Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/9/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zur 205. Sitzung des Deutschen Bundestages. Dass der 9. November, an dem diese Sitzung stattfindet, nicht irgendein Kalendertag ist, muss ich in diesem Gremium nicht erläutern. Es ist der prominenteste Tag in der deutschen Geschichte. Um kein anderes Datum gruppieren sich Glanz und Elend der deutschen Geschichte in einer auch nur vergleichbaren Weise. Dem wurde und wird in verschiedenen Veranstaltungen gestern und heute überall im Lande gedacht. Wir sollten vor Eintritt in die Tagesordnung zumindest das Bewusstsein dieser Bedeutung gemeinsam zu Protokoll nehmen. ({0}) Ich möchte Sie gerne darauf hinweisen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, während der Haushaltsberatungen, die in unserer nächsten Sitzungswoche ab dem 20. November stattfin- den, wie üblich keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von Montag, dem 19. November, bis Freitag, dem 23. No- vember 2012, festgelegt worden. Dazu kann ich sicher Ihr Einvernehmen feststellen. - Das ist offenkundig der Fall. Dann können wir so verfahren. Ich rufe nun die Zusatzpunkte 9 a bis 9 c unserer Ta- gesordnung auf: ZP 9 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes ({1}) - Drucksache 17/9917 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) - Drucksache 17/11404 Berichterstattung: Abgeordnete Dorothee Bär Florian Bernschneider Ekin Deligöz - Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/11405 - Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Mattfeldt Rolf Schwanitz Dr. Florian Toncar Steffen Bockhahn Sven-Christian Kindler b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld - zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Betreuungsgeld nicht einführen - Öffentli- che Kinderbetreuung ausbauen - zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Betreuungsgeld einführen - Kinder und Familien durch den Ausbau der Kin- dertagesbetreuung fördern - Drucksachen 17/9572, 17/9582, 17/9165, 17/11404 - Präsident Dr. Norbert Lammert Berichterstattung: Abgeordnete Dorothee Bär Florian Bernschneider Ekin Deligöz c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Betreuungsgeldgesetzes ({5}) - Drucksache 17/11315 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion. ({7})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wir heute abschließend - da bin ich mir sicher über dieses Thema hier im Plenum des Deutschen Bundestages diskutieren. ({0}) Ich setze auf die Vernunft aller Anwesenden. ({1}) Es gibt ja kaum ein Thema, über das so intensiv und leidenschaftlich diskutiert wurde, nicht nur über Wochen und Monate, sondern sogar über Jahre. Für und Wider wurden auf allen Seiten wirklich sehr abgewägt, nicht nur zwischen den verschiedenen Parteien, sondern beispielsweise auch sehr stark in unseren beiden Parteien. Daher freue ich mich, dass am vergangenen Sonntag der Weg für die Wahlfreiheit in unserem Land frei gemacht wurde. ({2}) - Frau Roth, ich weiß nicht, was Sie gegen Wahlfreiheit haben. ({3}) Ich erkläre Ihnen noch einmal, wie wir uns das vorstellen; denn wir haben unseren ohnehin guten Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren noch einmal verbessert. Wir haben jetzt zum Beispiel klargestellt, dass der Besuch von Eltern-Kind-Gruppen, von PEKiPGruppen usw. nicht zum Ausschluss vom Bezug des Betreuungsgeldes führt. Wir haben unsere Härtefallklausel noch etwas verbessert. Wenn es zum Beispiel bei Krankheit, bei Tod oder bei Schwerbehinderung der Eltern nicht möglich ist, die Kinder selbst zu betreuen, führen bis zu 20 Wochenstunden öffentlich geförderte Betreuung im Durchschnitt des Monats nicht zum Ausschluss vom Bezug des Betreuungsgeldes. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch über das Betreuungsgeldergänzungsgesetz. Dieses Gesetz bringt Alternativen zu einer Barauszahlung. Das ist ein wichtiger Schritt, der es Ihnen eigentlich leichter machen müsste, zuzustimmen. Das Betreuungsgeld sollte eigentlich mit einer ganz breiten Mehrheit des ganzen Hauses verabschiedet werden können. ({4}) Wenn sich die Eltern dafür entscheiden, das Betreuungsgeld in eine zusätzliche private Altersvorsorge zu stecken oder es zum Bildungssparen zu verwenden, erhalten sie einen zusätzlichen Bonus von 15 Euro. Nun kann auch ein Bildungskonto eingerichtet werden. Das ist ein Punkt, wo ich sage: Da müssten Sie springen können. ({5}) - Herr Trittin, Frau Roth, nicht diejenigen, die am lautesten schreien, werden am Ende recht behalten. ({6}) Warum wird über dieses Thema eigentlich so wahnsinnig emotional diskutiert? ({7}) Warum wird über Familienpolitik so emotional diskutiert? Weil - das habe ich im Vorgespräch mit meiner Kollegin Deligöz leider Gottes wieder feststellen müssen oft gemeint wird, dass überhaupt nur auf der Grundlage des eigenen Modells diskutiert werden könne. Das finde ich nicht redlich. Wir müssen doch für die gesamte Bevölkerung sprechen. ({8}) Wir können doch nicht nur diejenigen im Blick haben, die berufstätig sind. Wir müssen auch an die denken, die ihre Erwerbsbiografie zugunsten ihrer Kinder zeitweise unterbrechen wollen. Wenn jemand ein anderes Lebensmodell vorzieht, muss ihm das doch unbenommen sein. Sagen Sie doch nicht immer, dass das Betreuungsgeld den Müttern schade. ({9}) Warum wird gerade von Ihrer Seite aus so wenig über die Väter in diesem Lande gesprochen? Mir ist es wichtig, dass es in dieser Diskussion auch um die Väter geht, dass die Väter auch Verantwortung übernehmen. ({10}) Man sieht an dem Streit über das Betreuungsgeld ganz deutlich, dass es bei weitem nicht nur darum geht, ob der Staat - neben den Mitteln, die er für den Ausbau und den Betrieb von Kinderkrippen und Kindertagespflege bereitstellt - auch diejenigen, die eine andere Betreuungsmöglichkeit wählen, die ihre Kinder selbst betreuen oder die Betreuung privat organisieren, finanziell unterstützen soll. An dieser Stelle möchte ich auch einmal an die Großeltern erinnern, die in diesem Land einen wertvollen Beitrag zur Kinderbetreuung leisten. Ein herzliches Dankeschön dafür! Warum haben wir denn mit der letzten Regierung Mehrgenerationenhäuser eingeführt? Doch wohl nicht, weil Mehrgenerationenhäuser schlecht für Kinder oder für Ältere wären. ({11}) Ganz im Gegenteil: weil von Mehrgenerationenhäusern alle Generationen profitieren. ({12}) Wenn es Ihnen nicht vorrangig um Geld geht, ({13}) worum dann? Wollen Sie wieder die Lufthoheit über die Kinderbetten erringen? ({14}) - Ich weiß, dass die Wahrheit wehtut. - Warum wird so erbittert über verschiedene Familienmodelle gestritten? Ich finde es erschreckend, dass Sie wollen, dass sich der Staat so wahnsinnig in die Familien einmischen kann. ({15}) Warum vertrauen Sie den Eltern in unserem Land so wenig? ({16}) Mich stört massiv, dass alle Kinder über einen Kamm geschoren werden sollen. Für das eine Kind ist es vielleicht kein Problem, wenn es mit zwölf oder 18 Monaten für einige Stunden in eine Krippe kommt. Ein anderes Kind, das schon drei Jahre alt ist, kann sich damit schwertun. Kinder sind eben unterschiedlich. Es gibt nicht die beste Betreuungsmöglichkeit an sich. Sie glauben pauschal, eine institutionelle Förderung sei einer privaten Förderung der Kinder vorzuziehen. Das sehen wir nicht so. Sie verweisen auf die Meinung einiger Verfassungsrechtler. Wir können Ihnen Verfassungsrechtler nennen, die anderer Meinung sind. Sie führen die Aussagen einiger Verbandsvertreter an. Wir können andere anführen. Sie kommen mit der Einschätzung von Psychologen. Wir können auf andere Psychologen verweisen. Ob Befürworter oder Gegner, jeder kann Experten aufbieten, die seiner Meinung sind. Das ist ein Pattspiel. ({17}) Ich bin der Meinung, dass andere Experten maßgeblich sind: Das sind die Eltern. ({18}) Wir bekommen Schreiben, in denen sich Eltern bei uns dafür bedanken, dass wir uns für sie einsetzen. Ich darf, Herr Präsident, aus der FAZ vom Mittwoch zitieren: Die Mehrheit der Familien mit kleinen Kindern profitiert von der Hartnäckigkeit der CSU. ({19}) Das ist wahr, und wir können stolz darauf sein, dass wir uns an dieser Stelle nicht haben beirren lassen. Ich finde es ja positiv, dass so leidenschaftlich diskutiert wird. Ich finde es auch positiv, dass Herr Steinbrück heute sagt: Mir ist das Thema so wichtig, da gehe ich als Familienpolitiker der SPD in die Bütt. - Ganz hervorragend, dass Sie sich auch dieser intensiven Diskussion anschließen! ({20}) Ich freue mich auch, Ihnen einmal bei einer Rede zuhören zu dürfen. ({21}) Wir haben hier einen ganz großen Erfolg, den wir heute hoffentlich feiern können. Damit Sie das klar wissen und weil ich auch nicht möchte, dass die verschiedenen Modelle gegeneinander ausgespielt werden, möchte ich deutlich sagen: Wir, die wir für das Betreuungsgeld sind, sind selbstverständlich auch für den Ausbau der Krippen in diesem Lande. ({22}) - Ja, selbstverständlich, und da darf nicht nur ein kleines „Oh“ zugerufen werden. Wir als Bund - unsere Regierung - haben nämlich gesagt: Uns ist das Thema so wichtig, dass wir uns bei den Ländern und Kommunen einmischen. Wir stellen Geld zur Verfügung, obwohl wir nicht zuständig sind. ({23}) Es fällt einem Finanzminister ja auch nicht ganz leicht, zu sagen: Ich gebe den Ländern und Kommunen das Geld, weil uns diese Betreuung wichtig ist. ({24}) Wir sind also selbstverständlich dafür. Wir haben auch den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz eingeführt. ({25}) Das ist doch ein ganz wunderbares Gesamtpaket! Auf der einen Seite sagen wir: Wir bauen neue Krippen, und wir bauen die vorhandenen aus. Außerdem geben wir den Ländern ständig mehr Geld. - Das sind ja keine Peanuts. Wir reden hier über knapp 5 Milliarden Euro, die wir den Ländern zur Verfügung stellen. Auf der anderen Seite tun wir natürlich auch etwas in Bezug auf die laufenden Kosten und für den Rechtsanspruch. Hier bin ich unserer Familienministerin dankbar, dass sie immer wieder gesagt hat: Am Rechtsanspruch wird nicht gerüttelt. Nein, das wird es natürlich nicht. ({26}) - Herr Trittin, ich weiß, warum Sie hysterisch lachen. ({27}) Die Ersten, die gegen einen Rechtsanspruch geschrien haben, waren Ihr Kollege Herr Palmer und der Herr Ude von der SPD, weil sie als Kommunalpolitiker es eben nicht als so wichtig ansehen bzw. sagen: Das können wir den Kommunen nicht antun. ({28}) Es ist kein Geheimnis - auch für einen Herrn Ude in Bayern nicht -, dass nach dem 31. Juli 2013 der 1. August 2013 kommt. Also muss er auch wissen, dass er bis dahin für München seine Hausaufgaben zu machen hat. Im Rest Bayerns funktioniert das übrigens gut. ({29}) Schauen Sie sich die neueste DJI-Studie an. Es ist doch spannend, zu sehen, dass es den geringsten Fehlbedarf an Betreuungsplätzen in Bayern gibt. Bis zum 1. August 2013 werden wir sogar 40 Prozent geschaffen haben. ({30}) Nordrhein-Westfalen steht sehr schlecht da; das ist auch spannend. Noch spannender ist es aber bei Ihrer Familienpolitikerin aus Mecklenburg-Vorpommern, die sie bis heute dauernd wie eine Monstranz vor sich hertragen. Mecklenburg-Vorpommern steht von allen ostdeutschen Bundesländern am schlechtesten da. Auch hier müssen Sie sich also einmal an die eigene Nase fassen. Die Ministerin vor Ort bekommt das nicht auf den Weg. Wir müssen jetzt nicht mit weiteren tausend Zahlen um uns schmeißen. Die Argumente wurden sieben Jahre lang ausgetauscht. Ich möchte Ihnen aber trotzdem noch sagen, warum das heute für mich ein wichtiges Anliegen ist: Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem wir als Politiker sowie die Arbeitgeberverbände, die Wissenschaftler oder auch die Verfassungsrechtler alleine darüber entscheiden dürfen, was gut für die Kinder in unserem Land ist. ({31}) Ich will auch nicht in einem Land leben, in dem Eltern Angst haben, Kinder in die Welt zu setzen, weil sie befürchten, dass man ihnen nichts zutraut, weil Elternführerscheine gemacht werden müssen und der Staat die Erziehung übernehmen möchte. ({32}) Wir wollen den Eltern Mut machen. Sie müssen sich nicht dafür rechtfertigen, welches Modell für sie richtig oder falsch ist. Das richtige Modell ist immer das - das ist der Idealfall -, dass sich Vater und Mutter einig sind. Das ist dann auch das Beste für die Kinder. Stimmen Sie heute also bitte pro Mündigkeit und pro Wahlfreiheit, also pro Betreuungsgeld. Vielen Dank. ({33})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peer Steinbrück. ({0})

Peer Steinbrück (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute soll mit der Einführung des Betreuungsgeldgesetzes ein Gesetz verabschiedet werden, für das groteskerweise gilt: Weder will es ein nennenswerter Teil der Regierungskoalition noch gibt es eine breite gesellschaftliche Mehrheit in unserem Land für dieses Gesetz. ({0}) Auf Ersteres lässt die kuriose, um nicht zu sagen absurde Geschichte des Betreuungsgeldgesetzes in Ihren Reihen schließen; denn es ist in dieser Legislaturperiode von Ihrer Koalition nicht weniger als viermal beschlossen worden. Das Betreuungsgeldgesetz ist hier im Deutschen Bundestag am 15. Juni nicht zur Abstimmung gebracht worden, weil Sie nicht wussten, wie viele Mitglieder Ihrer eigenen Regierungskoalition zustimmen würden. ({1}) Und Sie haben noch im Oktober dieses Jahres eine Neuansetzung vermieden, weil sonst diese Konflikte öffentlich aufgebrochen wären. Nun soll es heute mit einem Höchstmaß an Disziplinierung, auch an Selbstverleugnung, insbesondere in den Reihen der FDP, durchgedrückt werden ({2}) mit einer Inkraftsetzung zum 1. August 2013, will sagen: wenige Wochen vor einer Bundestagswahl, was durchaus als Ausdruck besonderer Selbstgefälligkeit und Ignoranz bewertet werden darf. ({3}) Überall dort, wo ich hinkomme und wo ich die Möglichkeit habe, Gespräche zu führen mit alleinerziehenden Frauen, etwa gestern hier in Berlin, mit Erzieherinnen in einer Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis ({4}) - ja, führen Sie die nicht; ({5}) empfinden Sie das als etwas Besonderes? -, mit Arbeitgebern - übrigens, das Interview von Herrn Hundt in der Welt spricht Bände zu diesem Thema -, ({6}) mit Sozialarbeiterinnen, mit Lehrerinnen oder Lehrern, auch mit jungen Eltern, insbesondere mit alleinerziehenden Frauen, gibt es ein übereinstimmendes Urteil über dieses Betreuungsgeld: Dieses Betreuungsgeld ist eine grundfalsche Weichenstellung. Um es deutlicher zu sagen: Es ist schwachsinnig. ({7}) Diese Bewertung entspricht keineswegs einer Verallgemeinerung individueller Momentaufnahmen; denn wir wissen aus Umfragen, dass mehr als 75 Prozent der deutschen Bevölkerung das genauso sehen. Wir wissen insbesondere, dass die Wählerinnen und Wähler ihrer eigenen Koalition dieses Betreuungsgeldgesetz zu mehr als 60 Prozent ebenfalls für absurd halten. Der Fortschritt unserer Gesellschaft bemisst sich maßgeblich daran, meine Damen und Herren, wie zukünftig Männer und Frauen miteinander leben und arbeiten, insbesondere auch daran, ob Frauen ein größeres Selbstbestimmungsrecht darüber bekommen, eine eigene Berufsbiografie zu schreiben. ({8}) Deshalb ist das, was Sie mit diesem Betreuungsgeld machen, eine Katastrophe dahin gehend, dass es eine gesellschaftliche Rückwärtsgewandtheit ausdrückt, die mit unseren Vorstellungen über eine moderne und aufgeklärte Gesellschaft nichts zu tun hat. ({9}) Sie verfestigen überholte Rollenbilder. Wir sagen, dieses Betreuungsgeld wird dazu führen, dass weniger Frauen eine eigene berufliche Biografie schreiben und dass weniger Kinder einen chancengerechten Zugang auf Bildung bekommen. Das wird das Ergebnis dieses Betreuungsgeldes sein. ({10}) Dieses Betreuungsgeld wird Deutschland deshalb ungerechter machen und in ein überholtes Gesellschaftsbild einsperren. Es stellt für unser Land einen fatalen Rückschritt dar. Auf der ganzen Wegstrecke ist der Koalition und der Bundesregierung nicht nur von der SPD und von den Grünen deutlich gemacht worden, dass dieses Betreuungsgeld falsch ist. Die Protagonisten, die sich dazu geäußert haben, sind beeindruckend: Gewerkschaften, Arbeitgeber, Migrantenverbände, die DIHK, jüngst der Vorsitzende des Sachverständigenrates und, Herr Kauder, auch die Europäische Kommission. Sie haben in einer vergangenen Bundestagsdebatte versucht, uns das Gegenteil einzureden. ({11}) Alle diese Vertreter stimmen in dem Urteil überein, dass dieses Betreuungsgeld eine sträflich falsche Weichenstellung ist. Es ist absurd: Eltern sollen eine finanzielle Leistung dafür bekommen, dass sie öffentliche Einrichtungen nicht in Anspruch nehmen werden. Das einzige Argument, das Ihnen verbleibt, hat Frau Bär gerade genannt; das ist der Vorwurf, es gehe darum, die Eltern zu diskreditieren. Nein, es geht nicht darum, irgendwelche Eltern zu diskreditieren, die ihre Kinder zu Hause erziehen wollen, sondern es geht darum, denjenigen zu helfen, insbesondere alleinerziehenden Frauen, die eine Berufsperspektive eröffnet haben wollen. ({12}) Es geht insbesondere darum, den Kindern aus eher schwächeren sozialen Schichten einen Zugang zur Bildung zu ermöglichen, sodass sie anschließend ein selbstverantwortliches Leben führen können. ({13}) Neue individuelle Transfers, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sollen gezahlt werden, übrigens zulasten des Bundeshaushaltes, um ein überholtes Gesellschaftsbild zu verfestigen, weil es eine Regionalpartei aus Bayern unbedingt als ihr Hobby ansieht, ein solches Gesetz durchzudrücken. ({14}) Da muss sich doch eigentlich bei der FDP der politische Magen umdrehen. Welches Ausmaß an Selbstverleugnung müssen Sie erreicht haben, um dafür zwar nicht die Hand zu reichen, aber die Hand zu heben? Nur mühsam haben wir gemeinsam in diesem Haus den Erkenntnisfortschritt vollzogen, dass sich Frauen eben nicht mehr zwischen Kind und Beruf, zwischen Kind und Karriere entscheiden müssen. Hinter diesen Konsens, der auch in der Großen Koalition schon verbreitet war, fällt die Logik dieses Betreuungsgeldgesetzes um Lichtjahre zurück. ({15}) Steuergeld soll auch in der aktuellen Lage des öffentlichen Haushalts unter Absingen der Lieder der Konsolidierung eingesetzt werden, damit Frauen eine Berufstätigkeit zurückstellen und stattdessen in einer familienpolitischen Idylle gefangen gehalten werden, ({16}) die den gesellschaftlichen Realitäten, den vielfältigen Biografien und die insbesondere auch der teilweise nackten materiellen Not von Frauen, die einen Beruf benötigen, nicht entspricht. ({17}) Erstens. Das Betreuungsgeld ist aus fiskalischen Gründen falsch. Es ist finanzpolitischer Unfug, und Sie wissen das. Es kostet in einer Zeit, in der die Bundesregierung mit erhobenem Zeigefinger durch Europa läuft und andere zur Haushaltskonsolidierung anhält, bis zu 2 Milliarden Euro, und die Gegenfinanzierung von Ihnen fehlt. Oder plündern Sie die KfW oder den Gesundheitsfonds weiter aus? Wie soll das finanziert werden? Mich würde Ihre Reaktion sehr interessieren, sollte etwa ein mediterranes Land, zum Beispiel Griechenland, eine Prämie dafür beschließen, dass Frauen besser daheimbleiben sollen, statt sich berufliche Chancen zu eröffnen. ({18}) Die Stimmen aus Ihren Reihen, die dann kommen würden, sind mir sehr präsent. Zweitens. Das Betreuungsgeld ist aus bildungspolitischen Gründen falsch. Ich zitiere: Das Betreuungsgeld ist bildungspolitisch eine Katastrophe. ({19}) - Das sagte Frau von der Leyen. ({20}) Sie sind ja ein Weltmeister im Eigentorschießen. ({21}) Ich kann nur sagen: Wo Frau von der Leyen recht hat, hat sie recht. ({22}) Vor allem für Frauen oder Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen schafft das Betreuungsgeld einen finanziellen Anreiz, den Kitaplatz gegen eine Geldleistung einzutauschen. Dabei ist längst erwiesen, dass gerade für Kinder aus sozial benachteiligten, aus eher bildungsfernen Schichten, eine möglichst frühe Förderung und soziale Integration besonders wichtig wären. ({23}) Das sagt Ihnen nicht ein SPD-Politiker, sondern das sagen Ihnen alle fachlich-pädagogisch versierten und aufgeklärten Menschen in dieser Republik. Gerade Kinder aus sozial schwachen Familien verpassen damit eine hochwertige Betreuung und Erziehung in Krippen, die sie brauchen, um anschließend die Fähigkeiten zu entwickeln, die ihnen eine Teilhabe an unserem Leben ermöglichen. ({24}) Sie schaffen damit auch Ausgaben, obwohl dieses Geld besser in die Erstellung einer weiteren Betreuungsinfrastruktur investiert wäre, und zwar vor dem Hintergrund, dass nach wie vor mehr als 220 000 Kitaplätze fehlen. Ich meine mit diesem Geld nicht nur den materiellen Ausbau dieser Betreuungsinfrastruktur, sondern ich glaube, dass mit diesem Geld insbesondere auch die Löhne und Gehälter und auch die Qualifizierung derjenigen verbessert werden sollten, die sich um die Kinder, den Nachwuchs dieser Republik kümmern. ({25}) Drittens. Dieses Betreuungsgeld ist auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen falsch, was Sie wissen. Das Betreuungsgeld hält Frauen vom Arbeitsmarkt fern. Es schafft einen Anreiz für Frauen, länger aus dem Beruf auszusteigen, mit der Folge, dass ihre Rückkehrmöglichkeiten beschränkt werden. ({26}) Auch die Wiederkehr in Jobs oder Beschäftigungen, die ihren ursprünglichen Qualifikationen entsprechen, wird immer schwieriger. Dabei wissen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition - nicht von mir, nicht von der SPD, nicht von der Abteilung Agitation und Propaganda, sondern von der Bundesagentur für Arbeit -, dass diese Republik bis 2025 ungefähr 5 Millionen bis 6 Millionen Beschäftigte verliert. Das heißt, das Erwerbspersonenpotenzial geht deutlich nach unten. Wir können uns gemeinsam die Frage stellen: Was heißt das für die Wirtschaftskraft, die Innovationsfähigkeit und die Neugier in Wirtschaft und Gesellschaft? Es gibt zwei Möglichkeiten, diesem Trend entgegenzuwirken. Das eine ist eine Einwanderungspolitik. Das andere ist, die Erwerbstätigkeit von Frauen in der Bundesrepublik Deutschland auf das Niveau skandinavischer Gesellschaften zu erhöhen. ({27}) Das gelingt wesentlich mit zwei Maßnahmen, nämlich dem Ausbau von Betreuungsplätzen und der gleichen Bezahlung von Frauen und Männern für die gleiche Tätigkeit. ({28}) Das Betreuungsgeld wird einen sträflichen Trend fortsetzen, der in Deutschland besonders skandalös ist, nämlich die weitere Spreizung der Löhne und Gehälter von Männern und Frauen. Es ist erstaunlich, wie nachlässig Sie mit diesem Problem umgehen. ({29}) Sie wissen genauso gut wie ich, dass ausweislich der OECD Frauen in Deutschland im Durchschnitt um bis zu 23 Prozent schlechter bezahlt werden als Männer. Das sollte Sie genauso beschäftigen wie uns. ({30}) Viertens. Das Betreuungsgeld ist aus gesellschaftspolitischen Gründen falsch. „Das Betreuungsgeld passt nicht in die Zeit“, sagt Herr Döring von der FDP. ({31}) Damit sind wir bei dem springenden Punkt, den er ausnahmsweise zu Recht erfasst hat. Dieses Betreuungsgeld, diese Fernhalteprämie für Frauen im Hinblick auf das Arbeitsleben und eine gesellschaftliche Teilhabe, entspricht einer gesellschaftspolitischen Vorstellungswelt, die eher in die Biedermeieridylle passt als in das 21. Jahrhundert. ({32}) Vater am Arbeitsplatz, Mutter an Heim und Herd - das ist die traditionelle Rollenverteilung, die sich mit dieser Gesetzesinitiative verbindet. Die Koalitionsfraktionen vergewissern sich gegenseitig, sich an den gültigen Koalitionsvertrag zu halten. Die FDP sei vertragstreu, sagen Sie, Herr Brüderle. Sie ist vertragstreu, Herr Brüderle, obwohl die stellvertretende Parteivorsitzende der FDP, Justizministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sogar erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Betreuungsgeld geäußert hat - ich zitiere -: Die Frage wird sein, ob Grundsätze der Gleichbehandlung verletzt werden. Man muss damit rechnen, dass Gegner des Betreuungsgeldes vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Die Bundesregierung sollte nicht riskieren, in Karlsruhe zu scheitern. ({33}) Welche Rolle hat diese Einschätzung in Ihren Beratungen gespielt? Die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ihre Parteifreundin Frau Laurischk, sagte: Ich bezweifle die Verfassungsmäßigkeit des Betreuungsgeldes. - Wir tun das auch. ({34}) Unter einer SPD-geführten Bundesregierung und einer rot-grünen Koalition wird dieses Gesetz die kürzeste Halbwertszeit in der Geschichte der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland haben. ({35}) Eine der ersten Maßnahmen einer rot-grünen Regierung wird die Abschaffung des Betreuungsgeldes sein und auch, die dazu bisher zur Verfügung gestellte Summe in den Ausbau der Kindertagesplätze in Deutschland zu investieren. ({36}) Warum - so frage ich Sie, Frau Bundeskanzlerin stellen Sie das Betreuungsgeld zur Abstimmung im Deutschen Bundestag, obwohl alle Argumente dagegen sprechen und Sie selbst, wie ich glaube, in einem inneren Dialog wissen dürften, dass dieses Gesetz unsinnig ist? Sie tun es aus einem Pragmatismus, der nichts mit der Zukunftsfähigkeit dieses Landes zu tun hat, wohl aber mit der Gefälligkeit gegenüber einem Koalitionspartner, also aus einem Kalkül der Machtbalance innerhalb Ihrer Regierung. Das ist ein Pragmatismus, der keinerlei Vorstellungskraft und keinerlei Führungsqualität bei der Frage zu erkennen gibt, wie mit der Benachteiligung von Frauen, eine eigene berufliche Biografie zu schreiben, aufgeräumt werden kann und wie die Chancen für Kin24996 der, insbesondere aus bildungsferneren Schichten, in Deutschland verbessert werden können. ({37}) Mit diesem Betreuungsgeld dokumentieren Sie, dass Ihr politischer Kompass nicht einer klaren Vorstellung folgt, wie diese Gesellschaft in der Perspektive des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zusammen leben und arbeiten sollte; dieser politische Kompass - das dokumentiert dieses Betreuungsgeld - ist vielmehr alleine auf die Überlebensfähigkeit Ihrer Koalition bis zur Bundestagswahl in elf Monaten gerichtet. Das ist zu wenig. Zusammen können wir sehr viel mehr. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({38})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick Meinhardt das Wort. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allem meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, Sie alle leiden wohl an kollektivem Gedächtnisverlust. ({0}) Erinnern Sie sich noch an den 26. September 2008? Damals haben Sie sogar regiert. Und Sie haben das Kinderförderungsgesetz verabschiedet. Wenn Sie es auch nicht mehr hören können, Sie werden es immer und immer wieder zu hören bekommen, hier im Deutschen Bundestag und auf jeder Podiumsdiskussion. Ich zitiere, was Sie verabschiedet haben: Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung - eine monatliche Barzahlung ({1}) eingeführt werden. Was Sie hier im Deutschen Bundestag veranstalten, ist an Doppelzüngigkeit und Heuchelei nicht zu überbieten. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, möchten Sie schon Zwischenfragen zulassen?

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich glaube, Herr Steinbrück hatte genügend Möglichkeiten gehabt, ({0}) die verfehlte SPD-Position hier darzustellen. ({1}) Der damalige SPD-Generalsekretär Hubertus Heil - er kommt gerade - bezeichnete dieses Gesetz inklusive der Barauszahlung als - ich zitiere - „Quantensprung, der jungen Eltern endlich wirkliche Wahlfreiheit ermöglicht“. Können Sie hier überhaupt noch stehen und in den Spiegel schauen? ({2}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der SPD, es ist durch und durch unredlich, wenn Sie so tun, als hätten Sie damit nichts zu tun; denn Sie waren es, die das Betreuungsgeld beschlossen haben, Sie haben die Hand dafür gehoben - im Bundestag, im Kabinett. ({3}) Der damalige Finanzminister Steinbrück, der Außenminister Steinmeier, der Umweltminister Gabriel - Sie sind die rote Betreuungstroika. ({4}) Auch wenn Sie sich heute dafür schämen sollten, aus dieser Nummer kommen Sie nicht mehr raus. ({5}) Aber Sie, Herr Steinbrück, toppen das Ganze noch, nach dem Motto „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“. ({6}) Als Bundesfinanzminister sagten Sie noch über das beschlossene Gesetz: Es ist ein vernünftiger Kompromiss. ({7}) Heute das als Schwachsinn darzustellen, was Sie selbst als „vernünftigen Kompromiss“ eingebracht haben, ist an Unverfrorenheit nicht mehr zu überbieten. ({8}) Wer als Bundesfinanzminister von einem „vernünftigen Kompromiss“ redet und als Kanzlerkandidat der SPD in diesem Hohen Haus eine solche Rede hält, wie Sie sie gehalten haben, der hat jeden ehrlichen Anspruch verwirkt, auf der Regierungsbank Platz zu nehmen. ({9}) Irgendwie erscheint es so, als ob Sie in Thüringen nicht mitregierten. ({10}) In Thüringen gibt es eine Große Koalition von CDU und SPD. In Thüringen gibt es einen Koalitionsvertrag der Koalitionspartner. In Thüringen gibt es ein Betreuungsgeld. Jetzt kommt die Unverfrorenheit hoch drei: Aus sozialdemokratischer Sicht ist es also eine Leistung, die Sie selbst durch Koalitionsvertrag zur eigenen Regierungspolitik gemacht haben und in einem Land wie Thüringen mittragen. Aber wenn wir es einführen wollen, soll es eine Katastrophe sein. Gleichzeitig sagen Ihre Landesminister vor Ort - sie sind auch in Ihrem Kompetenzteam -, dass die Einführung des Betreuungsgelds auf Bundesebene das Betreuungsgeld in Thüringen ersetzen würde und Thüringen dann das Betreuungsgeld aufgeben könnte. Meine Damen und Herren, in welcher Welt leben Sie eigentlich? Hier muss mehr Glaubwürdigkeit in die Debatte hinein. ({11}) Wir haben sehr, sehr viel Kraft investiert, um in diesem Gesetzentwurf das Maximum an besseren Bildungschancen für unsere Kinder zu erreichen. ({12}) Wir haben als FDP und in dieser Regierungskoalition dem Betreuungsgeld einen zusätzlichen Bildungsstempel aufgedrückt. Das ist wichtig. Der Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld ist mit der heutigen Einbringung der Türöffner für ein Bildungssparen in der Bundesrepublik Deutschland. ({13}) - Sie sollten sich eher an die eigene Nase fassen. Denn zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Deutschland gerade beim Bildungssparen mit großem Abstand die rote Laterne in Europa trägt. Wir wollen aus diesem Zustand heraus. ({14}) Wir wollen mehr für Bildungsgerechtigkeit, frühkindliche Bildung und lebenslanges Lernen erreichen, und das wird der Einstieg dafür. Deswegen ist es auch richtig und gut, dass das Bundeswirtschaftsministerium ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gegeben hat, damit wir in der Bundesrepublik Deutschland eine breite Diskussion über die richtigen Wege eines klugen und intelligenten Sparens ein Leben lang führen können. ({15}) 3 600 Euro können innerhalb von 22 Monaten auf ein Bildungskonto eingezahlt werden. Ganz wichtig ist - das sollten wir an dieser Stelle deutlich hervorheben -: Für jedes Kind, das in Deutschland in einer Familie aufwächst, die von Hartz IV leben muss, kann diese Bildungsinvestition auf dem Bildungskonto angelegt werden. Sagen Sie den 250 000 Kindern unter drei Jahren, die in solchen Gemeinschaften leben, dass Sie nicht wollen, dass für sie ein Bildungskonto mit einem Guthaben in Höhe von 3 600 Euro eingerichtet werden kann! Sie sind die Partei der sozialen Ungerechtigkeit. ({16}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben innerhalb der letzten drei Jahre eine große Investitionsleistung in der Bildungs- und Familienpolitik hingelegt. Wir haben den größten Investitionsbereich mit über 13,7 Milliarden Euro im Bereich Bildung und Forschung. Diese Bundesregierung lässt sich von einem ganz klaren Bild leiten: Es gibt keine Einheitskinder; deswegen gibt es auch keine Einheitsfamilie. Wir wollen dafür kämpfen, dass Bildungsvielfalt, Gestaltungsvielfalt, gesellschaftliche Vielfalt in dieser Bundesrepublik Deutschland Realität ist. Dafür kämpft diese Regierung aus CDU, CSU und FDP. In der Bildungsgerechtigkeit und mit den Bildungsaufstiegschancen, die wir innerhalb dieser Jahre gewährt haben, hat die Regierung in diesen drei Jahren mehr zustande gebracht als jede andere Vorgängerregierung. ({17}) Deswegen, sehr geehrter Herr Steinbrück: Sie haben recht. Wir sollten hier im Deutschen Bundestag eine gemeinsame Linie am heutigen Vormittag finden. Stimmen Sie einfach zu! Springen Sie über Ihren Schatten! ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich der Kollegin Diana Golze für die Fraktion Die Linke das Wort erteile, erhält der Kollege Heil die Gelegenheit zu einer Kurzintervention. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Meinhardt, da Sie mich persönlich angesprochen haben, aber nicht den Mut hatten, eine Zwischenfrage zuzulassen, ({0}) und da ich dem Handbuch des Deutschen Bundestages gerade entnommen habe, dass Sie zumindest eines mit mir gemeinsam haben - wir beide geben an, evangelische Christen zu sein -, möchte ich Sie an einen Satz erinnern, der in der Bibel steht, nämlich: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. ({1}) Wer mich hier anspricht - das haben Sie getan - und ein Zitat, in dem ich von einem Quantensprung für junge Eltern gesprochen habe und das ich auf den Krippenausbau gemünzt habe, aus dem Zusammenhang reißt und damit versucht, zu kaschieren, was er selbst hier heute veranstaltet, der muss damit rechnen, dass wir das aufklären. Das versuche ich jetzt. Wir haben niemals und wir hätten niemals die Hand für ein solches Gesetz gehoben. Ein unverbindlicher Prüfauftrag in der Begründung eines Gesetzes ist ein Unterschied zu dem, was Sie heute machen. ({2}) Es ist doch auffällig, Herr Kollege, dass Sie in einer Gesetzesberatung wie der heutigen keinen einzigen Satz zur Sinnhaftigkeit dieses unsinnigen Betreuungsgeldes gesagt haben, sondern mit Nebelgranaten schmeißen, um die Rückgratlosigkeit der FDP zu kaschieren. ({3}) Das ist das, was Sie eben gemacht haben in selbstgefälliger Art und Weise. Deshalb habe ich nur eine Frage - die können Sie ja beantworten -: Was sagt es über das Rückgrat einer ehemals stolzen FDP aus, wenn Ihre Jugendorganisation sagt: „Stimmt jetzt ruhig zu, und wir schaffen es dann nach der Wahl wieder ab“? Was ist denn das für ein Brummkreisel? Warum versuchen Sie, jemanden wie Frau Pieper, die den Mut hat, diesen Unsinn nicht mitzumachen, per Interview Ihres Generalsekretärs Döring von der Ausübung des freien Mandats abzuhalten? ({4}) Warum haben Sie eigentlich nicht den Mut, Ihrem Gewissen zu folgen und diesen Unsinn abzulehnen, der auch verfassungswidrig ist? ({5}) Das ist das, was ich Ihnen sage. Deshalb, lieber Kollege: Wenn Sie mich zitieren, dann bitte korrekt! Ich sage es noch einmal: Der Krippenausbau ist ein Quantensprung, den wir gemeinsam schaffen müssen. Er ist noch nicht erreicht. Aber diese Fernhalteprämie, die Frauen vom Arbeitsmarkt und Kinder von der frühkindlichen Förderung fernhält, ist ein Rückschritt. Das müssen andere Mehrheiten hier im Haus wieder abschaffen, weil Sie es verbockt haben und kein Rückgrat haben. Das ist die Wahrheit, Herr Kollege! ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung Kollege Meinhardt.

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist immer gut, wenn man einen Blick in den Gesetzestext wirft. Ich formuliere: in den Gesetzestext, nicht in irgendeine Entscheidung, nicht in irgendeinen Antrag. Im Gesetzestext, ich sage es ein weiteres Mal, steht: Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung ({0}) eingeführt werden. ({1}) Ende des Gesetzestextes. Diesem Gesetzestext hat die SPD-Fraktion hier im Deutschen Bundestag zugestimmt. Diesem Gesetzestext haben Sie zugestimmt. ({2}) Diesem Gesetzestext haben alle drei Herrschaften von der SPD-Troika zugestimmt. Wenn Sie schon auf einer korrekten Zitierweise bestehen: Sie haben damals zum Gesetzestext gesagt, ({3}) dieser Gesetzestext inklusive aller Bestandteile - denn nur so kann man eine derartige Rede, wenn man zum Gesetzestext ohne irgendeine Einschränkung spricht, interpretieren - sei ein Quantensprung, der jungen Eltern endlich wirkliche Wahlfreiheit ermöglicht. Wenn Sie schon in der Art und Weise hier aufstehen und agieren, dann ist meine herzliche Bitte von jemandem mit theologischer Bildung zu jemandem mit theologischer Bildung, dass Sie wirklich bei den Inhalten und den Kernaussagen Ihrer Worte bleiben. Ich erwarte von Ihnen - wenn Sie „Quantensprung“ gesagt haben und es damals so zitiert haben -: Dann stehen Sie hier auch dazu! Von mir aus können Sie sich auch hier hinstellen und sagen, Sie haben sich geirrt. Das können Sie jederzeit. Das wäre ein ehrlicher Ansatz. Aber interpretieren Sie nicht das um, was Sie vor vier Jahren im Hohen Haus verabschiedet haben. Sie können sich nicht aus dieser Verantwortung stehlen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält die Kollegin Diana Golze für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Meinhardt, Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Es muss mehr Glaubwürdigkeit in die Debatte. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten damit angefangen. ({0}) Ich kann Ihnen die Anträge zum Thema Betreuungsgeld, die Sie als FDP-Fraktion, als Sie noch in der Opposition waren - was Sie bald, wenn überhaupt, wieder sein werden -, vorgelegt haben, sehr gerne in Erinnerung rufen. Auch in diesen Anträgen haben Sie behauptet, Sie seien gegen das Betreuungsgeld. Heute wollen Sie etwas anderes beschließen, im Gegenzug zur Verabschiedung eines Gesetzes, das mit dem Betreuungsgeld nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Es ist das Ergebnis eines Kuhhandels im Koalitionsausschuss, der nur dem Zweck diente, diese Regierung am Leben zu erhalten auf Kosten von Kindern, auf Kosten von Frauen, auf Kosten von Familien. Das möchte ich Ihnen gerne deutlich machen. Wir haben bereits in dieser Debatte darüber gesprochen, welchen Einfluss dieses Betreuungsgeld auf den weiteren Ausbau der Kindertagesbetreuung höchstwahrscheinlich haben wird. Wir haben die Erfahrungen aus anderen Ländern - unter anderem den skandinavischen Staaten, in denen es so etwas Ähnliches wie das Betreuungsgeld gab -, dass dieses Betreuungsgeld einen erheblichen negativen Einfluss auf das Angebot und die Nachfrage von Kindertagesbetreuungsplätzen hatte. Das Gerede von Wahlfreiheit kann ich einfach nicht mehr ertragen. ({1}) Frau Bär, wenn Sie für sich in Anspruch nehmen: „Wir müssen für die Gesamtbevölkerung sprechen“, dann sage ich Ihnen noch einmal: Mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung lehnen das Betreuungsgeld ab. Sie lehnen es deshalb ab, weil das Gerede von Wahlfreiheit nur Gerede ist, solange die Kindertagesbetreuungsplätze und die Plätze bei Tagespflegepersonen nicht da sind. Und sie sind nicht da. ({2}) Das Statistische Bundesamt hat in dieser Woche die Zahlen noch einmal vorgelegt. Mehr als 220 000 Plätze fehlen noch. Der Rechtsanspruch auf einen Platz steht auf tönernen Füßen, obwohl er im nächsten Jahr greifen soll. Solange keine öffentlichen und qualitativ hochwertigen Kindertagesbetreuungsplätze da sind, kann doch nicht von einer Wahlfreiheit gesprochen werden. Sie werden mit diesem Betreuungsgeld den Druck, diese Plätze zu schaffen, herausnehmen, weil Sie den Eltern diesen Rechtsanspruch billig abkaufen. Dem werden und können wir nicht zustimmen. ({3}) Dieses Betreuungsgeld ist ein gleichstellungspolitisches Katastrophenprogramm. Alle Staaten, die ein solches Betreuungsgeld hatten und die es im Übrigen wieder abgeschafft haben, belegen: Das Betreuungsgeld verhindert in erster Linie die Erwerbstätigkeit von Frauen. Es verschärft die ungleiche Entlohnung; denn alle Länder, die ein solches Betreuungsgeld hatten, zeigen, dass es von Frauen mit einem höheren Bildungsgrad und einem höheren Einkommen, das sie vor der Geburt ihres Kindes hatten, nicht in Anspruch genommen wird. Anders herum gesagt: Es wird von denen in Anspruch genommen, die entweder vorher keinen Job hatten oder einen hatten, der sehr schlecht bezahlt war. Die schlecht bezahlten Jobs sind auch in Deutschland leider immer noch diejenigen, die vor allem von Frauen ausgeübt werden. Das heißt, diese Frauen werden aus dem Erwerbsleben herausgedrängt, die Lohnungleichheit wird verschärft, Einkommensunterschiede werden sich vergrößern. Die Frauen werden das Problem haben, dass sie nach einer längeren Erwerbspause nicht wieder in einen guten Job zurückkommen können. Sie werden auf Minijobs abgeschoben. Minijobs bedeuten Minilohn, bedeuten Minirente. Das ist alles abzusehen. Und Sie gehen diesen Weg. Diesem Weg aber können wir nicht zustimmen und werden ihn nicht mitgehen. ({4}) Jetzt machen Sie zu diesem Betreuungsgeldgesetz ein Begleitgesetz, ein Ergänzungsgesetz, das uns heute in erster Lesung vorliegt, in dem Sie den betroffenen Frauen die Möglichkeit einräumen wollen, eine private Rentenvorsorge zu treffen. Das Geld, das als Betreuungsgeld gezahlt wird, soll angelegt werden können, um auf diese Weise für die Alterssicherung vorzusorgen. Das ist doch widersinnig. Sie haben genau diesen Frauen - den erwerbslosen Frauen - im Jahr 2010 die Rentenanteile im Arbeitslosengeld II gestrichen. Und jetzt wollen Sie ihnen das Betreuungsgeld schmackhaft machen für eine private Altersvorsorge, die noch nicht einmal den Anspruch erreichen wird, den Frau von der Leyen mit ihrer komischen Zuschussrente - oder wie Sie jetzt sagen: Lebensleistungsrente - einlösen will. Das ist doch widersinnig. Diese Frauen sind arm, und sie bleiben arm, und sie werden auch im Alter arm sein. ({5}) Auch deshalb können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Ich möchte jetzt die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ansprechen, die sich in dieser Debatte leider nicht zu Wort meldet; zumindest geht das so aus der Redeliste hervor. ({6}) Frau Ministerin, Sie sind nicht die Ministerin für Wahlgeschenke an Bayern, Sie sind unter anderem die Ministerin für Frauen, für Familien und für deren Kinder. ({7}) Wenn aber dieses Gesetz Ihr Konzept darstellen soll für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für die bessere Gleichstellung der Geschlechter, für die Existenzsicherung der Frauen auch im Alter, dann haben Sie etwas grundsätzlich falsch verstanden und sind falsch auf diesem Posten. ({8}) Das Betreuungsgeld ist zudem ein Bildungsverhinderungsinstrument und ein integrationspolitisches Armutszeugnis. ({9}) Nicht erst seit gestern ist in diesem Hause bekannt, dass Kindertagesstätten mehr sind als nur Einrichtungen für die Betreuung von Kindern. Vielmehr soll hier auch frühkindliche Bildung stattfinden. Sprechen, Lesen, Rechnen, Bewegung, motorische Fähigkeiten, soziale Kompetenzen - all das lernen Kinder nicht von allein. Dazu brauchen sie ihre Eltern, ja richtig. Dazu brauchen sie aber auch ganz dringend andere gleichaltrige Kinder. ({10}) Ich bin selbst Mutter von zwei Kindern, und ich sage Ihnen: Ja, auch ich habe für mich den Anspruch, meine Kinder zu erziehen und zu bilden. Aber ich bin ehrlich genug, zuzugeben, dass ich meinen Kindern beim besten Willen nicht das bieten kann, was ihnen das Zusammensein mit gleichaltrigen Kindern bieten kann und was ihnen eine qualifizierte, gut ausgestattete Kita bieten kann. ({11}) Deshalb kann ich einem Gesetz nicht zustimmen, das Kindern das Zusammensein mit Gleichaltrigen und die Förderung durch gut qualifizierte und gut bezahlte Kitaerzieherinnen und -erzieher verwehrt. Ich bekomme die Tagesbetreuung für meine Kinder im Übrigen nicht geschenkt, das will ich hier noch einmal ganz deutlich sagen. Es wird ja immer der Eindruck erweckt, wir dürften das Geld nicht nur in die Kitas stecken, sondern wir müssten auch den Eltern Geld geben, die ihre Kinder eben nicht in die Kitas schicken. ({12}) Diese Kitas gibt es für die Eltern nicht umsonst. Es gibt viele Kommunen, die sich sozial gestaffelte Kitabetreuungsgebühren nicht mehr leisten können. Da werden horrende Beträge fällig. Ich bin gerne bereit, für eine gute Kitabetreuung meiner Kinder gutes Geld zu zahlen. Das Argument jedoch, ich bekäme hier etwas geschenkt, ist doch einfach falsch. Einen Gegensatz herzuleiten und zu sagen: „Ich darf nicht nur den einen Eltern etwas geben, sondern ich muss auch den anderen etwas geben“, das ist deshalb an den Haaren herbeigezogen. ({13}) Sie verteilen ungerechtfertigte Geschenke, die sich als vergiftete Geschenke erweisen werden. Wir haben in diesem Hause - Frau Ministerin Schröder hat öfter einmal mit bunten Broschüren gewedelt - häufiger darüber gesprochen, wie wir es schaffen können, Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Kinder besser in unsere Gesellschaft zu integrieren. Es werden Modellprogramme aufgelegt, um genau dies zu schaffen. Es wird Geld dafür ausgegeben, um Sprachförderung in den Kitas zu organisieren. Und nun wird dauerhaft noch mehr Geld angelegt, um die Kinder genau von dieser Förderung fernzuhalten. Herr Meinhardt, ich möchte mich an Sie wenden. Ich habe im Kürschner, also im Handbuch des Deutschen Bundestages, gelesen, dass Sie der bildungspolitische Sprecher Ihrer Fraktion sind. Wenn das stimmt, kann ich nur sagen: Ich kann es nicht verstehen, wie ein Bildungspolitiker einem Gesetz zustimmen kann, das Kinder von Bildung fernhält. ({14}) Ich kann es auch dann nicht verstehen, wenn über das Ergänzungsgesetz irgendwann einmal das sogenannte Bildungssparen kommen soll. Denn es ist ja noch nicht festgeschrieben; es wird das Gesetz zum Gesetz zum Gesetz geben, wenn Sie überhaupt noch die Zeit dazu haben. ({15}) Ich kann es nicht verstehen, dass Sie davon ausgehen, dass mit einem Betrag von 3 630 Euro - es ist schade, dass Sie mir nicht zuhören - die Bildung aller Kinder gesichert wird. Sie wissen sehr genau, dass sich das Bildungssparen nur dann für die Kinder auszahlen wird, wenn es nicht nur auf den Zeitraum von zwei Jahren beschränkt ist, sondern fortgeführt wird. Aber woher sollen denn die Familien, zum Beispiel die im Hartz-IV-Bezug, das Geld nehmen, um nach Bezug des Betreuungsgeldes dieses Konto weiter aufzufüllen? ({16}) Woher denn? Aus Ihrem ominösen Bildungs- und Teilhabepaket, oder woher? Sie stellen sich da ein Armutszeugnis aus. Sie sollten Ihren Titel des bildungspolitischen Sprechers aufgeben; denn Sie haben in dieser Beziehung versagt. ({17}) Das Betreuungsgeld ist verfassungsrechtlich sehr umstritten. Viele haben angekündigt - auch meine Fraktion -, dass sie dieses Gesetz anfechten werden. Ich hoffe, Herr Steinbrück, dass es ein gemeinsames Agieren der Opposition in diese Richtung gibt. Ich war sehr enttäuscht, dass Sie in Ihrer Rede hier gerade bei so einem wichtigen Thema eine Differenz aufmachen. Ich sage es hier noch einmal ganz klar: Die gesamte Opposition des Bundestages ist gegen dieses Betreuungsgeld. Wir werden es in Karlsruhe prüfen lassen und werden all denen, die dieses Betreuungsgeld ablehnen, auch in der nächsten Legislatur eine Stimme geben. Wir werden die SPD sehr genau beobachten und schauen, ob sie dieses Gesetz tatsächlich zurücknimmt oder nicht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mit einem Zitat beginnen: Das Betreuungsgeld lehnen wir ab. Es stammt von Professor Dr. Wolfgang Franz, Vorsitzender des Sachverständigenrats der Bundesregierung. Berufen wurde Herr Professor Franz von der Bundeskanzlerin, Frau Merkel. Meine Damen und Herren, es reicht nicht, Sachverständige zu berufen. Man muss auch mal auf sie hören, verdammt noch mal! ({0}) Es herrscht in Deutschland Fachkräftemangel. Was tun Sie? Sie schaffen einen ökonomischen Anreiz, gut ausgebildete Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. ({1}) Mädchen sind besser in der Schule. ({2}) Frauen haben die besseren Abschlüsse. ({3}) Die Merkel-Koalition will, dass diese Frauen zu Hause bleiben. ({4}) Sie, Frau Merkel, wollen doch den Skandal fortsetzen: Sie wollen, dass das begabtere Geschlecht weiterhin ein Viertel weniger verdient als wir Männer. Das ist fatal. ({5}) Frau Bär, erzählen Sie uns nichts von „Wahlfreiheit“. Bei 220 000 fehlenden Krippenplätzen gibt es keine Wahlfreiheit. Sie kämpfen nicht für Wahlfreiheit; Sie machen Wahlkampf für Bayern. Das ist der Punkt. ({6}) Es mag ja mit dem Weltbild aus Wolfratshausen übereinstimmen, wenn Frauen wieder einen Anreiz erhalten, zu Hause bei Heim und Herd zu sitzen und den Job aufzugeben. Aber ich sage Ihnen: Wolfratshausen ist nicht die Zukunft; das ist Vergangenheit. Deswegen können wir mit dieser Gesellschaftspolitik die Zukunft nicht gestalten. ({7}) Diese Fernhalteprämie ist kinderfeindlich, sie ist frauenfeindlich, sie ist familienfeindlich, und sie ist wirtschaftsfeindlich. Für diesen Irrweg sollen wir alle bezahlen: Die Wirtschaft soll auf Fachkräfte verzichten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Trittin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler zu?

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Trittin, Sie haben mich und meine Geschlechtsgenossinnen unumwunden als das begabtere Geschlecht bezeichnet. Ich wüsste sehr gerne, welchen Begabungsbegriff Sie zugrunde legen und ob Sie Männer tatsächlich für weniger lern- und bildungsfähig halten als Frauen und Mädchen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegin, der Empirie, die ich hier zitiert habe, muss man sich stellen. Die Wahrheit ist, dass im statistischen Durchschnitt junge Mädchen besser in der Schule sind als Jungen, dass sie die besseren Schulabschlüsse und auch die besseren Universitätsabschlüsse haben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der als Konsens gilt - nicht nur bei der FDP -, dass sich Leistung lohnen soll. Das Prinzip, dass sich Leistung lohnt, sollte sich auch im Einkommen widerspiegeln. ({0}) Ich habe lediglich eine einfache Feststellung getroffen: Diejenigen, die in den Schulen und Universitäten bessere Leistungen bringen, gehen mit einem Gehalt nach Hause, das bis zu einem Viertel niedriger ist als das Gehalt derer, die einen schlechteren Abschluss haben. Das ist ein Skandal, und das muss man beenden. Man darf das nicht befördern, wie es die rechte Seite dieses Hauses will. ({1}) Wir alle sollen für diesen Irrweg bezahlen, nur damit Bayern nicht zum Swing State wird wie NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz und demnächst auch Niedersachsen. ({2}) Er ist teuer. Liebe Frau Merkel, Ihre Klientelpolitik vom vergangenen Wochenende kostet uns im nächsten Jahr 3,8 Milliarden Euro und 2014 5,4 Milliarden Euro. Allein die Herdprämie schlägt im Haushalt mit mindestens 1,2 Milliarden Euro zu Buche. Für den Ausbau der Krippenplätze hingegen planen Sie lediglich 770 Millionen Euro ein. Das sind Ihre Prioritäten. Von wegen Wahlfreiheit: Sie dementieren sich selber! ({3}) Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, uns das auch noch als Sparpolitik verkaufen wollen. Stellen Sie sich doch einmal vor, der spanische Premierminister würde 5,4 Milliarden Euro rauswerfen! Würden Sie sagen: „Schön gespart, Herr Rajoy“? Sie predigen dem Rest Europas Sparsamkeit, schmeißen hier aber das Geld aus dem Fenster ({4}) und bedienen locker Ihre eigene Klientel. Beim Betreuungsgeld ist noch ein Schnäppchen für die Versicherungswirtschaft enthalten. Nebenher wird Herr Ramsauer für die Zubetonierung der bayerischen Landschaft einmal eben mit weiteren 750 Millionen Euro ausgestattet, entnommen aus den Gebäudesanierungsmitteln der KfW. Sie sorgen dafür, dass Straßen gebaut werden und kürzen gleichzeitig die Mittel für den Klimaschutz. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Trittin, darf die Kollegin Steinbach auch eine Frage stellen?

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Trittin, ich möchte noch einmal auf das begabtere Geschlecht zurückkommen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das muss ja tief gesessen haben.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ganz bestimmt; das werden Sie gleich merken. Wie kommt es, dass dieses begabtere Geschlecht zu rotgrüner Regierungszeit nicht den Vizekanzler seitens der Grünen gestellt hat? ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Steinbach, weil der Vizekanzler damals Joschka Fischer hieß und bekanntermaßen ein Mann war. ({0}) Ich weiß, dass Sie das persönlich besonders umgetrieben hat. Ich glaube aber, das lag nicht daran, dass Joschka ein Mann war, sondern daran, dass Sie mit der politischen Haltung von Joschka Fischer nicht klarkommen. Aber so hatte der Wähler, die Wählerin nun einmal entschieden. Sie sehen an meiner Fraktion, wie eine Frauenquote funktionieren kann. Wir würden Ihnen für Ihre Fraktion gerne Gleiches anraten; aber davon sind Sie noch weit entfernt. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Trittin, vielleicht können wir uns darauf verständigen, dass es einzelne Männer gibt, die das durchschnittliche Begabungsprofil von Frauen erreichen? ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, wenn Sie das sagen, dann will ich das Ihnen ausdrücklich konzedieren. ({0}) Meine Damen und Herren, es ist interessant, wie Sie das finanzieren. Die Sanierung des Haushaltes finanzieren Sie nämlich aus den Kassen der Krankenversicherungen. Ich sage Ihnen: Es ist schon ein eigentümliches Verständnis von Solidarität, wenn künftig für den Sozialausgleich nur noch die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten herhalten müssen, weil Beamte und Selbstständige in diesem Fall aus der Solidarität entlassen werden. Das haben Sie einmal anders versprochen. Ich sage Ihnen, was hier passiert: Sie lassen die Klientelgeschenke, die Sie aus Steuermitteln verteilen, von den Sozialversicherten bezahlen. ({1}) - Lieber Herr Kollege Bahr, Sie rufen „Praxisgebühr“ dazwischen. Wenn wir die Überschüsse aus den gesetzlichen Krankenversicherungen nehmen würden, dann könnten wir nicht nur die Praxisgebühr senken, sondern auch die Beiträge. Sie aber haben genau diese Überschüsse für den Sozialausgleich verwendet, der immer aus Steuermitteln bezahlt werden sollte. Das ist Ihre Form von Politik. Sie reduzieren Solidarität auf die Beschäftigten und beziehen sie nicht auf die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. ({2}) Meine Damen und Herren, der Abgrund, der sich in dieser Koalition auftut, zeigt sich an einer anderen Stelle, nämlich an der sogenannten Lebensleistungsrente. Dieses Wort muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Was ist Ihnen die Lebensleistung eines Menschen wert, der vierzig Jahre lang hart gearbeitet hat? In Beträgen ausgedrückt, ist diese Leistung Frau Merkel und Frau von der Leyen 10 Euro wert. Wissen Sie, woran mich das erinnert? Das erinnert mich an das 19. Jahrhundert. Damals schenkte der Patriarch seinem Vorarbeiter in der Firma nach vierzig Jahren eine Uhr. Er war aber nicht ganz so schlimm wie Sie. Sie haben noch einen Begriff erfunden; er lautet: Lebensleistungsrente. Diese Form von Sozialzynismus geht in diesem Land nicht mehr. Damit muss Schluss sein. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Markus Grübel. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in meiner zehnjährigen Abgeordnetenzeit selten eine so ideologische Debatte erlebt wie zum Betreuungsgeld. Von der Opposition wird kräftig schwarz-weiß gemalt. ({0}) Den Vorwurf der Opposition könnte man so zusammenfassen: Eltern schaden ihren Kindern. Und dieser Vorwurf ist Unsinn. ({1}) Sie sagen: Nur wer mit einem Jahr in einer Kinderkrippe ist, hat Chancen im Leben. Das ist falsch. Beim Betreuungsgeld geht es um Ein- und Zweijährige, also um ganz kleine Kinder. Es geht nicht um Kindergartenkinder. Vielfach unterstützen die Großeltern die Mütter und Väter bei der Betreuung ihrer Kinder. Die Argumente, die Sie gegen die Betreuung zu Hause bringen, beleidigen nicht nur die Eltern, sondern auch die Großeltern. ({2}) Sie wollen entscheiden, was gut und was schlecht für Familien ist. Das wissen die Familien aber selbst viel besser. Darum wollen wir die Wahlfreiheit stärken. Wir ermöglichen die Wahlfreiheit durch das Betreuungsgeld und den massiven Ausbau der Kinderbetreuung. Beim Betreuungsgeld geht es nicht um Leben und Tod, auch wenn in dieser Debatte manche den Eindruck erwecken. Sie von der SPD haben 2007/2008 dem Betreuungsgeld zugestimmt. ({3}) Sie haben dem in der Großen Koalition zugestimmt. Wir haben damals in § 16 Abs. 5 SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - geschrieben - Sie haben ja alle moderne Geräte; lesen Sie es einmal nach -, ({4}) dass ab 2013 „für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung ({5}) eingeführt werden“ soll. ({6}) Auch wenn Sie das heute nicht mehr wahrhaben wollen: Die meisten, die hier sitzen, haben dem damals zugestimmt. ({7}) Sie, Herr Steinbrück, haben das damals als vernünftigen Kompromiss bezeichnet. Ein wörtliches Zitat - Herr Steinbrück am 28. Februar 2008 -: Ich freue mich, dass wir gemeinsam diesen vernünftigen Kompromiss gefunden haben. ({8}) Heute nennen Sie Kompromisse Kuhhandel und das Betreuungsgeld frauenfeindlich. Erinnern Sie sich an Ihre frühere Meinung! ({9}) Ich sage Ihnen: Sie sollten das Betreuungsgeld hier nicht verteufeln. Sie haben diesen Kompromiss selbst schon einmal geschlossen. Sie haben mit dafür gesorgt, dass das ins Gesetz geschrieben wird, und das als guten Kompromiss bezeichnet. Das war, zugegeben, nicht Ihr Herzensanliegen; aber Sie haben es mitgetragen und als guten Kompromiss bezeichnet. ({10}) Es gibt eine Parallele zwischen der sozialen Pflegeversicherung und dem Betreuungsgeld. Auch in der Pflegeversicherung gibt es Geldleistungen und Sachleistungen, die Pflege zu Hause und die Pflege im Pflegeheim. Bei der Pflege zu Hause spricht überhaupt niemand davon, dass die Geldleistung eine Herdprämie oder Fernhalteprämie sei. ({11}) Bei der Pflege zu Hause spricht auch niemand davon, dass die Eltern schlecht gepflegt werden, weil sie zu Hause gepflegt werden und nicht im Pflegeheim. ({12}) Dass wir die Pflege zu Hause fördern, zeigt, dass wir uns das richtige Gefühl dafür bewahrt haben, wie wichtig und gut die Betreuung durch die Familie ist. Die Wahlfreiheit in Sachen Pflege ist gut und richtig, und die Wahlfreiheit in Sachen Betreuung ist auch gut und richtig. Darum werden wir sie ermöglichen. ({13}) Der Staat darf kein Betreuungsmodell bevorzugen. Er darf nicht einseitig die U-3-Betreuung ausbauen; er muss auch andere Lebensentwürfe der Eltern unterstützen. ({14}) Es darf nicht das Privileg reicher Eltern sein, ihre Kinder selbst betreuen zu können. Das müssen sich auch Eltern mit geringerem Einkommen leisten können. ({15}) Wir haben den vorliegenden Gesetzentwurf in wichtigen Punkten geändert. So haben wir klargestellt, dass Eltern-Kind-Gruppen, Krabbelgruppen und Ähnliches keine regulären Betreuungsplätze im Sinne des Gesetzes sind und der Besuch solcher Gruppen daher für den Bezug des Betreuungsgeldes unschädlich ist. Ferner haben wir die Härtefallklausel massiv erweitert: Bei schwerer Krankheit oder schwerer Behinderung sind Leistungen von 20 Wochenstunden im Durchschnitt des Monats für den Bezug des Betreuungsgelds unschädlich. Man kann in einer Woche also auch einmal 30 oder 40 Stunden Kinderbetreuung in Anspruch nehmen, wenn sich das im Monatsdurchschnitt ausgleicht. Das entspricht der Lebenswirklichkeit. In Sondersituationen brauchen die Eltern Unterstützung, zum Beispiel durch einen Betreuungsplatz. ({16}) Wir schaffen ein Wahlrecht. Neben der Barleistung sind die Vorsorge für das Alter - ein Bonus von 15 Euro - und das Bildungssparen - Vorsorge für die Ausbildung der Kinder - möglich. Da kommen 3 630 Euro zusammen. Dieses Geld können die Eltern gut gebrauchen, wenn die Kinder in Sachen Bildung Förderung benötigen. Die Rentenleistung und das Bildungssparen können auch Hartz-IV-Empfänger anrechnungsfrei in Anspruch nehmen und so Vorsorge für das Alter oder die Ausbildung der Kinder treffen. ({17}) Diesen Gesetzentwurf bringen wir heute ebenfalls ein. Wir haben bereits viel getan, und wir tun noch mehr. Wir haben gemeinsam mit Ihnen den Rechtsanspruch zum 1. August 2013 eingeführt. Heute führen wir das Betreuungsgeld zum 1. August 2013 ein. Wir haben die Anzahl der U-3-Betreuungsplätze massiv erhöht. Noch nie hat eine Regierung für die Betreuung der unter Dreijährigen so viel gemacht. Wir haben 4 Milliarden Euro dafür gegeben. ({18}) Wir fördern 30 000 weitere Betreuungsplätze mit 580 Millionen Euro. Schließlich beteiligen wir uns künftig an den Betriebskosten mit einem Bundeszuschuss von 845 Millionen Euro. Wir haben also viel getan. Erfreulich ist übrigens, dass die Länder dem Kompromiss mittlerweile zugestimmt haben und dass der Vermittlungsausschuss nicht angerufen wird. Es ist eine wichtige Information für die Gemeinden, dass es mit dem Ausbau der Kinderbetreuung weitergeht. ({19}) Wir haben in der vergangenen Woche die entsprechenden Zahlen vom Statistischen Bundesamt bekommen. Danach fehlen bundesweit noch 220 000 Betreuungsplätze; das besagen die Zahlen vom März dieses Jahres. Seither hat sich viel verändert. Es gibt aber noch viel zu tun. Bemerkenswert ist, dass die von den Ländern gemeldeten Zahlen mit den Zahlen vom Statistischen Bundesamt nicht in Einklang zu bringen sind. Das rot-grüne Nordrhein-Westfalen, Herr Steinbrück, ist nicht nur Schlusslicht aller Flächenländer, was die Deckung angeht, ({20}) sondern hat falsche Zahlen in einer Größenordnung von 30 000 gemeldet. Da muss man wirklich politische Motive unterstellen. ({21}) Herr Steinbrück, das rot-grüne NRW sollte sich einmal an Bayern ein Beispiel nehmen. ({22}) Bayern hat nicht nur gute Zahlen; es meldet auch die richtigen Zahlen. ({23}) Herr Steinbrück, als Sie das Land Nordrhein-Westfalen als Ministerpräsident verlassen haben, da lag die Zahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige bei 4 Prozent. Das zu ändern, war überhaupt kein Anliegen von Ihnen. Ihre Neigung für Familienpolitik haben Sie erst vor einigen Tagen entdeckt, und zwar erst, seitdem Sie Bundeskanzlerkandidat sind. ({24}) Ich fasse zusammen, sehr geehrte Damen und Herren: Wir ermöglichen die Wahlfreiheit durch den massiven Ausbau der Kinderbetreuung und durch das Betreuungsgeld. Herzlichen Dank. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks für die SPD-Fraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorab erst einmal: Herr Grübel und auch andere haben immer wieder versucht, hier Legendenbildung zu betreiben. Damit möchte ich aufräumen. Im KiföG, von der Großen Koalition beschlossen, hat es nicht mehr als eine unverbindliche salvatorische Klausel gegeben, ein Zückerchen für die CSU, die die Notwendigkeit des Krippenausbaus nicht anerkennen wollte. Das hatte keinen Rechtsfolgecharakter. Das ist damals deutlich geworden in den Äußerungen aller SPD-Abgeordneten, der gesamten SPDBundestagsfraktion, aber zum Beispiel auch der damaligen Familienministerin Frau von der Leyen, die zum Betreuungsgeld klar Nein gesagt hat. ({0}) Herr Grübel, wenn wir das Betreuungsgeld damals in der Großen Koalition wirklich beschlossen hätten, warum streiten Sie sich dann seit drei Jahren in der schwarz-gelben Koalition darüber? ({1}) Warum haben Sie es nötig gehabt, einen Gesetzentwurf in erster Lesung zum unsinnigsten Projekt aller Zeiten, zum Betreuungsgeld, einzubringen? Warum versuchen Sie, bei der heutigen Abstimmung mit disziplinarischen Maßnahmen eine schwarz-gelbe Mehrheit zustande zu bringen? Wir werden noch sehen, ob das überhaupt klappt. Aber, wie gesagt: Wenn das Betreuungsgeld zu Zeiten der Großen Koalition beschlossen worden wäre, müsste es heute keine Abstimmung mehr geben. Das ist Fakt. ({2}) Nach monatelangem Streit peitschen Sie diese Woche - Sie, die schwarz-gelbe Koalition, die Bundesregierung; Frau Schröder scheint es ja nicht mehr nötig zu haben, sich zu irgendwelchen Projekten zu äußern ({3}) - ist auch besser; das stimmt - den Gesetzentwurf im wahrsten Sinne des Wortes im Schweinsgalopp durch die Gremien. Diese Eile, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, ist sachlich in wirklich keiner Weise begründet. Das Gesetz soll ja erst in zehn Monaten in Kraft treten. ({4}) Geht es Ihnen nur darum, dieses für die Koalition hochexplosive Thema schnell vom Tisch zu bekommen? Ich garantiere Ihnen - auch wenn Sie es sich anders wünschen -: Das Thema Betreuungsgeld wird mit der heutigen Abstimmung definitiv nicht vom Tisch sein. ({5}) Bis heute haben Sie die Befürchtungen und fachlichen Einwendungen nicht ausräumen können, die viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Fachverbände, Kommunen, auch vier ehemalige Familienminis25006 terinnen, davon zwei von der CDU, in Bezug auf das Betreuungsgeld äußern. Ich möchte aus dem Appell der vier ehemaligen Bundesfamilienministerinnen Lehr, Süssmuth - beide CDU -, Bergmann und Schmidt aus diesem Sommer zitieren: Das geplante Betreuungsgeld für Kleinkinder, die nicht in öffentlichen Einrichtungen betreut werden, würde die bisherige Strategie konterkarieren, stattdessen alte Fehler erneuern und Fehlanreize verstärken, anstatt Defizite zu reduzieren. Das Betreuungsgeld verbessert die soziale Lage der Frauen nicht und schadet Kindern, die Betreuung und Bildungsförderung besonders nötig hätten. Ich sage Ihnen nur: Würden Sie doch auf Ihre ehemaligen Familienministerinnen hören! ({6}) Partei- und fachübergreifend wird dieser schwarz-gelben Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben, dass das Betreuungsgeld einer modernen Familien-, Bildungs- und Gleichstellungspolitik widerspricht. Nennen Sie mir nur einen namhaften Wissenschaftler oder eine namhafte Wissenschaftlerin, der oder die klar sagt: Das Betreuungsgeld ist eine notwendige familienpolitische Leistung. - Ich sage Ihnen: Sie werden keinen finden. ({7}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, bitte erklären Sie der Öffentlichkeit doch einmal, wie es sein kann, dass am 1. August 2013 ein Rechtsanspruch für Kinder unter drei Jahren auf einen Krippenplatz in Kraft tritt, gleichzeitig nun aber auch eine Regelung, die genau dies konterkariert. Denn das Betreuungsgeld ist nichts anderes als ein Anreiz, von diesem Rechtsanspruch nicht Gebrauch zu machen. Fachorganisationen nennen diese Kuriosität eine „Fernhalteprämie von Kitas, die das Betreuungssystem beleidigt, das die Bundesregierung gleichzeitig ausbauen will“. So sieht es aus. ({8}) Das Betreuungsgeld ist mit dem heutigen Tage auch deshalb nicht vom Tisch, weil eine überwiegende Mehrheit der Menschen genau diese Absurdität durchschaut. Alle Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag fordern in ihren Anträgen, auf die Einführung des Betreuungsgeldes zu verzichten und stattdessen den Krippenausbau voranzubringen. Familien erwarten zu Recht, dass beim Ausbau der frühkindlichen Bildung Kurs gehalten wird. Sie erwarten zu Recht, dass die frühkindliche Bildung weiter ausgebaut wird, das Personal stärker qualifiziert wird und zusätzliches Fachpersonal gewonnen wird. Doch von diesem Kurs sind Sie, SchwarzGelb, meilenweit entfernt. Die von der Bundeskanzlerin einst ausgerufene Bildungsrepublik ist nichts, aber auch wirklich nichts mehr wert. ({9}) Wie absurd die ganze Debatte ist, zeigt das von der CSU immer wieder vorgetragene Argument, das Betreuungsgeld diene der Anerkennung der Erziehungsleistung der Eltern. Erstens erziehen auch Eltern, deren Kinder eine Krippe besuchen, ihre Kinder. ({10}) Zweitens - ich schaue zu Herrn Geis - trifft genau dieses Argument auf diesen Gesetzentwurf nicht zu; denn die Zahlung des Betreuungsgeldes soll an die Bedingung geknüpft werden, dass ein Kind keine öffentlich geförderte Kita besucht. Andere Betreuungsformen - nicht nur die Betreuung zu Hause, sondern auch die durch ein Aupair-Mädchen, ein Kindermädchen oder in einer privat finanzierten Krippe - sind mit Ihrem Betreuungsgeld vereinbar. ({11}) Qualitätskriterien und Kriterien des Kinderschutzes spielen in Ihrem Gesetzentwurf keine Rolle. Alles ausgeräumt! ({12}) Lassen Sie mich noch wenige Worte zum Betreuungsgeldergänzungsgesetz sagen, das Sie heute in erster Lesung einbringen. Das, was Sie uns als Einstieg in das Bildungssparen präsentieren, Herr Meinhardt, ist nichts anderes als der Ausstieg aus einer gerechten Bildungspolitik. Aber von der FDP kann man ja definitiv nichts anderes erwarten. ({13}) Dieses Argument ist genauso absurd, Herr Meinhardt, wie das Betreuungsgeld an sich; denn anstatt durch gute Kitas und Schulen eine bessere Bildung für alle zu ermöglichen, greifen Sie nun denjenigen unter die Arme, die viel Geld haben und es nicht wirklich brauchen. ({14}) - Die bekommen es doch gar nicht. ({15}) Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass die Kritikerinnen und Kritiker in den Reihen der Regierungskoalition bei der namentlichen Abstimmung bei ihrem Nein bleiben. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, der Familien wird es Ihnen danken. Herzlichen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Pascal Kober ist der nächste Redner für die FDPFraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie können sich ja hier in der Debatte gerne auf den Kopf stellen, mit den Beinen wackeln und Hurra schreien; ({0}) aber, lieber Herr Trittin, eines muss sich diese Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP von Ihnen nicht vorwerfen lassen: Sozialzynismus. So haben Sie es genannt. Diese Regierungskoalition ist in allen Politikbereichen besser, als Sie es sein könnten, und hat gerade im Bereich der Kinder mehr getan als Sie in Ihren sieben Jahren Regierungszeit. ({1}) Wir waren es - nicht Sie -, denen es gelungen ist, dass das Risiko für Kleinkinder in Deutschland, in Armut aufzuwachsen, rückläufig ist. ({2}) Wir waren es - nicht Sie -, die die Familien mit kleinen und mittleren Einkommen um 4,2 Milliarden Euro entlastet haben. ({3}) Wir waren es - nicht Sie -, die das Kindergeld erhöht haben. Wir waren es - nicht Sie -, die die Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen haben. ({4}) Wir waren es - nicht Sie -, die den Lebensraum für Kinder in unserer Gesellschaft faktisch vergrößert haben, indem wir per Gesetz klargestellt haben, dass Kinderlärm kein schädlicher Umwelteinfluss ist. ({5}) Wir waren es - nicht Sie -, die das Prinzip „Löschen statt Sperren“ im Internet durchgesetzt haben und so erreicht haben, dass nicht nur der Zugang zu kinderpornografischen Seiten erschwert ist, sondern dass diese menschenverachtenden Bilder im Internet gelöscht werden und so die Persönlichkeitsrechte der Kinder gestärkt werden. ({6}) Wir waren es - nicht Sie -, die die Meldepflichten für Kinder ohne Aufenthaltsstatus so verändert und gelockert haben, dass ihnen in Zukunft auch ein Kindergarten- und Schulbesuch möglich ist. ({7}) Wir waren es - nicht Sie -, die einen Straftatbestand für Zwangsheirat eingeführt haben, um gerade auch Minderjährige zu schützen. ({8}) Wir waren es - nicht Sie -, die die Rechte der Opfer in Ermittlungs- und Strafverfahren gestärkt haben, was gerade Kindern zugute kommt, weil belastende Mehrfachvernehmungen in Zukunft nicht mehr nötig sind. ({9}) Wir waren es - nicht Sie -, die die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe für Kinder durch das Bildungsund Teilhabepaket erhöht haben. ({10}) Wir waren es - nicht Sie -, die die finanziellen Mittel zur Bildungsförderung für Kinder mit dem Bildungs- und Teilhabepaket zur Verfügung gestellt haben und gleichzeitig den Weg der Haushaltskonsolidierung nicht verlassen haben. ({11}) Wir waren es - nicht Sie -, die eine kluge Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik gemacht haben ({12}) und so das wirtschaftliche Wachstum unterstützt haben, sodass viele Menschen, so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr, in diesem Land eine Arbeit haben, was bedeutet, dass auch viele Eltern eine Arbeit haben. ({13}) Wir waren es - nicht Sie -, denen es gelungen ist, ({14}) dass so wenige Menschen wie noch nie seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen von Transferleistungen in unserem Land leben müssen. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, dass diese Regierungskoalition arbeitsfähig ist, ({16}) dass diese Regierungskoalition Verantwortung übernimmt, dass diese Regierungskoalition, gerade wenn es um Kinder geht, eine verantwortliche Politik macht und die Lebenssituation der Kinder in diesem Land wirklich verbessert. ({17}) Diese Regierungskoalition steht zusammen und macht eine gute Regierungspolitik. Wir werden dafür sorgen, dass Sie noch mehrere Jahre von der Oppositionsbank aus zusehen werden. So können Sie von uns etwas lernen. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kober, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kekeritz zu?

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. - Eine persönliche Anmerkung: Dies war in dieser Legislaturperiode meine 100. Rede im Deutschen Bundestag. Lieber Herr Steinbrück, es freut mich, dass ausgerechnet Sie dabei anwesend waren. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Deligöz hat nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kober, die Frage ist doch nicht, was Sie alles gelockert haben, sondern warum Sie das eigentlich haben lockern müssen: weil Sie die Restriktionen in diesem Land erst eingeführt haben. ({0}) Vorgestern im Ausschuss hat ein Kollege von der FDP gesagt: Wenn die FDP in der letzten Wahlperiode in der Regierung gewesen wäre, hätte es diesen Gesetzentwurf nicht gegeben. - Ihre eigene Jugendorganisation, die Julis, sagt: Wenn die FDP in der nächsten Wahlperiode in der Regierung ist, wird sie dieses Gesetz wieder abschaffen. - Falls Sie das noch nicht mitbekommen haben: Sie regieren jetzt, in der Gegenwart. Stimmen Sie doch einfach dagegen! Übernehmen Sie Verantwortung! Sie haben jetzt die Gelegenheit dazu. ({1}) Das Betreuungsgeld ist bildungspolitisch und gleichstellungspolitisch wie frauenpolitisch total fatal. Sie wissen das. Die Erfahrungen aus Norwegen zeigen das, die Erfahrungen aus Finnland zeigen das, die Erfahrungen aus Thüringen zeigen das. Nicht nur ein- oder zweijährige Kinder bleiben zu Hause, auch drei- oder vierjährige Kinder werden zu Hause gehalten. Sie vernichten die Chancengerechtigkeit. Sie nehmen den Kindern ihre Teilhabechancen. Das müssen Sie doch einsehen! ({2}) Wer nimmt das Betreuungsgeld denn in Anspruch? Das sind vorwiegend Familien mit einem niedrigen Einkommen, Familien mit einem geringen Bildungsniveau. Die Kinder aus diesen Familien sind aber genau die Kinder, die Förderung brauchen, auch Sprachförderung. Sie nehmen diesen Kindern ihre Chancen, Sie nehmen ihnen damit ihre Zukunft in diesem Land. Wie können Sie dabei ein gutes Gewissen haben? ({3}) Die Armut in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor allem jung und weiblich: 40 Prozent der Alleinerziehenden leben von ALG II. Sie würden gerne arbeiten, wissen aber nicht, wie. Wenn der Kindergarten um 12.30 Uhr schließt, bekommt man nicht einmal einen Halbtagsjob. Das ist das eigentliche Problem. Mit dem Geld, das jetzt als Betreuungsgeld ausgezahlt werden soll, könnten in Deutschland 6 000 Vollzeitstellen für Erzieherinnen geschaffen werden, einschließlich 13. Monatsgehalt. Erzieherinnen braucht dieses Land, nicht irgendwelche komischen Geldgeschenke. ({4}) Sie reden von Wahlfreiheit. In diesem Land werden für Familienleistungen 180 Milliarden Euro ausgegeben, vier Fünftel davon sind Geldleistungen. Weniger als ein Fünftel wird in die Infrastruktur investiert. Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass dieses Geld keine Anerkennung der Elternleistungen ist? Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass bei dem bisschen Geld, das in die Infrastruktur investiert wird, Wahlfreiheit in diesem Land gewährleistet ist? Wie können Sie die Realität, dass Eltern, die eine Betreuung für ihr Kind suchen, auf zig Wartelisten stehen, ignorieren? Das ist nicht nur Ignoranz, das ist Vogel-Strauß-Politik: sich wegducken und die Realität nicht anerkennen wollen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt ein anderes Bayern: ein weltoffenes Bayern, ein tolerantes Bayern. (Beifall der Abg. Claudia Roth ({6}) ({7}) Ein bayerisches Mitglied dieses Hauses sagt Ihnen: Es gibt auch ein ideologiefreies Bayern. Die Zeit für Ideologie ist vorbei. Im Namen all derer, die ideologiefrei über dieses Thema sprechen wollen, sage ich Ihnen: Werden Sie endlich vernünftig! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Frau Pieper, die ihrem Gewissen folgt. Frau von der Leyen hat vollkommen recht. Auch Sie, Frau Bär, haben vor einem Jahr noch anders gesprochen. ({8}) Folgen Sie Ihren wahren Gedanken und stimmen Sie diesem Gesetzentwurf nicht zu! ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Peter Tauber erhält nun das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute das Betreuungsgeld. Ich will mit einer Zahl beginnen: mit der Zahl 35. Als wir die entsprechenden Gesetze zum Ausbau der Zahl der Krippenplätze auf den Weg gebracht haben, haben wir angenommen, dass 35 Prozent der Kinder in diesem Land einen Krippenplatz brauchen. ({0}) Inzwischen wissen wir, dass die Zahl der Kinder, die einen Krippenplatz brauchen, höher ist. Deswegen werden wir unsere Anstrengungen verdoppeln. Die christlich-liberale Koalition hat ihren Beitrag dazu geleistet, die Kommunen beim Ausbau der Kinderbetreuung zu unterstützen. ({1}) Selbst wenn sich der Anteil der Kinder, die einen Krippenplatz brauchen, 50 Prozent nähern sollte, bedeutet das aber immer noch, dass 50 Prozent der Eltern ihre Kleinkinder bis zum dritten Lebensjahr zu Hause betreuen. Frau Kollegin Deligöz, die Eltern „halten“ ihre Kinder nicht zu Hause, sie betreuen sie zu Hause. Der Begriff „halten“ entstammt der Zoologie, nicht der Pädagogik. ({2}) Wir wissen, dass die Hälfte der Eltern ihre Kinder bis zum dritten Lebensjahr zu Hause betreut, um sie dann in den Kindergarten zu bringen. Genau das wollen wir. Es ist ein berechtigtes Anliegen dieser Eltern, zu fragen: Was tut die Politik, um uns das zu ermöglichen? Dafür ist das Betreuungsgeld da. Das ist ganz einfach zu verstehen. Dazu braucht man keine Ideologie. Wenn Sie sich den letzten ARD-Deutschlandtrend vor Augen führen, dann sehen Sie, dass all Ihre Zahlen nicht stimmen; denn dort haben 39 Prozent der Menschen gesagt, sie freuen sich über die Entscheidung des Koalitionsausschusses, sie seien für das Betreuungsgeld. ({3}) Wer sind diese 39 Prozent? Okay, es mögen keine Gewerkschaftsfunktionäre sein, die uns sagen, wir müssen die Kinder möglichst vom ersten Tag an in die Krippe bringen. Es werden auch keine Wirtschaftsfunktionäre des BDI sein, die in den Menschen an dieser Stelle vielleicht nur eine ökonomische Verfügungsmasse sehen. Das ist auch nicht unser Anspruch an Familienpolitik. Wir wollen die notwendigen Rahmenbedingungen setzen, damit Familie gelebt werden kann. Das geht sowohl in der Krippe als auch zu Hause. Wir verwahren uns gegen das einseitige Aufrechnen: Dort funktioniert es, und dort ist es schlecht. - Das funktioniert nicht, und dagegen verwahren wir uns. Das will ich hier an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen. ({4}) In der letzten Debatte habe ich an die Adresse der Opposition gesagt, es wäre ganz klug, wenn Sie Ihre Fachpolitiker und nicht die erste Reihe hier reden lassen würden. ({5}) Gerade bei der Rede von Herrn Steinbrück ist das noch einmal sehr deutlich geworden. Herr Steinbrück, Sie haben ja nicht einmal den Namen der Vorsitzenden des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend richtig ausgesprochen, geschweige denn hier in der Sache sauber zum Thema geredet. ({6}) Die Kollegin Deligöz hat getwittert - das kann ich aber nicht bestätigen; das muss Ihre Fraktion beantworten -, sie hätte gehört, dass in der SPD schon der Hut herumgeht, weil Herr Steinbrück heute redet. ({7}) Ich glaube, Ihre Rede heute war kostenlos. Sie war aber nicht nur kostenlos, sondern auch umsonst, ({8}) und zwar nicht nur, weil Sie in der Sache falsch argumentiert haben. ({9}) Ihr Problem ist ein ganz anderes, auch wenn Sie nicht zuhören: Ihr Problem ist, dass Sie nicht glaubwürdig sind. Sie haben damals, als das Gesetz beschlossen wurde, gesagt, das sei ein guter Kompromiss. Heute stellen Sie sich hier hin und sagen, das sei Schwachsinn. Was gilt denn nun, Herr Steinbrück? Das ist ja auch nicht nur bei diesem Thema so. ({10}) Sie haben damals bei der Pleite von Lehman Brothers gesagt, das hätte keine Auswirkungen auf Europa. Wenn diese Bundeskanzlerin Sie nicht an die Hand genommen und gesagt hätte, ({11}) die Sparguthaben der Deutschen sind sicher, dann wären Sie vielleicht bei dieser Meinung geblieben. Was galt denn damals, Herr Steinbrück? ({12}) Dann haben Sie gesagt, Griechenland muss gerettet werden. Kurze Zeit später waren Sie gegen die Griechenland-Rettung. Was gilt denn nun, Herr Steinbrück? Sie haben auch gesagt: Nein, eine Insolvenz von Griechenland ist nicht in Ordnung. - Danach haben Sie gesagt, man müsse einmal über eine Insolvenz Griechenlands reden. Was gilt denn, Herr Steinbrück? Die Menschen wissen nicht, woran sie bei Ihnen sind. Das ist das eigentliche Problem, das Sie an dieser Stelle haben. ({13}) Zur Sache selbst. ({14}) Wir haben damals im großen Konsens nicht nur die 4 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, um den Ausbau der Krippenplätze voranzutreiben. Wir haben mit 580 Millionen Euro auch noch einmal draufgesattelt. Da haben Sie sich mit den Ländern im Bundesrat ewig geziert. Das war aber ein ganz entscheidender wichtiger Schritt nach vorne. Daneben haben wir das KfW-Programm auf den Weg gebracht. Hier muss man auch der Ministerin noch einmal danken, die sich dort engagiert hat. Es nützt auch nichts, dass Sie hier ständig persönliche Kämpfe gegen einzelne Mitglieder der Bundesregierung führen. Sie müssen sich auch ganz konkret fragen lassen: Was leisten Sie vor Ort, dort, wo Sie Verantwortung haben, wo Sozialdemokraten Bürgermeister und Landräte sind, für einen Beitrag, damit es genug Betreuungsplätze vor Ort gibt? Das ist die entscheidende Frage, die Sie sich stellen lassen müssen. Mir fallen viele Beispiele von sozialdemokratisch regierten Kommunen ein, in denen noch irgendwelche Wunschträume erfüllt und entsprechende Personalkosten finanziert werden und es deswegen, weil Sie vor Ort die falschen Prioritäten setzen, nicht genug Krippenplätze gibt. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ({15}) und es ist falsch, zu suggerieren, dass allein eine Bundesregierung, egal welcher Couleur, für genug Krippenplätze vor Ort sorgen kann. Hier müssen die Kommunen und die Länder mitmachen. Anhand der Zahlen sehen wir genau, wo es noch hapert. Dieser Aufgabe sollten Sie sich mit Vehemenz zuwenden. Dann wäre sehr viel gewonnen. Es bleibt dabei: Wir machen das nicht mit. Wir wollen nicht die gute Arbeit, die Erzieherinnen und Erzieher in den Krippen leisten, gegen das aufrechnen, was Eltern ihren Kindern an Liebe und Fürsorge auf den Weg geben, weil die Wahrheit am Ende des Tages ist: Kinder brauchen immer beides. Sie brauchen eine gute Betreuung, spätestens im Kindergarten, und sie brauchen die Liebe und Fürsorge ihrer Eltern, ihrer Verwandten, ihrer Brüder und Schwestern, ihrer Großeltern. Darum geht es. Das ist die Botschaft, die wir von hier aussenden müssen. ({16}) Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie einmal von Ihrem ideologischen Ross heruntersteigen und das hier ein bisschen deutlicher sagen. Ich glaube deswegen, dass wir den 39 Prozent derer, die sich über die Entscheidung dieser Koalition freuen - das sind vor allem die jungen Eltern, die sagen: „Ich will mein fünfzehn Monate altes Kleinkind eben nicht in eine Krippe bringen“ -, damit Rechnung tragen. Denn es ist auch Aufgabe der Politik, nicht immer nur vermeintlichen Mehrheiten hinterherzurennen, sondern an alle Gruppen in dieser Gesellschaft zu denken. Dazu gehört, dass wir für die, die die Krippenplätze brauchen, diese Krippenplätze auch bereitstellen. Da beißt die Maus keinen Faden ab; der Rechtsanspruch gilt. Wenn sozialdemokratische Kommunalpolitiker den jetzt aushebeln wollen, dann werden wir ihnen klar sagen: Mit uns wird das nicht gehen. - Der Rechtsanspruch ist wichtig, der gilt, der steht. ({17}) Wer es sich erlauben kann oder wer darauf Wert legt oder wer diese Entscheidung ganz bewusst getroffen hat, dass er in der Familie während der ersten drei Lebensjahre seiner Kinder deren Betreuung anders organisiert, der soll das tun, und der kriegt von uns die entsprechende Unterstützung. Sie werden es nicht erleben, dass ein Christdemokrat, selbst wenn er dem Betreuungsgeld als Instrument kritisch gegenübersteht, den Stab über solche Eltern bricht. Es geht hier um den Elternwillen, das ist die freie Entscheidung von Familien. Das respektieren wir. ({18}) Wir wollen eben nicht die Lufthoheit über den Kinderbetten, von denen Sie heimlich noch träumen. Dies scheint in manchen Wortmeldungen durch. Sagen Sie es wenigstens so ehrlich, dass es Ihr Gesellschaftsbild ist, die Kinder möglichst früh in staatliche Obhut zu nehmen. Aber tun Sie nicht immer so, als ginge es um etwas anderes. Verstecken Sie das nicht hinter anderen Worthülsen. Das wird der Sache nicht gerecht. Deswegen ist es gut, wenn wir die Debatte heute beenden, das Gesetz auf den Weg bringen. Ich glaube, viele Eltern werden es uns danken. Herzlichen Dank. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Uwe Schummer ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Es stimmt, wir haben uns beim Thema Betreuungsgeld über Monate, auch über Jahre hinweg gestritten; wir haben unterschiedliche Positionen gehabt. Am Ende haben wir aber auch miteinander einen Weg gefunden, der für uns alle akzeptabel ist. Wir haben uns deshalb darüber gestritten und haben dann einen Kompromiss und gemeinsamen Weg in der Koalition gefunden, weil uns das Thema wichtig ist, weil uns die Kinder wichtig sind, um die es letztendlich in diesem unserem Lande geht. Sie von der SPD haben einen anderen Weg gewählt: Diffamierung, Herdprämie, taktische Spielchen. Ich werde als Abgeordneter nicht vergessen, dass Sie vor der parlamentarischen Sommerpause auf Anweisung Ihrer Fraktionsführungen den Plenarsaal verlassen haben, um sich einer Diskussion zu verweigern. ({0}) - Das ist Verweigerung! - Sie standen hämisch vor den Türen und haben noch darauf gewartet, dass die Koalition alleine die Beschlussfähigkeit hier feststellen und durchsetzen sollte. Sie haben sich einer Plenardebatte verweigert, haben künstlich die Beschlussunfähigkeit hergestellt. ({1}) Das sind taktische Spielchen. Es gibt doch einen Grund, weshalb Sie zu solchen Spielchen greifen. ({2}) Herr Steinbrück, wer von Daniel Goffart Ihre Biografie liest, der kennt den Grund: Für die SPD ist das Betreuungsgeld ein politischer Glücksfall. Da kaum ein politisches Feld in Deutschland so ideologisch besetzt ist wie Erziehungsfragen und Familienpolitik, scheint sich dieses Thema bestens für eine Wahlkampfauseinandersetzung zu eignen. Das ist Ihre Motivation. Es geht nicht um Kinder und Familien, sondern es geht um Ihre Wahlkampftaktik. ({3}) Der haben Sie das Parlament unterworfen, Ihre Abgeordneten und offensichtlich auch dieses Thema. Stichwort Fernhalteprämie: Herr Steinbrück, wer bei 17 namentlichen Abstimmungen nicht im Parlament war, um stattdessen Prämien in Bochum und anderswo zu kassieren, der sollte sich entschuldigen. Das ist die einzige Fernhalteprämie, die hier ausgezahlt worden ist, und zwar an Sie, Herr Steinbrück. ({4}) Bei den 17 namentlichen Abstimmungen ging es in neun Fällen um die Entsendung von Menschen nach Afghanistan, ins Kosovo und in andere Länder der Welt, um sich dort für Frieden einzusetzen. Ihr Verhalten ist auch eine Missachtung der Menschen, für die wir hier im Parlament zuständig sind. ({5}) Wir wollen die Kombination des Betreuungsgeldes mit dem Bildungssparen. Sie haben gemeinsam mit Ihrer Fraktion in der Großen Koalition 2008 ein Element des Bildungssparens eingebracht. Wir haben das Vermögensbildungsgesetz für 12 Millionen Arbeitnehmer neben dem Bausparen und dem Produktivsparen für die Alterssicherung für das Bildungssparen geöffnet. Wir wollen jetzt in der christlich-liberalen Koalition die Lücke mit einem Bildungssparbuch von der Geburt bis hin zur Erwerbstätigkeit schließen. ({6}) Damit setzen wir einen wichtigen Punkt, damit ein lebensbegleitendes Bildungskonto aufgebaut werden kann. Das ist eine der wichtigen Maßnahmen, die wir in dieser Koalition durchsetzen werden. ({7}) Natürlich lässt sich mit einem solchen Bildungssparbuch von Geburt an auch das Bildungspaket verbinden, wodurch vieles einfacher wird. ({8}) Ich komme zu der Unterstellung, dass Familien mit einem geringeren Einkommen ihre Kinder schlechter erziehen würden. Sie waren doch einmal die Partei der Arbeitnehmer und der kleinen Leute. Trauen Sie denen nichts mehr zu? Sie meinen offenbar, ein Kind aus einer solchen Familie müsse frühzeitig in eine Betreuung ge25012 geben werden. Ich denke, man muss die professionelle Arbeit mit der ehrenamtlichen Arbeit und der Familienarbeit kombinieren. Unser Weg ist, Brücken zu bauen, anstatt zu polarisieren und Gräben aufzureißen. ({9}) Es gibt Programme der Agentur für Arbeit, mit deren Hilfe es möglich ist, die Familienarbeit mit der Erwerbsarbeit zu kombinieren. Ich nenne hier das Stichwort Wiedereinstieg nach der Elternschaft. Es gibt aber auch viele andere berufliche Weiterbildungsmaßnahmen der Agentur für Arbeit. Diese können auch in Verbindung mit einer Kinderbetreuung in Anspruch genommen werden. Das heißt, Weiterbildung, Familienarbeit und Erwerbsarbeit sind möglich, wenn man alle Instrumente, die die Bundesregierung geschaffen hat, nützt. Alle familienpolitischen Leistungen in Deutschland sind von unionsgeführten Regierungen, von Unionskanzlern grundgelegt worden. Das waren bei Konrad Adenauer die Einführung des Mutterschutzes und des Kindergeldes, bei Helmut Kohl das Erziehungsgeld und die Rentenansprüche für Erziehungszeiten sowie die Pflegeversicherung. Familie ist überall dort, wo Kinder Verantwortung für ihre Eltern und Eltern Verantwortung für ihre Kinder übernehmen. ({10}) Das ist die Grundaussage unserer Politik. Unter Angela Merkel sind der Rechtsanspruch auf einen Kinderkrippenplatz für unter Dreijährige, das Betreuungsgeld und das Bildungssparen grundgelegt worden. Wie immer in einer christlich-demokratisch geführten Bundesregierung geht es mit den Familien vorwärts. Heute ist ein guter Tag für die Familien, ein guter Tag für die Bildung. Ich denke, wir sollten jetzt versuchen, miteinander um bessere Wege zu ringen, und die Linke sollte ihre Diffamierungen einstellen. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungs- geldes. Hierzu liegen mir zahlreiche persönliche Erklä- rungen zur Abstimmung vor, die wir dem Protokoll beifügen.1) ({0}) - Ich verkneife mir jeden Hinweis, wie häufig das vor- kommt, zu welchen Anlässen und von welcher Seite. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/11404, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksa- che 17/9917 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen nun zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Über den Gesetzentwurf stim- men wir auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP namentlich ab. Darf ich um ein Signal der Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, ob alle Ab- stimmungsurnen besetzt sind? - Jawohl. Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung über diesen Gesetzentwurf. Ist ein Mitglied im Saal anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich hiermit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Ich teile Ihnen dann das Ergebnis der namentlichen Abstimmung mit, sobald es vorliegt.2) Darf ich Sie bitten, die Plätze wieder einzunehmen oder anderenfalls den Saal zu verlassen? Unter Zusatzpunkt 9 b setzen wir die Abstimmungen zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/11404 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch- stabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/9572 mit dem Titel „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 17/9582 mit dem Titel „Betreuungsgeld nicht ein- führen - Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschluss- empfehlung ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11404 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9165 mit dem Titel „Kein Betreuungsgeld einführen - Kinder und Familie durch den Ausbau der Kindertagesbetreuung fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschluss- empfehlung ist angenommen. Interfraktionell wird unter dem Tagesordnungs- punkt 9 c die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 17/11315 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Die sind nicht erkennbar. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlagen 2 bis 4 2) Ergebnis Seite 25014 D Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 42 a und 42 b sowie den Zusatzpunkt 10 auf: 42 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Silvia Schmidt ({2}), Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen - Drucksachen 17/7942, 17/10010 - Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Joachim Günther ({4}) und der Fraktion der FDP Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung - Grundsatz der deutschen Entwicklungspolitik - zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Roth ({5}), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit - Behindertenrechtskonvention umsetzen und Entwicklungszusammenarbeit inklusiv gestalten - Drucksachen 17/9730, 17/8926, 17/10330 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Riegert Karin Roth ({7}) Niema Movassat ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland endlich verwirklichen - Drucksache 17/10117 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Auch diese Aussprache soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung 90 Minuten dauern. - Ich höre keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion. ({9})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser hochemotionalen Debatte über das Betreuungsgeld, für die sich alle interessiert und an der sich alle beteiligt haben - alle haben sich eine Meinung dazu gebildet -, wünschte ich mir, dass das Thema, das jetzt auf der Tagesordnung steht, eine genauso breite Aufmerksamkeit sowohl in der Gesellschaft als auch hier im Haus findet und zu genauso viel Engagement führt. ({0}) Es liegen mehrere Anträge zu dem Thema auf dem Tisch, und zwar zum wiederholten Mal, wie wir die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserem Land besser organisieren können. Es geht darum, mit ihnen in den Dialog zu treten, Verbesserungen zu diskutieren und diese umzusetzen. Vor allen Dingen sollten wir aufnehmen, was nicht so gut läuft, und die Gesetze korrigieren, die wir in guter Absicht verabschiedet haben, die sich aber in der Praxis vor Ort als mangelhaft erwiesen haben. Manches kann man mit einem großen Fragezeichen versehen, und manches erregt große Verärgerung, manchmal auch Verwunderung. Es tut not, dieses Thema, das ein Querschnittsthema ist, immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Wir haben das erlebt, als wir vor 14 Tagen hier im Deutschen Bundestag zum ersten Mal diese große fraktionsübergreifende Initiative gestartet haben. Ich rede von der Begegnung des Parlaments mit Menschen mit Behinderung. Es gab eine ausführliche Debatte mit Menschen mit Behinderung aus allen Teilen Deutschlands, die auf Einladung von Abgeordneten hierhergekommen sind. Dies hat zu einer weiteren Vernetzung dieser Menschen geführt. Ich danke vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegen, die sich engagiert haben, obwohl das verdiente Wochenende bevorstand und noch viele Verpflichtungen in den Wahlkreisen wahrzunehmen waren. Sie haben sich die Zeit genommen, mit den Menschen hier vor Ort zu diskutieren. Gleichwohl haben die Menschen mit Behinderung auf der Abschlussveranstaltung dezidiert gesagt, dass sie sich gewünscht hätten, dass noch mehr Abgeordnete teilgenommen hätten. Ich komme somit meiner Verpflichtung nach, dies hier öffentlich noch einmal zu betonen. Wir als behindertenpolitische Sprecher wollen nicht, dass diese Veranstaltung eine Eintagsfliege war. Die Forderungen und die Erkenntnisse, die in den zwölf Arbeitskreisen erhoben bzw. gewonnen wurden, werden eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeit sein. Viele Diskussionen, die auch Sie sicherlich in Ihren Wahlkreisen führen, zeigen, dass es nottut, mit dem Denken in Schubladen aufzuhören. Manchen ist das Wort „Inklusion“, das wir seit der Unterzeichnung der UNBehindertenrechtskonvention im Munde führen, zu plakativ. Vielleicht finden sie es auch nicht geeignet, das auszudrücken, was gemeint ist. Ich will auch an Vorurteile erinnern, die sich gebildet haben. Das finde ich sehr schade. Wir sollten uns vergegenwärtigen, was das Wort „Inklusion“ eigentlich bedeutet. Ich möchte eine Analogie herstellen. Wir wissen beim Bezahlen einer Ware, die wir in einem Geschäft kaufen, dass der Preis inklusive Mehrwertsteuer ist, obwohl die Mehrwertsteuer nicht extra ausgewiesen ist. Wir haben sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen, dass es bei der Mehrwertsteuer eine Inklusion gibt. Aber in unserem Bereich tun wir uns mit dem Wort „Inklusion“ schwer. Wir brauchen also kein Schubladendenken, sondern eine fächerübergreifende Denkweise. Das merken wir heute auch an den Anträgen. Was haben wir im Deutschen Bundestag nicht schon alles zu diesem Thema diskutiert: Wir wollen eine bessere Einbindung der Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt und für diejenigen, bei denen die Voraussetzungen für eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt nicht gegeben sind, optimale Arbeitsmöglichkeiten in den Werkstätten mit einer viel größeren Durchlässigkeit und Außenarbeitsplätzen. Wir haben hierzu das Gesetz zur Einführung Unterstützter Beschäftigung beschlossen. Es geht also um das große Thema der Teilhabe am Arbeitsleben. Denn es kann uns nicht zufriedenstellen, dass es bei sinkenden Arbeitslosenzahlen in unserem Land - Gott sei Dank ist die Arbeitslosenquote so niedrig wie schon lange nicht mehr; seit der Wiedervereinigung Deutschlands, auch daran muss man an diesem Tag erinnern, hat es noch nie eine so niedrige Arbeitslosenquote gegeben - bei der Zahl behinderter Arbeitsloser Stagnation gibt. Das ist geradezu eine Aufforderung an uns alle, sich darüber Gedanken zu machen. Wir haben das Modellprojekt aus dem Nationalen Aktionsplan zur Inklusion, bei dem wir mithilfe von vier Säulen, durch Berufsorientierung, Berufsausbildung, Integrationsmaßnahmen und Unterstützung der Industrieund Handelskammern, versuchen, auch Menschen mit Behinderung, die über 50 Jahre sind und scheinbar zum alten Eisen zählen, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. ({1}) Die Initiative läuft über die Länder, die für die Umsetzung zuständig sind. Es ist interessant, wie unterschiedlich die Ergebnisse nach fast einjähriger Laufzeit sind. Auch das sollte uns im Parlament beschäftigen. Ich erinnere daran, dass wir erst neulich gemeinsam eine Initiative beschlossen haben, die darauf abzielt, dass bei öffentlichen Ausschreibungen - das ist für diesen Arbeitsmarktbereich einfach notwendig - die Vergabeordnung so ausgelegt wird, dass viel stärker Qualität, Kompetenz und Eingliederungserfolge Berücksichtigung finden. ({2}) Wir haben im Bereich des Personennahverkehrs Initiativen gestartet, in deren Folge die 50-KilometerGrenze aufgehoben worden ist. Wir haben mit den Verkehrspolitikern darüber gesprochen und letztlich einen gemeinsamen Appell verabschiedet, dass im Zuge der Umsetzung der Fernbusrichtlinie in Zukunft viel stärker als bisher barrierefreie Mitfahrmöglichkeiten berücksichtigt werden sollen. Auch da haben wir sehr viel auf den Weg gebracht. Bei diesem Thema geht es also um eine Querschnittsaufgabe, die unter dem Stichwort „Inklusion“ gebündelt ist. Inklusion ist kein Gesetz, wie ich schon mehrfach an dieser Stelle gesagt habe, sondern es ist eine Herzenssache; es ist ein Programm. Ich hoffe sehr, dass wir weiter gut vorankommen und mit den Betroffenen die Punkte diskutieren und Schritt für Schritt abstellen, bei denen der Grundgedanke der Inklusion noch nicht zu 100 Prozent erfüllt wird. Auf diesem Weg bitte ich darum, dass wir gemeinsam daran arbeiten, und danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur Einführung eines Betreuungsgeldes bekannt geben: abgegebene Stimmen 594. Mit Ja haben gestimmt 310, mit Nein haben gestimmt 282, Enthaltungen 2. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 594; davon ja: 310 nein: 282 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Veronika Bellmann Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Präsident Dr. Norbert Lammert Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Andreas G. Lämmel Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({8}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Dr. h. c. Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({9}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({10}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({11}) Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({12}) Anita Schäfer ({13}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({14}) Patrick Schnieder Nadine Schön ({15}) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Armin Schuster ({16}) Detlef Seif Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Carola Stauche Dr. Frank Steffel Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({17}) Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Volkmar Vogel ({18}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({19}) Peter Weiß ({20}) Sabine Weiss ({21}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({22}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Joachim Günther ({23}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Holger Krestel Patrick Kurth ({24}) Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({25}) Michael Link ({26}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({27}) Dr. Martin Neumann ({28}) Dirk Niebel Präsident Dr. Norbert Lammert Hans-Joachim Otto ({29}) Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Serkan Tören ({30}) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({31}) Nein CDU/CSU Jürgen Klimke Katharina Landgraf SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({32}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({33}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({34}) Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({35}) Hubertus Heil ({36}) Wolfgang Hellmich Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({37}) Frank Hofmann ({38}) Christel Humme Josip Juratovic Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({39}) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({40}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Petra Merkel ({41}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({42}) Michael Roth ({43}) Marlene Rupprecht ({44}) Annette Sawade Anton Schaaf Axel Schäfer ({45}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({46}) Werner Schieder ({47}) Ulla Schmidt ({48}) Carsten Schneider ({49}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({50}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({51}) Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Sylvia Canel Sebastian Körber Burkhardt Müller-Sönksen Cornelia Pieper DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Nicole Gohlke Annette Groth Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Ralph Lenkert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({52}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Katrin Werner BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({53}) Volker Beck ({54}) Cornelia Behm Agnes Brugger Viola von Cramon-Taubadel Präsident Dr. Norbert Lammert Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({55}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Renate Künast Undine Kurth ({56}) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller ({57}) Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Tabea Rößner Claudia Roth ({58}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Arfst Wagner ({59}) Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Enthalten CDU/CSU Elisabeth WinkelmeierBecker FDP Miriam Gruß ({60}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Schmidt von der SPD-Fraktion. ({61})

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein Datum, das in der deutschen Geschichte immer wieder eine Rolle gespielt hat: der 9. November. Es gab schöne Tage - Fall der Mauer -, und es gab an diesem Tag die Reichspogromnacht, mit der der Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Bevölkerung in unserem Lande gestartet wurde, infolgedessen aber auch Menschen mit Behinderungen von den Nationalsozialisten jedes Lebensrecht abgesprochen wurde. Sie wurden verfolgt und zu Menschenversuchen missbraucht. Ich finde es gut, dass der Deutsche Bundestag an diesem Datum darüber redet, dass wir mit der Behindertenrechtskonvention ganz klar gesagt haben: Menschenrechte sind nicht teilbar. Die Menschenrechte der behinderten Menschen in unserem Land werden festgeschrieben. - Wir bemühen uns nun darum, dass und wie das geschieht. ({0}) Es ist auch gut, an den glücklichen Umstand zu erinnern, dass dank unserer parlamentarischen Demokratie und unseres Grundgesetzes heute die erste Generation geistig behinderter Frauen und Männer das Rentenalter erreichen kann. Aber das muss für uns auch eine Verpflichtung sein, alles dafür zu tun, dass die immer noch bestehenden Barrieren, in der medizinischen und pflegerischen Versorgung und auch bei der Umsetzung bestehender Gesetze, beseitigt werden; denn wir stellen heute fest: Geistig behinderte Menschen, behinderte Menschen im Rentenalter haben die gleichen gesundheitlichen und pflegerischen Probleme wie alle anderen Menschen dann auch. Wir müssen dafür sorgen, dass die Pflege endlich auf Grundlage eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erbracht wird, der Teilhabe für das ganze Leben bis zum letzten Atemzug zugrunde legt, damit die vorgesehenen Leistungen den Menschen mit geistiger Behinderung, mit mehrfacher Behinderung oder mit erhöhtem Hilfebedarf endlich so zugutekommen, wie sie es für Teilhabe brauchen. ({1}) In der Behindertenrechtskonvention, über die wir heute reden, sehe ich eine große Chance für die gesamte Gesellschaft, nicht nur deshalb, weil mit der Behindertenrechtskonvention die Menschenrechte aus der Perspektive der behinderten Menschen festgeschrieben werden, sondern auch deshalb, weil deutlich wird: „Menschenrechte sind nicht teilbar“, weil das Signal ausgesendet wird: „Du bist uns willkommen“. Ich wäre froh, wenn das die Botschaft des heutigen Tages ist: Uns ist jeder willkommen. Wir werden darauf achten, dass mit Verwirklichung von Inklusion nicht nur das Modell der Teilhabe umgesetzt wird, sondern dass auch ganz deutlich wird, dass Inklusion und Teilhabe einen Rechtsanspruch begründen. Wir sind dazu da, die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit diese Gesellschaft endlich so verändert wird - die Infrastruktur, die Rahmenbedingungen -, dass diese Proklamation und Deklaration in der Behindertenrechtskonvention nicht nur ein Wort bleibt, sondern gelebtes Leben hier bei uns in Deutschland wird. Es ist die Aufgabe des heutigen Tages, auch dafür zu sorgen. ({2}) Inklusion, liebe Kolleginnen und Kollegen, das bedeutet Wertschätzung, das bedeutet gleiche Augenhöhe, das bedeutet für uns alle, uns so zu verändern, dass wir lernen, das scheinbar Unnormale als das Normale anzusehen. Inklusion ist keine Deklaration. Wir als Sozialdemokraten haben in dieser Legislaturperiode eine Reihe Ulla Schmidt ({3}) von Anträgen eingebracht, weil wir wollen, dass dieser Rechtsanspruch auch im Gesetz verankert wird. Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung finden sich viele schöne Worte; wir erleben aber, dass viele dieser Worte nur Worte bleiben. Heute ist aber der Tag, an dem wir sagen: Wir brauchen auch gesetzliche Rahmenbedingungen. Wer, wenn nicht der Deutsche Bundestag oder die Parlamente in den Ländern, soll denn dafür sorgen, dass dieser Rechtsanspruch der behinderten Menschen in diesem Land auch in Gesetzesform umgesetzt wird? Kein anderer wird das für uns tun, wenn wir nur Absichtserklärungen abgeben. Das muss eine Verpflichtung für uns sein. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben schon wichtige Schritte getan in unserem Land. Mit dem Reformkanzler Gerhard Schröder haben wir den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeleitet, indem wir den Weg „weg von der Fürsorge, hin zur Teilhabe“ gegangen sind, indem das SGB IX entwickelt wurde, mit dem die Rechtsansprüche behinderter Menschen festgeschrieben wurden, indem wir mit dem Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 den Anspruch auf barrierefreie Zugänge festgeschrieben haben und indem wir als SPD mit den Grünen auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Antidiskriminierungsgesetz, durchgesetzt haben - und das gegen den Widerstand der damaligen Opposition, der CDU/CSU und der FDP. Meine Damen und Herren, wir haben aber noch einen langen Weg vor uns, ehe wir Inklusion auch wirklich umgesetzt haben. Ich glaube, dass ein wichtiger Lackmustest hierfür sein wird, ob es uns gelingt, die Barrierefreiheit durch gesetzliche Vorgaben nicht nur für öffentliche Einrichtungen, sondern auch für die Privatwirtschaft umzusetzen; denn die Privatwirtschaft ist das entscheidende. Ich bin nicht mehr bereit, hinzunehmen, dass immer dann, wenn die Privatwirtschaft gefragt ist, gesagt wird, das können wir nicht tun. Wir haben keine Probleme, ihr Gesetze zu verordnen über Umweltstandards, über Arbeitsschutzbedingungen, über Gesundheitsschutzbedingungen, über Arbeitszeit, Steuerrecht und vieles andere mehr. Ich finde, heute muss der Tag sein, von dem das Signal ausgeht: Behinderte Menschen gehören mittenrein. Sie gehören zu uns. Wir werden auch die Privatwirtschaft dazu verpflichten, Barrierefreiheit in ihrem Bereich umzusetzen. Das muss man gesetzlich auf den Weg bringen, wenn man wirklich etwas erreichen will. ({5}) Den zweiten Lackmustest, ob wir es ernst meinen mit der Behindertenrechtskonvention, wird die Reform der Eingliederungshilfe darstellen. Wir müssen davon wegkommen, dass wir über die Eingliederungshilfe unter dem Aspekt der Bedürftigkeit diskutieren. Bei ihr geht es um einen Teilhabeanspruch, der verwirklicht werden soll und der für jeden Menschen gilt. Dazu gehört, dass klar wird, dass es nicht darum geht, einen bestimmten Geldbetrag zur Verfügung zu stellen und dann zu überlegen, wie wir ihn verteilen können. Die Eingliederungshilfe wird ihrem Namen nur dann gerecht, wenn mit ihr Teilhabe für den Einzelnen tatsächlich möglich wird. Damit das umgesetzt wird, muss alles getan werden. Ich sage hier ganz deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Maßstab müssen die Menschen mit besonderem Hilfebedarf sein, sonst haben wir in Zukunft eine Zweiklassengesellschaft von Behinderten: die, die die Inklusion leicht schaffen, und die anderen, die außen vor stehen. Das muss der Anspruch an zukünftiges Vorgehen sein. ({6}) Wir wollen deswegen, dass die Eingliederungshilfe im Sozialgesetzbuch IX verankert wird, damit Partizipation, Nachteilsausgleich, Selbstbestimmung und das Recht auf stetige Verbesserung der Lebensbedingungen verwirklicht werden; denn für uns endet die Menschenwürde nicht mit dem Verlust von körperlichen und kognitiven Fähigkeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschen, die behindert sind, brauchen unsere Unterstützung. Aber auch Menschen mit geistiger Behinderung können Hilfe geben. Sie können Unterstützung leisten. Sie bringen sich ein. Sie engagieren sich. Sie sind aktiv. Sie sind kompetent. Sie leisten zum Beispiel tolle Arbeit im Bereich der Kindertagesstätten. Sie leisten tolle Arbeit im Bereich der Altenpflege. Die Lebenshilfe hat in diesem Jahr ein Projekt zum Einsatz von geistig behinderten Menschen als Alltagsbegleiter in der Pflege vorgestellt. Hubert Hüppe war dabei. Ich muss sagen: Das ist Wertschätzung für Menschen mit Behinderungen, wie wir sie meinen. Sie erfüllen bei pflegebedürftigen Menschen ihre Aufgaben, können sich dort einbringen und daran wachsen, haben Zeit für die pflegebedürftigen Menschen. Das zeigt aber auch, wo Chancen und Perspektiven für unsere Gesellschaft liegen. Wir reden darüber, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir immer mehr Ältere und immer weniger Jüngere haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist der Punkt, zu zeigen, dass wir auf die Fähigkeit von keinem einzigen Menschen verzichten können, sondern dass wir Inklusion, die Teilhabe aller, als Gewinn für die ganze Gesellschaft betrachten. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Molitor von der FDP-Fraktion. ({0})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Wochen stand an diesem Rednerpult ein Mann mit Downsyndrom. Er war Teilnehmer der ersten Veranstaltung „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“, wo sich knapp 300 Menschen mit Behinderungen versammelt haben, um mit uns gemeinsam zu diskutieren, wie ein besseres Miteinander funktionieren kann. Menschen mit Behinderungen wissen am besten, was passieren muss, damit dieses selbstverständliche Miteinander realisiert werden kann. Ich freue mich, dass wir heute mehrere behindertenpolitische Anträge zu beraten haben, weil dadurch deutlich wird, dass Behindertenpolitik eine Querschnittsaufgabe ist, dass es aber auch eine Aufgabe ist, die nicht nur unser Land betrifft, sondern auch für die Zusammenarbeit mit anderen Ländern wichtig ist. Denn wir reden hier von einem Menschenrecht. Wir sollten alles daransetzen, die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen dort, wo sie noch immer besteht, zu beenden. ({0}) Gerade an einem Tag wie heute ist es wichtig, noch einmal daran zu erinnern, wie in früheren Zeiten mit Menschen mit Behinderungen umgegangen wurde. Im Dritten Reich ist mit der Euthanasie schlimmstes Unrecht begangen worden. Daran muss man bei einer solchen Debatte auch erinnern. ({1}) Nach dem Krieg war man der Meinung, man müsste Menschen mit Behinderung in Sonderwelten unterbringen und ihnen mit besonders intensiver Betreuung begegnen. Bis in die 70er-Jahre hinein hat man Behinderung und Beeinträchtigung als persönliches und funktionales Defizit verstanden. Erst die UN-Behindertenrechtskonvention hat hier ein neues Denken eröffnet; seitdem wird Behinderung als Form menschlichen Lebens verstanden. Der in der Konvention verwendete Begriff „Inklusion“ - ich merke immer wieder, dass man diesen Begriff erklären muss; er ist nicht ohne Weiteres verständlich - kennzeichnet dieses Umdenken. Das bedeutet, dass die Gesellschaft Bedingungen herstellen muss, unter denen Behinderung nicht zur Benachteiligung wird. ({2}) In diesem Zusammenhang ist zu sagen, dass der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eine vorbildliche Gesamtstrategie enthält. Auch wenn wir hier viele Gemeinsamkeiten sogar über die Fraktionsgrenzen hinweg feststellen, muss ich an dieser Stelle doch sagen, dass es mich wundert, wenn in dem Antrag von der SPD der richtige Weg darin gesehen wird, Gleichstellung und ein vorurteilsfreies Miteinander mit Gesetzesverschärfungen und Sanktionen auf den Weg bringen zu wollen. Inklusion lässt sich nicht erzwingen. Sie muss noch weit über das hinausgehen, was der Gesetzgeber bewerkstelligen kann. ({3}) Ich freue mich über unseren gemeinsamen Antrag, der die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zum Grundsatz der deutschen Entwicklungspolitik macht. Inklusion ist hier längst kein Fremdwort mehr. Wir werden die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention so auch nach und nach umsetzen. Was ist wichtig? Wir wollen Vorurteile von Anfang an vermeiden. Wir wissen: Es ist ein großes Plus, wenn Kinder in Kindertagesstätten erfahren, dass es normal ist, verschieden zu sein. Integrative Kindertagesstätten erfreuen sich großer Beliebtheit. Mit dem Eintritt in die Schule hört dieses Miteinander häufig auf. Ich glaube, hier besteht Handlungsbedarf. Gemeinsames Lernen muss auch hier einen wichtigen Platz haben. Ich sage aber auch, dass das Kindeswohl zu berücksichtigen ist. Es gibt durchaus eine Berechtigung für den Fortbestand der Förderschulen, wo sie zum Wohle der Kinder notwendig sind. ({4}) Warum ist gemeinsames Lernen so wichtig? Es ist wichtig, weil es Auswirkungen auf späteres gemeinsames Arbeiten hat. Mir geht es sehr darum, dass Menschen mit Behinderungen nicht nur in den Werkstätten einen Arbeitsplatz finden, sondern auch auf dem ersten Arbeitsmarkt. Viele stellen fest, dass mit der richtigen Assistenz, mit dem richtigen Coaching und mit entsprechender Unterstützung wertvolle Mitarbeiter zur Verfügung stehen, die ihrer Tätigkeit mit Begeisterung nachgehen. Gerade, wenn wir vom Fachkräftemangel reden, sollten wir auch Menschen mit Behinderung im Blick haben. Wir senden ein gutes Signal aus, wenn wir sagen: Wir brauchen euch. In diese Richtung müssen wir gehen, um mehr Teilhabe zu verwirklichen. ({5}) Der gesetzliche Rahmen ist das eine. Das andere ist: Die Gesellschaft insgesamt muss sowohl die Inklusion als auch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu ihrem Anliegen machen. Denn eine inklusive Gesellschaft geht alle an. Gerade beim Stichwort „Barrierefreiheit“ erkennt man: Alle profitieren davon, wenn die inklusive Gesellschaft Wirklichkeit wird. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren draußen und hier auf den Tribünen! Heute vor zwei Wochen trafen sich 299 Men25020 schen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen und Bundestagsabgeordnete zum Erfahrungsaustausch. Wer von Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nicht dabei war, verpasste etwas. Diese Begegnung war inhaltlich und emotional ein großer Erfolg. ({0}) Darauf können wir stolz sein. Der Bundestag zeigte, wie es aussieht, wenn ein Verfassungsorgan seine Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention ernst nimmt. Schade ist allerdings - so viel Selbstkritik muss sein -, dass die Anzahl der Gäste die der Gastgeber um ein Vielfaches überstieg. Anhand sehr praktischer Beispiele aus dem Alltag schilderten die Gäste, was ihr Leben so ausmacht. Der wichtigste Eindruck war: große Lebensfreude, enorme Lebenskraft. Da wurde nicht gejammert, da wurde nicht gebarmt. Aber wir erfuhren von alltäglicher Mühsal: bauliche und kommunikative Barrieren, schikanös kleinmütige Verwaltungs- bzw. Verhinderungs- und Verweigerungspraktiken, haarsträubende Gesetzesauslegung, offene oder versteckte, in jedem Fall aber kränkende und herabwürdigende Missachtung, fehlende Assistenz, sei es bei der Pflege, sei es bei der Arbeit, sei es in der Freizeit, sei es Gebärdenkommunikation, und vieles andere mehr. Diese Praxisschilderungen waren mit klaren Ansagen verbunden, mit klugen Forderungen und wohldurchdachten Vorschlägen. Zu den inhaltlichen Kernbotschaften gehörten unter anderem folgende Forderungen: Verbot jedweder Diskriminierung, Schaffung umfassender Barrierefreiheit sowie voller und gleichberechtigter Teilhabe. ({1}) Eine der Forderungen, die in vielen Arbeitsgruppen und unter unterschiedlichsten Blickwinkeln immer wieder erhoben wurde, war: Assistenzleistungen in allen Lebenslagen und in jedem Alter, und zwar als Nachteilsausgleich, also unabhängig von Einkommen und Vermögen; Frau Schmidt wies ja auch schon darauf hin. ({2}) Das, meine Damen und Herren, sind wahrlich keine neuen Erkenntnisse; sie wurden dieses Mal nur so kompakt, so authentisch und so schnörkellos vorgetragen, dass man sich ihrer Überzeugungskraft weder intellektuell noch emotional entziehen konnte. Ich will Ihnen anhand einiger Beispiele aufzeigen, was konkret gemeint ist. Aber eine erste Schlussfolgerung darf ich schon einmal nennen: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Allerdings ist die Erkenntnis offenbar noch sehr ungleich verteilt. Die Begegnung im Paul-Löbe-Haus zeigte, dass die Menschenrechtsdimension der UN-Behindertenrechtskonvention bei vielen der Entscheiderinnen und Entscheider offenbar längst noch nicht angekommen ist. Vielmehr denkt man diesseits der Barriere offenbar noch in Kategorien medizinischer Defizite, bestenfalls im Geiste der Wohltätigkeit. Es geht aber um Rechte, die den Menschen mit und ohne Behinderungen zustehen. Es geht weder um Gnade noch um Großherzigkeit; es geht um Ansprüche. ({3}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Behindertenrechtskonvention wurde vor sechs Jahren von der UNO-Vollversammlung angenommen. An ihrer Ausarbeitung - das war für die Diplomaten in New York sehr ungewohnt - beteiligten sich Betroffene aus aller Welt. Sie gaben der Losung „Nichts über uns ohne uns!“ praktische Gestalt. Was also brachte uns dieses Dokument? In Deutschland brauchten wir immerhin zwei Jahre, um die Konvention zu innerstaatlichem Recht zu machen. Vonseiten der Betroffenen stand von vornherein die teilweise fehlerhafte und irreführende Übersetzung in der Kritik. Aber die Regierung erwies sich als hartleibig: keine Änderung. Dem Ratifikationsgesetzentwurf beigefügt war eine Denkschrift. Ihr Inhalt lässt sich in zwei kurzen Sätzen zusammenfassen: Alles ist gut. Nichts müssen wir ändern. - Zwar kritisierten in der Bundestagsdebatte viele Rednerinnen und Redner diese Denkschrift, dennoch wird sie heute noch gelegentlich als Argument für Nichts-tun-Wollen aus der Mottenkiste geholt und gilt dann als Wille des Gesetzgebers. Das war er wirklich nicht. Nach der Bundestagswahl 2009 färbte sich die Regierung von schwarz-rosa in schwarz-gelblich um. Sie erkannte immerhin, dass ein Umsetzungsplan nötig sei. Um diesen zu erstellen, ließ sie sich gut anderthalb Jahre Zeit. Derweil veranstaltete die Regierung mit großem Brimborium und viel Geld etliche Einbeziehungsfestivals, bei denen Menschen mit Behinderungen ihre Erwartungen an diesen Plan benennen sollten. Dort, im federführenden Ministerium, müsste die Erkenntnis also längst vorhanden sein. Aber es gelang dem Ministerium, diese standhaft zu ignorieren. Der Nationale Aktionsplan atmet den Geist muffiger Verzögerungstaktik. ({4}) Es konnte immerhin nicht verhindert werden, dass sich das Wissen um die große Bedeutung der Konvention verbreitet. Wir kommen also mit der Bewusstseinsbildung ein bisschen voran, nunmehr sogar bis in den Bundestag. Das ist erfreulich. Bedauerlicherweise lässt sich Bewusstsein jedoch nicht völlig ohne Inhalt bilden. Also drang auch der SloDr. Ilja Seifert gan „Nicht über uns ohne uns!“ etwas weiter vor. Das heißt, Menschen mit Behinderungen und ihre Selbsthilfeorganisationen sind an politischen Entscheidungen zu beteiligen. ({5}) Noch etwas lässt sich immer schwerer verheimlichen: Ein Screening aller Gesetze auf Kompatibilität mit der Behindertenrechtskonvention muss her. Auf Grundlage dieser muss dann geändert und modernisiert werden. Ich nenne hier einmal zwei aktuelle Beispiele. Da ist erstens das Wahlrecht. § 13 entzieht momentan Menschen, die in allen Lebenslagen betreut werden, pauschal das Wahlrecht - als wenn sie keine politische Meinung haben könnten! Als wenn sie ihren Wählerwillen nicht eindeutig ausdrücken könnten! Diese diskriminierende Regelung gehört abgeschafft. Es geht hier um ein menschenrechtlich gestütztes Bürgerrecht. Das darf niemandem pauschal vorenthalten werden. ({6}) Da ist zweitens die zwangsweise medizinische Behandlung. Sie ist menschenrechtswidrig. Niemandem darf man Medikamente aufzwingen. Auch eine Betreuerin oder ein Betreuer hat nicht das Recht, den erkennbaren Willen zu ignorieren. Allerdings muss ich befürchten, dass gegenwärtig in manchen Bundesländern eher daran gearbeitet wird, diese vom Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzten Zwangsregelungen juristisch zu legitimieren, anstatt sie dem modernen Menschenbild anzupassen. Das ist sehr bedenklich. Oder nehmen wir das Beispiel Bildung. Die amtliche Übersetzung kennt den Begriff „Inklusion“ überhaupt nicht, Frau Molitor, dennoch - immerhin! - spricht heute jeder und jede davon, allerdings durchaus mit sehr unterschiedlichem Verständnis dessen, was gemeint sein könnte. Ich verweise diesbezüglich einmal auf Italien. Dort gibt es keine Sonderschulen. Keine! Also gibt es auch keine Sonderschülerinnen und Sonderschüler vom Kindergarten bis zum Abitur und, wenn gewünscht, bis zum Studium. Lassen Sie uns einfach mal in Südtirol nachschauen. Dort spricht man auch Deutsch. Vielleicht verstehen wir es dann sogar einmal. Der Arbeitsmarkt zeigt keine wirklichen Verbesserungen. Noch immer ist die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen doppelt so hoch wie unter Nichtbehinderten. Von Gleichheit also keine Spur. Dafür blühen jede Menge Aussonderungswerkstätten. Dass sich dort etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohler fühlen, als wenn sie völlig untätig umhersäßen, ändert nichts daran, dass hier erheblicher Handlungsbedarf besteht. Oder schauen wir auf die Mobilität. In der Tat sehen wir vielerorts barrierefreie Busse und Bahnen. Hier wirken sich Entscheidungen aus, die vor 20 oder 30 Jahren von Leuten, die seinerzeit Spinner genannt wurden, von klugen und tapferen Visionärinnen und Visionären, erkämpft wurden. Im Flugverkehr sieht es schon weniger erfreulich aus, jedenfalls, wenn eine Rollstuhlfahrerin einmal auf die Toilette muss. Auch gibt es auf unseren Flüssen nur wenige barrierefreie Schiffe. Eine besondere Ambivalenz zeigt die Zulassung von Linienfernbussen. Hier wird mehr als drei Jahre nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention etwas Neues eingeführt. Aber Barrierefreiheit soll nach dem Willen der Bundesregierung weiterhin keine bindende Vorschrift sein. Wieso? Mit welchem Recht ignoriert die Bundesregierung die eigenen Gesetze? Nunmehr fand sich, da der Rechtfertigungsdruck zu groß wurde, ein halbherziger Kompromiss, der aber immer noch besagt: Vorläufig bleibst du draußen. Nehmen wir das Thema Wohnen: Es sind praktisch kaum barrierefreie Wohnungen zu finden. Die freie Wahl des Wohnorts wird so zur Farce. Es gibt weder ein nennenswertes Programm zur Förderung des Neubaus bezahlbarer barrierefreier Wohnungen noch eines zum Umbau vorhandener Wohnungen. Der Bedarf ist groß, aber Aktivitäten der Regierung sind nicht erkennbar. Wie sieht es überhaupt mit dem Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile aus? Die Konvention spricht von angemessenen Vorkehrungen, die zu treffen seien, um volle Teilhabe zu ermöglichen. Es besteht Anspruch auf Persönliches Budget, das sogar trägerübergreifend sein soll. Wenn aber der Sozialhilfeträger gebraucht wird - und das ist bei hohem Assistenzbedarf immer der Fall -, wird zuerst nach Bedürftigkeit gefragt. Du musst arm sein, wenn du etwas willst. Das ist kein Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile, das ist die Verhinderung von Teilhabe. Wir brauchen ein einkommens- und vermögensunabhängiges Leistungsgesetz. ({7}) Dass die Linke im Bundestag einen entsprechenden Antrag zur Abstimmung stellte, soll hier nicht nur am Rande erwähnt sein. Gleiches gilt für den Kostenvorbehalt in § 13 SGB XII. Aber die Regierung war auch kreativ, beispielsweise indem sie die Regelbedarfsstufe 3 erfand. Diese sorgt dafür, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen, die noch bei ihren Eltern wohnen müssen, 20 Prozent weniger Geld haben. Das ist enorm. Nun rang sich die Koalition zu einem Gesetzentwurf durch, der zukünftig die Mitnahme von Assistentinnen und Assistenten zu medizinischen Vor- und Nachsorgemaßnahmen ermöglichen wird. Toll! Allerdings hat sie einen gleichlautenden Gesetzentwurf der Linken, der fast zwei Jahre lang im Parlament schmorte, gerade erst abgelehnt. Im Pflegebereich ist es nicht besser. Seit Jahren weiß man, dass es nicht mehr um satt, sauber und still geht, sondern um Teilhabeermöglichung. Alle Aktivitäten, die in diese Richtung gehen, werden aber verhindert. Es gibt kein bisschen Fortschritt, geschweige denn eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Es gäbe noch viele Punkte zu nennen, bei denen sich nichts oder nichts zum Guten änderte. Ich nenne nur wahl- und wertungslos einige Stichworte: Kindergeldab25022 zweigung, Rundfunkgebühren, Wertmarke für Freifahrtberechtigung im ÖPNV, institutionelle Förderung der Selbsthilfe, Medaillenprämien bei Paralympics und Opfer von Contergan. Heute nun stimmen wir unter anderem über einen Antrag ab, mit dem die Koalitionsfraktionen ihrer eigenen Regierung sagen, dass sie auch in der Entwicklungszusammenarbeit die UN-Behindertenrechtskonvention zu beachten habe. Das ist peinlich, aber wir stimmen zu, wenn auch mit einem Schmunzeln.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Seifert, bitte denken Sie an die Zeit.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Entschuldigen Sie, Herr Präsident. Ich komme zum letzten Satz. Vor allem sollten wir zu einem Menschenbild finden, das die und den anderen nicht nur irgendwie toleriert, sondern das Anderssein will, sich darüber freut. Es sind die Unterschiede, die uns einander interessant machen. Sie sind es auch, die uns zu gegenseitig ergänzendem, solidarischem Handeln bringen können. Danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Kollege Markus Kurth spricht jetzt für Bündnis 90/ Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man muss einmal anhand von Beispielen plastisch deutlich machen: Was bedeutet eigentlich die UN-Behindertenrechtskonvention? Was beinhaltet sie? Was bedeuten die konkreten Rechte? Ich möchte mit dem Naheliegendsten anfangen, mit einer Frage, die alle hier, alle Zuhörerinnen und Zuhörer, alle Bürgerinnen und Bürger betrifft, nämlich mit der Frage des Wohnens und des normalen Lebens. Im Grunde genommen - das muss man sich klarmachen beinhaltet die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Dinge, die alle Menschen ohne Beeinträchtigung als Selbstverständlichkeiten ansehen. So heißt es zum Beispiel in Art. 19, dass die Vertragsstaaten gewährleisten - ich zitiere -, dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“. Ich sehe junge Menschen oben rechts auf der Tribüne, die sich wahrscheinlich achselzuckend sagen: Na und? Ich nehme für mich selbstverständlich in Anspruch, selbst zu entscheiden, wo und mit wem ich zusammenlebe. - Aber für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf und Beeinträchtigung in Deutschland sieht die Sache anders aus. Da haben wir zum Beispiel seit vielen Jahren den Fall des Herrn Geier. Herr Geier ist Ende 30 und lebt in einem Heim. Er möchte gerne ausziehen. Er benötigt persönliche Assistenz. Im Heim gibt es aber nicht genügend Personal. Er muss also morgens warten, bis jemand Zeit hat, ihm aus dem Bett zu helfen, ihn zu waschen, zu rasieren usw. Herr Geier hat auch eine Freundin. Sie muss mit ihm im Heim im 90 Zentimeter breiten Bett liegen. Morgens kommt das Pflegepersonal und holt die beiden manchmal, je nachdem, mit einem etwas scheelen Grinsen aus dem Bett. Würden Sie sich das gefallen lassen? Können Sie sich eine solche Beziehung, eine solche Lebensform vorstellen? Herr Geier möchte mehr Kontrolle über sein Leben haben und in einer eigenen Wohnung leben. Seit sechs Jahren kämpft er um die Übernahme der Kosten mit dem Sozialhilfeträger, der sich mit Verweis auf die zu hohen Kosten für Assistenz und Pflege weigert, ein Leben in der eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen. Das ist nach dieser UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere nach Art. 19, den ich gerade vorgetragen habe, jetzt und auch zukünftig eine klare Menschenrechtsverletzung. Es ist die Verpflichtung von uns allen, diesen Zustand zu ändern. ({0}) Ich möchte ein weiteres Beispiel geben, und zwar aus dem Bereich Arbeit, der ebenfalls sehr zentral ist. In Art. 27 der Behindertenrechtskonvention heißt es, dass die Vertragsstaaten anerkennen, dass die Menschen die Möglichkeit haben, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen - auch das ist etwas, was wir als selbstverständlich ansehen -, und zwar in einem offenen, frei gewählten Arbeitsumfeld. Die Aufgabe von staatlichen Institutionen, aber insbesondere von Sozialversicherungen ist es, wäre es, dies zu ermöglichen und offensiv zu betreiben. Aber was passiert unter anderem in Deutschland? Ein anderes Beispiel: Wir haben den Fall eines jungen Menschen, der eine Berufsausbildung macht. Er hat Assistenzbedarf. Er hat Unterstützungsbedarf: Gebärdensprachdolmetschung in der Berufsschule. Was passiert? Über Monate bzw. Jahre hinweg streiten sich Integrationsamt und Schulträger darüber, wer das zu bezahlen hat. Das Integrationsamt lehnt ab und sagt: Es geht um die Berufsschule. Das ist also Schule. Damit haben wir nichts zu tun. - Der Schulträger wiederum sagt: Das ist Berufsausbildung. Das ist berufliche Eingliederung. Damit haben wir nichts zu tun. - Dadurch, dass sich diese beiden Seiten jeweils für unzuständig erklären und nicht leisten, werden die Ausbildung eines jungen Menschen und seine Möglichkeiten, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, gefährdet, und das ist ein Skandal. ({1}) Das Besondere an der Behindertenrechtskonvention ist, dass sie unterstützende Strukturen fordert und als Recht feststellt. Die klassischen Menschenrechte sind Abwehrrechte. Das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sind Abwehrrechte gegenüber einem übermächtigen Kollektiv und gegenüber staatlichen Zumutungen. Die Menschenrechtskonvention ändert das Bild. Das ist die erste Menschenrechtskonvention, in der Unterstützung und Befähigung zum Wahrnehmen von Menschenrechten ganz klar aufgeschrieben wurden. Ich denke, das ist eine Unterstützung für alle mit ihren Beeinträchtigungen und Besonderheiten. ({2}) Diesem Anspruch werden wir unzulänglich gerecht leider. Ich hätte mir gewünscht, dass die SPD mit ihrem Antrag etwas mehr Mut bewiesen hätte; das muss ich schon sagen. Ich habe an einem Beispiel die Wohnsituation dargestellt und geschildert. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat in ihrem Aktionsplan eine sehr konsequente Formulierung in diesem Zusammenhang gefunden. Sie hat gesagt, dass der entsprechende Paragraf im Sozialrecht, der bereits von Herrn Seifert erwähnte § 13 SGB XII, ersatzlos gestrichen werden soll. Fertig! Der Mehrkostenvorbehalt sei zu streichen. ({3}) Man kann sich wirtschaftliche Leistungsformen überlegen. Ich bezweifle, dass es automatisch zu überbordenden Mehrkosten kommt. Man schaue sich einmal ernsthaft an, was für Leistungserbringungen wir wollen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat leider nicht die Klarheit und Konsequenz, die die rot-grüne nordrheinwestfälische Landesregierung hierbei an den Tag gelegt hat. ({4}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat an ebendieser Stelle in ihrem Antrag nur einen Prüfauftrag festgeschrieben. Man muss sagen, dass das etwas zu kurz gesprungen ist. Der nordrhein-westfälische Aktionsplan kann und sollte auch der Bundesregierung als Beispiel dafür dienen - das muss man ihr an dieser Stelle ganz klar mitteilen -, wie ein Aktionsplan auszusehen hat: Alle Ressorts, alle landesrechtlichen Regelungen sollen auf die UN-Behindertenrechtskonvention hin überprüft werden. Es ist so, dass ganz klare Zielsetzungen, Fristen und Zuständigkeiten in den Ressorts genannt sind. Diese Klarheit und Konsequenz bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die dort zu erkennen sind, hätte ich mir auch von der Bundesregierung gewünscht. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort der Kollege Hubert Hüppe für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, heute erstmals hier im Hohen Haus in dieser Wahlperiode reden zu dürfen, nachdem ich in den Bundestag aufgrund des tragischen Todes eines Kollegen nachrücken durfte. Ich möchte als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen erst einmal allen Beauftragten der Fraktionen an dieser Stelle für die gute Zusammenarbeit danken. ({0}) Ich glaube, dass vieles erreicht worden ist, weil man es gemeinsam über alle Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg vorangebracht hat. Eben wurde schon die Veranstaltung „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“ angesprochen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal dem THW danken, das im wahrsten Sinne des Wortes Brücken gebaut hat. Das Schöne war: Mitarbeiter des THW haben geholfen, und auch unter diesen Mitarbeitern waren zwei Menschen im Rollstuhl. Sie haben gezeigt, dass sie etwas leisten können. Dem THW sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn über Inklusion gesprochen wird - dieser Begriff ist ja auch nicht ganz barrierefrei -, dann sagen erst einmal alle, sie seien dafür. Dann sagen sie, man müsse aber jeden mitnehmen. Dann sagen sie, man dürfe bewährte Strukturen aber nicht einfach so infrage stellen; man dürfe das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Letztendlich sei es eine Jahrhundertaufgabe. Eins will ich einmal sagen: Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt klar: Teilhabe ist Menschenrecht. ({2}) Daher kann man nicht noch einmal ein paar Jahre warten. Vergleichbar ist das Ganze mit der Situation eines Busfahrers, der alle Wartenden an allen Haltestellen mitnehmen will. Wenn man nun wartet, bis auch der Letzte die Einsicht hat, dass Teilhabe Menschenrecht ist, dann wird, um im Bild zu bleiben, dieser Bus nicht ankommen. Deswegen sage ich als Behindertenbeauftragter - und das gilt ja auch für die Menschen, die in Behinderteneinrichtungen arbeiten -: Wir sind, wenn wir diese Aufgabe wahrnehmen, nicht für die Einrichtungen, sondern für die Menschen mit Behinderung da, nichts anderes. Wenn man gegenüber Kommunalpolitikern das Wort „Inklusion“ nennt, dann zucken erst einmal alle zusammen und sagen: Das kostet viel Geld. - Es wird wahrscheinlich auch Geld kosten. Aber das geschieht in einem System, das in den letzten Jahrzehnten darauf ausgerichtet war, Menschen mit Behinderung von den anderen zu trennen, nur weil sie Unterstützung brauchen. Auch das ist teuer. Manchmal kommt es gar nicht darauf an, ob man Geld ausgibt, sondern darauf, wie wichtig uns Teilhabe ist. Ich nenne zwei Beispiele: Im historischen Rathaus meiner Heimatstadt sollte ein Aufzug gebaut werden. Das wäre fast daran gescheitert, dass der Denkmalschutz dabei nicht mitmachen wollte. ({3}) Ich bin für Denkmalschutz. Aber wenn es nicht anders geht, dann muss die Teilhabe von Menschen mit Behinderung, gerade wenn es um die Teilhabe an politischen Entscheidungen geht, höher als der Schutz von Denkmälern stehen. ({4}) Ein zweites Beispiel. In meiner Nachbarstadt gab es eine Bergmannssiedlung, und diese Bergmannssiedlung hatte eine Gestaltungssatzung. Dort wohnte eine Familie, die ein neunjähriges schwerstbehindertes Kind hatte. Sie wollte einen Anbau nach hinten, weil es anders nicht möglich war, das Kind zu pflegen. Die Familie brauchte einen Kran im Gebäude. Das war in dem Haus, in dem sie wohnte, nicht möglich. Ein Jahr hat es gedauert, bis die Familie die Erlaubnis bekommen hat. Die Konsequenz, wenn sie diese Erlaubnis nicht bekommen hätte, wäre gewesen, dass diese Familie hätte wegziehen müssen, weil sie ein schwerstmehrfachbehindertes Kind hat. Das ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention. ({5}) Meine Damen und Herren, noch immer ist unser System auf Trennung ausgerichtet. Inklusion fängt klein an. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Es gibt immer noch heilpädagogische Kindergarteneinrichtungen, Sonderkindergärten. Dort sind blinde Kinder, gehörlose Kinder, körperbehinderte Kinder, sogenannte geistig behinderte Kinder und autistische Kinder untergebracht. Nur eine Gruppe findet man dort nicht: nicht behinderte Kinder. Ich komme aus dem Kreis Unna. Wenn man dort sein behindertes Kind in einem Sonderkindergarten unterbringt, dann wird das Kind morgens abgeholt, abends nach Hause gebracht - in dieser Jahreszeit wird das Kind um diese Uhrzeit keine Nachbarkinder mehr antreffen -, und das Ganze ist kostenlos, sowohl die Betreuung als auch die Fahrt; denn das ist Eingliederungshilfe. Schafft man es aber, sein Kind in einem Regelkindergarten unterzubringen - wenn sich denn einer dazu bereit erklärt -, dann muss man sein Kind selbst dorthin bringen und einen Kindergartenbeitrag bezahlen; denn das ist Jugendhilfe. Das heißt, es können nur solche Eltern Eingliederungshilfe bekommen, die bereit sind, ihr Kind auszugliedern. Das ist genau das, was diese UN-Konvention für die Zukunft nicht mehr will. Es gibt dafür auch keine pädagogische Begründung. ({6}) Im Übrigen ist das auch der Grund dafür, dass wir zwar einen Fonds für ehemalige Heimkinder haben, dieser aber immer noch nur für Kinder in Jugendeinrichtungen gilt, aber nicht für Kinder, die in den 50er- und 60erJahren in Behinderteneinrichtungen oder Kinderpsychiatrien missbraucht worden sind. Ich denke, wir als Bundestag müssen dafür sorgen - das war ja damals eine gemeinsame Initiative -, dass diese Menschen nicht länger auf Unterstützung warten müssen als Menschen ohne Behinderung. Auch das gehört dazu, meine Damen und Herren. ({7}) Weiter geht es mit der Schule. Es wurde schon gesagt: Kein Land hat mehr Förderschüler als Deutschland. Ihnen, lieber Kollege Kurth - wir kommen ja gut miteinander aus -, darf ich sagen: Allein in den letzten 14 Jahren hat die Zahl der Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, die Zahl sogenannter geistig behinderter Kinder, um 50 Prozent zugenommen. Eines ist klar: Wenn man erst einmal in einer Sondereinrichtung ist, kommt man so gut wie nie wieder heraus, zumindest nicht aus diesen Schulen. Die Zahlen steigen übrigens immer noch, trotz unserer Debatte über Inklusion. Ich denke, das muss sich ändern. Dabei müssen die Betroffenen mitreden dürfen. Es kann nicht sein, dass der Elterninitiative „Gemeinsam leben - gemeinsam lernen“ in Baden-Württemberg, die sich an dem Prozess zur inklusiven Schule im Rahmen einer Anhörung beteiligen wollte, von der Ministerin schriftlich mitgeteilt wurde, die Initiative könne daran nicht teilnehmen. Ich zitiere: Daher müssen wir die offizielle Anhörung auf die Anhörungsberechtigten und auf die für die Schulen besonders wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen beschränken. Meine Damen und Herren, Eltern mit behinderten Kindern sind zu beteiligen, wenn es um Inklusion geht. ({8}) Denn sie sind die Betroffenen, nicht die Förderschullehrer, nicht die Sonderpädagogen und auch nicht die Regelpädagogen. Sie brauchen wir auch. Aber ohne die Beteiligung der Menschen mit Behinderung wird Inklusion nicht gelingen. Deswegen müssen wir auch im Bereich der Arbeit ermöglichen, dass es Persönliche Budgets gibt, die Menschen Hilfe bekommen und die behinderten Menschen von nicht behinderten Menschen nicht deswegen getrennt werden, weil sie Unterstützung brauchen. Ein Letztes. In all den Debatten um Schule, Kindergarten und vieles mehr dürfen wir die vielen alten Menschen mit Behinderung nicht vergessen. Auch sie brauchen Barrierefreiheit; denn sie wollen dort wohnen bleiben, wo sie jetzt wohnen. Auch sie wollen nur im äußersten Fall in eine Einrichtung. Deswegen sind Investitionen in Barrierefreiheit aus meiner Sicht Investitionen in die Zukunft. Wer Inklusion will, der sucht Wege, wer sie nicht will, sucht Begründungen. Lassen Sie uns nach Wegen suchen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Oliver Kaczmarek. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Inklusionsdiskussion vor Ort betrachten, dann sehen wir, dass der Bereich Bildung oft eine herausgehobene Bedeutung hat. Dabei werden viele Sorgen, Hoffnungen, aber eben auch Ängste deutlich: Welche Kita ist die richtige? Welche Schule ist die richtige? Was passiert nach der Schule? Wie finde ich einen Studienplatz? Aber es geht auch um die Fragen: Reicht meine Ausbildung als Lehrer, um der inklusiven Bildung gerecht zu werden? Wer hilft meinem Kind? Was passiert mit meinem Arbeitsplatz? Das alles zeigt aus meiner Sicht die Dimension und Herausforderung für unser Bildungswesen. Inklusion betont Individualität. Inklusion meint: Verschiedenheit ist der Normalfall. Genau das bricht mit der leider auch heute noch zu oft im deutschen Bildungswesen vorhandenen Logik des Sortierens und Aussiebens. Inklusion weist weit über die isolierte Betrachtung von Handicaps einzelner Menschen hinaus. Inklusion ist ein Entwurf für ein Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Wir sollten es auch in dieser Komplexität begreifen. ({0}) Ich glaube, dass die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich eine der größten Herausforderungen ist, die das deutsche Bildungswesen derzeit zu bewältigen hat. Sie ist eine Aufgabe, die aus meiner Sicht nur im nationalen Maßstab bewältigt werden kann. Wir müssen Verantwortung vor allem dort stärken, wo inklusive Bildung umgesetzt wird, also in den Städten und Gemeinden. Die SPD hat deshalb in ihrem Antrag zur Umsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bildung einen „Pakt für Inklusive Bildung“ vorgeschlagen, der zwischen Bund, Ländern und Kommunen geschmiedet werden soll. Der Bund darf sich eben nicht darauf beschränken, die Konvention zu ratifizieren; er muss mit anpacken, wenn es um die Umsetzung und die Qualität geht. Wer die Länder und die Kommunen bei der Umsetzung nicht alleine lassen will, der darf auch vor dem Kooperationsverbot in der Bildung nicht kapitulieren. Bund, Länder und Kommunen müssen das zusammen angehen. Deswegen muss das Kooperationsverbot fallen. ({1}) Inklusive Bildung ist eine Aufgabe für alle Etappen einer Bildungsbiografie und alle Institutionen des Bildungswesens. Der Grund liegt auf der Hand: Überall im Bildungswesen gibt es talentierte Menschen auch mit Behinderung. Es ist unsere Aufgabe, das System so gut wie möglich darauf einzurichten, dass es ihnen gerecht wird. Ich möchte angesichts der Kürze der Zeit hier nur zwei Beispiele nennen. Erstens. Inklusive Bildung und individuelle Förderung brauchen mehr Zeit. Deshalb schlagen wir vor, ein neues Bundesprogramm aufzulegen, durch das die Anzahl der Ganztagsschulen wieder deutlich ansteigt. Es macht ja keinen Sinn, nur die Gemeinsamkeiten zu betonen. Hier gibt es eben auch einen Unterschied. Gut ausgestattete Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung sind elementare Bedingungen für inklusive Bildung. Das Geld wäre dort sicher besser angelegt als bei dem Betreuungsgeld, dem einige hier nur widerwillig zugestimmt haben. ({2}) Zweitens. Gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt kann einen Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels leisten. Wir brauchen deshalb gute Übergänge von der Schule in das Arbeitsleben. Wir brauchen spezielle Maßnahmen zur Berufsorientierung und zur Ersteingliederung. Ich habe es hier schon einmal gesagt: Die „Initiative Inklusion“ der Bundesregierung ist sicherlich ein erster richtiger, aber leider nicht hinreichender Schritt. Wir müssen grundsätzlich auch arbeitslosen Menschen mit Behinderung Zugang zu allen Instrumenten der Sozialgesetzbücher II und III, und zwar zielgruppenspezifisch und in ausreichender Anzahl, zur Verfügung stellen. Deshalb darf man nicht dort kürzen, wo es um die Schwächsten geht. Die Kürzungen der Bundesregierung bei den Mitteln für die aktive Arbeitsmarktpolitik treffen direkt und indirekt Menschen mit Behinderung. Deswegen treffen sie auch indirekt den Prozess der Inklusion. Wir reden oft über Strukturen und institutionelle Übergänge, wenn wir über inklusive Bildung sprechen. Dabei dürfen wir eines nicht außer Acht lassen: Das Herzstück gelungener inklusiver Bildung sind aus meiner Sicht motivierte und engagierte Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter, Heilpädagogen, Ausbilder, Sonderpädagogen usw. Wir müssen sie besser qualifizieren, und wir müssen sie begleiten. Wir brauchen sie alle als Profis für inklusive Bildung. Wir dürfen auch nicht vergessen, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Herr Seifert hat gerade schon darauf hingewiesen. Menschen mit Behinderung müssen den Prozess hin zur inklusiven Bildung auf Augenhöhe mitgestalten können, damit nichts über sie ohne sie entschieden wird. Zur gleichberechtigten Teilhabe gehört gleichberechtigte Mitbestimmung im Bildungswesen. ({3}) Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt: Wenn es uns gelingt, die Philosophie der inklusiven Bildung als Idee des Zusammenlebens der Gesellschaft zu verwirklichen, wenn es uns gelingt, dass alle mitmachen und motiviert sind, dann wird die inklusive Bildung un25026 serem gesamten Bildungswesen einen entscheidenden Entwicklungsschub geben können. Davon haben alle etwas. Also lassen Sie es uns angehen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Helga Daub das Wort. ({0})

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich komme jetzt zu dem Bereich „Inklusion in der Entwicklungspolitik“. Das Wort „Inklusion“ ist zugegebenermaßen auch für mich immer noch ein bisschen sperrig; aber das ist nun einmal der Begriff, und wir werden uns im Laufe der Zeit daran gewöhnen. Weltweit sind 15 Prozent der Menschen behindert. 80 Prozent dieser Menschen leben in Entwicklungsländern. Behinderte gehören gerade in Entwicklungsländern zu den am stärksten benachteiligten Gruppen - sei es beim Zugang zu medizinischer Versorgung, sei es bei den Chancen in Schul- und Berufsbildung, sei es generell hinsichtlich der Möglichkeiten der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe. Behinderte werden häufig diskriminiert, gelten als Belastung für ihre Familien, ja, man schämt sich ihrer. Der wertvolle gesellschaftliche Beitrag, den behinderte Menschen leisten können, geht somit verloren. Das Recht auf Gleichbehandlung und Selbstbestimmung ist bei uns mittlerweile selbstverständlich - oder sollte es sein. Auch bei uns gibt es da noch Defizite; aber das ist ein himmelweiter Unterschied dazu, dass Behinderten in Entwicklungsländern diese Rechte häufig verwehrt werden. Das ist ein unhaltbarer, entwürdigender Zustand und ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Behinderung vieler Menschen eine Folge von Bürgerkriegen ist, gerade in Entwicklungsländern. Die Regierungen dieser Länder sind infolge der Bürgerkriege viel zu schwach, um sich dieser Menschen annehmen zu können. Da müssen wir einschreiten und helfen. ({0}) Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention 2009 als einer der ersten Staaten unterschrieben und ratifiziert. Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der Konvention gehört Deutschland zu den ersten europäischen Staaten, die sich dieses Themas auch im Rahmen ihrer Entwicklungspolitik ganz konkret annehmen. Dass Menschen mit Behinderung die universellen Rechte gewährt werden, wird hiermit ausdrücklich thematisiert und zu einer verbindlichen Vorgabe gemacht. Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD, Sie fordern in Ihrem Antrag, die Zivilgesellschaft müsse in die Erarbeitung der Strategie sehr viel stärker eingebunden werden, und stellen einen umfassenden Maßnahmenkatalog auf. So weit, so gut. Mit einem starren Rahmen werden Sie einer komplexen Herausforderung wie der inklusiven Gestaltung der Entwicklungszusammenarbeit allerdings nicht gerecht. Im Übrigen ist die Zivilgesellschaft - auch dank Ihrer Regierungsarbeit - selbstverständlich bereits eingebunden: Seit dem Jahr 2000 hat das BMZ über 200 spezifische Projekte mit einem Gesamtvolumen von 60 Millionen Euro gefördert und sie größtenteils mithilfe privater und kirchlicher Träger - also der Zivilgesellschaft durchgeführt. Daran waren Sie in Ihrer Regierungszeit aktiv beteiligt. Sie wollen das alles immer anhand des Geldes bewerten. Das mag gut gemeint sein, ist aber deutlich zu kurz gegriffen. Das ist hier nicht der alleinige Ansatz. Was wollen wir mit dem Wort „Inklusion“ letztlich aussagen? Das heißt doch, dass Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen ganz normal eingebunden sind bzw. werden. Wir verfolgen dazu einen zweigleisigen Ansatz: Erstens werden Maßnahmen gefördert, die spezifisch auf Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind. Zweitens sollen deren Belange darüber hinaus auch in allen relevanten entwicklungspolitischen Vorhaben ausreichend Berücksichtigung finden. Das Problem Ihres Ansatzes sehe ich darin, dass Sie infrastrukturelle Maßnahmen, die natürlich auch den Behinderten zugutekommen, in ihre Kalkulation nicht mit aufnehmen, weil es nicht unter dem entsprechenden Haushaltstitel steht. Im Rahmen des 3. Runden Tisches zur Inklusion vom Februar dieses Jahres hat sich der rege und produktive Austausch mit der Zivilgesellschaft weiter etabliert. Gemeinsam mit Vertretern aus ebendieser Zivilgesellschaft, die ja auch die entsprechende Expertise mitbringen, und aus der Politik wurden Ideen und Vorschläge diskutiert. All dies ist in ein Strategiepapier eingeflossen, das noch in diesem Jahr verabschiedet werden soll. Konkret werden über 40 Maßnahmen aus zehn unterschiedlichen Bereichen gefördert, wie zum Beispiel Gesundheit, berufliche Bildung, soziale Sicherung und andere Dinge. Bei meinen Besuchen in Entwicklungsländern habe ich selbst gesehen, wie Behinderten die Chancen auf ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben verwehrt bleiben. Die Lebensumstände dieser Kinder, Frauen und Männer zu verbessern, ist für uns alle eine fortwährende Aufgabe. ({1}) Diesen Dienstag wurde hier in Berlin das unabhängige Deutsche Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit eröffnet. Dieses unabhängige Institut - ich betone: unabhängige - untersucht alle Projekte und Programme auf Erfolg und Effizienz. Dazu gehört auch unsere Arbeit, die wir für die Inklusion von behinderten Menschen leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das ist sicherlich auch in Ihrem Sinne. Übrigens: Der Chef dieses Instituts, Professor Helmut Asche, ist kein Mitglied einer der Regierungsparteien. Unser Ansatz ist der umfassendere. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Uwe Kekeritz.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Daub hat schon darauf hingewiesen: In Entwicklungs- und Schwellenländern ist die Anzahl der Menschen mit Behinderung überproportional hoch. Das hat viele Ursachen, auch strukturelle. Es fehlen medizinische Einrichtungen, und es fehlen therapeutische Einrichtungen. Das zeigt uns, dass Behinderung und Armut in einem engen Zusammenhang stehen. Umgekehrt gilt aber auch: Behinderung vergrößert die Armut enorm und in vielen Fällen extrem. Kulturelle Faktoren - Frau Daub hat auch das schon angesprochen - sind sehr zentral in Entwicklungsländern. Die Menschen werden oftmals ausgeschlossen und nicht entsprechend ihrem Potenzial gefördert. Man muss auch erwähnen: Frauen sind davon wieder einmal überproportional betroffen. Besonders nachdenklich sollte es uns machen, dass Behinderung auch Folge von Krieg ist - Frau Daub hat „Bürgerkrieg“ gesagt - und dass mit dem Ende des Krieges die Gefahr der Verstümmelung längst nicht vorbei ist. Über 100 Millionen Minen lauern als tödliche Gefahr in der Erde und werden in den nächsten Jahrzehnten noch 20 000 Menschen jährlich verkrüppeln. Meistens sind es Kinder. Hier könnte wirklich Präventionsarbeit geleistet werden. Deutschland und die internationale Gemeinschaft müssten hier sehr viel mehr leisten. ({0}) Das BMZ gibt ein Bekenntnis zu einer zweigleisigen Behindertenpolitik ab. Neben spezifischen Maßnahmen für Behinderte - Gleis 1 - sollen bei allen entwicklungspolitischen Maßnahmen - Gleis 2 - Menschen mit Behinderung besonders berücksichtigt werden. Bekenntnisse sind wichtig und notwendig, aber Bekenntnisse sind nur die Grundlage zur Ausarbeitung konkreter Strategien und Umsetzungspläne, und hier gibt es noch enormen Nachholbedarf. In den letzten drei Jahren habe ich in den Entwicklungsländern viele deutsche Projekte besucht. Mein subjektiver Eindruck ist, dass der zweigleisige Ansatz so gut wie nicht existent ist. Objektiv kann ich von meinen Reisen berichten, dass ich in keinem der vielen deutschen Projekte Behinderte überhaupt wahrgenommen hätte. Nie wurde uns erklärt, dass Behinderte am Projekt beteiligt sind oder im Projekt integriert sind, obwohl es in vielen Projekten sicher gute Einsatzmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung gibt. Da klafft also eine erhebliche Lücke zwischen theoretischem Anspruch und der konkreten Politik. Damit komme ich zum „Nichtantrag“ der Koalition. Soviel ich weiß, ist es Aufgabe des Parlaments, Anträge an die Regierung zu stellen. Aber der Koalitionsantrag richtet sich nicht an die Regierung, sondern an das Parlament. Unter Punkt II, in dem normalerweise die Forderungen aufgeführt werden, heißt es: Der Deutsche Bundestag unterstützt die Anliegen der Bundesregierung … Dann listen Sie sechs Anliegen auf. Ich wusste gar nicht, dass es das Instrument des Antrags an das Parlament gibt. Ihr Antrag ist aber insofern auch konsequent, als Sie im Ausschuss den Antrag der SPD-Fraktion mit dem Argument abgelehnt haben, er sei zwar inhaltlich korrekt, es stehe nichts Falsches darin, er sei sogar sehr gut, aber er sei überflüssig, weil diese Bundesregierung ohnehin alles richtig mache. ({1}) Ihr Antrag, den Sie jetzt vorlegen, ist deshalb auch ein Lobgesang ohne Forderungen. Es ist wirklich schade - nein, eigentlich ist es traurig -, meine Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, dass sich die Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker zu einer PR-Agentur des Ministeriums umfunktionieren lassen. Insofern ist Herr Minister Niebel sehr erfolgreich. Frau Staatssekretärin, ich gratuliere ihm dazu. Ich bin sicher, Sie werden ihm meinen Glückwunsch übermitteln. Art. 32 der Behindertenrechtskonvention wird er damit aber nicht gerecht. Dieser Artikel verpflichtet uns nicht zu Bekenntnissen und toll klingenden Papieren, sondern zu konkreten Maßnahmen. Genau das leistet diese Regierung viel zu wenig. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herzlichen Dank zunächst für Ihre Anträge. Die zahlreichen Anträge zum Thema Inklusion zeigen, dass hier fraktionsübergreifend Einigkeit besteht und der zentrale Leitgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention, nämlich die Idee der Inklusion, unser gemeinsames Ziel ist. ({0}) Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich auch bei den behindertenpolitischen Sprechern aller Fraktionen bedanken für die Hinweise, für die regelmäßige Aufarbeitung der Themen für die Kolleginnen und Kollegen, die nicht jeden Tag so tief in der behindertenpolitischen Arbeit stecken wie die behindertenpolitischen Sprecher. Ich bedanke mich auch für die Sensibilisierung der Kolleginnen und Kollegen, die nicht täglich mit diesem Thema zu tun haben. ({1}) Je öfter wir über das wichtige Thema Inklusion sprechen und über Fraktionsgrenzen hinweg nach gemeinsamen Lösungen suchen, desto besser ist dies für die Menschen mit Behinderung in unserem Land. In Deutschland leben immerhin 11,7 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mit einer Behinderung; das sind 9,6 Millionen Menschen. Nur 5 Prozent sind von Geburt an behindert, 95 Prozent erlangen erst im Laufe ihres Lebens eine Behinderung. Ich kann es gar nicht oft genug betonen, dass mir das selbstverständliche miteinander Leben und die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe für diese fast 10 Millionen Menschen mit Behinderung besonders am Herzen liegen. Wir sind bereits auf einem sehr guten Weg, aber natürlich - das haben die Vorredner bereits ausgeführt - noch längst nicht am Ziel angelangt. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, alle - ich meine damit alle Parteien: Bundesregierung, Länder und Kommunen, Verbände, Arbeitgeber und Bürger - dazu zu bewegen, ihren Beitrag für eine inklusive Gesellschaft zu leisten. Für mich zählen, lieber Herr Kollege Seifert, bei der inklusiven Gesellschaft auch die Einrichtungen für Menschen mit besonderem Förderbedarf dazu. Ich spreche bewusst nicht von Sonderschulen. Letztendlich sind es Förderschulen, die bereits eine sehr segensreiche Arbeit geleistet haben. Wir sollten uns, ähnlich wie es im Familienrecht üblich ist, immer am Wohl des betreffenden Menschen, am Wohl des betreffenden Kindes orientieren. ({2}) Sehr viele dieser Kinder, Frau Kollegin Rawert, werden im Rahmen der Inklusion an einer Regelschule beschult werden können. Aber es wird auch Kinder geben, die von einer sie behütenden Einrichtung mehr profitieren als eben von einer Regelschule. Kürzlich hat mir eine Mutter in meinem Wahlkreis gesagt: Ich bin heilfroh, dass mein Kind an dieser speziellen Schule ist. Da weiß ich, dass die Lehrer mit großem Engagement und mit großer Fachkompetenz auf genau diese Art von Behinderung eingehen können. - In vielen Fällen wird eine Einschulung in der Regelschule möglich sein. Aber wir sollten hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Pädagogen, die in Fördereinrichtungen tätig sind. ({3}) - Bei den anderen natürlich auch, Frau Kollegin. Danke für den Hinweis. Ich bedanke mich auch bei den Pädagogen, die in allgemeinbildenden Schulen tätig sind. Mit dem Nationalen Aktionsplan sorgt die unionsgeführte Bundesregierung für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und kommt auf diesem Weg in eine inklusive Gesellschaft einen großen Schritt voran. Der Nationale Aktionsplan hat bereits - das wird auch weiterhin so sein - das Leben der rund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland maßgeblich verbessert und positiv beeinflusst. ({4}) Mit den etwa 200 verschiedenen Maßnahmen aus allen Lebensbereichen wollen wir nicht nur die physischen Barrieren beseitigen, sondern auch die psychischen, die eine Integration und Berührung von Menschen mit Behinderung bislang erschweren. Auch die vom Ausschuss für Arbeit und Soziales am 19. März dieses Jahres durchgeführte Sachverständigenanhörung hat gezeigt, dass die unionsgeführte Bundesregierung mit dem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf einem sehr guten Weg ist. Bei der Entwicklung des Nationalen Aktionsplanes wurden ganz bewusst Menschen mit Behinderung sowie deren Verbände mit einbezogen, um eine nachhaltige Wirkung und Qualität der Maßnahmen zu gewährleisten. Von Frau Kollegin Michalk wurde bereits darauf hingewiesen: Wir haben mittlerweile im Nahverkehr die Beförderungsgrenze von 50 Kilometern überwinden können, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben bei Ausschreibungen von Integrationsfachdiensten die Zuverlässigkeit und die Passgenauigkeit der Einrichtungen stärker zu berücksichtigen. Auch da sind wir auf einem guten Weg und können das Problem gut lösen. Gerade auf dem Arbeitsmarkt hat sich, wie die Sachverständigen bestätigen konnten, die Situation von Menschen mit Behinderung bereits erheblich verbessert. Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels gilt es, die hervorragenden Potenziale und die Qualifikationen, die in vielen behinderten Menschen schlummern, zu nutzen. Gerade auch in puncto Motivation und Engagement können wir uns bei den Menschen mit Behinderung eine große Scheibe abschneiden. Dass zahlreiche Unternehmen hier bereits vorbildliche Arbeit leisten, möchte ich nicht unerwähnt lassen. Mehr als 1 Million schwerbehinderte Menschen befinden sich bereits in Beschäftigung. Aber unser Ziel muss weiterhin sein, durch Überzeugungsarbeit jene Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich diese Zahl noch weiter erhöht. Hierzu möchte ich die „Initiative Inklusion“ der Bundesregierung anführen, mit deren Hilfe die BundesregiePaul Lehrieder rung gemeinsam mit Ländern, Bundesagentur für Arbeit, Kammern sowie Integrationsämtern und Hauptfürsorgestellen schwerbehinderte Menschen gezielt in Arbeit bringen möchte; denn gerade die Teilhabe am Arbeitsleben ist der Grundstein für eine erfolgreiche Inklusion innerhalb der Gesellschaft. Das Bewusstsein, gebraucht zu werden, mitzuwirken, einen Beitrag für die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu leisten, ist für die Menschen mit Behinderung sehr wichtig, genauso wie die Wertschätzung der anderen, die die Menschen mit Behinderung hier verdienen. Arbeit zu haben, bedeutet, gebraucht zu werden, und bringt soziale Kontakte und Anerkennung. Hier ist sicher noch einiges zu tun. In vielen Bereichen werden wir auch in Zukunft noch große Ziele vor uns haben. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Es ist ein Etappensieg. Aber wir haben in den nächsten Jahren noch vieles zu tun. Wir werden über dieses Thema hier im Plenum sicherlich in Zukunft noch sehr oft debattieren. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Karin Roth. ({0})

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie notwendig die UN-Behindertenrechtskonvention ist, hat, glaube ich, die Debatte gezeigt. Wie wichtig es ist, fraktionsübergreifend Gemeinsamkeiten festzustellen, ist auch unbestritten. Allerdings würden wir unseren internationalen Verpflichtungen nicht gerecht werden, wenn wir uns nur innenpolitisch auf die Notwendigkeit der Veränderungen in diesem Bereich beschränken würden. Wir können froh sein, dass sich die Situation der Menschen mit Behinderung bei uns Schritt für Schritt verbessert hat. Das wurde hier deutlich. Es ist auch noch viel zu tun. Immerhin leben fast 10 Millionen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen in unserem Land. Deren Lebenssituation in allen politischen Bereichen zu berücksichtigen, sie gesellschaftlich nicht auszuschließen und überall politische und gesellschaftliche Teilhabe, aber auch Barrierefreiheit zu gewährleisten, das ist unser Anspruch und auch unsere Verpflichtung. Wir wären allerdings auf einem Auge blind, wenn wir nicht zur gleichen Zeit die Situation der über 800 Millionen Menschen mit Behinderung in den Entwicklungsländern sehen würden, die meistens ausgegrenzt sind - verbunden mit einem großen Stigma - und nicht die Möglichkeiten der Integration und der Inklusion nutzen können. Sie leben am Rand der Gesellschaft. Wir müssen die Belange dieser Menschen in unserer Politik wahrnehmen und sie insbesondere in den Mittelpunkt unserer Entwicklungspolitik stellen. ({0}) Umso beschämender war es, dass die Bundesregierung im Entwurf zum Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention die internationale Verpflichtung betreffend die Menschen mit Behinderung in Entwicklungsländern schlichtweg vergessen hatte. Umso merkwürdiger ist der Antrag der Koalitionsfraktionen, der vorsieht, sich auf bereits Vorhandenes zu beschränken. Mein Kollege Kekeritz hat dazu bereits alles gesagt, was notwendig ist. Mehr Engagement und mehr Empathie haben die Menschen mit Behinderung in den Entwicklungsländern wahrlich verdient. Auch wenn wir schon einiges auf den Weg gebracht haben, Frau Kollegin Daub: Das reicht allerdings noch nicht. ({1}) Erst auf Intervention der SPD-Bundestagsfraktion und auf Druck engagierter Organisationen, die die Situation der Menschen mit Behinderung gemeinsam mit den Betroffenen verbessern wollen, gibt es nun ein zusätzliches Kapitel im Nationalen Aktionsplan. Man kann sagen: Prima! Die Opposition hat etwas geleistet, und die Regierung ist ihr gefolgt. - So muss es sein. ({2}) Ab sofort gilt auch in der Entwicklungszusammenarbeit, die Belange der Menschen mit Behinderung in allen Bereichen zu verankern und alle beteiligten Akteure in inklusiven Projekten und Strukturen zu verpflichten. Das ist wahrlich ein wichtiger Schritt, um die bisher vergessenen Menschen mit Behinderung in den Entwicklungsländern zu beachten und sie zu unterstützen. Zukünftig sollen nach dem Willen der SPD alle Neuvorhaben - ich betone: alle - auch zur Verbesserung der Lebenssituation dieser Menschen beitragen. Damals gab es im sozialdemokratisch geführten Entwicklungsressort bereits Sektorenkonzepte, die Menschen mit Behinderung berücksichtigten. So konnten zahlreiche Organisationen wie die Christoffel-Blindenmission, der Verein „Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit“ oder die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe wichtige Projekte in den betreffenden Ländern durchführen. Die Erfahrung dieser Organisationen zu nutzen und gemeinsam mit ihnen eine entwicklungspolitische Strategie zu erarbeiten, wurde zunächst von Ihrem Ministerium unterlassen. Erst durch die Initiative der SPD wurden die Organisationen mit ihrer Kompetenz einbezogen; das ist richtig. Endlich wird zudem der selbstverständliche Anspruch der Menschen mit Behinderung auf Teilhabe - „Nichts über uns ohne uns“ - erfüllt. Auch das ist ein Fortschritt, den wir als Opposition verbuchen können. ({3}) Allerdings hat Minister Niebel im Haushalt keine finanzielle Zielgröße verankert und damit die Chance vertan, Programme und Projekte nachvollziehbar zu fi25030 Karin Roth ({4}) nanzieren. Es bleibt beim Versprechen ohne Geld. Aber das kennen wir ja schon. Im Übrigen hat das Außenministerium - es war bis gerade eben hier noch vertreten -, das für die humanitäre Not- und Übergangshilfe zuständig ist, bei seinen Leitlinien zu Maßnahmen für Menschen mit Behinderung vieles vergessen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf seitens des Außenministers Westerwelle; denn diese Leitlinien sollen im Rahmen der Not- und Übergangshilfe besonders Menschen mit Behinderung helfen. Hier muss nachgebessert werden. ({5}) Die SPD-Bundestagsfraktion setzt auf eine kohärente Politik, in der alle Maßnahmen ineinandergreifen und keine Maßnahme isoliert betrachtet wird. Dazu gehören auch die international abgestimmte und intensivierte Politik der Friedenssicherung und Konfliktprävention, um den Ursachen von Behinderung, wie zum Beispiel Landminen - ein großes Thema -, entgegenzuwirken, aber auch eine Verstärkung der entwicklungspolitischen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Das sind wichtige Punkte, die dazu führen, dass Menschen mit Behinderung mehr Lebenschancen bekommen. Das ist nicht selbstverständlich, aber notwendig. ({6}) Wer Menschen mit Behinderung helfen will, der muss auch die Forschung zur Vermeidung von Behinderung intensivieren; denn oft entsteht Behinderung durch armutsbedingte und vernachlässigte Krankheiten. Das wissen wir. Deshalb müssen wir in diesem Bereich die Forschung verstärken, nicht nur deutschlandweit, sondern auch europaweit und international. ({7}) Die spezielle Situation von Menschen mit Behinderung muss auch in den jetzt stattfindenden MDG-Prozess Eingang finden. Das finde ich deshalb so wichtig, weil darüber zurzeit debattiert wird. Beim letzten Mal waren bei den Millenniumszielen die Menschen mit Behinderung vergessen worden. Beim nächsten Mal müssen wir alle gemeinsam dafür sorgen, dass sie nicht vergessen werden. Das ist unsere internationale Verpflichtung. ({8}) Dem kann auch die FDP zustimmen. Kohärente Politik bedeutet, dass auch in Regierungsverhandlungen mit den Partnerländern die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention sowohl rechtlich als auch im Regierungshandeln nicht nur thematisiert wird, sondern gleichzeitig auch Unterstützung angeboten wird und die Zivilgesellschaft einbezogen wird; denn auch dort gibt es diese Kompetenzen, so wie in Deutschland auch. Nur wenn es uns gelingt, in diesen Ländern Menschen mit Behinderung zu integrieren, anstatt sie zu diskriminieren, haben wir den Auftrag der UN-Konvention erfüllt. Deshalb muss auch bei uns und in diesen Ländern die Inklusion in den Köpfen beginnen. Dass Ausgrenzung eine nicht akzeptable Diskriminierung ist, muss im Bewusstsein der gesamten Gesellschaft verankert sein. ({9}) Wir in Deutschland haben einen langen Weg zurückgelegt - auch haben wir eine schwierige Geschichte; darauf ist schon von meiner Kollegin Schmidt hingewiesen worden -, um die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung aufzubrechen und allmählich eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen zu ermöglichen. Auch bei uns gibt es noch viel zu tun, um das Denken zu ändern und um diskriminierungsfreie Bedingungen zu schaffen. Dabei dürfen wir uns nicht nur auf unsere nationale Verantwortung beschränken, sondern wir müssen alles tun, um Menschen mit Behinderungen weltweit zu helfen. Lassen Sie mich mit einem Zitat des Direktors der Christoffel-Blindenmission schließen. Er sagte: Ein Leben in Armut führt oft zu Behinderungen und ein Leben mit Behinderungen zu Armut. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen, und die internationale Entwicklungszusammenarbeit muss Menschen mit Behinderungen stärker berücksichtigen. Genau dies will die SPD mit ihrem Antrag erreichen. Da es so viele Gemeinsamkeiten am heutigen Tage gibt, schlage ich vor, auch unserem Antrag zuzustimmen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Klaus Riegert. ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weltweit leben etwa 15 Prozent der Menschen mit einer Behinderung. Das sind über 1 Milliarde Menschen. 80 Prozent aller Menschen mit Behinderungen leben in Entwicklungsländern. Der Weltbehindertenbericht belegt: Die meisten Menschen mit Behinderungen haben schlechtere Chancen auf Gesundheitsversorgung, Schulund Berufsausbildung und wirtschaftliche Teilhabe. Sie werden in den Entwicklungsländern häufig diskriminiert und ausgegrenzt. Viele leben in Armut. Menschen mit Behinderungen werden weder in der Millenniumserklärung noch in den Millenniumsentwicklungszielen ausdrücklich erwähnt. Deshalb ist es notwendig und richtig, die Einhaltung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder zu thematisieren. ({0}) Wir verstehen Entwicklungspolitik als praktische Menschenrechtspolitik. Das zeigt auch unser Menschenrechtskonzept. Wer Entwicklung fördern will, muss Menschenrechte stärken. Wer Menschenrechte stärkt, der fördert Entwicklung. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir betrachten Menschen mit Behinderungen als aktive Partner bei der Umsetzung ihrer Rechte. Daher fördern wir nicht nur Programme für Menschen mit Behinderungen; wir streben auch an, dass alle Entwicklungsvorhaben auch Menschen mit Behinderungen zugänglich sein müssen. Die Aufforderung im SPD-Antrag, den Twin-track-Ansatz weiter auszubauen und messbar zu machen, haben wir längst verinnerlicht. Unsere Botschaft lautet: Entwicklung inklusiv gestalten. ({2}) Das BMZ unterstützt in vielen Partnerländern die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsprojekten. So werden in Sierra Leone und Äthiopien beispielsweise Menschen mit Behinderungen in Beschäftigungsfördermaßnahmen einbezogen. In Chile hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit die Behörden dabei unterstützt, das nationale System zur Früherziehung inklusiv für Kinder mit Behinderungen zu gestalten. Durch das Projekt wurden über 2 200 behinderte Kinder im ganzen Land in Regelkindergärten aufgenommen. Nach dem Erdbeben in Haiti hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit für Tausende Familien Übergangsunterkünfte gebaut. Dabei wurde besonders auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen geachtet. In allen deutschen Maßnahmen des Wiederaufbaus in Haiti werden die Rechte von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt. Wir haben uns im Dezember letzten Jahres bei unserem Delegationsbesuch ein Projekt der Christoffel-Blindenmission angesehen. Wir sind davon überzeugt: Da wird schon einiges geleistet. Aber es war auch zu sehen, dass es noch eine Menge zu tun gibt. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit arbeitet eng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Eine besondere Rolle kommt dabei der Förderung von Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen zu. In Tansania, Kambodscha und Vietnam hat das BMZ die Einbeziehung von Behindertenverbänden in nationale Armutsreduzierungsprozesse unterstützt. In Haiti werden Organisationen behinderter Menschen mit Training und Workshops zu einer besseren politischen Teilhabe befähigt. In Bangladesch werden solche Gruppen bei der Erstellung lokaler Aktionspläne zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention beteiligt. 2013 werden zwei größere angewandte Forschungsvorhaben aufgelegt, die sich mit der Frage der Inklusion im Kontext von Entwicklungsländern befassen: eines zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in sozialen Sicherungssystemen, ein weiteres zu inklusiver Bildung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fördern die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in unseren Partnerländern. Infolge der Ratifikation der Konvention hat die Bundesregierung am 15. Juni 2011 den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen. Als eine Maßnahme im Aktionsplan ist die Entwicklung einer BMZ-Strategie zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit angekündigt. Damit gehört Deutschland - Frau Daub hat es schon gesagt - zu den ersten europäischen Ländern, die sich einen eigenen Aktionsplan zur Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Entwicklungspolitik geben. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung ist nur für Menschen innerhalb Deutschlands zuständig. Deshalb habe ich den Wunsch, dass der Behindertenbeauftragte auch sozusagen den Rest der Welt im Blick haben sollte. ({3}) Die BMZ-Strategie wird das Format eines Aktionsplans mit 10 Handlungsfeldern und über 40 Maßnahmen haben. Unsere Parlamentarische Staatssekretärin im BMZ, Gudrun Kopp, hat am 2. Februar 2012 im Rahmen des 3. Runden Tisches zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit die Eckpunkte für den Aktionsplan vorgelegt. ({4}) Der SPD-Antrag ist vom 7. März dieses Jahres. Der 3. Runde Tisch war am 2. Februar. Es war also, liebe Frau Roth, kein Weckruf der SPD notwendig, damit wir hier vorangehen. ({5}) Das hat das BMZ schon viel früher gemacht. ({6}) Wir reden auch mit den Vertretern der Zivilgesellschaft, mit Vertretungsorganisationen von behinderten Menschen und mit anderen wichtigen Stakeholdern. Zu diesem Beteiligungsprozess müssen wir nicht von Ihnen aufgefordert werden. Wir tun das bereits. Wir kooperieren selbstverständlich mit anderen Akteuren. Im Rahmen des BMZ-Aktionsplans zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen werden in den kommenden drei Jahren pilothaft in fünf verschiedenen Themenbereichen in mindestens zehn Ländern Entwicklungsmaßnahmen inklusiv konzipiert: Kambodscha und Tansania mit Schwerpunkt „Gesundheit“; Guatemala und Malawi im Bereich „Grundbildung“; Bangladesch und Kambodscha mit Schwerpunkt „Demokratie, Zivilgesellschaft und öffentliche Verwaltung“; Vietnam, Indonesien und Malawi im Themenbereich „soziale Sicherung“; Afghanistan, Laos und Namibia im Themenbereich „berufliche Bildung“. Sie sehen: Wir sind schon längst da angekommen, wo Sie mit Ihrem Antrag hin wollen. ({7}) Was Sie fordern, machen wir schon. Sie können ganz getrost unserem Antrag zustimmen. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Johannes Selle von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Aufgaben in der Welt sind groß, um allen Menschen Frieden, Freiheit und Demokratie zu geben und Ihnen eine würdige Versorgung mit Arbeitsplätzen, Nahrung, Gesundheit, Bildung und vielem mehr zu gewährleisten. ({0}) Die notwendigen Aufwendungen für den Aufbau von guten Verwaltungen und Infrastruktur, für die Rohstofferschließung, das Bildungs- und Gesundheitswesen und für Maßnahmen im Bereich „Wasser und Abwasser“ lassen sich gar nicht beziffern. Die Millenniumsziele werden wohl nicht in allen Punkten zu erfüllen sein - trotz erheblicher Fortschritte. Warum jetzt auch noch in einem Antrag einen Schwerpunkt auf Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit legen? Diese Fragestellung zeigt das Problem. Dass Menschen mit und ohne Behinderung zusammenleben können, weitestgehend selbstbestimmt, ist kein Sonderrecht mit neuen Belastungen; es ist im Idealfall der Normalfall. ({1}) Es ist ein Menschenrecht, wie es in unserem Grundgesetz heißt: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. … Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Dem wollen wir zu mehr Normalität verhelfen. Nach unserem Menschenbild ist die Würde des Menschen nicht von seiner körperlichen Verfassung abhängig. Während wir in Deutschland damit beginnen, Filmund Fernsehbeiträge barrierefrei zu machen, stehen wir in der Entwicklungspolitik vor ganz anderen Dimensionen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sind weltweit 15 Prozent der Menschen von Behinderungen betroffen, in den Entwicklungs- und Schwellenländern etwa 18 Prozent, in den Industrieländern etwa 12 Prozent. In den Entwicklungsländern sind die Risikofaktoren für Behinderungen zahlreicher: Bewaffnete Konflikte, zu wenig Schutz vor Naturkatastrophen, Mangelernährung, fehlender Arbeitsschutz und unzureichende medizinische Sofortbehandlung treiben die Zahlen in der Statistik nach oben. Behinderung und Armut sind eng miteinander verbunden. Da Menschen mit Behinderung meist ohne Einkommen leben müssen, zählen sie zu den Ärmsten. Ohne Einkommen sinkt die Chance auf geeignete medizinische Versorgung; von der richtigen Ernährung ganz zu schweigen. Behinderung und Armut bilden einen Teufelskreis, aus dem kaum auszubrechen ist. Hinzu kommen leider ganz oft Vorurteile, Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt und Verbergen des Schicksals. Es ist deshalb kein Wunder, dass Menschen mit Behinderungen in unteren Einkommensgruppen und in oberen Altersklassen deutlich höher vertreten sind. Die gesellschaftliche und soziale Nichtbeachtung dieses Themas machen körperliche und geistige Handicaps noch einmal richtig beschwerlich. Mit knapp einem Fünftel der Bevölkerung in Entwicklungsländern betrifft dieses Thema relevante Bevölkerungsgruppen. In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hat das Thema bereits durchaus eine nennenswerte Rolle gespielt. 188 spezifische Projekte für Behinderte mit einem Gesamtvolumen von 54 Millionen Euro wurden seit 2000 gefördert. Zurzeit fördert das BMZ 14 inklusiv gestaltete Entwicklungsmaßnahmen. Weil wir diesem Thema in der Welt begegnen, weil es in unserem eigenen Land wichtig ist, wollen wir auch in der Entwicklungszusammenarbeit darauf achten. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention kommt zusätzlich Schwung in die Erfüllung dieses Menschenrechtes. Uns ist es ein Anliegen, mit dem Antrag „Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung - Grundsatz der deutschen Entwicklungspolitik“ nicht nur auch spezifische Projekte durchzuführen, sondern systematisch jedes Projekt für Inklusion zu öffnen und zusätzliche Chancen zu schaffen. ({2}) Das gilt für die Einbeziehung Behinderter in Deutschland in entwicklungspolitische Vorhaben. Das BMZ hat den Freiwilligendienst „weltwärts“ darauf ausgerichtet; das darf hier durchaus einmal anerkannt werden. Das gilt ebenso für die Berücksichtigung der Anliegen Behinderter in den Zielgebieten der Zusammenarbeit. Häufig erleichtert die Beachtung von Barrierefreiheit bei Projekten den physischen Zugang zu Verwaltungs-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Die konsequente Einbeziehung von Interessenvertretern in den Partnerländern wird uns auf diesem Weg voranbringen. Wir wollen mit diesem Antrag unsere Durchführungsorganisationen - KfW und GIZ - konsequent und systematisch auf diese Querschnittsaufgabe ausrichten. Wir wollen das in einem Monitoringsystem beobachten und dokumentieren. Das, was für uns in Deutschland selbstverständlich ist, wollen wir vorleben und zur Selbstverständlichkeit in den Partnerländern werden lassen. Das gehört zu einer modernen, menschenrechtsorientierten Gesellschaft. ({3}) Frau Kollegin Roth und Herr Kollege Kekeritz, wir haben oft genug fraktionsübergreifende Anträge verfasst. Aber wer in seinem Antrag schreibt, dass die Bundesregierung „erst auf Druck von Zivilgesellschaft und Opposition“ reagiert hat, der will gar keinen gemeinsamen Antrag. Deshalb: Stimmen Sie unserem zu! ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „UNKonvention jetzt umsetzen - Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10010, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7942 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung - Grundsatz der deutschen Entwicklungspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10330, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/9730 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Was machen die Linken? ({0}) - Zugestimmt, gut. ({1}) - Ist ja in Ordnung. Wenn Sie sich den Stimmen der Koalition anschließen, ist das Ihre Verantwortung. ({2}) Die Beschlussempfehlung ist also angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD und Enthaltung der Grünen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa- che 17/8926 mit dem Titel „Behinderung und Entwick- lungszusammenarbeit - Behindertenrechtskonvention umsetzen und Entwicklungszusammenarbeit inklusiv gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak- tionen. Zusatzpunkt 10. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10117 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 11 a und 11 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen - Drucksachen 17/10747, 17/10799 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3}) - Drucksache 17/11396 - Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Praxisgebühr abschaffen - Hausärztinnen und Hausärzte stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Praxisgebühr sofort abschaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Praxisgebühr abschaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Praxisgebühr jetzt abschaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der Praxisgebühr nutzen - zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt abschaffen - Drucksachen 17/10784, 17/9189, 17/11192, 17/9031, 17/11141, 17/9408, 17/11179, 17/11396 Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs werden wir später über den Teil, der die Abschaffung der Praxisgebühr betrifft, namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr. ({5})

Daniel Bahr (Minister:in)

Politiker ID: 11003495

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Heute ist ein guter Tag für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. Nach Umfragen sind 80 Prozent der Menschen in Deutschland der Überzeugung, dass das größte Ärgernis für ihre Alltagssorgen die Praxisgebühr ist. Die bürgerlich-liberale Koalition beweist heute, dass sie die Alltagssorgen der Menschen ernst nimmt und das größte Ärgernis der Deutschen endlich abschafft. Das ist eine gute Entscheidung. ({0}) SPD und Grüne haben die Praxisgebühr seinerzeit mit viel Hoffnung eingeführt. Sie haben erwartet, dass dadurch die hohe Zahl der Arztbesuche reduziert würde, dass Ärzte wieder mehr Zeit für ihre Patienten haben und Patienten nur für wirklich notwendige Untersuchungen die Arztpraxis aufsuchen würden. Heute, nach einigen Jahren der Erfahrung, stellen wir fest, dass der seinerzeit formulierte Zweck und die damit verbundenen Hoffnungen nicht erfüllt worden sind. Das zeigt den Unterschied zu anderen Eigenbeteiligungen, die es im Gesundheitswesen natürlich braucht. Die bürgerlich-liberale Koalition stellt ja nicht die Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen als solche infrage. Wir sind der Überzeugung, dass es im Gesundheitswesen sinnvolle Eigenbeteiligungen auch weiterhin braucht. Die Patienten sollen erkennen, dass Kosten verursacht werden. Allein die Umfragen beweisen, dass die Bürgerinnen und Bürger einen großen Unterschied machen zwischen den Eigenbeteiligungen beim Zahnersatz, den Arzneimittelzuzahlungen und der Eigenbeteiligung im Krankenhausbereich einerseits und der Eigenbeteiligung in Form der Praxisgebühr andererseits. Keine Eigenbeteiligung trifft auf eine so große Ablehnung in der Bevölkerung wie die Praxisgebühr. ({1}) Das beweist: Die Praxisgebühr ist keine sinnvolle Eigenbeteiligung. Sie hat keine steuernde Funktion, sie findet in der Bevölkerung keine Akzeptanz und führt nicht zu Transparenz über die in Anspruch genommenen Leistungen. Die Politik der christlich-liberalen Bundesregierung hat bei den Krankenversicherungen zu einer finanziellen Situation geführt, von der Sie in Ihrer Regierungszeit nur hätten träumen können. ({2}) Das hätten Sie durch Ihre Politik nie erreicht. Deswegen ist es heute an der Zeit, dass wir angesichts der Überschüsse bei den Krankenkassen etwas davon an die Versicherten zurückgeben. ({3}) Es ist und bleibt das Geld der Versicherten und der Patienten. Es sind ihre Beiträge, die sie eingezahlt haben. Im Gesundheitsfonds werden im nächsten Jahr etwa 14 Milliarden Euro liegen und noch einmal die gleiche Summe bei den gesetzlichen Krankenkassen selbst. Deswegen ist es richtig, dass wir dieses Geld nicht weiter horten. Wir werden von dieser Summe ein finanzielles Polster, eine solide Finanzierung stehen lassen, aber wir werden den Patienten und Versicherten auch einen Teil davon zurückgeben. Es gibt viele Optionen, was man mit den Überschüssen machen könnte. ({4}) Der Verzicht auf die Praxisgebühr bleibt jedoch die spürbarste Entlastung der Patienten in Deutschland. Zugleich tragen wir damit zum Bürokratieabbau bei, damit Patienten und Ärzte wieder mehr Zeit für ein Gespräch in den Arztpraxen haben. ({5}) Deswegen hat sich die Koalition nach ausführlichen Beratungen entschlossen, dass die Praxisgebühr ab 1. Januar 2013 entfallen soll, damit Arzt und Patient in der Arztpraxis wieder mehr Zeit füreinander haben, damit die ungeheure Bürokratie, die dadurch entstanden ist, abgebaut wird. Es gibt Schätzungen, die besagen, dass ein Arzt allein für die Verwaltung der Gebühr etwa 120 Stunden pro Jahr aufwenden muss, dass sie BüroBundesminister Daniel Bahr kratiekosten von insgesamt ungefähr 360 Millionen Euro pro Jahr verursacht. Bei einem Aufkommen von 1,9 Milliarden Euro ist das wirklich ein stattlicher Anteil an Bürokratiekosten. Wenn all das in der Realität nicht dazu geführt hat, den eigentlichen Zweck der Praxisgebühr zu erfüllen, dann ist es an der Zeit, dass wir jetzt auf die Praxisgebühr verzichten. ({6}) Insofern hat die Koalition hier eine Entscheidung getroffen, die den Menschen unmittelbar zugutekommt und ihnen in den nächsten Jahren Verlässlichkeit bringt. Es gibt einen Witz, ({7}) und der Witz geht wie folgt: Kommt ein Mann zum Arzt. Fragt der Arzt: Was fehlt Ihnen? Sagt der Mann: Zunächst einmal 10 Euro, Herr Doktor. ({8}) Dieser Witz wird ab 1. Januar Geschichte sein, ({9}) weil die Menschen sich darauf verlassen können, dass diese unsinnige Gebühr, eine Autobahnvignette in der Arztpraxis, nicht mehr erhoben wird. ({10}) - Ihr Genöle zeigt doch nur eines, meine Damen und Herren von SPD und Grünen: Sie sind neidisch, dass es eine bürgerlich-liberale Koalition ist, die die Sorgen der Menschen ernst nimmt, ({11}) die mit ihrer Politik - durch Einsparungen bei Arzneimitteln, durch kluges und solides Wirtschaften, durch die Schaffung von Arbeitsplätzen für die Menschen erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass Ihr Fehler von seinerzeit, der Fehler von Rot-Grün, die Praxisgebühr einzuführen, ({12}) jetzt korrigiert werden kann. Das trifft Sie; anders kann ich Ihr Verhalten hier heute nicht verstehen, meine Damen und Herren von Rot-Grün. ({13}) Das Gesetz beweist zusätzlich, dass wir die Alltagssorgen betroffener Menschen ernst nehmen. Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs wird ein Beitrag dazu geleistet, dass Menschen, deren Behinderung so stark ist, dass sie auf einen Pflegeassistenten angewiesen sind, den Pflegeassistenten künftig nicht nur bei einem Krankenhausaufenthalt mitnehmen können; diese Regelung wird jetzt auf Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen ausgeweitet. Das heißt, die Betreuung durch eine vertraute Pflegeperson muss nicht unterbrochen werden. Damit kann die Behandlung optimal unterstützt werden. Wir sorgen für eine bessere Regelung hinsichtlich der Investitionskosten in Pflegeheimen. Wir sorgen mit den Regelungen dafür, dass Fehlverhalten im Bereich der Pflegeversicherung nun bekämpft werden kann. Meine Damen und Herren, all das beweist einmal mehr, dass in dieser Legislaturperiode, bei der christlichliberalen Koalition, die Patienten im Mittelpunkt stehen. Wir machen eine Politik, deren Ergebnisse unmittelbar bei den Patientinnen und Patienten ankommen. ({14}) Wir sorgen mit Blick auf ihre Alltagssorgen vor und lösen Probleme. Das zeichnet Christlich-Liberal aus. Das ist eine solide, verlässliche Gesundheitspolitik, die für eine gute Finanzlage sorgt, aber auch dafür, dass es dort, wo es nötig ist, zu einer Entlastung kommt und der Bürokratieabbau vorangebracht wird. Deswegen ist das heute ein guter Tag für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis von der SPD-Fraktion. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, nicht immer ist eine freche Behauptung besser als ein Beweis. Das haben Sie gerade hier selbst bewiesen. Bei Ihrem Versuch, die Abschaffung der Praxisgebühr in diesem Haus allein Ihrer Koalition zuzuschreiben, haben Sie jeden - leider jämmerlich gescheiterten - Versuch unterschlagen, den wir, alle Oppositionsfraktionen gemeinsam, unternommen haben, um die Praxisgebühr viel früher zu thematisieren und abzuschaffen. ({0}) Es ist schlicht und ergreifend Ihrem Koalitionsgeschacher zu verdanken, dass Sie sich jetzt hier hinstellen und so tun, als seien Sie diejenigen, die auf irgendeine Weise für die Versicherten eine Bresche schlagen würden. Ihnen geht es doch ausschließlich darum, eine Klientel wieder an sich zu binden, die Sie bei Ihrer Gesundheitspolitik mittlerweile auf der Strecke gelassen haben, nämlich die Ärzte; an diese Klientel wollen Sie heran. ({1}) Es geht Ihnen nicht um die Versicherten, wie man auch beim Thema Assistenzpflege sieht. ({2}) - Vielleicht wird der Kollege Franke gleich genauer auf das Thema Praxisgebühr eingehen und auf die legendäre Nacht zu sprechen kommen, in der Herr Seehofer alles getan hat, um die Praxisgebühr durchzusetzen. Das wissen wir alle. Es stand nicht nur in sämtlichen Zeitungen; es ist mittlerweile regelrecht Geschichte geworden. ({3}) - Regen Sie sich doch nicht auf! Eine schöne Nacht ist eine schöne Nacht, Herr Zöller. Ich bitte Sie! ({4}) - Sie scheinen sich aber mächtig darüber aufzuregen. Sie waren es doch, Herr Lanfermann, der zu Beginn jeder Ausschusssitzung gesagt hat: Absetzung von der Tagesordnung. Oder haben Sie das vergessen? ({5}) - Ach, Herr Lanfermann, es ist schön, dass Sie das so genau darstellen. Das ist gut. Herr Franke wird später darauf eingehen. ({6}) - Sie waren es doch, der eine Entscheidung immer wieder hinausgezögert hat, weil sich die Koalition schlicht und ergreifend nicht einig werden konnte. ({7}) Jetzt haben Sie das Geschacher Betreuungsgeld gegen Praxisgebühr. Der eine bedient die eine Klientel, der andere die andere Klientel. ({8}) So kann man keine Politik machen. ({9}) Im Folgenden gehe ich auf die Assistenzpflege ein. Sie haben vorhin blumig zum Thema UN-Behindertenrechtskonvention gesprochen. Wir wollen die Rechte der Menschen mit Behinderungen umsetzen, um sie zu unterstützen. Die Grundlage des von Ihnen vorgelegten Assistenzpflegegesetzes wurde 2009 von unserer damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt auf den Weg gebracht. Ihr Ansatz jetzt springt viel zu kurz, er ist wenig durchsetzungsstark, weil viele Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit geistiger Behinderung ausgeschlossen sind. 2009 haben wir etwas Gutes auf den Weg gebracht. Wir haben dafür gesorgt, dass Menschen mit Behinderung während eines Krankenhausaufenthalts eine Assistenzpflege finanziert bekommen. Das ist der richtige Ansatz. Wir haben die Assistenzpflege damals auf den Bereich Krankenhaus begrenzt. Aber die Erfahrung seit dieser Zeit hat uns zwei Dinge gelehrt: Erstens. Wir dürfen die Leistungen nicht an das Arbeitgebermodell koppeln, weil sonst viele Menschen mit anderen Behinderungen und anderen Assistenzbedarfen von Unterstützungen ausgeschlossen sind. Das ist unsere Erfahrung. Die bisherige Regelung betrifft nur einen ganz speziellen und kleinen Kreis von Menschen mit Behinderung. Zweitens. Seit 2009 haben wir auch gelernt, dass wir bei der Assistenzpflege andere Versorgungsstrukturen schlicht und ergreifend nicht ausklammern dürfen. Wir begrüßen Ihren ersten Schritt, aber Sie gehen nicht weit genug. Wir wollen ab 2013 wirklich sicherstellen - fragen Sie Herrn Hüppe; er hat vorhin heftig dafür plädiert -, dass die UN-Behindertenrechtskonvention durch konkrete Maßnahmen umgesetzt wird. ({10}) Diese Verpflichtung sind wir alle eingegangen. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass Menschen von der Assistenzpflege nicht ausgeschlossen, sondern einbezogen werden. Wir als SPD werden den Gesetzentwurf nicht ablehnen, aber wir werden uns enthalten. ({11}) Herr Bahr, wir erwarten, dass Sie Menschen mit Behinderungen mit der gleichen Leidenschaft unterstützen wie die Ärzte. ({12}) Vielen Dank fürs Zuhören. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kollegin Mattheis, Sie sagen, das von Ulla Schmidt auf den Weg gebrachte Gesetz sei gut. Wir haben es damals in der Großen Koalition gemeinsam beschlossen. Nun haben wir das Gesetz fortentwickelt. Jetzt sagen Sie, das sei nicht weitgehend genug, und wollen sich der Stimme enthalten. Das ist inkonsequent. ({0}) Lassen Sie mich die Sache auf den Punkt bringen. Das große Thema ist heute natürlich die Praxisgebühr. Schon seit Wochen ist es in aller Munde. Aber hätten wir dieses kleine, feine Gesetz zur Fortentwicklung des Assistenzpflegebedarfs im stationären Bereich sowohl in der Vorsorge als auch in der Rehabilitation nicht auf den Weg gebracht - die Koalition hat dies in Abstimmung mit den Ländern getan -, dann hätten Sie die Debatte heute so nicht führen können. Das will ich an dieser Stelle noch einmal sagen; denn es ist wichtig, dass wir die Dinge, die notwendig sind, im Rahmen unserer regulären Arbeit vervollkommnen und verbessern. Das Gesetz existiert seit dem 30. Juli 2009. Es ist ausschließlich auf das sogenannte Arbeitgebermodell ausgerichtet. Es ist richtig und gut, dass sich Menschen mit einer Behinderung ihre Assistenz selbst aussuchen und sie auch selbst einstellen können und dass sie so ihr Leben mit der Assistenz ganz konkret individuell gestalten können. Es ist in der Sache auch richtig und gut, dass diese Menschen bei einem stationären Krankenhausaufenthalt den sogenannten Mehrpflegebedarf von ihrer vertrauten Assistenz, in der vertrauten persönlichen Konstellation, erhalten. Die Praxis hat in den letzten Jahren gezeigt, dass es schlecht bzw. menschlich nicht vertretbar ist, wenn diese Assistenz nicht in den sogenannten Vorsorgebereich oder Rehabilitationsbereich mitgenommen werden kann. Diesen Fakt haben wir im Gesundheitsausschuss aufgegriffen und dazu ein Expertengespräch durchgeführt. Sowohl die Länder als auch die Leistungserbringer, also die Kommunen, haben gesagt: Ja, diese in sich logische Erweiterung auf den Rehabilitationsbereich bzw. die stationäre Vorsorge ist gut und richtig und auch bezahlbar. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es sind ungefähr 700 Menschen in unserem Land von dieser Regelung betroffen. Das ist eine relativ kleine und überschaubare Zahl. Wir regeln jetzt diese Erweiterung, weil wir möchten, dass die Pflege aus einer Hand erfolgt und dass der Mehraufwand im Rahmen dieses speziellen Vertrauensverhältnisses gewährleistet wird. Uns liegt ein Antrag der Linken vor. Ursprünglich wollte die Linke den Antrag, den wir heute zur Abstimmung stellen, auch eingebracht haben. Wir standen miteinander im Dialog, und zwar fraktionsübergreifend; auch das muss ich noch einmal sagen. Dummerweise hat sich die Linke von ihrem ersten Ansinnen verabschiedet. Sie fordert jetzt eine Ausweitung auf alle Bereiche. Nun kann man immer alles fordern. Fakt ist aber: Politik ist auch ein Instrument des Machbaren und des schrittweise Vervollkommnens. Deshalb sagen wir: Das ist ein logischer, konsequenter, gerechtfertigter und folgerichtiger Schritt, der an dieser Stelle in unserem Gesetz geregelt wird. Wir wissen, dass es in der konkreten Lebenssituation durchaus Konstellationen geben kann und wird, in denen dieser Mehraufwand notwendig ist, weil kein Arbeitgebermodell zum Tragen kommt. Ich möchte noch einmal auf die bestehende Regelung in § 11 SGB V verweisen. Ich zitiere ausdrücklich, was in § 11 Abs. 3 für die Menschen geregelt ist, die ihre Assistenz nicht im Rahmen des Arbeitgebermodells beschäftigen: Bei stationärer Behandlung umfassen die Leistungen auch die aus medizinischen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleitperson des Versicherten oder bei stationärer Behandlung in einem Krankenhaus nach § 108 die Mitaufnahme einer Pflegekraft … Das heißt, dass in ganz konkreten schwierigen Konstellationen eine qualitative Pflege möglich ist. Diese muss nur gelebt werden. Dass sie gelebt wird, haben uns die Experten in der Anhörung zu dem Gesetz gesagt. Deshalb bleiben wir bei unserem Gesetzentwurf. Wir haben neben dem Änderungsantrag zur Abschaffung der Praxisgebühr einen anderen kleinen, aber wichtigen Änderungsantrag eingebracht, den ich noch erwähnen möchte, weil er Bestandteil unserer heutigen Gesetzesbeschlussfassung sein wird. Wir regeln nämlich, dass bei der Bearbeitung von Anträgen auf Pflegeleistungen im Fall des Verdachtes auf Missbrauch ein Auskunftsanspruch besteht. Dies gilt für den Fall, dass sich abzeichnet, dass bei der Einstufung nicht alles auf den Tisch gelegt wurde. Für diesen Fall wird ein Auskunftsrecht eingeführt; denn wir möchten in unserem Land weiterhin eine gesetzeskonforme Mittelverwendung gewährleisten. Dieser Änderungsantrag enthält einen zweiten Aspekt: die Umsetzung von Entscheidungen des Bundessozialgerichtes vom letzten Jahr. Es gibt nämlich große Unsicherheiten, was die finanzielle Absicherung von Investitionen bei den Pflegeeinrichtungen angeht. Die Länder erhalten nun das Recht auf Pauschalierung der Aufwendungen im Zusammenhang mit der Instandhaltung und Instandsetzung, und zwar mit Blick auf die Belegungsquote. Das ist sehr wichtig. Auch an dieser Stelle sorgen wir für Rechtssicherheit. ({1}) Dadurch sorgen wir dafür, dass unsere Pflegeeinrichtungen auch weiterhin modernisiert und veränderten Bedürfnissen angepasst werden können. Diese Regelung bewirkt auch, dass die finanzielle Belastung auf die Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben, gleichmäßig verteilt wird, das heißt, dass diejenigen, die heute in Pflegeeinrichtungen leben, nicht die kompletten Investitionskosten zu tragen haben, während diejenigen, die künftig in diesen Einrichtungen leben werden, nichts zu tragen haben. Dieser Änderungsantrag ist ein wichtiger Baustein zur Vervollkommnung unserer Sozialgesetzgebung. Mir ist wichtig, zu betonen, dass wir mit diesem Entwurf eines Assistenzpflegegesetzes zeigen - damit knüpfen wir auch an die Debatte an, die wir kurz zuvor geführt haben -, dass es uns ernst ist mit der besseren Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft. Ganz konkret nehmen wir im Gesundheitsbereich die hierfür notwendigen gesetzlichen Schritte vor. Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass wir unseren Krankenkassen die Möglichkeit zur Satzungsregelung eingeräumt haben. Es gibt durchaus Krankenkassen, die über Leistungsverträge in diesem Bereich für Verbesserungen sorgen. Ich will in diesem Zusammenhang auf eine Vereinbarung hinweisen - Ehre, wem Ehre gebührt -, die der Taubblinden-Assistenten-Verband mit den gesetzlichen Krankenkassen in Nordrhein-Westfalen geschlossen hat, in der geregelt ist, dass die Krankenkassen, sofern sie diesen Vertrag unterzeichnet haben, in Zukunft für alle betroffenen Menschen eine Assistenz finanzieren, sodass bei diesen konkreten Beeinträchtigungen eine Assistenz bei jedem Arztbesuch möglich ist. Ich frage mich allerdings, warum bundeseinheitlich agierende Krankenkassen diesbezüglich keine bundeseinheitliche Regelung finden. ({2}) Ich will damit sagen: Der Gesetzgeber lässt sich in die Pflicht nehmen, wenn er in der Pflicht ist. Ich appelliere aber auch: Was man außergesetzlich regeln kann, sollte man außergesetzlich regeln und vor allen Dingen auch leben. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es begann in einer langen Nachtsitzung 2003. Rot-Grün wollte das Facharzthopping bekämpfen und für jeden Facharztbesuch ohne Überweisung eine Gebühr von 15 Euro nehmen. Die Union wollte für jeden Arztkontakt eine Gebühr erheben. Seehofer und Schmidt feilschten und feilschten. Heraus kam die bekannte Praxisgebühr von 10 Euro im Quartal. Das endete in einer langen Nachtsitzung am 4. November 2012, ({0}) in der die Abschaffung der Praxisgebühr der einzige Lichtblick in der ansonsten tiefen Dunkelheit der anderen Beschlüsse war. ({1}) Damals Geschachere, heute wieder Geschachere. Beide Male war der König der Basarhändler, Horst Seehofer, beteiligt. Das ist eine bemerkenswerte Tatsache. ({2}) Diesmal hat er die Praxisgebühr gegen die von ihm so sehr gewünschte Herdprämie namens Betreuungsgeld eingetauscht. Es wurde ein großer Murks beseitigt und ein noch größerer Murks geschaffen. ({3}) Das ist das Ende eines langen Prozesses. Zwischen den beiden Basarnächten gab es viele Diskussionen und Abstimmungen über dieses Ärgernis. Ich will sie noch einmal Revue passieren lassen, auch wenn es Ihnen vielleicht wehtut - das müssen Sie jetzt aushalten -: 2004 wurde das GKV-Modernisierungsgesetz beschlossen. Nur die PDS-Abgeordneten waren gegen die Praxisgebühr. Die FDP, um das noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, wollte eine prozentuale Selbstbeteiligung. Sie hat damals einen eigenen Antrag vorgelegt. Dieser Antrag enthielt eine lange Giftliste, in der genau das stand. Ich kann Ihnen sogar die Drucksachennummer sagen. ({4}) - Ja, Sie standen mit auf dem Antrag; Sie haben völlig recht, Herr Bahr. ({5}) 2006 legte die Linke einen Gesetzentwurf vor, in dem die Abschaffung der Praxisgebühr geregelt war. Alle anderen Fraktionen waren dagegen. 2009 stellte die Linke einen Antrag auf Abschaffung der Praxisgebühr. Die Grünen enthielten sich. Alle anderen waren dagegen. ({6}) 2012 stellte die Linke einen Antrag auf Sofortabstimmung über die Abschaffung der Praxisgebühr. Die Grünen stimmten mit uns, alle anderen dagegen. In der letzten Sitzungswoche - wir haben es erlebt - gab es Anträge der Oppositionsfraktionen auf Sofortabstimmung über die Abschaffung der Praxisgebühr. Die Koalitionsfraktionen sorgten dafür, dass diese Anträge in die Ausschüsse überwiesen wurden. Ja, die FDP, die angebliche Vorkämpferin gegen die Praxisgebühr! ({7}) Einen unserer Anträge auf Abschaffung der Praxisgebühr hat sie monatelang im Ausschuss nicht abschließend behandeln wollen. Noch letzte Woche hat sie ihn im Ausschuss blockiert, und das, um nicht vorzeitig Farbe bekennen zu müssen. Das Problem ist nämlich: Die Positionsänderung der FDP erfolgte in erster Linie nicht aus sachlichen Gründen. Erst als sie etwas für das Geschachere in der Hand hatte, hat sie sich aus der Deckung gewagt, und dann wurde der Murks abgeschafft oder besser: gegen anderen Murks eingetauscht. ({8}) Hätte die FDP jemals Glaubwürdigkeit besessen, dann wäre sie spätestens jetzt dahin. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag ist die Vertretung des Souveräns. ({9}) - Herr Spahn, seien Sie doch einmal still. ({10}) Uns sollte es im Kern darum gehen, keine obskuren Tauschgeschäfte zu machen, sondern um die Frage, welche Vor- und Nachteile beispielsweise solche Zuzahlungen haben. Es ist einer der populären Irrtümer der Gesundheitspolitik, zu glauben, dass Menschen zu viele Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen, wenn sie nichts kosten. Ich zitiere Norbert Häring, Ökonomiekorrespondent des sicher eher unverdächtigen Handelsblattes. Er sagte diese Woche: Es ist vielleicht erstaunlich, aber nachgewiesen, dass Zuzahlungen die Nutzungsrate von sehr wirksamen und wichtigen Medikamenten ebenso stark senken wie von Mitteln für Akne oder Erkältungen. … Kostendämpfung nach dem Motto „Die Leute nehmen zu viel Gesundheitsleistungen in Anspruch, wenn sie nichts kosten, also machen wir sie teurer“, scheren alles über einen Kamm und können dadurch - durch Folgeerkrankungen Zusatzkosten verursachen, statt Kosten zu senken abgesehen von dem unnötigen Leid der Patienten, das dadurch eventuell verursacht wird. ({11}) Und weiter - noch ein kurzes Zitat von ihm -: Die Praxisgebühr gehört zu den undifferenzierten Maßnahmen, die diesem Motto folgen. Wie recht er hat. Wir begrüßen ausdrücklich das Ende der Praxisgebühr. Wir haben lange genug dafür gekämpft. Immerhin zeigt das auch: Die Linke wirkt. ({12}) Aber wir werden insbesondere bei Geringverdienern und Kranken die paradoxe Wirkung haben, dass die Zuzahlungen an anderer Stelle steigen: bei Arzneimitteln, bei Heilmitteln, bei Krankenhäusern. ({13}) Deshalb erinnern wir noch einmal an unseren anderen Antrag im parlamentarischen Verfahren, der darauf zielt, alle Zuzahlungen abzuschaffen. ({14}) Das, was für die Praxisgebühr gilt, gilt genauso für die anderen Zuzahlungen: Sie haben keine positiven steuernden Wirkungen. Sie bestrafen diejenigen, die krank und auf Hilfe und auf Medikamente angewiesen sind und führen im Zweifel zu den von Norbert Häring beschriebenen negativen Folgekosten. Und was ist mit dem Finanzierungsbeitrag? Schon seit Monaten liegt das Konzept einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung von uns auf dem Tisch, das in der Tat durchgerechnet ist. Danach kommt man auch ohne Zuzahlungen zu einer vernünftigen Finanzierung. ({15}) Heute vollziehen wir mit der Abschaffung der Praxisgebühr einen ersten wichtigen Schritt - ein schöner Erfolg für die Beharrlichkeit der Linken. ({16}) Noch einen letzten Satz - das ist nämlich wichtig; das will ich gerade der FDP hinter die Ohren schreiben -: ({17}) Wir taktieren nicht, wie Sie es gerne tun und getan haben; wir werden der Abschaffung der Praxisgebühr zustimmen, auch wenn der Gesetzentwurf von Ihnen kommt. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Assistenzpflegegesetz hat die Kollegin Mattheis das Richtige gesagt: Es ist ein richtiger, aber unzureichender Schritt. - Dieser Einschätzung schließen wir uns an. ({0}) Jetzt reden wir über die Praxisgebühr. Die FDP spielt sich auf einmal als Streiterin für die Patienten auf und sagt, dass sie sie entlasten will. ({1}) Ja, was erleben wir denn hier? Die Partei, die immer für mehr Selbstbeteiligung ist, die immer in den Geldbeutel der Versicherten greifen will, schafft plötzlich eine Belastung ab. Was ist passiert? Ist die FDP sozial geworden? Erleben wir hier einen Ausbruch von mitfühlendem Liberalismus? ({2}) Nein, meine Damen und Herren, genau das ist nicht der Fall. Wenn von dieser Koalition jetzt die Praxisgebühr abgeschafft wird, dann heißt das: Die Rechnung kommt später. ({3}) Es ist doch so: Schwarz-Gelb hat dafür gesorgt, dass der einheitliche Beitragssatz eingefroren worden ist und alle weiteren Kostensteigerungen allein zulasten der Versicherten gehen, und zwar in Form eines einkommensunabhängigen Zusatzbeitrages, der kleinen Kopfpauschale. ({4}) Noch im Februar dieses Jahres hat der Gesundheitsminister diese neue Finanzarchitektur als einen historischen Schritt gelobt. Da muss ich Ihnen sagen: Er hat leider recht. Ja, es ist ein historischer Schritt, der das Aus für die soziale Krankenversicherung einläutet. ({5}) Das, was die FDP betreibt, ist Entsolidarisierung. Deswegen hat das gar nichts mit mitfühlendem Liberalismus zu tun. ({6}) Meine Damen und Herren, auch wenn diese Zusatzbeiträge zurzeit nicht spürbar sind: Es würde auf genau diesem Weg weitergehen, wenn sich an der Rechtslage nichts ändert. ({7}) Dass jetzt Geld da ist, liegt daran, dass die Koalition den Einheitsbeitrag heraufgesetzt hat, und daran, dass die Kassen Geld gehamstert haben, um bloß die Erhebung eines Zusatzbeitrages zu vermeiden, damit ihnen die Versicherten nicht davonlaufen. Aber wir wissen doch: Jedes Jahr steigen die Einnahmen, wenn es gut läuft, um 2 Prozent; wir reden ja von Löhnen und Gehältern als Finanzierungsbasis. Das Ausgabenwachstum liegt aber immer bei ungefähr 4 Prozent. Also: Spätestens im Jahre 2015 ist von diesen Reserven nichts mehr da. Aber die Koalition greift jetzt in die Kasse. Sie entzieht dem Gesundheitsfonds für das Jahr 2013 2,5 Milliarden Euro und für das Jahr 2014 2 Milliarden Euro. Das heißt, der Gesundheitsfonds wird zum Sparkässle für das Betreuungsgeld. Was ist denn das für eine Politik? ({8}) Dass durch die Praxisgebühr 2 Milliarden Euro hinzukommen, bedeutet natürlich nichts anderes, als dass der Abbau der Reserven und damit der Weg in den Zusatzbeitrag schneller vonstattengeht. ({9}) Meine Damen und Herren, trotzdem stimmen wir der Abschaffung der Praxisgebühr zu, ({10}) weil wir festgestellt haben, dass sie nichts bewirkt hat. Durch sie hat sich die Zahl der Arztbesuche nicht reduziert. Im Gegenteil: Wir haben sogar Anlass zur Sorge, dass sozial Schwache notwendige Arztbesuche aufschieben oder gar unterlassen. ({11}) Wir stimmen auch deswegen zu, weil wir wissen, dass das Geld im Jahr 2013 gerade noch ausreicht, ohne dass es zur Erhebung von Zusatzbeiträgen kommt, und weil wir davon ausgehen, dass uns das Ergebnis der Bundestagswahl die Gelegenheit geben wird, die Zusatzbeiträge ({12}) abzuschaffen und den Weg in die Bürgerversicherung zu gehen. Dafür werden wir kämpfen, meine Damen und Herren. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDPFraktion. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zuhörer müssen jetzt ganz verwirrt sein. Hier wird zuerst ein Riesenaufstand gemacht und so getan, als würde gleich die Welt untergehen, und dann erklären alle drei Oppositionsredner in dieser Trittbrettfahrerrallye, die wir erlebt haben, dass sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen werden. ({0}) Das tun sie natürlich deshalb, weil die Abschaffung der Praxisgebühr in der Tat überall in Deutschland auf unheimlich viel Zustimmung trifft. Für Herrn Hundt gilt das zwar nicht, weil die Arbeitgeber in diesem Fall nicht entlastet werden; das ist okay. Aber lassen wir das einmal beiseite. Wir haben eine Regelung getroffen, die die Menschen auch deswegen gut finden, weil sie nicht nachvollziehen können, warum sie 40 Jahre nach Einführung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs jedes Mal mit einem 10-Euro-Schein in einer Arztpraxis auftauchen sollen ({1}) und dieser dort eingesammelt wird, um nachher mühsam mit dem Honorar verrechnet zu werden. ({2}) Meine Damen und Herren, es geht um Bürokratieabbau. Das war eines unserer wesentlichen Ziele. Die erste Meldung zur Beschlusslage der Gesundheitspolitiker der FDP gab es übrigens am 1. März dieses Jahres. Das sei der SPD gesagt. Ihr Antrag kam am 28. März. Dann folgten weitere Anträge, und es wurden Legenden aufgebaut. Hier im Plenum ist nichts abgelehnt worden, wie Herr Steinmeier in einem Interview mit der Rheinischen Post am 8. November behauptet hat. Wir haben Ihre Anträge in der Tat in den Ausschuss überwiesen. Im Ausschuss hatten wir schon vorher gesagt, dass wir Beratungsbedarf haben. Bei uns überfährt kein Koalitionspartner den anderen, sondern wir beraten so lange, bis wir eine Lösung gefunden haben. ({3}) In dem Falle war es eine Lösung, die mehr den Vorschlägen der FDP entsprach, so wie natürlich bei anderen Themen auch die Vorschläge der Union zur Geltung kommen, manchmal ganz, manchmal zum Teil. So geht Koalition. Sie von den Grünen haben das schon vergessen, weil es bei Ihnen etliche Jahre zurückliegt. ({4}) Während sich die Menschen freuen, werden Sie zum Trittbrettfahrer. Sie erklären uns hier, wie schlimm das alles ist. Dann schließen Sie Ihre Rede damit ab, dass Sie zustimmen werden. Gut, es sei Ihnen gegönnt, dass Sie bei dieser Maßnahme mitmachen. Im Übrigen müssen Sie verstehen, dass eine Diskussion ernsthaft geführt werden muss. Wir nehmen auch die Bedenken ernst. Wenn zum Beispiel Kollege Spahn öffentlich erklärt, es habe hier und da Bedenken, dann finde ich das in Ordnung. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist sein Abschiedsschmerz. Dieser sei ihm gegönnt. Hauptsache, am Ende steht die richtige Entscheidung. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie kennen ja bereits die Geschichte von Horst und Ulla. ({0}) Herr Minister, nach Ihrer Rede war ich mir nicht so sicher, ob Sie die Geschichte von Horst und Ulla kennen bzw. ob Sie sie richtig in Erinnerung haben. ({1}) Es ist die Geschichte von der angeblich schönsten Nacht, die Horst Seehofer je erlebt hat, ({2}) die Geschichte einer Nacht, in der ein uneheliches Kind geboren wurde. Das Kind hieß Praxisgebühr. Dieses Kind ist unehelich, weil nicht Rot-Grün die Eltern sind, weil nicht Ulla Schmidt die Mutter ist. ({3}) Hilde Mattheis hat schon darauf hingewiesen - ich muss es hier wiederholen -: Rot-Grün wollte eine Praxisgebühr, durch die teure Facharztbesuche und teure Apparatemedizin verhindert werden sollten. Das war der Wille von Rot-Grün. Wir wollten, dass der Hausarzt der Ansprechpartner ist, Herr Zöller, und dass man nicht bei jeder noch so leichten Krankheit zum Facharzt rennt. Das war die besagte Steuerungswirkung. Wir wollten solch eine Praxisgebühr, und wir wollten keine Praxisgebühr à la Seehofer. Deshalb ist es richtig, sie abzuschaffen. ({4}) - Wir hatten, wie Sie wissen, aber nicht die Mehrheit. ({5}) - Wir hatten nicht die Mehrheit im Bundesrat. Nun hat Horst wieder eine schöne Nacht erleben dürfen, diesmal nicht mit Ulla, sondern mit Philipp, mit Philipp Rösler. ({6}) In dieser Nacht wurde ein Lieblingskind der CSU geboren. Dieses Lieblingskind heißt Betreuungsgeld. Am Anfang haben sich aber Philipp und Horst gar nicht so gut verstanden. Ich zitiere einmal die Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung: „Seehofer verärgert über Rösler“. Horst Seehofer hat gesagt: „Mein Vertrauensverhältnis zu Philipp Rösler hat einen Kratzer bekommen.“ Die Liberalen bezeichneten das Betreuungsgeld sogar als „groben Unfug“. Nun ist bei der Koalition aber wieder große Harmonie angesagt. Horst und Philipp haben sich wieder lieb. ({7}) Das uneheliche Kind, die Praxisgebühr, ist auf der Strecke geblieben. ({8}) Nachdem sich die jetzige Praxisgebühr à la Seehofer als Fehlschlag erwiesen hat, wird sie durch den nächsten groben Unfug ersetzt. Die Presse nennt dies zu Recht einen politischen Kuhhandel. Wissen Sie, was man unter Kuhhandel versteht? Darunter versteht man das Feilschen und Betrügen beim Viehhandel. Listige Händler schummelten früher beim Verkauf ihrer Kühe und Pferde bezüglich des Alters und der Leistungsfähigkeit der Tiere, um sie zu einem höheren Preis zu verkaufen. Ich finde, besser kann man die Politik von Schwarz-Gelb nicht beschreiben. ({9}) Was Sie am letzten Sonntag in den Verhandlungen der Koalition gemacht haben, bestätigt aus meiner Sicht viele der Vorurteile, die die Menschen gegenüber der Politik haben. Sie betreiben nämlich nicht aus sachlicher Überzeugung Politik. Die Praxisgebühr wird nur deshalb abgeschafft, damit die CSU ihr Betreuungsgeld bekommt. Das ist die Wahrheit, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({10}) Das Betreuungsgeld kostet - Biggi Bender hat es gesagt 2 Milliarden Euro. Die Abschaffung der Praxisgebühr kostet noch mal 2 Milliarden Euro. Das sind klassische Wahlgeschenke. ({11}) Um das bezahlen zu können, greifen Sie zu Taschenspielertricks: Sie nehmen Mittel aus dem Gesundheitsfonds. Alles zusammengerechnet nehmen Sie aus dem Gesundheitsfonds 2013 und 2014 4,5 Milliarden Euro. Sie vergeuden das Geld der Beitragszahler, meine sehr verehrten Damen und Herren. Seriöse Politik sieht anders aus. ({12}) Sie entziehen dem Gesundheitsfonds 4,5 Milliarden Euro. Dabei nehmen Sie bewusst in Kauf, dass die unseligen Zusatzbeiträge wiederkommen. ({13}) Vor der letzten Bundestagswahl versprachen Union und FDP den Wählern solides Durchregieren. Die FDP versprach eine deutliche Entlastung im Geldbeutel. Was haben Sie gemacht? Sie haben die Krankenversicherungsbeiträge erhöht. Das ist das Gegenteil von „Mehr Netto vom Brutto“. Rechnen können Sie also auch nicht. Sie versuchen, sich bis zur Bundestagswahl durchzuwursteln. Auf dem Weg dahin verteilen Sie Wahlgeschenke. Ihre Haushaltspolitik erinnert an einen Menschen, der abnehmen will und sich trotzdem jeden Tag eine Tafel Schokolade gönnt. Das ist vollkommen unseriös. ({14}) Zu einer zukunftsorientierten Politik ist diese Koalition jedenfalls längst nicht mehr in der Lage. Wir hoffen, das wird nächstes Jahr anders werden. Recht herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will noch einmal daran erinnern, was die Grundlage dafür ist, dass wir heute die Entscheidung zur Abschaffung der Praxisgebühr treffen können: Das ist die gute finanzielle Situation der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Lage ist vor allem deswegen so gut, weil die Koalition aus Union und FDP angesichts der Defizite, die für 2011 und 2012 drohten, bereit war, ein Sparpaket zu schnüren, das alle mit einbezogen hat. Zum Zweiten hat die wirtschaftliche Entwicklung - eine Entwicklung, die wir durch gesetzgeberische Maßnahmen befördert haben dazu beigetragen, dass die sozialen Sicherungssysteme heute so gut dastehen wie seit über zwanzig Jahren nicht. Es gibt Rücklagen. Das ist ein gutes Zeichen für Patienten, Ärzte, Pflegekräfte und alle anderen, die im Gesundheitswesen tätig sind. ({0}) Angesichts der Forderungen, die über die Abschaffung der Praxisgebühr hinaus erhoben worden sind, gewinnt man manchmal den Eindruck, als habe die Opposition nicht mitbekommen, wie sich die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung in den letzten zehn Jahren entwickelt hat. Deshalb will ich ausdrücklich daran erinnern: Im Jahr 2000 hat die gesetzliche Krankenversicherung 134 Milliarden Euro ausgegeben. 2013 wird die gesetzliche Krankenversicherung 190 Milliarden Euro ausgeben. Das heißt, in den letzten dreizehn Jahren sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung - aufgrund der Alterung der Gesellschaft, aufgrund des technisch-medizinischen Fortschritts und aufgrund des Umstands, dass wir eine flächendeckende Versorgung aufrechterhalten wollen deutlich gestiegen. Diese Steigerung macht überdeutlich, dass es Sinn macht, die Rücklagen der sozialen Sicherungssysteme grundsätzlich zu erhalten. Genau das tut diese Koalition, selbst wenn wir die Praxisgebühr abJens Spahn schaffen. Wir halten Rücklagen vor, weil wir wissen, dass die sozialen Sicherungssysteme sie in den nächsten Jahren brauchen werden. Deshalb ist es falsch, wenn Sie dieses Geld den Menschen versprechen. ({1}) Die Linken wollen, dass alle Zuzahlungen abgeschafft werden. Hinsichtlich der Sinnhaftigkeit von Zuzahlungen haben wir offenkundig eine unterschiedliche Einschätzung. Ich will ausdrücklich sagen: Wer in Deutschland krank wird - egal, ob er Krebs, MS, Parkinson hat oder Bluter ist -, der kann sich darauf verlassen, dass ihm, egal wie teuer die Behandlung wird, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt flächendeckend zur Verfügung steht. ({2}) Es ist auch eine Form von Solidarität, wenn derjenige, der auf dieses gute Gesundheitswesen vertrauen kann, im Rahmen seiner Möglichkeiten - darum die Einkommensgrenzen von maximal 1 Prozent des Bruttolohns für chronisch Kranke und maximal 2 Prozent des Bruttolohns für alle anderen - durch Eigenbeteiligungen und Zuzahlungen einen Beitrag dazu leistet, dass dieses System so gut sein kann. Das mag Ihnen nicht gefallen, und das ist sicherlich nicht populär. Aber ich bin sehr sicher, dass die meisten Menschen ein gesundes Verständnis dafür haben, dass das richtig ist. Deswegen halten wir an Zuzahlungen grundsätzlich fest. ({3}) Sie machen in dieser Woche bei den Haushaltsberatungen zum Gesundheitsetat ja sowieso wieder Politik nach dem Motto: Im Himmel ist Jahrmarkt. Sie stellen Anträge im Gesundheitsausschuss. Wir sollen 1 bis 2 Milliarden Euro mehr für Krankenhäuser ausgeben, wir sollen mehr für Prävention ausgeben, wir sollen für die Versorgung in der Fläche mehr ausgeben, und wir sollen die Praxisgebühr und die Zuzahlungen abschaffen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Ihnen die Menschen nicht auf den Leim gehen werden. ({4}) Sie wissen ganz genau, dass eine gute medizinische Versorgung Geld kostet, dass man nicht alles versprechen kann und dass das, was Sie hier machen, tatsächlich billiges Trittbrettfahren ist, wie der Kollege das gerade dargestellt hat, mehr aber auch nicht. ({5}) Es ist schon drollig, wie sich die Kollegen von der SPD hier winden. Ich will einmal daran erinnern, dass es Ulla Schmidt als Gesundheitsministerin war, die die Praxisgebühr mit unserer Zustimmung eingeführt hat, ({6}) weil wir sie in der Sache für richtig gehalten haben und noch immer für richtig halten. Was ihr hier acht Jahre später, nachdem ihr sie eingeführt habt, gerade versucht, ist eine Form von unbefleckter Empfängnis. Ihr tut so, als hättet ihr nichts damit zu tun gehabt. Das lassen wir euch in der Debatte aber nicht durchgehen. ({7}) Ich muss hier fragen: Wo ist denn der große Kollege Lauterbach? Er steht vor jeder Kamera und bei jedem Fernsehteam und erzählt etwas zur Praxisgebühr und zu anderen Themen, aber im Ausschuss, am Mittwoch, war er nicht zu sehen, und heute bei der Debatte ist er auch nicht zu sehen. Es gibt Menschen, die darüber diskutieren, wie oft Herr Steinbrück in den Ausschüssen sitzt, aber es gab in den letzten 30 Jahren im ganzen Parlament keinen gesundheitspolitischen Sprecher, der sich weniger im Ausschuss oder im Plenum hat sehen lassen. Weniger große Klappe im TV und etwas mehr Anwesenheit im Parlament wäre auch einmal angemessen. Wir als Union werden diesen gemeinsam gefundenen Kompromiss am Ende mittragen, obgleich wir es in der Sache für richtig gehalten hätten, die Praxisgebühr beizubehalten. Wir tragen ihn schweren Herzens, aber guten Gewissens mit, weil wir wissen, dass wir selbst mit dieser Entscheidung mehr Rücklagen in der gesetzlichen Krankenversicherung und insgesamt eine stabilere finanzielle Situation haben werden, als das in den letzten 20 Jahren der Fall gewesen ist. Das ist ein Ausdruck erfolgreicher christlich-liberaler Gesundheitspolitik: nicht großes Trittbrettfahren, nicht großes Reden, sondern gutes Handeln. Das setzen wir auch fort. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vor- sorge- und Rehabilitationseinrichtungen. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 17/11396, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10747 und 17/10799 in der Aus- schussfassung anzunehmen. Interfraktionell ist vereinbart, über Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4 bis 6 - es handelt sich dabei um die Abschaf- fung der Praxisgebühr - einerseits und über den Gesetz- entwurf im Übrigen andererseits getrennt abzustimmen. Ich rufe also zunächst Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4 bis 6 in der Ausschussfassung auf - Stichwort: Praxisge- bühr. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Zur Ab- stimmung liegt mir eine Erklärung des Kollegen Dr. Ilja Seifert vor.1) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an 1) Anlage 5 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse den Abstimmungsurnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die namentliche Abstimmung. Nun die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mitglieder des Bundestages ihre Stimme abgegeben? - Es gibt keine heftigen Bewegungen mehr, dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich teile Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte - wie ich feststelle: einmalige - Ergebnis der namentlichen Abstimmung über Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4 bis 6 des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen in der Ausschussfassung - es geht also, kurz gesagt, um die Praxisgebühr - mit: abgegebene Stimmen 548. Mit Ja haben gestimmt 548. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 546; davon ja: 546 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Veronika Bellmann Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({8}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Dr. h. c. Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({9}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({10}) Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({11}) Anita Schäfer ({12}) Dr. Annette Schavan Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({13}) Patrick Schnieder Nadine Schön ({14}) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Armin Schuster ({15}) Detlef Seif Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Carola Stauche Dr. Frank Steffel Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({16}) Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Volkmar Vogel ({17}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({18}) Peter Weiß ({19}) Sabine Weiss ({20}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({21}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Edelgard Bulmahn Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Elke Ferner Gabriele Fograscher Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({22}) Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Hubertus Heil ({23}) Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({24}) Christel Humme Josip Juratovic Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({25}) Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({26}) Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Petra Merkel ({27}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({28}) Michael Roth ({29}) Marlene Rupprecht ({30}) Annette Sawade Bernd Scheelen Werner Schieder ({31}) Carsten Schneider ({32}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({33}) Ewald Schurer Frank Schwabe Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({34}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({35}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({36}) Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({37}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({38}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({39}) Hans-Joachim Otto ({40}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Serkan Tören ({41}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({42}) DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Nicole Gohlke Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Harald Koch Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Ralph Lenkert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({43}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Katrin Werner BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({44}) Volker Beck ({45}) Cornelia Behm Agnes Brugger Viola von Cramon-Taubadel Katja Dörner Harald Ebner Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({46}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Renate Künast Undine Kurth ({47}) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller ({48}) Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Lisa Paus Tabea Rößner Claudia Roth ({49}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Arfst Wagner ({50}) Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler ({51}) - Ich glaube, es geht Ihnen so wie mir. Das habe ich noch nie erlebt im Deutschen Bundestag, also eine Premiere. Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4 bis 6 sind damit angenommen. Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf insgesamt in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und den Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 17/11396 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10784 mit dem Titel „Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9189 mit dem Titel „Praxisgebühr abschaffen Hausärztinnen und Hausärzte stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11192 mit dem Titel „Praxisgebühr sofort abschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe e empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9031 mit dem Titel „Praxisgebühr abschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11396 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11141 mit dem Titel „Praxisgebühr jetzt abschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den StimVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Unter Buchstabe g empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9408 mit dem Titel „Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der Praxisgebühr nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe h seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11396 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11179 mit dem Titel „Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt abschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die der Opposition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 44 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana Golze, Jörn Wunderlich, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Altersgrenze beim Unterhaltsvorschuss anheben - Drucksache 17/11326 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort. ({52})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes - seit Jahren kursiert dieses Thema hier im Hause. Unterhaltsvorschuss ist ein wichtiges Thema; man kann das nur immer wieder betonen. Vielleicht für die, die sich noch nicht damit befasst haben: Unterhaltsvorschuss wird vom Amt gezahlt, wenn Eltern getrennt leben und der Unterhaltsverpflichtete seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Er kommt also im Wesentlichen alleinerziehenden Elternteilen zugute. Eigentlich müsste die Altersgrenze - sie endet bei 12 Jahren, und das Ganze ist auf maximal 6 Jahre befristet - auf 18 Jahre, bis zur Volljährigkeit, heraufgesetzt und das Ganze entfristet werden. ({0}) Das ist die Position meiner Fraktion. Einen entsprechenden Antrag haben wir eingebracht. Heute liegt ein Antrag vor, in dem lediglich eine Forderung steht, nämlich die Altersgrenze von 12 auf 14 Jahre anzuheben. Das ist nur ein kleiner Teil von dem, was eigentlich erforderlich ist. Aber da wir wissen, wie unsere Anträge - und seien sie noch so sachgerecht - im Ausschuss und hier im Plenum behandelt werden, wollen wir mit diesem Antrag die Koalition an ihren Koalitionsvertrag erinnern; denn in dem steht geschrieben: Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahin gehend ändern, dass die Altersgrenze auf 14 Jahre angehoben wird. - Nichts anderes wollen wir mit unserem Antrag erreichen: Wir wollen Sie an Ihre Versprechen im Koalitionsvertrag erinnern. Die FDP betont immer ihre ach so tolle Vertragstreue; denn anders ist Ihre Zustimmung zum Betreuungsgeld von heute früh nicht zu erklären. ({1}) - Ja, es ist richtig. Ich habe vergessen: Sie haben sich am letzten Wochenende im Rahmen des besagten Kuhhandels kaufen lassen. Stimmt. ({2}) Diese FDP macht immer fleißig mit. ({3}) - Nicht aufregen! Die Wahrheit muss man vertragen können. ({4}) Nun kann die FDP wirklich zeigen, wie vertragstreu sie ist. Oder sie soll den Menschen, insbesondere den Alleinerziehenden, also einer Gruppe von Menschen, die ohnehin von Armut bedroht ist, offen ins Gesicht sagen, dass sie die im Koalitionsvertrag versprochene Unterstützung nicht gewährt, sondern im Gegenteil mit dem Unterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetz ihnen noch Mittel streichen will. Wie ist denn die Situation von Alleinerziehenden? Schule, Arbeit, Kindererziehung und Haushaltsführung müssen kombiniert werden, und dann stellt das Amt die Zahlung ein, weil das Kind zwölf Jahre alt wird. Das ist überhaupt nicht zu verstehen. Jetzt will die FDP noch weiter kürzen. Aber gestern betonte die FDP hier im Haus noch ihr soziales Gewissen. Das hat Frau Piltz gesagt. Das war die Lachnummer schlechthin. ({5}) - Ja, das ist richtig. - Wenn jetzt wieder das Argument kommt: „Ach, die Linke stellt einen Schaufensterantrag“, kann ich nur sagen: Richtig. Das ist ein Schaufensterantrag. In das Schaufenster will ich nämlich die FDP stellen, um allen Menschen zu zeigen, was von dieser Partei zu halten ist. ({6}) Frau Gruß, die immer ankommt mit „Kinder können nicht auf Schuldenbergen spielen“ und „Wie soll das finanziert werden?“, halte ich entgegen: Wie kann denn die FDP dem Milliardenprojekt Betreuungsgeld zustimmen? Liberale Schuldenberge gibt es ja nicht. ({7}) - Regen Sie sich doch nicht so auf! - Jetzt muss sich die FDP erklären. Macht sie Politik für Menschen, die sie brauchen, oder klüngelt und kungelt sie, und bricht sie ihre Versprechen? Alleinerziehende schröpfen, um das Betreuungsgeld zu finanzieren - das ist die von Ihnen selbst so oft „christlich-liberal“ genannte Politik. Und die FDP schröpft fleißig mit. ({8}) Die Menschen werden das nicht vergessen; das verspreche ich Ihnen. Stellen Sie heute unter Beweis, dass Sie nicht heuchlerisch, vertrags- und wortbrüchig sind, und stimmen Sie unserem Antrag zu, damit FDP nicht länger für „Firma der Pharisäer“ steht. ({9}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Bundeshaushalt beträgt der Anteil für Soziales fast 50 Prozent: Es sind 49 Prozent in diesem Jahr. Trotzdem ist es nicht unüblich, dass die Opposition immer noch mehr fordert, ob bei Rente, Kindergeld, Grundsicherung und Grundeinkommen. All das wird ja noch gefordert. ({0}) Gerade für die Linke gilt: Egal, welche Leistung es schon gibt, egal, wer was fordert - Sie setzen immer noch eins drauf. ({1}) Das ist das Privileg der Opposition, die auch nicht in der Verantwortung steht, alles unter einen Hut zu bringen. ({2}) Aber jetzt haben Sie es geschafft, sich selbst zu übertreffen. Sie haben es geschafft, im wöchentlichen Rhythmus zum selben Sujet zwei unterschiedliche Anträge einzubringen. In der einen Woche fordern Sie, die Altersgrenze auf 14 Jahre zu erhöhen. In der anderen Woche fordern Sie neben der Verlängerung der Bezugsdauer, die Altersgrenze auf 18 Jahre zu erhöhen. ({3}) Warum eigentlich nicht 25 Jahre oder solange man überhaupt Unterhalt beanspruchen kann, solange man einen Vater hat oder wie auch immer? ({4}) Das müssen Sie uns erklären oder einfach sagen, was Sie denn nun wollen. ({5}) Möglicherweise sind Sie auch schon wieder auf dem Rückzug. Denn der ältere Antrag fordert 18 Jahre, der jüngere 14 Jahre. ({6}) Das Thema, um das es geht, ist zu ernst. Da sind wir, denke ich, wieder auf einer gemeinsamen Basis. ({7}) - Ein Koalitionsvertrag enthält niemals Versprechungen gegenüber der Opposition, sondern Versprechungen gegenüber denen, die in einer Koalition zusammenarbeiten. Deshalb habe ich Ihnen gegenüber an dieser Stelle ganz gewiss kein schlechtes Gewissen. ({8}) Es tut mir aber durchaus leid, wenn wir das in dieser Legislaturperiode nicht hinbekommen. Das ist für mich als Familienpolitikerin sehr bedauerlich. ({9}) Denn wir wissen, dass die Situation für Alleinerziehende schwierig ist. Deshalb haben wir uns das auch vorgenommen. Wir hätten es auch weglassen können. Wir haben es uns ehrlich vorgenommen, ({10}) in dem Bestreben, das auch umzusetzen, ({11}) aber wir kommen an mathematischen Gesetzmäßigkeiten nicht immer vorbei. Auch wenn es schwierig ist, sollten wir uns trotzdem konstruktiv an die Arbeit machen, um zu sehen, was auch in einem begrenzten Rahmen möglich und zu verbessern ist. Es gibt durchaus einige Ansatzpunkte, um das Verfahren zu verbessern. Um einmal an den Ursprung der Idee des Unterhaltsvorschusses anzuknüpfen, darf ich daran erinnern: Unsere Vorgänger haben ihn 1979 eingeführt. Damals gab es 36 Monate, maximal bis zum sechsten Geburtstag des Kindes, Unterhaltsvorschuss. Man hat von Anfang an problematisiert, was die richtige Altersgrenze und Bezugsdauer ist. Es ging dabei auch immer ganz klar um die Begrenztheit des Budgets. Man hat sich schließlich auf diese Zeiten geeinigt, weil man gesagt hat: In diesem jungen Alter ist die Situation ganz besonders schlimm. Man hat aber auch gesagt: 36 Monate reichen, um den Unterhaltsanspruch gegenüber dem Vater zu klären. Das unterstreicht noch einmal den wahren Charakter dieser Leistung. Es ist eben nicht die auf Dauer angelegte zusätzliche Unterstützung durch den Staat. Ich bezweifle auch, dass es seine Richtigkeit hätte, wenn alleine die Tatsache, dass eine Familie sich trennt, dazu führt, dass man auf Dauer zusätzliche staatliche Leistungen bekommt. Es ist eine Vorauszahlung des Staates, die er sich im Idealfall vom Vater zurückholt. ({12}) - Genau, man müsste die Rückholquote erhöhen, ({13}) und man müsste die in der Praxis sehr häufige Situation, dass nämlich nach sechs Jahren sich jeder wundert: „Wo bleibt denn das Geld?“ und keiner weiß, warum es nicht mehr kommt, auflösen. Wir müssen den Müttern oder denjenigen, bei denen das Kind lebt - das kann ja auch andersherum sein - und die den Unterhalt für das Kind beanspruchen, die nötigen Mittel geben. Da muss das Jugendamt besser helfen, den anderen, unterhaltspflichtigen Elternteil aufspüren, einen Titel gegen ihn besorgen, die Vollstreckung in die Wege leiten ({14}) und dann den Fall abgeben, am besten auch schon vor Ablauf der sechs Jahre. Dann ist allen besser gedient. ({15}) Wir hatten in der vergangenen Sitzungswoche die erste Beratung eines Gesetzentwurfs, der verschiedene Verfahrensmaßnahmen aufgreifen soll, die die Länder uns vorschlagen. Wir werden auch sehr aus dem Blickwinkel der erziehenden Elternteile betrachten, was wir da besser machen können, ganz konkret mit dem Ziel, den Rückgriff zu verbessern: Auskunftsrechte verbessern, Verfahren straffen und dann die Verfahren in einem gut aufbereiteten Zustand an die Eltern abgeben. Davon haben die Mütter und die Kinder im Zweifel mehr, als wenn sie nach sechs Jahren plötzlich überrascht feststellen, dass die Zeit um ist und es keinen Unterhaltsvorschuss mehr gibt. In diesem Sinne können wir das gern gemeinsam konstruktiv unter die Lupe nehmen. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst in der letzten Plenarwoche hatten wir das Unterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetz in erster Lesung auf der Tagesordnung. Ich befürchte allerdings, dass die Bundesregierung und vor allem die Familienministerin Schröder, die eigentlich zuständig ist, die fachlichen Argumente der Opposition wie auch der Fachverbände einmal mehr ignoriert hat. Was haben diese Bundesregierung und die Regierungskoalition im Bereich der Familienpolitik nicht alles vereinbart und angekündigt? Vereinbart war, jedenfalls in Ihrem schwarz-gelben Koalitionsvertrag, die Zahlung des Unterhaltsvorschusses bis zum 14. Lebensjahr zu erweitern. ({0}) Hier erklärt Schwarz-Gelb, ganz in der Tradition von Adenauer: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? ({1}) In der Tat, sinnlos geschwatzt oder, noch besser, gestritten wird in dieser schwarz-gelben Bundesregierung viel. Gehandelt wird wenig. Wenn etwas auf den Weg gebracht wird, dann sind es überwiegend keine Verbesserungen, sondern Verschlimmbesserungen oder Absurditäten wie heute Morgen das Betreuungsgeld. ({2}) Meine Kolleginnen und Kollegen, eine solche Verschlimmbesserung hat es beispielsweise beim Gesetz zum Elterngeldvollzug und seiner vermeintlichen Verbesserung durch Entbürokratisierung gegeben. Die von den Sachverständigen kritisierte Schlechterstellung von Eltern mit Behinderungen bzw. Eltern mit einem Kind mit Behinderungen ist bis heute nicht behoben. Was nun das Unterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetz betrifft: Die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes hat anlässlich der Befassung mit diesem Gesetzentwurf in erster Lesung in einer Pressemitteilung festgestellt - ich zitiere -: „Das geplante Gesetz stellt einen Rückschritt dar.“ Der Gesetzentwurf dient nicht den Alleinerziehenden. Er dient nicht ihren Kindern. Er führt zwar zu Mehreinnahmen des Staates; diese, meine Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, kommen aber gerade nicht den Kindern zugute. Doch gerade Kinder, die keinen Unterhalt vom nichtbetreuenden Elternteil erhalten, sind - ich sage es Ihnen - in ganz besonderer Weise auf diese Unterstützung angewiesen, und das sollten Sie nicht länger ignorieren. ({3}) Doch dieser Familienministerin geht es - das können wir immer wieder merken, egal bei welchem Vorhaben nicht wirklich um die Familien in unserem Land und schon gar nicht um die Einelternfamilien; denn sonst würde sie sich für Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss einsetzen. Eine Verbesserung wäre zum Beispiel die Anhebung der Altersgrenze; völlig richtig. Von einer Ausdehnung der Zahlung des Unterhaltsvorschusses bis zum 14. Lebensjahr würden immerhin 82 000 Kinder in unserem Land profitieren. Die Mehrausgaben lägen bei etwa 240 Millionen Euro für Bund und Länder zusammen; so jedenfalls die Aussage des Staatssekretärs Dr. Kues auf eine entsprechende Anfrage vom Dezember 2011. Die Verlängerung der Zahlung dieser Leistung muss natürlich solide finanziert werden. Dazu bedarf es auch einer Klärung des Bundes mit den Ländern, aber eben auch mit den Kommunen; denn die Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz tragen zu einem Drittel der Bund und zu zwei Drittel die Länder, und die Länder haben die Ermächtigung, die Kommunen an den Ausgaben zu beteiligen. Zur Anhebung der Altersgrenze auf 14 Jahre fordert die Linke in ihrem heute zur Abstimmung stehenden Antrag die Bundesregierung auf. Dabei erinnert er Schwarz-Gelb zu Recht an den eigenen Koalitionsvertrag. Die Forderung in Ihrem Antrag, meine Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ist insofern nur folgerichtig, meines Erachtens aber für eine Weiterentwicklung des Unterhaltsvorschusses unvollständig; denn das wäre eben nur ein Schritt zu einer Verbesserung. Weitere Schritte müssen ganz dringend geprüft werden. ({4}) So muss meines Erachtens eine Verlängerung der Bezugsdauer des Unterhaltsvorschusses geprüft werden. ({5}) Ebenso überprüft werden müsste der vollständige Abzug des Kindergeldes beim Unterhaltsvorschuss. Dies stellt Kinder, die Unterhaltsvorschuss erhalten, generell schlechter als Kinder, die Unterhalt von einem Elternteil bekommen. - Dies sind nur zwei Beispiele für wirklich notwendige Prüfungen. Eine Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte mit dem Ziel einer Verbesserung des Unterhaltsvorschusses muss die Bundesregierung vorlegen. Das Ergebnis, Herr Staatssekretär, muss dem Deutschen Bundestag vor Verabschiedung einer Gesetzesänderung zum Unterhaltsvorschuss vorgelegt werden. Beginnen Sie doch bitte mit Ihrer Arbeit! Der Reformbedarf beim Unterhaltsvorschussgesetz ist unstrittig. Aber wenn man eine Reform vornimmt, dann bitte gleich richtig. So hat es jedenfalls die SPDBundestagsfraktion in ihrem Antrag zur Unterstützung der Alleinerziehenden gefordert, und dies verstehe ich unter einer wirklich sinnvollen Weiterentwicklung und Verbesserung des Gesetzes. Es muss der Zielgruppe gerecht werden, den gesellschaftlichen Bedingungen angepasst und positiv weiterentwickelt werden - und darf nicht, wie es Schwarz-Gelb in der letzten Sitzungswoche festgelegt hat, Alleinerziehende und ihre Kinder schlechter stellen. Bei der Bundesregierung ist eben nicht Weiterentwicklung, sondern Rückschritt angesagt, Rückschritt in der Familienpolitik auf ganzer Linie wie heute Morgen beim Betreuungsgeld. Letztlich - das bleibt festzustellen - fehlt es dieser schwarz-gelben Bundesregierung auch bei der Familienpolitik an einem Gesamtkonzept. Die Familien und die Kinder in diesem Land bekommen das auf bitterste Weise zu spüren; aber Gott sei Dank sind Sie nicht mehr lange an der Regierung. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Judith Skudelny für die FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Also, wer wie lange an der Regierung ist, das entscheidet Gott sei Dank nicht die SPD-Fraktion; das entscheiden die Wählerinnen und Wähler im nächsten Jahr. ({0}) Ich möchte zunächst sagen, dass ich meine Kollegin, die Vorsitzende des Familienausschusses, Frau Laurischk, vertrete, die krankheitsbedingt leider nicht hier sein kann. Ich wünsche ihr - ich denke, wir wünschen ihr von dieser Stelle aus alles Gute. ({1}) Meine Damen und Herren! Die Unterhaltsleistung nach dem Unterhaltsvorschussgesetz ist eine vorübergehende Unterstützung für alleinerziehende Elternteile, die ihre Kinder in der Regel unter erschwerten Bedingungen erziehen. Alleinerziehende sind beim Ausfall von Unterhaltsleistungen des anderen Elternteils gezwungen, finanziell für den von dem anderen Elternteil fehlenden Unterhalt aufzukommen. Ziel des Unterhaltsvorschusses ist es, die Zeit, bis der alleinerziehende Elternteil den Unterhalt vom unterhaltspflichtigen Elternteil erhält, zu überbrücken. Bei unregelmäßigen oder ausbleibenden Unterhaltszahlungen hat das Kind eines alleinerziehenden Elternteils Anspruch auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass der Unterhaltsvorschuss keine Sozialleistung ist, sondern Familien in einer Notlage unterstützen soll. Ein Kind braucht Unterhalt. Seine Bedürfnisse müssen erfüllt werden. Wenn der unterhaltspflichtige Elternteil diese Bedürfnisse durch die Zurückhaltung des Unterhalts nicht erfüllt, ist der Staat gefordert, in dieser Notsituation einzugreifen. Wir müssen uns vor Augen führen, dass das Nichtbezahlen von Unterhalt kein Kavaliersdelikt ist, sondern einen Straftatbestand darstellt. Zu Zeiten, in denen wir die Stärkung der Rechte von Vätern im Deutschen Bundestag diskutieren, dürfen wir deren Pflichten nicht vergessen. ({2}) Im Koalitionsvertrag der Unionsfraktion und der FDP wurde dazu festgehalten - tatsächlich -: Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahin gehend ändern, dass der Unterhaltsvorschuss entbürokratisiert und bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres eines Kindes gewährt wird. ({3}) Aber manchmal hilft es auch, den ganzen Vertrag zu lesen. Dort steht nämlich: „immer unter dem Vorbehalt der Finanzierung“. ({4}) Damit haben wir als Koalition unterstrichen, dass wir die Situation der Alleinerziehenden besonders im Blick haben und sie in dieser schwierigen Lebensphase des Konfliktes um den Unterhalt nicht alleinlassen. Zugleich haben wir eine starke Erwartungshaltung geschaffen, an der eine Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes nun politisch gemessen wird. Das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes soll und wird Alleinerziehenden den Weg für diese Unterstützungsleistung ebnen und die Antragstellung so weit als möglich vereinfachen. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass künftig alleinerziehende Elternteile weniger Nachweise erbringen müssen. Das trägt natürlich auch dazu bei, den zuständigen Unterhaltsvorschussstellen die Anspruchsprüfung und Anspruchsbewilligung zu erleichtern. Darüber hinaus werden klarstellende Regelungen wie die Anrechnung von erbrachten Unterhaltsleistungen des familienfernen Elternteiles getroffen. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird die gerichtliche Durchsetzung der Rückgriffsansprüche präzisiert. Zur Verbesserung des Rückgriffs im Rahmen der Entbürokratisierung des Unterhaltsvorschusses ist geplant, die Auskunftsmöglichkeiten der für den Vollzug des UVG zuständigen Stellen im Hinblick auf die Verhältnisse des familienfernen Elternteils zu erweitern. Insgesamt führt dieses Gesetz an vielen Stellen zu einer Vereinfachung des Verfahrens, sowohl für die Antragsteller - also für die alleinerziehenden Elternteile, in der Regel die Mütter - als auch für die vollziehenden Behörden. Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass der Rückgriff auf die Unterhaltsschuldner erleichtert wird. Im weiteren Verfahren wollen wir weitere Verbesserungen im Gesetzentwurf erreichen. Wir als FDP halten es für notwendig, in § 2 klarzustellen, dass der Unterhaltsverpflichtete ein Einverständnis des betreuenden Elternteils nachweisen muss, damit Zuwendungen an Dritte leistungsbefreiende Wirkung haben. Es kann nicht sein, dass der Vater für den Ballettunterricht des Kindes aufkommt, das Essen aber nicht bezahlt. Außerdem wollen wir eine Regelung, nach der das Jugendamt Auskünfte über den Unterhaltsschuldner weitergeben muss. Das soll dazu beitragen, den Unterhaltsanspruch des Kindes notfalls auch gerichtlich durchzusetzen. Darüber hinaus werden wir versuchen, § 4 noch einmal zu ändern und die gegenwärtig geltende Möglichkeit der rückwirkenden Zahlung beizubehalten. Natürlich ist die Anhebung der Altersgrenze auf 14 Jahre richtig und geboten. Doch wir haben nicht nur Verantwortung für Alleinerziehende, sondern auch für einen ausgeglichenen Bundeshaushalt; denn - Achtung, jetzt kommt es - Kinder können auf Schuldenbergen nicht spielen. ({5}) Wir wissen, wie schwer es werden wird - gerade bei den Ländern, die ja zwei Drittel der Kosten tragen müssen -, eine Ausweitung auf 14 Jahre durchzusetzen. Wenn die Opposition die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses fordert, die in der Sache durchaus berechtigt ist, dann fordere ich Sie, meine lieben Damen und Herren, dazu auf, in den von SPD, Grünen und Linken regierten Bundesländern auch konsequent dafür einzutreten und über den Bundesrat zur Ausweitung beizutragen. Denn es ist absolut scheinheilig von der Opposition, auf der einen Seite in einem Antrag den Bund zur Erhöhung der Altersgrenze und damit zur Erhöhung der Kosten aufzufordern und auf der anderen Seite in den Ländern alle familienpolitischen Maßnahmen zu blockieren, die die Länder etwas kosten würden. Danke. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sie hören es schon: Ich bin stimmlich ein bisschen angeschlagen. Wir haben heute Morgen eine Inklusionsdiskussion geführt. In diesem Sinne, denke ich, müssen hier auch krächzende Abgeordnete akzeptiert werden. ({0}) Keine andere Familienform hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland so an Bedeutung gewonnen wie die Ein-Eltern-Familie. Wir reden von 1,6 Millionen Alleinerziehenden und insgesamt 2,2 Millionen Kindern und Jugendlichen. Alleinerziehende leisten Enormes; denn sie sorgen nicht nur alleine für ihre Kinder, sondern verdienen in vielen Fällen auch den Lebensunterhalt alleine. Sie verdienen Anerkennung und Respekt, und sie verdienen es, in besonderer Weise von Staat und Gesellschaft unterstützt zu werden. ({1}) Was tut die Bundesregierung aber für diese am meisten von Armut betroffene Familienform? ({2}) Sie kürzt Programme und Leistungen, von denen Alleinerziehende in besonderer Weise profitieren, beispielsweise das Programm „Soziale Stadt“, mit dem viele Angebote für Alleinerziehende und ihre Kinder bewerkstelligt wurden. Wir erinnern uns auch an die komplette Anrechnung des Sockelbetrags beim Elterngeld auf das ALG II. Offensichtlich hält die Bundesregierung die Erziehungsleistungen armer Eltern - darunter sind eben überdurchschnittlich viele Alleinerziehende - nicht für anerkennenswert. Diese Haltung finde ich völlig inakzeptabel. ({3}) Die Liste dokumentierter Respektlosigkeiten gegenüber Alleinerziehenden ist aber noch lange nicht zu Ende. Gerade hat die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Entbürokratisierung des Unterhaltsvorschusses eingebracht - das ist schon angesprochen worden -; doch auch hier ist nichts Gutes zu vermuten. ({4}) Geplant sind vor allem Verschlechterungen wie die Abschaffung der rückwirkenden Antragstellung oder die Anrechnung kleinster Sachbeträge, beispielsweise wenn der Vater einmal für den Sportverein oder den Gitarrenunterricht Geld gibt. Dabei weiß die Bundesregierung nicht einmal genau, was sie tut. Es gibt nämlich keine umfassende qualitative und quantitative Evaluation der Leistung. Mehrere Kleine Anfragen unsererseits, aber auch von den anderen Oppositionsfraktionen unter anderem zur Situation von Unterhaltsvorschussbeziehenden, zur Verwaltung der Leistung, zu den Wechselwirkungen mit anderen staatlichen Leistungen oder auch zu den Ursachen des schlechten Rückflusses konnten seitens der Bundesregierung einfach nicht beantwortet werden. Dabei wäre es doch wichtig, zu wissen, warum kein Unterhalt gezahlt wird und der Staat in die Bresche springen muss. Es ist beispielsweise kaum erklärbar, wenn ein Landstrich mit einer eigentlich undramatischen sozialen Lage wie Fulda - dieses Beispiel ist jetzt nur herausgegriffen - eine Rückholquote von nur 13 Prozent hat, während eine andere Kommune fast ein Drittel des Geldes wieder einsammelt. Es wäre also wichtig, Wege zu finden, die Rückholquote zu erhöhen, damit das Geld zurückfließt. ({5}) Aber das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nur ein Aspekt. Dramatischer ist, dass die Bundesregierung - wir haben es schon gehört - eigentlich gestartet ist, mithilfe der Ausweitung der Altersgrenze Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss zu erreichen. Das wäre ein wichtiger und guter Schritt; denn der Unterhaltsvorschuss kommt bekanntlich direkt bei den Kindern an. Warum fällt die Ausweitung der Altersgrenze aus? Angeblich ist die Bundesregierung knapp bei Kasse. Komisch, für das Betreuungsgeld sind Milliardenbeträge da; ({6}) die Finanzierung stellt offensichtlich überhaupt kein Problem dar. Für Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss würden kleinere Millionenbeträge reichen; aber die sind angeblich nicht zu finden. ({7}) Die Forderung zum Unterhaltsvorschuss steht übrigens im selben Koalitionsvertrag, zu dem die FDP immer so gerne öffentlich Vertragstreue schwört. Auch hier nenne ich nur das Stichwort „Betreuungsgeld“. Ein Schelm, wer hier familienpolitisches Kalkül vermutet! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, ich bleibe dabei: Hören Sie auf mit der Benachteiligung Alleinerziehender! Tun Sie endlich das, was Sie den Alleinerziehenden versprochen haben! Versprechen Sie vor allem nichts, was Sie gar nicht halten wollen! Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, es lohnt nicht, diese Debatte mit großen Auseinandersetzungen zu führen. Es ist wahr, dass der Unterhaltsvorschuss von den Behörden aufgrund des Antrages der alleingelassenen Mutter gezahlt wird. Die alleinerziehenden Mütter wurden von den Vätern der Kinder alleingelassen. Das führt dazu, dass zunächst einmal der Staat einspringt. Der Staat springt ein, um den alleingelassenen Müttern zu helfen; zu einem späteren Zeitpunkt hilft er ihnen auch, zu den Unterhaltszahlungen des Vaters zu kommen. Es ist also eine vorübergehende Leistung, die der Staat erbringt, und so war es von vornherein gedacht. Der Unterhaltsvorschuss ist 1979 eingeführt worden. Zunächst war die Unterstützung nur für Kinder bis zum 6. Lebensjahr vorgesehen. Nach der Wiedervereinigung hat man das Alter auf zwölf Jahre heraufgesetzt und es dabei auch belassen. Die Höchstbezugsdauer beträgt nach wie vor 72 Monate, also - Sie können das durchrechnen - sechs Jahre und nicht zwölf Jahre. Der Entwurf eines Unterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetzes - ein Zungenbrecher - ist in der letzten Sitzungswoche ins Plenum eingebracht worden. Eine Debatte fand nicht statt; alle Reden wurden zu Protokoll gegeben. Wir müssen die Debatte jetzt nicht nachholen. Wir werden in den parlamentarischen Beratungen und auch im Ausschuss noch Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren, ob das eine oder andere nicht noch zu korrigieren ist. Es wurde bereits angesprochen, dass man hier und dort noch eine Korrektur anbringen könnte. Wenn das Geld, das der Vater für den Sportverein oder die Kita zahlt, auf die Unterhaltszahlung angerechnet wird, die die Mutter zu erwarten hat, dann ist das unter Umständen schwierig, da sie nicht über den gesamten Betrag verfügen kann. Im Zuge der Ausschussberatungen kann überlegt werden, ob die im Entwurf vorgesehene Regelung so bleiben soll. Um was geht es heute? Es geht um den Unterhaltsvorschuss selbst. Es geht nicht um die Entbürokratisierung, obgleich man in diesem Zusammenhang auch darüber diskutieren könnte. Es ist in der Tat so: Das Gesetz ist ein Monster geworden. Bis die alleinerziehende Mutter die ihr zustehende Unterhaltszahlung erhält, muss sie viele Hürden überwinden. Auch für die Verwaltung selbst ist die Abwicklung umständlich. Deswegen ist der Teil der Koalitionsvereinbarung, der eine Entbürokratisierung vorsieht, in den Gesetzentwurf eingeflossen. Der zweite Teil - das gebe ich gerne zu -, nämlich die Altersgrenze von 12 auf 14 Jahre anzuheben, ist nicht aufgenommen worden. Es bleibt bei 12 Jahren, obwohl das in der Koalitionsvereinbarung anders vorgesehen war. Damit müssen wir uns auseinandersetzen; das ist richtig. Es gibt sicherlich einen Grund dafür, die Altersgrenze von 12 auf 14 Jahre anzuheben; das steht ja auch in der Koalitionsvereinbarung. Die Höchstbezugsdauer von 72 Monaten wurde jedoch nicht angetastet. Eine Änderung der Höchstbezugsdauer war in der Koalitionsvereinbarung nicht vorgesehen. Man könnte das vielleicht hineininterpretieren, aber klar ist: Expressis verbis ist dies nicht enthalten. Es gibt ja zwei Säulen: zum einen die Höchstbezugsdauer von 72 Monaten, zum anderen das Höchstalter von 12 Jahren. Hinter der Überlegung, das Höchstalter auf 14 Jahre anzuheben, stand der Gedanke, dass eine Frau auch nach dem 12. Geburtstag ihres Kindes in die Situation geraten kann, dass der Vater weggeht und keinen Unterhalt leistet. Deshalb wollte man die Altersgrenze für den Erhalt von Unterhaltsvorschussleistungen auf 14 Jahre anheben. Dagegen spricht der Grundgedanke der Unterhaltsvorschussleistung; denn der Grundgedanke ist eben nicht, den Unterhaltsanspruch damit zum Erlöschen zu bringen und die Unterhaltsleistung des Vaters zu ersetzen. Der Grundgedanke ist, der betroffenen alleinerziehenden Mutter durch eine Vorschusszahlung zu helfen, über eine schwierige Phase hinwegzukommen. Der Staat hat sich aber immer schon den Regressanspruch gegenüber dem Vater vorbehalten, und er will und soll ihn auch durchsetzen. Dass er etwas schneller und leichter durchgesetzt werden kann, ist im Übrigen im vorgelegten Gesetzentwurf vorgesehen. Es geht jetzt darum, nicht den Fehler zu begehen, zu glauben, die Unterhaltsvorschussleistung sei eine dauerhafte zusätzliche Familienleistung. So ist es nie gedacht gewesen. Die Vorschussleistung soll eine Vorschussleistung bleiben. Es ist deswegen vernünftig, die Altersgrenze bei 12 Jahren zu belassen; sonst gewöhnt man sich an die Vorschussleistung, und keiner denkt mehr daran, dem Vater wegen des Unterhalts nachzurennen. Unterhalt zu erstreiten, ist kein einfaches Geschäft. Elisabeth Winkelmeier-Becker hat vorhin vorgetragen, was da alles passiert. Zunächst einmal muss ein Titel errungen werden, und man muss herausbekommen, wo der Vater wohnt. Dann muss ihm die Klage zugestellt werden, und der Titel muss durchgefochten werden. Dann muss der Gerichtsvollzieher beauftragt werden, den Titel umzusetzen und das Geld herauszuholen. Das ist schwierig; aber das muss geschehen, weil wir nicht den Fehler machen dürfen, anzunehmen, dass die Vorschussleistung ein Ersatz für die Zahlungsverpflichtung des Vaters ist. Der Vater muss seine Leistung erbringen. Er kann nicht auf den Steuerzahler hoffen und sagen: Die Frau soll sich an den Staat wenden und nicht an mich. Das wäre der falsche Weg; das wollen wir nicht. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11326 mit dem Titel „Altersgrenze beim Unterhaltsvorschuss anheben“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Lin- ken bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a und 43 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2012 - Drucksache 17/10803 25054 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bund-Länder-Bericht zum Programm Stadtumbau Ost - Drucksache 17/10942 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Zu dem Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner das Wort. ({2})

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundeskabinett hat am 26. September den jährlichen Bericht zum Stand der deutschen Einheit beschlossen und dem Parlament zugeleitet. Im 22. Jahr der deutschen Einheit trifft man bei der Berichterstattung zum Stand der deutschen Einheit auf eine große Zahl von Aufgabenfeldern, die im Sinne der Berichterstattung als weitgehend erledigt betrachtet werden können. Das heißt, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist erreicht oder weitgehend erreicht. Beispielhaft nenne ich die Situation des Umwelt- und Naturschutzes. Wenn wir die Ausgangslage vor 22 Jahren betrachten, dann können wir heute eine praktische Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse konstatieren. Ich denke, dass auch Bereiche wie das Gesundheitswesen oder die Gesundheitsvorsorge weitgehende Angleichungen aufweisen. Ich verweise auf die Darstellungen im Bericht, die die beachtlichen Entwicklungen der Lebenserwartungen in Ost und West, die vor 22 Jahren noch weit auseinander lagen, sich aber weitgehend angeglichen haben, charakterisieren. Wir haben also erstens festzustellen, dass wir auf eine Vielzahl von Erfolgen verweisen können. Wir sollten das auch mit großer Dankbarkeit tun. ({0}) Zweitens beginnt sich 22 Jahre nach der deutschen Einheit das Bild innerhalb Ostdeutschlands und insgesamt innerhalb Deutschlands immer stärker zu differenzieren - auch der Westen war nie einheitlich -, sodass pauschale Ost-West-Vergleiche zunehmend an Aussagekraft verlieren. Als Beispiel darf ich die Arbeitsmarktsituation nennen. Natürlich haben wir pauschal noch festzustellen, dass die Arbeitslosenquote im Westen die Hälfte der Arbeitslosenquote im Osten ausmacht. Sehen wir aber genauer hin, so können wir feststellen, dass die aktuelle Arbeitslosenquote in den ostdeutschen Flächenländern niedriger ist als in Bremen und dass die Arbeitslosenquote im Freistaat Thüringen inzwischen niedriger ist als in Nordrhein-Westfalen. Das halte ich für sehr bemerkenswert. ({1}) Auch hier zeigt sich, dass sich das Bild allmählich zu differenzieren beginnt, sodass ich ein gewisses Verständnis dafür habe, dass mich neulich, als ich in einer Diskussionsrunde mit Jugendlichen der Vereinigung 3te Generation Ostdeutschland saß, einer der Jugendlichen fragte, ob wir nicht allmählich dazu übergehen müssten, statt des Berichtes zum Stand der deutschen Einheit einen Bericht zum Stand der deutschen Vielfalt abzugeben. Wir haben uns vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen bei der Berichterstattung 2012 darauf konzentriert, die bestehenden Entwicklungsprobleme darzustellen, die für die Zukunft der neuen Bundesländer und damit für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland von besonderer Bedeutung sind. Dabei sind uns zwei Entwicklungsprobleme besonders wichtig. Das eine Entwicklungsproblem ist die noch bestehende Lücke bei der Wirtschaftskraft zwischen Ost und West, also die Konvergenzfrage hinsichtlich der Wirtschaftskraft. Das zweite Entwicklungsproblem ist die demografische Entwicklung. Ich darf zunächst auf die Konvergenzfrage eingehen, indem ich feststelle, dass die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft in eine Marktwirtschaft erfolgreich abgeschlossen ist. Mehr noch: Die Unternehmen in Ostdeutschland sind wettbewerbsfähige Unternehmen, auch wenn der Kapitalstock ostdeutscher Unternehmen im Durchschnitt nur 85 Prozent der westdeutschen Unternehmen beträgt. Was uns beschäftigt, ist der Umstand, dass das Bruttoinlandsprodukt Ostdeutschlands pro Kopf bei 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der westlichen Bundesländer liegt. Besonders wichtig ist, dass die Konvergenzlücke zwischen Ost und West in diesem Bereich nach einer Phase der rapiden Angleichung in den 90erJahren in den letzten Jahren annähernd gleich groß geblieben ist. Das sollte uns nicht gleichgültig sein; denn dies findet seinen Niederschlag in der Einkommensentwicklung und natürlich auch in der Steuerkraft der öffentlichen Hand in den neuen Bundesländern. Die Bundesregierung - das kommt im Bericht eindeutig zum Ausdruck - hält am Ziel der weiteren Angleichung, der weiteren wirtschaftlichen Konvergenz fest. Deshalb ist es wichtig, dass wir ein eindeutiges Bekenntnis zu den Förderinstrumenten des Solidarpakts II aussprechen, die in vollem Umfang und effektiv zur Anwendung kommen sollen. Wichtig ist, dass wir im Bericht feststellen können, dass der gegenwärtige Erfüllungsstand des Solidarpakts II, was die Leistungen des Bundes betrifft, als sehr gut betrachtet werden kann und die Verwendungsberichte für die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen der neuen Länder zeigen, dass man sich diesbezüglich zunehmend den eigentlichen Förderzielen zuwendet. Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konvergenz spielt der nächste Förderzeitrahmen für die EUStrukturförderung eine besondere Rolle. Wir betrachten es als Erfolg der Arbeit der Bundesregierung, dass in dem aktuellen Verordnungsentwurf der Kommission das von uns gewünschte Sicherheitsnetz einen entsprechenden Niederschlag gefunden hat. Wenn wir über die Konvergenz zwischen Ost und West sprechen, müssen wir uns aber auch der Analyse der Ursachen der verbleibenden Konvergenzlücke stellen und Strategien zur Überwindung liefern. Die Ursachen - das zeigt sich immer stärker - liegen im strukturellen Bereich. Eine kleinteilige Wirtschaftsstruktur führt zu weniger internationaler Verflechtung und zu weniger wirtschaftseigener Forschung und Entwicklung. Die Überwindung dieser strukturellen Probleme steht deshalb im Mittelpunkt der Förderpolitik der Bundesregierung. Wir müssen die Nachteile der Kleinteiligkeit durch Vernetzung und Clusterbildungen überwinden. Wir müssen uns vor allen Dingen bewusst bleiben, dass öffentliche Forschungs- und Entwicklungsförderung für die neuen Bundesländer eine besondere Bedeutung hat. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die diesbezüglichen Ausführungen im Bericht, die deutlich machen, dass bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt die staatlich finanzierte Forschungs- und Entwicklungskapazität in den ostdeutschen Regionen größer ist als in allen anderen europäischen Ländern. Ich finde, dass wir in dieser Hinsicht - das zeigen die jüngsten Haushaltsentscheidungen - klare Zeichen setzen. Mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit will ich das zweite Entwicklungsproblem, die demografische Entwicklung, nur kurz anreißen. Die neuen Bundesländer stellen in der Europäischen Union die vom demografischen Wandel am stärksten betroffene Region dar. Dies hat eine von uns in Auftrag gegebene ZEW-Studie zum Ausdruck gebracht. Das heißt, die Region Ostdeutschland ist ein Modell des demografischen Wandels, nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Europäische Union. Diesen Modellregionscharakter Ostdeutschlands zu unterstreichen und zu gestalten, darauf haben sich die Anstrengungen der Bundesregierung konzentriert, sowohl im Rahmen der Erarbeitung des Berichtes zum demografischen Wandel, in dem wir zusammen mit den neuen Bundesländern ein eigenes Handlungskonzept zur Daseinsvorsorge in strukturschwachen Regionen entwickelt haben, wie auch bei der Erarbeitung der Demografiestrategie und der Demografiedialoge, in denen wir die neuen Bundesländer als wichtige Erfahrungsträger in besonderer Weise platzieren sollten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, sechs Minuten Redezeit für einen Bericht, wie wir, die Bundesregierung, ihn vorgelegt haben, ist für eine umfassende Berichterstattung sehr knapp. Ich hätte gern noch etwas zu dem aktuellen Thema Rente gesagt. ({2}) - Ja, gut. Dann will ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich kneife. - Ich will nur sagen: Der Bundesregierung ist es wichtig, dass sie bei der Realisierung der Koalitionsvereinbarungen auf einem breiten Konsens aufbaut. ({3}) Wenn sich dieser Konsens nicht finden lässt, dann muss ich darauf aufmerksam machen, dass das bestehende Rentenrecht einen unschätzbaren Vorteil für Millionen von Beschäftigten in den neuen Bundesländern hat, die teilungsbedingt niedrigere Löhne als die Beschäftigten in den alten Bundesländern erhalten. Wenn wir nicht wollen, dass sich die teilungsbedingt niedrigeren Löhne in 10, 20 oder 30 Jahren auf die jetzt Beitragszahlenden mit einem Verlust an Entgeltpunkten auswirken, dann sollten wir die Vorzüge des bestehenden Systems nicht leichtfertig aufgeben. In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Es tut mir leid, dass ich nicht ausführlicher Stellung nehmen kann. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie haben nicht sechs Minuten, sondern zehn Minuten gesprochen. Es ist nun die Aufgabe des Kollegen Grund, mit den Kollegen Ihrer Fraktion deren weitere Redezeiten auszuhandeln. ({0}) Das Wort hat nun Iris Gleicke für die SPD-Fraktion. ({1})

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, auf den Tag genau 23 Jahre nach dem Mauerfall, debattieren wir den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit. Ja, es besteht kein Zweifel: Die Ostdeutschen haben dank ihres Willens, aber auch aufgrund der Solidarität und finanziellen Unterstützung der Westdeutschen eine bemerkenswerte Aufbauleistung vollbracht. ({0}) Viele Städte sind modernisiert. Dörfer erstrahlen in neuem Glanz. Der Aufbau der Verkehrsinfrastruktur ist gut vorangekommen. Neue Arbeitsplätze sind entstanden. Aber die unzweifelhaften Erfolge dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass es noch immer große Defizite bei der Angleichung der Lebensverhältnisse gibt. Es bleibt 22 Jahre nach der deutschen Einheit noch viel zu tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Abstand zwischen den neuen und alten Ländern bei der Vermögensverteilung liegt bei 42 Prozent, besagt der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Westdeutsche haben durchschnittlich 132 000 Euro Immobilienvermögen pro Haushalt, ostdeutsche Haushalte gerade einmal 55 000 Euro. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner lag in Ostdeutschland im vergangenen Jahr nur noch bei 71 Prozent des Westniveaus. Da waren wir, Herr Kollege Bergner, schon einmal besser. Die Arbeitslosenquote ist zwar gesunken, liegt aber fast immer noch doppelt so hoch wie in den meisten Regionen der alten Bundesländer. Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist wie in Beton gegossen; er ist nach wie vor erschreckend hoch. Ostdeutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bekommen immer noch 17 Prozent weniger Lohn und Gehalt als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Diese Unterschiede bei den Löhnen und Gehältern sind nicht mehr hinnehmbar. ({1}) Die Arbeit bei uns im Osten ist genauso viel wert wie im Westen. Auch aus diesem Grunde brauchen wir einen Mindestlohn - flächendeckend, in Ost und West gleich, und zwar ohne Wenn und Aber. ({2}) Meine Damen und Herren, sogar die Bundesregierung räumt in ihrem Bericht ein, dass wir von einer wirklichen Angleichung der Lebensverhältnisse noch immer weit entfernt sind. Vor so viel ungewohnter Ehrlichkeit möchte man fast den Hut ziehen. ({3}) Wer jetzt allerdings erwartet, dass es kreative Vorschläge dieser Bundesregierung gibt, wie es mit dem Aufbau Ost weitergehen soll, der ist auf dem Holzweg. Der stößt auf Seite 69 des Berichts stattdessen auf eine knallharte Ansage. Dort heißt es: Perspektivisch gehen die Mittel für den Aufbau Ost, bis zum Auslaufen des Solidarpakts II im Jahr 2019, stetig zurück. Das wissen wir; das ist so vereinbart. Jetzt kommt es: Die neuen Länder werden von da an ohne spezielle Förderung auskommen müssen. Im Klartext heißt das: Liebe Ossis, den Solidarpakt halten wir ein - den hat Gerhard Schröder glücklicherweise so gut verhandelt, dass das gar nicht anders geht -, aber danach müsst ihr zusehen, wie ihr klarkommt. Damit haben wir Ostdeutschen es schwarz auf weiß: Von dieser Bundesregierung haben wir nichts, aber auch gar nichts zu erwarten. ({4}) Niemand im Osten glaubt, dass der Solidarpakt nach 2019 einfach verlängert oder in gleicher Form noch einmal aufgelegt wird; das ist auch mir klar. Aber man kann und darf eine besondere Förderung nicht schon heute kategorisch ausschließen. Ich habe vor kurzem angeregt, über einen „Solidarpakt strukturschwache Regionen“ nachzudenken, der auch die benachteiligten Regionen in Westdeutschland einschließen könnte. Aber so viel Fantasie kann man von einer Bundesregierung, der die ostdeutschen Interessen ganz offensichtlich egal sind, wohl kaum erwarten. ({5}) Anders kann ich mir nicht erklären, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum Sie Ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentenrecht zu schaffen, ganz offensichtlich brechen. ({6}) Die Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, CDU, bezeichnete das vor kurzem als einen „Fall von Arbeitsverweigerung, ({7}) für den nun windelweiche Ausreden vorgebracht“ werden. Herr Bergner, das, was Sie hier zum Besten gegeben haben, folgt genau diesem Duktus. Ich sage: Christine Lieberknecht hat recht. ({8}) Wir haben in unserem Entschließungsantrag 25 Forderungen formuliert, die Ostdeutschland helfen sollen, dem Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisse neuen Schwung zu geben. Wir wollen den Kahlschlag bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik beenden, damit die Jobcenter wieder mehr Geld haben, um Langzeitarbeitslose in Arbeit zu bringen. Wir wollen, dass die wichtigsten Wirtschaftsförderungsinstrumente, vor allem die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, langfristig gesichert bleiben. ({9}) Wir wollen die Mittel für die Innovationsprogramme ZIM und „Innovationskompetenz Ost“ verstetigen. ({10}) Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir wollen in einem Rentenüberleitungsabschlussgesetz die noch offenen Rentenüberleitungsfragen abschließend klären; ({11}) den Härtefällen wollen wir mit einem Härtefallfonds helfen. ({12}) Wir wollen, dass die Versicherungszeiten für die Rentenversicherung sofort angeglichen werden und dass Zeiten der Kindererziehung, der Pflege von Angehörigen, des Wehr- und Zivildienstes und der Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte angerechnet werden. Außerdem wollen wir einen Fahrplan für die Angleichung der Rentensysteme. ({13}) Meine Damen und Herren, wir kommen nur vereint zur inneren Einheit, mit Klarheit, Entschlossenheit und Solidarität. Wir packen an. Kommen Sie endlich aus Ihrer Untätigkeitsecke heraus! Schönen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Gleicke, Ihre Worte zum Solidarpakt waren gut und erfrischend. Sie haben diese starken Worte auch in Ihren Antrag gegossen. Jetzt fordere ich Sie auf: Schicken Sie diesen Antrag bitte Ihren zahlreichen SPD-Wahlkämpfern im Westen! ({0}) Ob nur eine kleine Bürgermeisterwahl oder eine Landtagswahl stattfindet, man hört jedes Mal die gleiche Leier: Der Solidarpakt wird noch vor seinem Auslaufen im Jahr 2019 infrage gestellt. Ich finde es gut und richtig, dass die Bundestagsfraktion der SPD ihren Wahlkämpfern vor Ort jetzt endlich einmal die Leviten liest und sagt: So geht es nicht! - Das ist richtig, Frau Gleicke. Sehr gut! ({1}) Im Übrigen hätten Sie auch noch den nächsten Satz aus dem Jahresbericht zitieren können; denn da kommt die Antwort auf die Frage, die Sie gestellt haben. Ich möchte mich erst einmal bedanken. Wir hatten in den Koalitionsfraktionen vor ein paar Wochen die Idee, in der Sitzung am 9. November, dem Tag des Mauerfalls, über den Jahresbericht zu debattieren. Herzlichen Dank an die Parlamentarischen Geschäftsführer und an den Ältestenrat, dass das innerhalb kürzester Zeit gelungen ist. Ich finde es hervorragend, dass wir an diesem Tag über den Bericht sprechen. ({2}) 23 Jahre sind viel Zeit, um Weichenstellungen vorzunehmen. Niemand kann bestreiten - das will ich deutlich sagen -, dass wir die Zeit genutzt haben. Die Deutschen, besonders die Menschen im Osten, haben seit der Wende mit ungeheurer Tatkraft und Courage das vereinigte Deutschland vorangebracht. Im Osten entwickelten sich ganz neue Stärken - das will ich hervorheben -: ungeheure Flexibilität und großer Einfallsreichtum. Die Menschen haben sich in kürzester Zeit einem völlig neuen System angepasst, neue Berufe erlernt, neue Sprachen gelernt, Umzüge und Lebensumstellungen unternommen. Der Wandel führte viele Menschen in Ostdeutschland zu einer Tugend, die man sich heute gesamtdeutsch manchmal wünscht, und zu einer vorwärtsgewandten und verantwortungsbewussten Lebenseinstellung. Diese Bereitschaft zur Veränderung kann sich die heutige Gesellschaft bisweilen zum Vorbild nehmen. Mit Besitzstandswahrung, mit ideologischer Fortschrittsverweigerung, mit Wohlstandsdestruktivität - dies ist zunehmend zu beobachten - kommen wir nicht voran. ({3}) - Gut, dass gerade Sie sich angesprochen fühlen; denn ich spreche Sie an. - Manche Parteien forcieren dies. Wir machen das nicht. Wir brauchen den Fortschritt in diesem Land und auch die Flexibilität, die die Ostdeutschen seit über 20 Jahren zeigen. ({4}) Die Erfolge der letzten 23 Jahre sind bekannt. Die Infrastruktur wurde aufgebaut und ausgebaut. Bei der Wirtschaftskraft hat man aufgeholt. Die Umwelt - das war eines der ganz großen Probleme in den neuen Ländern - regenerierte sich. Lebenserwartung und Wohlstand sind gestiegen. Die ostdeutschen Universitäten haben - das wissen nur wenige - einen führenden Stand in Deutschland bei der Patentanmeldung. ({5}) Bei der Kitastruktur und oftmals auch bei der Schulbildung ist der Osten deutschlandweit führend und vorbildgebend. Im Osten gibt es übrigens echte Wahlfreiheit. Das ist das Entscheidende. ({6}) Die Arbeitslosigkeit - sie war lange das größte Problem und Sorgenkind - ist stark zurückgegangen. Sie haben es erwähnt. Thüringen hat Nordrhein-Westfalen im positiven Sinne mittlerweile überholt und eine niedrigere Arbeitslosenquote. Patrick Kurth ({7}) ({8}) Wir fordern die Nordrhein-Westfalen auf, auch wenn sie von Rot-Grün regiert werden: Schaut nach Thüringen, und macht es so wie wir in Ostdeutschland! Strengt euch wieder an, dann klappt auch der Abbau der Arbeitslosigkeit. ({9}) Die Herausforderungen sind groß. Auch das will ich sagen; das ist wichtig. Das Thema Wirtschaftskraft haben Sie bereits angesprochen, Frau Gleicke. Es ist unbestritten: Die großen Unternehmen mit ihren innovativen Forschungsabteilungen sitzen im Westen. ({10}) Die unterdurchschnittliche F-und-E-Kapazität ist ein großes Problem. Die geringe Eigenkapitalquote konnte in den letzten 20 Jahren nicht so angehoben werden, wie wir es uns wünschen. Das muss man deutlich sagen. Die Lohnentwicklung ist nicht akzeptabel. Es gibt immer noch ein erheblich niedrigeres Lohnniveau. Das muss man auch im Westen immer wieder deutlich sagen. Insofern ist die Abschaffung der Praxisgebühr heute ein wichtiges Signal gewesen. ({11}) Deutschlandweit gibt es sehr unterschiedliche Lohnniveaus, aber überall die gleiche Praxisgebühr. Sie musste abgeschafft werden; das haben wir hier heute in großer Einigkeit beschlossen. ({12}) Hinsichtlich der Forderung nach Mindestlöhnen widerspreche ich Ihnen, Frau Gleicke. Ich glaube nicht, dass diese helfen würden. Die Einführung von Mindestlöhnen würde zu höherer Arbeitslosigkeit führen ({13}) und den Niedriglohnsektor befördern. ({14}) Es würde mehr Schwarzarbeit geben. Das eigentliche Problem besteht doch bei Geringverdienern im Dienstleistungsgewerbe. ({15}) Lieber Kollege Lemme, Sie erzählten mir vor drei Jahren bei einer Podiumsdiskussion, dass es unglaublich sei, dass Sie in Thüringen für das Haareschneiden nur 6 Euro zahlen. Da habe ich Sie gefragt: „Bei welchem Friseur sind Sie denn? Sie können doch nicht nur 6 Euro zahlen, Sie müssen doch etwas drauflegen!“ ({16}) Das ist doch das Problem. Wenn man das Doppelte drauflegt, hat die Friseurin gleich noch etwas steuerfrei in der Tasche. Die Bundesregierung der vorvergangenen Legislaturperiode wollte sogar die Trinkgelder besteuern. Gott sei Dank macht die jetzige Bundesregierung nicht einen solchen Unsinn. ({17}) Das Entscheidende, das den Ostdeutschen wirklich helfen würde - darüber müssen Sie nachdenken -, ist etwas, bei dem wir im gesamten Haus große Einigkeit haben. Im Wahlkampf haben wir alle, Sie und wir, gesagt: Das müssen wir bekämpfen. Es geht um die kalte Progression. Bei den Löhnen, die im Osten gezahlt werden, schlägt die kalte Progression besonders zu. ({18}) Deswegen ist es richtig und gut, dass sich die Koalition dazu entschlossen hat, die kalte Progression zu bekämpfen. Sie haben Ihre Wahlversprechen gebrochen. Diese Bundesregierung hält ihre Versprechen. Der Bundesrat steht auf der Bremse, er will dieses Vorhaben - aus parteipolitischem Kalkül - nicht mittragen. Das geht zulasten der ostdeutschen Bevölkerung. Das müssen Sie den Menschen, vor allem den Menschen im Osten, erklären! ({19}) Zur demografischen Entwicklung will ich nur ganz kurz sagen: Es ist gut, dass sich die Bundeskanzlerin endlich mit den Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder trifft und Handlungskonzepte und eine Demografiestrategie entwickelt. ({20}) Mit dem Programm „Stadtumbau Ost“ fördern wir die Stabilisierung der Wohnungswirtschaft. 2013 stellen wir nochmals 2 Millionen Euro mehr in das Programm ein. Jetzt kommt wahrscheinlich Applaus von Ihrer Seite. Herr Bergner, zwei Kritikpunkte will ich am Ende noch ansprechen. Von den Tribünen aus schaut uns eine Schulklasse aus Bad Langensalza zu. ({21}) Die jungen Leute kennen Stacheldraht und Todesstreifen Gott sei Dank nur aus den Geschichtsbüchern. Das ist die nächste Generation. Da ist keiner mehr von denen, die das Grenzregime noch erlebt haben. Um diese jungen Leute zu erreichen, müssen wir ihnen, zum Beispiel mit neuen Techniken, etwas bieten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen leider zum Ende kommen. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dazu gehört, dass diese Aufarbeitung im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit nicht auf Seite 70 in Fußnote 50 erscheint. Es wäre schön, wenn dafür im nächsten Jahresbericht der Bundesregierung ein eigenes Kapitel vorgesehen wäre. ({0}) Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Roland Claus für die Fraktion Die Linke. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts des Jahresberichts der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit ist hier zu Recht an den Mauerfall erinnert worden. Das heutige Datum, der 9. November, ist aber auch der Jahrestag des Pogroms gegen Jüdinnen und Juden. Beides gehört zur deutschen Geschichte. ({0}) Ich sage das hier erinnernd und nicht belehrend. ({1}) Müssen wir, meine Damen und Herren, noch über Ost und West reden, oder ist das Schnee von gestern? Einige wenige Fakten: Aus dem Jahresbericht der Bundesregierung geht hervor, dass im Kaufkraftvergleich der Bundesländer Platz 11 Berlin, Platz 12 Brandenburg, Platz 13 Thüringen, Platz 14 Sachsen, Platz 15 MecklenburgVorpommern, Platz 16 Sachsen-Anhalt einnimmt. Ein zweites Beispiel: Im Entwicklungsvergleich aller deutschen Landkreise sind unter den 50 Letztplatzierten 49 ostdeutsche Landkreise. Drittes Beispiel: Nicht eine einzige Unternehmenszentrale hat ihren Sitz im Osten, ({2}) und seit geraumer Zeit schließt sich die Schere der wirtschaftlichen Leistungskraft nicht mehr, sondern geht weiter auseinander. ({3}) In dieser Situation muss man daran erinnern, dass die Bundesministerin für Bildung und Forschung vor kurzem vollmundig angekündigt hat, für Forschung im Osten zusätzliche 500 Millionen Euro in den Haushalt einzustellen. Wenn man sich die einzelnen Kapitel des Haushaltsentwurfs genau anschaut, stellt man fest: Das ist alles nur die Fortführung bestehender Programme unter neuer Überschrift. So nicht, Frau Schavan! So nicht, Bundesregierung! ({4}) Wir müssen heute über Rentenungerechtigkeit reden. Im Koalitionsvertrag heißt es: Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West ein. ({5}) Im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, über den wir heute debattieren, heißt es: Die Frage einer Vereinheitlichung der Rentenberechnung in Ost und West wird … von der Bundesregierung geprüft … Eine Regelung, die den … Erwartungen … in Ost und West … gerecht wird …, ist derzeit … nicht absehbar. Das nenne ich Vertragsbruch. Das ist Wahlbetrug mit Ansage, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({6}) Sie müssen sich einmal überlegen, was für ein Nonsens das ist: Da treten ganz viele junge Leute im August 2012 ihre Berufsausbildung an. Damit werden sie Anwärter für eine Ostrente. 2060, wenn sie aus ihrem Berufsleben scheiden, müssen sie ihren Enkeln vielleicht erklären, warum sie Ostrentner sind und was das ist. Das ist doch nun wirklich nicht mehr zeitgemäß. ({7}) Aber die Bundesregierung muss sich noch eine andere Kritik anhören. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber bitte.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Claus, vielen Dank erst einmal. - Ist Ihnen bekannt, dass die niedrigeren Arbeitseinkommen Ost auf das Durchschnittseinkommen West aufgewertet werden und dass somit im Jahre 2060 bei Einkommensgleichheit überhaupt nicht mehr von Ostrente oder Westrente, sondern nur noch von einer bundeseinheitlichen deutschen Rente die Rede sein kann? ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mir ist das sehr wohl bekannt. Sie wissen aber: Wir sind nicht Knecht der Rentenformel, sondern Herr des Gesetzgebungsverfahrens - und Frau übrigens auch. ({0}) Solange wir nur 89 Prozent des durchschnittlichen Rentenniveaus erreichen, muss das Thema hier angesprochen werden und darf es nicht unter den Tisch gekehrt werden. ({1}) Es ist doch nun wirklich absurd, heute 16-Jährigen diese Unterscheidung noch zuzumuten. ({2}) Die Bundesregierung muss sich noch eine andere Kritik gefallen lassen, nämlich dass die im Osten gesammelten Erfahrungen im Umgang mit gesellschaftlichen Umbrüchen und zuvor mit einem anderen System völlig brachliegen und nicht etwa, wie wir es uns wünschten, bundesweit genutzt werden. Dafür nur ein einziges Beispiel: Sie haben jetzt den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 1. August 2013 versprochen. Weil Sie merkten, dass das alles hinten und vorne nicht klappt, haben Sie jetzt in Ihrer Not die gigantische Summe von 580 Millionen Euro für Kitaplätze in den Nachtragshaushalt eingestellt. Das ist unterstützt worden. Mit diesen 580 Millionen Euro können Sie 30 000 Kitaplätze finanzieren. ({3}) Das Statische Bundesamt hat uns dieser Tage aber vorgerechnet, dass 220 000 Kitaplätze fehlen. Mit der momentanen Maßnahme lösen Sie also nur ein Siebtel des Problems. Hier wäre es doch angebracht, endlich auch einmal die Vorschläge unserer Fraktion aufzunehmen und zu sagen: Kinderbetreuung im Westen mindestens auf Ostniveau bringen! ({4}) Meine Fraktion wird dem Entschließungsantrag der SPD zustimmen. ({5}) Ich glaube, das ist erstmals so. Wir haben bei der Bewertung eine Reihe von Differenzen, aber alle 25 vorgeschlagenen Maßnahmen finden auch unsere Unterstützung. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie wissen aber wie wir: Wenn Sie das Vorgeschlagene wirklich umsetzen wollen, dann geht das nie und nimmer mit der CDU, ({7}) sondern nur mit der Linken in den Ländern und meinethalben auch im Bund. ({8}) Die SPD darf für die gemeinsame Durchsetzung ihrer eigenen Vorschläge dann auch die Zusammenarbeit in Landesregierungen nicht ausschlagen, wie Sie es in Thüringen und in Sachsen-Anhalt getan haben. Begeben Sie sich auf den Brandenburger Weg! ({9}) Von der Linken sollten Sie immer wissen: Wir können Osten! ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Erst durch den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit wird man daran erinnert, dass Innenminister Hans-Peter Friedrich für die Angelegenheiten in den neuen Bundesländern zuständig ist. Würde nicht jedes Jahr routinemäßig ein Bericht vorgelegt, niemand würde Herrn Friedrich in dieser Funktion wahrnehmen. Er glänzt auch heute durch Abwesenheit. ({0}) Zwar werden im Bericht die richtigen Schwerpunkte gesetzt, nämlich wirtschaftliche Konvergenz und demografischer Wandel, aber das bloße Beschreiben des Status quo hilft überhaupt nicht weiter. Vom zuständigen Minister gehen keinerlei Ideen und Impulse für die neuen Bundesländer aus, und das, obwohl die neuen Bundesländer drohen den wirtschaftlichen Anschluss zu verlieren. ({1}) Die ostdeutsche Wirtschaft ist 2011 gewachsen. Preisbereinigt lag das Wachstum mit 2,5 Prozent aber unter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 3 Prozent. Probleme werden in diesem Bericht weichgespült. Es wurde zwar schon darauf hingewiesen, dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt positiv ist, richtig, aber nicht erwähnt wurde, dass es 1 Million nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt. Die Erhöhung der Verdienstgrenze bei den Minijobs auf 450 Euro wird den Niedriglohnsektor nur ausweiten und hilft überhaupt nicht, dieses Problem zu lösen, im Gegenteil. ({2}) Stattdessen ist es notwendig, endlich einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro einzuführen. Die Vielzahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse sorgt auch dafür, dass die Altersarmut wächst, worüber wir uns nicht wundern müssen. Norbert Blüm hat recht: „Aus Hungerlöhnen werden Hungerrenten.“ Da frage ich, was der Vorschlag zur „Lebensleistungsrente“ bringen soll, den die Koalition am Wochenende zusammengeschrieben hat. Wer von den Geringverdienern hat denn 40 Jahre lang einzahlen und privat vorsorgen können? Niemand. Meine Damen und Herren, eine selbsttragende Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland wird sich nur entwickeln können, wenn die Solidarpaktmittel für Investitionen konsequent und noch konsequenter als bisher in die Köpfe statt in Beton gelenkt werden. ({3}) Notwendig ist eine Konzentration der Mittel auf die Bereiche Forschung und Innovation. Die Chancen der Energiewende für den ostdeutschen Arbeitsmarkt, nämlich die Vorreiterschaft der ostdeutschen Länder bei Umwelttechnologien weiter auszubauen, werden von der Bundesregierung kläglich verspielt. ({4}) Unverändert fließt auch mehr Geld in Infrastrukturgroßprojekte, obwohl die Infrastrukturlücke schon längst nicht mehr Realität ist. Die noch geplanten Verkehrsprojekte, die keinerlei positive regionalwirtschaftliche Effekte mehr entfalten können, müssen endlich auf den Prüfstand. ({5}) Mit Rücksicht auf die SPD habe ich bewusst keine Beispiele genannt. ({6}) Der demografische Wandel macht sich durch zunehmenden Fachkräftemangel bemerkbar. Wir müssen uns darüber auch nicht wundern. Die Quote der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss in den neuen Bundesländern liegt doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern bei 13,8 Prozent, in Sachsen-Anhalt bei 12,6 Prozent, im Bund aber nur bei der Hälfte, nämlich bei 6,7 Prozent. Wir brauchen in den Ländern, aber auch im Bund endlich eine Bildungspolitik, die Schülerinnen und Schüler nicht aussortiert, sondern individuell fördert. ({7}) Wir können es uns einfach nicht leisten, dass so viele Schülerinnen und Schüler unsere Schulen ohne Chance auf dem späteren Arbeitsmarkt verlassen. Zunehmende demografische Veränderungen sind aber auch relevant für den Stadtumbauprozess. Wir reden ja heute auch über den Bund-Länder-Bericht zum Stadtumbau Ost. Die Erfolge des Programms „Stadtumbau Ost“ sind für alle sichtbar: die Sanierung von erhaltenswürdigen Stadtquartieren, die Revitalisierung von Großwohnsiedlungen. Den neuen Herausforderungen, die in dem Bericht zutreffend beschrieben wurden, dass sich nämlich angesichts eines wachsenden Leerstands der Rückbaubedarf erhöht, wird die Bundesregierung aber nicht gerecht. Sie hat ein Gutachten „Altschuldenhilfe und Stadtumbau“ in Auftrag gegeben. In diesem Gutachten wird ausdrücklich empfohlen, die Altschuldenentlastung über das Jahr 2013 fortzuführen. Das hat die Bundesregierung aber nicht vor. Ich sage Ihnen: Ohne Altschuldenhilfe ist die Beteiligung von vielen ostdeutschen Wohnungsunternehmen am Stadtumbauprozess gefährdet; denn es sind gerade die Unternehmen, die von der bisherigen Altschuldenhilfe nicht Gebrauch machen können, die überhaupt noch Rückbaupotenzial haben. Wir brauchen also eine Anschlussregelung für die Altschuldenhilfe, die im nächsten Jahr auslaufen wird, damit tatsächlich auch alle von Altschulden betroffenen Wohnungsunternehmen antragsberechtigt sind und sich im Stadtumbauprozess integrieren können. Wie das Instrument heißt - man muss es nicht „Altschuldenhilfe“ nennen -, ist dabei gleichgültig. Auf jeden Fall brauchen wir Investitionsanreize für die Sanierung und dafür, dass sich Unternehmen aktiv am Rückbau beteiligen können, und die fehlen perspektivisch. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Jetzt spricht der Kollege Volkmar Vogel. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Lieber Kollege Stephan Kühn, auch wenn du noch jung an Jahren bist, können wir uns alle am heutigen Tage über das Erreichte freuen, insbesondere angesichts der geschaffenen Infrastruktur und der Entwicklung unserer Städte und Dörfer, die sichtbar, greifbar, ja erfahrbar sind. Deswegen muss ich sagen: Es ist ein schöner Anlass, heute an diesem Tag auch über den Stand der deutschen Einheit zu sprechen. ({0}) Volkmar Vogel ({1}) Wir konstatieren: Die Riesenaufgabe der Verwirklichung der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, vor der wir standen, ist de facto bewältigt. Wir haben alle Strecken unter Betrieb bzw. im Bau. Das Ende ist abzusehen. Ich denke, man kann an dieser Stelle sagen: Das ist ein Erfolg der DEGES, der Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH, eine erfolgreiche Gesellschaft, die ja einen Zusammenschluss des Bundes mit den ostdeutschen Bundesländern darstellte. Das besonders Schöne dabei ist, dass auch Hessen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Bremen Gesellschafter sind. Ich denke, für die Zukunft gibt es noch Potenzial, dass auch die anderen Bundesländer mitmachen und an den weiteren Herausforderungen, vor denen wir stehen, mitwirken. Zum Thema Bauen muss ich sagen: Höchste Anerkennung für alle Bauarbeiter, die in den letzen 20 Jahren unsere Städte wieder in Schuss gebracht haben und auch in unseren Dörfern Hervorragendes geleistet haben! ({2}) Natürlich ist es in diesem Bereich so wie in allen anderen Bereichen: Der demografische Wandel spielt eine sehr große Rolle. Das Problem des demografischen Wandels lässt sich nicht einfach in Ost und West unterteilen, sondern der demografische Wandel ist regional bedingt. ({3}) Darauf müssen wir uns in Zukunft einstellen. Der Stadtumbau Ost war und ist ein Erfolgsprogramm. Schließlich wurde es maßgeblich von Thüringen und Sachsen auf den Weg gebracht. ({4}) Das muss man an dieser Stelle auch sagen. Wir haben dieses Programm 2009 evaluiert. Wir haben damals gemeinsam mit der SPD mit einem entsprechenden Antrag die Fortsetzung vereinbart. Dieses Programm läuft jetzt bis 2016. ({5}) In dem vorliegenden Zwischenbericht wird darauf hingewiesen, vor welchen Herausforderungen wir in der Zukunft stehen. Besonders wichtig ist: Die westdeutschen Bundesländer können sehr viel von den Erfahrungen, die unsere Wohnungsunternehmen und unsere Kommunen in Ostdeutschland gesammelt haben, lernen. ({6}) Die Herausforderungen bestehen nun nicht mehr nur im Abriss. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass der Wohnraum, der bestehen bleibt, attraktiv ist und dass auch ein entsprechendes soziales Umfeld vorhanden ist. Deswegen unterstütze ich die Forderungen und Vorschläge der ostdeutschen Ministerpräsidenten zur Fortsetzung dieses Programms. Wir werden uns den Zwischenbericht ansehen, genau auswerten und 2015 nach der Evaluierung überlegen, in welcher Art und Weise wir dieses Programm fortsetzen. Man kann heute schon sagen, ohne ein Prophet zu sein: Wir brauchen ein Programm für die Regionen. Wir brauchen keine Unterscheidung in Ost und West. Es gibt keine neuen Länder mehr. Jeder kommt aus seinem Bundesland. Wir werden zum richtigen Zeitpunkt entscheiden, wie wir in diesem Bereich weitermachen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Hacker für die SPD-Fraktion. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die heutige Debatte findet an einem historischen Tag statt. Daran denken wir alle, auch die SPD-Bundestagsfraktion. Wir denken natürlich besonders gern an den 9. November 1989 zurück. Heute wie damals freut sich die Sozialdemokratie darüber, dass die Mauer gefallen ist. Auf einen Schlag waren Honeckers 100 Jahre zu Ende. War das nicht schön? ({0}) In dieser Nacht des 9. November - auch das werden wir nicht vergessen - waren die Deutschen in Ost und West, besonders natürlich die Berlinerinnen und Berliner emotional vereint. ({1}) Der dann folgende Weg, der Weg zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 und der Weg danach, war ein steiniger Weg. Der Weg war schwieriger, als wir das Ende 1989 alle geglaubt haben. Wir sind hier weit vorangekommen. Über das gute Zusammenspiel der Aufbauleistungen der Menschen in den neuen Ländern und die Unterstützung aus den Kommunen, aus den Ländern im alten Bundesgebiet ist hier gesprochen worden; ich will das hier nicht weiter ausführen. Ich will aber daran erinnern, dass für all das vielleicht der gemeinsame Bundesverkehrswegeplan steht, Herr Kühn und Herr Vogel. Das war ein Signal. Das sollte uns Mut machen, ähnliche Grundsatzentscheidungen auch in Zukunft zu treffen. ({2}) Herr Bergner, für uns ist die Wiedervereinigung sowohl im sozialen Bereich als auch in anderen Bereichen nicht vollumfänglich vollzogen. Für uns bleibt die RenHans-Joachim Hacker tenvereinheitlichung eine ganz wichtige Frage. Sie haben heute leider nichts dazu gesagt. ({3}) Sie haben es leichtfertigerweise angesprochen, aber nichts dazu gesagt. Es bleibt die Verantwortung dieser Koalition, der Bundesregierung und insbesondere der Bundeskanzlerin, hierzu Vorschläge auf den Tisch zu legen. ({4}) Ich erwähne stichwortartig noch drei Punkte: Lohnangleichung, Senkung der Arbeitslosigkeit und Wohnungsbaupolitik. Das alles sind wichtige Herausforderungen, denen wir uns in den nächsten Jahren stellen müssen. Über all diese Fragen müssen wir heutzutage anders diskutieren als aus der Perspektive von 1990/91. Wir sind seit 22 Jahren wiedervereinigt. Wer heute Förderpolitik in Deutschland allein nach Himmelsrichtungen betreibt, hat - trotz aller Besonderheiten der neuen Länder, die ich angesprochen habe - den falschen Kompass. Wir brauchen neben Schwerpunkten in den Regionen individuelle Förderungen. Darüber werden wir in Zukunft - auch in der SPD - anders diskutieren müssen als in den letzten Jahren. ({5}) Herr Kühn, Sie haben gesagt, dass niemand weiß, wer in der Bundesregierung für den Aufbau Ost zuständig ist, wenn man auf dem Alexanderplatz danach fragt. ({6}) Herr Bergner, sind Sie auf dem Alexanderplatz gut bekannt? - Sie können wohl noch zulegen, was Ihren Bekanntheitsgrad angeht. Der Aufbau Ost scheint bei der Bundesregierung ein bisschen unter die Räder gekommen zu sein. Er ist beim Bundesinnenministerium quasi abgeladen worden, aber nicht gestaltet worden. Ein weiteres Thema, das auf der Tagesordnung steht, ist der Stadtumbau Ost.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hacker, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Feist?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Feist, gerne. Welche Frage haben Sie? ({0})

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen herzlichen Dank. - Frau Gleicke, ich hätte das auch zu Ihnen sagen sollen. Wieder wird behauptet, die jetzige Bundesregierung habe kein Herz für den Osten. Ich mache darauf aufmerksam, dass es nach meiner Erinnerung einen ehemaligen Verkehrsminister gibt, der im letzten Jahr nicht an der Debatte über den Stand der deutschen Einheit teilgenommen hat und auch heute nicht anwesend ist. Wo ist der Kollege Tiefensee?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe nicht davon gesprochen, dass Sie kein Herz für den Osten hätten. Sie müssen mich völlig falsch verstanden haben. Ich habe über Probleme gesprochen, die wir gemeinsam lösen wollen, und darüber, dass sich der Herr Staatssekretär Bergner bestimmter Themen intensiver annehmen müsste. Das ist doch eine gute Botschaft. Darin stimmen wir sicherlich überein, nicht wahr? Ein weiterer Punkt auf der heutigen Tagesordnung ist der Stadtumbau Ost. Ich will daran erinnern, dass die Projekte Stadtumbau Ost und „Soziale Stadt“ Leuchtturmcharakter in den neuen Ländern hatten und dass wir die in den neuen Ländern gesammelten Erfahrungen auch im alten Bundesgebiet genutzt haben. Nun haben wir enorme Kürzungen erlebt. Der Stadtumbau Ost ist bei der CDU/CSU ein Stiefkind und bei der FDP ein ungewolltes Kind. Ich will hier nicht die Zitate des Generalsekretärs wiederholen; diese sind ja bekannt. Das Programm „Soziale Stadt“ haben Sie auf jeden Fall zerschlagen. - Kollege Vogel, hören Sie einmal zu; denn Sie haben mitgeholfen, das Programm „Soziale Stadt“ zu zerschlagen. Während der Zeit der Großen Koalition gab es in der ersten Runde ungefähr 98 Millionen Euro. Unter Schwarz-Gelb sind es jetzt nur noch 28 Millionen Euro. Sie haben keine Antworten auf die Altschuldenfrage, Herr Mücke. Sie haben ein Gutachten in Auftrag gegeben und wollten es dann auswerten. Als ich Sie schriftlich gefragt habe, was Sie machen, haben Sie mir lapidar geantwortet: keine Notwendigkeit, kein Handlungsbedarf. - Wir waren uns doch einmal einig, dass wir das Programm betreffend die Altschulden fortführen wollten, allerdings nicht in altbekannter Form. Wir wollten kreativ sein und etwas Neues machen. (Iris Gleicke ({0}): Dazu ist diese Regierung nicht in der Lage! Aktivität geht da nicht! Aber dazu sagen Sie, Herr Mücke, No oder Njet. Das finde ich nicht gut. Ändern Sie sich! Bringen Sie einen Vorschlag ein! Die SPD ist dann dabei. ({1}) Ich finde, hier besteht dringender Handlungsbedarf. Sie können sich nicht davonschleichen. Das wird Ihnen nicht gelingen. Sowohl für den Aufbau Ost als auch für die alten Bundesländer ist Konversion in den nächsten Jahren ein ganz wichtiges Thema. In einer seiner üblichen Sonntagsansprachen hat der Bundesverkehrsminister aus den bayerischen Bergen ein Konversionsprogramm angekündigt, das sich selber tragen sollte. ({2}) Das war kein schlechter Vorschlag - Herr Mücke, sagen Sie ihm das -, aber als wir nachgefragt haben, hat der Bundesfinanzminister ihn einkassiert. Ich finde, wir sollten diese Sache noch einmal anpacken. Konversion ist in den nächsten Jahren sowohl für die neuen als auch für die alten Länder ein ganz wichtiges Thema. ({3}) Deswegen verstehe ich einfach nicht, dass Sie dem Vorschlag der SPD nicht gefolgt sind, die Aufgaben der BImA zu präzisieren. Das haben Sie abgelehnt. Das finde ich unmöglich. Ich komme zum letzten Punkt, Frau Präsidentin. ({4}) Herr Mücke, ({5}) Sie haben beim Investitionsrahmenplan für die neuen Länder enorme Einschränkungen vorgenommen. Die neuen Ansätze betragen im Fall von Mecklenburg-Vorpommern 46 Prozent des alten Budgets. ({6}) Dagegen haben sich Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern, auf jeden Fall ich und vielleicht auch Herr Rehberg von der CDU, massiv gewehrt. Auch die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern hat sich gewehrt. Jetzt frage ich Herrn Monstadt: Warum sagen Sie, Herr Monstadt, eigentlich der Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern, dass die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern für den Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 nicht die nötigen Projekte eingestellt hat? Das ist ein Treppenwitz der Geschichte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hacker, dieses Gespräch müssen Sie in einer anderen Form suchen. Kommen Sie bitte zum Ende.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Ich komme zum Thema zurück. Mein letzter Satz lautet: Wir brauchen beim Aufschwung Ost mehr Schwung, genauso wie bei den Themen, die sich auf gesamtdeutscher Ebene stellen. Dazu brauchen wir ein anderes Kabinett als das Kabinett Merkel/Rösler. Das ist hierfür nicht die richtige Besetzung. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es ist schön, wenn wir belebte Debatten haben und auch die eine oder andere Form des engeren Austauschs suchen, aber jetzt hat der Kollege Arnold Vaatz für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn ich nur sehr wenig Zeit habe, nehme ich mir sie doch, um Folgendes zu sagen: Für mich ist der 9. November 1989 und die darauf folgende Zeit bis zum 3. Oktober 1990 das größte Geschenk, das die Geschichte in meinem Leben für mich bereitgehalten hat. ({0}) Ich bin froh und stolz, dass wir uns das alle gemeinsam erstritten haben. ({1}) Wir sollten das nicht durch Kleinkariertheit und Zerreden kaputtmachen. Das ist der erste Punkt. Zweitens. Heute lässt sich feststellen - man kann über den Stand der deutschen Einheit reden, wie man will -: Wir sind im Großen und Ganzen, was die Variationsbreite des Lebensstandards betrifft, in der Bundesrepublik Deutschland angekommen. ({2}) Es ist festzustellen, dass wir noch immer 800 000 Arbeitslose in Ostdeutschland haben. Das ist viel, und das ist bedauerlich, aber es gab Zeiten, da hatten wir fast 1 Million Arbeitslose mehr. ({3}) Es ist ein großer Schritt nach vorne gewesen, dass wir die Arbeitslosenquote senken konnten. Dafür sind wir dankbar. ({4}) Wenn wir nicht die Arbeitslosenquote, sondern die Arbeitsplatzdichte als Kriterium nehmen, dann sind wir noch weit tiefer im westdeutschen Spektrum als in Bezug auf die erste Messgröße. Auch das muss gesagt werden. ({5}) Hinsichtlich der Infrastrukturdichte sind wir nah an das Westniveau herangekommen, aber es bleibt noch viel zu tun. ({6}) Auch das will ich in aller Deutlichkeit sagen. Im Antrag der SPD wird gesagt, die Angleichung sei zum Erliegen gekommen, weil das BIP in OstdeutschArnold Vaatz land nicht das gleiche Wachstum wie in Westdeutschland aufweise. ({7}) Ich bitte um etwas mehr Aufrichtigkeit; denn es gehört dazu, zu sagen, dass in der Wirtschaftskrise ab 2007/ 2008 das BIP im Westen stärker als im Osten eingebrochen ist und demzufolge stärker wachsen musste, um das Ursprungsniveau wieder zu erreichen. ({8}) Die entsprechenden Zahlen betragen 5 und 4 Prozent. Das ist eigentlich ein hoffnungsvolles Zeichen, weil das belegt, dass der Osten etwas krisenstabiler gewesen ist als der Westen. ({9}) Jetzt will ich doch noch etwas zum Thema Rente sagen. ({10}) Herr Claus, Sie haben uns den Vorwurf des Wählerbetrugs gemacht. Ich halte das, was Sie da gesagt haben, für etwas überdimensioniert. ({11}) Ich will Ihnen aber wenigstens Folgendes mitgeben: Wenn Sie über die Rente reden, dann müssen Sie auch erwähnen, dass es im Augenblick bei der Rentenberechnung eine Hochwertung der ostdeutschen Gehälter um 17,5 Prozent gibt. ({12}) Wenn Sie diese Hochwertung abschaffen und gleichzeitig den Rentenwert erhöhen, dann produzieren Sie für die gegenwärtig einzahlenden Generationen systematisch Altersarmut in Ostdeutschland. Das kann nicht unser Ziel sein, meine Damen und Herren. ({13}) Ich bin den Kollegen in meiner Fraktion äußerst dankbar, dass sie nicht zugelassen haben, dass in dieser Legislaturperiode eine Verschlechterung für die ostdeutschen Rentner eintritt; denn die vielen Vorschläge, ({14}) die von den anwesenden Parteien hier gemacht worden sind, hätten entweder im Westen keine Mehrheit gefunden oder nicht zugleich Hochwertung und Angleichung des Rentenwertes zustande gebracht. ({15}) - Sehen Sie, Ihnen wird widersprochen. - Wir haben also dafür gesorgt, dass in dieser Legislaturperiode keine Verschlechterung für die ostdeutschen Rentner eintritt. Dafür wollen wir auch in der kommenden Legislaturperiode sorgen. ({16}) Dabei bitte ich alle um Mithilfe, die es wirklich ernst meinen. Mit Vorschlägen, die entweder nicht realisierbar sind oder am Ende die ostdeutschen Rentner schlechterstellen, ist niemandem gedient, meine Damen und Herren. ({17}) Damit bedanke ich mich schon jetzt für Ihre Mitarbeit im nächsten Jahr an diesem wichtigen Projekt. Vielen Dank. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/10803 und 17/10942 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Wir kommen nun zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu dem Jahresbericht der Bundesregie- rung zum Stand der Deutschen Einheit 2012. Interfrak- tionell ist vereinbart, über den Entschließungsantrag auf Wunsch der einbringenden Fraktion abweichend von der Geschäftsordnung sofort abzustimmen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann verfah- ren wir so. Wir kommen damit zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag auf Drucksache 17/11337. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab- gelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring25066 Vizepräsidentin Petra Pau Eckardt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines Sozialen Arbeitsmarktes - Drucksache 17/11076 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Mast, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sozialen Arbeitsmarkt dauerhaft über PassivAktiv-Transfer ermöglichen - Teilhabe für alle durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt - Drucksache 17/11199 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist offensichtlich: Weder der wirtschaftliche Aufschwung noch der demografische Wandel oder der Fachkräftemangel werden das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit quasi wie von selber lösen. Offensichtlich ist auch, dass die arbeitsmarktpolitischen Instrumente völlig ungeeignet sind, das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit bzw. das der Langzeitarbeitslosen mit besonderen Vermittlungshemmnissen zu lösen und sie in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Ihre sogenannten Erfolge beim Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit basieren im Wesentlichen auf statistischen Tricks. Sie zählen einfach 116 000 Langzeitarbeitslose, die über 58 Jahre alt sind und ein Jahr lang kein Arbeitsangebot bekommen haben, nicht mehr mit. Sie fliegen bei Ihnen aus der Statistik. Aber sie sind doch weiterhin arbeitslos. Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen statistischen Effekt herausrechnen, dann ist die Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland in den letzten drei Jahren um magere 1 Prozent zurückgegangen. Das können Sie nachlesen in der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von mir: 1 Prozentpunkt! Das ist vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs wirklich ein beschämendes Ergebnis. ({0}) Langzeitarbeitslose sind die großen Verlierer der Arbeitsmarktpolitik von Frau von der Leyen. Für diese Gruppe sind drei Jahre Schwarz-Gelb drei verlorene Jahre. ({1}) Das ist ausgesprochen bitter für die Betroffenen; denn auch für diese Gruppe - ich will das ausdrücklich betonen - ist Arbeit, ist Erwerbsarbeit mehr als Geldverdienen. Für diese Menschen bedeutet Arbeit auch Teilhabe, bedeutet Selbstachtung und gibt ihnen das Gefühl, dazuzugehören. Das alles enthalten Sie diesen Menschen vor. Sie signalisieren den Betroffenen, dass das, was sie können, keiner braucht, dass das, was sie denken, keiner schätzt, dass das, was sie fühlen, niemanden kümmert. Sie konzentrieren sich auf die Starken. Sie konzentrieren sich auf die Fitten. Das ist zynisch, meine Damen und Herren, und das treibt die gesellschaftliche Spaltung weiter voran. ({2}) Ich sage Ihnen: Wir werden das nicht hinnehmen. Wir wollen allen Menschen einen Zugang zu sinnstiftender Arbeit ermöglichen. Wir wollen einen verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt, und damit stehen wir wahrlich nicht allein. Die Wohlfahrtsverbände, fast alle arbeitsmarktpolitischen Experten, die Bundesagentur für Arbeit in Person von Heinrich Alt, der Landkreistag, alle fordern die Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarkts. Wir legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Ausgestaltung dieses sozialen Arbeitsmarkts vor. Unser sozialer Arbeitsmarkt ist ein freiwilliges Angebot. Es gibt keine Sanktionen für die, die sich daran nicht beteiligen wollen. Er ist verlässlich. Wir wollen endlich raus aus diesen ständigen Programm- und Finanzierungswechseln. Und er ist - das will ich ausdrücklich betonen keine Sackgasse; im Gegenteil: Er ist der Ausgangspunkt für Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Er ist zielgenau für alle diejenigen, die ihn brauchen, und er richtet sich an alle Arbeitgeber. Wir wollen keine abgeschlossenen Nischen. ({3}) Finanzieren werden wir den sozialen Arbeitsmarkt durch einen Passiv-Aktiv-Transfer. Mit anderen Worten: Wir nehmen die Regelsatzleistungen und die Leistungen für die Kosten der Unterkunft und finanzieren daraus sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich weiß, dass es auch in Ihren Reihen inzwischen Leute gibt, die der Auffassung sind, dass es klüger wäre, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. ({4}) Ich bitte Sie deswegen dringend: Gehen Sie konstruktiv mit diesem Vorschlag um! Die abgehängten Langzeitarbeitslosen werden es Ihnen danken. Ich danke Ihnen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die Unionsfraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist eigentlich schade, dass wir diese Debatte an einem Freitagnachmittag führen, zu so später Stunde ({0}) - immerhin, wir führen sie, verehrte Frau Mast -, nachdem die taz, dieses politisch korrekte Mitteilungsorgan bürgerlicher Nonkonformisten, bereits vor einigen Tagen darauf aufmerksam gemacht hatte, über was wir hier sprechen wollen. ({1}) Leider hat dann bei der taz die Begeisterung über diese Möglichkeit dazu geführt, dass man sich die Vorschläge nicht genauer angesehen hat. Das hätte sich aber aus zwei Gründen gelohnt, zum einen deshalb, weil die dahinterliegende Idee, einen sozialen Arbeitsmarkt durch einen Passiv-Aktiv-Transfer zu organisieren, einen gewissen Charme hat, zu dem sich auch mein Kollege Pascal Kober öffentlich bekannt hat, ({2}) zum anderen aber auch deshalb, weil die beiden Papiere, die wir heute beraten, einen Blick in die Mechanik des Denkens der beiden Parteien ermöglichen, und dazu will ich ein wenig sagen. Zunächst einmal: Wir haben einen Gesetzentwurf der Grünen mit Datum vom 17. Oktober und einen Antrag der SPD vom 24. Oktober vorliegen. Der Gesetzentwurf ist im Wesentlichen gut durchdacht, weitgehend stringent. Er zeugt von einer längeren Befassung mit dem Thema. Der Antrag der SPD hingegen scheint eher mit der heißen Nadel gestrickt. Ich kann mir auch vorstellen, wie das gekommen ist. Kaum hatten die Grünen ihren Gesetzentwurf im Geschäftsgang, ist der SPD aufgegangen, dass sie zu diesem Thema auch etwas machen sollte. Es ist schließlich Vorwahlkampf, und da will man jede Chance nutzen, in der taz einmal lobend erwähnt zu werden; man hat es ja sonst schwer genug. ({3}) Vieles von dem, was die Grünen vorschlagen, findet sich auch im Antrag der SPD. Deswegen will ich mich zunächst mit dem, was die Grünen vorschlagen, auseinandersetzen. ({4}) Meine Damen und Herren, wir haben vor einem Jahr die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente beschlossen. Die Reform ist am 1. April in Kraft getreten. Wir haben noch keine Wirkungsanalyse, wir haben keine Evaluation. Deswegen ist die Behauptung mutig, die sich im Gesetzentwurf der Grünen findet, dass die Zielgruppe für einen sozialen Arbeitsmarkt von den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten nicht erreicht worden sei. ({5}) Sie belegen dies exemplarisch - also beispielhaft, an Einzelfällen orientiert - mit den Erfahrungen beim Beschäftigungszuschuss. Anekdotische Evidenz scheint mir aber ein schlechter Ratgeber für gesetzgeberisches Handeln zu sein. ({6}) Wir sollten uns schon die Zeit nehmen, die Wirkungen der Reform von 2011 gründlich zu evaluieren und dann die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es von unserer Seite dann auch eine gewisse Grundsympathie für einen Passiv-AktivTransfer geben könnte und dass man dieser Idee durch eine gezielte Förderung von Modellprojekten nahetritt. ({7}) Dann sollten wir aber auch versuchen, handwerkliche Fehler zu vermeiden, wie sie sich beim Gesetzentwurf der Grünen finden. ({8}) Ich verstehe ja, dass Sie das Wesen von Anreizen mitunter nicht so ganz einschätzen können, weil dies in Ihrem vorliegenden sozialen Herkunftsmilieu, der öffentlichen Beschäftigung, nicht notwendig ist. Wenn man aber ein Gesetz formuliert, kann das teuer werden, und zwar zulasten der Steuerzahler. So ist mir überhaupt nicht klar, woher sich der Optimismus in ihrem Entwurf speist, wenn es dort heißt: Die Kosten für den Bundeshaushalt sinken erheblich …, wenn die am Sozialen Arbeitsmarkt beteiligten Kommunen ihre Einsparungen bei den Kosten der Unterkunft zur Finanzierung des Sozialen Arbeitsmarktes in Form eines Passiv-Aktiv-Transfers einspeisen. Die Lebenserfahrung lehrt: Die Einsparungen würden die Kommunen vermutlich dankend einstreichen. Insofern sind die Kostenberechnungen in Ihrem Gesetzentwurf nicht mehr als Schätzungen über den grünen Daumen. ({9}) Ich meine allerdings: An den Anfang einer Befassung mit dem Passiv-Aktiv-Transfer gehört eine seriöse Schätzung der Folgekosten. ({10}) Dann zu den Integrationsfortschritten als Voraussetzung für eine Förderung. Sie schreiben in den Gesetzentwurf hinein: Verringern sich die Aufwendungen des Arbeitgebers oder verbessert sich die Leistungsfähigkeit des erwerbstätigen Leistungsberechtigten, ist der Zuschuss entsprechend anzupassen. ({11}) Mit anderen Worten: Verringern sich die Aufwendungen nicht und verbessert sich auch die Leistungsfähigkeit nicht, bleibt es bei einem höheren Abfluss öffentlicher Mittel. ({12}) Das ist nichts anderes als die Einladung zur Kollusion auf Kosten der Steuerzahler. Sinnvoller wäre es, bindende Integrationsvereinbarungen abzuschließen und den Zuschuss zum Arbeitsentgelt von Beginn an degressiv auszugestalten. Das klingt übrigens im Antrag der SPD an und ist im Grundsatz richtig. Die Degression muss aber von Anfang an ein verpflichtender Bestandteil einer Integrationsvereinbarung mit dem Arbeitgeber und dem Leistungsberechtigten sein. ({13}) Nur so setzt man vernünftige Anreize, die Ziele auch zu erreichen. ({14}) Ein weiterer, eher nachdenklicher Hinweis: Der Passiv-Aktiv-Transfer soll denjenigen zugutekommen, die mehrere Vermittlungshemmnisse haben. Ich halte dies grundsätzlich für eine gute Idee, finde aber auch folgende Frage legitim: Sollten wir Menschen mit mehreren Vermittlungshemmnissen nicht eher in marktfernen, in geschützten Bereichen arbeiten lassen? ({15}) Überfordern wir sie nicht in marktnahen Beschäftigungsverhältnissen? ({16}) Ich bin mir dessen im Moment selbst nicht sicher. Bei aller Kritik: Die Überlegungen der Grünen scheinen mir in die richtige Richtung zu gehen. Wir wissen aber alle, dass gut gemeint noch nicht gut gemacht ist. Deswegen stimmt auch der forsche Hinweis im Gesetzentwurf der Grünen nicht, es gebe keine Alternativen. Doch, die gibt es, nämlich zu warten, ({17}) die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu evaluieren und dann auf dieser Basis, wenn es notwendig ist, einen Gesetzentwurf zu formulieren, der zielgenau ist, Fehlanreize vermeidet und - dies wäre mein Wunsch - am besten von einer in den Wahlen 2013 bestätigten christlichliberalen Koalition formuliert wird. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPDFraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zimmer, ich glaube Ihnen sogar, dass Sie Sympathie für die Anträge haben und auch für deren Finanzierung nach dem Grundsatz „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“. ({0}) - Auch noch für mich; das freut mich ja umso mehr, Herr Zimmer. - Aber Sie hatten jetzt drei Jahre Zeit, um Ihren Vorstellungen zu einer Mehrheit in Ihrer Koalition zu verhelfen. Sie haben nun die arbeitsmarktpolitischen Instrumente reformiert, und dabei ist nichts von Ihrer Sympathie zu spüren. Das ist unser Problem. Deshalb liegen Ihnen heute zwei Anträge der Opposition zu einem echten sozialen Arbeitsmarkt vor. ({1}) Worum geht es heute? Es geht darum, dass man sich Menschen zuwendet, die ganz am Rande des Arbeitsmarktes stehen. Das sind diejenigen, die schon sehr lange Arbeit suchen, die meistens mit mehreren Vermittlungshemmnissen zu tun haben und die auf absehbare Zeit - das heißt auf mehrere Jahre hin - keine Integration in den Arbeitsmarkt erwarten können. Das sind diejenigen, die wir heute mit Arbeitslosengeld II abspeisen, denen wir sagen: Diese Gesellschaft braucht dich nicht mehr, du stehst am Rand, du hast keine Aufgabe. Wir wollen dich nicht. Um diese Menschen geht es. Man geht von ungefähr 200 000 Menschen aus; es gibt aber auch andere Schätzungen. Darum geht es letztlich aber nicht. Es geht vielKatja Mast mehr darum, dass wir uns diesen Menschen zuwenden und sie fragen: Was wollt ihr? Ich kann mich sehr gut an viele Praktika erinnern, die ich mit Langzeitarbeitslosen durchgeführt habe. Dabei stand immer eine Frage im Mittelpunkt, nämlich: Frau Mast, was können Sie dafür tun, dass meine Arbeit nach dem Auslaufen des Projekts weitergeht? - Das ist die Frage, die die Langzeitarbeitslosen stellen. Sie reden nicht von spätrömischer Dekadenz oder ähnlichen Dingen. Vielmehr wollen diese Menschen morgens aufstehen und einer Tätigkeit nachgehen können; sie wollen einen Arbeitsvertrag in der Tasche haben. Darum geht es heute in der Debatte um den sozialen Arbeitsmarkt. Was bekommen diese Menschen von dieser Regierung? Das ist spannend; wir haben ja schon gehört, worum es geht. Was bekommen sie von SchwarzGelb? Sie bekommen keine Zuwendung; vielmehr wenden Sie sich ab. Sie haben in Ihrer Arbeitsmarktpolitik alle Möglichkeiten zum Erhalt einer dauerhaften sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung abgeschafft. Genau deshalb erhalten Sie die Anträge der Opposition. Wir sagen: Wir wollen für Menschen, die am Rand stehen, eine auf Dauer angelegte Beschäftigungsmöglichkeit, die den Betroffenen aber immer auch die Möglichkeit offenlässt, in den regulären ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen Ihnen und der linken Seite hier im Haus. Da bringen alle schönen und blumigen Worte nichts, ebenso wenig irgendwelche Initiativen im Paritätischen Wohlfahrtsverband, wo Sie bis heute noch keine Mehrheit in Ihren Fraktionen hinbekommen haben. ({2}) Das ist doch das Problem. Sie machen laufend Projekte: Bürgerarbeit, wieder ein neues Projektitis-Projekt von Bundesarbeitsministerin von der Leyen. ({3}) Den § 16 e SGB II haben wir in der Großen Koalition zusammen auf den Weg gebracht. Damit ist uns erstmals eine Regelung gelungen, die es Menschen, die am Rand des Arbeitsmarktes stehen, ermöglicht, eine auf Dauer ausgerichtete Beschäftigung zu erhalten. Und hier erschweren Sie jetzt die Bedingungen. Sie regeln, dass das nur noch 24 Monate innerhalb von fünf Jahren möglich ist. ({4}) Das ist alles zu wenig für die Menschen, die einen Arbeitsvertrag in der Hand haben wollen und ihr Recht auf Beschäftigung wahrnehmen wollen. Hinzu kommt, dass Sie einen massiven Kahlschlag in der aktiven Arbeitsmarktpolitik gerade für Langzeitarbeitslose vornehmen. Sie haben den Eingliederungstitel von 2011 bis 2013 um 40 Prozent gekürzt, ({5}) obwohl diese Menschen, über die wir hier reden - Langzeitarbeitslose mit vielen Vermittlungshemmnissen -, keine Chance auf reguläre Beschäftigung haben. Deshalb hat meine Fraktion heute einen Antrag zum sozialen Arbeitsmarkt vorgelegt, der echte Teilhabechancen bieten soll. ({6}) Wir wenden uns den Menschen zu. Ich will noch einmal auf unsere Forderungen eingehen. Im Grunde wäre der Begriff „Langlangzeitarbeitslose“ für Menschen mit mehreren Vermittlungshemmnissen viel passender. Wir wollen, dass sie wieder Arbeit bekommen, dass sie einen Arbeitsvertrag bekommen und morgens wissen, warum sie aufstehen. Wir wollen, dass sie gute Arbeit haben. Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen: Wir wollen, dass sie ortsüblich und tariflich entlohnt werden. Wenn wir es nach der nächsten Bundestagswahl zusammen mit den Grünen hinbekommen, dann werden sie dort, wo das nicht möglich ist, von einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn profitieren. ({7}) Wir finden, dass Arbeit nicht nur mit Geldverdienen zu tun hat; hier geht es auch um eine Frage der Würde und des Miteinanders in dieser Gesellschaft. Deshalb wollen wir, dass die Menschen nicht am Rand stehen bleiben, und ihnen eine echte Beschäftigungschance geben; wir wollen das finanzieren. Ich bitte Sie, einfach zu schauen, was die Sozialministerin von Baden-Württemberg, Katrin Altpeter - sie hat ein SPD-Parteibuch -, aktuell im Bereich des sozialen Arbeitsmarkts erprobt. ({8}) Dort, wo wir an der Regierung sind, tun wir das, was wir heute fordern. Wir erproben in Baden-Württemberg einen sozialen Arbeitsmarkt für langzeitarbeitslose Menschen, gemeinsam mit unserem grünen Koalitionspartner. Ich lasse mich gerne von Ihnen überzeugen, dass Sie für Mehrheiten in Ihrer Fraktion sorgen, wenn Sie mir ein Bundesland zeigen, in dem Sie Regierungsverantwortung tragen und den Passiv-Aktiv-Tausch tatsächlich organisieren, Herr Zimmer. ({9}) - Wir reden gerade über den sozialen Arbeitsmarkt und über Möglichkeiten der Finanzierung des Passiv-Aktiv25070 Transfers. Sie haben gerade dazu gesagt, Sie hätten große Sympathien dafür; Sie würden einmal schauen und ein Projekt durchführen - und noch ein Projekt und wieder ein Projekt. Wir wollen aber keine Projektitis à la von der Leyen, sondern wir wollen dauerhafte Möglichkeiten, auf die sich die Menschen verlassen können, übrigens auch diejenigen, die diese Menschen beschäftigen, nämlich die Unternehmen, die Handwerker, die Träger, die Kommunen, damit sie wissen, woran sie sind, damit sie wissen, dass sie das auf Dauer machen können. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Haltung. ({10}) Ich bin stolz, dass wir das in Baden-Württemberg hinbekommen und damit die Grundlagen für eine Arbeitsmarktpolitik schaffen, die anders ist als Ihre. Wir wollen einen Beschäftigungszuschuss von bis zu 75 Prozent ermöglichen, wie wir ihn in der Großen Koalition zusammen umgesetzt haben; danach sind Sie leider davon abgewichen. Wir sagen: Menschen, die bei uns langzeitarbeitslos sind und etwas leisten wollen, etwas beitragen wollen, sollen einen Teil ihres Einkommens selbst erwirtschaften. Wir wollen das über den Passiv-Aktiv-Tausch - das bedeutet nichts anderes als: Arbeit statt Arbeitslosigkeit - finanzieren. Wir wollen eine möglichst marktnahe Beschäftigung erreichen. Denn alle Projekte, alle Maßnahmen für Langzeitarbeitslose zeigen, dass die Menschen eine Beschäftigung haben wollen, bei der ein Produkt entsteht, das hinterher verkauft wird. Sie wollen nicht auf Scheinarbeitsmärkten oder geschützten Arbeitsmärkten beschäftigt sein, sondern wollen im Wirtschaftsprozess ihren Beitrag leisten. Für uns Sozialdemokraten ist es ein wichtiger Punkt, an unserem Ziel der Vollbeschäftigung festzuhalten und dort Antworten zu geben, wo es richtig schwer ist, Vollbeschäftigung zu organisieren. Denn bei denjenigen, die am Rand stehen, ist es nicht so einfach, Antworten zu finden; sie profitieren - meine grüne Vorrednerin hat es schon gesagt - heute nicht von der guten Konjunktur. ({11}) Insofern ist es die Aufgabe unserer Zeit, sich den Langzeitarbeitslosen zuzuwenden, anstatt sich abzuwenden. Wir wollen echte Jobchancen für langzeitarbeitslose Menschen in Deutschland. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Pascal Kober das Wort. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Pothmer, ich bin ganz erstaunt: Ich muss Ihre Politik aus den sieben Jahren, in denen Sie regiert haben, fast schon ein Stück weit in Schutz nehmen. Sie haben die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu Beginn Ihrer Rede ziemlich pauschal verdammt. Wir haben zwar auch gesehen, dass die arbeitsmarktpolitischen Instrumente reformbedürftig sind. Diese Regierungskoalition hat sie reformiert: ({0}) Wir haben sie zielgenauer ausgestaltet und damit erreicht, dass eine erfolgreichere Arbeitsmarktvermittlung möglich ist. Aber so ganz schlecht waren die Grundideen doch nicht, die Sie damals verfolgt haben. Auch Sie können ein bisschen stolz sein; wir haben die Instrumente verbessert, aber der erste Ansatz war schon nicht ganz schlecht. ({1}) Zweitens. Liebe Frau Pothmer, ich gebe offen zu: Diese Regierungskoalition ist noch nicht zufrieden, wenn es um die Erfolge geht, die wir bei der Integration gerade von „Langlangzeitarbeitslosen“ in den ersten Arbeitsmarkt erreichen konnten. Trotzdem ist es uns in den letzten Jahren gelungen, 500 000 Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Darauf ruhen wir uns nicht aus. Trotzdem sollte man diese Leistung anerkennen. ({2}) Denn für jeden Einzelnen bedeutet das eine Perspektive, für jeden Einzelnen hat sich das Leben verändert, für jeden Einzelnen war alle Mühe und Anstrengung wert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, Sie haben recht: Die Idee, die Sie im Antrag bzw. im Gesetzentwurf so grob skizzieren, hat etwas für sich. Wir von der FDP sehen das auch so und haben das auch in unserer Sozialpolitik immer so formuliert. ({3}) In all den Jahren haben wir immer gesagt: Ein wesentlicher Aspekt des Bürgergeldmodells der FDP ist, dass gerade diejenigen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben und Minderleistungen - wie man technisch unschön sagt - zu bewältigen haben, eine kleine steuerfinanzierte Unterstützung erhalten. Das war immer Politik der FDP. Deshalb können wir uns im Grundsatz mit dem Modell, das die Sozialverbände und auch Sie hier vorschlagen, anfreunden. ({4}) Über die Details muss man allerdings noch diskutieren; denn auf die Details kommt es an. Liebe Katja Mast, Sie haben so freundlich die Landesregierung in Baden-Württemberg ins Feld geführt. Ich hoffe, Sie wollten sich nicht schon vom Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen distanzieren; ({5}) denn Sie regieren gemeinsam mit ihnen; die Ministerin Altpeter macht das nicht allein. Sie haben gemeinsam ein Programm auf den Weg gebracht, das das Passiv-Aktiv-Modell simuliert, nicht mehr und nicht weniger. Im Kern müssen sich noch Bundesrat und Bundestag auf eine gemeinsame Finanzierung einigen; ({6}) denn sonst fehlen die finanziellen Mittel. Es muss die gemeinsame Anstrengung aller im Bundestag und im Bundesrat vertretenen Parteien sein, ({7}) dass wir hier zu einem Ergebnis kommen. In BadenWürttemberg finanzieren Sie alles aus Steuermitteln, und am Ende haben Sie einen positiven Effekt, aber eben durch Steuermittel des Landes und durch Fördermaßnahmen aus Europa. ({8}) Letztendlich wird dadurch in Baden-Württemberg der positive Effekt, den man aus dem Passiv-Aktiv-Modell ziehen könnte, nicht erzielt. ({9}) Wir werden hier noch spannende Debatten führen, aber wir sollten sie miteinander und nicht gegeneinander führen. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Pothmer, jetzt bin ich dran. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über den sozialen Arbeitsmarkt, und das ist immer sehr konkret. In meiner Region Hameln-Pyrmont kenne ich eine Frau, die schon seit zehn Jahren keine Arbeit mehr hat. Nun hält sie die Sanktionen des Jobcenters nicht mehr aus. Über zehn Jahre wurde die gelernte Tischlerin von einer Maßnahme in die andere gesteckt, und das hat nie dazu geführt, dass sie einen Arbeitsplatz bekam. Vom Jobcenter erwartet sie nichts mehr, sie geht jetzt einfach nicht mehr hin. Die Frage ist: Von was lebt sie denn jetzt eigentlich? Die Lösung heißt: Minijobs. Damit landet sie zwangsläufig im Niedriglohnbereich und weiß selbst ganz genau, dass sie garantiert bei den armen Alten landen wird. Solche Erfahrungen machen Millionen. Kein hochentwickeltes europäisches Land hat einen so ausgeprägten Niedriglohnbereich wie wir. Die Logik der Befürworter der Einführung von Niedriglohnjobs war: Niedrige Löhne schaffen mehr Beschäftigung. Das war ein Irrtum. Die meisten Langzeitarbeitslosen haben keine neue Arbeit gefunden. Im Gegenteil: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich verfestigt. Ihr Anteil unter allen Erwerbslosen stieg in den letzten zwei Jahren von 33,5 Prozent auf 37 Prozent. Die absolute Zahl liegt bei 1 Million Menschen. ({1}) Was ist mit Ihrem Gerede, dass alles besser geworden ist? Ich sage Ihnen: Von 2010 auf 2011 ist die Zahl lediglich um 5 000 gesunken, und das trotz angeblichen Fachkräftemangels und trotz guter wirtschaftlicher Situation. Der Anteil von Hartz-IV-Beziehern im Leistungsbezug ab zwei Jahre stieg sogar von 55 Prozent im Jahr 2009 auf 61 Prozent Ende 2010. All diese Menschen brauchen Arbeit, sagt die Linke. Sie haben ein Recht auf Arbeit. ({2}) - Das kommt jetzt. Wir reden heute über die von SPD und Grünen vorgelegten Initiativen zur Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarktes. Ich finde das missverständlich. Ich konnte nicht lesen, dass es um Arbeitsplätze im sozialen Bereich geht. ({3}) Uns geht es um öffentlich geförderte Beschäftigung. So haben wir es in unserem Antrag aus dem Jahr 2011 - Sie werden sich erinnern - genannt. Leider hat die SPD diesen Antrag nicht verstanden und ihn abgelehnt. ({4}) Oder ging es wieder einmal gar nicht um die Sache, sondern um unsere Forderung nach einem Mindestlohn von 10 Euro? Sie fordern 8,50 Euro. Öffentlich geförderte Beschäftigung ist ein wichtiger Baustein zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Die Linke schlägt ein Konzept für öffentlich geförderte Beschäftigung vor, in dem es Mindeststandards gibt, unter anderem Freiwilligkeit und einen tariflich orientierten und existenzsichernden Lohn nicht unter unserer Mindestlohnforderung von 10 Euro pro Stunde. Das macht unabhängig von Hartz IV und ist voll sozialversicherungspflichtig. ({5}) Öffentlich geförderte Beschäftigung muss in klarer Abgrenzung zum öffentlichen Dienst und zur Wirtschaft stehen, um die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze zu verhindern. ({6}) Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann das ganze Gerede von halbherzigen Anträgen nicht mehr hören. Wir brauchen eine gute öffentlich geförderte Beschäftigung. Geben Sie den Menschen die Würde zurück! Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es ist vereinbart, den Beitrag des Kollegen Ulrich Lange von der Unionsfraktion zu Protokoll zu neh- men.1) Der Kollege Johannes Vogel hat nun für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arbeit ist mehr als Broterwerb. Deshalb habe ich mich über den konstruktiven Grundton der Debatte heute gefreut. Ich glaube, zumindest uns, die vier Fraktionen, eint das Ziel, mehr Menschen eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Wir wollen uns nicht auf den guten Arbeitsmarktzahlen ausruhen, sondern immer bessere Perspektiven schaffen. Liebe Frau Kollegin Pothmer, über den Aufruf zur konstruktiven Behandlung habe ich mich gefreut. Das wollen wir tun, aber Sie selbst könnten in der Debatte an dieser Stelle auch noch etwas konstruktiver werden. Lassen Sie doch einfach die wohlfeilen Vorwürfe weg. ({0}) Lassen Sie die Sache mit der Statistik weg. Sie wissen so gut wie ich, dass diese Koalition gar nichts an der Statistik geändert hat, also können wir auch nicht irgendwie daran gedreht haben. ({1}) Liebe Kollegin Katja Mast, lass doch einfach den Vorwurf der angeblichen Kürzungspolitik weg. ({2}) Du weißt so gut wie wir alle, dass diese Koalition pro Kopf nicht weniger Geld für die aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stellt, als das die Große Koalition vor der Krise getan hat, und es ist übrigens mehr, als RotGrün damals zur Verfügung gestellt hat. Lassen Sie uns doch lieber konstruktiv darüber reden, was wir hier wirklich tun können. Dass es für Menschen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, weil sie eine schwierige Geschichte haben, ein Instrument geben muss, das eine Arbeitsmarktintegration ermöglicht, ist ein Ziel, das wir teilen. Deshalb habe ich mich ein bisschen geärgert und nicht verstanden, liebe Kollegin Pothmer, dass Sie gesagt haben, die Instrumente, die es gibt, seien ungeeignet. Sie bauen in Ihrem Antrag selbst auf § 16 e des SGB II auf. ({3}) Sie nennen das explizit als Ansatzpunkt für den PassivAktiv-Transfer. Ich will nur sagen: Das Gesetzgebungsverfahren zu den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten hat dazu geführt, dass - übrigens auf Initiative der Koalitionsfraktionen, von dem Kollegen Zimmer und mir § 16 e SGB II erhalten und so ausgestaltet wurde, dass er für eine echte Integration in den ersten Arbeitsmarkt geeignet ist. ({4}) Lassen Sie uns doch gemeinsam festhalten: Diese christlich-liberale Koalition hat sich zu dem Instrument bekannt. Das sollten wir gemeinsam bejahen und hier nicht die Behauptung aufstellen, es gebe nicht die geeigneten Instrumente. ({5}) Die Instrumente gibt es; wir haben sie explizit erhalten. Richtig ist, dass wir uns fragen müssen: Wie stellen wir die Finanzierung sicher? Wie schaffen wir es, möglicherweise noch mehr Mittel umzuwidmen? ({6}) Ich stimme dem Kollegen Zimmer und auch meinem Kollegen Pascal Kober zu, der dies öffentlich gemein- sam mit Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrts-1) Anlage 6 Johannes Vogel ({7}) verband gesagt hat: Wir sollten uns konstruktiv damit beschäftigen, ob es unter der Überschrift Passiv-AktivTransfer eine Möglichkeit gibt. ({8}) Im Namen meiner Fraktion bekenne ich mich ausdrücklich dazu. Nur, liebe Frau Kollegin Pothmer, wir müssen uns gemeinsam ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen. Wenn man das wirklich will - der Kollege Kober hat eben schon darauf hingewiesen -, dann muss es dafür auch fraktionsübergreifende Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat geben. So, wie die Lage im Moment aussieht, ist das nicht so einfach. ({9}) Zweitens. Ich glaube, wir müssen erst einmal grundlegende Fragen klären. Ich will eines ausdrücklich sagen: Uns geht es dabei um echte, gleichberechtigte Teilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt, nicht um Pseudobeschäftigung. ({10}) Ich finde es missverständlich, wenn Sie von einem sozialen Arbeitsmarkt und der dauerhaften Etablierung dieses Arbeitsmarktes sprechen. Lassen Sie uns lieber über ein Instrument reden, das durch Unterstützung - Lohnkostenzuschüsse - echte Teilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt ermöglicht. ({11}) Ich denke, die Einigung darauf, dass man das Ganze so nennt, wäre eine wichtige Gesprächsgrundlage. ({12}) - Ich habe die Anträge gelesen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Vogel, in Ihrer Reihung wären Sie jetzt eigentlich bei drittens. Ihre Redezeit ist jetzt aber zu Ende.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann will ich einen letzten Punkt ansprechen. - Frau Kollegin Pothmer, ich glaube - damit beziehe ich mich auf den Antrag der Grünen -, dass ein 100-prozentiger Lohnkostenzuschuss keine gute Idee ist, ({0}) weil er Missbrauch fördert. Bekennen Sie sich zu dem Instrument, das wir geschaffen haben, ({1}) und lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv überlegen, wie wir hinsichtlich der Finanzierung vorankommen können. Ich glaube, damit sind wir gemeinsam auf einem guten Weg für die Langzeitarbeitslosen in diesem Land. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/11076 und 17/11199 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a und 45 b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Durch Zusammenarbeit Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit in Russland stärken - Drucksache 17/11327 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Gemeinsam die Modernisierung Russlands voranbringen - Rückschläge überwinden Neue Impulse für die Partnerschaft setzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck ({1}), Volker Beck ({2}), Agnes Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Modernisierung Russlands ohne Rechtsstaatlichkeit - Drucksachen 17/11005, 17/11002, 17/11391 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Franz Thönnes Patrick Kurth ({3}) Kerstin Müller ({4}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth für die FDP-Fraktion. Vizepräsidentin Petra Pau ({5})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erneut reden wir im Plenum über Russland. Mein persönlicher Eindruck: Neben Weißrussland und der Ukraine haben wir uns im Bundestag über keine andere Region öfter ausgetauscht, ausgenommen natürlich die Brennpunkte Nordafrika, Naher und Mittlerer Osten. Egal ob man die häufige Thematisierung der östlichen Partnerschaft im Deutschen Bundestag als Ausdruck besonderer Wertschätzung oder als Ausdruck besonderer Sorge wertet: Die Häufigkeit, mit der sich der Deutsche Bundestag über Russland austauscht, zeigt die Wertigkeit, die Russland für uns Deutsche hat. Russland und Deutschland verbindet eine lange Geschichte. Wenn man die Geschichte seit Zar Peter betrachtet, dann kann man konstatieren: Es gab sehr grausige Kapitel, grausamste. Gemessen an der gesamten Zeitspanne gab es aber zumeist Frieden und kulturellen Austausch. Seit jüngerer Zeit gibt es sogar eine Modernisierungspartnerschaft. Wir stehen für eine stärkere Integration Russlands in europäische und westliche Institutionen und Standards. Dennoch bereitet Russland uns Deutschen in letzter Zeit viel Sorge, und nicht nur uns Deutschen, sondern den Europäern insgesamt. Wir Deutsche sagen Russland deutlich: Euer Umgang mit politisch Andersdenkenden, mit Oppositionellen, ist für euer Land nicht gut. Unsere und eure Geschichte zeigen, dass Repression und Kontrolle immer schaden. Neue Gesetze in Russland dürfen die Zivilgesellschaft nicht einschüchtern, weil dadurch das Vertrauen in Russland zerstört wird. Wir verurteilen auch die Einführung eines Gesetzes in St. Petersburg gegen „Propaganda männlicher und weiblicher Homosexualität, Bisexualität und Transgenderismus unter Minderjährigen“. Diese Aufzählung könnten wir fortsetzen. Die Geschwindigkeit, mit der diese Probleme innerhalb kurzer Zeit größer geworden sind, ist beängstigend. Quasiautoritäres Handeln politisch Verantwortlicher darf nicht ignoriert werden. Aber - das gilt für die Debatten des Deutschen Bundestages und seine Beschlüsse -: Der Deutsche Bundestag kann aus unserer Sicht keine Ansammlung von Kritik beschließen. Der Deutsche Bundestag beschließt keine Anklageschriften. Dafür ist dieses Gremium einfach nicht da. Es geht um politische Einordnungen, um Wertungen und um daraus folgende Maßnahmen. Ich habe mir noch einmal die Beschlüsse angeschaut, die wir in dieser, aber auch in den letzten Legislaturen zu anderen problematischen Ländern gefasst haben. Natürlich wurde Kritik geübt, aber immer mit Wertungen, mit Einordnungen und vor allen Dingen mit politischen Konklusionen. Selbst der alte Bundestag hat die DDR niemals in einem Antrag oder etwas Ähnlichem nur mit massiver Kritik überzogen. Deswegen muss uns die Frage umtreiben: Können wir ein solches Vorgehen zulassen, wenn es um die Zusammenarbeit mit Russland geht? Wir setzen dabei nicht auf den Weg der Ausgrenzung - das ist entscheidend -, sondern wir wollen den Dialog mit Russland. Wir lassen nicht zu, dass im östlichen Europa zunehmend der Eindruck entsteht, der Eiserne Vorhang sei mental von der Mitte Deutschlands an die Ostgrenze Polens verschoben. Gerade wir Deutsche kennen die Herausforderungen eines Transformationsprozesses. Wir können unsere persönlichen Erfahrungen, die wir hier in diesem Land mit all seinen Problemen - wir haben gerade über den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2012 und über die Folgen von Transformation gesprochen - gemacht haben, in den schwierigen Prozess, in dem sich auch Russland befindet, einbringen. Unsere Kritik und unsere Zusammenarbeit mit Russland müssen in Bezug auf andere Staaten der Welt verhältnismäßig sein. Insofern ist es wichtig, sich von Russland nicht abzuwenden; das wäre der falsche Weg. Zu den vorliegenden Anträgen. Der SPD-Antrag las sich über weite Strecken wie ein Lexikonbeitrag. Es ist ja alles richtig, was darin steht, wie die Situation dargestellt ist usw. Man kann inhaltlich über einige Punkte reden; aber im Grundsatz kann man dem zustimmen. Das ist gleichzeitig ein Problem: Dieser Antrag bleibt ideenlos im Hinblick auf das politische Handeln. - Wie geht es weiter? Wie gehen wir damit um? Das sind die entscheidenden Fragen. Der Antrag der SPD ignoriert die Bestrebungen, Russland in seinem Transformationsprozess als starker Partner zur Seite zu stehen. Die Schwäche des Antrags der SPD wird in seinen Forderungen deutlich. Sie, die SPD, nennen zwar Schlagwörter, gehen aber nicht weiter. Die Zusammenarbeit im schulischen Bereich tun Sie zum Beispiel mit einem Halbsatz ab, sodass die Wichtigkeit dieses Punktes, der eigentlich ein Schwerpunkt ist, völlig untergeht. Die deutsche Außenpolitik, die auswärtige Kulturund Bildungspolitik haben gerade in Russland durch eine Sprachoffensive dazu beigetragen, dass viel erreicht worden ist. Russland ist ein fruchtbarer Boden für Deutsch als Fremdsprache. Der Slogan des Goethe-Instituts in Russland lautet: Mit Englisch kommen Sie durch, mit Deutsch kommen Sie weiter. - So etwas wird angenommen. Das ist das Entscheidende, wenn wir mit Russland umgehen. ({0}) Wenn es sozusagen im Kern der Diplomatie auch einmal kühler wird - das deutsch-russische Verhältnis hat sich ohne Zweifel ein Stück weit abgekühlt -, dann muss man gerade in den Außenbereichen, in den soften Bereichen, etwa in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, Lockerungsübungen durchführen. Dazu sind die Russen selbstverständlich bereit. In ähnlicher Weise ist der Antrag der Grünen, der viel Kritik übt, aber zu wenig auf die Zusammenarbeit mit Russland eingeht, zu werten. Ohne den entsprechenden Dialog mit Russland ist es schlicht nicht möglich, gemeinsame Interessen zu verfolgen und gemeinsame RisiPatrick Kurth ({1}) ken zu minimieren. Beispielsweise findet derzeit das Deutschlandjahr in Russland statt, und wir, Deutschland, haben das Russlandjahr. Wir haben in Russland Kulturinstitute eingerichtet, und wir haben vor allen Dingen Schüler und Studenten durch Austauschprogramme nach vorne gebracht. Ich glaube, dass so etwas hilft. Ich glaube, dass wir auch in der Visafrage deutlich weiter gehen müssen, als wir es bisher getan haben. Viele in Europa meinen, wir brauchen Sicherheit vor Russland. Wir in Deutschland vertreten sicherheitspolitisch die Auffassung: Wir brauchen Sicherheit mit Russland. Ich glaube, das ist entscheidend. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Gernot Erler für die SPD-Fraktion.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im heutigen Russland treffen wir auf politische Entwicklungen, die nicht zueinander passen wollen. Am 14. Oktober wurden in fünf Föderationsgliederungen, nämlich in den Gebieten Amur, Belgorod, Brjansk, Nowgorod und Rjasan, Gouverneurswahlen abgehalten, und parallel werden in sechs Gebieten neue regionale Parlamente gewählt. Durchweg gewinnen bei den Gouverneurswahlen die Kandidaten der Kremlpartei Jedinaja Rossija, Einheitliches Russland, mit Ergebnissen zwischen 64 und 78 Prozent. Die Partei der Macht setzt sich auch bei den sechs regionalen Parlamentswahlen durch, mit 44 bis 78 Prozent - als hätte es nie die Proteste in den großen Städten gegeben, als hätte nie der oppositionelle Blogger Alexej Nawalny genau diese Partei der Macht mit einem bösen Attribut belegt. Er hat sie nämlich als „partija zulikow i worow“, als Partei der Gauner und Diebe, bezeichnet und damit bei den etwa 53 Millionen Internetnutzern in Russland fast den offiziellen Namen Einheitliches Russland verdrängt. Schon bei der ersten Gelegenheit bestätigt sich also die Einschätzung von Analytikern, die immer davor gewarnt haben, das real existierende Herrschaftsmonopol in der Russischen Föderation abzuschreiben, nachdem die Partei Einheitliches Russland bei den Duma-Wahlen im Dezember 2011 die Dreiviertelmehrheit, die sie bis dahin hatte, nicht mehr erreichen konnte und Wladimir Putin mit „nur“ 63,6 Prozent zum Präsidenten gewählt wurde. Eigentlich müsste man erwarten, dass solche Ergebnisse beruhigend wirken und in den Führungsetagen zu Gelassenheit ermutigen. Sie bestätigen ja obendrein, dass der Protest bisher Sache begrenzter Großstadtmilieus war, aber nicht die Weiten des russischen Landes erreicht hat. Aber wer dieser Logik folgt, muss erleben, dass von Gelassenheit keine Spur ist. Auf allen Ebenen wird der Protest eingeschüchtert. Es gibt Verhaftungen von oppositionellen Aktivisten und gerichtliche Anklagen gegen sie, die zu langjährigen Haftstrafen führen können. Grundlage dafür sind auch neue Gesetze, zum Beispiel zum Versammlungsrecht und zur öffentlichen Ordnung. Massive Maßnahmen richten sich gegen einzelne Mitglieder der Partei Spravedlivaja Rossija, Gerechtes Russland. Ursprünglich war sie eine vom Kreml inszenierte Neugründung. Aber während der Proteste wandelte sich Gerechtes Russland immer mehr zu einer oppositionellen Kraft in der Staatsduma. Dem dieser Fraktion angehörigen Abgeordneten Gennadij Gudkow wurde sein Duma-Mandat einfach entzogen, und seinem Unternehmen wurde die Existenzgrundlage genommen. Zu einem richtigen Skandalfall entwickelt sich derzeit die Anklage gegen den parlamentarischen Mitarbeiter Leonid Raswosschajew, ein Fall, mit dem sich sogar der Vorsitzende des Menschenrechtsrates, Michail Fedotow, beschäftigt. Offensichtlich geht es darum, seinen Arbeitgeber, den Gerechtes-RusslandAbgeordneten Ilja Ponomarjow, aus der Staatsduma zu drängen. ({0}) - Ja, er ist entführt worden. Traurige Berühmtheit hat auch das neue NGO-Gesetz erlangt, das alle zivilgesellschaftlichen Institutionen zwingt, aus dem Ausland kommende Mittel zu deklarieren und sich dabei selbst als Agenten des Auslands zu bekennen - ein durchsichtiges Verfahren; denn dadurch stehen die Verantwortlichen aller russischen NGOs, die für ihre Arbeit Unterstützungsmittel aus dem Ausland erhalten bzw. benötigen, schon mit einem Bein im Gefängnis. Gegen Auslandsagenten kann nämlich zu jedem beliebigen Zeitpunkt Anklage erhoben werden. Das Schuldeingeständnis liegt ja schon bereit. Diese Auflistung, Kolleginnen und Kollegen, die keineswegs vollständig ist und zu der man das abschreckende Strafmaß gegen die Aktivistinnen der Gruppe Pussy Riot und andere Vorgänge hinzufügen könnte, zeigen: Der Wieder-Präsident Wladimir Putin hat sich gegen einen Dialog mit der Opposition entschieden und damit viele Hoffnungen enttäuscht. Er hat sich entschieden für die Einschüchterung, die Kriminalisierung und die Zerstörung der Basisorganisationen der Opposition, zum Beispiel der Partei Gerechtes Russland; dafür steht dieses Vorgehen. Dabei kann der Kreml nicht mehr behaupten, es gebe ja gar keine legitimierten Ansprechpartner auf der anderen Seite. Bisher hatten wir es bei der russischen Opposition tatsächlich mit einem kopflosen Konglomerat höchst unterschiedlicher Menschen und politischer Gruppen zu tun. Aber am 20./21. Oktober dieses Jahres wurde ein 45-köpfiger Koordinationsrat gewählt, in dem auch je fünf Vertreter der drei unterschiedlichen oppositionellen Hauptströmungen - der Linken, der Liberalen und der Nationalisten - Sitz und Stimme haben. Immerhin haben sich mehr als 170 000 Wählerinnen und Wähler für diesen Wahlgang registriert, über 81 000 haben dann tatsächlich teilgenommen, die meisten per Internet. Dabei haben sie dem bereits genannten Blogger Alexej Nawalny, dem Schriftsteller Dmitri Bykow und dem ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow die meisten Stimmen gegeben. Wir können also feststellen: Dieselbe Machtstruktur, die während der beiden Wahlakte bestimmte Schwächen zeigte und der im Aufbau befindlichen Opposition damals einige Zugeständnisse einräumte, so beim Parteienund Wahlrecht, interpretiert die wiedergewonnene Position heute als Aufforderung, der Opposition die Luft zum Atmen zu nehmen. Ich glaube, in diesem Hohen Hause gibt es einen breiten Konsens, dass dies ein verhängnisvoller Irrtum ist. Ein Russland, das die noch junge, sich formierende parlamentarische und außerparlamentarische Opposition einzuschüchtern oder gar zu kriminalisieren versucht, wird es nicht schaffen, den breiten Diskurs bzw. Dialog über die richtigen Entwicklungswege des Landes in die Zukunft sicherzustellen, den Russland dringend braucht. Das jetzige Vorgehen wird eine doppelte Wirkung haben. Die einen werden resignieren und sich zurückziehen. Ein anderer Teil wird sich radikalisieren und immer wieder für Schlagzeilen sorgen, die Russlands Image im Ausland beeinträchtigen werden. Auf jeden Fall wird ein solcher Prozess Russlands Weg in die Moderne verlängern, einen Weg, bei dem man ohne umfassende Reformen und ohne eine Offenheit in der Gesellschaft lange und gefährliche Umwege einkalkulieren muss. Wie sollten wir uns verhalten? Längst ist erwiesen: Der bis zur Ermüdung erhobene drohende Zeigefinger bringt uns nicht weiter. Im besten Fall provoziert er, dass kritische Gegenfragen gestellt werden. Dazu gibt es überall - auch bei uns - Anlass. Im schlechtesten Fall wird die Tür zugeschlagen. Dies hätte negative Folgen, unter anderem für das 2007 vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier formulierte Angebot der Modernisierungspartnerschaft. Dieses Angebot beschränkte sich nie auf Kooperation allein auf dem Gebiet von Wirtschaft und Hightech. Es ist und bleibt ein offenes Angebot, das sich auf alle Fragen moderner Administration, auf Rechtsstaatlichkeit und Governance und auch auf die Nutzung zivilgesellschaftlicher Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung in einem Land bezieht, das globale Verantwortung anerkennt und übernimmt. Der kritische Kommentar zu gesellschaftlichen Fehlentwicklungen in der Russischen Föderation erzwingt aus unserer Sicht keineswegs den erhobenen Zeigefinger, sondern lässt sich auch mit der ausgestreckten Hand und mit einem strukturierten Meinungsaustausch auf gleicher Augenhöhe verbinden. Genau das wollte das Angebot der Modernisierungspartnerschaft von Anfang an. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff das Wort.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutsch-russische Regierungskonsultationen sind in der Tat gewöhnlich nicht ein Anlass dafür, dass sich der Bundestag mit drei Anträgen zur Lage in Russland und zu den deutsch-russischen Beziehungen befasst. Herr Kollege Erler, ich will Ihnen ausdrücklich beipflichten: Dass dies dennoch der Fall ist, zeigt, dass in der großen Breite des Bundestages eine erhebliche Sorge über die russische Politik und die innere Entwicklung Russlands besteht. In kürzester Zeit wurden seit dem 7. Mai gesetzgeberische und juristische Maßnahmen ergriffen, die auf eine wachsende Kontrolle aktiver Bürger abzielen, die kritisches Engagement kriminalisieren und die einen konfrontativen Kurs gegenüber Regierungskritikern bedeuten. Wenn in einem Mitgliedstaat des Europarats Demokratiestandards zurückgedreht, Rechtsstaatlichkeit eingeschränkt und repressive Tendenzen weiter verschärft werden, dann lässt uns das nicht gleichgültig, sondern erfüllt uns mit großer Sorge. ({0}) Das ist eine der Botschaften, die in allen drei Anträgen gleichermaßen zum Ausdruck kommt. Das ist eine wichtige gemeinsame Botschaft, die heute von diesem Hause ausgeht. Es erfüllt uns zugleich mit großer Sorge, dass diese Entwicklungen auch die Möglichkeiten der gegenseitigen Beziehungen einschränken, dass sie zu einer Entfremdung zwischen Russland und dem restlichen Europa führen. Das aber wollen wir nicht. Im Gegenteil: Wir wollen eine Vertiefung der Partnerschaft. Deshalb muss dies heute vor den deutsch-russischen Regierungskonsultationen zum Ausdruck gebracht werden. Um es klar zu sagen: Wir haben das Interesse an einer engen Kooperation mit Russland und nicht an seiner Isolierung. Wir wollen ein starkes, politisch und wirtschaftlich modernes und rechtsstaatlich verfasstes demokratisches Russland. Darum wollen wir auch eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland. Doch wir müssen uns auch einig sein, was wir unter Modernisierung verstehen. Über all das brauchen wir einen offenen und, wenn nötig, streitigen Dialog. Dabei geht es - auch darin sind wir völlig einig, Herr Kollege Erler - nicht um einseitige Kritik. Es geht um ein gemeinsames Verständnis darüber, was uns verbindet. Uns verbindet, wie gesagt, der Wunsch nach einem starken, politisch und wirtschaftlich modernen Russland. Doch Russlands innere Entwicklung steht zunehmend im Widerspruch zu seinem eigenen Anspruch, als moderne internationale Führungsmacht anerkannt zu werden. Für alle ehrgeizigen Projekte, die Russland sich vorgenommen hat, braucht es einen Konsens mit der eigeDr. Andreas Schockenhoff nen Bevölkerung. Doch wir sehen mit Sorge, dass die Polarisierung zwischen Staat und Gesellschaft weiter zunimmt. Gesellschaftlich engagierte Bürger werden von der Staatsmacht häufig nicht als Partner, sondern als Gegner verstanden. Sogar freiwilliges Engagement wird als verdächtig angesehen. Gleichzeitig nimmt die soziale Unzufriedenheit zu. Vor allem hält die Flucht von dringend benötigtem Kapital und von Vertretern der sogenannten kreativen Klasse weiter an. Das allein muss uns Sorgen machen. Ich stelle fest, dass dies keine Sorge allein der Koalitionsfraktionen ist. Im Antrag der SPD beispielsweise ähnlich im Antrag der Grünen - ist von der Gefahr einer „neuen Protestbewegung“ in Russland die Rede, „die das gesamte politische System ins Wanken bringen“ könnte. Mit Recht sagen Sie, dass ein politisch instabiles und wirtschaftlich kriselndes Russland nicht im Interesse Deutschlands und der EU sein kann. Deswegen geht es im Dialog mit Russland vor allem auch um eine Auseinandersetzung über unsere verschiedenen Modernisierungskonzepte. Die Modernisierungspartnerschaft beruhte auf einem gemeinsamen Verständnis von Zielen und Interessen von Modernisierung. Wir müssen heute feststellen, dass sich die Voraussetzungen geändert haben. In Russland hat sich die Debatte auf eine rein wirtschaftlich-technische Modernisierung verengt, in der - so sagt es der Präsident selbst - wie in den 30er-Jahren der militärisch-industrielle Komplex als Lokomotive fungieren soll. Nach unserem Verständnis braucht Innovation eben nicht Aufrüstung, sondern Kreativität, nicht Abschreckung, sondern Investitionen in „soft power“ wie Bildung, Rechtsstaatlichkeit, Stärkung von Mittelschicht und Mittelstand. ({1}) Ohne einen echten Dialog mit der Zivilgesellschaft, ohne eine Einbindung der Zivilgesellschaft wird es keine Modernisierung geben. Russlands Potenzial sind die Menschen: die gut ausgebildete, modern denkende, vernetzte Mittelschicht, die der wichtigste Träger für die Modernisierung des Landes wäre. Sie ist lange nicht mehr auf Moskau und Sankt Petersburg beschränkt. Diese Menschen wollen die Modernisierung mitgestalten. Sie fordern nach persönlicher Freiheit auch politische Rechte ein. Das aber erfordert auch eine politische und gesellschaftliche Modernisierung. Für eine solche Modernisierung wollen wir ein Partner sein - auch im Interesse unserer wirtschaftlichen Beziehungen. Deshalb sprechen wir uns für den Ausbau der Zusammenarbeit mit Russland zur Stärkung von Rechtsstaatlichkeit, transparenten Institutionen und effizienten Verwaltungen sowie zum Abbau der systemischen Korruption aus. Dabei ist die enge Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren ein wesentlicher Faktor. Ihre Arbeit darf nicht kriminalisiert oder behindert werden. Um die Zusammenarbeit mit Russland auf ein breiteres gesellschaftliches Fundament zu stellen, muss die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit zu einem neuen Schwerpunkt werden. Viele der russischen Akteure teilen europäische Werte wie individuelle Rechte, wirtschaftliche Freiheit und Transparenz. Sie sind unsere natürlichen Partner und sollten gezielt in die bilaterale Zusammenarbeit einbezogen werden. ({2}) Meine Damen und Herren, in unseren Beziehungen zu Russland brauchen wir nicht weniger Dialog und Zusammenarbeit, sondern mehr. Dazu gehören eine Verbreiterung der gesellschaftlichen Kontakte und ein Dialog, in dem die Unterschiede und Probleme nicht verschwiegen, sondern offen und kritisch angesprochen werden. Das ist unser Ansatz und Anspruch für die künftige Russland-Politik. In diesem Sinne bitte ich um eine breite Zustimmung zu unserem Antrag. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin, schönen Dank! Meine SPD-Kollegen haben mir gerade zugerufen, ich solle die gute Stimmung nicht kaputtmachen. Ich komme leider nicht ganz drum herum, das zu tun. ({0}) - Ich habe mir gedacht, dass Sie so reagieren. Ich denke, dass wir hier ein Zeichen dafür setzen sollten, dass die Türen für einen Dialog zwischen Russland und Deutschland offen bleiben müssen. Ich möchte, dass es bei der ausgestreckten Hand bleibt, Kollege Erler, und ich möchte, dass die Zeigefinger, mit denen Sie nach Russland zeigen, endlich verschwinden. ({1}) Ich habe überhaupt nichts von der StrickjackenFreundschaft zwischen Kohl und Gorbatschow im Kaukasus gehalten. ({2}) Diese Art von Freundschaft wurde dann mit Jelzin fortgesetzt. Ich habe auch überhaupt nichts davon gehalten, dass Gerhard Schröder Putin zum lupenreinen Demokraten erklärt hat. Darüber schweigen Sie sich hier auch aus. ({3}) Ich halte auch überhaupt nichts von den Wadenbeißereien des Kollegen Schockenhoff. So koordiniert man keine Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, so macht man Beziehungen kaputt. ({4}) Gerade wenn man einen offenen Dialog und eine kritische Auseinandersetzung will, muss man in anderer Art und Weise damit umgehen. Ich habe mir die ganze Zeit die Frage gestellt, wie wir eigentlich reagieren würden, wenn das russische Parlament, die Duma, jede Woche über Missstände in unserem Land reden und diskutieren würde. ({5}) - Es gibt keine Missstände; Ihre Meinung kenne ich. Wie würden wir reagieren? Ich finde es langsam befremdlich, welcher Ton hier angeschlagen wird, und ich glaube nicht, dass wir in dieser Art und Weise in der Zusammenarbeit mit Russland weiterkommen. ({6}) Gerade weil ich möchte, dass in Russland frei demonstriert werden kann und dass Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt werden, möchte ich eine andere Art des Umgangs. Dazu will ich Ihnen ein paar Vorschläge machen. Wenn man über Modernisierungspartnerschaft redet - zu Recht -, dann hat das natürlich eine wirtschaftliche Seite. Das streite ich überhaupt nicht ab, und das sollte auch keiner abstreiten. Modernisierungspartnerschaft hat aber auch eine soziale Seite. ({7}) Ich möchte, dass wir mit den russischen Partnern viel stärker die soziale Seite der Modernisierungspartnerschaft diskutieren und dass wir verstehen, dass es nicht nur darum geht: „Wir bringen euch etwas bei“, sondern dass das ein zweiseitiger Prozess ist. Herr Schockenhoff, ich muss ehrlich sagen: Wenn Sie Courage gehabt hätten, dann hätten Sie sich hier hingestellt und gesagt: Es ist eine Schande, wie meine Fraktion mit der Visafreiheit umgeht. ({8}) Wenn wir den russischen Partnern nicht die Visafreiheit anbieten - und zwar in deutlicher Weise - und emotional nicht begreifen, dass sie diese vor den Olympischen Spielen 2014 haben möchten, dann werden wir nicht weiterkommen. ({9}) - Arbeiten Sie weiter, Herr Kollege Mißfelder. Ich weiß ja, dass Sie es wollen, aber die Hardliner in Ihrer Fraktion bremsen in dieser Angelegenheit. Ich finde, dass Modernisierungspartnerschaft auch eine Demokratiepartnerschaft beinhaltet. Ich möchte, dass wir in fairer Art und Weise mit Russland über Demokratie und den Ausbau von Demokratie diskutieren und die Zivilgesellschaft stärken. Dazu gehört für mich auch, dass nicht immer nur Privatisierung das Ergebnis einer solchen Politik sein soll und sein darf. Ich möchte gerne, dass wir mit Russland eine Kulturpartnerschaft eingehen. Das kann ein ganz wichtiger zweiseitiger Schritt sein. Hier geht es nicht nur um Hochkultur, sondern Russland ist eine Basis für vielfältige kulturelle Ausdrucksformen. Ich möchte, dass wir so etwas auch nach Deutschland holen und hier präsentieren. Das Russlandjahr in Deutschland und umgekehrt das Deutschlandjahr in Russland haben doch kein Profil. ({10}) Letztendlich möchte ich, dass es eine Friedenspartnerschaft ist. ({11}) Ich frage Sie, warum in Ihrem Antrag zu solchen Dingen wie der Sorge Russlands vor dem sogenannten Raketenabwehrsystem überhaupt nichts steht. Das ist der Eiserne Vorhang, der hier aufgebaut wird. ({12}) Vor solchen Fragen drücken Sie sich. Deswegen kann man auch das, was Sie vorschlagen, nicht besonders ernst nehmen. Ich möchte gerne, dass wir in einer anderen Art und Weise mit Russland umgehen. Das ist eine wichtige Partnerschaft. Ich bitte Sie, ziehen Sie den ausgestreckten Zeigefinger ein. Er ist unter uns nicht angebracht, und im Verhältnis zu Russland ist er erst recht nicht angebracht. Schönen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise Beck das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenigstens ist auf Sie, Herr Gehrcke, Verlass. Ich bin begeistert. ({0}) Marieluise Beck ({1}) Denn es kam der zu erwartende Spin: Wir Deutschen dürfen Russland nicht mit erhobenem Zeigefinger kritisieren; denn der Russe ist sensibel. - Nun würde ich sagen: Das russische Volk kritisieren wir in der Tat nicht; zu dem wollen wir Freundschaft. Dass die ehemaligen Herren vom KGB, die heute im Kreml sitzen, so hochsensibel sein sollen, daran mache ich allerdings mein Fragezeichen. ({2}) Aber ich will Ihnen gerne folgen und schlage vor, einmal einen Perspektivwechsel vorzunehmen und tatsächlich nicht über Russland zu sprechen, sondern über unsere Moral und über unsere Werte. Beispiel eins: Siemens. Siemens zahlte in den Jahren 2005 und 2006 rund 3 Millionen US-Dollar an Schmiergeldern im Zusammenhang mit einem Moskauer Verkehrsprojekt. Daraufhin wurde eine russische SiemensTochter für vier Jahre von Weltbankausschreibungen ausgeschlossen. Inzwischen hat sich Siemens - das muss man fairerweise sagen - dazu verpflichtet, Antikorruptionsmaßnahmen unter anderem bei den Vereinten Nationen 15 Jahre lang mit etwa 5 Millionen Euro jährlich zu unterstützen. Beispiel zwei: Daimler. Daimler zahlte zwischen 2000 und 2005 etwa 4 Millionen Dollar an Vertreter der russischen Regierung, um den Verkauf von Limousinen für den Sicherheitsapparat abzusichern. Die Empfänger von Schmiergeld saßen unter anderem im russischen Innenministerium und im russischen Fahrdienst für Staatsgäste. Beispiel drei: Im Jahr 2009 trafen sich Manager einiger wichtiger Dax-Konzerne, also deutscher Firmen, drei Stunden lang bei Präsident Putin. Dies waren Daimler, Siemens, Metro, Eon, Deutsche Bahn, Fraport, Volkswagen und die Commerzbank. Sie haben drei Stunden persönlich mit Putin sprechen können. Es ging um die Teilnahme der deutschen Unternehmen am Privatisierungsprogramm des Kremls, und Putin versprach jede Hilfe. Haben die Herren bei dieser Gelegenheit den Fall Chodorkowski angesprochen? Haben die Herren jemals geäußert, es beunruhige sie, dass ein Unternehmen wie Jukos mithilfe der Steuerbehörden willkürlich zerschlagen werden kann, dann über eine Briefkastenfirma aufgekauft, dem Staatskonzern Rosneft einverleibt und auf diese Art und Weise letztlich wieder dem Staat zurückgeführt worden ist? Haben die Herren mal gesagt: „Herr Präsident, das beunruhigt uns; denn wir haben Assets in einem Land zu vertreten, auf dessen rechtsstaatliche Strukturen wir uns verlassen können wollen“, oder haben sie nur auf den großen Absatzmarkt in Russland geschaut? Beispiel vier: der Deal BP/Rosneft. Den Deal zwischen BP und dem russischen Staatskonzern Rosneft hat Putin als ein gutes Geschäft zu einem guten Preis bezeichnet. Damit ist Rosneft zum größten börsennotierten Ölkonzern der Welt aufgestiegen. Die Zerschlagung von Jukos und die Verfolgung von Chodorkowski waren Voraussetzung für diesen Deal; denn Rosneft hat diese Aktien von Jukos erst bekommen, nachdem Jukos zerschlagen worden war, und ist auf diese Art und Weise an die Spitze der russischen Erdölproduzenten aufgestiegen. BP hat Anteile im Milliardenwert von Rosneft übernommen. Im Bürgerlichen Gesetzbuch nennt man solche Ware „Hehlerware“. Deswegen würde ich sagen: Wer sich so verhält, kann in Russland nicht mit starker Stimme für Rechtsstaatlichkeit eintreten. Diese Doppelmoral wäre nämlich ein Problem. Kurz zu unserem Abstimmungsverhalten. Wir bitten darum, dass über den ersten Absatz der Ziffer I im Antrag der Koalitionsfraktionen gesondert abgestimmt wird. Wir gehen nämlich nicht davon aus, dass Russland derzeit ein strategischer Partner sein kann. Das ist nur eine Zielsetzung. Ansonsten gilt aber: Nachdem es dem Kollegen Schockenhoff gelungen ist, das, was Patrick Kurth eben gesagt hat, sozusagen wieder herauszunehmen, meinen wir, dass wir dem anderen Teil des Antrags zustimmen können. So viel dazu, um das etwas ungewöhnliche Abstimmungsverfahren zu erklären. Schönen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich möchte auf die Kontroverse zwischen Herrn Gehrcke und Frau Beck nicht weiter eingehen. Zu der Zeit meiner politischen Sozialisation beurteilten die hinter Ihnen beiden stehenden politischen Kräfte das politische Moskau nicht so kontrovers, wie das heute hier zutage getreten ist. ({0}) Ich möchte Ihnen, lieber Herr Gehrcke, in aller Freundschaft in einem Punkt widersprechen. Es geht um Ihre Kritik an der Strickjackenfreundschaft zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow. Ich glaube, diese Freundschaft war eine große Sache. Strickjacke und Hausschuhe sind besser als Panzer und Stacheldraht. Das hat uns eigentlich alle gut vorangebracht. ({1}) Diese Debatte wäre unehrlich, Frau Beck, wenn wir gerade mit Reminiszenz an die Vergangenheit nicht alles sagen würden, egal aus welchem politischen Lager wir kommen: Das heutige Russland mit all seinen Problemen hat in Sachen Freiheit und Demokratie im Vergleich zur gulagischen Sowjetunion einen riesigen Sprung, quasi einen Jahrhundertsprung, gemacht. Wir können uns gar nicht vorstellen, mit welchen Problemen und Schwierigkeiten dies im Einzelfall verbunden ist. Deutschland mit seiner Unterschrift unter die Europäische Menschenrechtskonvention im Jahr 1953 und Russland mit seiner Unterschrift 40 Jahre später haben eine unwiderrufliche Wertentscheidung getroffen. Was die Entscheidung Russlands, die EMRK zu unterschreiben, betrifft: Die meisten meines Alters hätten nie gedacht, dass sie dies einmal erleben würden. Diese Unterschrift war es - das ist keine Frage von rechts oder links -, die die moralische und ideologische Teilung Europas im 20. Jahrhundert beendet hat. Das heißt nicht, dass es uns verboten wäre, wechselseitig auf Defizite hinzuweisen. Das geschieht auch in unserem Antrag. Aber eines muss ganz klar sein: Wir, Russen und Deutsche, führen diese Debatte aufgrund unserer beider Unterschrift auf der gleichen moralischen Grundlage. Insofern möchte ich das unterstreichen, was Herr Schockenhoff sagte: Ziel dieses Antrags ist keine neue geistige Mauer, sondern Ziel dieses Antrags ist die Vertiefung der Partnerschaft. Partner halten solche Debatten aus. ({2}) Wir haben uns durch die Unterschrift unter die EMRK sozusagen auf den gleichen moralischen Violinschlüssel geeinigt. Ich habe, Frau Beck, unter Würdigung Ihrer Tätigkeit im Fall Timoschenko in der Ukraine - Sie erinnern sich vielleicht an die Debatte, die wir im Auswärtigen Ausschuss dazu hatten - damals schon darauf hingewiesen, dass in Art. 33 der EMRK die sogenannte Staatenbeschwerde vorgesehen ist. Das heißt, die Partnerstaaten können Menschenrechtsbeschwerden vor einem supranationalen Gericht ansprechen. Dies ist vermeintlich härter als politische Resolutionen. In Wahrheit ist dies ein menschenrechtliches Schiedsgericht unter Partnern. Wenn hier jeder Einzelne von uns - das bezieht sich auch auf die Regierung; ich freue mich, dass ein Vertreter des Justizministeriums anwesend ist - von den Beschwerden überzeugt ist, die in allen drei Anträgen mit unterschiedlicher Intensität enthalten sind, dann muss man die Kraft haben - dabei schließe ich die russische Seite mit ein -, dies einem supranationalen Gerichtshof, der in Art. 33 der EMRK vorgesehen ist, vorzulegen. Dies ist besser - ich sage das hier ganz offen - als der Weg ständiger politischer Resolutionen. Warum? Politische Äußerungen sind immer - nicht bei den hier Anwesenden, wohl aber bei allen anderen - von politischen Zwecken geleitet. Der erfahrene Politiker weiß: Man kann auch mit der Wahrheit lügen. ({3}) - Wenigstens einer. ({4}) Der erfahrene Politiker weiß auch: Das eine ist die Ethik, das andere die Heuchelei. Die Frage nach Ethik und Heuchelei müssen auch die Deutschen in dieser Debatte bedenken. Ich bin dankbar, dass meine Fraktion versucht hat, in ihrem Antrag, für den ich hier spreche, auch auf den Gesichtspunkt der Zusammenarbeit hinzuweisen. Ein kurzes - bewusst nicht aktuelles - Zitat vom Dezember 1180. Der Sekretär des Erzbischofs von Canterbury, ein gewisser John von Salisbury, schrieb: Wer hat die Deutschen zu Richtern über die Völker gesetzt? Wer hat diesen rohen und brutalen Leuten das Recht gegeben, nach ihrem Belieben einen Fürsten über die Häupter der Menschenkinder zu setzen? Eines muss ganz klar sein: Der Deutsche Bundestag will nicht den Eindruck erwecken, dass wir uns zu Richtern über andere Völker erheben. ({5}) Nun zu der von Ihnen, Herr Kollege Erler, angesprochenen Debatte über Pussy Riot. Ich empfehle die Lektüre des neuen Buchs von Peter Scholl-Latour, einem unserer anerkanntesten Journalisten, Die Welt aus den Fugen, in dem die Frage gestellt wird, ob dieses aufsässige Trio seinen Klamauk nicht sinnvollerweise vor dem Mausoleum Lenins am Roten Platz hätte aufführen sollen. ({6}) Denn die Moskauer Erlöserkirche war seinerzeit durch Stalin gesprengt und in ein Schwimmbad umgewandelt worden. Wir sind insbesondere nicht Richter über die russisch-orthodoxe Kirche und bewundern den Kampf, den diese Kirche über Jahrzehnte im besetzten Russland geführt hat. Ich finde es gut, dass in unserem Antrag neben der Modernisierungspartnerschaft auf die kulturelle Partnerschaft hingewiesen wird. Man kann sagen, dass sich die Dinge hier extrem zum Besseren entwickelt haben. Das Goethe-Institut Moskau hat die Reichweite seiner Programme von rund 23 000 Personen auf über 100 000 Personen im letzten Jahr erhöht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gauweiler, das alles sind sicherlich sehr wichtige Fakten. Aber achten Sie bitte einmal auf das Signal, und kommen Sie zum Schluss.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich leite die Landung ein, Frau Präsidentin. - Das Goethe-Institut Nowosibirsk hat mittlerweile seine Reichweite ebenfalls auf rund 100 000 Personen erhöht. Das Goethe-Institut Sankt Petersburg hat seine Reichweite von 14 000 auf sogar über 130 000 Personen erhöht. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben vor diesem Hintergrund in unserem Antrag Folgendes erklärt - das ist uns wichtig -: „Russland ist unabdingbar für eine gesamteuropäische Friedensordnung.“ Vielen herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/11327 mit dem Titel „Durch Zusammenarbeit Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit in Russland stärken“. Interfraktionell ist vereinbart, über den ersten Absatz der Ziffer I des Antrags einerseits und über den übrigen Antrag andererseits getrennt abzustimmen. Wir stimmen daher zuerst über den ersten Absatz der Ziffer I des Antrags auf Drucksache 17/11327 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der erste Absatz der Ziffer I des Antrags ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. ({0}) Wir kommen nun zur Abstimmung über den übrigen Teil des Antrags auf Drucksache 17/11327. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag insgesamt angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke. ({1}) Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/11391. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11005 mit dem Titel „Gemeinsam die Modernisierung Russlands voranbringen - Rückschläge überwinden - Neue Impulse für die Partnerschaft setzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Es ist heute eine gewisse Herausforderung. Das zeigt aber, dass nicht alles so ist, wie manch einer denkt. ({2}) Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11002 mit dem Titel „Keine Modernisierung Russlands ohne Rechtsstaatlichkeit“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 48 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09 - Drucksache 17/11314 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für die Unionsfraktion. ({4})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es geht um ein Gesetz, mit dem wir Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung umsetzen und umsetzen müssen. Mit diesem Gesetzentwurf werden wir den europarechtswidrigen Zustand auch mit Wirkung für die Vergangenheit beseitigen. Die von dem EuGH-Urteil betroffenen ausländischen EU-Körperschaften, also Aktiengesellschaften und GmbHs, werden von der Kapitalertragsteuer bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen entlastet. Eine Erstattung erfolgt für diese Gesellschaften allerdings nur, soweit sie nachweisen, dass die deutsche Kapitalertragsteuer im Ausland weder angerechnet noch als Betriebsausgabe abgezogen worden ist. Es gibt also keine doppelte Entlastung, sondern nur eine, und zwar dann, wenn im eigenen Land eine Belastung erfolgt ist. Diese Umsetzung ist zwingend. Sie führt zu jährlichen Erstattungen und damit zu Steuerausfällen in der Größenordnung von 650 Millionen Euro. Aber diese Umsetzung ist notwendig, und sie ist richtig; denn die Steuerfreiheit konzerninterner Dividenden, also von Gewinnausschüttungen im Rahmen eines mehrfach gestuften bzw. verschachtelten Konzerns, entspricht dem Teileinkünfteverfahren, und dieses Teileinkünfteverfahren im Unternehmensteuerrecht haben wir damals, 2008, in der Großen Koalition als Verfahren bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaftsgewinnen eingeführt. Da ist es üblicherweise so, dass in einem ersten Schritt die Besteuerung auf der Ebene der Kapitalgesellschaft stattfindet - mit Gewerbesteuer und Kapitalertragsteuer. Das sind zusammen ungefähr 30 Prozent. Danach wird in einem zweiten Schritt die Ausschüttung, die Dividende, von dem privaten Gesellschafter, der diese Dividende erhält, versteuert. Er zahlt Abgeltungsteuer und Solidaritätszuschlag, sodass er letzten Endes bei einer Besteuerung von 49,5 Prozent, also fast 50 Prozent, landet. Dieses System ist sinnvoll und konsistent mit unserem bisherigen Unternehmensteuerrecht. Es entspricht, wie ich gesagt habe, dem Teileinkünfteverfahren. Wenn wir es anders machen würden, insbesondere so, wie der Bundesrat es vorschlägt, dann würden wir zu einer Überbesteuerung von konzerninternen Gewinnen kommen. Es würden dann richtige Kaskadeneffekte entstehen. Das heißt, über je mehr Ebenen ein Gewinn innerhalb eines Konzerns weitergereicht wird, desto mehr Besteuerungsstufen hat man. Wenn man eine weitere Tochterebene und damit zwei Ebenen hat, würde man zu einer Gesamtbelastung von 64 Prozent kommen. Ich habe es eben schon gesagt: Normalerweise beträgt die Steuerlast 49,5 Prozent. Mit einer weiteren Tochterebene in dem Konzern ist man schon bei einer Steuerlast von 76 Prozent. Kommt dann noch eine Tochterebene in dem Konzern hinzu, liegt man bei einer Besteuerung des Gewinns in Höhe von 83 Prozent. Daran kann jeder erkennen, dass der Vorschlag des Bundesrates in die Irre führt. ({0}) Der Vorschlag des Bundesrates würde nur dazu führen, dass wir jetzt, am Jahresende, panische Beteiligungsverkäufe erleben würden. Alle würden nämlich ihre Streubesitzbeteiligungen zu verkaufen suchen. Viele Fonds würden dies versuchen, weil sie sich jetzt noch steuerfrei bzw. zu vernünftigen Steuersätzen von den Beteiligungen trennen könnten. Das heißt, wir würden einen Run von Beteiligungsverkäufen im Fondsbereich auslösen. Das wäre - ich sage das so deutlich - absoluter Schwachsinn. Wir würden zu einer völlig ungleichmäßigen Besteuerung von Unternehmensgewinnen in Deutschland kommen, wenn wir - was wir durch das Teileinkünfteverfahren gerade nicht machen wollen - die Gewinne im Grunde kaskadenmäßig, je nachdem, wie viele Tochterebenen es in einem Konzern gibt, besteuerten. Wir würden damit auch viele Unternehmen zwingen, entweder ihre gesellschaftsrechtlichen Strukturen zu verändern, was teuer, aufwendig und blödsinnig wäre, oder ihren Holdingsitz aus Deutschland zu verlagern. Wir haben aber ein großes Interesse daran, dass möglichst viele Gesellschaften einen Holdingsitz in Deutschland haben, weil wir deren Steuern einnehmen wollen. ({1}) Wir wollen diese Steuereinnahmen in Deutschland. Wir wollen diese Unternehmen nicht vertreiben. Diese würden dann demnächst ihren Konzernsitz von Deutschland nach Holland oder Österreich verlegen, weil dort die Besteuerungsgrundlagen genau die sind, die wir mit diesem Gesetzesvorschlag schaffen wollen. Der Punkt ist: Ich möchte keine Unternehmen vertreiben, sondern ich möchte diese Unternehmen hierbehalten, damit wir sie weiter hier besteuern und weiter 50 Prozent von Unternehmensgewinnen von Aktiengesellschaften und GmbHs in Deutschland kassieren können. Sie würden mit dem Vorschlag, der über den Bundesrat eingereicht worden ist, vor allem auch die betriebliche Altersvorsorge schädigen. Denn die Anbieter von betrieblicher Altersvorsorge legen zu großen Teilen in Wertpapieren, vor allen Dingen in Aktien, an, und zwar nicht in großen Paketen, sondern sie haben in der Regel Streubesitz. Ihre Beteiligungen sind niemals größer als null Komma irgendwas, 1, 2 oder 3 Prozent. Das wären genau die Fonds, die verkaufen müssten. Die Sozialdemokraten haben ein Rentenkonzept vorgelegt, mit dem sie die betriebliche Altersvorsorge ausdrücklich fördern wollen. Welchen Sinn hat es denn, wenn ihr den Leuten Zuschüsse zu ihrer betrieblichen Altersvorsorge geben wollt, aber das Konzept der betrieblichen Altersvorsorge mit Streubesitz bei Aktienbeteiligungen vorher kaputthaut? Völliger Blödsinn, kann ich dazu nur sagen. ({2}) Benachteiligt würden auch Fondsanlagen steuerbefreiter institutioneller Anleger. Sie würden damit Kirchen, Stiftungen und bisher steuerbefreite Pensions- und Unterstützungskassen treffen. Was auch ganz gefährlich und problematisch wäre: Wir würden damit unsere Start-up-Finanzierung gewaltig beschädigen. Denn in der Regel gibt es bei den Startup-Unternehmen keine großen Beteiligungen, sondern sie leben häufig von vielfältigen Streubeteiligungen und Kleinstbeteiligungen, weil natürlich keiner sein ganzes Geld dort investieren will, sondern sich mit ein paar Euro an einem Start-up beteiligt, um ihm die Chance zu geben, die ihm beigemessen wird. Diese Finanzierung von Start-up-Unternehmen in Deutschland, also von Unternehmen, die sich in der Gründungs- und Aufbauphase befinden, würden wir - das haben sie uns schon mit Nachdruck transportiert - massiv beschädigen. Ich kann nur dringend davon abraten, dem Vorschlag des Bundesrates näherzutreten. ({3}) Die Ungleichbehandlung von ausländischen und inländischen Anteilseignern müssen wir beseitigen - das ist klar -, aber nicht dadurch, dass wir die Inländerbesteuerung verschlechtern, sondern dadurch, dass wir ein Erstattungssystem einrichten. Ich habe dieses System eben vorgestellt. Was wir hier vorschlagen, entspricht im Übrigen dem Modell, das in Österreich bereits Gesetz ist, das dort schon existiert. Ich halte es für eine gute Regelung, dass unter klaren und eindeutigen Bedingungen eine Erstattung erfolgt. So sollten wir es hier auch machen. Wir müssen immer sehen - ich habe das eben schon gesagt -: Unser Unternehmensteuerrecht steht im WettDr. Mathias Middelberg bewerb. Wir leben nicht auf einer Insel, sondern wir leben mit anderen zusammen; da besteht ein Kontext. Wenn wir das nicht so umsetzen, wie wir es jetzt vorschlagen, sondern einen anderen Weg wählen, etwa den, den der Bundesrat vorschlägt, wird das dazu führen, dass Steuerausfälle - bei dem von uns vorgeschlagenen Verfahren werden ja Steuerausfälle beklagt - erst recht eintreten. Wir würden, wenn wir es so regeln würden, wie der Bundesrat es vorschlägt, erst recht Steuersubstrat, also Masse, die wir besteuern können, verlieren. Mehrere Unternehmen - ich habe es eben gesagt - würden dann darüber nachdenken, den Konzernsitz ins Ausland zu verlegen, den Konzern anders zu strukturieren. Wir würden dann massive Steuerausfälle haben. Ich kann nur sagen: Solche Aktionen sind nicht im Interesse unseres Steueraufkommens insgesamt. Sie sind auch nicht im Interesse der beteiligten Arbeitnehmer; denn solche Sitzverlegungen können irgendwann dazu führen, dass das ganze Unternehmen Deutschland verlässt. All das möchte ich nicht. Deswegen werbe ich um Zustimmung zu unserem Gesetzesvorschlag. Vor dem Weg, den der Bundesrat alternativ vorgeschlagen hat, kann ich nur dringend warnen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar Binding das Wort.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Middelberg hat schon erklärt, warum das ein kompliziertes Thema ist. Was uns an dieser Stelle besonders ärgert, ist, dass wir uns die Chance genommen haben, eine gemeinsame Lösung zu suchen für das Problem, dass wir hier Steuerausfälle zu gewärtigen haben. Sie haben gesagt, es seien 650 Millionen Euro. Das ist schon viel. Aber die Schätzungen gehen in noch größere Dimensionen. Solche Steuerausfälle sind in der Lage, in der wir in Deutschland sind, nicht gut zu verkraften. ({0}) Sie haben gesagt: Wir folgen jetzt dem Modell Österreich. - Okay, es gibt auch noch andere Länder, die das so ähnlich machen, wie Sie es jetzt regeln wollen. Ich nenne England, Estland und Ungarn. Aber es gibt auch Länder, die es eben anders regeln, so, wie die von uns geführten Bundesländer das vorschlagen. Übrigens, Hessen wollte da ähnlich initiativ werden, aber das ist in letzter Sekunde gestoppt worden. Jetzt müssen andere Länder einspringen. Die Steuerpflicht haben Belgien, Frankreich, die Niederlande und Polen, aber interessanterweise auch die USA. Das hätte man doch gar nicht vermutet, wenn man Ihren Argumenten Glauben schenken würde. Im Moment leiden wir ein bisschen darunter, dass uns die Flut großer und wichtiger Gesetzesvorhaben sozusagen überrollt. Darunter leidet auch dieses Gesetzgebungsvorhaben. Das hat uns nämlich die Zeit genommen, über gute Lösungen nachzudenken. Die Steuerfreistellung beim Streubesitz steht im Fokus Ihrer Gesetzgebungsarbeit und nicht die Gemeinschaft, nicht der Staat. Wir sagen: Es wäre besser gewesen, eine Lösung zu finden, die den Unternehmen hilft, ihnen nicht schadet, aber auch dem Staat hilft und ihm nicht schadet. Der Möglichkeit, diesen Kompromiss zu suchen, haben Sie uns beraubt. Denn es existieren Alternativen. Die erste Alternative ist: Wir hätten das, was Sie jetzt vorschlagen, nämlich einfach alles steuerfrei zu stellen, schon im Jahressteuergesetz 2013 regeln können. ({1}) Die steuerliche Freistellung von Dividenden hat schon was Besonderes; viele denken über Dividenden gar nicht nach. Sie hätten sich in Kooperation mit dem Bundesrat auf eine Gesetzgebung verständigen können, die all die genannten Probleme löst. Allerdings haben Sie das nicht gewollt. Ich glaube, ich weiß, warum Sie es nicht im Jahressteuergesetz regeln wollten. Da wäre es nämlich untergegangen. Sie wollten das ins Schaufenster stellen und zeigen: Seht, wir helfen euch! Aber was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist, dass ausländische Körperschaften - es geht nicht um Privatpersonen, die sich irgendwo beteiligen - künftig Steuern auf Dividenden bei deutschen Beteiligungen sparen. Die Frage ist, ob es wirklich klug ist, eine Dividende, die einen Gewinn im Rahmen einer Aktienbeteiligung darstellt, steuerfrei zu stellen. Wir glauben, dass das für unseren Fiskus schlecht ist. Uns stört, dass Sie uns keine Alternativen vorgestellt oder untersucht haben und alles, was denkbar war, verworfen haben. Worum geht es? Der EuGH - das haben Sie eben vorgetragen - hat gesagt: Man darf ausländische Beteiligungen an deutschen Unternehmen und inländische Beteiligungen an deutschen Unternehmen nicht ungleich behandeln. Die müssen gleich behandelt werden. Es gibt zwei Schnelllösungen: Die eine Schnelllösung ist: Man stellt alles steuerfrei. Das sagen Sie. Das kostet den Staat viel. ({2}) Die zweite Schnelllösung ist: Man macht alles steuerpflichtig. Das könnten wir jetzt vorschlagen. Dies wäre in unserem Sinne, es wäre eine gute Lösung. Doch wäre es die eigentliche Aufgabe gewesen, zu überlegen, ob es nicht Gründe gibt, für bestimmte Konstellationen Befreiungen zu erwirken. Denn wir wollen natürlich auch keinen Schaden anrichten. Steuerfreiheit für alle lässt sich allerdings überhaupt nicht rechtfertigen. Denn Streubesitz kann man mit einem Verhältnis Lothar Binding ({3}) unter fremden Dritten vergleichen. Es gibt überhaupt keinen Grund, die Dividendenzahlungen steuerfrei zu stellen. Sie haben vorhin die Steuerfreistellung bei der Schachteldividende erwähnt. Das ist ohnehin klar; das ist schon seit langem so. Dies hat nie Probleme gemacht. Dafür gibt es einen guten Grund: Für den Fall eines engen Konzernverbunds, wo die Beteiligungsmacht so groß ist, dass man Einfluss auf seine Tochter, seinen Enkel, seinen Urenkel ausüben will, könnte eine Ausschüttungskaskade und im Extremfall eine 100-Prozent-Besteuerung entstehen. Dies soll vermieden werden. Es wäre aber auch eine gute Idee gewesen, andere Länder zu fragen, was sie machen. Nils Schmid, Finanzminister in Baden-Württemberg, hat einen guten Vorschlag gemacht. Er hat gesagt: Lasst uns gemeinsam überlegen, wie wir die Probleme, die aus der Besteuerung aller entstehen, für bestimmte Beteiligte lösen können. Leider ist dieser Ball nicht aufgegriffen worden. ({4}) - Das wissen Sie ja noch gar nicht. Sie haben ja noch gar nicht vorgetragen, welche Probleme in anderen Modellen entstehen würden. Man müsste sich vielleicht sogar fragen, ob die Steuerfreistellung der Schachteldividende in der Weise gerechtfertigt ist, wie wir immer argumentieren. Denn die Frage ist: Warum gibt es überhaupt diese überkomplexen Konzernstrukturen? Warum muss ein Konzern neben einer Tochter einen Enkel, einen Urenkel - bis zu einer Schachteltiefe von 15 - haben? Warum muss das sein? Im Regelfall ist die Tochter etwa in Italien, der Enkel in Andorra, der Urenkel in Liechtenstein. Irgendwann kommt das Geld steuerfrei und unter einem anderen Namen nach Deutschland zurück. Man muss sich überlegen, ob das überhaupt Sinn macht. ({5}) Hier geht es um etwas anderes. Hier geht es um Streubesitz. Streubesitz sind ganz kleine Beteiligungen. Wenn ich kleine Beteiligungen habe, bekomme ich wenig Dividende. Bei einer geringen Dividende ist die Steuerlast klein, das Problem also nicht groß. ({6}) - Ja, das stimmt. Das muss man sich überlegen. Ich wollte nur deutlich machen, dass es nicht um strategische Beteiligungen geht, sondern um Streubesitzbeteiligungen. Unsere Aufgabe wäre es gewesen, steuersystematisch und fiskalpolitisch zu überlegen, was man tut. Das wäre wichtig gewesen; denn es gibt Steuern, wie in meinem eben angedachten Vorschlag, die kontraproduktiv arbeiten. Das wollen wir nicht. ({7}) Auch unsere Wirtschaftspolitiker haben den Finger gehoben. Wolfgang Tiefensee sagt: Wir müssen aufpassen, dass Wagnisbeteiligungsgesellschaften keine Probleme bekommen. Denn wir brauchen Innovationen. Wir brauchen einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft. Wir brauchen auch Existenzgründer. Manche sprechen auch von Business Angels, obwohl sie hier nicht gemeint sind; denn Business Angels zahlen Einkommensteuer und sind von der heutigen Vorlage überhaupt nicht betroffen. Business Angels sind außerdem nicht nur Angels, sie machen auch Business und beteiligen sich an einem erhöhten Risiko - mit der Erwartung dann auch höheren Gewinns. Man muss also aufpassen. Über die Business Angels debattieren wir aber nicht. Die Gründerszene ist uns jedoch wichtig. Deshalb müssen wir schauen, ob wir die Wagnisbeteiligungsgesellschaften nicht anders behandeln sollten als die, die wir ansonsten besteuern. ({8}) - Das wollen wir gar nicht. Die Frage ist, ob wir eine außersteuerliche Lösung finden. Darüber haben Sie gar nicht nachgedacht. Im Umfeld von guter Bildung - gute Arbeit ist Ihnen eher fremd -, guter Forschung haben die Gründungsszene und die Wagniskapitalgeber eine eminent hohe Bedeutung. Es wäre wichtig gewesen, darüber nachzudenken, wie wir das Steuersubstrat in Deutschland erhalten, ohne diese Szene zu schädigen. Das ist die eigentliche Aufgabe. Haben Sie sich darum gekümmert? Leider Fehlanzeige! Das wäre eine richtig gute Aufgabe gewesen. Wenn Sie sich übrigens erinnern: Wir haben das Ganze in der Großen Koalition schon einmal versucht, nämlich beim MoRaKG, beim Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen. ({9}) Die Europäische Kommission hat aber gesagt: Vorsicht, das ist europarechtswidrig. Dann haben wir nach neuen Lösungen gesucht. Da hätten Sie sich anschließen müssen. ({10}) Das haben Sie aber nicht getan. Sie haben einfach gesagt: Wir machen alles steuerfrei. Damit haben Sie zwar kein Problem gelöst, dafür aber dem Fiskus und dem deutschen Steuerzahler ein Problem bereitet; denn die Steuerausfälle der einen sind immer Steuererhöhungen für die anderen. ({11}) Wir sprechen uns dagegen aus; denn wir sind für eine gerechte Besteuerung. Dieser ungerechten Besteuerungstaktik werden wir nicht folgen. Ich bin gespannt, welche Lösungsvorschläge wir in der Debatte noch hören werden. Schönen Dank. Lothar Binding ({12}) ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Volker Wissing das Wort. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Binding, das ist heute die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs. Es ist noch nicht das Ende des Gesetzgebungsverfahrens, sondern erst der Beginn. Jetzt müssen Sie mir einmal in der Öffentlichkeit erklären, weshalb wir Ihnen die Chance genommen haben, sich in dieses Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Das erschließt sich mir jedenfalls nicht. ({0}) Worum geht es? Der EuGH hat vor einem Jahr festgestellt, dass ausländische Kapitalgesellschaften, die mit weniger als 10 Prozent an einer deutschen Aktiengesellschaft beteiligt sind, gegenüber deutschen Kapitalgesellschaften mit gleicher Beteiligung benachteiligt werden. ({1}) Es geht um einen Sachverhalt, der aufgearbeitet werden muss. Es ist wahr, dass das Ganze schon einige Zeit zurückliegt. Es hat eine breite Diskussion unter Steuer- und Finanzpolitikern auf Landes- und auf Bundesebene gegeben. Insofern hat die erste Lesung schon einen gewissen Vorlauf gehabt. Der Grund für diese Ungleichbehandlung liegt darin, dass bei reinen Inlandssachverhalten die einbehaltene Quellensteuer auf Dividenden mit der Körperschaftssteuerschuld verrechnet werden kann und bei Auslandsbezug wegen der Versagung der Veranlagung eine Definitivbelastung in Höhe von 15 Prozent besteht. Diese Ungleichbehandlung muss jetzt beseitigt werden. Was tut die Koalition? Wir erhalten die Steuerfreiheit inländischer Streubesitzdividenden und führen für Streubesitzdividenden mit Auslandsbezug ein Verfahren ein, das eine Ungleichbehandlung verhindert, und tragen damit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Rechnung. Dabei orientieren wir uns - Herr Kollege Middelberg hat es gesagt - an dem Verfahren, das die Österreicher erfolgreich praktizieren. Deutschland wird demnach die gezahlte Kapitalertragsteuer erstatten, wenn eine Verrechnung im Anteilseignerstaat nicht möglich ist. Damit begrenzen wir die zur Erhaltung der inländischen Steuerfreiheit notwendigen Änderungen bei Sachverhalten mit Auslandsbezug auf das europarechtlich gebotene Maß. Ihre Behauptung, dass wir eine unnötig weite Steuerbefreiung gewähren würden, ist nicht wahr; vielmehr beschränken wir die Steuerbefreiung auf das europarechtlich notwendige Maß. ({2}) Ihr Vorschlag war, Steuererhöhungen für Bürger und Unternehmen im Inland umzusetzen. Das wollen wir vermeiden, weil wir der Überzeugung sind, dass Steuererhöhungen das Letzte sind, was wir im derzeitigen Konjunkturumfeld verantworten können. ({3}) Weil Sie zur Verwirrung der Öffentlichkeit hier behauptet haben, es ginge uns um die Steuerbefreiung der Großen, ({4}) will ich noch einmal an Folgendes erinnern: Wer hält denn klassischerweise Dividenden im Streubesitz? Das sind Kleinanleger, es sind Fonds, Wagniskapitalgeber, es sind Business Angels und vor allem Versicherungen. Mit der Einführung der Steuerpflicht für Streubesitzdividenden käme es zu Mehrfachbesteuerungen, zu Kaskadeneffekten; denn die dividendenzahlende Kapitalgesellschaft hat bereits Körperschaftsteuer auf den nun ausgeschütteten Gewinnanteil entrichtet. Sie wollen die Beteiligungserträge aus Streubesitz, und zwar Dividenden und Veräußerungsgewinne, auch im Inland steuerpflichtig machen. Das machen Sie sich ja auf der Basis des Vorschlags der Länder zu eigen. Damit würden Sie aber die private und die betriebliche Altersvorsorge vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefährden. Genau aus diesem Grund sagen die Koalitionsfraktionen: Diesen Weg halten wir für unverantwortlich und gehen ihn eben nicht. ({5}) Sich hier hinzustellen, sich die Vorschläge des Bundesrates zu eigen zu machen und gleichzeitig zu behaupten, man wolle gerade für Start-ups die Situation nicht verschlechtern, ist ein Widerspruch in sich, Herr Kollege Binding. ({6}) - Man muss darüber nachdenken, aber es ist immer wichtig, dass man frühzeitig darüber nachdenkt. Während Sie sagen, man müsste einmal darüber nachdenken, haben wir bereits darüber nachgedacht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass man Start-ups unterstützen und sie nicht behindern soll. ({7}) Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf heute vor. Ich will daran erinnern: Im Jahr 2009 gab es ein Jahressteuergesetz. In der Debatte über dieses Jahressteuergesetz wurde schon einmal vorgeschlagen, eine Steuerpflicht für Beteiligungserträge aus Streubesitz auch für inländische Sachverhalte zu schaffen. Damals haben CDU/CSU und SPD diesen Vorschlag nicht aufgegriffen. Heute wollen Sie von der SPD das Gegenteil von dem tun, was Sie damals getan haben. ({8}) Das haben wir heute Morgen beim Betreuungsgeld schon einmal erlebt: Die Dinge, die Sie damals für richtig gehalten haben, halten Sie heute plötzlich für ganz falsch. Ich kann Ihnen versichern: Wir sind nach wie vor der Meinung, dass eine Steuerpflicht für inländische Streubesitzdividenden wegen der Kaskadeneffekte auf die Altersversorgung in Deutschland nicht zumutbar ist. ({9}) Wir sagen deswegen ganz klar: Die Erhaltung der Steuerfreiheit für inländische Streubesitzdividenden ist der richtige Weg. Wir legen einen Gesetzentwurf vor und werden jetzt in die weitere Beratung gehen. Sie können sich da gerne mit einbringen. Wir werden eine Anhörung durchführen. Sie können auch eigene Vorschläge machen. Aber uns die Dinge, die Sie schon damals für falsch gehalten haben, ({10}) heute mit inbrünstiger Überzeugung vorzutragen, überzeugt uns nicht. Deswegen schlage ich vor: Wenn Sie es mit der Verschonung von Business Angels und Start-ups ernst meinen, dann schließen Sie sich diesem Gesetzentwurf an. Dann haben wir eine gute Lösung für unser Land. Ich bin überzeugt, dass diese Form der Steuerpolitik im Sinne einer nachhaltigen Haushaltspolitik ist: Es ist der richtige Weg, nicht nur fiskalisch zu denken, sondern auch an die Unternehmen, die hier etwas aufbauen und erreichen wollen. Es ist der richtige Weg, um Investitionen nicht aus unserem Land zu vertreiben, sondern sie anzuziehen und so die Attraktivität des Standorts zu erhalten. ({11}) Wir haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass solide Haushalte ohne Steuererhöhungen möglich sind. Deswegen sollten Sie sich diesem Vorschlag anschließen. Es ist der richtige Weg, gerade auch in der laufenden Krise. ({12}) Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Rede der Kollegin Dr. Barbara Höll nehmen wir zu Protokoll.1) Nun hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Vorfeld dieser Plenardebatte gab es die Frage, warum wir denn diese Debatte nicht zu Protokoll nehmen. Es ist schon ein bisschen anders, als es Herr Kollege Middelberg gesagt hat. Er sprach von 650 Millionen Euro; das war ein Verkäuferargument. Da hat sich etwas angestaut, Herr Middelberg: Wir reden hier nach Angaben des Bundesfinanzministers über eine Summe von 3 Milliarden Euro in den nächsten beiden Jahren. Deswegen wollen wir die Debatte nicht einfach so zu Protokoll nehmen. Alle Welt redet von der Haushaltskonsolidierung. ({0}) Da wollen wir nicht, dass eine Debatte über 3 Milliarden Euro einfach so, en passant, durch den Deutschen Bundestag geht, auch nicht in der ersten Lesung. ({1}) Sie haben gesagt, worum es geht: Es geht um die Steuerfreiheit von Streubesitzdividenden. In der Tat: Der Gesetzgeber wollte mit der vorliegenden Regelung die sogenannte Kaskadenbesteuerung auf der Ebene des Anteilseigners und dann im Unternehmen verhindern; er wollte sie vermeiden. Diese Steuerfreiheit gilt nicht für Gesellschaften, bei denen der Anteilseigner im Ausland ansässig ist. Diese Ungleichbehandlung hat der EuGH, der Europäische Gerichtshof, für nicht zulässig erklärt. So weit, so gut. Ich denke, wir sollten uns Kriterien überlegen. Aus grüner Sicht sind das folgende: Erstens. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zu Steuermindereinnahmen kommt. Zweitens. Wir wollen, dass ausländische Gesellschaften nicht benachteiligt werden; aber sie dürfen auch nicht bessergestellt werden als deutsche Unternehmen. ({2}) Drittens. Wir müssen aufpassen, dass über eine solche Regelung keine Möglichkeiten zur Steuergestaltung über das Ausland geschaffen werden, wodurch das Steueraufkommen sinken würde. Der Bundesrat schlägt vor, die Steuerfreiheit von Streubesitzdividenden aufzuheben. In der Tat würde das zu einer Kaskadenbesteuerung führen, die wir kritisch sehen. Wir sehen auch kritisch, dass es zumindest ohne weitere Anpassungen negative Auswirkungen auf die Finanzierung junger Unternehmen hätte. ({3})1) Anlage 8 Keine Frage; denn bei diesen geringen Beteiligungen ist es in der Tat typisch, dass Investoren ihre Investments ganz bewusst streuen, um damit das höhere Risiko auszugleichen. Wenn wir den Streubesitz besteuern, dann wird die Finanzierung zumindest ohne weitere Anpassungsmaßnahmen erschwert. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir wollen. ({4}) Das hat auch die Regierung verstanden, aber sie geht ins andere Extrem. Sie will auch ausländischen Streubesitz steuerfrei stellen. Das führt aber zu erheblichen Einnahmeausfällen - ich sage es noch einmal -, kumuliert in den nächsten beiden Jahren in Höhe von 3 Milliarden. Wir stellen damit die ausländischen Unternehmen besser als inländische, weil sie keine Gewerbesteuer zahlen. Wir würden also neben den erheblichen Einnahmeausfällen auch einen deutlichen Anreiz zur Steuergestaltung bieten. Das können wir nicht zulassen. Wir wollen keine weiteren Anreize für Steuergestaltung schaffen. Ich plädiere dafür, einen dritten Vorschlag zu prüfen, nämlich die Schaffung einer Veranlagungsoption für ausländische Gesellschaften in Deutschland. Schon bei anderen Verstößen gegen die Grundfreiheiten des Binnenmarktes hat Deutschland Regelungen getroffen, die es dem Ausländer erlauben, sich wie ein Inländer voll besteuern zu lassen, zum Beispiel im Erbschaftsteuerrecht. Wir schlagen eine analoge Regelung vor, die aus unserer Sicht auch bei der Dividendenbesteuerung möglich wäre. In Deutschland würden die ausländischen Gesellschaften bei der Ausschüttung ihrer Dividenden wie Inländer zur Körperschaftsteuer und zur Gewerbesteuer veranlagt. Damit würde in Deutschland für Inländer wie für Ausländer die gleiche Steuerlast gelten. ({5}) So eben mal am Freitagnachmittag 3 Milliarden Euro Einnahmeverluste durchwinken, das können wir nicht tun, auch nicht in erster Beratung, Herr Wissing. Wir wollen erstens die innovativen Unternehmen in Deutschland stärken und nicht schwächen. Wir wollen zweitens Steuerumgehungen vermeiden. Wir wollen Deutschland nicht zu einer Steueroase machen. Das sind die Randbedingungen, die wir beachten müssen. Lassen Sie uns an solchen Lösungen arbeiten, aber nicht mit der jetzt vorgeschlagenen Lösung durchs Ziel gehen. Das darf nicht das Ergebnis sein. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11314 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 20. November 2012, 10 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.