Euro zu Forschungszwecken investieren. Auch dies ist im Haushalt nicht finanziell unterlegt. Das wird eine Luftnummer sein. In anderen Bereichen, in denen tatsächlich mehr Investitionen stattfinden müssen - dies wird von Expertenkommissionen außerhalb der Regierung und des Parlaments gefordert -, kürzen Sie den Etat. Im Bereich der Mikrosystemtechnik kürzen Sie den Etat auf den Stand von 2009. Im Bereich der Produktionssysteme fahren Sie die Mittel herunter auf den Stand von 2009. Im Bereich der Dienstleistungs- und Arbeitsforschung wird es eine Kürzung der Mittel geben. Im Bereich der neuen Werkstoffe und der Nanotechnologie wird der Etat auf den Stand von 2009 abgeschmolzen. Dies alles sind Bereiche, die dazu beitragen, dass die mittelständische Industrie, dass Unternehmen neue Werkstoffe zur Verfügung gestellt bekommen; darauf sind sie angewiesen. Überall dort kürzen Sie. Sie kürzen sogar bei der EnerRené Röspel gieeffizienz und Energietechnologie. Auch die Mittel dieses für die Energiewende wichtigen Bereichs reduzieren Sie auf den Stand von 2009. Wenn man die Menschen fragt, was für sie Bildungsrepublik bedeutet, dann hört man: Sie machen sich zum Beispiel Sorgen, ob es gelingt, mehr Kindergartenplätze zur Verfügung zu stellen; sie wollen für ihre Kinder nämlich eine U-3-Betreuung. Aber: völlige Fehlanzeige bei dieser Regierung! Da passiert gar nichts. Sie bieten den Ländern nicht einmal in vernünftigem Maße Hilfe an. Bei der Ganztagsschulbetreuung - viele Jahre von Ihnen bekämpft - passiert nichts, obwohl die Eltern und die Oberbürgermeister wissen, wie wichtig sie ist und wie wichtig auch eine Förderung des Bundes wäre. Vom Kooperationsverbot und von der Möglichkeit des Bundes, den Kommunen, die kein Geld mehr haben, eine Hilfestellung zu geben, weil die Eltern dringend auf Unterstützung angewiesen sind, wird noch die Rede sein. Das Fazit zum Thema Bildungsrepublik, die von Ihnen ausgerufen wurde, ist schlecht. Sie schleppen sich bis zum Wahltag. Für die Zeit danach haben Sie keine Visionen, Sie machen keine Angebote und stellen keine Überlegungen an, wie Ihre Vorhaben finanziert werden können. Eigentlich müsste man Ihnen wünschen, dass Sie eine weitere Legislaturperiode dranhängen müssen, ({3}) damit Sie die Suppe, die Sie der nächsten Regierung eingebrockt haben, selbst auslöffeln müssen. Aber das darf nicht sein; denn Deutschland hat eine bessere Zeit verdient. Dementsprechend werden sich die Menschen im Herbst 2013 auch entscheiden. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ich glaube, Herr Röspel, Sie haben sehr deutlich gemacht, was uns unterscheidet: ({0}) Sie meinen, Bildung und Forschung finanzieren zu können, indem Sie den Menschen in Deutschland in die Tasche greifen. ({1}) Wir haben in den letzten Jahren eine andere Politik gemacht. Wir haben durch Wachstum Steuermehreinnahmen generiert: beim Bund in Höhe von 30 Milliarden Euro und bei den Ländern in Höhe von 30 Milliarden Euro in den letzten vier Jahren. Insgesamt konnten Bund und Länder aufgrund des Wirtschaftswachstums also Steuermehreinnahmen von 60 Milliarden Euro verzeichnen. ({2}) Gleichzeitig haben wir, beginnend mit den entsprechenden Maßnahmen unter Schwarz-Rot bis hin zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz, die Bürgerinnen und Bürger entlastet, und zwar, bezogen auf die volle Jahreswirkung, in Höhe von 38 Milliarden Euro. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das verstehen wir unter Politik: den Menschen Freiräume lassen, den Menschen Chancen geben und aus Freiräumen und Chancen politische Vorhaben finanzieren. Das ist soziale Marktwirtschaft. Das ist die Politik der christlich-liberalen Koalition. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röspel? ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Rehberg, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die Finanzierung Ihrer Vorhaben vom Wachstum abhängig machen und dass Sie auf Wachstum hoffen. Nach den Daten, die uns vorliegen - ich weiß nicht, ob Sie andere haben -, wird sich das Wachstum in Deutschland, für das Sie wahrscheinlich genauso wenig können wie wir - da muss man ehrlich sein -, ({0}) in Zukunft leider nicht so positiv entwickeln; schließlich ist Deutschland auch in die Weltwirtschaft eingebunden. Wie wollen Sie die Aufwüchse der nächsten Jahre also konkret finanzieren, wenn Wachstum und damit zusätzliche Einnahmen ausbleiben?

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehen Sie, Herr Röspel, auch das unterscheidet uns: Unsere Politik ist wachstumsorientiert; das haben die letzten Jahre gezeigt. ({0}) Deutschland ist deutlich stärker aus der Krise herausgekommen, als es in sie hineingegangen ist. Sie verfol25464 gen nur einen Ansatz: den Menschen in die Tasche zu greifen. ({1}) Sie sollten einmal an Ihre eigene Regierungszeit zurückdenken. ({2}) Unter der Regierung Schröder haben Sie den Spitzensteuersatz, der unter Helmut Kohl bei 53 Prozent lag, auf 42 Prozent und den Eingangssteuersatz von 24 auf letztendlich 15 Prozent gesenkt. ({3}) Sie haben den Arbeitsmarkt flexibilisiert und die entsprechenden Rahmenbedingungen gesetzt. Aber jetzt schlagen Sie sich in die Büsche und wollen eine ganz andere Politik machen. Herr Röspel, wenn Ihnen das an dieser Stelle noch nicht reicht, schlage ich vor: Schauen Sie sich doch einmal die Situation in Frankreich an. Innerhalb weniger Wochen ist die Politik des französischen Sozialisten Hollande völlig in sich zusammengebrochen. ({4}) Nun blickt er nach Deutschland, um zu sehen, wie man erfolgreiche Politik macht, Herr Röspel. ({5}) Wenn Sie sagen, dass Bildung und Forschung für RotGrün einen hohen Stellenwert hatten, muss ich Ihnen widersprechen. Die Zahlen belegen etwas ganz anderes. Sie haben in sieben Jahren Rot-Grün durchschnittlich 7 Milliarden Euro pro Jahr für Bildung und Forschung ausgegeben. ({6}) Wir haben in den Jahren der Merkel-Regierung unter der Bildungs- und Forschungsministerin Schavan 10,5 Milliarden Euro pro Jahr für Bildung und Forschung ausgegeben. Das sind 50 Prozent mehr als zu Ihrer Regierungszeit. Ich werde Ihnen beweisen: Dieses Geld für den Bereich Bildung und Forschung ist gut angelegtes Geld. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben Wort gehalten: Wir haben für diese Legislaturperiode bei Bildung und Forschung einen Zuwachs von 12 Milliarden Euro versprochen. Es sind letztendlich 13,3 Milliarden Euro geworden. Die Zahlen sind beeindruckend. Nehmen wir zum Beispiel die Zahl der Studienanfänger: Heute nimmt jeder Zweite eines Jahrgangs ein Erstsemesterstudium auf. Dies finanzieren wir über den Hochschulpakt. ({8}) Wir haben die Mittel für Bildung um 800 Millionen Euro aufgestockt. Der Hochschulpakt II umfasst insgesamt 3,5 Milliarden Euro. Die Zahl der Hochschulabsolventen ist in den letzten 15 Jahren von 14 Prozent auf 30 Prozent eines Jahrgangs gestiegen. Im Bereich der Ingenieurwissenschaften ist die Zahl der Studienanfänger im letzten Jahr um 24 Prozent gewachsen. ({9}) Wenn Sie an diesen Zahlen nicht erkennen, dass das gut angelegtes, gut investiertes Geld ist, dann leben Sie in einem anderen Land, Herr Röspel, oder Sie können Zahlen nicht lesen oder leiden an der einen oder anderen Stelle an Gedächtnisschwund. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland ist ein weltoffenes Land. Wir haben die Zahl der Studenten mit ausländischem Pass in den letzten 15 Jahren vervierfacht, von 10 000 auf fast 38 000. ({10}) Es hat sich gelohnt, die Mittel für den DAAD oder die Alexander-von-Humboldt-Stiftung aufzustocken, nicht nur im Einzelplan 30, sondern auch in den Einzelplänen des Auswärtigen Amtes und des Entwicklungshilfeministeriums. ({11}) - Herr Kollege Hagemann, jede Position im Bildungsbereich, im Schavan-Ministerium, hat in den letzten acht Jahren einen Aufwuchs erfahren. ({12}) Wir stellen uns den Herausforderungen der Zukunft. Auch da, Herr Röspel, sind die Zahlen mehr als beeindruckend. Im Bereich der beruflichen Bildung haben wir von 2012 auf 2013 einen Zuwachs von fast 30 Millionen Euro. Seit 2005 haben wir einen Aufwuchs um 162 Prozent. Das kommt positiv zum Tragen. Bei den Altbewerbern haben wir von Rot-Grün eine besonders schwierige Situation übernommen. In den letzten drei Jahren haben wir die Zahl der Altbewerber um 90 000 reduzieren können. Das ist deswegen ein schwieriges Unterfangen, weil diejenigen Altbewerber zuerst wieder in eine berufliche Ausbildung kommen, die die beste Qualifikation haben. Selbstverständlich wird es dann immer schwieriger, die Zahl der Altbewerber weiter abzubauen. Wir sind auf diese Herausforderung eingegangen; wir haben reagiert. Wir Haushälter sind flexibel - ich bedanke mich an dieser Stelle insbesondere bei meinem Kollegen Peter Haustein -: Wir haben die Mittel für die Initiative „Bildungsketten“ um 10 Millionen Euro aufgestockt, weil die Antragslage entsprechend war. ({13}) Wir haben die Förderung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten verstetigt: auf dem Niveau von 40 Millionen Euro; das ist das Niveau der Konjunkturpakete. ({14}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich geht hier nichts ohne die Länder. Es ist erschreckend, wenn man im Zusammenhang mit dem Fachkräftebündnis lesen muss - ich zitiere -: „Es ist mehr als ein Ärgernis“, so Schlüter, - Herr Schlüter ist der stellvertretende Vorsitzende des DGB Bezirk Nord; dieser Bezirk umfasst die Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern wenn sich offenbar Bildungsminister … Brodkorb ({15}) und Sozialministerin … Schwesig ({16}) nicht einigen könnten, wer dafür zuständig ist. Man muss doch von den Ländern erwarten können, dass sie dort, wo der Bund aktiv ist, sich einbringen, statt danebenzustehen und zuzuschauen, ohne die Probleme zu lösen. ({17}) Schauen wir uns die Bilanz im Bereich der Forschung an. Wir sind kurz davor, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen. Besonders beeindruckend ist, dass die öffentlichen Investitionen, die Mittel des Bundes, private Investitionen in erheblicher Größenordnung nach sich gezogen haben. Wir haben auch deswegen eine so positive wirtschaftliche Entwicklung, weil gerade im Bereich der Forschung in den letzten acht Jahren eine Menge getan worden ist. Herr Röspel, Sie stellen sich hier kleinkariert und kleinlich hin und sagen, dieses und jenes sei von der SPD gekommen. ({18}) - Natürlich. - Im Gegensatz zu Ihnen stehen wir aber dazu, dass wir vier Jahre lang mit Ihnen regiert haben, und ich werde nichts schlechtreden, was wir in dieser Zeit positiv mit Ihnen gemeinsam gestaltet haben. Aber so zu tun, als ob wir in den letzten vier Jahren keine Erfolge gehabt hätten, insbesondere im Forschungsbereich, ist das komplette Gegenteil der Realität. Herr Röspel, das Geld, das wir angelegt haben, ist gut angelegtes Geld. ({19}) Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung zu den neuen Bundesländern machen. Dieses Thema wird ja garantiert auch von den Linken wieder angesprochen. Erstens. Die neuen Bundesländer sind bei der Einwerbung von öffentlichen Drittmitteln vorne. Die Nummer eins ist Mecklenburg-Vorpommern, Nummer zwei ist Thüringen, Nummer drei ist Berlin, Nummer vier ist Sachsen, und Nummer fünf ist Brandenburg. Das heißt, diese Länder haben in den letzten zehn Jahren den durchschnittlich höchsten Zuwachs an öffentlichen Mitteln gehabt. Zweitens. Ich glaube, auch diese Zahl muss in diesem Hause einmal genannt werden: Vom Gesamtetat des Forschungsministeriums sind in den verschiedenen Rubriken im Ist 2011 1,83 Milliarden Euro in die neuen Bundesländer geflossen. Deswegen glaube ich, dass sich gerade diese Bundesregierung ihrer Verantwortung gegenüber den neuen Bundesländern bewusst ist und ihr auch gerecht geworden ist. Ich denke ganz einfach, wer heute einmal an Universitäten und an Fachhochschulen im Osten Deutschlands geht, wer den baulichen Zustand und die Qualität von Lehre und Forschung betrachtet und wer auch sieht, wie weit vorne diese Universitäten und Fachhochschulen in den Rankings der Studenten sind, der weiß, dass wir hier etwas mehr als Positives und sehr Gutes vorzuweisen haben. ({20}) Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Röspel, bin ich ganz einfach der Auffassung: Diesem Land, gerade im Bereich der Bildung und Forschung, tun nur weitere vier Jahre CDU/CSU-FDP-Regierung gut. ({21}) Unter Ihnen - das haben Ihre sieben Jahre unter Schröder gezeigt - wurde die Forschung nicht gerade gut behandelt. ({22}) Bei der Bildung haben Sie viele Sprechblasen im Mund geführt. Heute, das muss ich Ihnen sagen, sind Sie völlig außer Rand und Band. Sie fordern 20 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und Forschung, davon 10 Milliarden Euro vom Bund und 10 Milliarden Euro von den Ländern. ({23}) Ich kann Ihnen nur sagen: Viel Vergnügen in Wolkenkuckucksheim. Herzlichen Dank. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Dieser Bildungshaushalt markiert aus meiner Sicht keinen Aufbruch, sondern er ist pure bildungspolitische Stagnation. ({0}) Die Regierung findet für sich selbst natürlich viele lobende Worte und behauptet, man bewege sich auf die ganz oft und auch schon sehr lange beschworene Bil25466 dungsrepublik zu. Aber ich muss Ihnen sagen: Sie sind ja dermaßen leicht zufriedenzustellen. Ihnen reicht es ja offenbar schon aus, dass der Bildungshaushalt nicht, wie andere Haushaltsposten, auch noch abgeschmolzen wird. ({1}) Die Frage ist aber nicht, ob die Regierung zufriedengestellt ist, sondern die Frage ist, ob die Menschen zufrieden sind. ({2}) Ich sage Ihnen: Für die jungen Menschen, für die Schülerinnen und Schüler, für die Studierenden und für die Auszubildenden, ist es eine Katastrophe, wie Sie die Augen vor deren Problemen verschließen. ({3}) Ich bin mir aber sicher, dass die Studierenden und die Schülerinnen und Schüler Sie schon noch darauf aufmerksam machen werden. Offenbar brauchen Sie immer erst eine Protestbewegung, bevor Sie politisch etwas dazulernen. In meinem Bundesland Bayern kommt ja sogar die CSU infolge der Bildungsproteste und im Angesicht der politischen Niederlage zu ganz ungeahnten Einsichten und will jetzt auf einmal die Studiengebühren abschaffen. ({4}) Die Linke sagt Nein zu diesem Haushalt, und ich sage Ihnen auch, warum: Erstens. Er verwaltet den Mangel, er bietet aber weder dem Bildungs- noch dem Wissenschaftssystem eine Zukunft. Zweitens. Die finanziellen Aufstockungen kommen nicht da an, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern Sie schieben das Geld wieder in Elite- und Standortprojekte. Drittens. Damit verfestigt diese Regierung auch im Bereich Bildung die soziale Spaltung in der Gesellschaft, und das ist vor allem eine gesellschaftspolitische Katastrophe. ({5}) Was ist der Stand der Dinge? In den letzten Monaten gab es gleich mehrere Untersuchungen, die wieder einmal belegt haben, wie sehr die soziale Herkunft den Bildungserfolg in der Bundesrepublik bestimmt. Da die Bundesregierung diese Ergebnisse offenbar nicht mehr präsent zu haben scheint, zitiere ich noch einmal daraus. Die Studie „Aufstiegsangst“ der Vodafone-Stiftung beispielsweise sagt, die Chance von Kindern aus akademischen Elternhäusern, ein Studium aufzunehmen, sei sechsmal höher als bei Kindern aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Die OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ sagt, dass nur 20 Prozent der jungen Erwachsenen in der Bundesrepublik ein höheres Bildungsniveau als ihre Eltern erreichen. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 37 Prozent. 22 Prozent der jungen Erwachsenen schließen ihre Ausbildung sogar mit einem niedrigeren Bildungsabschluss als ihre Eltern ab. Damit ist Deutschland eines von drei Ländern, in denen die Bildungsmobilität nach unten stärker ausgeprägt ist als nach oben. Die DGB-Studie „Generation abgehängt“ sagt, dass 2,2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren keinen Berufsabschluss, dementsprechend schlechte Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt haben und kaum ihren Lebensunterhalt verdienen können. Das sind Fakten und nicht etwa linke Ideologie. Alle Studien zeigen ausnahmslos: In der Bundesrepublik werden Bildungschancen vererbt. Es ist in der Bildung wie in einer Art Kastensystem: bildungsnah bleibt bildungsnah, und bildungsfern bleibt bildungsfern. Daran soll sich nach dem Willen von Schwarz-Gelb offensichtlich auch nichts ändern. Reden Sie doch nicht von der Bildungsrepublik, wenn Sie noch nicht einmal auf die Idee kommen, dass ein Bildungshaushalt in einer solchen Situation viel mehr leisten müsste, als ein paar Löcher zu stopfen und ein bisschen nachzubessern. So viel Ignoranz muss man in einer solchen Situation erst einmal aufbringen. ({6}) Schauen wir uns einmal konkret an, was die Regierung tut und was sie unterlässt. Statt Nachqualifizierungsprogramme für junge Menschen ohne Berufsabschluss aufzulegen, bleibt die Regierung beim Förderdschungel verschiedener Projekte. Niemand findet sich darin zurecht. Das Geld kommt nicht da an, wo es eigentlich sollte. Statt mit Bundesgeld endlich umfassend in eine bessere schulische Bildung zu investieren, die eine individuelle Lernförderung ermöglichen würde, blockieren Sie die umfassende Abschaffung des Kooperationsverbotes und verweigern, dass der Bund mit seinem Geld den Ländern in der Bildung helfen kann. ({7}) Statt die Forschung in der Breite auf solide Füße zu stellen und statt endlich umfassende Forschungsprogramme für die neuen Bundesländer und für Fachhochschulen auf den Weg zu bringen, setzen Sie weiter auf eine Politik der Eliteförderung. Sie kümmern sich nur um Ihre Leuchttürme und wollen nicht wahrhaben, dass die längst in der Wüste stehen. Statt ein Programm für die Juniorprofessur aufzulegen und statt endlich die Tarifsperre für den Wissenschaftsbereich aufzuheben, betreiben Sie Projektfinanzierung und Deregulierung, heißt also miserable Beschäftigungsbedingungen beim wissenschaftlichen Personal. Zu all diesen Punkten sagt die Linke Nein. ({8}) Im Hochschulbereich haben wir die gleiche Misere: Statt den Hochschulpakt endlich bedarfsgerecht aufzustocken, statt die tatsächlichen Bedürfnisse der jungen GeNicole Gohlke neration zum Maßstab für die Finanzierung zu nehmen, bleiben Sie bei Ihren selbst berechneten Fantasiezahlen. Jetzt musste sogar schon die Kultusministerkonferenz ihre Prognosen nach oben korrigieren und hat berechnet, dass bis zum Jahr 2020 mindestens 750 000 Studienplätze fehlen werden. Aber selbst diese Zahl, selbst diese Fakten ignorieren Sie. Für 2012 geht die Bundesregierung von einer Studienanfängerzahl von 434 000 aus. Die KMK geht aber von 490 000 aus. Das heißt also, es fehlen schon jetzt mindestens 56 000 Studienplätze. Die vorgesehene Anhebung der Mittel für den Hochschulpakt wird also bei weitem nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. ({9}) Während der Bedarf noch nicht einmal gedeckt ist, planen Sie aber schon, das Geld für den Hochschulpakt direkt nach der Bundestagswahl ab 2014 wieder abzusenken, weil ja dann - so argumentieren Sie, und so hoffen Sie wahrscheinlich auch - das Studierendenhoch „überstanden“ ist. Fakt ist aber: Wir haben es eben nicht mit einer kurzfristigen Spitze zu tun, nicht nur mit einmaligen doppelten Abiturjahrgängen und den Effekten des Aussetzens der Wehrpflicht, sondern mit einer gestiegenen Studierneigung. Das heißt, immer mehr junge Menschen wollen studieren. ({10}) 75 Prozent der Bachelorabsolventinnen und -absolventen wollen nach dem Bachelor einen Master machen. Darüber sollten wir uns freuen. Es könnten noch viel mehr sein, wenn nicht jedes Jahr Tausende von den Hochschulen abgelehnt würden. ({11}) Die Folgen Ihrer Politik sind deutlich sichtbar: Im Studienjahr 2011 fehlten fast 100 000 Studienplätze. Aktuell rechnete man allein in Kassel mit 31 000 Bewerbungen auf 3 500 Plätze. In Leipzig - auch das sind Fakten - kamen im Fach Psychologie auf 72 Studienplätze knapp 4 000 Bewerberinnen und Bewerber. In BadenWürttemberg werden wahrscheinlich ab 2013 mindestens 7 000 Masterplätze fehlen. Eine Studienberechtigung reicht schon lange nicht mehr aus, um studieren zu dürfen. Die Studierwilligen müssen ein absurdes und völlig intransparentes Geflecht von Zulassungsbeschränkungen, Numerus clausus, Auswahlverfahren, Extratests, Motivationsschreiben über sich ergehen lassen. Von einem Recht auf Bildung und Ausbildung keine Spur. Die Hochschulen platzen aus den Nähten. Vielleicht müssen Sie einmal vor Ort gehen und es sich anschauen, wenn Sie es nicht glauben wollen. Die Wohnheime und Mensen sind völlig überlastet. Die Studierenden müssen teilweise bis Weihnachten warten, bis sie ihr erstes BAföG erhalten. Aber Schwarz-Gelb fehlt natürlich jede Form von Fantasie, sich vorzustellen, wie es ist, über drei Monate ohne jede Finanzierung zu leben. ({12}) Sie wollen stattdessen die Mittel für das BAföG im kommenden Jahr um 15 Prozent kürzen, obwohl das BAföG derzeit viel zu wenige erreicht und obwohl der durchschnittliche BAföG-Satz derzeit bei nur 436 Euro liegt und obwohl im Übrigen allein ein Zimmer in München schon 350 Euro kostet. Statt das BAföG zum Instrument des sozialen Ausgleichs zu machen, statt die Altersgrenzen abzuschaffen, auf Vollzuschuss umzustellen und endlich auch Schülerinnen und Schüler zu fördern, erhöhen Sie die Mittel für Ihre Schnapsidee vom Deutschlandstipendium, ({13}) bei dem in diesem Jahr wahrscheinlich 16 Millionen Euro verfallen werden, weil sich nicht genügend Firmen oder Sponsoren finden, die dieses Programm kofinanzieren wollen. Das ist doch absurd und geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. ({14}) Jetzt höre ich Sie natürlich schon wieder sagen, dass Sie uns Linken eine Wünsch-dir-was-Politik vorwerfen. Aber in Ihren eigenen Studien finden sich sehr wertvolle Hinweise, wie man eine gute Bildung für alle finanzieren kann. Im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt es zum Beispiel: Die vermögensstärksten 10 Prozent der Haushalte vereinen 53 Prozent des gesamten Nettovermögens auf sich; der unteren Hälfte der Haushalte bleibt gerade einmal 1 Prozent. - Die Süddeutsche Zeitung hat angesichts dieser Zahlen getitelt: „Reiche trotz Finanzkrise immer reicher“. Während das Nettovermögen des Staates in den vergangenen 20 Jahren um über 800 Milliarden Euro zurückgegangen ist, hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte von knapp 4,6 Billionen auf 10 Billionen Euro mehr als verdoppelt. Auch hier finden sich in Ihren eigenen Berichten und Untersuchungen deutliche Zahlen: Eigentlich liegt der Zusammenhang auf der Hand. Wir haben ein Einnahme- und kein Ausgabenproblem. Wir müssen nicht sparen: Wir müssen umverteilen. ({15}) Die Steuerpolitik dieser Regierung und ihrer Vorgänger belastet aber seit Jahren die unteren Einkommensschichten und entlastet die oberen Schichten, die mittlerweile gar nicht mehr wissen, wohin sie mit all dem Geld sollen. Wir brauchen endlich eine Umverteilung von oben nach unten und nicht umgekehrt. Da wird auch nicht die von den Grünen auf ihrem Parteitag jetzt beschlossene einmalige Vermögensabgabe reichen; denn wenn wir die Schieflage in dieser Gesellschaft ändern wollen, dann müssen wir das eben nicht einmalig, sondern dann müssen wir das langfristig und dauerhaft tun. Wir brauchen neben einer Vermögensabgabe eine Millionärsteuer, eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 53 Prozent und eine höhere Erbschaftsteuer. Die Linke will endlich Schluss damit machen, dass soziale und Bildungschancen wie im Feudalismus vererbt werden. ({16}) Der Regierung ist so ein Denken freilich fremd. Sie verweigert Chancengleichheit. Sie verweigert aktiven Ausgleich. Die FDP hält wie in Bayern an einer Politik fest, bei der man sich den Bildungszugang und die Bildungschancen käuflich erwerben kann, wie im Falle von Studiengebühren. Aber die Bürgerinnen und Bürger wollen nicht für das, was Ihnen rechtmäßig zusteht, zahlen. Sie wollen nicht, dass der Geldbeutel und der soziale Status der Eltern darüber bestimmen, welchen Bildungsweg die Kinder nehmen. Damit haben sie recht; denn Bildung ist ein Menschenrecht. Für dessen Gewährleistung hätte diese Regierung eigentlich zu sorgen. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinz-Peter Haustein für die FDPFraktion. ({0})

Heinz Peter Haustein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Deutschland ist ein tolles Land: fleißige Menschen, gut ausgebildete Handwerker, kompetente Ingenieure und Ärzte, einfach ein schönes Land. ({0}) Es ist auch deshalb ein schönes Land, weil in diesem Land unter dieser Regierung von CDU/CSU und FDP der Schwerpunkt auf Bildung und Forschung gelegt wird. ({1}) Ich bin Berichterstatter für den Einzelplan 30 des Ministeriums für Bildung und Forschung der verehrten Frau Annette Schavan. Herzlichen Dank für die sehr gute Zusammenarbeit! Dank geht auch an Herrn Lee, den Haushälter, an Herrn Helge Braun, an Thomas Rachel. Es war ein richtig gutes Miteinander, so wie das in unserer Koalition zwischen FDP und Union immer ist. ({2}) Als Haushälter ist man für Zahlen zuständig. Ich bedanke mich beim Hauptberichterstatter, Herrn Klaus Hagemann, bei Herrn Michael Leutert, bei Tobias Lindner und natürlich ganz besonders bei meinem guten Freund Herrn Eckhardt Rehberg aus Rostock. Gemeinsam haben wir das Zahlenwerk fundiert aufgestellt. Zahlen sind Fakten, und diese Fakten werde ich euch - vor allem euch von Rot-Grün - gerne vortragen. Wir haben in diesem Jahr den Haushalt um rund 800 Millionen Euro auf 13,74 Milliarden Euro aufgestockt. Diese Zahl müsst ihr erst einmal erreichen, ({3}) und das in einer Zeit, in der eine Wirtschafts- und Finanzkrise weltweit ihr Unwesen treibt und Sparen angesagt ist. Das tun wir auch. Wir setzen bei Bildung und Forschung Prioritäten und stocken dort auf. Denn wir wissen: Der einzige Rohstoff, den wir im Land haben, ist unsere Bildung und der Grips zwischen unseren Ohren. In diesen Bereich wird investiert, und das ist Investition in die Zukunft. ({4}) Ein paar Zahlen seien genannt, liebe Freunde. Wir haben in Kap. 3002 3,25 Milliarden Euro. Ich nenne ein paar Details, um den Aufwuchs zu zeigen. Die Zuschüsse an das Begabtenförderungswerk steigen um 12 Prozent auf 198 Millionen Euro. Bei der Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung gibt es ein Plus von 15 Prozent auf 214 Millionen Euro und bei der Stärkung des Lernens im Lebenslauf ein Plus von 26 Prozent auf 168,5 Millionen Euro. Wir haben die Mittel für den Hochschulpakt um weitere 49 Prozent auf 2,17 Milliarden Euro aufgestockt, und wir haben die Mittel für den Qualitätspakt Lehre um 15 Prozent auf 200 Millionen Euro erhöht. Im Bereich Klimaforschung und Lebensraum Erde, Energie haben wir die Mittel um 135 Prozent auf 86 Millionen Euro erhöht. Diese Zahlen nimmt man so hin. Dabei lohnt sich ein Vergleich. Diese Regierung hat vor drei Jahren mit 10,2 Milliarden Euro im Bereich Bildung und Forschung begonnen und hat das dann im Haushalt um genau 3,6 Milliarden Euro aufgestockt. Das sind 900 Millionen Euro pro Jahr. Schwarz-Gelb hat also etwas Gutes getan. ({5}) Sehen wir das im Vergleich zu Rot-Grün: Ihr hattet sieben Jahre Zeit zum Regieren. ({6}) Es wurde gesagt, ihr hättet viel für Bildung und Forschung getan. Deshalb nenne ich einfach Zahlen; denn Zahlen sind Fakten. Ihr habt den Haushalt in sieben Jahren von 6,7 Milliarden Euro auf 7,6 Milliarden Euro, also um genau 911 Millionen Euro, erhöht. Schämt euch! ({7}) Das sind die Fakten. Dies ist eine Bildungsregierung, und wir machen eine Bildungsrepublik. Ihr aber habt die Bildung und die Forschung verschlafen. Das sind die Fakten. ({8}) Zum Abschluss in diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge! ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Tobias Lindner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etatberatungen und vor allem Beratungen über den Bildungsetat in dieser durchaus lebhaften Stimmung bei einem der letzten Tagesordnungspunkte am heutigen Tag haben auch immer etwas von Schule und erst recht von Zeugnisvergabe. Wie es bei Zeugnisvergaben so ist: Da gibt es Lob und Tadel. Ich möchte heute Abend durchaus mit einem Lob beginnen. Der Einzelplan 30 wächst im Jahr 2013 erneut, um 800 Millionen Euro. Das ist eine gute Nachricht, Frau Ministerin. Für diese Nachricht verdient die Bundesregierung erst einmal ein Lob. So ehrlich sind wir gerne. Keine Angst: Es wird das einzige Lob in meinem Beitrag bleiben. ({0}) Der Feststellung, die Sie, geschätzter Herr Kollege Haustein, getroffen haben, nämlich dass Deutschland ein schönes Land ist, würde ich durchaus beipflichten. Dass die Koalition sich immer einig ist und bei Ihnen alles immer in Eintracht stattfindet, da hätte ich durchaus meine Zweifel. Über zwei weitere Punkte sind wir uns aber sicher einig: Bildung ist die wichtigste Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Mit Bildung beginnt alles, mit Bildung kann man vieles richtig machen, und was man bei Bildung falsch macht, muss man später an vielen anderen Stellen teuer und teurer korrigieren. Genauso ist richtig - da hätten wir uns durchaus mehr von Ihnen gewünscht -: Der wichtigste Rohstoff der Industrienation Deutschland sind Wissen und Forschung. Gerade deshalb sind Mittel in dem Etat für Bildung und Forschung so wichtig. ({1}) Kommen wir zu den Tadeln. Geld allein macht nicht glücklich, und mehr Geld allein bedeutet noch lange nicht eine bessere Bildungs- und Forschungspolitik; denn es kommt entscheidend darauf an, wo man dieses Geld einsetzt und dass man die Prioritäten auf die richtigen Projekte setzt. Mit bildungspolitischen Irrläufern wie dem Betreuungsgeld und mit der Förderung von Kerntechnik und Genforschung setzt diese Bundesregierung die falschen Schwerpunkte, obwohl sie mehr Geld ausgibt. Das muss ein Ende haben. ({2}) Ich will ein Wort - das ist schon angesprochen worden - zur mittelfristigen Finanzplanung sagen. Es ist gut, dass dieser Etat anwächst, und es mag nicht unbedingt ein Zufall sein, dass im nächsten Jahr eine Bundestagswahl stattfinden wird. Aber wenn man sich die mittelfristige Finanzplanung in vielen Bereichen anschaut, dann setzt man doch einige Fragezeichen hinsichtlich dessen, was nach dem Jahr 2013 kommen wird. Man könnte auch sagen: Man fragt sich ernsthaft, ob der Etat 2013 nicht nur Kosmetik ist. Nachhaltige, langfristige Finanzierung im Bereich Bildung und Forschung sieht anders aus. ({3}) Ich habe über falsche Prioritäten gesprochen. Ich möchte wegen der Kürze der Zeit das, was ich meine, an vier Beispielen kurz ausführen. Der erste Punkt ist das nationale Stipendienprogramm. Obwohl sich die Anzahl der vergebenen Stipendien erhöht hat ({4}) - verdoppelt, das will ich durchaus konzedieren -, liegen wir immer noch bei nur 11 000 Stipendien angesichts von 2,3 Millionen Studierenden in diesem Land. Bildungsgerechtigkeit sieht anders aus. Mit anderen Worten: Das Deutschlandstipendium ist ein Ladenhüter. Das würden Sie noch nicht einmal am Grabbeltisch jetzt in der Weihnachtszeit loswerden. ({5}) Wir, Bündnis 90/Die Grünen, möchten diese Mittel verwenden, um mehr Geld für das BAföG bereitzustellen. Wir möchten höhere Frei- und Förderbeträge. Ich füge hinzu: Wir möchten auch lebenslanges Lernen ernst nehmen. Wir müssen schauen, dass wir den Einstieg in ein Erwachsenen-BAföG hinbekommen. ({6}) Mein zweiter Punkt betrifft den Hochschulpakt. Es ist begrüßenswert, dass die Studierendenzahlen in Deutschland steigen. Wir und viele Experten glauben, dass die Studierendenzahlen auf einem hohen Niveau verharren werden, dass wir es nicht mit einem Gipfel bei den Studierendenzahlen zu tun haben, sondern mit einem Hochplateau. Dieser Erkenntnis, Frau Ministerin, wird der Hochschulpakt nicht gerecht. Hier bedürfte es gerade vom Bund eines Signals - ich will durchaus zugestehen: auch von den Ländern -, und hier müsste man einen stärkeren Schwerpunkt setzen. ({7}) Dritter Punkt. Ich will zum Thema Lernfähigkeit und zu einem vermeintlich großen Erfolg der Großen Koalition kommen, dem Kooperationsverbot. Ich bin froh über die Lernfähigkeit der Sozialdemokraten. Ich glaube, wir sind uns einig, dass das Kooperationsverbot fallen muss. Es darf aber nicht nur im Bereich Forschung fallen, es darf nicht nur punktuell fallen, sondern es muss in der gesamten Bandbreite des lebenslangen Lernens fallen. Wenn wir über mehr inklusive Bildung reden wollen, über mehr Ganztagsschulen, dann muss auch an dieser Stelle das Kooperationsverbot fallen. ({8}) Meinen vierten und letzten Punkt könnte ich überschreiben mit: Anwendung von gelernten Fähigkeiten, Merkfähigkeit oder Teamfähigkeit. Meine Fraktion hat im Haushaltsausschuss einen Antrag zu Open Source eingebracht. Darin geht es darum, dass wir dann, wenn wir staatliche Fördergelder für die Forschung bereitstellen, wollen, dass die Ergebnisse in einer Datenbank gesammelt werden und öffentlich zugänglich sind und nicht ausschließlich in teuren Fachjournalen publiziert werden. Das Problem ist: Wir haben diesen Antrag fast wortwörtlich abgeschrieben. Ich will hier gern gestehen, dass er durchaus ein Plagiat sein mag. Wir haben in diesem Antrag eine Forderung aus der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ übernommen. Wenn ich es richtig im Kopf habe, dann hat die Koalition diese Forderung dort mitgetragen. Im Haushaltsausschuss konnten Sie sich anscheinend nicht mehr daran erinnern. Ich bedauere sehr, dass Sie diesen Antrag abgelehnt haben. Ich komme zum Schluss. Sie wollen mit dem Etatentwurf 2013 ein letztes Mal Rekordausgaben präsentieren. Mehr Geld allein macht nicht glücklich. Sie setzen die falschen Schwerpunkte. So wird das nichts mit der Bildungsrepublik, Frau Ministerin. Angesichts dieser Leistung ist Ihre Versetzung im nächsten Jahr akut gefährdet. Wir Grüne haben aufgezeigt, wo wir es besser gemacht hätten. Dem sind Sie nicht gefolgt, und deshalb lehnen wir Ihren Etatentwurf ab. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesministerin Annette Schavan. ({0})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der größte Anteil der Wertschöpfung in Deutschland basiert auf Forschung. Es ist die erste Leitlinie für Forschungs- und Innovationspolitik in Deutschland, Sorge dafür zu tragen, dass diese Politik konzeptionell so angelegt ist, dass dieser Anteil stark ist, sich weiterentwickeln kann und dass damit auch in Zukunft Grundlagen für wirtschaftliches Wachstum vorhanden sind. Die Zukunftschancen der jungen Generation zu sichern, gehört zu den vornehmsten Aufgaben einer Gesellschaft. ({0}) Die zweite Leitlinie für unsere Bildungs- und Forschungspolitik ist, beim Thema Zukunftschancen stark zu sein und Sorge dafür zu tragen, dass junge Menschen in Deutschland gute Chancen bekommen. Wissenschaftssysteme überall in der Welt werden immer stärker auf Internationalisierung ausgerichtet. Eine Wissenschaftsnation, die etwas auf sich hält, trägt Sorge dafür, dass der eigene Wissenschaftsstandort für die anderen starken Wissenschaftsstandorte attraktiv ist. Die dritte Leitlinie unserer Bildungs- und Forschungspolitik ist, dafür zu sorgen, dass Deutschland ein starker, relevanter Forschungsstandort ist, an den Forscher und Forscherinnen aus aller Welt kommen. ({1}) Diese drei Leitlinien - die Basis für künftige Wertschöpfung, die Signale an die junge Generation und die Internationalisierung, um attraktiv zu sein - haben diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen in dieser Legislaturperiode verfolgt. Davon zeugt dieser Haushalt. Davon zeugen insgesamt vier Haushalte. Das sagt Ihnen jeder in der Szene. Das wissen Sie auch; manchmal sind Sie sogar dabei, wenn das gesagt wird. Das wird überall in der Welt gesagt. Das führt bei uns überhaupt nicht dazu, dass wir uns irgendwie selbstgerecht zurücklehnen. Die Arbeit ist viel zu spannend, als dass wir, die Union oder die FDP, sagen würden: Wir haben jetzt alles getan, was man tun muss. - Vielmehr wissen wir längst, was die nächsten Schritte sind. Wir diskutieren darüber. Sie allerdings lamentieren, unentwegt. ({2}) Ich kann das ja verstehen. Es ist gar nicht schlimm. ({3}) Das kann man in der Opposition. Das fällt kaum auf. Es stört auch keinen. ({4}) Es stört überhaupt nicht. Aber ich finde das schon bedauerlich. Wir stehen jetzt zehn Monate vor einer Bundestagswahl, und die SPD ist vollkommen im Wahlkampfmodus, bei allem. Sie haben einfach umgeschaltet. Statt jetzt zur Kenntnis zu nehmen, dass in solch schwierigen Zeiten, wie wir sie haben - in Europa, aber auch global; ich denke nur an das Thema „Zukunftschancen der jungen Generation“ - ({5}) - Immer wenn Sie mir geholfen haben, habe ich das auch gesagt. Das war gar kein Problem. Aber was ich heute hier gehört habe, ist für eine kreative bildungsoder wissenschaftspolitische Diskussion nicht gerade geeignet. ({6}) Ich nehme das alles jetzt so zur Kenntnis. In der GWK, der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, gibt es auf der A-Seite kluge Minister und Ministerinnen, die mir unter vier Augen sagen: Wir würden das gerne machen. Sie haben ja recht. Es ist wichtig, dass wir den Art. 91 b Grundgesetz ändern. Es ist wichtig, dass wir die Lehrerausbildung wechselseitig anerkennen und mit der Qualitätsoffensive beginnen können. Es ist wichtig, dass das, was vorgeschlagen wurde, durchgeführt werden kann. Aber wir befinden uns in einem Prozess, aus dem wir nicht ausbrechen dürfen. Wir müssen dies alles erst einmal ablehnen. ({7}) Das ist nicht gut für das Land und nicht klug in der politischen Auseinandersetzung. Das merken die Menschen. ({8}) Also, Sie sind im Wahlkampfmodus, spielen Verweigerung auf ganzer Linie. Ich nehme das zur Kenntnis. Wir werden die offenen Punkte überall ansprechen. Ich komme jetzt zum Art. 91 b Grundgesetz. Das länderoffene Gespräch hat stattgefunden. Es sind vier Prüfaufträge vergeben worden: zwei für die Länder, zwei für den Bund. In der letzten Woche habe ich im Vorfeld der GWK auf die Frage, wie es mit der Prüfung auf der Ebene der Länder aussieht, nur die Antwort bekommen: Wir waren bei den beiden Prüfaufträgen nicht sicher, was wir da prüfen sollten. Es braucht alles noch Zeit. Auf meine Frage, auf was sich die Länder, auf was sich die A-Seite und die B-Seite einigen könnten, gab es die Antwort: Sie wissen ganz genau, dass es keine Einigung auf der Ebene der 16 Länder gibt. Die einzig mögliche Einigung ist, dass der Bund Steuerpunkte abgibt und sich ansonsten heraushält. - Das kommt nicht infrage, weil das nichts mit Kooperation zu tun hat. ({9}) - Wir haben ein Angebot gemacht. Das betrifft die Änderung des Art. 91 b. ({10}) - Natürlich heißt das: für alle Hochschulen. ({11}) Seit wann sind bei Bundesprogrammen Hochschulen von vornherein ausgeschlossen? ({12}) - Das sagen Sie. Das ist Ihr schwaches, von Ihnen immer wieder wiederholtes Argument. Sie können noch so oft in Deutschland über Exzellenz wettern. Der Standort Deutschland braucht Exzellenz, sonst wird er irrelevant in der Welt. Sie wissen außerdem, dass Zentren für islamische Studien, Gesundheitsforschungszentren und vieles andere überhaupt nichts mit Exklusivität zu tun haben, sondern dringend notwendige Impulse in unserem Wissenschaftssystem setzen. ({13}) Das Etikett, dass ich nur eine Vorliebe für die Elite habe, habe ich schon so lange, dass es mich immer weniger stört. Wenn Sie sich den Haushalt anschauen - damit komme ich zum zweiten großen Projekt -, dann wissen Sie, dass er nicht mit Eliteprojekten bestückt ist. Die Position Hochschulpakt enthält zum Beispiel für das Jahr 2013 Mittel in Höhe von 1,8 Milliarden Euro 1,8 Milliarden Euro in einem einzigen Jahr zur Schaffung von Studienplätzen. Es sind, dieses Jahr einbezogen, in den vergangenen Jahren 500 000 neue Studienplätze an Hochschulen und insbesondere an Fachhochschulen entstanden. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Nein, ich werde keine Zwischenfragen zulassen. Nie war die Lust aufs Studieren so groß wie heute. Niemals zuvor hat eine Bundesregierung mit Unterstützung der sie tragenden Fraktionen so viel Geld in die Breite der Hochschulen, in die Grundfinanzierung der Hochschulen gegeben wie diese Bundesregierung. Nur, das Problem der Hochschulen ist doch nicht der Bund. Das Problem der Hochschulen ist, dass nahezu kein Land nachweisen kann, wie es die Kofinanzierung aufbringen will. ({0}) Wenn Sie den Hochschulen und den Studierenden in Deutschland etwas Gutes tun wollen, dann machen Sie Ihren Landesregierungen klar, dass sie die Gelder für die Hochschulen nicht kürzen dürfen, sondern erhöhen müssen, und zwar in dem Maße, wie es der Bund macht. ({1}) Tatsache ist - da brauchen Sie sich gar nicht so zu echauffieren -, dass wir ein eindeutiges Verfahren zwischen Bund und Ländern vereinbart haben. Ende des Monats gibt es die Schnellmeldung. Dann wissen wir, wie viele junge Leute tatsächlich im Wintersemester ihr Studium begonnen haben. Dann werden sich die Staatssekretäre treffen und ausrechnen, was das mit Blick auf bislang Geplantes bedeutet und ob eventuell zugelegt werden muss. Auch an dieser Stelle gibt es keinen graduellen, sondern einen fundamentalen Unterschied: Immer dann, wenn Schnellmeldungen ergeben haben, dass die Zahlen größer sind als prognostiziert, hat der Bund bei den Mitteln zugelegt, und zwar jedes Jahr. Allein im Haushaltsjahr 2013 gibt es gegenüber der ursprünglichen Planung ein Plus von 660 Millionen Euro. Der Bund hat jedes Jahr zugelegt, ({2}) die Länder aber nicht, und das ist schlecht, Herr Hagemann. ({3}) Wenn die Länder bei den Mitteln nie zulegen, dann führt das halt zu schwierigen Situationen an den Hochschulen. ({4}) Verweigerung führt zu gar nichts. Wir hätten in Deutschland eine Supersituation, wenn jeder in dem Bereich, in dem er Verantwortung trägt, dafür sorgt, dass das, was vereinbart wurde, auch eingehalten wird. Es gibt viele Länder, in denen Sie Verantwortung tragen. Deutschland könnte ein Bildungsparadies sein, wenn die Länder in diesem Bereich so viel wie der Bund tun würden. Kümmern Sie sich also darum! ({5}) Über die Zukunftschancen der jungen Generation haben wir in der letzten Debatte gesprochen. Sie wissen, dass wir in Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit haben. Sie wissen, dass andere Länder unsere duale Ausbildung übernehmen wollen. Sie wissen um die Reduzierung im Übergangssystem. Alle Zahlen sind bekannt. Jetzt zur Zukunft. Meine Partei wird in 14 Tagen einen Bundesparteitag abhalten. ({6}) - Was ich jetzt sagen will, könnte Sie schon interessieren, Frau Ziegler. Hören Sie mir doch einfach bis zum Ende des Satzes zu. - Dieser Bundesparteitag wird einen Beschluss fassen, in dem es heißt: Auch in Zukunft plus 5 Prozent für die Forschungsorganisationen in Deutschland. ({7}) Von Ihnen höre ich dazu überhaupt nichts. Die einen sagen: maximal 3 Prozent. Andere sagen wiederum: Das ist alles sowieso viel zu anstrengend. ({8}) - Lieber Herr Röspel, es zählen die Fakten, und es zählt die Akzeptanz. Politik besteht immer aus Sachgerechtigkeit und Akzeptanz. ({9}) Über beides können wir uns nicht beklagen. Wir haben eine Aufbruchsstimmung am Wissenschaftsstandort Deutschland. Es zeigt sich eine deutliche Verbesserung der Zukunftschancen der jungen Generation. Das ist ein wunderbares Fundament, um genau in dieser Konstellation in Deutschland weiter Politik zu machen. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollegin Agnes Alpers.

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Frau Schavan, Sie haben verschiedene Punkte angesprochen. Sie haben unter anderem gesagt, die Opposition leiste keine konstruktiven Beiträge und weigere sich, inhaltlich auf Art. 91 b einzugehen. Ich glaube, alle Oppositionsparteien hier im Bundestag haben ihren Beitrag dazu geleistet, das Kooperationsverbot aufzuheben und in eine Diskussion über ein Kooperationsgebot einzusteigen. Ein wesentlicher Vorschlag in diesem Zusammenhang ist - Stichwort Art. 104 b Grundgesetz -, nicht nur ein Kooperationsgebot für Hochschulen, sondern für die gesamte Bildung zu schaffen. Ich finde es bedauerlich, dass Sie auf diese konstruktiven Beiträge der Opposition mit keinem Wort eingegangen sind. Im Übrigen halte ich Ihre Ausrichtung auf die Bildung in diesem Diskussionsprozess insgesamt für bedenklich. Da wir heute bei den Haushaltsberatungen sind, bitte ich Sie, ein Angebot zu machen. Welche Chancen, Perspektiven sehen Sie und welche konstruktiven Vorschläge können Sie vorlegen, um das Kooperationsgebot auf Art. 104 b Grundgesetz auszuweiten? Sie argumentieren, wie so häufig, folgendermaßen: Wir bieten Zukunftschancen für alle. - Sie haben vorhin gesagt, dass Sie auf Ihrem nächsten Bundesparteitag beschließen wollen, im Haushalt 5 Prozent mehr für Hochschulen draufzulegen. Das waren Ihre Worte. Meine Frage ist: Was wollen Sie denn für die 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren, die ohne Ausbildung sind, drauflegen? Wo ist da Ihr Schwerpunkt? ({0}) Werden Sie dazu auf Ihrem Bundesparteitag Lösungswege aufzeigen und konkrete Vorschläge machen? ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Ministerin, wollen Sie reagieren?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Ich reagiere kurz. Erstens. Meine Angaben zum Bundesparteitag beziehen sich auf die jährliche Steigerung um 5 Prozent für sämtliche Forschungsorganisationen. Das ist ein zentraler Punkt. Zweitens. Der Hochschulpakt zwischen Bund und Ländern - das Angebot ist längst erfolgt - gilt bis 2020. Die dritte Phase wird dann entsprechend den Prognosen ausverhandelt. Drittens. Zur Frage, welches Angebot ich im Blick auf Art. 104 b mache: Wir reden hier nicht über mögliche Finanzhilfen in Notlagen, sondern wir reden über Kooperation. ({0}) Eine Kooperation zwischen Bund und Ländern lässt sich jedoch über Art. 104 b nicht regeln. Darum war mein Angebot und damit auch das Angebot der Bundesregierung an die Bundesländer: Erstens gehen wir den Schritt, bei dem offenkundig bei den 16 Ländern und dem Bund Konsens besteht; das betrifft die Wissenschaft. Zweitens schaffen wir analog zum Wissenschaftsrat einen Bildungsrat mit zwei Kammern, der zunächst den Auftrag erhält, Möglichkeiten für eine Kooperation im Bildungsbereich auszuloten. Ich bin dazu bereit, aber man muss darüber diskutieren. ({1}) Der Bildungsrat wird seitens der Länder jedoch abgelehnt. Es wird immer gesagt, es gehe alles nicht schnell genug. Aber es würde schneller gehen, wenn man sich nicht einfach nur verweigern würde. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, Frau Ministerin, Sie haben recht: Es herrscht eine Aufbruchstimmung bei Bildung und Forschung in unserem Lande. Die Zahlen stimmen, zumindest im Hinblick auf die wachsende Zahl der Studierenden. Dieser Erfolg ist aber nicht in den letzten drei Jahren vom Himmel gefallen, darüber sind wir uns sicherlich einig. ({0}) Das ist vielmehr ein Resultat der Arbeit von vielen Jahren, von unterschiedlichen Koalitionen, die das Ganze durchgesetzt haben. Ich schaue jetzt zu meinem Kollegen Klaus-Peter Willsch. In der Großen Koalition haben wir vieles von dem durchgesetzt, was heute Anwendung findet. Ich frage mich nur: Was gehört davon eigentlich zu den klassischen Projekten von Schwarz-Gelb? Da bleibt nicht sehr viel übrig. ({1}) Ich möchte noch einmal auf die Geschichtsklitterung, die hier vorgenommen worden ist, zurückkommen. Wie war denn die Situation, als Rot-Grün 1998/99 die Verantwortung übernommen hat? Wie viel Geld wurde da ausgegeben für Bildung und Forschung? Es waren 7,2 Milliarden Euro. Als Rot-Grün abgelöst wurde, war der Bildungshaushalt - hier muss man das Ganztagsschulprogramm hinzurechnen - auf fast 10 Milliarden Euro gesteigert worden. ({2}) Es war eine tolle Leistung - da können die Grünen jetzt ruhig mitklatschen -, ({3}) dass wir das geschafft haben, nachdem Herr Rüttgers weg war vom Fenster und wir endlich eine progressive Bildungs- und Forschungspolitik machen konnten. ({4}) Lieber Kollege Eckhardt Rehberg, ich möchte noch zu einem anderen Punkt Stellung nehmen. Sie haben vorhin gesagt, die jetzige schwarz-gelbe Koalition lebe davon, dass wir ein so gutes Wachstum haben. Ja, wir haben ein gutes Wachstum, wir hatten noch nie so viele Steuereinnahmen wie jetzt, nämlich 600 Milliarden Euro. Das ist richtig. Wir hatten aber auch noch nie so viele Schulden wie jetzt. ({5}) Da die Mehreinnahmen aus dem Wachstum für die Finanzierung Ihres Haushalts nicht reichten, ist die Verschuldung enorm gestiegen. Als Gerhard Schröder abgetreten ist, hatten wir eine Verschuldung von 68,5 Prozent, jetzt liegt die Verschuldung bei knapp 82 Prozent, nämlich bei 81,7 Prozent. Diese Koalition hat in den letzten drei Jahren für ein Mehr an Schulden in Höhe von 115 Milliarden Euro gesorgt. Auch das sollte man sagen. ({6}) Warum hat sich das Wachstum so gut entwickelt? Weil wir 2009 ein Konjunkturprogramm aufgelegt haben und weil wir die Regelungen für das Kurzarbeitergeld verbessert haben, um die Krise zu überwinden. ({7}) Bitte sagen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, dass Sie sozusagen noch heute davon leben. Das sollten Sie wirklich herausstellen. ({8}) Es wurde erwähnt, dass der Pakt für Forschung und Innovation eingeführt wurde. Herr Kollege Braun, Sie sitzen jetzt nicht mehr bei Ihrer Fraktion, sondern auf der Regierungsbank. Sie haben gesagt, Steinbrück, der damalige Finanzminister, habe für die Exzellenzinitiative keine Mittel in die mittelfristige Finanzplanung eingestellt. ({9}) Die Ministerin hieß damals aber Annette Schavan, lieber Herr Braun. ({10}) Sie hat nicht durchgesetzt, dass die Gelder in die mittelfristige Finanzplanung aufgenommen werden. Auch das sollten Sie sagen, Herr Braun. Ich komme nun auf die schwarz-gelben Projekte zu sprechen. Lieber Kollege Haustein, wir beide schätzen uns sehr; das möchte ich hier unterstreichen. Nichtsdestotrotz möchte ich das Deutschlandstipendium nennen, das die Süddeutsche Zeitung in ihrem gestrigen Kommentar als „teuren Flop“ bezeichnet hat. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ein weiteres Projekt von Schwarz-Gelb, das im Koalitionsvertrag steht - Frau Flach hat es immer wie eine Monstranz vor sich hergetragen -, nämlich die steuerliche Forschungsförderung, wurde klammheimlich beerdigt; man hört nichts mehr, man sieht nichts mehr. Die Wirtschaft ist ganz schön sauer. Das Bildungssparen ist schon einmal von Frau Schavan versenkt worden. Jetzt ist es wiederbelebt worden. Ich kann Herrn Meinhardt leider nicht für seine Rede in der Debatte über das Betreuungsgeld loben. ({11}) Aber die FAZ hat Sie für Ihre Rede gelobt. Es wurde in dem Artikel allerdings herausgestellt, dass diese Rede Ihnen bei der Kandidatenkür nicht geholfen habe, verehrter Herr Kollege Meinhardt. ({12}) - Ich habe zitiert, was in der FAZ steht. - Nur achten Sie bitte darauf, dass Sie nicht hinter die Fichte geführt werden, Herr Meinhardt. Ich habe nämlich gestern eine Frage zum Bildungssparen gestellt. In der Antwort wurde zum Fördervolumen, zu Fördervoraussetzungen und zu Einkommensgrenzen nichts gesagt. Man muss generell sagen: Bei Forschung und Bildung ist in den Haushalten viel Geld obendrauf gekommen. Das unterstützen wir; darüber freuen wir uns sehr; aber bei der Umsetzung hapert es doch immer wieder. Ich muss hier eigentlich nicht die immer gleichen Beispiele nennen, die zeigen, was nicht umgesetzt worden ist. Ich will nur das Beispiel „Qualitätspakt Lehre“ erwähnen: Da sind die Mittel zwar zu 97 Prozent belegt. Aber es hapert noch daran, dass das Geld auch wirklich in die Universitätskassen und Hochschulkassen fließt: Es sind erst 44,3 Prozent der Mittel dorthin ausgezahlt worden. Meine Damen und Herren, ich greife noch einmal das Deutschlandstipendium auf. 20 Millionen Euro Bildungsmittel wurden nicht abgerufen und fließen an den Finanzminister zurück. Der Kommentator der Süddeutschen Zeitung schreibt, ({13}) dass sich ein Staat zwar das Stipendiensystem für die Besten leisten könne. Dann sagt er aber richtigerweise: Seine Kernaufgabe - also die Kernaufgabe des Staates muss es aber sein, nicht nur die Besten zu fördern, sondern auch diejenigen, die sich Bildung erst erkämpfen müssen. ({14}) Für den Aufstieg durch Bildung - das sei dazu gesagt - wurde beim BAföG nichts getan; nicht einmal einen Inflationsausgleich hat es gegeben. ({15}) Der Baransatz ist verringert worden. Mich hat am meisten geschockt, lieber Kollege Rehberg, was ihr in der Bereinigungssitzung nachts um halb eins oder halb zwei noch vorgelegt habt: ({16}) Erstens wurde die globale Minderausgabe um 30 Millionen Euro heraufgesetzt. Das heißt, dass 30 Millionen Euro zusätzlich einzusparen sind. Darüber hinaus wurde beim Meister-BAföG - auch das möchte ich erwähnen eine Streichung von 11,5 Millionen Euro vorgenommen. Meine Damen und Herren, das sind Mittel, die gerade bei der Finanzierung eines Aufstiegsstudiums fehlen. Das ist heftig zu kritisieren. ({17}) Lassen Sie mich beim Stichwort „Schlecht und schleppend umgesetzt“ den Fall der acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, ansprechen, der im Rechnungshofbericht erwähnt wird. Frau Ministerin, hier kam es in Ihrem Haus zu Kontrollversagen und Aufsichtsversagen. Sonst hätte der Rechnungshof in seinen Bericht nicht geschrieben, ({18}) dass hier Mittel für Partys im China Club - ich wusste gar nicht, was das ist - zur Verfügung gestellt worden sind. Sowohl die Vergabe von Aufträgen als auch die Abrechnung von Reisekosten werden kritisiert. Ich bin froh und dankbar, dass der Berichterstatter im Rechnungsprüfungsausschuss, Kollege Fischer, für nächste Woche zu einem Berichterstattergespräch eingeladen hat, um diese Fragen zu klären. Denn so kann man das nicht stehen lassen. ({19}) Sie haben gesagt, wir würden nur lamentieren, Frau Ministerin. ({20}) Nein, wir sind ganz guter Stimmung. ({21}) Frau Ministerin, Sie wollen auf Ihrem Bundesparteitag entsprechende Beschlüsse fassen. Wir haben bereits konkrete Anträge in den Bundestag eingebracht. Jedes Jahr sollen 2 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgeben werden. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht: angefangen bei der Bildung der Kleinsten, über Ganztagsschulprogramm, Berufsbildung, Studium bis hin zur Weiterbildung. Was haben Sie mit den von uns unterbreiteten Vorschlägen gemacht? Sie haben sie einfach mit der Mehrheit der Koalition weggewischt. Das ist doch kein Aufbruch! Wir hingegen haben konkrete Vorschläge vorgelegt. Das zeigt: Wir lamentieren nicht, sondern wir tun zukunftsorientiert etwas für die Bildungsrepublik. Das möchte ich noch einmal unterstreichen. ({22}) Warum wollen Sie in Art. 91 b GG nicht auch die Unterstützung für die Schulen aufnehmen? Wir hatten ein gutes Ganztagsschulprogramm. Warum soll das jetzt nur über Winkelzüge möglich sein? Wir sollten die Schulsozialarbeit unterstützen. Sie sehen: Unsere Forderung geht etwas weiter als das, was Sie vorgetragen haben. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2008 haben Bund und Länder das ehrgeizige Ziel vereinbart, die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015 auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben: 7 Prozent für Bildung und 3 Prozent für Forschung. Das war ein ehrgeiziges Ziel. Wie wir heute gehört haben, sind gerade SPD und Grüne schnell dabei, wenn es darum geht, sich ambitionierte Ziele zu stecken. Für meine Fraktion, für unsere Koalition kann ich sagen: Wir stecken uns nicht nur Ziele, sondern wir setzen diese Ziele auch tatsächlich um. ({0}) Im Moment liegen der Anteil für Bildung bei 7 Prozent und der Anteil für Forschung bei 2,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. ({1}) - Herr Hagemann, die Zielmarke von 10 Prozent wird erreicht, weil die Schwerpunktsetzung unserer Politik auf Bildung und Forschung gerichtet ist. ({2}) Dieses Ziel werden wir daher eher erreichen, als Sie sich das hätten träumen lassen. Unser Haushalt für Bildung und Forschung 2013 ist ein Zeichen für unsere erfolgreiche Politik. Ich nenne diese Zielmarke, weil es hier manchmal zu Verwechslungen kommt. Mit Ausgaben für Bildung und Forschung sind nicht nur öffentliche Gelder, sondern auch private Investitionen gemeint. Das ist ganz wichtig. ({3}) Da wir gerade von privaten Investitionen sprechen: Sie sind eben wieder auf dem Thema Deutschlandstipendium herumgeritten. Bevor wir damals überhaupt losgelegt haben, hatten Sie es schon für tot erklärt. Gerade eben haben Sie es wieder getan. Selbst jetzt, wo das Deutschlandstipendium von den Studierenden an den Universitäten und auch von der Gesellschaft immer besser angenommen wird ({4}) und sich die Zahl der Stipendien verdoppelt hat, tun Sie so, als wäre nichts geschehen. Das Deutschlandstipendium ist ein Erfolg, und es wird auch ein Erfolg bleiben. ({5}) Es ist vor allem deswegen ein Erfolg, weil es zu mehr privaten Investitionen in Bildung führt; denn beim Deutschlandstipendium - das muss man begreifen - geht es nicht nur um Zahlen, sondern wir leiten damit einen Kulturwandel hin zu einer völlig neuen, modernen und auch international geprägten Stipendienkultur ein. ({6}) Am Ende werden wir deutlich über dem geplanten 10-Prozent-Ziel liegen. Noch eine Bemerkung zur acatech, lieber Kollege Hagemann. Sie haben die Zahlen genannt. Wir werden Dr. Martin Neumann ({7}) darüber reden. Aber klar ist auch: Das fällt zum großen Teil in die Zeit, in der Sie Verantwortung getragen haben. ({8}) Lassen Sie mich zum Einzelplan 30 Folgendes sagen: Wir werden uns an diesem Haushalt messen lassen. Das sage ich mit Stolz. Denn es zeigt, dass diese Koalition erfolgreich ist. Wir haben in den letzten drei Jahren im Bereich Bildungs- und Wissenschaftspolitik einen unendlich großen Fußabdruck hinterlassen. Die Zielsetzungen, die wir angehen, sind eindeutig zukunftsfähig, und zwar nicht nur in qualitativer oder quantitativer Hinsicht. Wir haben auch etwas tatsächlich Neues auf den Weg gebracht. Herr Hagemann, Sie hatten gerade bemängelt, dass wir nichts Neues auf den Weg gebracht hätten. Ich will an dieser Stelle einmal unseren Haushalt, auch hinsichtlich der Struktur, mit dem Haushalt von 2005 vergleichen, dem letzten Haushalt, den Rot-Grün zu verantworten hatte - daran müssen Sie sich messen lassen -: Ich glaube, dass dieser Haushalt eine klare Handschrift trägt. Eine solche Handschrift hatte der Haushalt 2005 eben nicht. ({9}) Ich erinnere beispielsweise an die voneinander getrennten Förderbereiche Biotechnologie, Biomedizin, Gesundheit und Medizin - alles stand für sich. Auch im Bereich der Nanoelektronik haben Sie die Förderschwerpunkte voneinander getrennt: Nanomaterialien, optische Technologien und andere. Ich könnte diese Liste unendlich fortführen. Der Haushalt 2005 war das Abbild einer orientierungslosen Politik. Das war eine Zusammenstellung von Einzelpunkten, ohne Struktur und ohne klare Zielrichtung. ({10}) Was haben wir jetzt gemacht? Wir haben die Forschungsförderung auf wesentliche Programme konzentriert. Wir haben die Forschungsbereiche auf eine Mission ausgerichtet: für die Gesellschaft, für die Wirtschaft und für die Menschen. ({11}) Wir haben zum Beispiel das vorher nur in Ansätzen existente Rahmenprogramm Biotechnologie weiterentwickelt. Heute haben wir - das kann man nachlesen, Herr Röspel - mit der Nationalen Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030 ein substanzielles Programm. ({12}) Wir haben Ihre vergleichsweise magere Förderung der biomedizinischen Forschung in einem völlig neuen, von uns gestalteten Rahmenprogramm Gesundheitsforschung weiterentwickelt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das 2010 aufgelegte Rahmenprogramm Gesundheitsforschung übersteigt mit seinem Fördervolumen von 5,5 Milliarden Euro eindeutig das, was Sie 2005 gemacht haben. ({13}) Mit der Gründung von fünf Gesundheitszentren im Rahmen dieses Programms haben wir die Gesundheitsforschung deutlich - ich sage: deutlich - optimiert, ({14}) hin zu einer besseren medizinischen Behandlung der Volkskrankheiten und hin zu einer gesteigerten Lebensqualität. Wir haben in dieser Legislaturperiode - daran haben auch Sie einen Anteil - die Hightech-Strategie 2020 zum Erfolg geführt. ({15}) - Ich sagte es ja: Daran waren Sie beteiligt; das ist völlig klar. - Aber wir haben aus der Hightech-Strategie ein Gesamtkonzept gemacht; denn man muss den komplexen Zusammenhang zwischen Forschung, Innovation und Technologie sehen. ({16}) Die christlich-liberale Koalition hat die Hightech-Strategie auf fünf zentrale, globale Herausforderungen zugeschnitten. ({17}) Es war die christlich-liberale Koalition, die den Schwerpunkt der Hightech-Strategie auf die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen gelenkt hat. Dafür, meine Damen und Herren von der Opposition, dürfen Sie uns ruhig loben. Ich könnte die Liste beliebig fortführen. Ich denke nur an die Bündelung im Bereich der Nanotechnologie, den sogenannten Aktionsplan Nanotechnologie 2015, oder an das Rahmenprogramm „Forschung für die zivile Sicherheit“ oder an das Programm zum demografischen Wandel mit dem Thema „Das Alter hat Zukunft“. Die Erfolge dieser Koalition sind sichtbar. Sie sind allerdings für diese Erfolge blind. Am Ende wird man immer zum gleichen Ergebnis kommen: Unter Ihnen wäre das Haushaltsvolumen bei 7,6 Milliarden Euro geblieben und immer noch eine Sammlung von vielen Einzelmaßnahmen. ({18}) Wir haben den Haushalt über die Forschungsprogramme hinaus maßgeblich neu geprägt, unter anderem durch das Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Wir haben der Forschung per Gesetz mehr Freiraum gegeben. Dr. Martin Neumann ({19}) ({20}) Wir haben vor allen Dingen - das ist wichtig - den Wissenschaftlern mehr Vertrauen entgegengebracht und ihnen mehr Verantwortung übertragen, ({21}) damit die Forschungseinrichtungen nicht nur mehr Geld haben, sondern dieses auch besser einsetzen können; denn wir wissen, dass es in der Wissenschaft vor allem darauf ankommt, dass das Geld zielorientiert ausgegeben wird. Wir wollen mit der Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes die rechtliche Grundlage dafür schaffen, dass sich der Bund in Kooperation mit den Ländern an der Finanzierung der Hochschulen beteiligt, damit das Geld zielgerichtet ausgegeben werden kann. Bislang haben die Länder im Bundesrat - das richte ich gerade an die Adresse von SPD und Grünen - eine solche Änderung abgelehnt. Machen Sie doch diesen Schritt! Er ist wichtig, auch für unsere Hochschulen. ({22}) Mit dieser Haltung konterkarieren Sie jede Kritik, die Sie heute zur Hochschulpolitik und zum Haushalt geäußert haben. Wenn es Ihnen tatsächlich um die Wissenschaft und den sinnvollen Einsatz von Finanzmitteln geht, dann bewegen Sie doch endlich Ihre Kollegen in den Ländern zum Umdenken. Anderenfalls - das ist meine Schlussbemerkung - disqualifizieren Sie sich für die Übernahme von Verantwortung in der Wissenschaftspolitik. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Arfst Wagner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Arfst Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004225, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mein Manuskript in die Tonne treten, weil Sie mich in der Diskussion so angeregt haben, dass ich darauf gar nicht zurückgreifen möchte. Ich komme von der Nordseeküste; da geht es meistens stürmisch zu. Ich wünsche mir aber in der Bildungsdebatte ein wenig von der Sensibilität, die wir in der vorangegangenen Debatte über die Beschneidung erlebt haben. Wir müssen uns immer bewusst machen, wer eigentlich unsere Auftraggeber und Auftraggeberinnen in der Bildung sind. Wenn ich Schülerinnen und Schülern diese Frage stelle, dann antworten sie unsicher: Das Kultusministerium? Darauf frage ich: Habt ihr noch eine andere Antwort? Dann kommt vielleicht von einem bescheidenen Mädchen aus der letzten Reihe die Antwort: Meine Mutter? Dann sage ich: Geht es nicht ein bisschen genauer? Aber sie kommen in der Regel nicht auf die richtige Antwort, sodass ich als Lehrer meistens sagen muss: Jetzt bin ich enttäuscht von euch. Das seid doch ihr. Bei der Gewichtung der bisherigen Debatte habe ich als Pädagoge - ich war bis vor einem halben Jahr Lehrer bemerkt, dass viele Kolleginnen und Kollegen den Schwerpunkt des Bildungsbegriffes am Ende des Bildungsprozesses sehen. Er liegt eher bei der Forschung oder bei dem Thema, mit dem ich jetzt im Ausschuss besonders befasst bin, nämlich bei der Qualifikation und insbesondere bei der Berufsqualifikation. Wir müssen uns aber klarmachen, dass der Bildungsbegriff viel weiter gefasst ist und dass dabei nicht nur eine Rolle spielt, wie wir junge Menschen auf den Beruf vorbereiten - das ist sicherlich wichtig, und auch ich werde das wichtig nehmen, weil es meine Aufgabe ist -, sondern dass Bildung ein umfassendes Menschenbild erfordert. ({0}) Nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen sowie die Frage, ob wir den Menschen von seiner Qualifikation her so vorbereiten, dass er in seinem Beruf funktionieren kann, sind wichtig. Nicht die Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt, sondern die Bildung zum ganzen Menschen ist zuallererst wichtig. ({1}) Das erfordert natürlich eine Umstrukturierung der Bildung. Darüber sollten wir alle in den nächsten Jahren sehr viel nachdenken. Wir sollten vielleicht parteiübergreifend einen Bildungsprozess anstoßen, der die Bildungsrepublik Deutschland wahr werden lässt. Auch in der Debatte über Europa müssen wir die kulturelle Bildung der Kinder und Jugendlichen sowie der Erwachsenen noch viel stärker ins Auge fassen. Europa ist bisher in den bundesdeutschen Schulen so gut wie gar nicht angekommen. Das muss geändert werden. ({2}) Es geht nicht nur um berufliche Qualifikation, sondern auch darum, dass junge Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Emotionen auszudrücken und eine Sprache für die Dinge zu finden, die sie bewegen, ob sie gut träumen oder eine gute Verdauung haben, ob sie vielleicht von Wut erfüllt sind und von unterdrückten Begierden bestimmt werden. Das sind Themen, die in der Bildung eine genauso wichtige Rolle spielen. Wie wir alle wissen, ist die heutige Welt komplex. Wenn ich so etwas sage, spreche ich nicht gegen eine vernünftige Vorbereitung auf einen Beruf. Wir müssen auch in der Migration Wege finden, offensichtliche Ungereimtheiten in der internationalen Verknüpfung der Qualifikationen zu begradigen. Wenn zum Beispiel die Qualifikation eines russischen Krankenpflegers in Deutschland nur deshalb nicht anerkannt wird, weil er zwei Jahre zu lange studiert hat, ist das völlig absurd. Er hat fünf Jahre gelernt - hier sind nur drei Jahre erforderlich -, und dann wird das nicht anerkannt. Eine Vergleichbarkeit funktioniert leider nicht einmal in unserem Bachelor-/Master-System länderübergrei25478 Arfst Wagner ({3}) fend. Auch da müssen wir schauen, dass das System evaluiert wird und dass wir erst einmal innerhalb Deutschlands die Begradigung der Ausbildung innerhalb der Bachelor-/Master-Studiengänge hinbekommen. Das müssen wir unbedingt vorantreiben; denn wenn wir es nicht schaffen, die Menschen von der inneren Mobilität her auf die äußere geforderte Mobilität vorzubereiten, verlieren wir erst einmal menschliches Kreativpotenzial. Wir verlieren aber auch für die Volkswirtschaft Fähigkeiten; denn jeder Mensch, bei dem es nicht gelingt, dessen Kreativpotenzial entsprechend zu fördern, belastet letztlich sogar die Volkswirtschaft. Es ist einfach zu teuer, nicht entsprechend in die Bildung zu investieren, um diese Dinge auch im Hinblick auf den erweiterten Bildungsbegriff in Angriff zu nehmen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Arfst Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004225, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Ende. Vielleicht habe ich aber einen kleinen Sonderbonus von zehn Sekunden. - Das als Schluss: Ich habe gestern eine Mail von einem Studenten bekommen, der sein Studium selber finanziert. Er wird jetzt 30. Die Krankenversicherung fällt weg, und das BAföG fällt weg, weil er innerhalb des Bachelor-/Master-Systems studiert. Er fragt mich: Soll ich lieber arbeitslos werden? Das ist für den Staat viel teurer, als wenn er mir ein anständiges BAföG bezahlt, ich in einem Jahr 50 000 Euro verdiene und dann anständig Steuern zahlen kann. Insofern: Bitte, BAföG-Erhöhung sofort! - Das möchte ich zum Schluss sagen. Das nächste Mal mehr. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Wagner, Sie haben einen Bonus von 100 Sekunden bekommen, weil das heute Ihre erste Rede war. Gratulation und alles Gute für die weitere Arbeit! ({0}) Jetzt hat Michael Kretschmer für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({1})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon so: Die Zahlen, die wir im Rahmen des Haushalts zu besprechen haben, sind beeindruckend. Viel spannender aber sind die Geschichten hinter den Zahlen bzw. hinter dem Geld. Das sind Geschichten, die lauten beispielsweise wie folgt: Als ich in den Deutschen Bundestag kam, hatte eine rot-grüne Regierung hier Verantwortung. Da wurden die Haushalte für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen überrollt. In den Gesichtern der Präsidenten und der Institutsleiter konnte man lesen, dass sie nicht wussten, wie es weitergeht; denn wenn man einen Haushalt bei steigenden Kosten überrollt, heißt das eben nicht, dass alles wie bisher weiterläuft, sondern es gibt einen Abbruch. Das haben wir - durch 3 Prozent und jetzt 5 Prozent kontinuierlichen Aufwuchs - beendet. Das war eine ganz wichtige Maßnahme. ({0}) Wir haben eine Veränderung des Personalrechts erlebt. Sie beinhaltete eine Befristung, die dafür gesorgt hat, dass viele, die sich engagiert haben und in den Instituten wichtige Funktionen hatten, auf einmal vor dem Ende ihrer Karriere standen. Wir haben das Arbeitsrecht für die Wissenschaft verändert und damit viele Karrierechancen verbessert. Wir haben durch mehr Geld und starke Aufwüchse Karrierechancen für junge Leute eröffnet. Durch Planbarkeit haben wir bei den Familien dieser jungen Wissenschaftler viel Sicherheit erreicht. In der Krise haben wir in Bildung, Forschung und Wissenschaft investiert. Damit haben wir den Grundstein dafür gelegt, dass die deutsche Wirtschaft heute besser dasteht, dass wir mehr Steuereinnahmen haben und dass die Lebenschancen der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland um ein Vielfaches besser sind als in allen anderen europäischen Ländern. Das, was sich hinter diesen Zahlen verbirgt, ist ein großartiger Erfolg. ({1}) Wir haben, als ich vor zehn Jahren in den Deutschen Bundestag kam, eine Diskussion darüber geführt, dass die wirklich besten Wissenschaftler nicht nach Deutschland, sondern nach Amerika gegangen sind. Heute haben wir die Situation, dass die Topleute aus Stanford, aus Oxford und aus Harvard an Institute und Hochschulen in Deutschland möchten, weil sie hier mehr Chancen sehen; denn hier wird noch investiert und nicht gekürzt. Das ist das Ergebnis unserer Politik. ({2}) Ich finde es sehr traurig, dass die Vertreter zweier großer Parteien, die früher in der Wissenschaft ein Standing hatten, SPD und Grüne, ({3}) und auch der eine oder andere von den Linken, der in der Wissenschaftspolitik schon ordentlich Staub gewischt hat, heute hier Reden gehalten haben, die derart ärmlich waren, wie es gar nicht schlimmer sein konnte. ({4}) Sie haben auch durch Ihr Verhalten in der Frage der Grundgesetzänderung und durch die bereits angesprochene Blockade in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz und der Kultusministerkonferenz so viel Ansehen verloren, ({5}) dass es auch für uns als Unionspolitiker traurig ist, dies zu beobachten. ({6}) Ich sage noch einmal ganz deutlich: Wir können, wir wollen und wir werden nicht einfach Geld an die Länder geben; denn, Kollege Hagemann, das Land, aus dem Sie kommen, hat mit dem Nürburgring ({7}) das beste Beispiel dafür geliefert, warum man das nicht tun darf. ({8}) Über andere Länder liest man in der Zeitung, dass sie ihre Mittel für den Hochschulpakt kürzen, weil der Bund ja das Geld gibt. Sie stehlen sich damit aus der Verantwortung. So kann es nicht funktionieren. ({9}) Wir haben hier als Bundespolitiker, als Forschungspolitiker und Wissenschaftspolitiker eine Verantwortung für das Gesamtsystem. Das Wissenschaftssystem in einem föderalen Land besteht nun einmal aus zwei kommunizierenden Röhren. Das heißt, wenn wir mehr Geld hineingeben und andere mehr herausnehmen, dann ist am Ende nicht mehr, sondern im Zweifel sogar weniger da. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen darauf bestehen, dass unser Geld ordentlich eingesetzt wird und dass wir Kontrolle darüber haben, was damit passiert. ({10}) Wir tun schon heute viel. Der Bundesrechnungshof hat es in seinem letzten Bericht dargestellt: 20 Prozent unseres Einzelplans umfassen Ausgaben an die Länder. 12 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt fließen für Bildung und Wissenschaft an die Länder. Das ist eine gewaltige Leistung. ({11}) Dies zeigt auch, dass Kooperation möglich ist. Wer mehr möchte, muss bereit sein, der Änderung von Art. 91 b des Grundgesetzes zuzustimmen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Mit jedem Tag, den Sie diese notwendige Maßnahme im Bundesrat blockieren, verlieren Sie Ansehen bei den Wissenschaftlern, bei den Studenten, bei allen Menschen, die dies beobachten. Ich kann Ihnen nur sagen: Hören Sie auf mit diesem Spiel! Sie schaden sich in einem unglaublichen Maße. ({12}) Damit schaden Sie auch dem Wissenschaftsstandort Deutschland. Wir haben eine ganze Menge vor. Wir haben nach dem Auslaufen der Exzellenzinitiative die Notwendigkeit, etwas zu tun, und wir sind auch bereit, in Zukunft entsprechend Verantwortung zu übernehmen. ({13}) Aber dies tun wir nur unter der klaren Voraussetzung, dass wir die Kontrolle haben. Deswegen ist diese Grundgesetzänderung so wichtig. Wir lassen uns - auch das will ich sagen - nicht aufhalten und blockieren. ({14}) Es gibt eine ganze Reihe möglicher Kooperationen. Die Beispiele KIT sowie Max-Delbrück-Centrum und Charité sind in dieser Debatte schon genannt worden. ({15}) Wir werden weitere Kooperationen zwischen außeruniversitärer Wissenschaft und Hochschulen finden. Damit zeigen wir einmal mehr, wie wichtig und wie ernst Union und FDP dieses Thema ist. Mit jeder weiteren Kooperation wird deutlicher werden, dass die Grundgesetzänderung richtig und sinnvoll ist. ({16}) Es ist natürlich wesentlich komplizierter, den Weg über Fraunhofer-, Max-Planck-, Leibniz- oder Helmholtz-Institute zu gehen, als direkt zu sagen: Dieser exzellente Bereich einer Hochschule, diese Graduiertenschule an einer Universität soll von uns unterstützt werden. Sie kommen mit jedem Tag mehr unter Druck. Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Hören Sie auf mit diesem Spiel! Sie haben das nicht nötig. ({17}) Der Haushalt setzt Akzente für die neuen Bundesländer. ({18}) Ich bin stolz darauf. Wir haben nach der Wiedervereinigung eine schwierige Situation gehabt, zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Auch heute gibt es noch in weiten Teilen Probleme. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Ost und West. Dieses Ministerium ist ein wirkliches Aufbau-OstMinisterium. In den letzten 10, 15 Jahren hat es kontinuierlich investiert. ({19}) Mit dem neu aufgelegten Programm „Zwanzig20 Partnerschaft für Innovation“ wird jetzt noch einmal ein deutlicher Akzent gesetzt. Ich bin sehr dankbar dafür, Frau Bundesministerin, dass auch Sie persönlich hier einen Schwerpunkt gesetzt haben. Die Resonanz bei Wissenschaftlern, bei Politikern in den neuen Bundesländern und bei der Wirtschaft zeigt, dass dieses Signal ankommt. Ich erhoffe mir davon einen Schub für mehr Arbeitsplätze und mehr Chancen. Gut, dass wir die Kraft dazu aufbringen! ({20}) Zum Thema Stipendien und zum Stipendienprogramm ist schon einiges gesagt worden. Ich will, da Sie die Süddeutsche Zeitung zitiert haben, nur darauf hinweisen: Selbst der Spiegel kommt zu der Erkenntnis, dass es nichts Unredlicheres gibt, als das Stipendienprogramm mit dem BAföG zu vergleichen: erstens, weil die Größendimensionen - 2 bis 3 Milliarden Euro beim BAföG, wenige Millionen Euro beim Stipendienprogramm - überhaupt nicht zusammenpassen; zweitens, weil wir das BAföG in einem noch nie dagewesenen Umfang erhöht haben; ({21}) drittens, weil es in der Sache richtig ist, dafür zu sorgen, dass dieses Land, das keine Stipendienkultur kennt, jetzt endlich einen Schritt vorankommt. Sie sollten darüber nicht klagen, sondern sich selbst einbringen. Nehmen Sie ein bisschen Geld in die Hand, und vergeben Sie ein Stipendium! Die Leute werden Ihnen dankbar dafür sein. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bin am Schluss. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Swen Schulz für die SPD-Fraktion. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe diese Debatte mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgt: mit einem lachenden Auge, weil der Haushalt für Bildung und Forschung in der Tat erhebliche Steigerungen erfährt - das ist gut, und das unterstützen wir -, mit einem weinenden Auge, weil die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition, so mein Eindruck, auf einem verdammt hohen Ross sitzen. ({0}) Da wird sogar dreiste Geschichtsklitterung betrieben, um darstellen zu können, wie großartig gerade die Koalition gewesen sei. Ich will daran erinnern, dass Rot-Grün den Haushalt für Bildung und Forschung nach der Kohl-Ära erst aus dem Keller holen musste. Das BAföG, Kollege Kretschmer, war eine Ruine. Wir mussten es unter RotGrün erst wieder aufbauen. ({1}) Ich will auf die Diskussion über die Eigenheimzulage zu sprechen kommen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran: Rot-Grün hatte vorgeschlagen, die Eigenheimzulage zu streichen und die frei werdenden Mittel für Bildung und Forschung zu verwenden. CDU, CSU und FDP haben das im Bundesrat blockiert und verhindert. Erst in der Großen Koalition hat es die SPD geschafft, CDU und CSU davon zu überzeugen, dass es der richtige Weg ist, in die Köpfe statt in Beton zu investieren. ({2}) Diesen Weg sind wir gegangen. Durch die Streichung der Eigenheimzulage haben wir, jährlich steigernd, dafür gesorgt, dass heute pro Jahr über 6 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung zur Verfügung stehen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, sind Sie sich wirklich sicher, dass die Eigenheimzulage gestrichen worden ist?

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich bin ich mir sicher. Dabei haben Sie mitgemacht. Ich kann Ihnen das gerne im Protokoll zeigen. ({0}) - Ist das jetzt ein Zwiegespräch? - Auf diese Art und Weise sind 6 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und Forschung mobilisiert worden. Wenn ich mir die Steigerung der Haushaltsmittel von 2005 bis jetzt ansehe - auf den Haushaltsplan 2013 sind Sie ja so stolz -, stelle ich fest: Genau diese zusätzlichen 6 Milliarden Euro veranschlagen Sie jetzt. Wissen Sie, wie man das beim Fußball nennt? Das ist ein Abstaubertor. ({1}) Ich finde, Sie sollten sich, anstatt hier großkotzig aufzutreten, lieber für Ihre damalige Blockade, als es um die Streichung der Eigenheimzulage ging, entschuldigen Swen Schulz ({2}) und sich bei der SPD bedanken, dass wir den Weg dafür bereitet haben, dass Sie überhaupt einen solchen Haushalt vorlegen können. ({3}) Das ist von Ihnen aber nicht zu erwarten, weil Sie, wie gesagt, auf einem sehr hohen Ross sitzen. Ich will jetzt einen Blick in die Zukunft werfen. Die Zukunft sieht tatsächlich nicht besonders gut aus. Das Ross Bildung und Forschung ist von dieser Koalition auf Diät, auf Magerkost gesetzt worden. Um das zu sehen, reicht ein Blick in die mittelfristige Finanzplanung: Die Bundesregierung plant, dass die Ausgaben für Bildung und Forschung wieder sinken - natürlich erst nach dem Bundestagswahljahr 2013 -, und zwar bis 2016 um über 0,5 Milliarden Euro. Wenn wir Frau Schavan und ihre Staatssekretäre fragen, wie sie sich das vorstellen, bekommt man die Antwort: Na ja, machen Sie sich mal keine Sorgen! Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Das mit der mittelfristigen Finanzplanung muss man alles nicht so ernst nehmen. Ihre Chefin, Frau Schavan, die Bundeskanzlerin Merkel, sieht das vollkommen anders. Gestern in der Haushaltsdebatte hat sie stolz und klar gesagt, wie wichtig die mittelfristige Finanzplanung ist - ich zitiere -: 2016 - das können Sie der mittelfristigen Finanzplanung entnehmen - wollen wir die Neuverschuldung auf null geführt haben. Gegen dieses Ziel haben wir nichts - aber doch nicht auf Kosten der Zukunft, nicht auf Kosten von Bildung und Forschung! ({4}) Die Auswirkungen der bevorstehenden Kürzungen spüren wir schon jetzt schmerzhaft, weil Frau Schavan gar nicht die Möglichkeit, das Mandat, die Erlaubnis hat, irgendwelche Finanzierungszusagen zu geben. Wie ist es zum Beispiel mit dem BAföG? Seit Januar liegt der BAföG-Bericht vor. Wo ist der Vorschlag der Regierungskoalition, das BAföG anzuheben? Fehlanzeige. Auch beim Hochschulpakt gibt es dringenden Handlungsbedarf. Die Entscheidung ist von Frau Schavan auf April 2013 verschoben worden. Mal schauen, was Ihnen bis dahin noch so einfällt. Frau Schavan, Sie haben in Ihrer Rede wieder darauf verwiesen, mit den Ländern sei es schwierig ({5}) und die Verantwortung liege schließlich bei den Ländern. Das alles sind Nebelkerzen, Sie spielen auf Zeit. Die Wahrheit ist: Die mittelfristige Finanzplanung gibt definitiv nichts anderes her. ({6}) Frau Schavan, damit keine Missverständnisse entstehen: Ich will Ihnen das nicht persönlich vorwerfen. Die Verantwortung für diese Blockade in der Bildungspolitik liegt bei der Bundeskanzlerin; ihr können wir das sehr wohl vorwerfen. Was Frau Merkel unter der Bildungsrepublik Deutschland versteht, hat sie gestern in der Haushaltsrede sehr deutlich gesagt: Sie will nicht nur bei der Bildung kürzen, sie verteidigt auch das irrsinnige Betreuungsgeld. Man kann es nicht häufig genug sagen: Das Betreuungsgeld ist erstens bildungsfeindlich, und zweitens fehlt das Geld, das für das Betreuungsgeld ausgegeben wird, an anderer Stelle, nämlich bei der Bildung. Dort wird es dringend benötigt. ({7}) Ein weiterer wichtiger Punkt: Bundeskanzlerin Merkel hat einer Streichung des Kooperationsverbotes in der Bildung eine klare Absage erteilt. Übersetzt bedeutet das: Frau Merkel will nichts für die Schulen tun. ({8}) Wir wollen ein zweites Ganztagsschulprogramm. Das erste hat Rot-Grün auf den Weg gebracht. Es hat eine Menge bewirkt. Jetzt wollen wir einen weiteren Schritt machen: Wir wollen einen Rechtsanspruch auf einen guten Ganztagsschulplatz, und zwar überall in Deutschland, schaffen. Dafür müssen wir das Grundgesetz ändern. Frau Merkel lehnt das ab. ({9}) Wir wollen gleiche Chancen und optimale Förderung für alle Schüler, egal wo sie herkommen, egal aus welcher Familie sie stammen, egal wie viel Geld in ihrem Elternhaus vorhanden ist. Das ist der richtige Weg. Ihr hohes Ross, Frau Schavan, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein lahmer, schwindsüchtiger Gaul, mit dem Sie bei der Bundestagswahl 2013 noch über die Ziellinie zu kommen versuchen. Das reicht nicht aus. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in der Debatte erteile ich Kollegen Albert Rupprecht für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin Schavan, Sie haben die Redebeiträge insbesondere von Frau Gohlke - die jetzt mit Telefonieren beschäftigt ist - und von Herrn Röspel als Lamentieren bezeichnet. Ich möchte die Kritik noch ein Stück schärfer formulieren: Hier wurde der Bildungsstandort Deutschland diskreditiert. Damit schadet die Opposition unserer gemeinsamen Sache. ({0}) Albert Rupprecht ({1}) Dass in der Haushaltsdebatte hingelangt wird und die kritischen Punkte auch zugespitzt werden, ist normal. Ein Zerrbild zu zeichnen, schadet jedoch unserer gemeinsamen Sache. Was ist die Realität? Die Realität ist, dass noch nie in der Geschichte Deutschlands die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes einen derart hohen Ausbildungsstand, ein derart hohes Ausbildungsniveau hatten wie im Jahr 2012. ({2}) Schauen Sie sich die Zahlen an: 86 Prozent der Deutschen haben entweder eine abgeschlossene Berufsausbildung, die Hochschulreife oder einen Hochschulabschluss. Das ist im internationalen Vergleich herausragend. Das gab es in Deutschland in dieser Dimension historisch noch nie. ({3}) Darüber hinaus hat es auch in den letzten Jahren, insbesondere in Erinnerung an den PISA-Bericht 2000, sehr wohl substanzielle Verbesserungen gegeben. Ich erinnere daran: Die Bundeskanzlerin hat gemeinsam mit den Ministerpräsidenten - auch mit Ihren Ministerpräsidenten - 2008 die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen. Dabei hat man gemeinsam sieben Bereiche benannt, in denen man sich Ziele gesetzt hat. Vier Jahre später haben die KMK und die GWK übereinstimmend und gemeinsam - auch mit den SPDgeführten Ländern - einen Zwischenbericht abgegeben. In diesem steht - ich zitiere -, dass die damals beschlossenen Maßnahmen beachtliche Erfolge zeigen. Das und nicht dieses Zerrbild, das Sie eingangs beschrieben haben, ist die Realität. ({4}) Ich meine das in aller Ernsthaftigkeit. Wir könnten die einzelnen kritischen Punkte hier in der Tat herausarbeiten, aber dieses pauschale, platte Abdisqualifizieren des Bildungslandes Deutschland ist in der Tat schädlich. ({5}) Ich nenne jetzt exemplarisch nur einige wenige Erfolge und zitiere diese laut Bericht: Die Quote der Hochschulabsolventen lag 1995 bei 14 Prozent. 2010 waren es 30 Prozent. Das ist eine Verdoppelung. Das ist doch ein Riesenerfolg! ({6}) - Entschuldigung, diese Bemerkung zu Rot und Grün hier ist mir doch, ehrlich gesagt, wirklich zu doof. Wir reden über unser gemeinsames Bildungsland Deutschland und über einen Bildungsgipfel der Ministerpräsidenten über alle Parteigrenzen hinweg. ({7}) Die duale Ausbildung ist nach wie vor ein Erfolgsmodell. Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland in den letzten Jahren halbiert. Auch das ist ein Riesenerfolg. ({8}) Im europäischen Vergleich haben wir in einer Zeit, in der 50 Prozent der jungen Menschen in Spanien keine Arbeit haben, ({9}) die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. ({10}) Das sind tolle Erfolge. ({11}) Wir haben die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss um 25 Prozent gesenkt. ({12}) - Nein, entschuldigen Sie, Kollegin Schieder, das sind die Zahlen aus dem gemeinsamen Bericht der KMK und der GWK; das sind nicht meine Zahlen. Es ist heute allgemein anerkannt, dass die frühkindliche Bildung der Schlüssel ist. Auch bei der frühkindlichen Bildung haben wir, mit Verlaub gesagt, Erfolge. 96 Prozent der Vierjährigen besuchen eine Vorschule oder einen Kindergarten. Zu den Kitaplätzen: Entschuldigung, ist es nicht auch ein Erfolg, dass wir in drei Jahren einen Zuwachs an Kitaplätzen um 63 Prozent erreicht haben? Das ist sehr wohl ein Erfolg! ({13}) Wer anderes behauptet, ist schlichtweg ein Ignorant. ({14}) Dass der Kanzlerkandidat der SPD, Steinbrück, bei der Generaldebatte hier vorne steht und behauptet, diese Bundesregierung hätte für Bildung nichts getan, zeigt, dass auch dieser Kandidat ein Ignorant ist. Er hat nämlich null Komma null Ahnung von der Bildungspolitik in diesem Land. ({15}) - Herr Röspel, er hat gesagt, wir hätten nichts getan. Noch einmal zu den Superlativen: Seit wir in der Verantwortung sind - Sie haben das im Haushaltsausschuss mitbeschlossen -, haben wir 13 Milliarden Euro Albert Rupprecht ({16}) mehr für Bildung und Forschung ausgegeben. Das ist ein Zuwachs gegenüber 2005, als Steinbrück noch an der Regierung beteiligt war, um 82 Prozent. Das ist nichts getan? Entschuldigung! ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Wir tun sehr wohl etwas; das ist unsere klare Prioritätensetzung. Ich glaube, wir sind übereinstimmend der Meinung, dass sie notwendig ist. Das aber kleinzureden und zu diskreditieren, ist schlichtweg falsch. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, nichtsdestotrotz haben wir ohne Zweifel große Aufgaben vor uns, aber die muss man konkret benennen ({2}) und auch lösen. Man darf nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Um nur zwei Themen zu nennen: In der Tat kommt in den großen Städten jedes zweite Kind aus einer Familie mit Migrationshintergrund. ({3}) Natürlich ist Teilhabe ohne Sprachkompetenz nicht möglich. Deswegen haben wir in dieser Regierung - und auch schon in der Großen Koalition - ein Bündel an Maßnahmen beschlossen. Wir können bei weitem nicht abschließend sagen, dass wir zufrieden sind, aber wir haben vieles aufs Gleis gesetzt, ({4}) sodass wir heute mit Fug und Recht sagen können, dass kein Kind mehr in Deutschland existiert, lebt und aufwächst, um dessen Sprachkompetenz wir uns nicht kümmern. Es gibt mehrere Etappen, bei denen geprüft wird, wo die Kinder stehen. Es gibt Förderprogramme ohne Ende, mit denen sie in der Sprachkompetenz unterstützt werden. Das ist der richtige Weg. ({5}) Die Familienstrukturen werden in der Tat brüchiger. Jede dritte Ehe wird geschieden. Die Politik, selbst die beste Bildungspolitik, kann niemals die Familie ersetzen. Deswegen ist es in erster Linie notwendig und wichtig, dass wir das in der Verfassung verankerte Gebot des Schutzes von Familie und Ehe hochhalten, ({6}) statt dies zu relativieren oder gar zu diskreditieren, Frau Gohlke. ({7}) Was wir politisch machen können, ist nicht, die Familie zu ersetzen, aber wir können die Eltern unterstützen. Ich glaube - schauen Sie einmal in den Haushalt! -, man kann mit Fug und Recht behaupten und auch mit Stolz sagen, dass wir viele Milliarden in Programme investieren - ob das lokale Bildungsbünde sind, ob das Bildungsketten sind, ob das das Bildungspaket für Hartz-IV-Kinder ist und vieles andere mehr. Ich gestehe durchaus zu, dass diese Pakete nicht immer der Weisheit letzter Schluss sind und dass man sie, beispielsweise das Bildungspaket für Hartz-IV-Kinder, nach einer bestimmten Zeit auf den Prüfstand stellen und genau hinschauen muss, was gut gelaufen, was aber auch schlecht gelaufen ist. Aber die Grundrichtung, die Intention als solche stimmt. Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund der fortgeschrittenen Zeit komme ich zum letzten Thema. Das kann man drehen und wenden, wie man will - es ist und bleibt ein Thema. ({8}) Eines der Kernprobleme der Bildungspolitik ist in der Tat, dass die Bildungspolitik in den Bundesländern sehr unterschiedlich ist. Wenn wir einmal eine der jüngsten Studien anschauen, beispielsweise die IQB-Studie, in der Viertklässler in vielen Bereichen betrachtet worden sind, dann stellen wir fest, dass Bayern in allen Bereichen, die untersucht worden sind, an erster Stelle ist. Zur selben Zeit erleben wir, dass in Brandenburg 11 000 Lehrer auf die Straße gehen, weil sie gegen Platzeck und, wie sie es formulieren, gegen das unterfinanzierte Bildungssystem streiken wollen. ({9}) Wen wundert das? Denn Brandenburg ist im bundesweiten Vergleich der Ausgaben für Bildung in den Etats schlichtweg Schlusslicht. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Das ist die bildungspolitische Realität in Deutschland. Wir haben mit diesem Haushalt in der Tat nicht nur geredet, sondern erstklassig gehandelt. Was wir vorle25484 Albert Rupprecht ({0}) gen, ist ein Rekordhaushalt für Forschung und Bildung, der nicht nur national herausragend ist, sondern auch international anerkannt und respektiert wird. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 30 - Bundesministerium für Bildung und Forschung - in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 30 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt III auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme - Drucksache 17/11513 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Durch die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vom Sommer dieses Jahres ist eine Zwangsbehandlung im Rahmen der betreuungsrechtlichen Unterbringung nicht mehr zulässig. Die hier entstandene Lücke soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geschlossen werden, um schwerwiegende gesundheitliche Schäden von Betroffenen abzuwenden und eine ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten. Hierzu schaffen wir eine hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage, damit der Betreuer in eine notwendige ärztliche Behandlung des Betreuten einwilligen kann, die von diesem selbst abgelehnt wird. Dabei geht es um Fälle, in denen der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer seelischen oder geistigen Behinderung die Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. Die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsbehandlung wird unter enge Voraussetzungen gestellt, die den größtmöglichen Schutz des Betroffenen garantieren. Dazu zählt, dass die ärztliche Maßnahme zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Außerdem wird die Einwilligung des Betreuers einer Genehmigung durch das zuständige Betreuungsgericht unterworfen. Schließlich ist zu beachten, dass es um Betreute geht, die bereits mit richterlicher Genehmigung in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht sind, was seinerseits nur zulässig ist, wenn dies aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer seelischen oder geistigen Behinderung zum Wohl des Betreuten erforderlich ist. Diese Betreuten befinden sich also schon in staatlich verantworteter Obhut, weshalb ihnen eine notwendige ärztliche Behandlung nicht generell versagt werden darf, sondern grundsätzlich ermöglicht werden muss. Wir behandeln dieses Vorhaben in einem regulären Gesetzgebungsverfahren, auch wenn aus den bereits genannten Gründen eine Eilbedürftigkeit zur Regelung der Materie besteht. Aber trotz des vorhandenen Zeitdrucks befassen wir uns in aller Ausführlichkeit mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Bereits am vergangenen Montag haben wir sechs Sachverständige angehört. Dieses erweiterte Berichterstattergespräch fand zwar nicht öffentlich statt, stand aber in der Sache einer öffentlichen Anhörung in nichts nach. Dabei waren nicht nur die Berichterstatter des Rechtsausschusses, sondern auch Mitglieder des Gesundheitsausschusses mit einbezogen. Die Sachverständigen haben aus Sicht von Wissenschaft und Praxis deutlich gemacht, dass die vorgeschlagenen Regelungen zielführend sind und die Vorgaben von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof angemessen berücksichtigen. Auch in Bezug auf die Wahrung der Verhältnismäßigkeit zogen die Sachverständigen eine durchweg positive Bilanz. Es wurde betont, dass die Zwangsbehandlung erst der letzte Schritt sein dürfe, wie dies im Gesetzentwurf ausdrücklich vorgesehen ist. Vorrangig müsse darauf hingewirkt werden, das Einverständnis des Betroffenen einzuholen. Flankierend hierzu wurde angeregt, die Informationspflichten gegenüber dem Betroffenen über die vorzunehmende ärztliche Behandlung zu definieren. Auch wurde diskutiert, ob zur Begutachtung der Einsichtsfähigkeit des Betroffenen grundsätzlich ein externer Sachverständiger herangezogen werden sollte. Diese und weitere Punkte werden wir im weiteren Verfahren erörtern. Wir sind uns zudem einig, dass wir zur abschließenden Lesung eine Plenardebatte führen wollen, um unsere Überlegungen im öffentlichen Diskurs darzulegen. Die Frage der Zulässigkeit einer ärztlichen Zwangsbehandlung stellt sich freilich auch jenseits einer betreuungsrechtlichen Unterbringung. Von Ärzten und Juristen sowie aus mehreren Bundesländern vernehmen wir, dass zusätzlich Bedarf nach der Möglichkeit einer ärztlichen Zwangsbehandlung außerhalb der betreuungsrechtlichen Unterbringung besteht. Darunter fällt nicht nur eine ambulante, sondern auch eine stationäre Zwangsbehandlung, soweit keine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung erfolgt ist. Diesem Anliegen müssen wir uns stellen. Allerdings besteht für eine solche weiter gehende Regelung jedenfalls nicht eine durch die geänderte höchstrichterliche Rechtsprechung begründete Eilbedürftigkeit. Für die betreuungsrechtliche Unterbringung aber müssen wir jetzt zügig entscheiden. Aufgrund des eng begrenzten Anwendungsbereichs sowie der klar definierten und einer richterlichen Überprüfung unterzogenen Verhältnismäßigkeitsvorgaben schaffen wir keine neuen Eingriffsmöglichkeiten, sondern lediglich eine eindeutige Rechtsgrundlage, damit die bisher geübte und bewährte Praxis rechtssicher fortgeführt werden kann.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der 38-jährige Sachbearbeiter Robert R. hatte nachts Möbel aus seiner Wohnung im dritten Stock eines Wohnhauses geworfen und dabei laute Musik gehört, mitten in einem Wohnviertel von Köln. Auf Veranlassung der Nachbarschaft wurde er in die Landesklinik eingeliefert, lehnte jedoch die Behandlung mit Medikamenten vehement ab. Aufgrund seines desolaten gesundheitlichen Zustandes erwirkte seine Ehefrau die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung. Der Betreuer wiederum erteilte seine Einwilligung in die medikamentöse Behandlung. Diese Vorgehensweise war bislang die gängige Praxis der Betreuer und der Kliniken, wenn betreute Menschen gegen ihren eigenen Willen medizinisch behandelt werden sollten. Nachdem zwei Gerichtsurteile des Bundesgerichtshofes im Juni 2012 die Selbstbestimmungsrechte betreuter Personen völlig zu Recht erheblich gestärkt haben, sind aktuell Zwangsbehandlungen psychisch Erkrankter, die unter Betreuung stehen, nicht mehr zulässig. Der Bundesgerichtshof stützt seine Entscheidungen auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2011. Es fehlt für die Zwangsbehandlung betreuter Menschen an einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Weder die gegenwärtige Fassung des § 1906 BGB noch die übrigen betreuungsrechtlichen Vorschriften enthalten hinreichende Bestimmungen zur Frage der Zwangsbehandlung. Denn es finden sich dort nur Ausführungen zur Unterbringung. Insofern ist es nun die Aufgabe des Gesetzgebers, die Zwangsbehandlung im Lichte der Verhältnismäßigkeit zu regeln. Es ist auch festzustellen, dass die Zwangsbehandlung nur das letzte Mittel darstellen darf; eine weniger in Grundrechte eingreifende Behandlung muss also aussichtslos sein. Wie wir wissen, sind die Anforderungen an den Grad der Bestimmtheit eines Gesetzes umso strenger, je intensiver der Grundrechtseingriff ist. Die medizinische Behandlung eines Menschen gegen seinen natürlichen Willen greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein. Dieses Grundrecht schützt die körperliche Integrität und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht. Zu seinem traditionellen Gehalt gehört der Schutz gegen jegliche staatliche Zwangsbehandlung. Der Betroffene wird durch eine medizinische Zwangsbehandlung genötigt, eine Maßnahme zu dulden, die den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt. Ein von anderen Menschen gezielt vorgenommener Eingriff in die körperliche Integrität wird als umso bedrohlicher erlebt werden, je mehr der Betroffene sich dem Geschehen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert sieht. Insofern besteht aus der Sicht des Betroffenen auch ein erheblicher Unterschied, ob es sich um den Einsatz von Heilmitteln der Allgemeinmedizin, beispielsweise ein Mittel gegen eine Zuckererkrankung, handelt oder um den Einsatz von Psychopharmaka bzw. Neuroleptika. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt die Gabe von Neuroleptika gegen den natürlichen Willen des Patienten einen besonders schweren Grundrechtseingriff auch im Hinblick auf die Wirkungen der Medikamente dar. Dies gilt schon im Hinblick auf die nicht auszuschließende Möglichkeit schwerer, irreversibler und lebensbedrohlicher Nebenwirkungen. Weiter stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2011 fest: „Psychopharmaka sind auf die Veränderung seelischer Abläufe gerichtet. Ihre Verabreichung gegen den natürlichen Willen des Betroffenen berührt daher, auch unabhängig davon, ob sie mit körperlichem Zwang durchgesetzt wird, in besonderem Maße den Kern der Persönlichkeit.“ Andererseits gehört zum Wohl des Betreuten auch die Erhaltung seiner Gesundheit. Wenn der Betreute aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht erkennen kann, welche Behandlung wichtig für ihn ist, dann muss der Betreuer die Möglichkeit haben, rechtsstaatlich gültig seine Einwilligung in ärztlich gebotene Maßnahmen zu geben. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention verbietet ärztliche Maßnahmen nicht bei vorhandener krankheitsbedingter Unfähigkeit, sich selbst zu bestimmen. Hier gilt es daher, sämtliche Interessen, Pflichten und Rechte sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Bei der nun zu treffenden Neuregelung sind aufgrund der großen Grundrechtsrelevanz besonders strenge Anforderungen im Hinblick auf die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beachten: Das Behandlungsziel muss selbstverständlich Erfolg versprechen. Die Dauer des Eingriffs ist zu begrenzen. Die Zwangsmedikation darf nicht fortgeführt werden, um die Betreuung des Patienten zu erleichtern. Und selbstverständlich darf die Zwangsbehandlung nur als letztes Mittel eingesetzt werden, zu dem keine Alternative gegeben ist. Zusätzlich muss, notfalls auch aufwendig, zunächst versucht werden, den Betroffenen selbst zu überzeugen. Auch die Auswahl der konkret anzuwendenden Maßnahmen nach Art und Dauer - einschließlich der Auswahl und Dosierung einzusetzender Medikamente und begleitender KonZu Protokoll gegebene Reden trollen - ist zu bestimmen. Und die Zwangsbehandlung darf schließlich nicht außer Verhältnis zu dem erhofften Nutzen stehen. Der Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums greift viele Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes auf. Und mit der Einfügung weiterer Änderungsvorschläge könnte das Recht der Betroffenen noch weiter gestärkt werden. Wichtig ist uns vor allem, dass eine externe Begutachtung des Betroffenen erfolgt und dass eine Regelung zur fachärztlichen Qualifikation des Sachverständigen getroffen wird. Besonders wichtig ist uns jedoch, dass die Rechte der Betroffenen, auch bei der Erstellung des Gesetzes, ausreichend berücksichtigt werden. Ich erinnere an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal an die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie legt besonderen Wert auf Teilhabe und Einbeziehung der Betroffenen in anstehende Entscheidungen. Es ist daher ganz wichtig, dass die Betroffenen selbst vor dem Erlass des Gesetzes gehört werden. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass diese zwar in ihrem Umfang eher kleine, aber für die Betroffenen mit großen Auswirkungen verbundene Regelung nicht, wie ursprünglich vorgesehen, als „Omnibusgesetz“ zustande kommen soll, sondern den ganz normalen Gang des Gesetzgebungsverfahrens gehen wird. Hier sollen die Experten und auch die Betroffenen in den Gesetzgebungsprozess mit einbezogen werden, damit wir mit einer breiten Mehrheit zu einer guten gesetzgeberischen Lösung finden.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unsere Verfassung garantiert jedem Bürger ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Dies ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Nun gibt es auch Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbstständig zu besorgen. Für sie kann nach den Vorschriften des BGB ({0}) ein Betreuer bestellt werden. Aber selbst wenn ein Mensch unter Betreuung lebt, ist sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben nicht eingeschränkt. Dies spiegelt sich in den Grundsätzen des Betreuungsrechts wider. Danach muss der Betreuer die Angelegenheiten des Betreuten so besorgen, wie es dessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten ({1}). Art. 2 Abs. 2 GG garantiert das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Daraus ergibt sich für den Staat eine Schutzpflicht gegenüber demjenigen, der nicht in der Lage ist, sich selbst vor körperlichen Schäden zu schützen. Dies gilt nicht für Menschen, die sich freiwillig dazu entschließen, auf medizinische Maßnahmen zu verzichten, obwohl diese medizinisch indiziert wären. Auch dies ist Ausdruck des freien Willens. Problematisch wird es dort, wo das Krankheitsbild der Betroffenen dafür sorgt, dass sie die Notwendigkeit medizinischer Behandlungen nicht erkennen oder aber nicht in der Lage sind, entsprechend einer solchen Erkenntnis zu handeln. Hier muss es einen Rechtsrahmen geben, mit dem der Staat seinem Schutzauftrag gegenüber dem Einzelnen gerecht werden kann. Eine medizinische Behandlung gegen den natürlichen Willen des Betroffenen stellt einen Eingriff in seine Rechte dar, folglich bedarf es hierfür einer Rechtsgrundlage. Diese wurde bis zum 20. Juni 2012 in § 1906 BGB gesehen. Dann hat jedoch der BGH seine bisherige ständige Rechtsprechung geändert und entschieden, dass § 1906 BGB nicht mehr als Rechtsgrundlage ausreiche ({2}). Durch diese Norm sei lediglich die Einwilligung des Betreuers in die Unterbringung eines Betreuten, nicht aber in Zwangsmaßnahmen gedeckt. Die neue Rechtsprechung des BGH hat zur Folge, dass Betreute zwar untergebracht, aber nicht mehr gegen ihren natürlichen Willen medizinisch behandelt werden können. Sie dürfen aber festgehalten und müssen dann fixiert werden. An dem nun eingeleiteten Verfahren wird oft die vermeintlich unnötige Eile kritisiert. Dabei muss man sich jedoch vor Augen halten, dass es jeden Tag mehr Fälle werden, in denen Menschen nicht mehr medizinisch behandelt, sondern nur noch verwahrt werden können. Dies ist sowohl für die Betroffenen selber als auch für deren Angehörige ein unhaltbarer Zustand. Es ist nur sehr schwer zu ertragen, wenn ein Angehöriger erkennbar medizinischer Hilfe bedarf, er diese aber nicht erhalten kann, weil dafür eine gesetzliche Grundlage fehlt. Auch für die Ärzte und Pfleger in den Einrichtungen bedeutet die aktuelle Situation eine erhebliche Belastung. Es gibt sogar schon Fälle, in denen Pflegekräfte entsprechender Einrichtungen um Versetzung auf andere Stationen gebeten haben, weil sie sich der beschriebenen Situation physisch und psychisch nicht mehr gewachsen sehen. Der enge Zeitplan für die erforderlichen Änderungen hat einen ganz konkreten Hintergrund: Nur mit ihm ist es möglich, den Bundesrat noch in diesem Jahr einzubinden. Würden die Beratungen länger dauern, könnte das neue Gesetz frühestens im März 2013 in Kraft treten. Dies bedeutete aber weitere zwei Monate, in denen den Menschen nicht angemessen geholfen werden könnte. Eine beschleunigte Befassung bedeutet auch nicht, dass diese weniger intensiv ausfällt. Das Bundesministerium der Justiz und der Deutsche Bundestag haben Gespräche mit Experten und Betroffenen geführt, die Berichterstatter der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen stehen im engen Austausch miteinander. Zum Wohle aller bedürfen wir vor diesem Hintergrund zügig einer gesetzlichen Regelung. An dieser Stelle setzt unser Gesetzentwurf an. Der neue § 1906 BGB schafft eine Grundlage dafür, dass der Betreuer unter sehr engen Voraussetzungen in ärztliche Maßnahmen einwilligen kann, auch wenn Zu Protokoll gegebene Reden diese dem natürlichen Willen des Betreuten widersprechen. Dabei handelt es sich um folgende Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen: Erstens. Der Betreute kann aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der medizinischen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln. Zweitens. Die ärztliche Zwangsmaßnahme ist im Rahmen der Unterbringung zum Wohle des Betreuten erforderlich, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Drittens. Der erhebliche gesundheitliche Schaden darf nicht durch eine andere zumutbare gesundheitliche Maßnahme abgewendet werden können, und Viertens. Der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme muss die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen. Nur wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf der Betreuer in die Maßnahme einwilligen. Dadurch wird deutlich, dass die Maßnahme nur dann gegen den natürlichen Willen des Betreuten vorgenommen werden kann, wenn dies erforderlich ist, um dem Schutzauftrag des Staates gegenüber dem Einzelnen gerecht werden zu können. Die im Zuge der Debatte um dieses Gesetzgebungsverfahren geäußerte Kritik, es solle über die Köpfe der Betroffenen hinweg in womöglich auch noch grundlose Maßnahmen eingewilligt werden, geht also fehl. Im Gegenteil: Der Gesetzentwurf legt größten Wert darauf, dass dem Willen des Betreuten, soweit es möglich ist, Folge geleistet wird. So muss der Betreuer den Betreuten informieren und versuchen, eine auf Vertrauen basierende Einwilligung herbeizuführen, bevor er eine Zwangsmaßnahme nach § 1906 BGB durchführen lässt. Der Betreuer muss den Betreuten dabei auf eine Art und Weise informieren, die den Fähigkeiten des Betreuten gerecht wird. Zudem bedürfen medizinische Maßnahmen nach § 1906 BGB immer einer Genehmigung durch ein Gericht. Der Bundesgerichtshof hat in seinen Urteilen vom Juni 2012 nicht entschieden, dass medizinische Maßnahmen gegen den Willen des Betreuten per se ausgeschlossen seien. Er hat lediglich festgestellt, dass es hierfür an einer Rechtsgrundlage mangelt, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 23. März 2011 ({3}) entschieden, dass eine medizinische Maßnahme gegen den Willen einer im Maßregelvollzug untergebrachten Person gerechtfertigt sein kann. Hierfür bedürfe es aber klarer gesetzlicher Grundlagen. Diese schaffen wir nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Sie berücksichtigen die Belange der Betroffenen und erlauben es der Praxis, die notwendigen Maßnahmen vorzunehmen, um Schaden von den Betreuten abzuwenden. Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf zu unterstützen.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Uns liegt ein Gesetzentwurf der Regierungskoalition zur Zwangsbehandlung im Betreuungsrecht vor. Dass wir diesen Entwurf nicht in einer normalen Sitzungswoche im Plenum debattieren, sondern in einer Haushaltswoche zu Protokoll geben, ist nur ein Aspekt in diesem parlamentarischen Verfahren, der zeigt, wie wenig Interesse die Koalition an den Betroffenen hat, für die sie diesen Antrag angeblich schreibt, und wie wenig sie das Parlament achtet. Zunächst sollte dieser Gesetzentwurf an ein laufendes Gesetzesverfahren als Änderungsantrag angehängt werden, damit dieses Thema noch weniger im Parlament und Plenum diskutiert werden kann. Dieser Änderungsantrag erreichte die Mitglieder des Rechtsausschusses als Anhang an eine E-Mail, ohne dass in dem E-Mail-Text etwas davon erwähnt war. Er sollte ohne Anhörung und ohne Einführung ins Parlament als völlig sachfremder Anhang des Entwurfs „eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 23. November 2007 über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen sowie zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des internationalen Unterhaltsverfahrensrechts“, eventuell gar ohne Debatte Ende November verabschiedet werden. Gegen dieses Verfahren wehrt sich meine Fraktion heftig. Nun hat die Koalition einen gesonderten Gesetzentwurf vorgelegt, um wenigstens formal die Beteiligung des Parlamentes herzustellen. Im Endeffekt wird hier aber nur hau ruck durch ruck zuck ersetzt. Die Beteiligung des Parlamentes bleibt ebenso wie die Beteiligung der Betroffenen und Fachverbände eine Farce, wenn ein Gesetz am 22. November zu Protokoll eingebracht wird und bereits am 29. November verabschiedet werden soll. Ich habe bei der Parlamentsdokumentation nachgefragt. In den letzten drei Wahlperioden hat es genau zwei Gesetzesinitiativen gegeben, die schneller durch das Parlament gepeitscht wurden: erstens das Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes, zweitens das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik. Deren höchst fragliche Geschwindigkeit wurde mit einem Systemzusammenbruch begründet. Eine solche Geschwindigkeit ist in diesem Fall aber schon mit nichts zu begründen. Seit den Urteilen des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts ist Zeit ins Land gegangen, ohne dass der Notstand ausgebrochen ist. Im Gegenteil. In einem Brief an den Bundestag teilt der Chefarzt der Kliniken des Landkreises Heidenheim mit, dass sich „durch die aktuelle Situation, nach der es in Baden-Württemberg keine rechtliche Grundlage für die Zwangsbehandlung mehr gibt, in der Behandlung neue Möglichkeiten zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Patienten und Behandlungsteam ergeben“. Also die mangelnde Zu Protokoll gegebene Reden rechtliche Grundlage hat zur vertrauensvolleren Zusammenarbeit geführt, und er möchte „deshalb nahelegen, zu prüfen, ob nicht auf eine gesetzliche Grundlage zur medikamentösen Zwangsbehandlung grundsätzlich verzichtet werden kann“. Ähnliche Aussagen finden sich auch in der Stellungnahme von Professor Dr. Lipp der Universität Göttingen. Also von Eilbedarf kann gar nicht die Rede sein. Man muss hier das Gefühl bekommen, dieses Thema soll unter der Decke gehalten werden. Vermutlich muss sich die Koalition etwas anderes einfallen lassen, weil derzeit keine Fußballeuropameisterschaft stattfindet, bei der Deutschland gegen Italien spielt. Wir diskutieren zu Recht über Organspende und Transplantation, Beschneidungen von Jungen, über den Maßregelvollzug oder über PID ausgiebig im Parlament, weil es um ethische Fragen geht, weil es um grundlegende Rechte, wie die körperliche Unversehrtheit oder Freiheitsrechte, geht. Das betrifft genauso die Zwangsbehandlung, aber dieses Thema soll in einem Schnellverfahren durch das Parlament gepeitscht werden. Psychisch kranke Menschen, die sich gegen Zwangsmaßnahmen wehren, die einen gleichwertigen Anspruch auf die Wahrung ihrer Grundrechte haben, werden so zu Menschen zweiter Klasse. Die Linke hat eine Kleine Anfrage zu Zwangsbehandlungen und Zwangseinweisungen gestellt, mit erschreckenden Ergebnissen. In Bayern wurden 2011 nach dem hier diskutierten Betreuungsrecht elfmal mehr Menschen zwangseingewiesen als in Thüringen. Im Westen Deutschlands wurden zweieinhalbmal so häufig Menschen zwangseingewiesen wie im Osten. Zu Zwangsbehandlungen und ihrem Nutzen liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor, aber es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass hier die Abweichungen zwischen den Bundesländern geringer sind. Wir müssen davon ausgehen, dass ein großer Teil von Patientinnen und Patienten, die in einem Bundesland zwangsbehandelt wurden, dies in anderen Teilen Deutschlands erspart geblieben wäre. Wenn wir gesundheitliche Unterschiede als Ursache dieser Unterschiede ausschließen, weil es für mich keinen Grund gibt, dass in Westdeutschland mehr als doppelt so viele Menschen psychisch krank sein sollen als im Osten, müssen andere Gründe eine Rolle spielen. Das ist intensiv zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang möchte ich an den Soziologen Michel Foucault erinnern, der Verrücktheit, Psychose, und psychische Normalität nicht als objektive Diagnosen, sondern als subjektive Urteile ansieht. Laut Foucault dient die Abgrenzung zwischen Normalität und Verrücktheit auch zur gesellschaftlichen Kontrolle. Die klinische Psychiatrie könne so als normstiftende Machtinstanz dienen. Wir dürfen massive Einschränkungen der Freiheitsrechte, der Selbstbestimmung nicht auf offensichtlich unsichere Kriterien und mangelnde Belege der Wirksamkeit der Behandlungen stützen und so anderen Motiven die Tür öffnen. Das ist genau die Debatte, die geführt werden muss, mit Betroffenen, mit Fachverbänden und in der Öffentlichkeit. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Deutschland wegen der Geschichte der Psychiatrie in der NS-Zeit eine besondere Verantwortung trägt und mit gutem Beispiel vorangehen sollte. Dieses Gesetzesverfahren wird dem in keiner Weise gerecht.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Bundesgerichtshof hat bereits im Juni 2012 festgestellt, dass es für die ärztliche Behandlung von Menschen, die unter Betreuung stehen und selbst in die Behandlung nicht einwilligen können, keine gesetzliche Grundlage gibt. Hierauf hat die Bundesregierung erst verspätet reagiert. Dies führte nun zu einem verkürzten parlamentarischen Verfahren, um eine längere Phase der Rechtsunsicherheit für die Praxis zu vermeiden. Wir sind froh, dass wir auf unseren Druck hin nun doch noch dieses Gesetz hier im Parlament eigenständig diskutieren können. Es war absolut nicht angemessen, einen so schweren Grundrechtseingriff versteckt in einem vollständig anderen Gesetz durch das Parlament zu peitschen. Eine Zwangsbehandlung darf nur letztes Mittel sein, um Schaden abzuwenden. Die höchstrichterlichen Urteile haben letztlich auch darauf reagiert, dass im psychiatrischen Alltag der Willen eines Patienten zu oft übergangen wird, obwohl es auch mildere Mittel gegeben hätte. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat ausdrücklich betont, dass ein solch schwerer Eingriff in Grundrechte nur erfolgen darf, wenn weniger eingreifende Maßnahmen aussichtslos sind. Außerdem muss der behandelnde Arzt versuchen, die auf Vertrauen und Einsicht gegründete Zustimmung des Patienten zu erreichen. Genau hieran mangelt es im psychiatrischen Alltag häufig. In den Einrichtungen fehlen oft das Konzept, die Zeit oder schlicht das Personal, mit der Folge einer zwangsweisen Medikation. Wir stehen deshalb in der Pflicht, zu erwirken, dass auf Zwangsbehandlungen so weit wie möglich verzichtet wird. Dennoch haben wir es mit einem Dilemma zu tun. Vollständig werden wir auf eine Zwangsbehandlung nicht verzichten können, als Ultima Ratio ist sie in manchen medizinischen und psychiatrischen Konstellationen zum Schutz eines Patienten nicht zu vermeiden. Minister Bahr muss dafür sorgen, dass die Patientenautonomie und Patientenorientierung in psychiatrischen Krankenhäusern strukturell, finanziell und personell gestärkt wird. Dazu zählen bei Bedarf zusätzliche Sitzwachen und Rückzugsräume in einer reizarmen Umgebung, die sich auch in dem Entgeltsystem niederschlagen müssen. Wichtig sind Nachsorgeangebote unter Einbeziehung von Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen psychisch Kranker, die darauf Zu Protokoll gegebene Reden ausgerichtet sind, das Auftreten einer psychischen Krise frühzeitig zu erkennen. Ergänzend brauchen wir dringend einen Ausbau von neuen Formen der akuten Krisenhilfe, um Patienten, die eine medikamentös gestützte Behandlung ablehnen, Alternativen bieten zu können. Umso kurzsichtiger ist die Rechtsverordnung für das neue Psychiatrie-Entgeltsystem, denn dieses entzieht die für die Schwerstkranken notwendigen Mittel. Im Rahmen des Patientenrechtegesetzes setzen wir uns für eine gesetzliche Verankerung der Behandlungsvereinbarungen ein. Damit sollen die Krankenhäuser verpflichtet werden, ihren Patientinnen und Patienten mit wiederkehrenden Krankheitsepisoden eine Behandlungsvereinbarung anzubieten, in der die Patienten für die Zeiten der Einwilligungsunfähigkeit Art und Umfang der Behandlungsmaßnahme mit dem Behandelnden festlegen können. Wir erwarten noch Nachbesserungen in den angesprochenen Bereichen. Das schnelle Verfahren zur Beratung dieses wichtigen Gesetzentwurfs zum sensiblen Thema der Zwangsbehandlung erhöht unserer Meinung nach zudem die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Auswirkungen der jetzigen Regelungen genau zu beobachten und gegebenenfalls schnell auf Fehlentwicklungen zu reagieren.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11513 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 23. November 2012, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen freundlichen Abend.