Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/8/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. ({0}) Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie. Ich freue mich über die offenkundig besonders gute Stimmung und werde mit Interesse verfolgen, wie lange sie anhält. ({1}) Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Kollegen Hans-Joachim Otto im Namen des ganzen Hauses herzlich zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den er vor wenigen Tagen gefeiert hat. ({2}) Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung bedauerlicherweise erneut eine Schriftführerwahl durchführen. ({3}) - Ich stelle mit besonderer Verblüffung fest, dass die größte einzelne Empörung über diesen Vorgang aus den Reihen der Linken zu registrieren ist. Denn genau diese Fraktion schlägt vor, ({4}) für die Kollegin Sabine Stüber die Kollegin Kathrin Vogler als Schriftführerin zu wählen. ({5}) - Sie werden sich hoffentlich etwas dabei gedacht haben. - Ich darf einmal fragen, ob auch die anderen Abgeordneten mit diesem Vorschlag einverstanden sind. Das sieht so aus. Dann ist die Kollegin Kathrin Vogler als neue Schriftführerin gewählt. Herzlichen Glückwunsch! ({6}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Haltung der Bundesregierung zu Residenzpflicht und Sondergesetzen für Flüchtlinge sowie Asylbewerberinnen und Asylbewerber ({7}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 49 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bilaterale Verhandlungen aufnehmen zur unverzüglichen Stilllegung besonders gefährlicher grenznaher Atomkraftwerke in Frankreich - Drucksache 17/11206 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Swen Schulz ({9}), Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen breiten Qualitätspakt in der Reform der Lehrerbildung - Drucksache 17/11322 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Ingrid Arndt-Brauer, Präsident Dr. Norbert Lammert Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Finanztransaktionsteuer im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit einführen - Drucksache 17/11321 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Markus Tressel, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nationalen Radverkehrsplan 2020 zum ambitionierten Aktionsplan der Radverkehrsförderung weiterentwickeln - Drucksache 17/11357 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({12}) Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({13}), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Residenzpflicht abschaffen - Drucksache 17/11356 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({14}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- sprache Ergänzung zu TOP 50 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäische Nachhaltigkeitsstrategie weiter- entwickeln und stärker institutionell in der EU verankern - Drucksache 17/11329 - ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jahrestag des Bekanntwerdens der NSU-Ter- rorzelle - Zwischenbilanz der Ermittlungs- pannenaufklärung und Stand des Kampfes ge- gen den Rechtsextremismus ZP 5 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Oppermann, Christian Lange ({15}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({16}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz bei Nebeneinkünften herstellen durch Veröffentlichungspflicht auf Euro und Cent - Drucksache 17/11331 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Oppermann, Christian Lange ({17}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({18}), Britta Haßelmann, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nebentätigkeiten transparent machen - Branchen kennzeichnen - Drucksache 17/11332 ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD „Karenzzeit“ für ehemalige Bundesminister und Parlamentarische Staatssekretäre in Anlehnung an EU-Recht einführen - Drucksache 17/11318 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Karin Roth ({19}), Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Transparenz für soziale und ökologische Unternehmensverantwortung herstellen - Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Arbeits- und Umweltbedingungen auf europäischer Ebene einführen - Drucksache 17/11319 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des AZR-Gesetzes - Drucksache 17/11051 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({21}) - Drucksache 17/11364 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({22}) Ulla Jelpke Memet Kilic Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 9 a)Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes ({23}) - Drucksache 17/9917 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({24}) - Drucksache 17/11404 Berichterstattung: Abgeordnete Dorothee Bär Caren Marks Florian Bernschneider Diana Golze Ekin Deligöz Bericht des Haushaltsausschusses ({25}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/11405 - Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Mattfeldt Rolf Schwanitz Dr. Florian Toncar Steffen Bockhahn b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({26}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld - zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Betreuungsgeld nicht einführen - Öffentli- che Kinderbetreuung ausbauen - zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Betreuungsgeld einführen - Kinder und Familien durch den Ausbau der Kin- dertagesbetreuung fördern - Drucksachen 17/9572, 17/9582, 17/9165, 17/11404 - Berichterstattung: Abgeordnete Dorothee Bär Caren Marks Florian Bernschneider Diana Golze Ekin Deligöz c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Betreuungsgeldgesetzes ({27}) - Drucksache 17/11315 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({28}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland endlich verwirklichen - Drucksache 17/10117 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({29}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss ZP 11 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen - Drucksachen 17/10747, 17/10799 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({30}) - Drucksache 17/11396 - Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({31}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Praxisgebühr abschaffen - Hausärztin- nen und Hausärzte stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Praxisgebühr sofort abschaffen Präsident Dr. Norbert Lammert - zu dem Antrag Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Praxisgebühr abschaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Praxisgebühr jetzt abschaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der Praxisgebühr nut- zen - zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt abschaffen - Drucksachen 17/10784, 17/9189, 17/11192, 17/9031, 17/11141, 17/9408, 17/11179, 17/11396 - Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- weit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 41, 46 a, 46 b und 47 abgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderun- gen des Ablaufs. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das sieht ganz so aus. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitsrechts ({32}) - Drucksache 17/11316 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({33}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit im Verein - Drucksache 17/5713 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({34}) Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu darf ich Einvernehmen feststellen. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Christian von Stetten für die CDU/CSU-Fraktion. ({35})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute von den Regierungsfraktionen im Deutschen Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf zur Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitsrechts haben die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ein Versprechen eingelöst, welches sie den Vereinsvertretern und den damals betroffenen ehrenamtlich Tätigen während der Zeit der Großen Koalition gegeben haben. Wir haben damals bei den Berichterstattergesprächen zu dem Gesetz mit dem Arbeitstitel „Hilfen für Helfer“ nicht alle Punkte unterbringen können, welche wir mit den Ehrenamtlichen eigentlich besprochen hatten und welche wir in diesem Gesetz gern untergebracht hätten. Das galt insbesondere für die weitere Beseitigung von Bürokratie und für Fragen der Haftung von Vereinsvorständen. Dies holen wir heute nach. Wir legen gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, der FDP, ein umfangreiches Gesetzesvorhaben vor. In diesem Zusammenhang darf ich mich besonders bei unseren beiden Bundesministern Dr. Wolfgang Schäuble und Frau LeutheusserSchnarrenberger bedanken. Sie haben sich beide an den Gesprächen persönlich beteiligt und das heute vorliegende Gesetzespaket ermöglicht. ({0}) Dieser Gesetzentwurf wurde bereits im Oktober im Bundeskabinett beschlossen. Herzlichen Dank für diese umfangreiche Hilfe der Ministerien! ({1}) Ich lade aber auch alle Kolleginnen und Kollegen der Opposition recht herzlich ein, diesen Gesetzentwurf in den nächsten Wochen nicht nur intensiv zu beraten, sondern auch dazu beizutragen, dass wir ihn gemeinsam verabschieden. Weitere Vorschläge zur Entbürokratisierung sind also jederzeit herzlich willkommen. Wenn Sie den Gesetzentwurf gelesen haben, ist Ihnen auch aufgefallen: Wir haben bereits wesentliche Anregungen des Bundesrates in den Gesetzentwurf einfließen lassen. Ich glaube, es wäre ein gutes Zeichen, wenn wir am Ende der Beratungen, am Ende der Debatten zu diesem Gesetzentwurf den Bürgerinnen und Bürgern unseres LanChristian Freiherr von Stetten des zeigten, dass wir es mit der Förderung des Ehrenamts gemeinsam ernst meinen und nicht nur in Sonntagsreden darüber sprechen. ({2}) Ziel des Gesetzes und, ich glaube, aller Fraktionen hier im Parlament ist es, den ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern sowie den steuerlich begünstigten Körperschaften ihr wichtiges Arbeiten durch Entbürokratisierung, Konkretisierung und Flexibilisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen zu erleichtern. Da bürgerschaftliches Engagement zu großen Teilen in Vereinen und Stiftungen geschieht, benötigen diese einen besseren und einen verlässlicheren Rahmen für ihre Tätigkeiten. Das gilt insbesondere für die Punkte, die heute im Erlasswege geregelt werden. Es ist für Ehrenamtliche schon schwierig genug, wenn sie sich durch Gesetzestexte wühlen müssen; aber völlig unverständlich ist es, wenn wichtige Punkte gar nicht mehr im Gesetz zu lesen sind, sondern seit Jahren über Erlasse geregelt werden. Diesen unhaltbaren Zustand wollen wir beenden. Da freuen wir uns auf die Zustimmung der Opposition. ({3}) Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Anhebung der Freibeträge für die nebenberufliche ehrenamtliche Tätigkeit zum 1. Januar 2013. Die Inkraftsetzung zum 1. Januar 2013 ist uns wichtig. Sie kann selbst dann passieren, wenn die letzte Beratung im Bundesrat erst nach diesem Datum stattfindet. Ich glaube, positive Maßnahmen können auch rückwirkend in Kraft treten. Da all die, die eine Steuererklärung für das Jahr 2013 abgeben, dies frühestens im Jahr 2014 tun werden, dürfte das auch von daher kein Problem sein. Den sogenannten Übungsleiterfreibetrag wollen wir um rund 15 Prozent von 2 100 Euro auf 2 400 Euro erhöhen. Den sogenannten Ehrenamtsfreibetrag für Vorstandsmitglieder, Schiedsrichter, Platzwarte oder besonders engagierte Helfer im Verein wollen wir um satte 44 Prozent von 500 Euro auf 720 Euro erhöhen. Diese Erhöhung ist sicherlich ein deutlicher Schritt. Wie bei allen anderen steuerlichen Maßnahmen, die in unserem Paket sind, sind wir aber auch hier der Überzeugung, dass das wichtige Investitionen in unsere Gesellschaft sind; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die kulturelle und soziale Bedeutung der Vereine ist in den letzten Jahren noch einmal stark gestiegen. Wer sich in funktionierenden Vereinen aufhält, der spürt eine Art Wärme, ja fast schon zum Teil familiäre Atmosphäre, und in einigen Bereichen sind die Vereine bereits zu einer Art Ersatzfamilie für Kinder geworden. Besonders bei der Integration der ausländischen Jugendlichen in unserem Lande leisten die Vereine einen wesentlichen Beitrag. Deswegen sind wir der festen Überzeugung, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind. ({4}) Es ist besonders hervorzuheben, dass die Übungsleiter in unseren Sportvereinen schon längst mehr sind als nur gut ausgebildete und durchtrainierte Vorturner. Sie kümmern sich auch immer mehr um die persönlichen Probleme der Jugendlichen, die ihnen anvertraut sind. Viele Jugendliche erfahren im Verein das erste Mal, wie wichtig Pünktlichkeit, Fairness, aber auch Kameradschaft untereinander sind. Auch deswegen haben wir unser Hauptaugenmerk auf diese ehrenamtlich tätigen Übungsleiter gelegt und sind uns sicher, dass die Gesellschaft das doppelt zurückerhält. Haftungsrisiken sind ein anderes wichtiges Thema für uns. Es ist dringend notwendig, dass wir das jetzt regeln. Da Veränderungen bei den Haftungsrisiken der einzelnen Vorstandsmitglieder uns bei der letzten Gesetzesreform leider nicht gelungen sind, ist es umso wichtiger, dass wir dies nun regeln. Die Haftung bei der zweckwidrigen Verwendung von Spendengeldern wollen wir an die allgemein übliche Haftung in anderen Rechtsbereichen angleichen. Das heißt, künftig werden Fehler nur dann zu Konsequenzen führen, wenn ehrenamtlich Tätige Spendengelder mit Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit zweckwidrig verwendet haben. Damit wird den engagierten Bürgerinnen und Bürgern unserer Gesellschaft der Schritt zur ehrenamtlichen Verantwortung deutlich leichter fallen. Natürlich stellen wir auch klar: Wer schwere Fehler macht oder kriminell handelt, wird auch zukünftig zur Verantwortung gezogen werden. Aber derjenige, der sich engagieren will und bereit ist, ein Vorstandsamt anzunehmen, soll dies mit einem guten Gefühl tun und nicht die ständige Angst haben, dass er ein unkalkulierbares persönliches oder finanzielles Risiko eingeht. Das darf kein Grund sein, dass man ein Vorstandsamt nicht annimmt. ({5}) Auch für die Stiftungen und deren Stifter schlagen wir heute eine Verbesserung der Rahmenbedingungen vor. Wir sind weltweit - das ist bekannt - schon jetzt das Land der Ehrenamtlichen. Millionen von Bürgern engagieren sich bei uns. Wir sind aber auch auf einem guten Weg, das Land der Stifter und der Stiftungen zu werden. Diesen Weg wollen wir erfolgreich weitergehen und danken allen Stiftern, die ihr Vermögen zum Wohl der Allgemeinheit einsetzen. Den Weg hierzu, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, wollen wir gemeinsam mit Ihnen gehen. Den heute vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir in den nächsten Wochen ausführlich diskutieren. Wir wollen - das betone ich zum Abschluss noch einmal ausdrücklich - auch mit Ihnen gemeinsam zu einem positiven Ergebnis kommen. Wir machen heute einen Anfang. Ich glaube, es ist ein guter Tag für das Ehrenamt in Deutschland. Herzlichen Dank ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Petra Hinz ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Petra Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, lieber Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist richtig: Wir haben in der letzten Legislaturperiode gemeinsam an dem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements gearbeitet. Ich glaube, es war ein großer Schritt. Nach der Arbeit in der Enquete-Kommission mit über 200 Anregungen, der Arbeit im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ zum Sport- und Kulturbereich ist das, was wir in diesem Gesetz gemeinsam gebündelt haben, der richtige Weg. Es war, wie ich finde, ein fulminanter Start für bürgerschaftliches Engagement. Es ist dann nur folgerichtig, wenn wir daran jetzt weiter arbeiten. Ihr Angebot und Ihre ausgestreckte Hand zur Zusammenarbeit nehmen wir sehr gern an. Sie werden aber sicherlich auch verstehen, dass wir noch andere Schwerpunktsetzungen haben und dass das eine oder andere kritisch zu hinterfragen ist; denn das, was Sie in dem Gesetzentwurf vorgesehen haben, wurde bei den Beratungen in der zurückliegenden Legislaturperiode kritisch diskutiert. Dort gab es einige Abwägungen, die wir in den jetzt anstehenden Verhandlungen berücksichtigen müssen. Dazu komme ich später noch in meinen Ausführungen. Ich gebe allen recht, die heute darauf aufmerksam machen, dass wir gemeinsam im Rahmen des Internationalen Tages des Ehrenamtes, der am 5. Dezember begangen wird, das Ehrenamt und damit die über 23 Millionen Menschen, die sich für unsere Gesellschaft und damit für uns alle ehrenamtlich starkmachen, besonders anerkennen und würdigen sollten. Diese wollen nämlich - das möchte ich in dieser Diskussion insbesondere deutlich machen - keine Entgeltumwandlung, keine Entlohnung oder etwas Ähnliches, sondern eine Würdigung. Darüber hinaus wollen sie nur, dass ihr Aufwand entlohnt wird. Aus meinen Ausführungen können Sie entnehmen, dass wir sehr genau aufpassen müssen, dass es beim Ehrenamt bleibt und nicht möglicherweise etwas anderes hineininterpretiert wird. ({0}) Viele von uns, wenn nicht sogar alle, werden am 5. Dezember, wie ich gesagt habe, das Ehrenamt würdigen. Wir werden sehr viele Ehrungen vornehmen, und zwar zu Recht. Wir werden bei den Beratungen dieses Gesetzentwurfes im Ausschuss und bei einer Anhörung aber noch andere Prioritäten setzen. Wir werden Sie fragen, wie Sie auf die Erhöhung der Übungsleiterpauschale von 2 100 Euro auf 2 400 Euro kommen. Auch die Anhebung der Zweckbetriebsgrenze werden wir hinterfragen. Das sind einige Themen, die wir ansprechen werden. Ein Punkt - er ist vielleicht verräterisch, vielleicht aber auch nur missverständlich - betrifft nicht das eigentliche Gesetz, sondern nur dessen Begründung. Die Begründung erklärt ja das, was im Gesetz steht. Dort schreiben Sie - ich zitiere -: Bürgerschaftliches Engagement hilft wirtschaftliches Wachstum, gesellschaftliche Integration, Wohlstand sowie stabile demokratische Strukturen auch für die Zukunft zu erhalten und zu verbessern. Bis hierhin können wir uns noch einig sein. Aber dann: In Zeiten knapper öffentlicher Kassen gewinnt die Förderung und Stärkung der Zivilgesellschaft an Bedeutung, denn die öffentliche Hand - jetzt kommt es wird sich wegen der unumgänglichen Haushaltskonsolidierung auf ihre unabweisbar notwendigen Aufgaben konzentrieren müssen. Wenn Sie es tatsächlich so meinen, wie es da steht, haben wir ein Problem. Denn wir sehen den ehrenamtlichen Bereich nicht als Kompensation für falsche Prioritätensetzung ({1}) oder für verfehlte Wahrnehmung der politischen Verantwortung, sondern das Ehrenamt soll ein Ehrenamt bleiben. So verstehen es auch diejenigen, die ehrenamtlich tätig sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein ganz wichtiger Punkt, und die Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, achten sehr genau darauf. Sie sind zu Recht sehr sensibel, wenn wir Politiker - insbesondere Sie während Ihrer Regierungszeit - den Eindruck erwecken, dass wir beim Hauptamt sparen, kürzen, den Kommunen das Geld wegnehmen und letztendlich auf Umwegen das Ehrenamt an Stelle des Hauptamtes setzen. Diesen Eindruck dürfen wir nicht erwecken. Ich gebe Ihnen recht: Die Ehrenamtlichkeit bringt dem Staat ein Vielfaches wieder zurück, aber bitte nicht auf diesem Weg. Das muss im Laufe der Beratungen noch klargestellt werden. ({2}) Ich möchte noch einmal betonen, dass bürgerschaftliches Engagement kein Reparaturbetrieb dafür sein kann, was die Politik versäumt hat, sondern ganz im Gegenteil eine zusätzliche Komponente. So verschieden die Ehrenämter auch sind, so unterschiedlich und vielfältig müssen wir sie unterstützen und fördern. Für dieses Engagement zum Zusammenhalt der Gesellschaft möchte ich an dieser Stelle für meine Fraktion noch einmal ein ganz herzliches Dankeschön sagen. Unsere Aufgabe ist es unter anderem auch, zur Stärkung und zur Förderung der Zivilgesellschaft Impulse zu setzen. In diesem Zusammenhang schaue ich insbesondere in Richtung der FDP. Herr Wissing hat in seinen Ausführungen in der letzten Wahlperiode sehr deutlich gemacht, wie er über das Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements denkt. ({3}) - Lesen Sie einmal die Protokolle, bevor Sie sich jetzt äußern. Herr Wissing schaut schon weg; er weiß, was jetzt kommt. ({4}) Petra Hinz ({5}) Er hat nämlich gesagt, es sei einfach nur eine Aufsattelung bereits bestehender Beträge, aber von den Strukturen her sei nichts in Angriff genommen worden. ({6}) - Herr Wissing, Sie machen jetzt in einigen Bereichen nichts anderes. Sie wollen die Übungsleiterpauschale von 2 100 Euro auf 2 400 Euro anheben, Sie bieten an, die Ehrenamtspauschale von 500 Euro auf 720 Euro anzuheben. Ich vermisse hier jedoch noch etwas Gehaltvolleres, nämlich wie Sie mit denjenigen umgehen, die nicht steuerlich veranlagt sind und die letztendlich nicht davon profitieren können. ({7}) Ich denke beispielsweise an die Menschen, die Vorleseaktionen durchführen und hierfür noch nicht einmal ihre Fahrtkosten erstattet bekommen, weil es dafür keine Kostenstelle gibt. Ich gebe Ihnen insofern recht, dass jetzt ein weiterer Schritt getan ist; es gibt jedoch noch eine ganze Menge zu tun und auf den Weg zu bringen. ({8}) Ich möchte an dieser Stelle mit den Worten von Michael Bürsch, der gemeinsam mit meiner Kollegin Ute Kumpf in den letzten Legislaturperioden sehr engagiert in der Enquete-Kommission und im Unterausschuss gearbeitet hat, das Thema noch einmal in drei Punkten zusammenfassen. Erstens. Wir wollen den Schutz der Engagierten. In den zurückliegenden Legislaturperioden haben wir bereits einige große Schritte unternommen, unter anderem mit der Unfallversicherung, der Übungsleiterpauschale usw. Diese Regelungen umfassen nicht nur den Sportbereich, sondern wir haben in der letzten Legislaturperiode Erweiterungen vorgenommen, sodass auch andere Bereiche hierauf zugreifen können. ({9}) Zweitens. Wir müssen trotz der vorgesehenen Regelungen noch stärker auf den Nachteilausgleich eingehen. Drittens. Die allgemeine Förderung des Engagements muss stärker ausgebaut werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles sind nur erste Schritte in die richtige Richtung. Ich nehme Ihr Angebot zur Diskussion gerne an, ich sage Ihnen aber auch: Hierbei kann es nicht bleiben. Gerade bei der Zweckbetriebsgrenze - das habe ich gerade gesagt - haben wir sehr lange verhandelt. Wir hatten uns auf 35 000 Euro geeinigt. Sie reden jetzt von 45 000 Euro. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das mit dem Thema „Wettbewerbsverzerrung“ usw. in Einklang bringen werden. ({10}) - Ja, genau, nur der Sportbereich. Sie werden sicherlich auch entsprechende Anfragen und Anschreiben aus Ihrem Wahlkreis bekommen haben. Hier sind wir wieder bei der Frage nach Erweiterungen und Strukturveränderungen. Es ist doch klar, dass diejenigen, die nicht von diesen Regelungen profitieren, uns anschreiben und nachfragen, warum die Änderungen nicht breiter gefasst werden und auch andere Bereiche einschließen. Diesen Fragen müssen wir uns jedenfalls stellen und schlussendlich zu einer Antwort kommen. Da gebe ich Ihnen allerdings wiederum recht. ({11}) Herr Präsident, ich nehme Ihr Signal wahr, auch wenn Sie hinter mir sitzen. - Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Es gibt einige Punkte, bei denen wir übereinstimmen. Ich freue mich sehr, dass wir hier über die Stärkung und auch über die Frage der Entbürokratisierung des bürgerschaftlichen Engagements reden. Es ist immer eine Sternstunde, wenn wir hier im Parlament das würdigen, was die Menschen draußen auf den Weg bringen. In diesem Sinne möchte ich mich bei allen ehrenamtlich Tätigen bedanken und bei Ihnen für Ihr sehr intensives Zuhören. Herzlichen Dank und Glück auf! ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Birgit Reinemund das Wort. ({0})

Dr. Birgit Reinemund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir bringen hier ein richtig gutes Maßnahmenpaket auf den Weg. ({0}) Es ist sehr schön, dass die SPD keinen wirklichen inhaltlichen Kritikpunkt gefunden hat. ({1}) Wir bringen deutliche Verbesserungen im steuerlichen und zivilrechtlichen Bereich und deutliche strukturelle Verbesserungen auf den Weg. Das Einzige, was mir persönlich daran nicht gefällt, ist der furchtbare Name: Gemeinnützigkeitsentbürokratisierungsgesetz. ({2}) Denn es ist ein Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts, und genau so sollte es auch genannt werden. ({3}) Wie viel ärmer wäre unser Land ohne unser Ehrenamt, ohne die rund 23 Millionen Menschen, die sich in Kirchen, Sportvereinen, sozialen Einrichtungen, Par24682 teien und Initiativen engagieren! In keinem anderen Land ist die Kultur des ehrenamtlichen Engagements so ausgeprägt wie in Deutschland. Die Aufgaben in vielen Bereichen des öffentlichen und sozialen Lebens wären ohne die ehrenamtlich Tätigen nicht machbar. Das Ehrenamt ist Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Deswegen hat die christlich-liberale Koalition dieses Gesetzespaket auf den Weg gebracht, in großer Harmonie, in guter Zusammenarbeit untereinander und mit Finanzministerium und Justizministerium. Herzlichen Dank dafür. ({4}) Wer besondere gesellschaftliche Verantwortung übernimmt, und dazu noch in der Freizeit, fördert damit den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Dies verdient unsere höchste Anerkennung und Unterstützung, nicht nur in Sonntagsreden, sondern ganz konkret, so wie über dieses Gesetz: durch Abbau bürokratischer Hemmnisse, durch steuerliche Entlastung, durch Schaffung von Rechtssicherheit und durch flexiblere Vorgaben für die gemeinnützigen Vereine und Stiftungen zur Verwendung ihrer Mittel. Unser Ziel muss es sein, die tägliche Arbeit in den Vereinen zu erleichtern. Und unser Ziel muss es sein, den Menschen in den Vereinen die Angst zu nehmen, plötzlich und unversehens mit Haftungsansprüchen ihres Vereins oder der Finanzbehörden konfrontiert zu sein, obwohl sie doch eigentlich nur ehrenamtlich Gutes tun wollten. Vereine beklagen vielfach, dass Menschen allein aus diesem Grund davor zurückschrecken, ein Amt überhaupt erst anzunehmen. Deswegen ist die Begrenzung der Haftung von Ehrenamtlichen auf Fälle von grober Fahrlässigkeit und Vorsatz für uns eine sehr wichtige Verbesserung, zumal dies künftig nicht nur für Mitglieder der Vereinsvorstände gilt, sondern für alle Vereinsmitglieder. Denn auch ein Hallenwart sollte sich zum Beispiel beim Schmücken der Halle für eine Veranstaltung nicht primär mit Haftungsfragen auseinandersetzen müssen. Vielleicht gelingt es den Vereinen so in Zukunft wieder leichter, Menschen zu finden, die überhaupt Verantwortung übernehmen wollen. ({5}) Als Anerkennung für das überragende ehrenamtliche Engagement, das man nicht genug loben kann, erhöhen wir die Ehrenamtspauschale von 500 auf 720 Euro, die Übungsleiterpauschale von 2 100 auf 2 400 Euro. Das ist nicht nur eine steuerliche Entlastung für Übungsleiter im Sport, für Chorleiter oder für Eltern, die ihre Kinder regelmäßig zu Veranstaltungen oder zum Training fahren; es bedeutet auch weniger Belegesammelei und Bürokratie für die Ehrenamtlichen selbst, für die Vereine und für die Finanzämter. Wir verlängern die Frist, in der gemeinnützige Vereine und Stiftungen ihre Mittel für steuerbegünstigte Zwecke ausgeben müssen, um ein weiteres Jahr. So werden sie in ihrer Planung flexibler. Stellen Sie sich vor, ein Verein erhält eine unerwartete hohe Spende oder eine Erbschaft. Bisher müssen die entsprechenden Mittel bereits im Folgejahr ausgegeben sein. Das löst ungewollt Handlungsdruck aus. Sehr kurzfristig müssen sinnvolle Investitionsmöglichkeiten und Projekte gefunden werden. Das ist nicht gewollt. Diesen Druck werden wir herausnehmen. Flexibler werden die gemeinnützigen Organisationen auch bei der Rücklagenbildung. Sie können künftig die freie Rücklage in den folgenden zwei Jahren nachholen. Neu ist, dass sie jetzt auch eine Wiederbeschaffungsrücklage ansparen können. Ein Beispiel: Ein Turnverein plant, seinen alten Kleinbus durch einen neuen zu ersetzen. Dazu kann der Verein künftig jedes Jahr Mittel in Höhe der Abschreibung in die Rücklage einlegen, bis zum vollen Anschaffungswert. Gut begründet kann der Verein sogar darüber hinausgehen, wenn zum Beispiel der neue Kleinbus mehr Plätze benötigt und die Kosten dadurch höher werden. So können die Gelder konzentriert und bedarfsgerecht verwendet werden. So können Investitionen besser geplant werden, ohne dass die Gemeinnützigkeit gefährdet wird. Zu einem weiteren, scheinbar kleinen Punkt mit großer Wirkung, der uns Liberalen sehr wichtig war: Vereine erhalten künftig nach Prüfung ihrer Satzung einen rechtsverbindlichen Bescheid darüber, ob sie die Voraussetzung für die Anerkennung als gemeinnütziger Verein erfüllen. Bisher erhielten sie lediglich einen unverbindlichen Brief, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass sie ab sofort Spendenbescheinigungen ausstellen dürfen. Immer wieder bestand die Unsicherheit, ob die Anerkennung bis zum nächsten Steuerbescheid Bestand hat; denn die Auslegung der Anforderungen variiert stark von Bundesland zu Bundesland. Schon ein Wechsel des zuständigen Sachbearbeiters birgt heute das Risiko, die Gemeinnützigkeit rückwirkend aberkannt zu bekommen. Das kann gerade kleine Vereine schnell in die Insolvenz führen. Hier schaffen wir jetzt Rechtssicherheit. Das künftige Verfahren stellt einen rechtsverbindlichen Verwaltungsakt dar, der die Finanzverwaltung an ihre einmal getroffene Bewertung der Satzung bindet. ({6}) Mit all den genannten Maßnahmen erleichtern wir Vereinen und Stiftungen die Arbeit und drücken vor allem unsere Anerkennung für das Ehrenamt aus. Aus der Antwort des Finanzministeriums auf meine schriftliche Anfrage geht hervor, dass im Veranlagungszeitraum 2007 insgesamt 96 280 Steuerpflichtige die Pauschalen in Anspruch genommen haben. Das Finanzministerium geht laut Gesetzentwurf von Steuermindereinnahmen von 110 Millionen Euro aus. Da es sich um einen überschaubaren Personenkreis handelt, erscheint mir der Betrag sehr hoch. Doch selbst wenn: Ehrenamtliche Tätigkeit ist nicht kostenlos, aber für unsere Gesellschaft ist sie unbezahlbar. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Barbara Höll ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zielsetzung des Gesetzes ist klar umrissen: Durch Entbürokratisierung und Flexibilisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen soll zivilgesellschaftliches Engagement erleichtert werden, und steuerbegünstigte Organisationen und ehrenamtlich Tätige sollen ihre Aufgaben besser und leichter wahrnehmen können. Ich frage mich natürlich: Was ist eine Flexibilisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen? Ich dachte, Recht ist etwas, worauf man sich verlassen kann: Wenn es verabschiedet ist, dann weiß ich, woran ich bin. Sie wollen nun die rechtlichen Rahmenbedingungen flexibilisieren. Ich weiß nicht: Muss man solche Begriffe in den Gesetzestext hineinschreiben? ({0}) Sie haben in Ihrer Begründung richtigerweise ausgeführt - ich zitiere -: Bürgerschaftliches Engagement ist Ausdruck einer freiheitlichen Gesellschaft, in der Bürgerinnen und Bürger freiwillig einen solidarischen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Ja, viele Bürgerinnen und Bürger aller Altersklassen - das beginnt im Jugendalter und hält bis ins hohe Alter an - engagieren sich tatsächlich freiwillig. Ich komme aus Leipzig, der Geburtsstadt der Schrebergartenbewegung. Wir haben allein 208 Kleingartenvereine mit über 32 500 Parzellen. Wir haben in Leipzig eine Aidshilfe, in jedem Stadtbezirk gibt es Bürgervereine. Wir haben Vereine zur Betreuung von Menschen mit psychischen Behinderungen. ({1}) Es gibt Sportvereine. Ich könnte die Liste endlos fortsetzen. Das zeigt: Es wird unheimlich viel gemacht, und zwar freiwillig und unentgeltlich. Bürgerinnen und Bürger haben zu Recht die Hoffnung, dass sie wenigstens das, was sie an zusätzlichen Aufwendungen haben, also die Straßenbahnfahrkarte oder den Busfahrschein, eventuell vom Verein erstattet bekommen. Sie schlagen nun vor, die steuerlichen Freigrenzen anzuheben. Die Zahlen wurden genannt: bei der Ehrenamtspauschale auf monatlich 60 Euro, bei der Übungsleiterpauschale auf monatlich 200 Euro. Das ist schön und gut. Schauen wir uns aber einmal die Realität an. Die im Freiwilligensurvey 2009 genannten Zahlen belegen, dass nur 23 Prozent, also ungefähr jede oder jeder Vierte, die oder der sich freiwillig engagiert, eine Vergütung erhalten. Das ist das Problem. ({2}) Von diesen 23 Prozent erhielten 57 Prozent eine Vergütung von unter 50 Euro pro Monat. Das heißt, 77 Prozent der Ehrenamtlichen haben von einer Änderung der steuerlichen Rahmenbedingungen überhaupt nichts. ({3}) Die 57 Prozent der übrigen 23 Prozent haben ebenfalls nichts davon, ob eine Vergütung in Höhe von 50 Euro oder 60 Euro im Monat vorgesehen ist; denn sie bekommen ohnehin weniger. Nur ganze 8 Prozent erhalten tatsächlich über 350 Euro im Monat. Das ist die Realität. ({4}) Mit der Erhöhung der Pauschalen, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen, erfassen Sie maximal 10 Prozent der freiwillig Engagierten. Das ist einfach zu wenig, um zu sagen: Jetzt haben wir wirklich etwas geschafft. ({5}) Im Fußballverein Leipzig Nordost kann ein Übungsleiterentgelt gezahlt werden. Im Kinder- und Jugendbereich sind es 1,50 Euro pro Stunde. Das heißt, der Trainer müsste 6,5 Stunden pro Tag und 133 Stunden im Monat Kinder und Jugendliche trainieren, um auf 2 400 Euro zu kommen und so den maximalen Freibetrag absetzen zu können. Das kann er natürlich nicht. Das wäre kein Ehrenamt mehr. Hier liegt das Problem: Real gibt es in vielen Bereichen, in denen Ehrenamtler tätig sind, eine sogenannte Arbeitsmarktnähe. Menschen üben inzwischen ehrenamtlich Tätigkeiten aus, die bis vor kurzem noch bezahlt wurden. Der Jugendtrainer trainiert meistens nicht nur - auch im Fußballverein Nordost ist das so -, sondern er ist gleichzeitig mitverantwortlich für den Fußballplatz und für die Halle. In Leipzig gibt es kaum noch Hallen mit Hallenwarten. Die Logik, die dem zugrunde liegt, muss man aufknacken: In den letzten Jahren gab es eine Schwächung der Finanzen der öffentlichen Hand. Das heißt, Hallenwarte werden entlassen, und dem entlassenen Hallenwart, der am Sport und an seinem Verein hängt, sagt man: Du kannst ja im Ehrenamt weitermachen. Ein paar Pfennige bekommst du dann noch von uns, aber bezahlen können wir dich leider nicht mehr. Der letzten Erhebung zufolge haben ein Viertel - 27 Prozent - aller ehrenamtlich Engagierten die Erfahrung gemacht, dass sie Tätigkeiten ausüben, die bis vor kurzem noch regulär bezahlt wurden. Ich finde, das ist einfach skandalös. ({6}) Dankenswerterweise haben Sie das in Ihrem Gesetzentwurf sehr klar benannt. Ich zitiere aus der Begründung: In Zeiten knapper öffentlicher Kassen gewinnt die Förderung und Stärkung der Zivilgesellschaft an Bedeutung, denn die öffentliche Hand wird sich wegen der unumgänglichen Haushaltskonsolidierung auf ihre unabweisbar notwendigen Aufgaben konzentrieren müssen. Es ist daher notwendig, Anreize für die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement zu stärken und bestehende Hindernisse bei der Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten abzubauen. Was heißt das? Das ist keine Freiwilligkeit. ({7}) Das ist kein freiwilliges Engagement, sondern Sie missbrauchen das Ehrenamt tendenziell als Lückenbüßer für die Bereiche, in denen der Sozialstaat nicht mehr richtig funktioniert. So ist es beschrieben. Hier sollen Stiftungen als mildtätige Organisationen zum Beispiel beim Bilderankauf für Museen einspringen, weil diese kein Geld mehr haben. Das ist eine Entwicklung, die wir nicht gutheißen können. ({8}) Deshalb ist in Ihrem Gesetzentwurf sehr genau auf den Bereich der Stiftungen zu schauen; denn es ist Realität, dass Stiftungen in der Bundesrepublik Deutschland in einem großen Bereich dazu dienen, Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer zu umgehen. Bis zu einem Drittel der Stiftungseinkommen können zur Alimentierung und zur Pflege des Andenkens des Stifters verwandt werden. Im Gesetz ist also einiges versteckt, was nicht im Sinne des bürgerschaftlichen Engagements sein kann. Ich glaube, wir müssen hier massiv nachbessern und endlich über Regelungen nachdenken, die vielleicht nicht im Bereich des Steuerrechts liegen, sondern zum Beispiel einer kleinen Zugabe für Rentner dienen. Eine Verbesserung der gesellschaftlichen Anerkennung des bürgerschaftlichen Engagements gelingt nur,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, würden Sie freundlicherweise gelegentlich auf die Uhr blicken?

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- wenn es nicht missbraucht wird, sondern das Sahnehäubchen für die Arbeit ist. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Reinemund, Sie haben recht: Der Titel des Gesetzentwurfs ist falsch gewählt. Von einem Gemeinnützigkeitsentbürokratisierungsgesetz erwartet man wirklich etwas. Wieder einmal erleben wir eine Diskrepanz zwischen dem pompösen Titel auf der einen Seite und den eher wenig konkreten Änderungen auf der anderen Seite. ({0}) 2007 gab es schon einmal den Plan, das bürgerschaftliche Engagement steuerlich besser zu fördern. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück hatte dazu ein Zehn-Punkte-Programm vorgelegt. Nicht nur meine Fraktion war damals unzufrieden. Fraktionsübergreifend wurde kritisiert, dass diese zehn Punkte deutlich hinter dem zurückbleiben, was man, und zwar ressortübergreifend, eigentlich tun müsste, um das ehrenamtliche Engagement zu unterstützen. ({1}) Vorneweg war damals die FDP; es wurde schon zitiert. Herr Wissing sagte: Aufsatteln bei einigen Steuervergünstigungen, sämtliche Strukturfragen bleiben offen. - Ich sage einmal: Wo Herr Wissing recht hatte, da hatte er recht. ({2}) Wir haben zwar ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis von ehrenamtlichem Engagement - Sie wollen Stellen abbauen und die Leute zu ehrenamtlicher Arbeit zwingen; wir haben die Vorstellung, dass ehrenamtliches Engagement unterstützend wirkt -, aber in diesem Punkt hatte Herr Wissing einfach recht. Aber Sie von der FDP haben damals darüber hinaus konkret etwas versprochen. Sie haben den Menschen in diesem Lande damals zugerufen: Halten Sie durch! Auf die Reformbemühung der Großen Koalition wird mit uns eine echte Reform folgen. ({3}) Und jetzt das. Mal ganz ehrlich, Frau Reinemund, da müssen auch Sie lachen, oder? ({4}) Was wollen Sie konkret ändern? Vor allem wollen Sie die Übungsleiterpauschale von 2 100 auf 2 400 Euro erhöhen. Weniger stark wollen Sie die Aufwandspauschale erhöhen, von 500 auf 720 Euro. Auch in diesem Zusammenhang zitiere ich gerne den Kollegen Wissing. ({5}) Herr Wissing sagte damals - diese Meinung wurde in den Ausschüssen übrigens fraktionsübergreifend geteilt -: Wir lehnen dieses Zweiklassensystem bürgerschaftlichen Engagements ab. ({6}) Schon 2007 gab es eine breite Debatte darüber, ob es wirklich sinnvoll ist, die sogenannte Übungsleiterpauschale zu erhöhen - damals ging es um eine Erhöhung von 1 848 auf 2 100 Euro -, oder ob es nicht sinnvoller wäre, den Personenkreis der Berechtigten zu erweitern. Doch das berühmte Steinbrück’sche Wort verhinderte diese Lösung. Deshalb haben wir heute zum Beispiel beim Behindertentransport nach wie vor eine absurde Situation: Der Helfer, der das Fahrzeug fährt, kann den Freibetrag nicht in Anspruch nehmen, während der Helfer, der die behinderte Person betreut, diesen Freibetrag sehr wohl in Anspruch nehmen kann. Absurd! Und welches Ziel verfolgen Sie jetzt mit diesem Gesetzentwurf, jetzt, wo Steinbrück nicht mehr Finanzminister ist, jetzt, wo die FDP mit in der Regierung ist? Statt den starren Katalog zu öffnen und den Abstand zwischen Übungsleiterpauschale und Aufwandsentschädigung zu verringern, vergrößern Sie ihn noch. ({7}) Wenn das so kommt, wird der Vater, der seinen Sohn und andere Kinder auf dem Fußballplatz trainiert, 2 400 Euro geltend machen können, während die Mutter, die die gleiche Zeit aufwendet, um zum Beispiel die Trikots zu waschen, nur 720 Euro geltend machen kann. Das finden wir falsch. ({8}) Anders als Sie von der FDP und insbesondere Herr Wissing haben wir auch heute noch Diskussionsbedarf. Wir würden uns an dieser Stelle weniger Amtsschimmel und mehr Praxistauglichkeit wünschen. Wenn wir uns umhören, dann stellen wir fest - darauf hat Frau Höll schon hingewiesen -, dass die Übungsleiterpauschale von 2 100 Euro schon heute nicht immer ausgeschöpft wird, weil gerade die kleinen Organisationen sich das überhaupt nicht leisten können. Nicht dass Sie glauben, dass ich der Meinung bin, dass die Bürgerinnen und Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren, keinen Freibetrag von 2 400 Euro verdienen! Natürlich verdienen sie ihn. ({9}) Trotzdem bin ich skeptisch, was diese Erhöhung angeht; denn - das ist kein Geheimnis - die Erhöhung der Übungsleiterpauschale erhöht den Anreiz, diese Pauschale quasi als „Miniminijob“ mit einem normalen Minijob zu verbinden. So würde der Gefahr, dass mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse im gemeinnützigen Bereich entstehen, weiter Vorschub geleistet. Das spricht dafür, dass es sinnvoller ist, den starren Katalog endlich zu öffnen, als die Pauschale zu erhöhen. Wir werden uns mit dieser Frage in den Beratungen genauer beschäftigen. Leitschnur sollte nicht sein, das Ehrenamt zu monetarisieren, sondern die Bedingungen für ehrenamtliches Engagement sollten durch Förderung und durch Strukturentwicklung verbessert werden; denn - zumindest darin sind wir uns alle einig; von daher habe ich auch noch Hoffnung - ehrenamtliches Engagement ist unersetzlich und eine Stärkung dieses Engagements dringend erforderlich. Das gilt für die derzeitige Situation, aber vor allem mit Blick auf die Zukunft; denn aufgrund der Entwicklung unserer Gesellschaft kommen noch weitere Aufgaben hinzu. Die Umstellung von Energieerzeugung und Energienutzung zum Beispiel ist ein wichtiges Thema für bürgerschaftliches Engagement. Auch für die europäische Integration benötigen wir ehrenamtliches Engagement. Ebenso müssen wir in den Bereichen Stadtentwicklung und Verkehrsentwicklung die Strukturen des ehrenamtlichen Engagements stärken. ({10}) Deswegen kann es nicht dabei bleiben, dass bis zum heutigen Tage die Finanzämter die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements als gemeinnützigen Zweck wegen des Anwendungserlasses des Bundesfinanzministeriums nicht anerkennen; auch dieser Aspekt war bereits 2007 zentrales Thema. Doch Ihr Bundesfinanzminister schnürt den Sack zu, der im parlamentarischen Verfahren mühsam geöffnet wurde. Auch darüber wollen wir in den Beratungen reden. ({11}) Ein weiterer zentraler Punkt, der die Gemeinnützigkeitsszene seit 2007 bewegt hat, kommt in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht, mit keinem einzigen Wort, vor: eine Antwort auf das verloren gegangene Vertrauen in so manche gemeinnützige Organisation aufgrund von einzelnen Skandalfällen, die bundesweit Aufmerksamkeit erregt haben, Stichwort: Kinderhilfswerk UNICEF 2008. Dieser Skandal und andere Skandale hatten nicht nur Folgen für die jeweilige Organisation, sondern darunter leiden seitdem auch alle anderen gemeinnützigen Organisationen, die auf Spendengelder angewiesen sind. Die Spendenbereitschaft ist in der Folge in Deutschland massiv eingebrochen. Diese Fälle haben gezeigt: Wir brauchen deutlich mehr Transparenz in diesem Bereich. Die Menschen müssen vor einer Spende verlässliche Informationen darüber haben, was mit ihrem Geld geschieht und welche steuerlichen Konsequenzen eine Spende für sie selber hat. Das ist aber zurzeit in Deutschland nicht der Fall. So sieht etwa das Wissenschaftszentrum Berlin gerade in der im internationalen Vergleich hohen Intransparenz in Deutschland eine zentrale Ursache dafür, dass in Deutschland viel weniger Menschen spenden als beispielsweise in Skandinavien. Ein öffentliches Register könnte Transparenz herstellen, ein Register, das alle Vereine, Stiftungen und gemeinnützigen Kapitalgesellschaften aufführt, die als steuerbegünstigt anerkannt sind. Wir finden, diese Organisationen sollten offenlegen, wofür sie ihr Spendengeld verwenden. Es gibt ja inzwischen schon einige freiwillige Register wie das von Transparency International. Darauf sollte unserer Ansicht nach ein öffentliches Register aufbauen. ({12}) Uns ist wichtig, dass ein öffentliches Transparenzregister aussagekräftig ist. Aber es darf natürlich auch nicht zu kompliziert sein. Vorbild könnte aus unserer Sicht die Offenlegungspflicht für Kapitalgesellschaften im elektronischen Bundesanzeiger sein, mit differenzierten Offenlegungspflichten zum Beispiel entlang der Größe der Organisationen. Im Übrigen: Ein öffentliches Transparenzregister wäre auch ein sehr gutes Instrument, um nichtgemeinnützigen extremistischen Organisationen tatsächlich auf die Spur zu kommen und Informationen zu erhalten, die helfen, zum Beispiel verkappten Naziorganisationen den Gemeinnützigkeitsstatus entziehen zu können. ({13}) Ihre Versuche, den Verfassungsschutz dafür heranzuziehen, sind bisher allesamt kläglich gescheitert. Bis heute gibt es etwa ein Dutzend Verfahren vor Finanzgerichten, von denen absehbar in keinem einzigen Fall die Aberkennung der Gemeinnützigkeit wegen extremistischer Aktivitäten bestätigt werden wird. Wir wissen inzwischen - leider -: Unsere Geheimbehörden können vieles nicht. Definitiv sind sie nicht qualifiziert, Steuerprüfungen durchzuführen. Die Erkenntnisse der Geheimbehörden entziehen sich einer transparenten Überprüfbarkeit. Kein Finanzgericht kann das als Grundlage einer Entscheidung anerkennen. Deswegen: Vergessen Sie endlich den Verfassungsschutz an dieser Stelle! Der gemeinnützige Sektor braucht mehr Transparenz, nicht mehr Geheimnisse. ({14}) Ein anderes Skandalstichwort ist im Zusammenhang mit der Berliner Treberhilfe - mir als Berlinerin besonders präsent - die sogenannte Maserati-Affäre. ({15}) Auch hier sagt einem doch das Gerechtigkeitsgefühl: Wenn der Geschäftsführer einer gemeinnützigen Organisation die Steuerbegünstigung unter anderem dafür nutzt, sich exorbitante Gehälter zu zahlen, dann stimmt etwas nicht. ({16}) Folgerichtig wäre also eine Begrenzung der Spitzengehälter bei gemeinnützigen Organisationen. Aber auch dazu findet sich in Ihrem Gesetzentwurf nichts. Wir wollen das in die Beratungen einbringen. Was bringt der Gesetzentwurf darüber hinaus? Neben einigen wichtigen Verfahrensänderungen bringt er vor allen Dingen Änderungen, die die Welt nicht braucht: Sie wollen die Frist für die Geltung von Freistellungsbescheiden für Spenden auf drei Jahre verkürzen. Bisher gelten fünf Jahre. Auch bei Verwendungsauflagen sieht der Entwurf eine Festschreibung auf zwei Jahre statt der bisher üblichen drei Jahre vor. Das bedeutet für die betroffenen Träger eine erhebliche Verschlechterung gegenüber der aktuellen Situation. ({17}) Die Sportveranstaltungen wurden schon angesprochen. Ich bin gespannt darauf, Herr Steffel, wie Sie mir gleich erklären werden, was bei Sportveranstaltungen so viel anders ist als bei allen anderen, dass es notwendig ist, sie im Gesetz mit einem um 10 000 Euro höheren Freibetrag zu begünstigen; dieser soll ja für Sportveranstaltungen von 35 000 auf 45 000 Euro erhöht werden. Meine Damen und Herren, das Steuerrecht wird die notwendige Ausweitung des gesellschaftlichen Engagements von Bürgerinnen und Bürgern nur dann nachhaltig unterstützen, wenn die Struktur der steuerlichen Förderung den aktuellen Anforderungen angepasst wird, statt dass die vorhandenen Starrheiten, so wie Sie es tun, immer wieder neu bedient werden. Ich fordere Sie deshalb im Sinne des bürgerschaftlichen Engagements auf: Spenden Sie in den kommenden Wochen Ihre persönliche Zeit, um diesen Gesetzentwurf besser zu machen! ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Frank Steffel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Anerkennung des Ehrenamts, über die Stärkung unserer Vereine, über Wertschätzung für Ehrenamtliche und über Dank an Ehrenamtliche, die unendlich viel für unsere Gesellschaft leisten. Sie sprechen über Skandale, Missbrauch des Ehrenamts und Steuerhinterziehung. Unser Verständnis von Ehrenamt und Vereinen ist, mit Verlaub, ein völlig anderes. ({0}) Wie man bei einem Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts, zur Anerkennung des Ehrenamts, zur Entbürokratisierung der Arbeit ehrenamtlich arbeitender kleiner Vereine ernsthaft über Steuerhinterziehung und Missbrauch des Ehrenamts sprechen kann, ist mir völlig schleierhaft. Insofern danke ich den Sozialdemokraten für ihren Beitrag. Sie haben sich zwar im Detail kritisch mit dem Vorschlag auseinandergesetzt - was völlig in Ordnung ist -; aber im Grundsatz sagen sie: Jawohl, das geht in die richtige Richtung. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mich freut es, dass wir uns heute hier endlich einmal nicht mit Finanzkrisen oder Marktkrisen beschäftigen, sondern mit Menschen: mit den 30 Millionen Deutschen, die sich ehrenamtlich - ohne Marktpreis und ohne Entgelt - jeden Tag für uns und unsere Gesellschaft engagieren. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Steffel, darf Ihnen die Kollegin Höll eine Zwischenfrage stellen?

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Mich freut es, dass in Deutschland 25 Millionen Menschen in Sportvereinen Sport treiben können. Das wäre ohne das Engagement unserer ehrenamtlichen Trainer, Übungsleiter, übrigens auch der Schatzmeister, der Kassierer, unserer Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter überhaupt nicht möglich. ({0}) Deswegen danken wir besonders den 7,5 Millionen Deutschen, die sich in ihrer Freizeit gerne und aus Überzeugung ehrenamtlich in Sportvereinen engagieren, zumeist übrigens, um sich um Kinder und Jugendliche zu kümmern. Ich will auch sehr deutlich sagen: Kein Fitnessstudio und keine Nordic-Walking-Gruppe kann das ersetzen, was deutsche Vereine für Kinder und Jugendliche leisten. ({1}) Gerade weil sich ein großer Teil dieses sehr guten Gesetzes zur Stärkung des Ehrenamts mit Vereinen - im Wesentlichen mit Sportvereinen - beschäftigt, ist es mir ein besonderes Anliegen, heute auch über die Ehrenamtlichen zu sprechen, die sich nicht im Sport engagieren, sondern in anderen Bereichen unserer Gesellschaft. Meine Damen und Herren, das, was Elternvertreter - Väter und Mütter - in Schulen und Kitas leisten, ist herausragende ehrenamtliche Arbeit. Bei unseren Hilfsorganisationen - das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter, das Technische Hilfswerk, Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund, die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft - stehen, wenn es kritisch wird, von Montag bis Sonntag Männer und Frauen, Jungs und Mädels für unser Leben, für unser Wohl ein. Deshalb verdienen sie Anerkennung, Entbürokratisierung und eine Stärkung ihrer Tätigkeit. ({2}) Ich will ausdrücklich auch auf die Arbeit der Gemeindekirchenräte in Deutschland hinweisen und darauf, was die Kirchen in Deutschland - seien es christliche, jüdische oder islamische - leisten: bei der Integration von Menschen, in der sozialen Arbeit in unserem Land. Auch das spielt eine große Rolle. Das sollte im Zusammenhang mit dem Ehrenamt erwähnt werden. Ich möchte auch die Arbeit der Parteien erwähnen. Das, was Kommunalpolitiker in Deutschland leisten, das, was ehrenamtliche Mitglieder in allen Parteien für unser Gemeinwohl leisten, sollte hier im Deutschen Bundestag anlässlich dieser Debatte auch einmal lobend erwähnt werden. 90 Prozent der Mitglieder in den deutschen Parteien arbeiten ehrenamtlich und engagieren sich in der Nachbarschaft, kommunal, für uns und unsere Gesellschaft. ({3}) Meine Damen und Herren, was bedeutet das Ehrenamt, über das wir so viel und so gerne sprechen? ({4}) Es bedeutet zum Ersten, eine Aufgabe zu übernehmen und sich dauerhaft, zumeist sehr lange, vielfach ein ganzes Leben, für eine Sache zu engagieren. Schon das verdient in unserer Gesellschaft Anerkennung. Es bedeutet zum Zweiten, Zeit zu opfern, Freizeit zu opfern. Dabei geht es nicht darum, irgendetwas abzusetzen, Frau Paus. Vielmehr sprechen wir von einer Aufwandsentschädigung von läppischen 60 Euro pro Monat. ({5}) Das hat mit dem Absetzen von Quittungen, Steuerhinterziehung und Missbrauch überhaupt nichts zu tun. Das ist ein bisschen Taschengeld für die, die sich für uns alle engagieren. ({6}) Es geht auch um Menschen, die in der Tat Geld mitbringen. Die Mutter, die einen Kuchen für das Kita-Fest mitbringt, engagiert sich ehrenamtlich und bringt noch Geld mit. Der Vater, der seine Kinder zum Sport fährt, engagiert sich ehrenamtlich und gibt das Geld für sein Benzin und sein Auto gerne aus. Über was reden wir hier eigentlich? ({7}) Wir reden über Menschen, die nicht fragen: „Was kriege ich? Wie hoch ist die Verzinsung?“, sondern die im Wesentlichen darüber reden: Was kann ich tun? Wo kann ich anpacken? Wo kann ich unserer Gesellschaft und uns allen helfen? - Das sind die Männer und Frauen, die wir in diesem Land brauchen - und nicht die Nörgler, die das Ehrenamt noch beleidigen und beschädigen. ({8}) Wenn wir über die Rahmenbedingungen des Ehrenamts sprechen, ist mir eine Bemerkung besonders wichtig: Viele Ehrenamtliche haben auch Nachteile aus ihrem Ehrenamt. Sie treten im Beruf kürzer. Sie kriegen keine bezahlten Überstunden, sondern sie leisten unbezahlte ehrenamtliche Arbeit. Sie verzichten vielleicht auf Karrierechancen, ({9}) auf Fortentwicklung, auf Weiterbildung, auf Beförderung. Deshalb möchte ich auch heute hier ausdrücklich an alle Unternehmen in Deutschland appellieren: Das Ehrenamt darf nicht zum Nachteil eines Arbeitnehmers gereichen, sondern unsere Unternehmen sollten Ehrenamtliche fördern und unterstützen und sie im Zweifelsfall denen vorziehen, die sich nicht ehrenamtlich engagieren. ({10}) Abschließend möchte ich den Familien der Ehrenamtlichen einen besonderen Dank aussprechen. Die Familien von Ehrenamtlichen zahlen vielfach einen hohen Preis. Manch ein Vater und manch eine Mutter, die am Wochenende für eine Hilfsorganisation tätig sind, können sich eben nicht um ihre eigenen Kinder, ihre eigenen Eltern, ihre Freunde und ihre sonstigen Familienangehörigen kümmern. ({11}) Manch ein Trainer verzichtet abends darauf, seinen eigenen Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, weil er sich um andere Kinder auf deutschen Sportplätzen oder in Sporthallen kümmert. Deshalb möchte ich einen besonderen Dank und eine besondere Anerkennung auch denen aussprechen, die in ihren Familien Ehrenamtliche unterstützen, ihnen den Rücken freihalten, sie ermuntern, sie motivieren, in unserer Gesellschaft auch weiterhin eine unverzichtbare Aufgabe zu übernehmen. ({12}) Auf die Details des Gesetzentwurfes wurde umfangreich hingewiesen. Heute ist ein guter Tag für das Ehrenamt. Heute ist ein Tag der Anerkennung für Ehrenamtliche in Deutschland. Heute ist ein guter Tag für deutsche Vereine, Hilfsorganisationen und viele andere. Wir werden die Anerkennung des Ehrenamts und die Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement verbessern. Wir werden das Ehrenamt stärken. Auch Ihre kleinteilige Nörgelei wird uns davon nicht abbringen. Uns geht es ums Ehrenamt und nicht um Parteipolitik. Wir brauchen ehrenamtliche Menschen in diesem Land, die etwas tun, was kein anderer an anderer Stelle durch den Staat jemals leisten könnte. Herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. - Ich möchte zunächst eine Bemerkung machen: Herr Steffel, ich weise entschieden zurück, dass ich das Ehrenamt diskreditieren würde. Im Gegenteil! Ich achte - das habe ich in meinen Ausführungen klargemacht - das Engagement der vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren. ({0}) Ich würde nie, wie Sie eben, sagen, dass es hier um „läppische 60 Euro“ geht. Nein, auch 60 Euro wären eine gute Anerkennung. Ich habe Ihnen aber gesagt - hier kennen Sie leider die Realität nicht -: Nur jeder vierte ehrenamtlich Engagierte kommt überhaupt in den Genuss, wenigstens den Aufwand erstattet zu bekommen. Ganze 10 Prozent der Ehrenamtlichen werden von Ihren steuerlichen Regelungen etwas haben. Das ist nicht die notwendige Anerkennung, sondern viel zu wenig. ({1}) Noch ein Gedanke. Sie müssten wirklich einmal den Vergleich mit anderen Ländern wagen. In Skandinavien gibt es ein wesentlich größeres ehrenamtliches Engagement, weil die Menschen dort ihr Ehrenamt gerade im sozialen Bereich, im kulturellen Bereich, im Bildungsbereich als Ergänzung empfinden können und sich nicht als Lückenbüßer sehen, wie Sie es im Gesetzentwurf begründen, weil die öffentliche Hand kein Geld mehr hat und da jetzt bitte einmal das unentgeltliche freiwillige Engagement ran soll. Das ist ein Missbrauch von bürgerschaftlichem Engagement durch die Politik. Das kritisiere ich und lehne ich ab. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun möchte die Kollegin Paus noch etwas klarstellen, weil sie direkt angesprochen worden ist. Dazu sollte sie Gelegenheit haben. Und wenn er möchte, kann der Kollege Steffel dann darauf noch kurz reagieren. Ich mache aber darauf aufmerksam, dass ich jetzt natürlich nicht die Absicht habe, zuzulassen, dass die ohnehin gemeldeten Redner der Fraktionen sich durch anschließende Präsident Dr. Norbert Lammert Kurzinterventionen wechselseitig eine Verlängerung ihrer jeweiligen Redezeiten erschleichen. ({0}) - Ich nehme es mit Rührung zur Kenntnis, Frau Kollegin. Frau Kollegin Paus, bitte schön.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Der Redner hat keine Zwischenfragen zugelassen. Er hat mich aber trotzdem direkt angesprochen. Deswegen wollte ich einfach noch einmal Folgendes klarstellen: Ich kann nicht nachvollziehen, dass der Fahrer eines Behindertentransports keinen Freibetrag geltend machen kann, während der Betreuer des Behinderten diesen sehr wohl geltend machen kann. Mein Punkt war, dass ich beim ehrenamtlichen Engagement insgesamt nicht nachvollziehen kann, warum Sie in Ihrem Gesetzentwurf wieder so stark unterscheiden, warum Sie nicht endlich herunterkommen von dem starren Katalog und warum Sie in der Tendenz Frauen gegenüber Männern benachteiligen, ({0}) indem bei der Übungsleiterpauschale der Mann auf dem Platz den hohen Freibetrag geltend machen kann, während die Frau nur einen geringeren Freibetrag geltend machen kann. ({1}) Um diese Ungleichbehandlung ging es mir. Außerdem haben Sie meine Frage zu den Sportveranstaltungen nicht beantwortet. Das ist für mich ein wichtiger Punkt, und darüber möchte ich diskutieren. Das ist keine Kleinkrämerei, und deswegen möchte ich gerne entsprechend gewürdigt werden. Es ist nun einmal so, dass man das ehrenamtliche Engagement auf unterschiedliche Art und Weise stärken kann. Wir wollen eine Gleichbehandlung, Sie wollen das nicht. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Vertiefung dieser zweifellos klärungsbedürftigen Punkte stehen ja auch die Ausschussberatungen zur Verfügung. - Möchte der Kollege Steffel noch etwas dazu sagen?

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es freut mich, Frau Kollegin Höll, dass wir Sie bei unserem Engagement für das Ehrenamt an unserer Seite wissen. Und es freut mich, Frau Kollegin Paus, dass Sie einmal mehr deutlich gemacht haben, dass Sie ganz anders denken als wir. Deswegen wählen die Menschen auch unterschiedliche Parteien. Ich bin sicher: Die Ehrenamtlichen in Deutschland wählen uns, weil sie spätestens seit heute wissen, worum es uns geht. ({0}) Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wenn das, Herr Kollege Steffel, tatsächlich 30 Millionen sind, lässt das ja eigentlich ziemlich sichere Prognosen bezüglich des Wahlergebnisses zu, nicht wahr? ({0}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Marianne Schieder für die SPD-Fraktion. ({1})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, es ist so. Was wäre unsere Gesellschaft, was wäre unser Land ohne das vielfältige, uneigennützige gesellschaftliche und bürgerschaftliche Engagement? Viele Menschen engagieren sich in den verschiedensten Bereichen für ihre Mitmenschen; sie engagieren sich für Gesellschaft, Kirche und Staat, und sie engagieren sich für unser aller Wohl. Ehrenamtliches Engagement ist, gerade im ländlichen Raum, das gesellschaftliche Bindeglied. Vor allen Dingen für junge Menschen ist die Möglichkeit eines ehrenamtlichen Engagements enorm wichtig; denn es fördert soziales Lernen, eröffnet sinnvolle Freizeitgestaltung, übt Verantwortungsbewusstsein ein und lässt den Wohnort zur Heimat werden. Wir alle wissen doch, wovon wir sprechen; denn auch die meisten von uns kamen über ein umfangreiches ehrenamtliches Engagement in die Politik und nicht zuletzt auch zum Bundestagsmandat. Und auch die meisten von uns stellen sich nach wie vor im bürgerschaftlichen Engagement, im ehrenamtlichen Engagement in den Dienst der Allgemeinheit. Alle in unserem Land ehrenamtlich tätigen Männer und Frauen haben natürlich ein Recht darauf, dass wir als Gesetzgeber die Rahmenbedingungen so gestalten, dass ehrenamtliches Engagement gefördert und nicht behindert wird, dass unnötige Bürokratie abgebaut und rechtliche Festsetzungen nachvollziehbar und durchschaubar gestaltet werden. ({0}) Ehrenamt muss man sich leisten können. Ehrenamt muss man sich auch zutrauen können. Es kann doch nicht sein, dass viele Menschen, die sich engagieren oder Marianne Schieder ({1}) sich engagieren wollen, das Gefühl haben, sie befänden sich stets mit einem Bein im Gefängnis ({2}) oder wären von Haus aus nicht in der Lage, den Berg von Vorschriften und einzuhaltenden Regelungen überhaupt zu überblicken, geschweige denn einzuhalten. ({3}) Hier sind natürlich Klarstellungen und Erleichterungen zu schaffen. Der Deutsche Bundestag hat dies bereits im Jahre 2009 mit der Schaffung des § 31 a des Bürgerlichen Gesetzbuchs getan; das wurde heute schon erwähnt. Dort steht, dass der Vereinsvorstand, der unentgeltlich tätig ist, gegenüber dem Verein und auch gegenüber den Mitgliedern des Vereins nur dann haften muss, wenn Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt. Gegenüber Dritten wird zwar gehaftet, aber da gibt es gegenüber dem Verein den Befreiungsanspruch, der eingeräumt wird. Nun soll diese Regelung auch auf Mitglieder anderer Organe und auf besondere Vertreter von Vereinen und Stiftungen erweitert und § 31 a BGB entsprechend gefasst werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird auch vorgeschlagen, diese Beschränkung der Haftung auf alle Vereinsmitglieder auszudehnen. So soll dann künftig ein ehrenamtlich tätiges Vereinsmitglied nur noch dann für einen Schaden, der durch sein Handeln entsteht, haften, wenn grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorliegt. Entsteht der Schaden einem Dritten und liegt beim Schadensverursacher weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit vor, dann soll das Vereinsmitglied zwar haften, aber eben auch diese Freistellung in Anspruch nehmen können. Dazu wird vorgeschlagen, den § 31 b neu ins BGB einzufügen. In diesem Sinne soll es auch eine Veränderung im Einkommensteuergesetz geben, nämlich eine Veränderung in § 10 b, mit der die Veranlasserhaftung bei zweckfremder Verwendung von Spenden auf die Fälle der grob fahrlässigen oder vorsätzlichen Schadensverursachung beschränkt werden soll. Solche Verbesserungen sind natürlich sinnvoll, und solche Verbesserungen unterstützen wir. ({4}) Allerdings möchte ich an dieser Stelle schon darauf hinweisen, dass solche Verbesserungen nur eine kleine Verbesserung darstellen. Es darf keinesfalls der Eindruck erweckt werden, dass damit die zweifellos hohen Anforderungen an die Vereinsvorstände, was die Kenntnis von steuerrechtlichen, strafrechtlichen, urheberrechtlichen, arbeitsrechtlichen und diversen anderen rechtlichen Vorschriften betrifft, gesunken wären. Die Augen davor zu verschließen oder den Kopf in den Sand zu stecken, hilft niemandem weiter, ({5}) weil Nichtwissen ebenso wenig vor Strafe schützt wie Nicht-wahrhaben-Wollen. Hier möchte ich an die Verbände, Vereine und Organisationen appellieren, sich dieses Themas verstärkt anzunehmen und die Verantwortlichen vor Ort über Ausbildung und Schulung auf ihre Aufgaben ausreichend vorzubereiten. ({6}) Allerdings müssten wir in dieser Hinsicht die Vereine, Verbände und Organisationen natürlich entsprechend unterstützen; denn nach meiner Erfahrung - auch ich bin umfangreich ehrenamtlich tätig - ist die Angst vor all diesen Anforderungen gerade dort groß, wo das Wissen gering ist, und es entstehen schlimme Folgen gerade deswegen, weil man sich eben nicht rechtzeitig und ausreichend um die rechtlichen Belange kümmert. Ich frage mich allerdings auch, warum die Bundesregierung nicht auch einen anderen Bereich in Angriff genommen hat, nämlich den Bereich der Versicherungen. Da gibt es ein wirklich unüberschaubares Chaos, und kaum ein ehrenamtlich Tätiger weiß, was Sache ist. Dazu gibt es unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern. Hier hätte ich mir wirklich eine länderübergreifende Initiative mit dem Ziel der Vereinfachung gewünscht. ({7}) In diesem Sinne müssen wir noch intensiv diskutieren, um diesen Gesetzentwurf zu verbessern und entsprechend anzureichern, sodass er den Ehrenamtlichen wirklich dienlich ist. Auch ich möchte schließen mit einem ganz herzlichen Dank an alle Männer und Frauen in unserem Land, die ehrenamtlich tätig sind; denn sie alle leisten eine wirklich großartige Arbeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie man eine so gute Sache so schlechtreden kann, das werde ich auch nach drei Jahren Parlamentserfahrung nicht verstehen. ({0}) Wie man eine solch gute Sache, nämlich den ehrenamtlich Tätigen zu helfen, die in unserem gemeinsamen Interesse liegt, für die kleine Münze parteitaktischen Kalküls nutzen kann, das werde ich nach drei Jahren Mitgliedschaft im Parlament nicht verstehen. ({1}) Das will ich auch nicht verstehen; das möchte ich nicht verstehen. Dass man versucht, aus der Unterstützung des ehrenamtlichen Engagements eine Genderfrage zu machen, werde ich ebenfalls nicht verstehen. Das will ich auch nicht verstehen. ({2}) In Deutschland gibt es über 600 000 eingetragene Vereine, eine Unzahl nicht eingetragener Vereine und rund 19 000 Stiftungen. Viele davon sind gemeinnützig und sind in einem Bündnis für Gemeinnützigkeit organisiert. Ich hoffe, dass viele von denen heute zuschauen und zur Kenntnis nehmen, dass Sie auf den von uns geplanten Maßnahmen - diese lassen sich in Mitteilungen vieler Verbände wiederfinden; viele Verbände rufen regelrecht danach und bitten uns, ihnen in der Praxis mit vielen kleinen Maßnahmen zu helfen, die ihnen ihre Arbeit etwas erleichtern - geradezu herumtrampeln und sagen, das alles sei dummes Zeug. Ich bin sicher, dass die Betreffenden dann die Konsequenzen daraus ziehen werden. ({3}) Wenn Sie von der Linken uns weismachen wollen, es sei etwas Schlimmes, wenn gemeinnützige Vereine Lücken schließen, dann halte ich Ihnen mit dem großen Liberalen Ralf Dahrendorf entgegen: Das Wesen des Ehrenamts sowie von gemeinnützigen Vereinen und Stiftungen besteht doch darin, Initiativlücken zu schließen; denn die Gesellschaft deckt hier Bedarfe, die der Staat nie finden würde. Das ist Innovation und Fortschritt, der aus der Gesellschaft kommt. Es ist das normale Wesen von gemeinnützigen Vereinen und Stiftungen, Lücken zu schließen, die der Staat noch gar nicht erkannt hat. Wenn Sie sagen, der Staat sei schlauer als die Gesellschaft, die gemeinnützigen Vereine und die Bürger, dann zeigt das Ihr Gesellschaftsbild und Ihr Staatsverständnis. Das teilen wir nicht. ({4}) Ich möchte nun mit meinen Entgegnungen auf all die Vorwürfe aufhören, weil es der Sache nicht gerecht wird, und zum Verbindenden kommen. Ich bin der Kollegin Schieder sehr dankbar, dass sie auf einen wichtigen Punkt hingewiesen hat, auf den ich erst gestern angesprochen wurde. Eine Lehrerin, die zu einer Besuchergruppe gehörte und die sich in einer Umweltgruppe engagiert, liebe Frau Paus, sprach mich an und sagte mir: Die größte Sorge, die wir haben, ist das Haftungsrisiko. Wir finden immer weniger Menschen für ehrenamtliche Tätigkeiten, weil sich viele Sorgen machen. Die meisten würden gerne etwas tun, wissen aber nicht, welchem Haftungsrisiko im Steuer-, Abgaben- und Zivilrecht sie sich aussetzen. Ich möchte auf das hinweisen, was die Kollegin Schieder gerade angesprochen hat. Wir gestalten die zivilrechtliche Haftungsverfassung endlich so fair und transparent aus, dass man keine Angst haben muss, wenn man als Mitglied eines Vereins die Aufgabe übernimmt, das Vereinsheim oder die Turnhalle für die Weihnachtsfeier zu schmücken. Wenn eine Lichterkette herunterfällt, die man vielleicht nicht perfekt festgemacht hat, oder wenn eine Metallklammer auf einen Tisch fällt, auf dem ein Smartphone liegt, stellt sich die Frage, wer nun den entstandenen Schaden in Höhe von Hunderten Euro trägt. Früher musste man darüber diskutieren, ob es sich um leichte oder mittlere Fahrlässigkeit handelt. Unabhängig von der Frage, wer für den Schaden aufkommen muss, findet man niemanden mehr für eine ehrenamtliche Tätigkeit, wenn sich im Verein erst herumgesprochen hat, dass man im Schadensfall per Rechtsanwalt klären muss, welcher Grad an Fahrlässigkeit exakt vorliegt. Sie haben damals eine Lösung für die Vereinsvorstände in § 31 a BGB gefunden. Wir gehen jetzt einen Schritt weiter; wer A sagt, muss auch B sagen mit dem neuen § 31 b BGB. Wenn wir nun das von Ihnen den Vereinsvorständen gewährte Privileg auch dem normalen Vereinsmitglied zukommen lassen, dann stellt das eine praktische Hilfe dar. Ich bitte insbesondere die Kollegen von der Linken und den Grünen, die sagen, das alles sei nur eine Randerscheinung und nicht so wichtig: Nehmen Sie Kontakt mit gemeinnützigen Vereinen auf und fragen Sie, wo konkret Probleme bestehen. Sie werden dann feststellen: Es ist die Sorge um die Haftung in der Zeit des ehrenamtlichen Engagements. Wir helfen nun mit einer einfachen, fairen und transparenten Regelung, die nichts anderes bedeutet als: Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Erst dann, wenn ihr vorsätzlich einen Schaden anrichtet und wenn jedermann klar ist, dass man das nicht machen darf, wenn man also grob fahrlässig handelt, müsst ihr euch Sorgen machen. Das schafft Transparenz für die, die sich ehrenamtlich engagieren. Ich denke, das ist eine gute Sache, die man hier nicht aus parteitaktischen Gründen zerreden sollte. ({5}) Ich freue mich auf die konstruktive Diskussion mit den Sozialdemokraten; denn sie haben sich als einzige Oppositionsfraktion konstruktiv eingebracht, indem sie einen Bezug zu dem Gesetz, das wir vorgelegt haben, hergestellt haben. ({6}) Ich bin gespannt, wie die Grünen uns erklären wollen, wie wir die Genderfrage durch das Vereins- und Gemeinnützigkeitsrecht lösen können, und ich bin wirklich sehr gespannt, wie die Linken uns erklären werden, wie wir demnächst dafür sorgen können - ich habe es gar nicht richtig verstanden; das gebe ich offen zu, das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen -, ({7}) den Gedanken, dass ehrenamtliches Engagement immer Aufwand und Opfer bedeuten, aus der Welt zu schaffen. Auch das werde ich nicht verstehen; denn das ist der In24692 begriff ehrenamtlichen Engagements. Wir wollen den Leuten durch die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen helfen. Wie man das zerreden kann - damit beende ich meinen Beitrag so, wie ich ihn begonnen habe -, das werde ich nie verstehen, und das möchte ich auch nicht verstehen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin Katrin Kunert. ({0})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Buschmann, meine Oma hat immer gesagt: Wenn du etwas nicht verstehst, dann sprich nicht darüber. ({0}) Ja, das bürgerschaftliche Engagement in der Gesellschaft muss gestärkt und unterstützt werden. ({1}) Die Linke sagt allen ehrenamtlich Tätigen in Deutschland ausdrücklich Danke, weil wir auf dieses Engagement bauen. ({2}) - Ich möchte Sie von der CDU bitten, das „KauderWelsch“ zu unterlassen. ({3}) Neben vielen anderen Dingen, die Sie mit diesem Gesetzentwurf verändern wollen, geht es insbesondere um die Anhebung der Grenzen für Ehrenamtspauschalen und Freibeträge. Frau Höll hat bereits gesagt, dass viele gar nicht in den Genuss kommen, höhere Freibeträge geltend zu machen. Die Ehrenamtlichen wollen auch gar nicht, dass man sich darauf konzentriert. Was wir und die Ehrenamtlichen wollen, ist eine Stärkung der Anerkennungskultur, was das ehrenamtliche Engagement in der Bundesrepublik betrifft. ({4}) Herr Steffel, es geht nicht um Nörgelei und kleinteilige Kritik; aber wir müssen das Gesetz sehr wohl daraufhin überprüfen, ob wir alle würdigen, die in diesem Land ehrenamtlich tätig sind, oder ob wir das nicht tun. Wir schlagen vor, über diesen Gesetzentwurf in einer Anhörung intensiv zu diskutieren und auch diejenigen, die sich ehrenamtlich betätigen, zu Wort kommen zu lassen. ({5}) Ich will einige Fragen stellen, die mir von ehrenamtlich Tätigen aus meinem Wahlkreis mitgegeben wurden: Unter welchen Bedingungen leisten Feuerwehrleute ihren Dienst? Haben sie ausreichend Unterstützung, wenn sie von schweren Unfällen zurückkommen, zu denen sie gerufen werden? Wie sieht es aus mit der Freistellung in Betrieben? Wie kann man dies für die Kameradinnen und Kameraden bei der Feuerwehr besser regeln? Wie geht der Gesetzgeber mit der Forderung um, über zusätzliche Rentenpunkte für langjährige Mitglieder der Feuerwehr nachzudenken? ({6}) Wie können wir Lehrerinnen und Lehrer unterstützen, die sich nach der Schule um Kinder und Jugendliche kümmern? Kann man ihre Arbeit vielleicht durch Abgeltungsstunden usw. unterstützen? Warum sind die Ausgabestellen der Tafeln im Land immer in stark sanierungsbedürftigen Räumen untergebracht? Warum müssen Sportvereine immer höhere Kosten tragen, wenn sie Sportanlagen der Kommunen nutzen? Wie kann Ehrenamt im ländlichen Raum weiterhin funktionieren, wenn die Bevölkerung immer älter und weniger wird? - Das sind Fragen, die wir gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und den ehrenamtlich Tätigen klären sollten. Ihre Würdigung des Ehrenamts beschränkt sich im monetären Bereich leider nur auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nachdem Sie im Gesundheitssystem eine Zweiklassengesellschaft geschaffen haben, setzen Sie dies im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements leider fort. Ich will Ihnen auch sagen, warum. - Die CDU lächelt bei diesen Ausführungen. ({7}) Während normale Erwerbstätige beim Überschreiten ihrer Freibetragsgrenze nur für einen Teil Steuern abzuführen haben, wird dem Arbeitslosengeld-II-Beziehenden oberhalb der Freibetragsgrenze die Aufwandsentschädigung zu 100 Prozent abgezogen bzw. auf den Regelsatz angerechnet. ({8}) Das ist für die Linke nicht hinnehmbar, ({9}) übrigens auch deshalb, weil wir in diesem Hause überhaupt nicht darüber reden, ob Vergütungen für Nebentätigkeiten von Bundestagsabgeordneten vielleicht auch in entsprechendem Umfang von den Diäten abgezogen werden sollten. ({10}) Aber bei Arbeitslosengeld-II-Beziehenden gehen wir so brutal heran und ziehen ihnen die Entschädigung ab. ({11}) Sie setzen sich überhaupt nicht mit der Frage auseinander, warum Aufwandsentschädigungen keine GegenKatrin Kunert leistung für erbrachte Arbeit sind, sondern Ersatz für erbrachten Aufwand. Haben Sie sich einmal gefragt, warum in Kommunalverfassungen geregelt ist, wie hoch die Aufwandsentschädigungen sind? Haben Sie sich einmal gefragt, warum in Kommunen Verordnungen oder Satzungen zum Ehrenamt beschlossen werden? Darin wird geregelt, wie groß eine Körperschaft ist, welchen Umfang die Aufgabe hat, welcher Aufwand damit verbunden ist und welche Anforderungen an Qualifikationen es gibt. All dies hat nämlich Auswirkungen auf die Höhe einer Aufwandsentschädigung. Diese Fragen haben Sie nicht beantwortet. Bei den Arbeitslosengeld-II-Beziehenden stellen Sie sich diese Fragen erst gar nicht. Sie glauben immer noch, die Erwerbslosigkeit in Deutschland bekämpfen zu können, indem Sie die Erwerbslosen bekämpfen. Das kann nicht sein. ({12}) Sie verpeilen völlig, dass bürgerschaftliches Engagement wertvoll ist, egal von wem es erbracht wird. Circa 25 Prozent der Arbeitslosengeld-II-Beziehenden bekleiden ein Ehrenamt. Ich möchte Ihnen gern ein Beispiel nennen: Kerstin ist seit Jahren mit Leib und Seele Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr im Land Brandenburg. Sie war im Kreis für die Ausbildung im Bereich ABC-Unfälle und für den Umgang mit Kampfmitteln, Tierseuchen und Terroranschlägen zuständig. Regelmäßig hat sie dazu Lehrgänge durchgeführt. Zudem war sie Jugendwartin bei der Jugendfeuerwehr und war für die Ausbildung von 300 Feuerwehrleuten zuständig. Sie war auch Sicherheitspartnerin der Polizei. Das alles sind Tätigkeiten, für die ein hohes Maß an Qualifikation, Engagement und Disziplin erforderlich sind. Die Anrechnungspraxis hat dazu geführt, dass sie ihre Ehrenämter aufgegeben hat. Sie hat zwei Berufe, in denen sie arbeiten könnte. Entsprechende Möglichkeiten hat sie aber vor Ort nicht; sie bezieht daher Arbeitslosengeld II. Sie kann demnächst vielleicht wieder eine neue Arbeit finden und würde die ehrenamtliche Tätigkeit wieder aufnehmen. Ich zitiere aus einer Pressemitteilung der Bundesregierung: „Bürgerschaftliches Engagement ist ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft.“ Das Problem aber ist: Diesen Grundpfeiler reißen Sie in dem von mir gerade erwähnten Bereich ein. Er ist aber viel zu wichtig für die Gesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von Langzeitarbeitslosen dürfen Sie nicht weiter diskriminieren. Die Linke fordert, diese Anrechnungspraxis abzuschaffen. Schönen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Stephan Mayer ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Von Albert Schweitzer stammt das Zitat: „Das Wenige, das du tun kannst, ist viel.“ Dieses Zitat verdeutlicht, wie wichtig jeder Beitrag für den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens und das menschliche Miteinander in Deutschland ist. Mehr als 23 Millionen Bundesbürger folgen in Deutschland diesem Motto und engagieren sich in den unterschiedlichsten Bereichen ehrenamtlich, sei es im sportlichen, kulturellen oder karitativen Bereich, insbesondere aber auch im Bildungsbereich und in vielen Selbsthilfegruppen. Der Gesetzentwurf hilft all denjenigen, die sich in Deutschland ehrenamtlich engagieren. Deswegen - das muss ich gestehen - wundert es mich, dass diese Debatte am heutigen Vormittag so kontrovers verläuft. ({0}) Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie sich insgeheim nur darüber ärgern, dass Sie diesen Gesetzentwurf nicht vorgelegt haben. ({1}) Von dem Gesetzentwurf profitiert jeder vierte Bundesbürger in Deutschland. Ich betone auch: Wenn der Staat einspringen müsste, dann wäre es in keiner Weise finanzierbar. Der Staat wäre völlig überfordert. Ich gehe sogar noch weiter: Es wäre auch nicht richtig, wenn der Staat einspringen würde. Denn die Kreativität, Individualität und auch die breite Vielfalt an Angeboten könnte der Staat nicht so abdecken, wie es die vielen ehrenamtlich Engagierten und die zahllosen Vereine in Deutschland tun. ({2}) Das einzige Sperrige an dem Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht der Name. Er ist zu lang geraten und erklärt sich auch nicht von selbst. Aber der Inhalt des Gesetzentwurfs ist alles andere als sperrig. Es gibt zahllose Regelungen, die bessere Rahmenbedingungen für das Ehrenamt in Deutschland schaffen. Ich komme gerade von einem parlamentarischen Frühstückstermin mit Ehrenamtlichen vom THW, die im Bereich des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes tätig sind. Ich habe ihnen erzählt, welche Debatte an diesem Plenartag als erste ansteht. Sie waren voll des Lobes über den Inhalt dieses Gesetzentwurfes. Sie haben mir deutlich gemacht - ich glaube, dies gilt es noch einmal herauszustreichen -: Es geht ihnen nicht darum, 1 oder 2 Euro mehr zu bekommen oder auf 1 oder 2 Euro, die sie zusätzlich bekommen, keine Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern zahlen zu müssen. Vielmehr geht es ihnen um die Wertschätzung, um die Anerkennung ihrer Leistung, ihres Engagements. Das ist neben der finanziellen Besserstellung, die durch dieses Gesetz erreicht Stephan Mayer ({3}) wird, der zentrale, vielleicht sogar wichtigere Punkt: dass ehrenamtliches Engagement in Deutschland wirklich wertgeschätzt wird. Ich finde es schon schade, wenn zahlreiche Vertreter der Opposition in ihren Reden immer wieder versuchen, das Ehrenamt in Deutschland madig zu machen, ({4}) und darauf verweisen, dass die Situation in anderen Ländern doch viel besser sei. Wir können auf die ehrenamtliche Kultur, die wir in Deutschland haben, wirklich stolz sein. Das Gesetz, das wir heute in erster Lesung beraten, verstärkt und verbessert diese ehrenamtliche Kultur in Zukunft. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es geht vor allem darum, dass man unnötige Bürokratie abbaut. Wenn zum Beispiel die Ehrenamtspauschale von 500 Euro auf 720 Euro erhöht wird, dann ist dies für den Einzelnen zwar kein entscheidender Betrag, aber es entlastet ihn davon, dass er Quittungen sammeln und aufwendig Einzelabrechnungen anfertigen muss. Er kann dann pauschal einen Entschädigungsbetrag geltend machen und muss nicht erst eigens Nachweise vorlegen. Das entlastet den Übungsleiter, das entlastet das Vorstandsmitglied, das entlastet denjenigen, der ehrenamtlich in einer Selbsthilfegruppe tätig ist. Wir wollen doch, dass die Bürgerinnen und Bürger sich ihrem ehrenamtlichen Engagement zuwenden und ihre Zeit nicht am Schreibtisch verbringen. ({5}) Es geht auch darum, dass wir uns Gedanken darüber machen, in welchen Bereichen man vielleicht das eine oder andere noch verbessern könnte. Allerdings: Immer nur von einer Verbesserung der Anerkennungskultur für ehrenamtliches Engagement in Deutschland zu reden, ist mir persönlich zu wenig. Jeder von uns kennt es: In Sonntagsreden wird wohlfeil über die Bedeutung ehrenamtlichen Engagements gesprochen. Es geht jetzt in der konkreten Gesetzesarbeit darum, wirklich Hand anzulegen. Ich bin schon der Meinung, dass man das eine oder andere über diesen Gesetzentwurf hinaus verbessern kann. Ich denke zum Beispiel daran, dass Schiedsrichter oder Kampfrichter jedes Wochenende viele Stunden in Turnhallen und auf Sportplätzen verbringen, ohne dass sie in § 3 Nr. 26 des Einkommensteuergesetzes einbezogen sind. Da ist meines Erachtens noch Verbesserungsbedarf gegeben. ({6}) Die Begründung dafür, dass das bisher nicht so war, ist, dass nur pädagogisch ausgerichtete Tätigkeiten unter diesen Paragrafen fallen. Meines Erachtens ist die Arbeit, die ein Schiedsrichter oder ein Kampfrichter erbringt, in disziplinarischer, pädagogischer Hinsicht für junge Menschen vielleicht wertvoller als die manches Übungsleiters. Angesichts dessen, wie sich manche Schiedsrichter und Kampfrichter behandeln lassen müssen - sie werden nicht nur ausgepfiffen und angepöbelt, sondern teilweise sogar auch tätlich angegriffen -, ({7}) wäre es nur recht und billig, die Kampf- und die Schiedsrichter genauso zu behandeln wie die Übungsleiter. ({8}) Was mir persönlich in Gesprächen mit ehrenamtlich Engagierten oder potenziell Willigen auffällt, ist, dass sie sagen: Na ja, aber dann stehe ich doch mit einem Bein schon im Gefängnis. Ich habe ohnehin das Problem, meiner Familie erklären zu müssen, dass ich meine Freizeit nicht bei ihr verbringe, sondern sie für Mitmenschen opfere, indem ich etwa auf dem Sportplatz bin, die Kinder zum Training, zu den Auswärtsspielen fahre, die Trikots wasche. Dabei kann immer einmal etwas passieren, was mir möglicherweise zum Vorwurf gemacht wird. - Insofern ist es ein sehr sinnstiftender und auch sehr zielgerichteter Ansatz, den Haftungsmaßstab für ehrenamtlich Tätige zu reduzieren. In Zukunft wird es neben § 31 a den § 31 b im BGB geben, durch den sämtliche ehrenamtlich Tätigen von der Haftung ausgenommen werden - außer wenn natürlich Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt. ({9}) Ich glaube, dass dadurch konkret sehr viele Hemmschwellen für viele Willige abgebaut würden, die an sich bereit wären, sich ehrenamtlich zu engagieren, dies aber aufgrund der bisher sehr strengen Haftungsmaßstäbe nicht getan haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt ist dies wirklich ein Gesetzentwurf, der sich sehen lassen kann. Er wird im Bereich des Ehrenamts durchaus auf große Anerkennung stoßen. Es ist richtig, dass man für Sportvereine, die im Zweckbetrieb Veranstaltungen durchführen, den Freibetrag von 35 000 Euro auf 45 000 Euro erhöht. ({10}) Dies ist sachgerecht und zielgerichtet, weil es immer wieder Veranstaltungen gibt, für die die bisherige Grenze von 35 000 Euro nicht ausreicht. Deswegen würde es mich wirklich freuen - das sage ich abschließend -, wenn die Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition diesem Gesetzentwurf nicht so apodiktisch negativ gegenüberstünden. Auch wenn es nicht Ihre Erfindung ist, meine Damen und Herren: Begleiten Sie uns positiv und konstruktiv auf diesem Weg! Mit diesem Gesetzentwurf wird das Ehrenamt in Deutschland ganz konkret gestärkt und verbessert. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Ute Kumpf für die SPD-Fraktion. ({0})

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege von Stetten und lieber Kollege Mayer, wir nehmen die Einladung gern an, dieses Gesetz in der Beratung positiv zu begleiten, um zu erreichen, dass es zu einem Meilenstein in der Reform des Gemeinnützigkeitsrechts wird, wie wir das 2007 mit dem Gesetz „Hilfen für Helfer“ geleistet haben. ({0}) Sie haben selbst darauf hingewiesen, dass da einiges offengeblieben ist. Sie kennen auch das, was all die Verbände, Organisationen, Vereine und Initiativen sagen: Was damals, 2007, noch nicht geregelt worden ist, das muss jetzt geregelt werden. - Es geht da oft gar nicht so sehr um das Geld; es geht vor allem um strukturelle Verbesserungen, es geht um Vereinfachungen, ({1}) es geht tatsächlich um den Abbau von Bürokratie. Dieser Katalog ist Ihnen bekannt. Im Koalitionsvertrag ist auch angekündigt worden, dass die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen wird, der zur Entbürokratisierung beiträgt. Ist der vorliegende Gesetzentwurf jetzt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung, also auch des Finanzministeriums? Das Finanzministerium ist, glaube ich, gar nicht vertreten. ({2}) - Es ist aber nicht politisch vertreten. ({3}) Lieber Kollege Kauder, Steinbrück hat damals da gesessen. Er hat sogar geredet. Wo ist Herr Schäuble? ({4}) Oder wo ist wenigstens der Parlamentarische Staatssekretär? Es geht hier um die Wertigkeit, die dadurch zum Ausdruck kommt. Ich finde, Loben ist wichtig - das tun wir auch -, aber Lob wird zur Lobhudelei, wenn die Schwachstellen, die in diesem Gesetz sind, nicht beseitigt werden. Es ist unsere Aufgabe, in diesem Parlament ein besseres Gesetz auf den Weg zu bringen. ({5}) Wir stehen mit dieser Kritik und mit dieser Anmerkung nicht allein da. 2010 hat das Nationale Forum für Engagement und Partizipation einen Katalog erarbeitet, auch mit Unterstützung aus dem Ministerium. Das Bündnis für Gemeinnützigkeit hat aus diesem Katalog eine Synopse zusammengestellt, aus der sich ergibt, inwieweit Regelungen noch notwendig sind. Das alles ist Ihnen bekannt, aber leider sind diese Vorschläge, die sich nicht unbedingt in der Erhöhung der Übungsleiterpauschale oder der Ehrenamtspauschale erschöpfen, nur unzureichend aufgegriffen worden. ({6}) Es ist, denke ich, unsere Aufgabe, diese Vorschläge aus der Bürgergesellschaft, aus der Zivilgesellschaft mit einzubinden. Was die Menschen sowie die Organisationen und Vereine irritiert hat: Normalerweise ist es so, dass zu einem Gesetzentwurf, der von der Bundesregierung vorgelegt wird, eine Voranhörung der Verbände stattfindet. Eine solche Anhörung hat es hier nicht gegeben. ({7}) Alle wurden davon überrascht. Es war auch unklar: Ist der Bundesrat von Anfang an dabei oder nicht? Auf einmal heißt es: Der Bundesrat soll doch dabei sein. Dieses Gesetz ist zustimmungsbedürftig. Sie brauchen auch die Zustimmung der Länder. ({8}) Es ist doch wichtig, bei diesem zentralen Thema die Zustimmung der Zivilgesellschaft und auch die des Bundesrates von Anfang an zu organisieren. Deswegen bitte ich Sie, eine entsprechende Klarstellung zu liefern. Der Gesetzentwurf wird von Ihnen ja so gelobt. Ich finde es gut, dass er da ist. So können wir weiter daran stricken und ihn sozusagen zu einem wirklich wohlgenährten Kind machen - mit unserer Unterstützung und, wie ich denke, auch mit Unterstützung der Grünen sowie der Linken. Wir alle werden daran arbeiten, dass es tatsächlich ein herausragender Meilenstein wird. Aber nun zur Reaktion der Organisationen auf Ihren Gesetzentwurf. Es gibt Kritik. Sie wissen ganz genau, dass die Verbände ein bisschen zurückhaltend sind, weil sie wissen, dass sie von verschiedenen Häusern zum Teil finanziell abhängig sind. Olaf Zimmermann hat gesagt: Ein bisschen Butter bei die Fische wäre vielleicht nicht schlecht. - Wir können die Butter liefern. Frau Fehres aus dem Sportbereich hat kritisch angemerkt, dass die Erhöhung der Übungsleiterpauschale zwar ganz gut ist, aber dass der Punkt Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements wieder nicht die notwendige Beachtung findet. Auch Herr Fleisch vom Bundesverband Deutscher Stiftungen hat darauf verwiesen, dass es nicht nur darum geht, Stiftungen zu bedienen. Die Stiftungen werden in dem Gesetz gut bedient. Wir müssen noch einmal genau hinschauen, ob die Regelungen auf einem guten Weg sind. Aber Herr Fleisch hat darum geworben, dass auch alle anderen ehrenamtlich tätigen Menschen von diesem Gesetz profitieren. Es ist unsere Aufgabe, entsprechend dafür zu sorgen. ({9}) Sie wissen selbst: Auch Sie als Regierungsfraktionen stehen im Wort. Es gibt in Ihrem Gesetzentwurf den Teil der Begründung - dazu werde ich noch etwas sagen, weil auch dieser Teil sehr problematisch ist -, und es gibt einen Engagementbericht. Sie selber reden davon, dass die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement verbessert werden können, wobei sich Ihre Definition von Rahmenbedingungen und Infrastruktur oft auf die Vereine beschränkt. Aber auch für die Vereine tun Sie in diesem Gesetz schlichtweg zu wenig: Sie werden nicht von Bürokratie entlastet. Es wird zu wenig getan, um Klarheit zu schaffen, zum Beispiel bei Umsatzsteuerfragen. Es wird in diesem Gesetz zu wenig getan, die Weichen so zu stellen, dass bei einer Insolvenz eines Spenders die gespendeten Gelder nicht mehr zurückgefordert werden können. Eine ganze Latte von Fragen ist hier nicht beantwortet worden, die wir im Laufe der Beratungen vonseiten der SPD ansprechen werden. Dazu gehört - ich möchte das an dieser Stelle sagen; dies ist ein wichtiger Punkt, den wir seit fünf Jahren vor uns herschieben; er beruht auf dem Gesetz von 2007 -: Die Klarstellung zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements ({10}) muss als eigenständiger Zweck anerkannt werden. Das ist eine Forderung aller Verbände. Dafür müssen wir Sorge tragen. ({11}) - Ich weiß, ich war bei den Verhandlungen dabei. Ich weiß, woher das rührt. Da bin ich nicht außen vor. Wir hatten damals mehr gefordert, mehr gewünscht. Jetzt ist es die Aufgabe, dies tatsächlich zu leisten. Es fehlt auch eine Klarstellung, dass die öffentlichen Zuschüsse, die die Vereine bekommen, tatsächlich umsatzsteuerfrei gestellt werden. Dies ist ein großes Thema, das gerade kleine Vereine beschäftigt, die eine entsprechende Unterstützung bekommen. Sie loben ja den Sport rauf und runter. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass im Sportbereich durch Strukturveränderungen, durch Fusionen ein großes Problem bei der Grunderwerbsteuer entsteht. Dies ist nicht geregelt. Einige Fusionen werden nicht durchgeführt, weil dem steuerliche Hemmnisse entgegenstehen. ({12}) Manche Städte - Stuttgart macht es -, die reichen Städte, helfen dann den Sportvereinen. Aber nicht alle Städte sind reich, also muss auch hier eine ganz klare Regelung getroffen werden. ({13}) - Kollege Kauder, lassen Sie doch die Nebenkriegsschauplätze. Dies interessiert mich an dieser Stelle überhaupt nicht. Ich will den Vereinen helfen und hier keine Polemiken hören. ({14}) Zum Schluss einige kritische Anmerkungen. Ähnlich hat es die Kollegin von der Linken gesehen; auch die Kollegin Paus hat es angeführt. Es geht um Ihren Begriff des Engagements in der Begründung in diesem Gesetzentwurf. In der Enquete-Kommission waren wir uns einig: Engagement ist freiwillig, ({15}) kann nicht verordnet werden, muss eigensinnig sein und darf nicht dazu führen, dass man hier einen kleinen dritten oder vierten grauen Arbeitsmarkt aufbaut. ({16}) Es darf vor allem nicht sein, dass Engagierte zu Lückenbüßern funktionalisiert werden. Die Leute spüren das, sind sauer und sagen: Da machen wir nicht mehr mit. Daher ist es unsere Pflicht und Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass solche Begrifflichkeiten, die Sie in Ihrer Begründung verwenden, gestrichen werden. Die Alarmglocken schrillen vor allem bei den Engagierten ganz heftig, da in Ihrem Ersten Engagementbericht eine Definition von bürgerschaftlichem Engagement auftaucht, die so moralisierend und ideologieüberfrachtet ist, dass alle fragen: Was soll das sein? ({17}) Dort wird auf einmal von der Freiwilligkeit in der Mitverantwortung gesprochen. Die Leute sagen: Wir waren in der Finanzkrise verantwortlich. Wir haben in unserem Engagement nicht nachgelassen. Wir haben im Gegensatz zu den Unternehmen die Verantwortung mitgetragen. Wo ist die Verantwortung der Unternehmen in diesem Sektor?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hier stellt sich für mich die Frage: Wo ist die Verantwortung der Bundesregierung, sich diesem Thema zu stellen und dieses Gesetz positiv zu begleiten. Einen dicken Gruß und eine aufrichtige Einladung an die Bundesregierung -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, mit den Grüßen sollte man anfangen, weil am Ende dafür keine Zeit mehr ist.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. - Aber ich wollte gerade noch den Finanzminister Schäuble einladen, dass er auf unserer Seite ist, wenn es darum geht, Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel das Wort. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerne will ich die versöhnliche Art der Diskussion aufgreifen, die Frau Kumpf hier eingeführt hat. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir es durch Berichterstattergespräche, möglicherweise auch durch Ergänzungen unseres Gesetzentwurfs, hinbekommen, dass sich der vorliegende Entwurf auf eine breite parlamentarische Mehrheit stützen kann. ({0}) Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Wir brauchen den Bundesrat. Es wäre ein gutes Signal an den Bundesrat, wenn wir hier miteinander festhalten, dass es uns bei diesem Thema nicht um die parteipolitische Auseinandersetzung geht, sondern um das Ehrenamt, vor allen Dingen im Sportbereich. Das ist der gemeinsame Wunsch des Bundestages, und wir würden uns freuen, wenn der Bundesrat dann auch an unserer Seite wäre. Herzlichen Dank für die konstruktive Art der Diskussion. ({1}) Frau Hinz, ich stimme Ihnen völlig zu: Es wäre nicht in Ordnung, wenn mit unserem Gesetzentwurf einer Tendenz Vorschub geleistet würde, die den Eindruck erweckt, der Staat ziehe sich zurück ({2}) und die Vereine müssten diese Lücke ausfüllen. Die Stelle, aus der das Zitat stammt, das Sie und, ich glaube, auch andere Redner gebracht haben, bezieht sich ausschließlich auf den Bereich der Stiftungen; hier müssen wir fair miteinander sein. ({3}) - Nein, Frau Schieder. - Auch bei den Kirchen gibt es die Entwicklung, dass sich diese manches nicht mehr leisten können und die Gemeinden dann durch Stiftungen ergänzend tätig werden. Das trifft auch noch auf andere Bereiche zu. Beispielsweise werden für große kulturelle Veranstaltungen in den Kommunen Stiftungen gegründet, und zwar durch Unternehmen, auch durch die örtlichen Stadtwerke. ({4}) Das sind die Bereiche, an die wir denken. Ich bin wie Sie der Auffassung, dass sich der Staat hier nicht der Verantwortung entziehen darf, gerade wenn es um Sportförderung geht. ({5}) Ich will nur auf eines hinweisen: Durch die Übernahme der Grundsicherung im Alter seitens des Bundes sind die Kommunen finanziell erheblich entlastet. Ich sage Ihnen: Davon profitieren auch die Bereiche Sport und Kultur, weil sonst im Rahmen der freiwilligen Leistungen vielleicht vieles auf den Prüfstand gekommen wäre, jetzt aber die Kommunen neuen Handlungsspielraum haben. ({6}) Insofern haben wir ganz konkret etwas dafür getan, dass sich der Staat nicht aus der Verantwortung zieht. Frau Kunert, Sie haben dem Kollegen Buschmann zu verstehen gegeben, man solle nur über das reden, wovon man Ahnung hat, und haben in diesem Zusammenhang die Feuerwehrrente angesprochen. Ich sage Ihnen: In meinem Wahlkreis lehnen die Feuerwehren diese Rente ab, und zwar nicht nur deshalb, weil das Ganze mit unendlich viel Bürokratie verbunden ist, sondern weil es noch immer zu Situationen kommt, dass einige Feuerwehrleute diese Rente erhalten, andere hingegen nicht. Dann fragen Letztere: Ist denn unsere Leistung für die Feuerwehr weniger wert? Irgendwann macht sich dann der Spaltpilz in diesem ehrenamtlichen Bereich breit. Wenn es dann um Übungen und Einsätze geht, werden einige Betroffene sagen: Lasst doch erst einmal diejenigen fahren, die die Rente bekommen, und nicht die anderen, die über Jahre und Jahrzehnte Dienst geleistet haben, das aber ohne Rente. Wir wollen gerade das Ehrenamt stärken. Deswegen ist es nicht richtig, mit irgendwelchen Leistungen an den unterschiedlichen Stelle letztlich die Arbeit und den Zusammenhalt vor Ort infrage zu stellen. ({7}) Ich möchte auf Folgendes hinweisen - Frau Hinz hat es bereits angesprochen -: Es geht nicht um einen allgemeinen Steuerbefreiungstatbestand, sondern es geht um Leistungen, die ein Verein Übungsleitern oder sonst wie ehrenamtlich Tätigen gewährt. Diese Betroffenen sollen steuerlich ein bisschen mehr Spielraum bekommen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Darf die Frau Kollegin Kumpf eine Zwischenfrage stellen oder eine Zwischenbemerkung machen?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grindel, ist Ihnen bekannt, dass Ihre jetzt vorgesehene Regelung die Feuerwehrleute nicht umfasst, sondern dass sie nur den Sportbereich und die Übungsleiter umfasst, und eben nicht die Hilfeeliten wie Deutsches Rotes Kreuz, THW und Feuerwehr, die aus öffentlichen Kassen bezahlt werden?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kumpf, das ist eine Frage der Rechtsanwendung durch die Steuerbehörden bzw. das Finanzamt. ({0}) Wir müssen mit dem Finanzministerium darüber sprechen, welche Rahmenbedingungen wir schaffen können. Ich sage in aller Deutlichkeit: Da es sich um Leistungen des Staates an die Feuerwehrleute handelt und nicht, wie etwa im Sportbereich, um Leistungen von Privaten aus Vereinsbeiträgen, muss man hier nach einer rechtlichen Lösung suchen. Ich bin gerne bereit, im Rahmen der von mir angesprochenen Berichterstattergespräche über diese Frage zu diskutieren. Wir wollen hier das Ehrenamt möglichst breit erreichen. Insofern ist es richtig, dass Sie hier die Vereine besonders hervorgehoben haben und gesagt haben, dass wir mehr tun müssen, um tatsächlich für Entbürokratisierung zu sorgen. Aber, Frau Kollegin Kumpf, gerade deswegen nehmen wir hier eine Erhöhung vor: Sportliche Veranstaltungen eines Vereins sind zukünftig dann als Zweckbetrieb steuerfrei, wenn die Einnahmen 45 000 Euro nicht übersteigen; bisher liegt die Grenze bei 35 000 Euro. Das ist eine konkrete Entbürokratisierungsmaßnahme für die Vereine. Wir treffen diese Regelung bewusst für den Sportbereich und nicht für den Bereich Essen und Trinken, für die Vereinsgaststätte; denn wir wollen nicht, dass vor Ort die alte Problematik auftritt - DEHOGA hat es immer wieder angesprochen und die Gaststätten im ländlichen Raum sagen: Hier wird eine Wettbewerbsverzerrung vorgenommen. ({1}) Frau Kollegin Paus, tun Sie mir einen Gefallen und sprechen Sie einmal mit Michael Vesper, dem Generaldirektor des DOSB, mit dem wir dieses Gesetz natürlich intensiv abgestimmt haben. Was Sie hier zur Frage der Übungsleiter gesagt haben, ist wirklich nicht richtig; Claudia Roth, die hinter Ihnen sitzt, weiß das. Wir haben eine Vielzahl von Programmen, etwa im Fußball, bei denen es darum geht, dass Frauen, zum Beispiel Mädchen mit Migrationshintergrund, als Trainer tätig werden. Die Vorstellung, der Übungsleiter sei ein Mann, während für das Waschen der Trikots die Frauen zuständig seien, entspricht dem Bild der Vereine der 70er-Jahre. So ist es heute wirklich nicht mehr, Frau Kollegin Paus. ({2}) Ein weiteres Kennzeichen des heutigen Ehrenamts: Wir stellen fest, dass das Leisten-Wollen des Ehrenamtlichen gut ist, aber das Können-Müssen hinzukommen muss. Ehrenamtliche sind bewusst keine Profis; aber die Erwartung der Mitglieder ist immer stärker auf eine professionelle Vereinsarbeit gerichtet. Deswegen machen wir jetzt so viel für Übungsleiter. Denn sie sind eben nicht mehr allein für das Training zuständig. Sie leisten einen Beitrag zur Integration und zur Inklusion. Sie müssen sich mit Maßnahmen zur Prävention von sexualisierter Gewalt, Spielsucht, Wettmanipulation und vielem anderen mehr auseinandersetzen. Die Qualität eines Übungsleiters - das belegen sportwissenschaftliche Untersuchungen - entscheidet ganz zentral darüber, ob ein junger Mensch beim Sport bleibt oder ein Drop-out wird und sich anderen Freizeitbetätigungen zuwendet. Deswegen ist es eine richtige Maßnahme, die Übungsleiterpauschale im Sinne einer Anerkennungskultur anzuheben. Die Übungsleiter müssen nicht noch Geld mitbringen, wenn sie ihren Dienst an der Gesellschaft leisten, sondern bedürfen der Unterstützung. ({3}) Das gilt auch für die ehrenamtlich Tätigen: für den Schiedsrichter, für den Schatzmeister, für denjenigen, der am Wochenende den Platz kreidet oder sich als Öffentlichkeitsreferent um die Homepage kümmert. Ich sage hier ganz klar: Wir wollen vor allen Dingen den Vereinen im Breitensport helfen. Die öffentliche Wahrnehmung ist meines Erachtens zu sehr auf den Spitzensport gerichtet. Große Vereine können sich einen Geschäftsführer leisten. Sie haben Steuerberater und Rechtsanwälte. Sie haben unser Ehrenamtspaket nicht so sehr nötig. Wir richten uns an den Verein um die Ecke, weil wir wissen, dass gute Arbeit an der Basis, im Breitensport, die Voraussetzung ist, um überhaupt gute Erfolge und Spitzenleistungen erreichen zu können. Wir haben eine Einheit des Sports: Ohne eine gute Arbeit in der Breite gibt es keine gute Spitze. Deswegen bringen wir unser Paket auf den Weg. Lassen Sie mich eines klar sagen: Frau Kumpf hat zu Recht angesprochen - auch das gehört dazu -, dass wir die Menschen allein mit diesem Paket nicht dazu bewegen können, ehrenamtlich tätig zu werden. Wir müssen den Menschen deutlich machen, dass ehrenamtliches Engagement eine Bereicherung für ihr eigenes Leben ist, dass man dabei viele Kompetenzen erwirbt, die man auch im Berufsleben nutzen kann. Deshalb müssen Unternehmen ehrenamtliches Engagement fördern. Hier geht es um soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Führungsstärke, aber auch um geistige und körperliche Fitness. Viele Unternehmen geben eine Menge Geld aus, um über Schulungsmaßnahmen Fähigkeiten zu vermitteln, die im Verein täglich gelebt werden. Wir müssen gerade jungen Leuten und allen anderen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen, deutlich machen: Der Ehrenamtliche ist nicht der Dumme, er ist der Schlaue. Er muss von uns unterstützt werden. Das tun wir. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Detlef Seif, auch für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mangel des vorliegenden Gesetzentwurfes wurde angesprochen: Sein Name ist furchtbar, nicht hinnehmbar und bedarf der Änderung. ({0}) Wir beraten den Entwurf heute in erster Lesung. Wir alle wissen, dass der Gesetzentwurf in Teilbereichen noch geändert werden kann und auch geändert werden sollte. ({1}) Bei der Diskussion konnte man in der Tat den Eindruck bekommen, dass es sich um ein Streitthema handelt. Das Versöhnende stelle ich voran: Wir alle schätzen die 23 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, die ehrenamtlich tätig sind. ({2}) Wir alle wissen, wie wichtig das ehrenamtliche Engagement für die Gesellschaft ist. Wir alle haben ein Interesse daran, das Ehrenamt zu fördern und zu unterstützen. ({3}) In Bezug auf die Historie ist auf Folgendes hinzuweisen: Im Frühjahr 2011 gab es eine Initiative der Länder Baden-Württemberg und Saarland. Sie betraf einzig und alleine die Einführung eines neuen § 31 b BGB. Es ging darum, eine Haftungserleichterung auch für Mitglieder eines Vereins herbeizuführen, wodurch sie im Prinzip mit den Vorstandsmitgliedern gleichgesetzt werden sollten. ({4}) Das haben einige Koalitionspolitiker zum Anlass genommen, zu sagen: Das kann doch nicht wahr sein. Es gibt doch viele andere Bereiche, die ebenfalls geregelt werden müssen. - Deswegen wurde der vorliegende Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Diesen Ansatz sollte man lobend erwähnen. ({5}) Die Erhöhung der Übungsleiterpauschale von 2 100 auf 2 400 Euro sowie der Ehrenamtspauschale von 500 auf 720 Euro wurden angesprochen. Es handelt sich nicht um eine abzugsfähige Vergütung, sondern um eine Pauschale. Erst wenn diese überschritten wird, kommt die Steuerwirksamkeit zum Tragen. Frau Paus, das sollten Sie zukünftig berücksichtigen. ({6}) Die Erhöhung der Umsatzgrenze für Sportvereine bei sportlichen Veranstaltungen von 35 000 auf 45 000 Euro im Jahr ist ein Akt der Entbürokratisierung. Andernfalls müssen die Vereine für reine Sportveranstaltungen Aufzeichnungen in erheblichem Umfang durchführen, was die Vereine in der Vergangenheit belastet hat. Vorhin wurde die Frage gestellt: Warum gilt dies nur für Sportvereine und nicht für andere Organisationen? Das betrifft über 70 000 Sportvereine, die rein sportliche Veranstaltungen durchführen. Legen Sie uns im weiteren Verfahren dar, welche anderen Vereine betroffen sind. Sie können davon ausgehen: Wenn es wirklich noch Regelungsbedarf gibt, dann werden wir den Gesetzentwurf entsprechend anpassen. Ihre Ausführungen waren bisher nur abstrakt, Sie haben keine konkreten Fallbeispiele gebracht. ({7}) Die Frist, innerhalb der steuerbegünstigte Körperschaften ihre Mittel verwenden müssen, wird um ein Jahr verlängert. Auch die Wiederbeschaffungsrücklage wird neu geregelt. Dies führt zu einer Entlastung der Vereine, weil sie nicht unter dem Druck stehen, etwas tun zu müssen, nach dem Motto: Wir haben da noch etwas in der Kasse, das muss unbedingt ausgegeben werden. Kaum lag der Gesetzentwurf vor und wurde vom Bundeskabinett beschlossen, wurde auch schon erste Kritik geübt. Frau Kumpf, Sie hatten direkt, wahrscheinlich im Eifer des Gefechts, eine Pressemitteilung herausgegeben. Sie haben unter anderem in Bezug auf § 52 Abgabenordnung kritisiert, dass Engagement insgesamt förderungswürdig sei und nicht nur, wenn bestimmte Zwecke erfüllt würden. ({8}) - Richtig, das ist eine alte Kamelle. Sie haben eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die Antwort war: Förderungswürdig sind nur die Tätigkeit und das Engagement, die oder das tatsächlich mildtätig, gemeinnützig oder kirchlich-kulturell ist. Daran ist auch nichts zu ändern. ({9}) Sie haben kritisiert, dass die Vereine in Bezug auf öffentliche Zuschüsse Gefahr liefen, in eine Falle zu tappen. Öffentliche Zuschüsse müssten eindeutig umsatzsteuerfrei gestellt werden. Allgemeine Zuschüsse, das heißt Zuschüsse ohne Gegenleistung, waren und sind umsatzsteuerfrei, und sie werden auch Zukunft umsatzsteuerfrei bleiben. Geht es um die Fälle, in denen der Verein Gegenleistungen vereinbart, kann ich nur empfehlen, eine andere Rechtsgestaltung zu wählen. In den meisten Fällen ist das überhaupt kein Problem. Wir sehen keinen Bedarf, das Gesetz an dieser Stelle neu zu regeln. Die Kritik, die Sie hier und im Vorfeld geübt haben, ist Teil einer regelrechten Neiddebatte. ({10}) Man kann Ihnen wirklich dankbar dafür sein, weil Sie damit zeigen, dass der Gesetzentwurf gut ist. ({11}) Frau Höll, Sie haben gesagt, es würden flexible Rahmenbedingungen eingeführt. ({12}) - Sie sind nicht Frau Höll, das weiß ich. Ich gucke Sie aber auch gern an. ({13}) Frau Höll, Sie haben von flexiblen Rahmenbedingungen gesprochen und gesagt, das Gesetz müsse verbindlich sein. Damit vernebeln Sie natürlich. Das Gesetz ist und bleibt verbindlich, aber durch die Erhöhung der Umsatzgrenze von 35 000 Euro auf 45 000 Euro, durch die Wiederbeschaffungsrücklage, die jetzt geregelt wird, und durch die freie Rücklage, die man ein Jahr länger verwenden kann, sind die Vereine in der Lage, flexibler zu arbeiten. Das ist damit gemeint. Damit ist nicht gemeint, dass wir ein Gesetz haben, das in alle Richtungen zu bewegen und völlig unverbindlich ist. Machen Sie Ihre Vorschläge im Detail. Ich denke, wir alle sind bei diesem Thema sehr engagiert, weil wir wissen, wie wichtig der Einsatz der Menschen in diesem Land ist. Der Kollege Grindel hat es schon gesagt: Es geht nicht darum, dass sich der Staat der Verantwortung entzieht und staatliche Aufgaben überträgt. Das werden wir Koalitionspolitiker sehr sorgfältig beobachten. Wir werden Regelungen entgegenwirken, die etwas anderes wollen. Lassen Sie uns gemeinsam an dem Thema arbeiten. Lassen Sie uns das Ehrenamt gemeinsam nach vorne bringen und es fördern. Lassen Sie uns das Gesetz - vielleicht mit kleinen Änderungen - zügig umsetzen. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 17/11316 und 17/5713 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Hat jemand dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann fängt das Ganze mit großem Einver- nehmen an, und die Überweisungen sind so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 f auf: a) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dağdelen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE Umgang mit der NS-Vergangenheit - Drucksachen 17/4126, 17/8134 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE NS-Vergangenheit in Bundesministerien aufklären - Drucksachen 17/3748, 17/9448 Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster ({1}) Dr. Stefan Ruppert Wolfgang Wieland c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Michael Kretschmer, Dr. Hans-Peter Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert, Patrick Kurth ({3}), Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern - Die Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten staatlichen Institutionen in Bezug auf die NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugang unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen - zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Roth ({4}), Tom Koenigs, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NS-Vergangenheit von Bundesministerien und Behörden systematisch aufarbeiten - Bestandsaufnahme zur Forschung erstellen Erinnerungsarbeit koordinieren - zu dem Antrag der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Wolfgang Wieland, Jerzy Präsident Dr. Norbert Lammert Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verantwortlichkeit der Bundesregierung für den Umgang des Bundesnachrichtendienstes mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf Eichmann - Drucksachen 17/11001, 17/10068, 17/4586, 17/11260 Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster ({5}) Dr. Stefan Ruppert Dr. Konstantin von Notz d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Demokratie durch Transparenz stärken - Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich regeln - Drucksachen 17/6128, 17/11261 Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster ({7}) Dr. Stefan Ruppert Wolfgang Wieland e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen - Drucksachen 17/2201, 17/11262 Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster ({9}) Dr. Stefan Ruppert Wolfgang Wieland f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichtes stärken - Drucksachen 17/4037, 17/11383 Berichterstattung: Abgeordnete Detlef Seif Sebastian Edathy Jens Petermann Es liegt hierzu ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zu ihrer Großen Anfrage vor. Interfraktionell ist auch für diese Debatte eine Aussprache von 90 Minuten vorgesehen. Das findet offenkundig allgemeine Zustimmung und ist damit so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({11})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, einen Tag vor dem 9. November, führen wir eine wichtige Debatte, die aktueller denn je ist. Wieso? Vor kurzem wurde bekannt, dass der BND jahrelang den Aufenthaltsort von Adolf Eichmann kannte. Geschehen ist nichts. Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, verantwortlich für 7 591 Deportationen und 4 342 Hinrichtungen, wurde 1966 Informant des BND. Er erhielt 500 DM pro Monat. Carl-Theodor Schütz, ehemaliger SS-Hauptsturmführer, befehligte die Hinrichtung von 335 italienischen Geiseln. Wie gerade bekannt wurde, wurde er hauptamtlicher Abteilungsleiter beim BND. Es hieß, er sei eine charakterlich einwandfreie Persönlichkeit. ({0}) So steht es in seiner Personalakte, die erfreulicherweise einmal nicht geschreddert wurde. In der Antwort auf die Große Anfrage der Linken zum Umgang mit der NS-Vergangenheit sagt die Bundesregierung in ihrer Einleitung - ich darf zitieren -: Bund und Länder haben diese Aufarbeitung von Beginn an … unterstützt. Diese Behauptung ist ({1}) absurd. Sie ist wissenschaftlich nicht haltbar, und sie ist im Übrigen politisch fahrlässig und inakzeptabel. ({2}) Die 50er- und 60er-Jahre waren geprägt durch das Schweigen und die große Rückkehr der Täter in Amt und Würden. Ralph Giordano nannte dies: „Der große Frieden mit den Tätern“. Besonders bedauerlich ist gewesen, dass dies von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wurde. Die Abwehr und Beendigung der Entnazifizierung war ein wesentlicher Kern der frühen bundesdeutschen Politik - im Hintergrund übrigens gesteuert und vorangetrieben von Leuten wie Werner Best, dem ehemaligen Justiziar im Reichssicherheitshauptamt. Diese „Unfähigkeit zu trauern“, wie es die Mitscherlichs beschrieben haben, beschädigte die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik; wir haben auch heute noch mit ihr zu tun. Die Bundesregierung widerspricht sich in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage übrigens selber. Das war eben keine reine Erfolgsgeschichte. Die Bundesregierung listet auf: Ein Bundeskanzler und 26 Bundesminister waren NSDAP-Mitglieder. Noch erhellender ist die Antwort auf diese Frage - ich zitiere sie -: Wie viele Angestellte, Beamte, Mitarbeiter in Institutionen des Bundes sind nach 1949 aufgrund ihrer NS-Vergangenheit aus dem Dienst entlassen worden? Die Antwort der Bundesregierung - Zitat -: Für den Verantwortungsbereich des AA wurden explizit aufgrund ihrer Tätigkeit im „Dritten Reich“ drei Personen aus dem Auswärtigen Dienst entlassen. Drei! Man stelle sich das einmal vor! Wer die Ergebnisse der Studie „Das Amt“ zur Kenntnis genommen hat, weiß, welch verbrecherischen Charakter das Auswärtige Amt hatte. ({3}) Im Bereich des Bundesjustizministeriums wurde eine Person entlassen, und beim BKA wurden ganze drei Personen aufgrund einer NS-Belastung entlassen. Das Fazit ist erschreckend: Offenbar war eine NS-Vergangenheit der Schlüssel, um einen guten Posten in der frühen Bundesrepublik zu bekommen. Noch erschreckender sind die Zahlen, die die Bundesregierung uns zum Thema „Berufsbeamtentum und öffentlicher Dienst“ mit auf den Weg gibt. Der öffentliche Dienst wurde von den Alliierten ja als besonders naziverseucht eingestuft. Deswegen wurden die Beamten dort zu Recht aus Amt und Würden herausgedrängt. Infolge der sogenannten 131er-Regelung des Grundgesetzes - das war ein Kernanliegen der damaligen Politik, insbesondere der Konservativen im damaligen Bundestag - kehrten allerdings alle Berufsbeamten inklusive der Gestapobeamten zurück an die Schaltstellen der jungen Bundesrepublik. Ein paar Zahlen - Stichtag: 1955 -: 77,4 Prozent der Besetzungen im Verteidigungsministerium erfolgten aufgrund der 131er-Regelung; im Vertriebenenministerium waren es 71 Prozent, und im Wirtschaftsministerium waren es 68,3 Prozent. Das Ausmaß des Skandals, dass diese Täter straflos davonkamen, wird erst richtig deutlich, Kollege Kauder, wenn Sie sich die Frage stellen: Wie hat es eigentlich auf die Emigranten und die Opfer gewirkt, dass die Täter wieder in Amt und Würden kamen? Der Historiker Norbert Frei sagt zur 131er-Regelung kurz, knapp und richtig: Die Hitler den Staat gemacht hatten - kaum zehn Jahre später waren sie, soweit nicht in Pension, fast alle wieder in Amt und Würden. Das sollte auch Sie aufregen. ({4}) Jetzt sagen Sie bestimmt: Das ist vielleicht alles richtig, aber trotzdem war es eine demokratische Erfolgsgeschichte. Das war es aber leider nicht; denn die Nazirichter waren nicht nur zurück, sondern sie prägten natürlich auch die Rechtsprechung in diesem Land. Die Rechtsprechung wurde eben nicht geprägt von Leuten wie Fritz Bauer oder Ernst Fraenkel, der den Nationalsozialismus trefflich als System „bürokratisierter Rechtlosigkeit“ analysierte. Ich will das konkret belegen an der Gehilfenrechtsprechung: Der Kommandeur der Einsatzgruppe 8, der die Ermordung von 15 000 Juden befohlen und eigenhändig mit geschossen hatte, wurde als Gehilfe, nicht als Täter verurteilt. Der Adjutant von Auschwitz, der selber an Selektionen teilnahm, wurde nicht als Täter, sondern als Gehilfe verurteilt. Die Faustformel in der frühen Bundesrepublik war: Je größer die Zahl der Ermordeten und je monströser die Tat gewesen ist, umso geringer die Strafe. Es muss uns doch umtreiben, dass das bis heute nicht vollständig aufgearbeitet ist. ({5}) Die Folgen sind bekannt. Deswegen muss es jetzt darum gehen, alles offenzulegen. Ich kann nicht verstehen, dass die Bundesregierung in einer Drucksache zur Aufarbeitung der Geschichte des Verfassungsschutzes folgende Auflage macht - ich zitiere -: Das BfV begleitet die Drucklegung des Buches - über seine Vergangenheit und entscheidet über presseöffentliche Maßnahmen zu seiner Bewerbung. Während der Projektphase verzichtet der Projektnehmer - also die Wissenschaftler auf die Veröffentlichung von Teilergebnissen des Projekts und auf öffentlichkeitswirksame Stellungnahmen zum Projekt, ({6}) sofern letztere nicht mit der Projektleitung im BfV abgesprochen oder von dieser ausdrücklich gewünscht sind. Das ist Zensur. Das ist der Sache nicht angemessen. Hier müssen wir dringend etwas ändern. ({7}) Ganz kurz noch zu dem Antrag von CDU/CSU, FDP und bedauerlicherweise auch SPD. Es stehen sicherlich einige richtige Sachen in diesem Antrag, zum Beispiel die Forderung, ein forschungsfreundliches Klima zu schaffen. Dort steht auch, „dass im Westteil Deutschlands und Berlins der Aufbau einer stabilen freiheitlichJan Korte demokratischen und sozial-marktwirtschaftlichen Ordnung früh gelungen ist“ - Zitat Ende -, das ist zum Teil richtig. Aber es fehlt etwas, nämlich ein Hinweis darauf, wie zum Beispiel mit Willy Brandt oder Fritz Bauer in der frühen Bundesrepublik umgegangen worden ist. Wie kann man als SPD so etwas unterschreiben? Das kann ich nicht verstehen. ({8}) Ich möchte auf einen weiteren Aspekt eingehen. Wir haben einen Antrag zur Anerkennung des Widerstandes der Kommunistinnen und Kommunisten eingebracht. Wir wissen aus der Geschichte, dass es im Zuge eines wirklich maßlosen Antikommunismus Vorgänge gegeben hat, die heute nicht mehr akzeptabel sind. Durch das Bundesentschädigungsgesetz wurden kommunistischen Widerstandskämpfern, die zum Teil jahrelang im Konzentrationslager gesessen haben, in den 50er- und 60erJahren ihre Anerkennung und Würde genommen. Außerdem wurde damit natürlich auch die Unrechtsprechung gegenüber kommunistischen Widerstandskämpfern im Nachhinein legitimiert. Wir möchten mit unserem Antrag auf diese Fehlentwicklung aufmerksam machen. Wir wollen, dass auch heute der Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten vom Bundestag anerkannt wird, so wie es Richard von Weizsäcker übrigens schon 1985 eingefordert hat. ({9}) Der Spiegel schreibt - ich darf zitieren -: Die Zahl der zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile gegen Kommunisten lag fast siebenmal so hoch wie die gegen NS-Täter - obwohl die Nazis Millionen Menschen ermordet hatten, während man westdeutschen Kommunisten politische Straftaten wie Landesverrat vorwarf. Das kann doch nicht die letzte Position sein! Es gibt eine Unteilbarkeit des Widerstandes, und zwar vom sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstand der Arbeiterbewegung bis zum Widerstand vom 20. Juli 1944. Dem können sich jetzt endlich auch die Konservativen beugen, indem sie diese wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kenntnis nehmen und den Widerstandskämpfern ihre Würde zurückzugeben. ({10}) Ich fasse zusammen: Ich glaube, der Bundestag, die Bundesregierung und die Öffentlichkeit sollten nun darangehen, die Aufarbeitung der „zweiten Schuld“, wie sie Ralph Giordano genannt hat, entschlossen anzugehen, und zwar ohne Verzögerung und ohne Reglementierung. ({11}) Wir sollten darüber nachdenken, wie diese Vorgänge auf die Opfer gewirkt haben. Ich will deutlich sagen: Wir müssen auch über politische Verantwortung reden, auch ganz aktuell, und beispielsweise die Frage beantworten: Wer trägt die politische Verantwortung dafür, dass im Jahre 1996 und im Jahre 2007 beim BND Akten über die NS-Verstrickungen zum Fall Alois Brunner geschreddert worden sind? Das muss uns als Parlamentarier alle gemeinsam umtreiben! ({12}) Wir sollten heute auch der Minderheiten gedenken - zu ihnen gehörten unter anderem Fritz Bauer, Martin Niemöller, Eugen Kogon und Gustav Heinemann -, die in der Bundesrepublik damals sehr alleine gestanden haben. Ihnen sollten der Dank und die Anerkennung des ganzen Bundestages gelten. Sie haben nämlich vieles sehr viel früher erkannt als einige andere. Zum Schluss möchte ich ein Zitat vortragen. 1999 sagte Joachim Perels, ein bekannter Politikwissenschaftler und Sohn von Friedrich Justus Perels - er war einer der Widerständler vom 20. Juli 1944 und Justiziar der Bekennenden Kirche -: Es ist an der Zeit, sich der Erkenntnisse der überwiegend misslungenen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Schreckenssystems in der jungen Bundesrepublik zu stellen. Die kritische Reflexion dieser großen Blockierung gehört zur Selbstfindung unserer rechtsstaatlichen Demokratie. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich hoffe auf große Zustimmung zu den heute vorliegenden Anträgen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Armin Schuster.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Korte, welches Geschichtsbild versuchen Sie uns eigentlich zu vermitteln? Ich möchte nicht polemisch werden; aber diese Frage drängt sich einfach auf: Wie kommen Sie nach so vielen gemeinsamen Jahren auf die Idee, in Ihrer Rede ausschließlich zu fragen: „Wie hat sich die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf die junge Bundesrepublik ausgewirkt?“ ({0}) Was soll denn das? So sahen DDR-Geschichtsbücher aus; aber wir befinden uns im Jahr 2012. ({1}) Armin Schuster ({2}) Wir möchten mit unserem Antrag erreichen, dass die Geschichte in ganz Deutschland aufgearbeitet wird. Wir dürfen nicht nur die Frage stellen: „Wie war es in der jungen Bundesrepublik?“, wir müssen auch vergleichen: „Wie war es in der DDR?“ Eine einseitige Betrachtung wie in den Geschichtsbüchern der DDR bringt uns nichts. ({3}) Meine Damen und Herren, zwischen 1933 und 1945 ist unendliches Leid von deutschem Boden ausgegangen: ({4}) Menschen wurden planmäßig und in nie dagewesenem Umfang vernichtet, Andersdenkende gnadenlos verfolgt. Der Zweite Weltkrieg hat Europa weitgehend verwüstet. Mit nicht enden wollender Akribie vernichteten Hitler und seine Gefolgsleute - hinter ihnen eine jubelnde Masse und zahllose Helfershelfer - einen Großteil des deutschen Judentums. ({5}) Spätestens seit den 68ern treibt unsere Gesellschaft die Frage um: Wer waren diese Menschen, wie haben sie nach dem Ende der NS-Herrschaft weitergelebt, und, vor allen Dingen: wo haben sie gearbeitet? Immerhin war die Nachkriegsverwaltung in beiden Teilen Deutschlands auf Personal mit Verwaltungserfahrung angewiesen, und ein irgendwie funktionierender Verwaltungsapparat stand schließlich zur Verfügung. Es gibt viele rationale und irrationale Gründe dafür, warum wahrscheinlich viele NS-belastete Personen, Menschen mit schwerer Schuld, in der Exekutive der neu gegründeten Bundesrepublik und in der DDR die Geschicke des Landes geführt haben. Dies zu erklären oder gar zu entschuldigen, ist gar nicht Gegenstand dieser Debatte, meine Damen und Herren. ({6}) Wir beschäftigen uns mit der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 ({7}) sowie mit der Zeit davor und danach. Bis heute gibt es viele gefragte Forschungsgebiete, die diese Zeit zum Gegenstand haben. ({8}) Es gibt unzählige Publikationen. Viele Bereiche sind gut erforscht. Trotzdem ist das Interesse der Wissenschaftler - glücklicherweise - ungebrochen. Neue Aspekte, neue Fragestellungen kommen immer wieder auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwei deutsche Staaten gegründet, die mit einem schweren Erbe umgehen mussten. Wie die alten Eliten in beiden Teilen integriert wurden, lässt sich vor allem anhand von Archivbeständen des Bundes näher beleuchten. Auch die Rolle der Alliierten auf diesem Feld könnte weiter erforscht werden. Für uns, Herr Korte, ist vor allem die Frage spannend, wie und warum sich in der Bundesrepublik Institutionen und Eliten mit all diesen Kontinuitäten in Politik und Verwaltung im Vergleich zur DDR so unterschiedlich entwickeln konnten und warum sich bei ähnlichen personellen Voraussetzungen auf der einen Seite der Mauer ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat, die Bundesrepublik, entwickeln konnte, auf der anderen aber nicht - ich will nicht sagen: das Gegenteil. ({9}) Eine spannende Frage ist zum Beispiel: Kommt dem Bundesverfassungsgericht für die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Bundesrepublik eventuell eine entscheidende Bedeutung zu? Das alles gilt es noch zu untersuchen. Deshalb zielen wir in unserem Antrag darauf ab, dass zum Beispiel auch die Akten zu Abwägungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen leichter zugänglich werden. Rein quantitative Fragestellungen wie in Ihrer Großen Anfrage, meine Damen und Herren von den Linken, greifen aus meiner Sicht zu kurz. Die NSDAP-Mitgliedschaft eines Beamten beispielsweise ist nur bedingt aussagekräftig. ({10}) Art und Schwere der Verstrickung sollten im Einzelfall untersucht werden. ({11}) Einzelfallprüfungen sind aufwendig und erweisen sich aufgrund lückenhafter Aktenbestände oft als schwierig. Aber wenn die Verstrickung eines Beamten festgestellt wurde, kann man auch die Frage stellen: Inwiefern hat sie Einfluss auf seine Arbeit und auf seine Entscheidungen gehabt? Eine methodische Herangehensweise zur Lösung dieser Fragen wollen wir nicht vorgeben. Das gehört zur Forschungsfreiheit, die wir auf jeden Fall bewahren wollen. ({12}) Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Rahmenbedingungen für die Forschung zu verbessern, Archivbestände zu sichern und weitere Akten in die Hände des Bundesarchivs zu geben. Die Wissenschaftler sollen in Deutschland ein forschungsfreundliches Klima in den Behörden vorfinden. Wir brauchen dafür nicht eine staatlich gesteuerte Auftragsforschung, wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern. Wer den Wissenschaftlern Fragestellungen vorgibt, Armin Schuster ({13}) greift nicht nur in deren Freiheit ein, sondern deutet und begrenzt. Das ist genau das, was Sie gerade eben in Ihrer Rede auch getan haben. Wir konzentrieren uns darauf, dem einzelnen Wissenschaftler bessere Rahmenbedingungen bei der Akteneinsicht und der Sicherung der Akten zu bieten. Sein Forschungsobjekt, seine Methoden, seine Quellen und seine Fragestellungen sollte er selbst wählen können. Damit können auch seine Ergebnisse in einem sachlich neutralen Umfeld diskutiert werden, ohne sofort politisch bewertet zu werden. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schuster, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Korte?

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Korte.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Schuster, ich habe dazu eine ganz konkrete Frage. Sie unterstellen hier sozusagen, dass die Opposition staatliche Auftragsarbeit will und die Forschungsfreiheit nicht ernst nimmt. Deshalb möchte ich Sie fragen: Wie schätzen Sie die Studie Das Amt und die Vergangenheit oder die Studie zum BKA ein? Sie zu erstellen, waren ja politische Entscheidungen, die von der rot-grünen Regierung auf den Weg gebracht wurden, aber auch von Ihren Regierungen weiter getragen wurden. ({0}) Was ist das denn dann, bitte schön? ({1})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben in - ich glaube - fünf Ministerien unabhängige Historikerkommissionen eingesetzt, deren Arbeit schon abgeschlossen ist. In mindestens einem Ministerium und zwei Behörden laufen gerade die Arbeiten unabhängiger Historikerkommissionen. Mit unserem Antrag gehen wir der Frage nach, die Sie jetzt stellen: Haben wir in Wirklichkeit alles erforscht? Unser Antrag soll zu einer reinen Bestandsaufnahme führen. Wir überprüfen uns quasi noch einmal selbst. Waren diese unabhängigen Historikerkommissionen richtig eingesetzt? Haben sie die richtigen Fragen beantwortet? Gibt es weitere zu stellen? Insofern sehe ich überhaupt keinen Grund, anzunehmen, dass wir da etwas falsch gemacht hätten. Allein das Wort „unabhängig“ erklärt doch schon alles. Im Übrigen wird der Fall Barbie/Eichmann, den Sie ansprechen, durch eine unabhängige Historikerkommission, die im BND arbeitet, gerade bearbeitet. Es gibt nicht die geringsten Zweifel daran, dass alle Akten, die verfügbar sind, dieser Kommission zur Verfügung gestellt werden, ({0}) sodass die Kommission diesen Fall glasklar aufarbeiten kann. Insofern weiß ich gar nicht, was Sie mir mit Ihrer Frage sagen wollen. ({1}) - Macht nichts, Frau Roth. ({2}) - Ja, Sie kommen ja aus dem gleichen Ländle. ({3}) Um bei dem Thema Akteneinsicht zu bleiben: Einigen, hoffentlich wenigen, hier in diesem Haus ist nach wie vor nicht klar, warum wir nicht jede Akte für jedermann jederzeit zugänglich machen. „VS“ heißt „Verschlusssache“, etwas, das unter Verschluss bleibt und der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden soll. Dies geschieht im öffentlichen Interesse und dient vor allem der inneren Sicherheit. Gerade weil Deutschland beispielsweise bevorzugtes Spionageziel ist, brauchen wir die Verschlusssachenklassifizierung. Wir wollen damit verhindern, das extremistische und kriminelle Organisationen zu viel über die Bekämpfungsstrategien unserer Sicherheitsorgane erfahren. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schuster, jetzt würde gerne der Kollege Beck eine Zwischenfrage stellen.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, keine Zwischenfrage mehr.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich führe zu Ende. - Vertraulichkeit ist in manchen Lebenssituationen unerlässlich und eben auch im staatlichen Handeln manchmal notwendig. Klar muss aber auch sein, dass nur die Vorgänge den Stempel „VS“ erhalten, bei denen er wirklich sinnvoll ist. Armin Schuster ({0}) Herr Korte, in Ihrem Antrag zur Deklassifizierung beklagen Sie, dass das Bundesministerium des Innern eine Verwaltungsvorschrift über Verschlusssachen so verändert habe, dass keine automatische Freigabe mehr erfolge. Das ist nicht richtig. Im Jahr 2009 hat das Kabinett Eckpunkte beschlossen, nach denen Verschlusssachen innerhalb festgelegter Zeiträume hinsichtlich ihrer Offenlegung zu prüfen sind. Die Regelung sieht vor - jetzt komme ich einmal zum Einzelnen -, dass bis zum Januar 2013 die Geheimakten aus den Jahren 1949 bis 1959 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Dokumente aus der Zeit bis 1994 sollen dann schrittweise bis 2025 freigegeben werden, danach jährlich drei weitere Jahrgänge. Für die Akten ab 1995 gilt eine Sperrfrist von 30 Jahren. Das ist aus meiner Sicht gut und gangbar. Es ist natürlich nicht die Forderung, die Sie erheben: automatische Deklassifizierungen von Verschlusssachen nach 20 Jahren. Ein Beispiel: Vor knapp 20 Jahren hat der Antiterroreinsatz der GSG 9 in Bad Kleinen stattgefunden; Sie denken an Grams und Hogefeld. Das war vor knapp 20 Jahren, so schnell geht das. Auch heute noch ließen sich aus den Unterlagen, würden wir diese jetzt deklassifizieren, wertvolle Rückschlüsse auf die Einsatzverfahren von Ermittlungen und Einsatzkräften der GSG 9 ziehen. ({1}) Es kann doch nicht in unserem Interesse und auch nicht im Interesse der inneren Sicherheit sein, dass wir so etwas jetzt öffentlich zugänglich machen. ({2}) - Ja, bei Ihnen kann ich mir das gut vorstellen. - Insofern ist die von Ihnen beantragte automatische Deklassifizierung sicherheitsfachlich kaum nachvollziehbar, vielleicht sogar ein bisschen weltfremd. Unbestritten ist dagegen, dass wir die Quellen zur Erforschung der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten sichern und zugänglich machen. In einem intensiven Austausch mit den Kollegen von der SPD haben wir Koalitionsabgeordnete über Monate hinweg darum gerungen, wie die Forschung zur NS-Vergangenheit in den Behörden der Bundesrepublik und der DDR weiter forciert werden kann. Die Sachverständigen haben in der Anhörung Anfang dieses Jahres empfohlen, die Anpassungsfähigkeit von Eliten zu erforschen. Deshalb wollen wir zunächst eine fundierte Bestandsaufnahme. Immerhin gibt und gab es in vielen Ministerien und Behörden bereits die angesprochenen Historikerkommissionen. Das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam sollen ermitteln, wie weit die Forschung in diesem Bereich ist und wo noch Forschungsbedarf besteht. Ich bin dankbar, dass wir dieses Thema im Einvernehmen mit der SPD gestaltet haben. Mit unserem Antrag erleichtern wir künftig die Erforschung der NSVergangenheit sowie der Kontinuitäten in der DDR und der Bundesrepublik, und wir bewahren gleichzeitig die Forschungsfreiheit. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Antrag. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege hat gerade über die Frage der Deklassifizierung gesprochen. Ich verstehe das mit den 20 Jahren; das ist etwas pauschal. Aber Sie haben um die Ziffer II des Antrags der Linken herumgeredet. Wir werden auch Teilung der Abstimmung an diesem Punkt beantragen. Da fordert die Linke - und dagegen kann man meines Erachtens nichts einwenden -, dass „sämtliche Unterlagen, die mittelbar oder unmittelbar im Zusammenhang mit den Verbrechen der NS-Vergangenheit stehen, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Erstellung sofort deklassifiziert und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden sollen“. Ich vermag nicht zu erkennen, dass es in Bezug auf die Causa Barbie noch Vorgänge gibt, die VS-gestempelt sein müssen und der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden können. Ich vermag auch nicht zu sehen, wer ein öffentliches Interesse daran haben könnte, dass die Arbeit unserer Geheimdienste vor einer öffentlichen Diskussion geschützt wird, wenn es darum geht, dass NS-Leute vor Entdeckung geschützt wurden oder man Informationen über ihren Verbleib nicht nachgegangen ist. Angesichts der Diskussion, die wir hier im Hohen Hause über den Umgang mit Rechtsextremismus und den Geheimdiensten haben, gibt es wirklich keinerlei Veranlassung, sich vor die Dienste zu stellen und zu sagen: „Das dürft ihr im stillen Kämmerlein machen, das geht uns als Parlament nichts an.“ Da wir die Arbeit der Geheimdienste über den Bundeshaushalt finanzieren und auch als Parlament verantworten, kann ich nicht nachvollziehen, dass wir hier den Zugang zu diesen Vorgängen nicht haben sollen. Deshalb rate ich Ihnen, nachher mit uns gemeinsam dieser Ziffer in dem Antrag der Linken zuzustimmen, damit diese Sachen ans Licht kommen. Es ist richtig: Nach 20 Jahren kann es bei anderen Vorgängen noch außenpolitische oder sicherheitspolitische Interessen geben, die ich aber in diesem Kontext generell ausschließen würde. Da müssten Sie mir schon erklären, wo da die Arbeit unserer Geheimdienste gefährdet sein soll, wenn diese Vorgänge ans Licht kommen. Da ist allenfalls eine falsche Kameraderie gefährdet. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung Kollege Schuster.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, auch wir sehen keine Gründe dafür, solche Dinge geheim zu halten. Deswegen haben wir Historikerkommissionen eingerichtet. ({0}) Deswegen haben wir gesagt, dass wir alle Akten aus der Zeit zwischen 1949 und 1959 offenlegen. Ich wäre Ihnen trotzdem dankbar, wenn Sie bei Ihrem Vokabular aufpassten. Ich würde mitgehen, wenn Sie über das Thema „Geheimdienste und Mauscheleien“, was die NS-Zeit anbelangt, sprechen. Aber ich möchte Sie bitten, den Begriff „Geheimdienste und Mauscheleien“ nicht im Zusammenhang mit der Bundesrepublik Deutschland zu benutzen. ({1}) Ich habe auch als Mitglied des Untersuchungsausschusses ein gutes Gefühl, wenn ich sage: Das sind bundesdeutsche Nachrichtendienste, ({2}) bei denen vielleicht Fehler gemacht werden - diese werden übrigens auch in Ihrer Fraktion gemacht -, aber es gibt keine vorsätzlichen Mauscheleien oder sonst irgendetwas in der Art. ({3}) Da stelle ich mich ganz klar vor die Dienste. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Thierse für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe den Artikel in der Süddeutschen Zeitung gelesen, aus dem Kollege Korte schon zitiert hat. Das ist ein wahrlich erschreckendes Beispiel für das Problem, über das wir hier diskutieren. Jener Carl Theodor Schütz war für die Organisation Gehlen und dann für den Bundesnachrichtendienst tätig. Ich will auch noch einmal zitieren, weil man angesichts dessen wirklich fassungslos ist. Ihm wird bescheinigt, so die Akten des BND, dass er eine „charakterlich einwandfreie, ausgereifte, sensible, temperamentvolle Persönlichkeit“ und ein „Vorbild für die Mitarbeiter“ sei. Dabei war dieser Schütz 1944 als Hauptsturmführer an dem berüchtigten Massaker an den Ardeatinischen Höhlen, nahe Rom, beteiligt, also am sogenannten Geiselmord an 335 italienischen Menschen. Nun kommt es: Bereits 1933 war er wegen Körperverletzung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Nach einem Trinkgelage hatte er gemeinsam mit SS-Kameraden eine Wohnung gestürmt und die vermeintlich kommunistischen Bewohner, darunter eine Frau, brutal misshandelt. Dafür ist er verurteilt worden. Für seine Beteiligung an Kriegsverbrechen musste sich Schütz nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland nicht verantworten, obwohl sie dem BND bekannt war. Ein wahrlich erschreckendes Beispiel! Die Forschungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des BND haben diese Fakten zutage gefördert. Wir konnten sie vor wenigen Tagen nachlesen. Die Karriere von Schütz ist mit Sicherheit kein Einzelfall. Sie zeigt nur besonders eindringlich, dass wir weiter nachfragen müssen. Sie zeigt, dass wir noch lange nicht alles über die Frühgeschichte der Bundesministerien und -behörden wissen. Sie macht deutlich, dass der Weg in die bundesdeutsche Demokratie keineswegs so selbstverständlich und so glatt war, wie manche heute denken oder behaupten. ({0}) Die Tatsache allein, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder in Behörden oder Ministerien der Nachkriegszeit eine Anstellung fanden, ist dabei wenig bemerkenswert. Wer 1945 für eine Stunde null hält, muss sich nur fragen, wohin jene Deutschen denn plötzlich verschwunden sein sollten, die im Jahr zuvor noch Bürger des Dritten Reiches waren, in welcher Rolle auch immer. Wichtiger ist es deshalb, nach der Qualität der Täterschaft, des Mitläufer- oder Denunziantentums zu fragen, die sich in Biografien von Mitarbeitern und Beamten in Ministerien und Behörden widerspiegelt. Es ist nach dem Geist zu fragen, der die Arbeit in Behörden und Ministerien der jungen Bundesrepublik und auch der frühen DDR bestimmte, nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Verwaltungspraxis. Und es ist danach zu fragen, wie sich die Umstellung, die Transformation von der NS-Diktatur zu westdeutscher Demokratie und zum System der DDR mit Funktionseliten vollzog, die durch ihre Erfahrungen und ihr Handeln im Nationalsozialismus geprägt waren. Angesichts vielfacher personeller und auch institutioneller Kontinuitäten wird erklärlich, wie schwer es ehrliche und konsequente Aufarbeitung der Nazivergangenheit bis in die 60er-Jahre in der Bundesrepublik hatte. Ich erinnere nur an die mühsame Aufklärungsarbeit des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer und an die Anfeindungen, denen er bis zu seinem Tode ausgesetzt war. Wie viel Verdrängung begleitete die Entwicklung der westdeutschen Demokratie? Wie viel Verdrängung kaschierte der staatsoffizielle, autoritäre Antifaschismus der DDR? Kollege Korte, wenn Sie über dieses Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte ein einziges Wort verloren hätten, ({1}) wäre es glaubwürdiger, wie Sie Ihr Anliegen vertreten. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Thierse, der Kollege Korte möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich warte schon darauf.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Korte.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Thierse, wenn Sie die Fragen der Linken in der Großen Anfrage zur Kenntnis genommen hätten, dann hätten Sie sich eine solche Bemerkung vielleicht verkniffen. Wir haben dort nämlich explizit - ich betone: explizit - nach NS-Funktionseliten in Strukturen und Behörden der DDR gefragt. Ich glaube, aus vielen Debatten kennen Sie in etwa meine Position zu diesen Fragen. Heute habe ich in meiner Rede einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Schön wäre - um das zu beantworten, Kollege Thierse -, wenn die Bundesregierung bzw. die Koalitionsfraktionen, die wieder mit besonderem Engagement in Verhaltensweisen des Kalten Kriegs zurückfallen, zur Kenntnis nähmen, dass in unserer Großen Anfrage eine neunseitige Literaturliste zu ehemaligen Nazis in der DDR zu finden ist. Letzte Anmerkung, die ich dazu machen möchte. Es gibt nun einmal einen qualitativen Unterschied. Bei allem Unrecht, das es in der DDR gab, waren dort die NS-Funktionseliten aus Reichssicherheitshauptamt, NSBürokratie und -Staatswesen nicht in den oberen und zentralen Etagen der Verwaltung und der Regierung zu finden. Das muss man doch bei einer solchen Debatte zur Kenntnis nehmen. Es muss doch möglich sein, einen solchen Unterschied darzulegen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Korte, in Bundestagsdebatten gilt das gesprochene Wort. ({0}) Ich habe genau auf das reagiert - Sie haben hoffentlich zugehört -, was Sie hier gesagt haben. Ich habe nicht übersehen, dass die Große Anfrage Ihrer Fraktion auch ein paar Fragen zu dem angesprochen Themengebiet enthält. ({1}) Wenn man aber hier über die Geschichte der jungen Bundesrepublik im Ton der Anklage redet - das kann ich in emotionaler Hinsicht verstehen -, dann muss man als ehemaliger DDR-Bürger auch ein paar Sätze über die Geschichte der DDR und ihre Art des Antifaschismus sagen. ({2}) - Entschuldigen Sie, das kenne ich doch. Sie werden nicht oft erleben, dass ich Ihnen die Vergangenheit der SED vorhalte. Aber gelegentlich, gerade wenn man sich mit der Vergangenheit befasst, sollte sie eine selbstkritische Bemerkung wert sein. Nicht mehr und nicht weniger habe ich mit meiner kleinen Bemerkung an Sie sagen wollen. ({3}) Mit der Beantwortung der von mir vorhin formulierten Frage, wie viel Verdrängung in beiden Teilen Deutschlands auf höchst unterschiedliche Weise eine Rolle gespielt hat, gewinnen wir hoffentlich neue Einsichten über das Wesen und Werden unseres Gemeinwesens. Forschung und öffentliche Diskussion sollten sich nicht darin erschöpfen, einfach historische Fakten aufzuzählen oder gewissermaßen ein Namedropping zu betreiben. Sie sollen und können vielmehr in eine aufrichtige gesellschaftliche Selbstverständigung über den Weg zu unserer Demokratie münden. Ich will das noch einmal sagen: Beides ist erklärungsbedürftig, das Weiterwirken von Nazitätern und Schuldiggewordenen sowie der Umstand, dass daraus eine Demokratie entstanden ist. Beides sollte Gegenstand der Betrachtung sein. Beides müssen wir erklären. Das ist ein selbstkritischer Umgang mit der Geschichte und ihren Widersprüchen, aus denen wir heute demokratisches Selbstbewusstsein gewinnen können. Das ist der Sinn dieser Aufgabenstellung. ({4}) Diesem Ziel dient der Antrag, den meine Fraktion gemeinsam mit CDU/CSU und FDP eingebracht hat. Er ist - das sage ich nicht aus Eitelkeit - auf meine Initiative hin entstanden. Der erste Antrag, den ich formuliert habe, ist anderthalb Jahre alt. Ich bin froh, dass wir nun darüber diskutieren; denn es waren einige Hürden zu überwinden. Es hat sehr lange gedauert, bis Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, sich diesem Anliegen haben anschließen können. Das Anliegen ist, eine Bestandsaufnahme in Auftrag zu geben, die die Desiderate der Forschung, das, was bisher nicht geleistet und aufgeklärt worden ist, ermittelt. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, zwei aus Bundesmitteln teilfinanzierte Institute, sollen dieses Gutachten ausarbeiten. Unsere Kernforderung erachten CDU, CSU und FDP als richtig und wichtig. Der gemeinsame Antrag spiegelt das wider. Die Grünen, die sich der gemeinsamen Initiative nicht anschließen wollten, haben diese Forderung jedenfalls inhaltlich auch in ihrem Antrag. Die Bestandsaufnahme soll im weiteren Verfahren nicht einen Schlussstrich ziehen, sondern der Vorbereitung eines nächsten Schrittes dienen, einer adäquaten, an aktuellen Methoden und Fragestellungen orientierten Erforschung einzelner Ministerien und Behörden, ohne jede Beschönigung. Dass es einer solchen Bestandsaufnahme bedarf, hat ein sehr informatives Expertengespräch im Kulturausschuss gezeigt. In Auswertung dieses Gesprächs ziehen wir mit dem Antrag eine konkrete Schlussfolgerung. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ministerien und Behörden des Bundes hat bereits - es ist schon daran erinnert worden - in der Zeit rot-grüner Regierungsverantwortung begonnen. Joschka Fischer und Frank-Walter Steinmeier haben dazu wesentlich beigetragen. Die Debatte über die Traditionspflege im Auswärtigen Amt und die 2010 erschienene Studie Das Amt und die Vergangenheit: deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik haben, wie auch immer die Studie im Einzelnen bewertet werden mag, zu neuem Nachdenken geführt. Inzwischen arbeiten Ministerien wie das Finanz- und das Justizministerium ihre Geschichte auf. Einzelne Studien wie die über das BKA sind bereits abgeschlossen. So gut diese Entwicklung insgesamt ist, so bleiben doch immer noch Defizite zu beklagen, und zwar was den Zugang zu Aktenmaterial und die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse betrifft. Verstecken und Unterdrücken ist einfach nicht mehr an der Zeit. Da sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, sich einen Ruck geben und sagen: Hier sollte der öffentliche, direkte Zugang zu diesem Teil der Akten nicht mehr behindert werden. - Es ist nicht verständlich, dass dieser Zugang immer noch behindert wird. ({5}) Vor über einem Jahr haben wir genau deshalb schon einen Antrag formuliert. Er ist vom 28. Juni 2011 und trägt den Titel: „Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brüche in deutschen Ministerien und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich NS-Vorgängerinstitutionen untersuchen“. Mit dem heutigen Antrag kommen wir einen konkreten Schritt weiter. Mir ist es darum gegangen, dass wir eine Mehrheit für einen Antrag finden, der einen Fortschritt erzielt. Darum geht es. Angesichts der Bedeutung - ich hoffe, da sind wir uns, bei allen anderen Meinungsverschiedenheiten, einig -, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit für unser Selbstverständnis hat und wohl auch mit Sicherheit weiterhin haben wird, lade ich alle Fraktionen ein, diesem weiteren Schritt zuzustimmen. Dann geht die Diskussion weiter, was anschließend noch zu tun ist. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Stefan Ruppert. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal finde ich es ausgesprochen gut, dass wir an so prominenter Stelle ({0}) über die Wurzeln der frühen Bundesrepublik und über Fragen von personeller und inhaltlicher Kontinuität reden. ({1}) Es ist Zeichen einer reifen und gefestigten Demokratie, dass sie mit ihrer eigenen Vergangenheit souverän und durchaus selbstkritisch umgehen kann. Insofern finde ich, dass diese Form der Vergangenheitspolitik, um den Historiker Norbert Frei zu zitieren, für einen reifen Rechtsstaat die angemessene ist. Ich freue mich auch über die Gemeinsamkeit mit den Sozialdemokraten in dieser Frage. Es ist doch gut, wenn wir die Gemeinsamkeiten in solchen Themen besonders betonen und alle zeigen, dass es uns darum geht, uns diesen Kontinuitäten zu stellen, statt sie dazu zu nutzen, um uns gegenseitig zu bezichtigen, dass der eine das besser macht als der andere. Es ist doch unstreitig, dass in der frühen Bundesrepublik eine erhebliche personelle Kontinuität bestanden hat. Wo sollten auch all die Menschen geblieben sein, die zwischen 1933 und 1945 in der einen oder anderen Form mitgewirkt haben? Sie verschwanden nicht auf einmal, sondern sie waren natürlich an gewissen Stellen und haben die Kontinuität in der Verwaltung und auch in den Ministerien geprägt. Das ist unstreitig. Auch wir als Parteien haben natürlich Kontinuitäten. Meine Partei zum Beispiel erforscht gerade, dass es in Niedersachsen, aber auch in Nordrhein-Westfalen durchaus Ortsverbände gab, wo die Zahl an Nationalsozialisten besonders hoch war und wo es keine kritische Distanz gegeben hat. Das abzugrenzen von den Fällen, wo sich Einzelne durchaus der Verantwortung für ihre Vergangenheit gestellt haben und sich in das Gemeinwesen der frühen Bundesrepublik integriert haben, ist Aufgabe historischer Forschung. Dem stellen sich Parteien, und zwar SPD, CDU, FDP und, ich nehme an, auch die Grünen. Insofern glaube ich, wir sollten uns nicht gegenseitig Dinge vorwerfen, sondern wir sollten diese geschichtlichen Tatbestände erforschen, zur Kenntnis nehmen und einordnen. ({2}) Herr Thierse hat schon gesagt: Er hatte einen Antrag vorgelegt, und dann gab es eine Anhörung. Diese Anhörung hatte die Frage zum Gegenstand: Wie gehen wir aus wissenschaftlicher Sicht mit unserer Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik um? Es war interessant, dass die Sachverständigen, beispielsweise Herr Professor Möller und Herr Professor Stolleis, uns empfohlen haben, einerseits den Aspekt, der in Herrn Kortes Rede im Vordergrund stand, nämlich die personelle Kontinuität, zu untersuchen, und andererseits genau zu fragen: Warum ist es der jungen Bundesrepublik gleichwohl gelungen, sich als Rechtsstaat zu etablieren? Warum hat es dieses Gemeinwesen vermocht, trotz bestehender Kontinuitäten im Einzelfall einen modernen Rechtsstaat heutiger Prägung aufzubauen? Welche Strategien hatten die einzelnen Beamten? Waren sie wirklich innerlich bereit, am Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats und einer sozialen Marktwirtschaft mitzuarbeiten, oder haben sie inhaltlich ihre Agenda zum Teil weiterverfolgt? Das sind Fragen, die uns interessieren und genauer betrachtet werden müssen. Es geht nicht um das Zählen von Fliegenbeinen nach dem Motto „Dieses Ministerium hatte mehr als das andere“ oder „In dieser Behörde gab es mehr als in der anderen“. Es sind diese Verständnisfragen, die etwas über unser Selbstverständnis aussagen, und nicht die rein quantitativen Angaben. ({3}) Offen gesagt ging es mir wie Herrn Thierse. Es ist schon bezeichnend. Sie sagen: Es gab keine personellen Kontinuitäten. ({4}) - In höchsten Ämtern, haben Sie gesagt. Ich frage Sie: Welche Funktion hat ein stellvertretender Chefredakteur des Neuen Deutschland? Welche Funktion hat beispielsweise ein Generalfeldmarschall Paulus in der DDR gehabt? Natürlich gab es das, und es gab auch andere. ({5}) - Entschuldigung, dann formuliere ich es so: Es gab auch in höchsten Positionen solche Kontinuitäten. Der sogenannte antifaschistische Staat, der sich zugutegehalten hat, da besonders rigide gewesen zu sein, war es bei Entschädigungen und anderen Dingen gerade nicht. ({6}) Er hat sich gerade nicht dieser Geschichte gestellt. Auch das kann man an dieser Stelle einmal sagen. ({7}) Das macht es nicht besser. Man versteht es nur besser, wenn man genauer hinguckt und Fragen stellt, die nicht davon geleitet sind, den einen oder den anderen anzuklagen. Ich finde, es ist an dieser Stelle auch notwendig, auf ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis hinzuweisen. Die Grünen haben einen Antrag vorgelegt, der - das trennt uns von ihnen in einem Punkt - auf dem Ratschlag von Micha Brumlik basiert. ({8}) Brumlik hat vorgeschlagen, es muss eine Art Stabsstelle zur staatlichen Erforschung der Geschichte der frühen Bundesrepublik geben. Alle anderen Sachverständigen, vom Hannah-Arendt-Institut über das Institut für Zeitgeschichte bis zum Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, haben gesagt: Unser Problem ist nicht, dass der Staat eine Art historische Auftragsforschung initiieren soll; unser Problem ist viel eher, dass die Historiker keinen adäquaten Quellenzugang bekommen. Die Wissenschaft stellt die richtigen Fragen selbst, so Professor Stolleis oder auch Professor Möller. Es ist ein Unterschied, ob wir als Politiker die Fragen stellen, die wir für interessant halten, oder ob wir Zeithistorikern sagen: Wir ermöglichen euch, eure Fragestellungen anhand des vorhandenen Quellenmaterials zu verfolgen. Ich glaube, aus dem zweiten Ansatz folgt mehr historische Erkenntnis als aus dem Brumlik’schen Ansatz, den ich in vielen Aspekten durchaus verstehe. ({9}) Jetzt wird uns vorgeworfen, wir deklassifizierten nicht pauschal. Aus unserem Ansatz folgt eben, sich diejenigen Quellen zu suchen, die man haben will, die man braucht, die man sehen will. Man stellt dann einen Antrag auf Akteneinsicht, und diesem Antrag muss im Einzelfall stattgegeben werden, wenn nicht ein überwiegendes Geheimhaltungsinteresse legitimerweise besteht. Ich glaube, wenn wir so vorgehen, kommen wir zu guten Ergebnissen. Mich interessiert noch die Frage: Welchen Anteil hatte eigentlich das Bundesverfassungsgericht an dem Gelingen dieses Rechtsstaats? Es ist doch interessant, dass gerade Urteile wie das Lüth-Urteil, das KPD-Verbotsurteil, das SRP-Verbotsurteil, die Stärkung von Grundrechten des Einzelnen wie der Religionsfreiheit und der Meinungsfreiheit dazu beigetragen haben, dass dieser Staat gelungen ist. Insofern ist es richtig, dass der Deutsche Rechtshistorikertag feststellt: Wir müssen verstehen lernen, was das Bundesverfassungsgericht in den Anfangsjahren seines Bestehens geurteilt hat. - Dabei gilt es, Beratungsgeheimnisse zu schützen. Dabei gilt es, darauf zu achten, dass lebende Personen legitime Datenschutzinteressen haben. Wir wollen in die frühen Akten hineinschauen. Auch darauf zielt unser Antrag ab. Man kann es nicht so wie die Linken machen - zum Teil sind wir deckungsgleich -, dass man dem Bundesverfassungsgericht als einem anderen obersten Verfassungsorgan diktiert: Ihr müsst das so und so machen. Vielmehr wollen wir das Gespräch mit dem Bundesverfassungsgericht suchen, um zu zeigen, dass wir an der Aufarbeitung seiner Geschichte ein erhebliches Interesse haben. Notwendig ist der Dialog zwischen den obersten Verfassungsorganen und kein Dekret von hiesiger Seite. ({10}) Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Viele Ministerien - ich nenne exemplarisch das BMJ, aber auch das Bundesministerium der Verteidigung - haben sich diesen Fragestellungen schon sehr gut gestellt. Im BMJ wird im Moment eine hervorragende Arbeit geleistet. Insofern finde ich, daran sollten wir weiterarbeiten. Wir sollten die Einigkeit der Demokraten weiter stärken, anstatt uns hier gegenseitig Vorwürfe zu machen, wer etwas wie und gegebenenfalls in welcher Form vertuschen oder verkleistern will. Das ist die Vorgehensweise eines reifen Rechtsstaates, der wir zum Glück sind. Insofern werbe ich für mehr Gemeinsamkeit bei der Erforschung der frühen Bundesrepublik. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Claudia Roth.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen, am 9. November, jährt sich die Reichspogromnacht, die 1938 Mord, Zerstörung, Misshandlung über die Juden brachte. Das war ein terroristisches Fanal auf dem Weg in den Holocaust. Die Erinnerung an dieses Datum ist nicht beliebig. In ihr steckt ein demokratischer Auftrag, nämlich alles zu tun, damit Rechtsextremismus in unserem Land keine Chance hat. Was heißt das konkret für uns hier und heute? Es heißt zum Beispiel, sich dem entgegenzustellen, was alte und neue Nazis zum 9. November, also für morgen, planen: Fackelzüge in Essen, wo 1938 die Alte Synagoge brannte, oder in Wolgast, wo sie zu einer Gemeinschaftsunterkunft marschieren wollen, in der Flüchtlinge Aufnahme finden. Es ist unsere Pflicht, hier laut „Stopp!“ zu rufen. Das Aktionsbündnis „Vorpommern: weltoffen, demokratisch, bunt!“, das gegen diesen Aufmarsch mobilisiert, hat die volle Unterstützung unserer Fraktion und, ich hoffe, die volle Unterstützung aller Fraktionen hier im Deutschen Bundestag. ({0}) Eine klare, eine entschiedene Haltung gegenüber Rechtsextremen ist wichtig, auch um das verloren gegangene Vertrauen zurückzugewinnen, gerade das Vertrauen zu unserem demokratischen Rechtsstaat, das schwer gelitten hat unter dem Totalversagen der Sicherheitsbehörden bei der NSU-Mordserie. Das ist auch das Grundanliegen bei der Aufklärung der NS-Vergangenheit - selbstverständlich in ganz Deutschland -, über die wir heute diskutieren. Es geht doch nicht darum, Schmutz zu werfen. Es geht doch nicht um eine Sicherheitsgefährdung; ganz im Gegenteil. Es geht um die demokratische Selbstvergewisserung unserer Institutionen. Es geht auch um die Einsicht Adornos, dass das, was verdrängt und was nicht kritisch aufgearbeitet wird, uns wieder einholt, uns überfällt, und zwar hinterrücks. ({1}) Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, passt doch offensichtlich sehr gut zu einem NSU, der mordend durch das Land zog, und zu einem braunen Schleier - das muss man wirklich sagen - über den Sicherheitsbehörden. Wie soll ich die Blindheit und das Versagen in der NSU-Verbrechensserie denn sonst beschreiben? Die Aufarbeitung eines verdrängten Kapitels der Zeitgeschichte im kritischen, im aufklärerischen Geist und im Sinne eines Erinnerns und Lernens für die Zukunft, das ist unser Ziel im Umgang mit der NS-Vergangenheit von Ministerien und Behörden. Wie viel da noch zu tun ist, hat nicht zuletzt die von Joschka Fischer in Auftrag gegebene und vor zwei Jahren veröffentlichte Studie zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amts gezeigt. Diese Studie hat die Debatte in Gang gebracht, die wir heute weiterführen und die wir weiterführen müssen, auch zum Beispiel über die Praxis der Ehrwürdigkeit, auf die mein Kollege Ostendorff mich noch einmal hingewiesen hat. Wie nötig diese Debatte ist, das zeigt doch auch der Fall, der von meinen Vorrednern schon benannt worden ist, den erst am 27. Oktober 2012 die Süddeutsche Zeitung öffentlich gemacht hat, der Fall von Carl-Theodor Schütz, der wirklich eine verbrecherische Karriere hinter sich hat. Sein allerschwerstes Verbrechen ist die Erschießung der 335 Geiseln in den Ardeatinischen Höhlen in der Nähe von Rom im März 1944. Er befehligte das Exekutionskommando, und er ermordete die ersten Opfer sogar eigenhändig. Geheimdienstchef Gehlen wollte diesen Mann nach dem Krieg unbedingt beim BND haben, und Bundeskanzler Adenauer hat dem ausdrücklich zugestimmt. Doch in den letzten Jahren sind leider noch andere Fälle bekannt geworden, fast unvorstellbare Fälle, vor allem die von Eichmann und von Barbie. Von Eichmann, dem Holocaustorganisator, kannte der BND den Aufenthaltsort, ohne zu seiner Ergreifung beizutragen. Ist es nicht bitter, zu erkennen, wie sehr man Simon Wiesenthal alleingelassen hat bei seiner Suche nach Eichmann? ({2}) Klaus Barbie, der sogenannte Schlächter von Lyon, war in den 60er-Jahren sogar Agent des BND. In der NS-Zeit hat er in Frankreich katholische Priester gefoltert, hat Kinder hungern lassen, hat Frauen unsäglich misshandelt. Es ist schändlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Serge und Beate Klarsfeld, die ihm jahrelang nachgespürt haben, alleingelassen worden sind und hier in Deutschland zum Teil als Feinde behandelt worden sind. Claudia Roth ({3}) ({4}) Ich glaube, wir alle sehen, wie groß der Aufklärungsbedarf ist, wie groß er noch ist. Ich möchte Sie deshalb wirklich herzlich bitten, dass wir das engagiert tun, dass wir es zusammen tun, ja, dass wir es gemeinsam tun, ohne jegliche taktische Hintergedanken, dass wir es so engagiert tun, wie es unsere Kollegen und Kolleginnen im NSU-Untersuchungsausschuss uns zeigen. Deswegen - das muss ich wirklich sagen - ist es uns, ist es mir sehr unverständlich, dass die Regierungsfraktionen in den Ausschussberatungen einen Antrag von uns Grünen abgelehnt haben, ({5}) der die Regierung auffordert, im Falle Barbie und im Fall Eichmann Verantwortung für die Aufklärung zu übernehmen. Dieser Antrag steht heute noch einmal zur Debatte. ({6}) Ich muss Ihnen sagen, liebe Kollegen und Kolleginnen und liebe Freunde und Freundinnen von der SPD: Auch Sie haben diesen Antrag im Kulturausschuss abgelehnt. ({7}) Ich verstehe das überhaupt nicht. Ist es denn wirklich sozialdemokratische Position, einen Antrag, der Aufklärung in Sachen Eichmann und Barbie - dass das noch nicht geschehen ist, ist doch ein Skandal - fordert, abzulehnen oder sich dazu neutral zu verhalten, also sich zu enthalten, wie Sie es im Innenausschuss getan haben? Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der Studie zum Auswärtigen Amt sind zahlreiche parlamentarische Initiativen gestartet worden. Wir haben einen umfassenden Antrag zur systematischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Behörden eingereicht, der Ihnen heute vorliegt. Er geht in entscheidenden Punkten über den aus meiner Sicht unzureichenden Antrag der Koalition und der SPD hinaus, der nur Minischritte macht, ohne - das ist eine große Kontroverse - politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Mittelpunkt Ihres Antrags steht eine „Metaforschung“, das heißt, über vorliegende Forschung soll geforscht werden. Ich glaube aber, es können und es sollten politische Konsequenzen benannt werden. Es kann doch nicht darum gehen, dass man wenig aufarbeitet und viel Stillstand pflegt. Herr Deutschmann hat im Kulturausschuss für die FDP sogar gefordert, dass die Politik gar keine eigenen Forschungsaufträge vergeben sollte, weil - so hat er gesagt - das eine Einmischung in die Freiheit der Wissenschaft sei. ({8}) Im Bund sollen wir nicht tun dürfen, was wir von Verbänden und Organisationen selbstverständlich verlangen und was auch viele Verbände und Organisationen heute endlich tun, nämlich eigene Aufträge vergeben. Der DFB oder die Deutsche Bahn vergeben Aufträge, um zu erforschen, wie ihre NS-Vorgeschichte aussieht. ({9}) Nein, eine wirkliche Einmischung in die Freiheit der Wissenschaft ist die Behinderung der laufenden Forschung, so wie es beim BND geschehen ist, oder wenn man sich weigert, Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, wie das zunächst mit der Studie zum Reichsernährungsministerium geschehen ist, die noch von Renate Künast in Auftrag gegeben worden ist. ({10}) Aus meiner Sicht falsch in Ihrem Antrag ist auch die Begrenzung des Forschungsauftrags auf die frühe Bundesrepublik Deutschland - nach allem, was wir jetzt wissen. Nehmen wir zum Beispiel den Fall Barbie: Er reiste ja bis 1980 unter dem Decknamen „Klaus Altmann“ wiederholt in die Bundesrepublik ein. Er baute neofaschistische Strukturen auf. Er wickelte Waffengeschäfte ab. Er wurde offensichtlich vom Verfassungsschutz geschützt, wie die taz im Januar 2012 berichtet hat. Und es darf kein Aktenschreddern mehr geben wie beim BND noch in den 90er-Jahren und den 2000er-Jahren, wo Akten von Mitarbeitern mit NS-Vergangenheit vernichtet wurden. Das ist ein Schreddern der Zeitgeschichte und der Versuch einer Reinwaschung durch den Reißwolf. ({11}) Was uns ferner in Ihrem Antrag fehlt, ist eine Systematik beim Vorgehen. Wir wollen einen Ansprechpartner auf Bundesebene, damit wir den Flickenteppich in der Aufarbeitung wegbekommen. Wir wollen klare Kriterien, wie mit den Forschungsergebnissen umgegangen wird, auch für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und für die Außendarstellung der Häuser. Schließlich brauchen wir dringend eine Koordination mit den Ländern und Kommunen; denn die NS-Herrschaft war ja flächendeckend. Hier liegen die politischen Antworten, um die wir uns nicht länger drücken dürfen. Deswegen bitte ich die Koalitionsfraktionen und die SPD, dem weitergehenden Antrag zuzustimmen. Wenn wir der Geschichte von Behörden und Bürokratie nachgehen, dann sollten wir auch die Banalität des Bösen nicht vergessen, die Hannah Ahrendt mit Blick auf den Bürokraten Eichmann beschrieben hat. Diese Banalität, diese scheinbare Alltäglichkeit des blinden Mitmachens und des Sich-Einordnens haben Spuren hinterlassen, auch in unseren Nachkriegsinstitutionen. Es gab keine Stunde null. Die Brüche und die Kontinuitäten in ganz Deutschland aufzuarbeiten, das ist unsere Verantwortung als Demokraten und Demokratinnen. Lassen Sie uns das zusammen tun! ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Thierse.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Roth, Sie haben hier etwas wahrheitswidrig behauptet. Im Kulturausschuss hat die SPDFraktion Ihren Antrag nicht abgelehnt, sondern sich der Stimme enthalten, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wir hatten bereits einen grundlegenden Antrag formuliert, nämlich am 28. Juni 2011; ich habe das Datum vorhin genannt. Im Anschluss an diesen Antrag bin ich - weil es mir ja um eine Mehrheit geht; wir wollen etwas erreichen auf die anderen Fraktionen zugegangen und habe mit ihnen das Gespräch gesucht. Wenn man aber im Gespräch mit den Kollegen ist, um ein Anliegen mehrheitsfähig zu machen, kann man nicht zugleich einem anderen Antrag zustimmen. So hat sich der Vorgang zugetragen. Das hat nichts mit einem politisch-moralischen Versagen der SPD zu tun. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wollen Sie erwidern?

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe definitiv nicht von „politisch-moralischem Versagen“ gesprochen, Herr Kollege Thierse. In Ihrem Antrag kommt der, wie ich finde, erschütternde Skandal um Barbie und Eichmann aber leider nicht vor. Es wäre nicht ein Widerspruch, unserem Antrag zugestimmt zu haben, sondern es wäre eine notwendige Ergänzung. Es ist nicht nachvollziehbar, dass man in diesem Fall die Regierung nicht beauftragt, eine umfassende Aufklärung zu fordern. Das haben Sie leider nicht unterstützt. Ich bitte darum, dass das heute endlich passiert. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Stephan Mayer. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion Die Linke zitieren: Mehr als 60 Jahre nach Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und mehr als 65 Jahre nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur lässt sich feststellen, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft generell die am besten erforschte Periode der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist. Setzt man diese Aussage in Zusammenhang mit den Äußerungen der Sachverständigen in der Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am 29. Februar 2012, bei der diese deutlich die Selbstorganisation und auch die Unabhängigkeit der Wissenschaft in den Vordergrund gestellt haben, so stellt sich für mich die Frage, warum von Bündnis 90/Die Grünen und insbesondere der Fraktion Die Linke heute so umfangreiche Forderungen nach staatlicher Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erhoben werden. Denn nach Ansicht der Sachverständigen sollten vielmehr bestehendes Wissen und aktuelles Erkenntnisinteresse zusammengeführt werden. Dies würde die wissenschaftliche Forschungsarbeit erleichtern und zugleich dem öffentlichen Interesse an dem Thema gerecht werden. Ich muss daher angesichts der vorliegenden Anträge zu der Überzeugung kommen, dass es Ihnen vorrangig um staatlich gesteuerte und politisch instrumentalisierte Auftragsforschung geht, geleitet von der Maxime: Irgendetwas Skandalisierbares wird man schon finden. ({0}) Ein solches Verhalten darf in diesem Hohen Haus keine Unterstützung finden. Bezeichnend und entlarvend ist es zudem, dass sich die Anträge der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen ausschließlich auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Westdeutschland konzentrieren. Dies belegt nicht nur Ihre historische Unkenntnis, sondern ist auch ein weiterer Beweis dafür, dass es Ihnen nicht um eine unabhängige und wissenschaftsorientierte Aufarbeitung der Vergangenheit geht, ({1}) sondern um eine Skandalisierung und Diffamierung einzelner Personen und Einrichtungen. ({2}) Stünden bei Ihnen wirklich die Aufklärung und Aufarbeitung der Vergangenheit im Vordergrund, ({3}) hätten Sie sich in Ihren Anträgen nicht nur auf Westdeutschland konzentriert, sondern auch die ehemalige DDR mit einbezogen. ({4}) Denn während in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt tatsächlich Vergangenheitsbewältigung betrieben wurde ({5}) und dies ein ständiger Prozess war, wurde sie in der damaligen DDR mit der „antifaschistisch-demokratischen Stephan Mayer ({6}) Umwälzung“ durch die SED einfach für beendet erklärt. Weitere Debatten über Schuld und Verantwortung erübrigten sich. Die DDR lehnte jegliche Haftungsverpflichtungen für die Vergangenheit ab. Der Historiker Edgar Wolfrum schrieb hierzu einmal - ich zitiere -: Hitler, so konnte man meinen, sei ein Westdeutscher gewesen. Meine sehr verehrten Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen, ein aufrichtiger und umfassender Umgang mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg darf sich aus meiner Sicht nicht nur auf Westdeutschland beschränken, sondern er muss selbstverständlich auch die ehemalige DDR berücksichtigen. ({7}) Die gemeinsame Vergangenheit ist ein schwieriges Erbe beider deutscher Staaten und des wiedervereinigten Deutschlands. ({8}) Als solche muss sie auch problematisiert und reflektiert werden. Daher haben wir als Regierungsfraktionen zusammen mit der SPD-Fraktion einen eigenen Antrag hierzu erarbeitet, der genau diesen schwerwiegenden Fehler in den Anträgen der beiden anderen Fraktionen behebt. Gleichzeitig respektieren wir die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung in Deutschland; diese ist durch Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz geschützt. Wir wollen interessierten Forschern und Einrichtungen den Zugang zu bereits erstellten Untersuchungen erleichtern und zugleich gute wissenschaftliche Rahmenbedingungen für neue Studien schaffen. Es geht also nicht nur darum, eine Bedarfserhebung durchzuführen und festzustellen, was schon erforscht wurde, sondern durchaus auch darum, eine Grundlage für neue Studien zu schaffen. Insbesondere wollen wir bei den beiden zeitgeschichtlichen Instituten, dem Institut für Zeitgeschichte in München und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, eine Bestandsaufnahme in Auftrag geben, um den aktuellen Forschungsstand und den bestehenden Forschungsbedarf zu ermitteln, was die Geschichte von Institutionen und Behörden im frühen Nachkriegsdeutschland sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der ehemaligen DDR betrifft. Wir setzen uns auch für eine wissenschaftsfreundlichere Ausgestaltung des Bundesarchivgesetzes und der Möglichkeiten zur Akteneinsicht ein. In diesem Zusammenhang möchte ich aber betonen, dass wir die schutzwürdigen Belange von natürlichen und juristischen Personen selbstverständlich auch in Zukunft achten werden; denn anders als der Fraktion Die Linke geht es uns nicht um eine Skandalisierung oder Diffamierung, sondern um eine unabhängige zeithistorische Aufarbeitung, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Auch ich möchte kurz auf Ihre Forderung eingehen, sämtliche Verschlusssachen nach 20 Jahren öffentlich zugänglich zu machen. Sie begründen Ihren Antrag damit, dass „die Prinzipien des Amts- und Aktengeheimnisses in einer fortschrittlichen Demokratie keinen Platz“ hätten. Mit dieser offensichtlich verfassungswidrigen Argumentation verlassen Sie zum wiederholten Mal den Boden unseres Grundgesetzes. ({9}) Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht haben in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass personenbezogene Daten ihrem Wesen nach grundsätzlich geheimhaltungsbedürftig und schutzwürdig sind. Es frappiert mich besonders, dass die angesprochene Position gerade von den Fraktionen vertreten wird, die sich immer als Gralshüter des Datenschutzes in Deutschland gerieren. ({10}) Beide Gerichte haben zudem den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung anerkannt, aus dem geheim zu haltende Tatsachen nicht mitgeteilt und offenbart werden müssen. Dies erstreckt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht nur auf laufende Vorgänge, sondern auch auf abgeschlossene Vorgänge. Darüber hinaus ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass Behörden Informationen, die für eine effektive Erfüllung ihrer Aufgaben unentbehrlich sind, von Dritten in der Regel nur erhalten, wenn sie dem Informanten die Vertraulichkeit der personenbezogenen Daten zusichern. Dies gilt insbesondere für die Arbeit der Sicherheitsbehörden in Deutschland. Ihnen geht es offenkundig nicht um mehr Transparenz und die Legitimation des Rechtsstaats, sondern schlicht um die Abschaffung der Behörden, die auf entsprechende vertrauliche Informationen angewiesen sind, so wie unsere Nachrichtendienste. Die Forderungen, die von Ihnen erhoben werden, können deshalb meines Erachtens nicht die Unterstützung dieses Hohen Hauses finden. Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Kirsten Lühmann das Wort. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Anwesende, insbesondere die Besuchergruppe von der Heeresfliegerinstandsetzungsstaffel 100 aus meinem Wahlkreis in Celle! Wir führen hier eine sehr interessante Debatte. Man kann sagen: Verschlusssachen sind Transparenzkiller, nicht für immer, aber für eine bestimmte Zeit. Wir stehen nun vor der Frage: Wie können wir dieses Problem lösen? Wir sind der Meinung: Wir können es nicht dadurch lösen, dass wir dem Antrag der Linken zustimmen, der einfach eine generelle Verkürzung der Sperrfristen ohne jegliche Ausnahme fordert. In Ihrem Antrag steht: Geheimnisschutz und im Geheimen operierende staatliche Institutionen … sind klassische Mittel des Machterhalts Einzelner in totalitären Systemen. Das sind markige Worte; ich denke, dem können wir alle in diesem Haus zustimmen. Aber der Umkehrschluss, dass es in der Demokratie keine Geheimnisse geben darf, ist so einfach wie falsch. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel geben. Wir Abgeordnete bekommen regelmäßig Berichte über die Situation der von uns in Auslandseinsätze entsandten Soldaten und Soldatinnen sowie Polizisten und Polizistinnen. Wir brauchen sie für unsere Arbeit. Diese Berichte sind Verschlusssachen. Ich halte das für richtig; denn diese Berichte enthalten Informationen, die das Leben und die Gesundheit unserer entsandten Soldaten und Soldatinnen gefährden könnten, wenn sie öffentlich würden. Die Frage ist nur: Muss denn eine solche Vorlage auch 30 Jahre nach einem Abzug aller deutschen Kräfte aus Afghanistan immer noch eine Verschlusssache sein? ({0}) Das Fazit ist: Transparenz ist für die Demokratie wichtig, aber es darf keine bedingungslose Transparenz sein. Die von den Linken geforderte pauschale Verkürzung der Sperrfrist wird dem Einzelfall nicht gerecht. Wir lehnen sie deshalb ab. Es gibt übrigens heute schon die Möglichkeit, Sperrfristen von Akten vor Ablauf der 30 Jahre aufzuheben, und zwar dann, wenn die Gründe für die Geheimhaltung entfallen sind. Ich finde, davon sollten wir deutlich öfter Gebrauch machen. Zurzeit ist es so, dass die Anfrage eines Bürgers, einer Bürgerin nach dem Informationsfreiheitsgesetz sofort abgelehnt wird, wenn sie sich auf eine Vorlage bezieht, die als Verschlusssache eingestuft wurde. Ich wünsche mir offenere und regelmäßigere Prüfungen, ob diese Einstufung im Einzelfall noch sachgerecht ist. Zu einem anderen Antrag der Linken. Herr Kollege Beck, ja, das ist etwas anderes. In Bezug auf Akten zur NS-Vergangenheit einzelner Personen haben wir ein ganz anderes Problem. Im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist ein zweiter Untersuchungsbericht nicht veröffentlicht worden mit dem Hinweis auf personenbezogene Daten aus Personalakten, die geschützt werden müssen. Ich finde das seltsam. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, also das Grundrecht, dass ich selbst entscheide, wer meine Daten bekommt oder nicht, ist ein wichtiges Grundrecht. Aber wenn ich verstorben bin, fehlt der Grundrechtsträger - und damit die Interessen, die zu schützen sind. Hier muss es das Ziel sein, die Informationsfreiheit mit den Interessen Einzelner und auch den Interessen des Staates in eine gute Balance zu bringen. Wir wollen weg vom Amtsgeheimnis und hin zu einer offenen Verwaltung. Da helfen allerdings weder erhobene Zeigefinger noch pauschale Aktionen. Es gibt viel zu tun, sowohl was die Bestimmungen des Informationsfreiheitsgesetzes angeht als auch in der täglichen Verwaltungspraxis. Wir laden Sie dazu ein, sachlich und unaufgeregt nach Lösungen zu suchen, im Sinne des Schutzes der Einzelnen, aber vor allem im Sinne der Informationsrechte unserer Gesellschaft. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Patrick Kurth das Wort. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Staatsräson ist es, alle Diktaturen aufzuarbeiten und mit Engagement historisch zu erschließen. Deshalb wurde über dieses wichtige Thema in den Ausschüssen und hier im Bundestag mehrfach intensiv diskutiert. Höhepunkt war die Fachanhörung im Kultur- und Medienausschuss im Februar. Nahezu übereinstimmend legten uns die Experten zwei Erkenntnisse nahe. Erstens: Selbstorganisation der Wissenschaft statt staatlicher Auftragsforschung. Forschungsfragen stellt die Wissenschaft. Forschung lebt vom wissenschaftlichen Diskurs und von ständiger akademischer Hinterfragung. Vorgelegte Ergebnisse müssen überprüfbar bleiben. Im ersten Semester habe ich gelernt, dass sich das intersubjektive Nachvollziehbarkeit nennt. ({0}) Sie muss gewährleistet sein. Bei staatlicher Auftragsforschung mit privilegierten Zugangsrechten für Einzelne ist dies schwerlich gegeben. ({1}) Die zweite Erkenntnis war: Für Forschung ist Aktenzugang nötig. Dies funktioniert bei Bundesministerien, Gerichten und Behörden unterschiedlich gut; nicht überall gibt es umfangreiche Akteneinsicht. Hier ist es Aufgabe der Politik, Forschung durch Archivzugang zu ermöglichen. Im Antrag von FDP, Union und SPD stellen wir fest, dass die Selbstorganisation der Wissenschaft auch bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit einer staatlichen Auftragsforschung vorzuziehen ist. Damit stärken wir die Wissenschaftsfreiheit. Zudem revolutionieren wir geradezu die Zugangsrechte für die Forschung. Damit beheben wir ein Stück weit eine Unwucht, die es bisher in Bezug auf die Aufarbeitung der deutschen Geschichte gegeben hat. Lassen Sie mich als Beispiel die Behörden der ehemaligen DDR nennen, deren Archive geöffnet sind. Man Patrick Kurth ({2}) kann dort hingehen und sich die entsprechenden Unterlagen anschauen. Demgegenüber ist die historische Forschung zu bestimmten Behörden des Westens bis heute schwieriger. Durch unseren Antrag stellen wir sicher, dass zukünftig die Geschichte von Institutionen in Ost und West vollumfänglich und gleichberechtigt erforscht werden kann. ({3}) Den freiheitlichen Ansätzen von Union, FDP und SPD stehen gewisse, ich sage einmal, etatistische Ansätze gegenüber. Keine noch so eindeutige Expertenanhörung kann manches Mal von vorher festgelegten Forderungen und Vorurteilen abbringen. Die Grünen legten in dieser Legislaturperiode Anträge vor, zogen sie zurück und legten wieder welche vor. Wir waren erfreut darüber; denn möglicherweise gab es einen Lernprozess. ({4}) Aber nein: Sie predigen ein staatsnahes Wissenschaftsverständnis. ({5}) - Schauen Sie in Ihren aktuellen Antrag. Dort fordern Sie eine staatliche Koordinierung der Forschung zur NSVergangenheit in Bundesbehörden. ({6}) Seit wann ist es Aufgabe des Staates, Forschung zu koordinieren? Dafür gibt es in einer freiheitlichen Gesellschaft die Selbstorganisation der Wissenschaft. ({7}) Liebe Claudia Roth, Sie haben gerade wiederholt, was Professor Brumlik damals sagte, nämlich, man solle die Mitarbeiter in den Bundesbehörden und in den Institutionen noch einmal einer „demokratischen Selbstvergewisserung“ unterziehen. ({8}) - Sie haben es so gesagt; ich habe es mir aufgeschrieben. - Das ist nichts anderes als eine Gesinnungsprüfung. Ich möchte Sie fragen: Wer prüft wen nach welchen Maßstäben auf seine Gesinnung? - Das geht nicht. ({9}) Besonders problematisch ist die Vorwurfshaltung, die man hier erkennen kann. Aus manchen Reden und aus manchen Anträgen geht hervor, dass die Bundesrepublik sich über Jahrzehnte rechtswidrig verhalten haben soll. Die Linken schreiben zum Beispiel: Die Vergangenheitspolitik habe in Deutschland lange Zeit auf Beschweigen, die Integration von NS-belasteten Personen und Tätern und einen möglichst baldigen Schlussstrich gesetzt. Dazu will ich drei Punkte anmerken: Erstens. Herr Korte, Sie haben vorhin Willy Brandt und die Art, wie man mit ihm umgegangen ist, erwähnt. Sie haben es unterlassen, im gleichen Zusammenhang über Herbert Wehner und Kurt Schumacher zu reden, die in den 50erJahren Sozialdemokraten und Demokraten der ersten Stunden waren. Warum haben Sie das gemacht? - Das war kommunistische Dialektik, nichts anderes. ({10}) Sie haben es unterlassen, Theodor Heuss zu nennen. Sie haben es unterlassen, an Konrad Adenauer zu erinnern. ({11}) Das müssen Sie tun, wenn Sie über die 50er-Jahre in der Bundesrepublik reden. Zweitens. Es geht nicht anders: Sie müssen auch den Vergleich mit anderen Postdiktaturen übernehmen. Sie müssen vergleichen, wie Aufarbeitung in anderen Ländern betrieben wurde. Ich kann Ihnen sagen: In beiden Postdiktaturen, in der Bundesrepublik und nach der Wende, war die Aufarbeitung im Vergleich vorbildlich. Darum kommt niemand herum. Drittens. Diese Vorhaltung muss ich Ihnen machen: Sie sprechen hier von personellen Kontinuitäten. Personelle Kontinuitäten heißen auch: Gerlinde Stobrawa, IM „Marisa“, die Abgeordnete der Linken in Brandenburg wurde 2009 enttarnt. Renate Adolph, Abgeordnete der Linken im Landtag, wurde Ende 2009 enttarnt. GerdRüdiger Hoffmann, ebenfalls für die Linke im Landtag, wurde als IM „Schwalbe“ Ende 2009 enttarnt. Ich kann Ihnen auch noch IM „Sonja“ und IM „Fritz Kaiser“ nennen. Das sind personelle Kontinuitäten, mit denen Sie selbst nicht aufgeräumt haben. Andererseits werfen Sie anderen Unlauteres vor. So geht es nicht. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Kollege Korte erbittet das Wort zu einer Kurzintervention. - Bitte schön.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Kurth, man muss hier lernen, sich zu beherrschen, um angesichts dieser intellektuellen Tieffliegerei nicht wahnsinnig zu werden. ({0}) Ich möchte drei Anmerkungen machen: Erstens. Seit dem 3. Oktober 1990 gibt es die DDR nicht mehr. Das möchte ich Ihnen mitgeben; das scheinen Sie nicht mitbekommen zu haben. Zweitens. Ich bin im Westen, in Niedersachsen, geboren. Ich bin damals bewusst und überzeugt in die PDS eingetreten. ({1}) - Ich war vorher bei den Grünen. Jeder macht einmal Fehler. Danach bin ich aus voller Überzeugung in die PDS eingetreten. - Ich trage persönlich für das Unrecht, das es auch in der DDR gegeben hat, keine Verantwortung. ({2}) Als ich in die Partei eingetreten bin, war aber klar, dass ich eine politische Verantwortung trage. Seitdem ich Mitglied bin, ringen und streiten wir in durchaus freudiger und harter Form um die Deutung und den Umgang mit der Geschichte. Das machen wir für uns selber, ({3}) um uns selbst zu vergewissern, und wir haben eine Lehre daraus gezogen: nie wieder Sozialismus ohne demokratischen Rechtsstaat. ({4}) Dafür brauchen wir von Ihnen keine Nachhilfe. Drittens will ich eines anmerken - das finde ich nämlich wirklich ungeheuerlich -: In den Reden meiner Vorredner ging es um Auschwitz, um Einsatztruppen, um Täter im Reichssicherheitshauptamt. Egon Bahr hat vor kurzem zusammen mit Reinhard Höppner eine richtige Bemerkung gemacht, die auch Sie sich einmal hinter die Ohren schreiben sollten: Bei allem Unrecht in der DDR, über das wir hier zu Recht viel diskutieren und streiten, geht es nicht an, dass man die Leichenberge der Nazis mit den Aktenbergen der Stasi verwischt, wie Sie das hier eben getan haben. Das ist abstoßend. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kurth zur Erwiderung.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

„Erschossen in Moskau …“ hat die Landeszentrale für politische Bildung in Thüringen vor drei Jahren herausgegeben. Ich kann Ihnen sagen: Wir zählen die Leichen nicht nach. Jede einzelne Leiche ist eine zu viel. Das ist Staatsräson in diesem Lande. Ich empfehle Ihnen auch das Buch „Stasi im Westen“. Nur weil Sie im Westen geboren wurden, waren Sie nicht gefeit vor der Stasi. ({0}) Wir prüfen zurzeit, wie stark die Staatssicherheit auch den Westen bestimmt hat. Dabei kam heraus, dass der Kollege Kurras, der Benno Ohnesorg erschossen hat, einen höheren Dienstgrad bei der Stasi als bei der Westberliner Schutzpolizei hatte. Da kommt plötzlich heraus, dass Frau Klarsfeld, eine Ikone der 68er-Bewegung, dafür, dass sie den Bundeskanzler geohrfeigt hat, SED-Geld bekommen hat. ({1}) Ein Stück weit kann man diese 68er-Bewegung auch einmal hinterfragen. Man kann auch fragen, inwieweit die 68er-Bewegung im Westen von der Stasi gesteuert worden ist. Das ist überhaupt kein Grund, sich hier aus der Verantwortung zu ziehen. ({2}) - Liebe Claudia Roth, hat denn einmal einer bei euch nachgefragt, ob es richtig war, 1968 „Ho, Ho, Ho Tchi Minh“ zu rufen und kommunistische Kampfbünde aufzumachen, während in Prag sowjetische Panzer Menschen niedergewalzt haben? Diese Frage könnt ihr euch auch einmal stellen. Stellt euch diese Frage bitte einmal! ({3}) Herr Korte, Sie haben persönlich - das nehme ich Ihnen ab; das ist auch richtig - mit der Stasi nichts zu tun, auch nicht mit der SED. Deswegen tragen Sie persönlich auch keine Verantwortung. Auch ich trage für das, was Klaus Barbie getan hat, keine persönliche Verantwortung. Das gilt für jeden in diesem Hause. Trotzdem stellen wir uns dieser Vergangenheit. Trotzdem arbeiten wir sie auf. Trotzdem nehmen wir uns dieser Geschichte an. ({4}) Es ist ein dummes Argument, zu sagen, dass die DDR vor 22 Jahren untergegangen ist. Damit geben Sie jedem Rechtsextremisten in diesem Land ein schönes Argument an die Hand; denn auch 1945 ist ein Staat in die Brüche gegangen. Das ist unlauter, und dafür sollten Sie sich entschuldigen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege Marco Wanderwitz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({0})

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bemühe mich, ein wenig Tempo aus der Debatte zu nehmen, damit wir wieder zu unserem Antrag zurückfinden können, dessen Titel ich zu Beginn vortragen möchte, weil ich finde, dass er selbsterklärend ist: „Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern - Die Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten staatlichen Institutionen in Bezug auf die NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugang unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der früheren Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen“. Das ist ein langer Titel, gleichwohl schön, weil selbsterklärend. Das ist das, was die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP hier heute vorlegen. Ich meine, das ist ein guter Antrag, nicht zuletzt weil er das direkte Ergebnis der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am 29. Februar 2012 ist. Herr Kollege Korte, ich habe extra noch einmal ins Protokoll geschaut, weil ich mir nicht so ganz sicher war. Die beiden Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion, die bei dieser Anhörung anwesend waren, beehren uns heute leider beide nicht mit ihrer Anwesenheit. ({0}) Ich hoffe, Sie haben zumindest das Protokoll gelesen. ({1}) - Gut, dann sind zufällig beide krank. Das kann passieren. ({2}) Das ist schon Zufall; darauf muss man erst einmal kommen. - Da ich nicht ganz sicher bin, ob Sie das Protokoll gelesen haben, möchte ich ein paar Aussagen, die uns die Sachverständigen nahezu einhellig mit auf den Weg gegeben haben, vortragen. Sie haben uns gesagt, dass jetzt, da bereits unheimlich viel Forschung zu diesem Themenkreis betrieben worden ist, das Wichtigste eine Bestandsaufnahme ist. ({3}) Professor Hütter beispielsweise, der Präsident des Hauses der Geschichte in Bonn, hat gesagt, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik unterschiedliche Intensitäten bei der Beschäftigung mit dem Thema NS-Aufarbeitung gab. Forschung und Wissenschaft haben sich, so Professor Hütter, sehr früh auch mit dem Themenkreis der personellen Kontinuitäten beschäftigt. Die Breite der Bevölkerung hat sich in der Tat erst beginnend in den 60er-Jahren intensiver mit dieser Frage auseinandergesetzt. Die Wissenschaft hat dies früher getan. Das ist im Übrigen ein schönes Argument dafür, zu sagen, dass man der Wissenschaft, wenn es darum geht, wie sie forscht, möglichst viel selbst überlassen sollte. Ich will aber ganz offen sagen: Das spricht überhaupt nicht dagegen, dass es, wie schon in der Vergangenheit, auch künftig punktuell weitere Forschungsaufträge, beispielsweise von Behörden oder von uns als Deutschem Bundestag, geben kann und soll. Wir haben dieser Tage den Festakt „25 Jahre Deutsches Historisches Museum“ in Berlin erlebt. Da sich das Deutsche Historische Museum wie viele andere Museen und Einrichtungen mit der Aufarbeitung und der weiteren Vermittlung der Thematik NS-Vergangenheit befassen, ist dies, wie ich glaube, ein Anlass, darauf hinzuweisen, dass wir an dieser Stelle eine gute und breite Basis haben, auf der wir aufbauen können. Alle Experten haben uns gesagt, dass neben der Forschung und der weiteren Aufarbeitung - deswegen setzen wir in unserem Antrag hier einen Schwerpunkt die Vermittlungs- und Bildungsarbeit ganz wichtig sind. Völlig klar: Wir haben es immer wieder mit neuen jungen Generationen zu tun, an die wir unser Wissen darüber weitergeben müssen, was die NS-Diktatur war und - es ist bereits mehrmals gesagt worden, dass es keine Stunde null gab - was in den frühen Jahren der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR geschehen ist. Im Juni dieses Jahres haben wir die sogenannte Schroeder-Studie der FU Berlin bekommen. Sie hat uns - leider wieder einmal - bestätigt, dass in der jüngeren Generation erschreckend viel Unkenntnis zum Thema „Diktatur und Demokratie“ vorherrscht. Ich glaube, es kann uns alle nur betroffen machen, wenn wir sehen, dass ein erheblicher Teil der jungen Leute der Meinung ist, die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2012 sei keine Demokratie. Es ist genauso bedrückend, dass viele junge Leute sagen, die Zeit des Nationalsozialismus sei keine Diktatur gewesen. Ich denke, das ist auch der Grund, warum wir alle in diesem Hause so sehr ringen, um bei diesem Thema weiter voranzukommen. ({4}) Erinnerungskultur ist seit vielen Jahren ein Schwerpunkt der Kulturpolitik aller Bundesregierungen, so auch der christlich-liberalen Bundesregierung. Wir haben im Zeitraum von 2010 bis 2012 13 NS-Gedenkstätten mit Projektfördermitteln in Höhe von 4 Millionen Euro bedacht, außerdem elf Gedenkstätten, die institutionell gefördert werden und in diesem Zeitraum 17 Millionen Euro jährlich erhalten. Das ist, wie ich meine, gut angelegtes Geld; auch deshalb wurde die Gedenkstättenkonzeption in der Anhörung ausdrücklich gelobt. Es gibt inzwischen über 65 000 wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Nationalsozialismus, mehr als zu jedem anderen zeithistorischen Thema. In der Breite gibt es keinen wissenschaftlichen Nachholbedarf. Professor Stolleis vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt - Kollege Ruppert hat schon darauf hingewiesen - sagte plakativ: Jedes Kind weiß inzwischen, dass es personelle KontiMarco Wanderwitz nuitäten gegeben hat. - Angesichts der Schroeder-Studie stellt sich die Frage, ob das wirklich jedes Kind weiß. Ich denke, er meint damit, dass es in unserer Gesellschaft beim Thema „Kontinuitäten personeller Art“ kein grundlegendes Erkenntnisdefizit gibt. Kollege Thierse hat schon gesagt: Mit dem Institut für Zeitgeschichte in München und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam haben wir für die Bestandsaufnahme fachkompetente Adressaten ausgewählt. Wir haben ihnen gegenüber behutsam deutlich gemacht, wie wir uns das vorstellen; aber wir lassen den beiden Instituten natürlich Luft, eigene Gedanken einzubringen, den Forschungsauftrag sozusagen ein Stück weit selbst weiterzuentwickeln. Im Kern waren sich alle Experten einig, dass es keine ernsthaften Forschungshemmnisse gibt. Gleichwohl geht es uns mit unserem Antrag um forschungserleichternde Regelungen zur Einsicht in Akten insbesondere des Bundesarchivs. Wir wollen gezielt Einzelstudien anregen, wo Bedarf besteht. Die entscheidende Frage ist - Kollege Thierse hat das schon angesprochen -: Wohin wollen wir künftig? Professor Henke von der TU Dresden hat sehr plastisch ausgeführt: Nachdem wir nun schon relativ viel wissen, stellt sich die Frage, warum wir nicht am Leichengift des Nationalsozialismus eingegangen sind, warum trotz starker NS-Kontinuitäten - dass es Kontinuitäten gab, ist bekannt, wenn auch vielleicht nicht in jedem Einzelfall die Demokratie der Bundesrepublik - Gott sei Dank - so gut und so schnell geglückt ist. Das ist für uns im Jahr 2012 die entscheidendere Frage. Um dies verstehen zu können, sagte Professor Henke, darf man nicht nur die Kontinuitäten sehen, sondern muss auch die Diskontinuitäten sehen. Manchmal entsteht in der Debatte der Eindruck, dass in den Institutionen fast niemand unbelastet gewesen sei. Dieser Eindruck ist natürlich falsch. In den allermeisten Institutionen war eine große Zahl von Personen unbelastet. Professor Goschler von der Ruhr-Universität Bochum sieht in gleichem Sinne das offene Forschungsfeld, in die Betroffenen hineinzuschauen. Er hat gefragt, ob es ein Leben mit gespaltener Zunge gibt oder ob die Leute einen neuen Code lernen und sich innerlich auf die normativen Verhältnisse einlassen. - Ich glaube, das beschreibt schön, was das Forschungsfeld sein sollte. Wir haben in unserem Antrag auch auf das Thema „NS-Belastungen in der ehemaligen DDR“ einen gewissen Wert gelegt. Schließlich war die SED - daran möchte ich an dieser Stelle erinnern - nach dem Krieg die erste Partei, die sich für ehemalige Parteigenossen der NSDAP öffnete. ({5}) 1954 hatte mehr als ein Viertel der SED-Mitglieder eine NS-Vergangenheit. ({6}) Insofern wünsche ich der Linken bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte weiterhin viel Erfolg. Sie werden noch 2022 davon reden. Vielleicht könnten Sie das Tempo ein wenig beschleunigen, damit man in diesem Prozess auch einmal zu abschließenden Aussagen kommt. ({7}) Dann müssten wir von außen uns vielleicht nicht so viel mit Ihnen beschäftigen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Gabriele Fograscher. ({0})

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte, die wir heute führen, findet am Vortag des 9. November statt. Auf den 9. November fallen viele historische Ereignisse, die die deutsche Geschichte geprägt haben, auch politische Wendepunkte: Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann von einem Fenster dieses Gebäudes aus die deutsche Republik aus. Am 9. November 1923 versuchten Hitler, Ludendorff und andere, die Regierungsmacht in München an sich zu reißen. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 organisierte und lenkte das nationalsozialistische Regime Gewaltmaßnahmen gegen Jüdinnen und Juden im gesamten Deutschen Reich. Am 9. November 1989 fiel nach einer friedlichen Revolution die Mauer; die deutsch-deutsche Grenze war offen. Die historische Aufarbeitung beider Diktaturen beschäftigt uns bis heute und muss uns weiter beschäftigen. Es gibt zahlreiche Forschungsergebnisse, Gutachten und Untersuchungen zum Umgang von Bundesministerien und -behörden mit der NS-Vergangenheit. Einige davon sind veröffentlicht, einige - meine Kollegin Lühmann hat darauf hingewiesen - sind nicht veröffentlicht. Wir haben in unserem gemeinsamen Antrag formuliert: Unabhängige Forschung und die Achtung der grundgesetzlich garantierten Forschungsfreiheit sind ein hohes Gut. Dafür müssen wir gute wissenschaftliche Rahmenbedingungen schaffen und für ein forschungsfreundliches Klima in Ministerien, Gerichten und Behörden werben. Natürlich wollen auch wir kein Aktenschreddern mehr, und wir wollen auch, dass Akten offengelegt werden, soweit es eigene Bestände der Bundesrepublik Deutschland sind. ({0}) Wir wollen und wir müssen die mit Bundesmitteln geförderten zeitgeschichtlichen Institute an dieser Aufarbeitung beteiligen. Es ist die Frage zu beantworten, wie es trotz personeller Kontinuitäten möglich war, dass sich die Bundesrepublik Deutschland zu einer stabilen Demokratie entwickeln konnte, und wir wollen uns natürlich auch mit der frühen DDR beschäftigen. Auf den Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Oktober 2012 ist hier schon Bezug genommen worden. Es ist wirklich erschreckend, dass ein NS-Verbrecher damals gegen starke Bedenken von Adenauer ({1}) eingestellt worden ist, weil der Geheimdienstchef Gehlen diesen Mitarbeiter als unentbehrlich bezeichnete. Ich glaube, es werden auch bei zukünftigen Forschungen weitere erschreckende Details aufgedeckt werden. Aber auch das gehört dazu, um die Entwicklung unseres Gemeinwesens zu verstehen und Lehren für die Zukunft zu ziehen. Es ist wichtig, dass wir mehr Erkenntnisse darüber gewinnen, welchen Einfluss die Täter aus der NS-Zeit in der Bundesrepublik Deutschland hatten, aber wir müssen auch weiterhin die Opfer im Blick behalten. Auch hier gibt es immer wieder neue Erkenntnisse, wenn akribisch recherchiert wird. Ich will ein aktuelles Beispiel nennen: Vor kurzem ist das Buch Verfolgung und Widerstand. Das Schicksal Münchner Sozialdemokraten in der NS-Zeit erschienen. Ziel dieses Buchprojekts ist es, die Verfolgung der Münchner Sozialdemokraten in ihrer ganzen Breite und in ihren unterschiedlichen Facetten zu dokumentieren und die Erinnerung an die Betroffenen und ihre Schicksale wieder wachzurufen. So heißt es auf der Internetseite des herausgebenden Volk-Verlages. Diese historische Aufarbeitung ist und bleibt wichtig. Sie ist aber auch deshalb wichtig, damit wir Konsequenzen und Lehren daraus ziehen können, um unsere Demokratie zu fördern und zu festigen. ({2}) Studien wie die der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Rechtsextremismus oder der kürzlich vorgelegte Bericht des unabhängigen Expertengremiums Antisemitismus führen uns immer wieder vor Augen, dass rassistische, antisemitische Denkmuster in Deutschland noch immer in viel zu hohem Maße existieren, ja, in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt sind. Wir alle müssen uns gemeinsam bemühen, den Kampf gegen Vorurteile, Ressentiments oder, wie Heitmeyer das nennt, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu intensivieren. Für uns gehören dazu auch eine Verstetigung der Finanzierung der bisherigen Modellprojekte gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus und eine Stärkung der politischen Bildung. In den Haushaltsberatungen können Sie die Bundeszentrale für politische Bildung gerne gemeinsam mit uns besser ausstatten. ({3}) Schließlich gehört für uns auch weiterhin dazu, die „Extremismusklausel“ abzuschaffen. ({4}) Wir müssen uns weiterhin mit unserer Geschichte auseinandersetzen - wissenschaftlich, aber auch praktisch und pädagogisch. Neben den wenigen Zeitzeugen, die uns authentisch über die NS-Zeit berichten können, müssen wir Wege finden, um die Vergangenheit auch für künftige Generationen fassbar zu machen und ein Wiedererstarken rechtsextremistischer, rassistischer und antisemitischer Tendenzen zu verhindern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich jetzt dem Kollegen Detlef Seif von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute unter Tagesordnungspunkt 4 mit mehreren Anträgen, die sich einerseits mit der NS-Vergangenheit, andererseits aber mit dem Umgang mit der NS-Vergangenheit bis in die Gegenwart befassen. Wir alle wissen, dass das deutsche Volk aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit, aufgrund des Krieges, der systematischen Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Menschen eine große Schuld auf sich geladen hat. Wir alle wissen, dass im Nachkriegsdeutschland ehemalige Nazis in Verwaltung und Industrie untergekommen sind. Es gab bei Kriegsende rund 8,5 Millionen Nazis. Geeignete Vertreter, die in die Verwaltungen, in die Industrie hätten entsandt werden könnten, waren gar nicht vorhanden. ({0}) Wir alle wissen, dass wir dieses Thema intensiv und umfassend aufarbeiten müssen. Ich glaube, niemand in diesem Hause bestreitet es, dass wir alle einhellig der Meinung sind: Hier muss umfänglich Aufklärung, auch in der Zukunft, betrieben werden. Die Linken haben zum Thema „Umgang mit der NSVergangenheit“ eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Dazu gibt es eine zweiseitige Begründung. Wenn man die Unterpunkte hinzunimmt, wurden 90 Fragen gestellt, auch Fragen, welche wissenschaftDetlef Seif lichen Studien mit welchen Quellen der Regierung bekannt sind. Das übersteigt, wenn man es einmal genau betrachtet, nach unserer Geschäftsordnung den Umfang einer Großen Anfrage bei weitem. Dennoch - bei der Wichtigkeit dieses Themas - hat die Bundesregierung sehr akribisch, ausführlich und sorgfältig ihre Arbeit geleistet und Ihnen auf jede Frage, soweit Datenmaterial zugänglich war, auch geantwortet. Ich habe es noch nicht gehört, möchte es an dieser Stelle aber einmal sagen: Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ich denke, auch für unseren Koalitionspartner FDP, möchte ich Ihnen unseren ausdrücklichen Dank dafür aussprechen, dass Sie so gründlich und sorgfältig gearbeitet haben. ({1}) Meine Damen und Herren, der Kollege Thierse hat sehr eindrucksvoll auch angesprochen, Herr Korte, dass in Ihrer Rede mit keinem Wort der Bezug zur DDR enthalten war und dass es glaubwürdiger gewesen wäre, wenn Sie das getan hätten. Ihre Replik war: „Wir haben das aber in der Großen Anfrage an einigen Stellen verfasst.“ Entscheidend ist aber nicht das, was man fragt, was man sagt, sondern das, was man tut. Sie haben unter der Drucksache 17/3748 Ihren Antrag so formuliert, dass nur die Bundesrepublik Deutschland und ihre Behörden betroffen sind. Also lassen Sie Ihren Worten Taten folgen. ({2}) - Nein, das haben Sie anders formuliert, Herr Korte. Lesen Sie Ihren Antrag. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihren Ausführungen Taten folgen ließen. Korrigieren Sie Ihren Antrag 17/3748 so, dass auch Behörden der ehemaligen DDR und die Verwaltungsstruktur der DDR von Ihrem Antrag umfasst sind! ({3}) Es muss auch anerkannt werden - das tun Sie nicht; teilweise ist das anklagend und unterstellend -, dass die Bundesregierung bereits aus eigenem Antrieb umfangreiche Forschungsmaßnahmen durchgeführt hat, durchführt und fördert. Ich will das nicht alles wiederholen. Das ist in der Debatte im Einzelnen schon alles dargestellt worden. Der Antrag der Linken zum Tagesordnungspunkt 4 b - in Formulierungen sind Sie wirklich der Weltmeister hat die wohlklingende Bezeichnung „Demokratie durch Transparenz stärken“. Sie fordern die Freigabe sämtlicher Verschlusssachen. Der Kollege Schuster hat das schon im Einzelnen dargelegt. Betroffen wären auch die Verschlusssachen, die mit „Streng geheim“ befasst sind. ({4}) Gerade bei den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden umfassen die Akten Erkenntnisse über Personal, Arbeitsweise und auch die Arbeitsergebnisse. Bei den Sicherheitsbehörden, die geheim arbeiten, die Geheimdienste, kommen darüber hinaus noch die Verfahren der Agentenwerbung, nachrichtendienstliche Mittel, etwa Observation und Legendierungen hinzu. Das würde alles offengelegt: Al-Qaida lässt grüßen. Die organisierten Verbrecher warten darauf, dass wir denen unsere Ermittlungsmethoden offenlegen. ({5}) Liebe Linke, vielleicht sollten Sie den Titel Ihres Antrags in „Informationsfreiheit für al-Qaida“ umformulieren. Das trifft das dann wesentlich besser. ({6}) Den Behörden muss es weiter möglich sein, Akten unter Verschluss zu halten. Hier hat der Kollege Thierse natürlich sehr eindrucksvoll die Fälle angesprochen, von denen wir wissen: Es handelt sich um Schwerverbrecher, um Kriegsverbrecher, um Menschen, die andere Menschen verfolgt und ermordet haben. - Wir alle haben ein Interesse daran, dass die Akten offengelegt werden. Aber man muss trotzdem die Frage stellen, ob in diesen Akten vielleicht sicherheitsrelevante Tatsachen enthalten sind, durch deren Bekanntwerden der Bundesrepublik heutzutage noch ein erheblicher Nachteil zugefügt werden könnte. Wir haben ein Kontrollgremium. Wir haben eine Bundesregierung. Das Bundeskanzleramt ist für den BND zuständig. Meine Empfehlung und mein Vorschlag: Der BND berichtet, warum einige Akten im Moment teilweise oder insgesamt zurückgehalten werden, und zwar gegenüber dem Kontrollgremium. Wenn es tatsächlich sicherheitsrelevante Gründe gibt, dann können die Akten teilweise oder in Gänze nicht freigegeben werden. Wenn nicht, gibt es dazu keinen Grund. Ich denke, dann wird uns die Bundesregierung vorschlagen, dass man diesem Vorschlag folgt und die Akten freigibt. Das wäre der richtige Umgang. Man kann nicht sagen: Nur weil jetzt die Namen von Kriegsverbrechern in den Akten enthalten sind, entfällt jedes Geheimhaltungsinteresse des Staates. - Das muss man prüfen. Wenn das Ergebnis so ist wie geschildert, dann müssen die Akten freigegeben werden. Nun haben die Linken nicht nur Akteneinsicht und Transparenz für Gesellschaft, Wissenschaft und Forschung angesprochen, sondern auch Leistungen, die Verfolgten, insbesondere der KPD, verweigert werden. Sie haben sehr eindrucksvoll dargelegt, welcher Personenkreis davon betroffen ist. Was Sie aber nicht gesagt haben: Alle Bundesländer haben Härtefallregelungen. Diese greifen aber nur dann, wenn der KPD-Vertreter nicht aktiv gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gearbeitet hat. Das ist die wesentliche Voraussetzung. Nennen Sie uns bitte die Namen derjenigen, die davon betroffen sind und deren Fall heute nicht geregelt ist und bei denen man sagen kann: Es ist ungerecht, dass hier keine Entschädigung geleistet wird. Ich denke, da kann man einlenken. Aber Sie stellen das abstrakt im Sinne eines Klassenkampfthemas dar und verschweigen, dass dieser Personenkreis bewusst gegen die freiheitlichdemokratische Grundordnung gearbeitet hat. Jetzt habe ich den Namen des Kollegen Thierse schon das dritte Mal in meiner Rede genannt. ({7}) Das wirkt schon etwas übertrieben. Aber ich muss Ihnen sagen: Ich bin Ihnen äußerst dankbar für Ihren Vorschlag, der auch in den gemeinsamen Antrag mündet, für die Art und Weise, wie Sie das vortragen und in dieses Verfahren einbringen. Ich denke, harte Töne können wir bei diesem sensiblen Thema nicht gebrauchen. Der eine oder andere hat in dieser Debatte vielleicht den falschen Ton, vielleicht auch die falsche Modulation gewählt. Ich denke, Sie sind auf dem richtigen Weg - dafür vielen Dank -, dem kann ich mich vollumfänglich anschließen. Wir müssen - das ist unser gemeinsamer Antrag - erst eine Bestandsanalyse vornehmen. Daraus wird sich entwickeln, wie weit noch Forschungsbedarf besteht. Der Forschungsbedarf ist dann aber kein Selbstzweck. Er ist auch nicht nur rechtsorientiert, sondern uns geht es darum, Gefahren, politische Fehlentwicklungen aufzuzeigen, egal ob von links oder rechts. All das, was Menschenrechte beeinträchtigt, was unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung beeinträchtigen kann, auch die Fragestellung, wie gebildete und geistig hochstehende Menschen, die wissen, was sie tun, plötzlich einer Diktatur zuarbeiten, haben uns zu interessieren. Zum Abschluss zitiere ich Professor Horst Möller, ehemaliger Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, der auch bei der Anhörung dabei war und der den Forschungsauftrag zutreffend beschrieben hat: Man muss diese Forschung zur Schärfung des demokratischen Bewusstseins betreiben. Das ist der zentrale Umsetzungsauftrag. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/ 11336. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Linken und der Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt. Tagesordnungspunkt 4 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „NS-Vergangenheit in Bundesministerien aufklären“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9448, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3748 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 4 c. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 17/11260. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 17/11001 mit dem Titel „Wissenschaftsund Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern - Die Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten staatlichen Institutionen im Bezug auf die NSVergangenheit durch besseren Aktenzugang unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der früheren Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10068 mit dem Titel „NS-Vergangenheit von Bundesministerien und Behörden systematisch aufarbeiten - Bestandsaufnahme zur Forschung erstellen - Erinnerungsarbeit koordinieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4586 mit dem Titel „Verantwortlichkeit der Bundesregierung für den Umgang des Bundesnachrichtendienstes mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf Eichmann“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor. Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 4 d und damit zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Demokratie durch Transparenz stärken - Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich regeln“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11261, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6128 abzulehnen. Jetzt kommt aber die Neuerung durch den Antrag der Grünen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun beantragt, dass über die Ziffer II Nr. 2 des Antrags einerseits und über den übrigen Antrag andererseits getrennt abgestimmt werden soll. Wir stimmen daher zunächst über die Ziffer II Nr. 2 des Antrags auf Drucksache 17/6128 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Ziffer II Nr. 2 des Antrags ist abgelehnt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({0}) - Die Mehrheit ist eindeutig. Wollen Sie einen Antrag stellen, Herr Beck? ({1}) Nach meiner Auffassung ist die Mehrheit auf dieser Seite. - Nicht zählen, Sie müssen sagen, welcher Meinung Sie sind. ({2}) Wir gehen nach unserer Geschäftsordnung vor. ({3}) - Sie kennen die Geschäftsordnung, Herr Trittin. Also, das Präsidium ist einstimmig der Meinung, dass die Mehrheit auf dieser Seite des Hauses ist. Damit ist die Sache geklärt. ({4}) Jetzt stimmen wir über den übrigen Teil des Antrags auf Drucksache 17/6128 ab. Wer stimmt dagegen? - Wer stimmt dafür? - Wer enthält sich? - Der übrige Teil des Antrags ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen und der SPD-Fraktion bei Zustimmung der Linken und Enthaltung der Grünen. Tagesordnungspunkt 4 e. Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11262, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2201 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen ange- nommen. Tagesordnungspunkt 4 f. Beschlussempfehlung des Rechtsauschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfah- rensakten des Bundesverfassungsgerichtes stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11383, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4037 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Grünen bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der SPD- Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 49 a bis 49 f sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 e auf: 49 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerliche Transparenz von multinationalen Unternehmen herstellen - Country-by-Country und Project-by-Project Reporting einführen - Drucksache 17/11075 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Willi Brase, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bedingungen bei Tiertransporten und in Schlachtbetrieben verbessern - Drucksache 17/11148 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({6}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul Schäfer ({7}), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Omid Nouripour, Volker Beck ({8}), Marieluise Beck ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überprüfung der Namen von Bundeswehrkasernen - Drucksache 17/11208 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({10}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Krischer, Nicole Maisch, Dorothea Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Moratorium für die Fracking-Technologie in Deutschland - Drucksache 17/11213 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12}) Federführung strittig Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna Voß, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbot des Fracking in Deutschland - Drucksache 17/11328 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14}) Federführung strittig f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, Undine Kurth ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bedingungen in Schlachthöfen verbessern - Drucksache 17/11355 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({16}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bilaterale Verhandlungen aufnehmen zur unverzüglichen Stilllegung besonders gefährlicher grenznaher Atomkraftwerke in Frankreich - Drucksache 17/11206 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Swen Schulz ({18}), Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen breiten Qualitätspakt in der Reform der Lehrerbildung - Drucksache 17/11322 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({19}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Finanztransaktionsteuer im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit einführen - Drucksache 17/11321 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({20}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Markus Tressel, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nationalen Radverkehrsplan 2020 zum ambitionierten Aktionsplan der Radverkehrsförderung weiterentwickeln - Drucksache 17/11357 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21}) Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({22}), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Residenzpflicht abschaffen - Drucksache 17/11356 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({23}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu zwei Vorlagen, bei denen die Federführung strittig ist. Tagesordnungspunkte 49 d und 49 e. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/11213 und 17/11328 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführungen sind strittig. Die Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke wünschen jeweils die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht jeweils Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Ich lasse zunächst über die Überweisungsvorschläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen gegen die Stimmen der Grünen abgelehnt. Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke - Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen gegen die Stimmen der Grünen angenommen. Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen. Tagesordnungspunkte 49 a bis c und 49 f sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 e. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 50 a bis 50 l sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 50 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 8. April 1959 zur Errichtung der Interamerikanischen Entwicklungsbank - Drucksache 17/9697 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({24}) - Drucksache 17/10920 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Selle Dr. Barbara Hendricks Joachim Günther ({25}) Heike Hänsel Ute Koczy Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10920, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9697 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Linken und die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 50 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 18. Oktober 1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank - Drucksache 17/9698 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({26}) - Drucksache 17/10921 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Selle Dr. Barbara Hendricks Joachim Günther ({27}) Heike Hänsel Ute Koczy Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10921, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9698 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 50 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 19. November 1984 zur Errichtung der Interamerikanischen Investitionsgesellschaft - Drucksache 17/9699 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({28}) - Drucksache 17/10922 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Selle Dr. Barbara Hendricks Joachim Günther ({29}) Heike Hänsel Ute Koczy Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10922, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9699 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Linken und die Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 50 d: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenabkommen vom 10. Mai 2010 zwischen der Europäischen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits - Drucksache 17/10757 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({30}) - Drucksache 17/11056 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Edelgard Bulmahn Bijan Djir-Sarai Wolfgang Gehrcke Dr. Frithjof Schmidt Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11056, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10757 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 50 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Luftverkehrsabkommen vom 17. Dezember 2009 zwischen Kanada und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ({31}) - Drucksache 17/10917 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({32}) - Drucksache 17/11252 Berichterstattung: Abgeordnete Kirsten Lühmann Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11252, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10917 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Linken. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 50 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 487 zu Petitionen - Drucksache 17/11154 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 487 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 50 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 488 zu Petitionen - Drucksache 17/11155 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? Sammelübersicht 488 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 50 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 489 zu Petitionen - Drucksache 17/11156 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 489 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 50 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 490 zu Petitionen - Drucksache 17/11157 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 490 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 50 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 491 zu Petitionen - Drucksache 17/11158 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 491 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 50 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Sammelübersicht 492 zu Petitionen - Drucksache 17/11159 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 492 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 50 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 493 zu Petitionen - Drucksache 17/11160 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 493 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 3: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäische Nachhaltigkeitsstrategie weiterentwickeln und stärker institutionell in der EU verankern - Drucksache 17/11329 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Linken angenommen. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahrestag des Bekanntwerdens der NSU-Terrorzelle - Zwischenbilanz der Ermittlungspannenaufklärung und Stand des Kampfes gegen den Rechtsextremismus Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Wolfgang Wieland von Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch nach einem Jahr hat sich das Entsetzen noch nicht gelegt, und auch die Fassungslosigkeit ist noch nicht verschwunden: Da taucht eine Terrorzelle unter den Augen der Polizei ab, bleibt 14 Jahre lang unentdeckt, begeht in dieser Zeit neun Morde an Migranten und einen Mord an einer Polizistin, begeht mehrere Mordversuche, zündet zwei Bomben und begeht eine Serie von Banküberfällen quasi vor ihrer Haustür - und nicht eine dieser Taten wird ihr bis dahin von den Sicherheitsbehörden zugerechnet. Im Gegenteil: Ohne das Finale in Eisenach suchte man den Ceska-Mörder immer noch im Milieu der organisierten Kriminalität und tappte bei den anderen Spuren im Dunkeln. Bis in den Sommer vergangenen Jahres hinein präsentierte das Bundeskriminalamt in großen Schaubildern die Ceska-Morde als Beispiele für organisierte Kriminalität in Deutschland - mit längst ausgeräumten, von den eigenen Beamten widerlegten Verdächtigungen gegenüber den Opfern. Sie wurden, weil man auch die Medien entsprechend befeuerte, in ausgeklügelten Medienstrategien so zweifach zum Opfer; ihre Familien wurden stigmatisiert. Hier hat der deutsche Staat eine schwere Schuld auf sich geladen. ({0}) Wir können nur hoffen - bei dieser Debatte sind Vertreter des Zentralrats der Juden und von Opferinitiativen des Türkischen Bundes anwesend; wir haben auch lange mit Vertretern der Sinti und Roma darüber geredet -, dass die Aufklärungsarbeit hier im Bundestag und in den Landtagen sowie auch das, was die Justiz nun mit Anklageerhebung und mit Strafverfahren leistet, wenigstens eine gewisse Genugtuungsfunktion für die Familien der Opfer hat; dringend nötig ist es. ({1}) Der zurückgetretene Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz formulierte es so: Wir haben versagt. Wir hätten es angesichts der deutschen Geschichte besser wissen müssen. - Das gilt vor allem für sein eigenes Haus. ({2}) Dies wurde im Jahr 2003 direkt gefragt, ob es eine „braune RAF“ in Deutschland gebe - der bayerische Innenminister Beckstein hatte diesen Begriff in die Debatte gebracht -, und es wurde sogar speziell gefragt, ob die Untergetauchten aus Jena eine solche terroristische Gruppierung sein könnten. Die Antwort war Nein; denn schließlich, so hieß es, seien diese auf der Flucht, und schließlich hätten sie, soweit ersichtlich, keine weiteren Straftaten begangen. - Da hatten sie schon viermal gemordet und eine Bombe in Köln gelegt. Wir haben hier ein Totalversagen leider aller Sicherheitsbehörden. ({3}) Nicht alle sind so selbstkritisch, wie es Herr Fromm war. Der ehemalige Vizepräsident des Bundeskriminalamtes Bernhard Falk nannte die Arbeit der Kriminalpolizei „kriminalfachlich stümperhaft organisiert“. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, außer dass diese Selbstkritik leider singulär geblieben und an der Spitze des BKA nicht angekommen ist. Dort meint Präsident Ziercke, man habe erfolgreich gearbeitet; schließlich habe die Mordserie aufgehört. - Ein Erfolg, den nur er sieht! Zu diesem Versagen kommt nicht nur das Strukturproblem der Sicherheitsbehörden hinzu, sondern auch das Mentalitätsproblem und das Problem der Arbeitsweise, was nicht zuletzt das Schreddern der Akten - im Grunde bis zum heutigen Tag weit verbreitet in den Sicherheitsbehörden - zeigt. Man glaubt es nicht, dass im Land Berlin noch Ende Juni dieses Jahres Akten geschreddert wurden. Hier müssen Änderungen erfolgen. Hier brauchen wir eine Zäsur. Hier brauchen wir einen Neustart bei den Verfassungsschutzorganisationen. Wir brauchen vor allen Dingen eine grundlegende Änderung im V-MannSystem; das muss radikal auf den Prüfstand. ({4}) Es kann nicht sein, dass wir geradezu Informationsblockaden haben: in einem Landesamt von einer Abteilung zur anderen, bei den Landesämtern untereinander, im Verhältnis von Ländern und Bund und erst recht vom Verfassungsschutz zur Polizei. Nur ein Beispiel: Die Bitte der BAO „Bosporus“ um Benennung eines Ansprechpartners wurde telefonisch beschieden: Stellen Sie doch erst mal einen schriftlichen Antrag! Im Übrigen haben wir Landesämter. - Dies ist nicht nur eine fehlende Kooperation; dies ist ein Gegeneinander, und so kann es nicht weitergehen. ({5}) Last, but not least - meine letzte Ausführung -: Es wäre ein Fehler, auf die Schandtaten dieses Trios lediglich mit einer Reform der Abteilung für staatliche Repression und staatliche Prävention zu antworten. So notwendig hier Mentalitätswechsel und neue Strukturen sind: Es ist Aufgabe von uns allen, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Netzwerken der Nazis den Boden streitig zu machen; und es ist Aufgabe des Staates, die vielfältigen Initiativen dabei vorurteilsfrei und dauerhaft zu unterstützen. ({6}) Nicht die Polizei kann verhindern, dass rassistisches Gedankengut junge Köpfe erreicht und vergiftet; das müssen wir alle leisten, täglich und leider beinahe an jedem Ort in unserem Land. Vielen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Wolfgang Wieland. - Nächster Redner ist für die Bundesregierung Herr Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich. Bitte schön, Herr Bundesminister. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Minister:in)

Politiker ID: 11003124

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor genau zwölf Monaten ist diese Mörderbande, die zehn Morde begangen hat, die Banken überfallen hat und die Bombenanschläge verübt hat, enttarnt worden. Der Schock sitzt tief; nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei den politisch Handelnden, aber auch bei den Sicherheitsbehörden. Ein Schock deshalb, weil man bis zu diesem Tag, dem 4. November 2011, nicht wusste, dass es diese Rechtsterroristen gibt ({0}) - alle Experten hatten sich offenkundig geirrt und versagt -, ({1}) und weil man nicht in der Lage war, die Mörder, die Bankräuber und die Bombenattentäter zu finden. Ich denke, das Urteil des eben zitierten, zurückgetretenen Präsidenten des BfV, Heinz Fromm, die Sicherheitsbehörden hätten eine Niederlage erlitten, kann man nur bekräftigen. Meine Damen und Herren, mich hat am meisten das Treffen mit den Angehörigen der Mordopfer berührt. Man muss sich das einmal vorstellen: Menschen verlieren einen Sohn, einen Vater, einen Bruder und geraten anschließend selbst in den Kreis der Verdächtigen und werden von ihrer sozialen Umgebung distanziert behandelt nach dem Motto: Wer weiß, was wirklich dahinter ist. Das hat diese Menschen sehr verletzt und sehr getroffen. Unser Versprechen, dass wir diese Verbrechen aufklären, besteht weiter. Wir tun das auch; denn Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz sind seit zwölf Monaten engagiert und mit Hochdruck dabei, ({2}) all das aufzuklären, was in diesem Zusammenhang passiert ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht haben Sie es den Agenturen entnommen: Es ist inzwischen Anklage gegen Frau Zschäpe und andere erhoben worden. Das geschieht in einem sehr schwierigen Umfeld der Ermittlungen, weil zwei der Hauptverdächtigen tot sind, weil Frau Zschäpe bisher offenkundig noch nicht ausgesagt hat und weil ein Teil der Beweismittel, die in dem Haus vorhanden waren, in dem die drei gewohnt haben, durch die Brandstiftung vernichtet wurden. Wir haben dafür gesorgt, dass in der Spitze bis zu 400 Beamte vom Bundeskriminalamt, von Landeskriminalämtern und der Polizei zusammen mit dem Generalbundesanwalt über 6 800 Asservate ausgewertet haben. Die Verfahrensakten umfassen nach derzeitigem Stand schätzungsweise rund 280 000 Seiten. Diese 280 000 Seiten sind Grundlage für weitere Maßnahmen und Anklageerhebungen der Justiz. Ich glaube, es ist hier der Zeitpunkt gekommen, den Beamtinnen und Beamten der Polizei und des Verfassungsschutzes dafür zu danken, dass sie in den letzten zwölf Monaten diese Arbeit mit großer Akribie und großem Erfolg gemacht haben. Die Anklage ist erhoben worden. Daran kann man sehen, die Aufklärung geht voran. ({3}) Meine Damen und Herren, neben der Aufklärung der Mordfälle muss natürlich geklärt werden, wie es zu dieser kollektiven Fehleinschätzung der Sicherheitsbehörden auf allen Ebenen kommen konnte. Man wusste erstens, dass die Rechtsextremisten gewalttätig waren, gewaltaffin, wie es in vielen Berichten heißt. Man wusste, dass sie mit großer Verve, mit großem Fanatismus ihre hirnverbrannte Ideologie, ihre menschenverachtende Ideologie verfolgen. Deswegen ist es ein Wunder, dass man diese Gefahr so unterschätzen konnte ({4}) und offenkundig nicht damit gerechnet hat, dass es ein Netzwerk gegeben hat, mit dem sie sich anonym vor den Behörden verstecken konnten. An diesem Fall wird deutlich, dass wir eine neue Entschlossenheit zur Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland brauchen. Zumindest dieser Fall muss Ausgangspunkt für die neue Entschlossenheit sein. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der Aufklärung des kollektiven subjektiven Versagens geht es natürlich auch darum, dass die Strukturen, Organisationen und Kommunikationswege kritisch untersucht werden. ({6}) In diesem Zusammenhang bedanke ich mich ganz herzlich bei den Kolleginnen und Kollegen des NSU-Untersuchungsausschusses. Ich habe selbst zwei Untersuchungsausschüssen angehört und weiß, was es bedeutet, viele Akten durchzuwühlen und sich in die Problematik einzulesen. Ganz herzlichen Dank für die Arbeit, die Sie dort verrichten! Sie haben schon die Kommunikationsprobleme aufgezeigt, die zwischen den Behörden sichtbar geworden sind; das ist, glaube ich, auf ganz gute Art und Weise gelungen. Wir haben inzwischen schon darauf reagiert, indem wir die Kommunikation zwischen den Behörden zum Haupttätigkeitsfeld für Reformen ernannt haben. Ich bedanke mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Bund-Länder-Kommission, die die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Landesebene untersucht. Das ist bisher ganz ohne Öffentlichkeit geschehen; ich kann Ihnen aber zusagen, dass diese Bund-Länder-Kommission noch in diesem Jahr einen Zwischenbericht vorlegen wird. ({7}) Innerhalb des Innenministeriums und innerhalb der Behörden wurde eine Fülle von Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich mit der Modernisierung von Abläufen, der Modernisierung von Kommunikation und auch der Modernisierung der Kontrolle beschäftigen. Diese Arbeitsgruppen beschäftigen sich übrigens auch mit der Frage, Kollege Wieland, wie wir in Zukunft mit den V-Leuten umgehen. Einige wichtige Maßnahmen haben wir bereits umgesetzt. Bereits fünf Wochen nach Bekanntwerden der NSU-Mordserie haben wir ein Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus eingerichtet, das auf die Standorte Meckenheim und Köln aufgeteilt ist. In diesem Gemeinsamen Abwehrzentrum sitzen täglich Vertreter der Behörden von Bund und Ländern zusammen und diskutieren über die Fälle, die in den Ländern und auf Bundesebene zur Kenntnis der Behörden gelangen. Das halte ich für ausgesprochen wichtig. Ich glaube, dass man heute sagen kann: Hätte es dieses Zentrum bereits vor 10 oder 15 Jahren gegeben, wäre man heute sicher ein Stück weiter gewesen und einer Fehleinschätzung nicht in diesem Maße unterlegen. ({8}) Wir haben das Ganze erweitert und ergänzt, indem wir die modernen Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation nutzen. Seit September dieses Jahres existiert eine Rechtsextremismusdatei. Diese Datei ist ein wichtiges Hilfsmittel für die Behörden, um auch auf diesem Wege die Kommunikation zu verbessern. Inzwischen kommt die Gefahr der Propaganda der Rechtsextremen auch aus dem Internet. Wir haben eine koordinierte Internetauswertung eingerichtet; das ist eine Einheit, die sich darauf spezialisiert, Neonazis und Rechtsextremismus im Internet zu bekämpfen. Diese Einrichtung halte ich ebenfalls für sehr wichtig. Wir müssen jetzt gemeinsam mit den Ländern versuchen, im Verbund des Verfassungsschutzes auf Bundes- und auf Landesebene voranzukommen. ({9}) Zusammen mit den Innenministern der Länder haben wir bereits zehn allgemeine Grundsätze koordiniert und verabschiedet. Ich habe eine Konkretisierung dieser Maßnahmen vorgenommen, und zwar sowohl im Hinblick auf die interne Reform des Bundesamts für Verfassungsschutz als auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit im Verbund. Bei der Innenministerkonferenz im Dezember werden wir Ihnen konkrete Ergebnisse präsentieren können. Wichtig ist - Kollege Wieland hat darauf hingewiesen -, dass wir nicht nur im Bereich der Strafverfolgung und im Bereich der Sicherheitsbehörden handeln, sondern dass wir uns auch darüber im Klaren sind, dass der Kampf gegen den Rechtsextremismus die gesamte Gesellschaft betrifft. ({10}) Im präventiven Bereich muss Demokratie trainiert werden. Das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ des Bundesinnenministeriums ist ein Programm, das die Strukturen im gesellschaftlichen Bereich widerstandsfähig machen soll gegen rechtsextremistisches Gedankengut. Unter anderem wird ein Demokratietraining eingeübt, um die verschiedenen Organisationen gegen dieses Gedankengut abwehrfähig machen zu können. Dieses Programm wird weiter fortgeführt. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich bei den Kollegen aus dem Haushaltsausschuss, dass sie für den Sicherheitsbereich 25 Millionen Euro mehr zur Verfügung gestellt haben, um effektiv gegen den Rechtsextremismus kämpfen zu können. Es geht letztlich darum, dass wir Fehler und Versäumnisse klar benennen ({11}) und Fehler und Versäumnisse beseitigen. Ich will es noch einmal betonen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir bekämpfen den Rechtsextremismus in unserem Land mit neuer Entschlossenheit. Vielen Dank. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Dr. Eva Högl. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Högl. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Mordserie des NSU war ein Anschlag auf unsere Demokratie. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, war es richtig, dass wir uns hier im Deutschen Bundestag entschieden haben, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um die Versäumnisse, das Versagen und die gemachten Fehler hier im Parlament aufzuarbeiten. ({0}) Es war eine richtige und gute Entscheidung, das zu einer Angelegenheit des Parlaments zu machen. ({1}) Ich weiß, dass viele von uns am Anfang zu Recht skeptisch waren, ob ausgerechnet ein Untersuchungsausschuss das richtige Gremium ist, um das aufzuarbeiten. Aber wir haben es bis jetzt geschafft - wir arbeiten jetzt zehn Monate zusammen -, partei- und fraktionsübergreifend sachorientiert zusammenzuarbeiten und aufzuklären. Das macht unseren Untersuchungsausschuss stark und schafft auch Vertrauen. ({2}) Es waren sicherlich viele skeptisch - auch das wissen wir -, ob elf Abgeordnete des Deutschen Bundestages überhaupt etwas ans Tageslicht befördern können, ob sie mit den vielen Akten zurande kommen. Ich glaube, wir haben in den zehn Monaten bewiesen, dass das möglich ist. Wir haben sehr viel ans Tageslicht befördert, wir haben viel aufgedeckt. Allerdings nichts, was uns Freude macht; vieles erschreckt uns, macht uns fassungslos, erstaunt uns zumindest sehr oder lässt uns den Kopf schütteln. Meine Damen und Herren, ich freue mich auch sehr, dass unser Untersuchungsausschuss so intensiv von den Medien und der kritischen Öffentlichkeit begleitet wird, dass das Thema nicht nur vor einem Jahr, ganz zu Beginn der Diskussion, und vielleicht jetzt noch einmal, zum Jahrestag, interessant war, sondern es über ein Jahr hinweg eine kontinuierliche Berichterstattung gab und die Veranstaltungen, auf denen wir über dieses Thema diskutiert haben, gut besucht waren, weil sich viele Bürgerinnen und Bürger zu Recht für das interessieren, über das wir hier miteinander diskutieren. Wir nehmen einen Auftrag sehr ernst: Wir machen diese Arbeit im Deutschen Bundestag für die Opfer und ihre Angehörigen. Das ist uns eine Verpflichtung, das nehmen wir ernst, das ist für uns ganz wichtig. Wir können kein geschehenes Unrecht wiedergutmachen; aber wir können mit einer konsequenten, lückenlosen Aufklärung dazu beitragen, dass diese schlimmen Ereignisse, die für die Familien erschütternd und wirklich entsetzlich sind, zumindest verarbeitet werden können. ({3}) Das ist ein wichtiges Signal aus diesem Parlament. Meine Damen und Herren, es sind Fehler gemacht worden. Wenn eine rechtsextreme Terrorgruppe 14 Jahre lang untertauchen kann, wenn sie zehn Menschen hinrichten kann, wenn sie 2 Sprengstoffanschläge mit vielen Verletzten und 15 Banküberfälle begehen kann, dann kann es nicht sein, dass keine Fehler gemacht worden sind, dann sind in unseren Sicherheitsbehörden Fehler gemacht worden. Das gilt für die Polizei, für den Verfassungsschutz, für die Zusammenarbeit in den Bundesländern, aber auch zwischen den Bundesländern und der Bundesebene. Das gilt auch, meine Damen und Herren, für Entscheidungen auf der politischen Ebene, für falsche Einschätzungen und falsche Bewertungen. Das werden wir ans Tageslicht befördern; da bleiben wir weiter dran. Wir müssen aus diesen Erkenntnissen die richtigen Lehren, die richtigen Konsequenzen ziehen und umfassende Reformen bei der Polizei, beim Verfassungsschutz, bei der Ausgestaltung der Zusammenarbeit und der Arbeitsweise unserer Sicherheitsbehörden durchführen. Wir brauchen diese Reformen. Wenn wir nur hier und da ein bisschen an der Ausgestaltung der ZusamDr. Eva Högl menarbeit schrauben, dann haben wir die Lehren aus dieser rechtsextremen Mordserie nicht verstanden. ({4}) Herr Bundesminister Friedrich, da muss ich Ihnen sagen: Das, was Sie hier vorgetragen haben, ist zu wenig. ({5}) Was Sie hier in diesem Jahr gemacht haben, ist zu wenig; es ist unengagiert und fantasielos. Die Verbrechen der rechtsextremen Terrorgruppe wurden vor einem Jahr aufgedeckt. Man kann jetzt schon tätig werden. Die Bundeskanzlerin selbst hat für die Bundesregierung versprochen, lückenlos aufzuklären, die Aufklärung engagiert voranzutreiben und Konsequenzen zu ziehen. Herr Bundesminister, ich muss sagen: Das, was Sie hier vorgetragen haben, genügt dem überhaupt nicht. ({6}) Herr Friedrich, auch das muss erwähnt werden: Es war ein schwerer Fehler - ich gehe davon aus, dass Sie das genauso sehen -, dass Sie im November 2011 nicht sofort einen umfassenden Aktenvernichtungsstopp erlassen haben. ({7}) Es ist so unglaublich viel Vertrauen zerstört worden, zunächst einmal durch die Fehler, die bei den Sicherheitsbehörden gemacht wurden, aber ein zweites Mal durch die Aktenvernichtung. Es war ein gravierender Fehler, dass nicht dafür gesorgt wurde, dass kein Blatt Papier vernichtet und keine Datei gelöscht wird. Meine Damen und Herren, da frage ich mich auch: Wie muss das auf die Angehörigen der Opfer wirken, die nicht nur die Ereignisse von damals verkraften müssen, sondern jetzt auch noch erleben müssen, dass unsere Sicherheitsbehörden nicht alles dafür tun, dass lückenlos aufgeklärt wird? Da drängt sich schon der Eindruck auf, dass etwas vertuscht werden soll. Wir haben kein Interesse daran, einen solchen Eindruck zu erwecken. Wir müssen jetzt aber dafür sorgen, dass lückenlos aufgeklärt wird. Meine letzte Bemerkung. Mir ist ganz wichtig: Wenn wir aufgeklärt und Reformen auf den Weg gebracht haben, dann dürfen wir auf keinen Fall den Aktendeckel zumachen - nach dem Motto „Das war das Kapitel rechtsextremer Terror des NSU“ -, sondern wir alle müssen die Lehren daraus ziehen und den Rechtsextremismus konsequent bekämpfen. Herr Bundesminister, das geht weit über das hinaus, was Sie hier vorgetragen haben. Ich hoffe, dass wir entsprechende Mehrheiten im Bundestag dafür bekommen, dass wir das zu unserer Aufgabe machen und diese Herausforderung annehmen können. Danke schön. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Högl. - Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Hartfrid Wolff. Bitte schön, Kollege Hartfrid Wolff. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Morde der Zwickauer Terrorzelle sind die bislang schwerwiegendste Kette von rechtsextrem motivierten Gewaltverbrechen, die die Bundesrepublik Deutschland erlebt hat. Sie sind der Grund für eine schwerwiegende Krise unserer Sicherheitsorgane. Die FDP hat von Anfang an auf eine lückenlose parlamentarische Aufklärung gedrängt. Zu viel war augenscheinlich schiefgelaufen. Über Jahre hinweg wurden Menschen ermordet. Auch den Angehörigen wurde unermessliches Leid zugefügt. Die Behörden haben jahrelang ergebnislos ermittelt. Da muss sich niemand wundern, dass das Ansehen unserer Sicherheitsorgane schwer belastet ist. Ich glaube, inzwischen sind wir uns hier im Hause einig: Der Untersuchungsausschuss hat dabei die Aufklärungsarbeit erheblich vorangebracht - seriös und konsequent -, und er bewältigt erfolgreich ein großes Arbeitspensum, gemeinsam und über Parteigrenzen hinweg. Und, meine Damen und Herren, wir müssen weitermachen. Der Untersuchungsausschuss hat vier Ermittlungsbeauftragte eingesetzt und gerade erst eine erhebliche Fülle an zusätzlichen Akten bekommen. Wöchentlich kommen neue Fakten auf den Tisch, denen wir nachgehen müssen. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir nach der Wahl weitermachen und eine Empfehlung an den nächsten Deutschen Bundestag aussprechen, den Untersuchungsausschuss in der kommenden Legislaturperiode - getragen von allen Fraktionen - fortzusetzen. Wir brauchen mehr Zeit, um besser aufklären und um fundierte Empfehlungen für die Zukunft aussprechen zu können - zur besseren Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland und international, für wirksame Empfehlungen zur Stärkung unserer Sicherheitsarchitektur - und um den Opferschutz voranbringen zu können. Dass immer mehr Fehler der Behörden zutage treten, ist erschütternd. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch auf eine lückenlose und gemeinsame politische Aufklärung dieser Fehler. Nur so ist das Vertrauen in die Behörden mittel- und langfristig wiederherzustellen. Ich habe den Eindruck, manche Behörden haben den Schuss immer noch nicht gehört. Warum werden in Berlin noch Akten geschreddert, nachdem die Vernichtung Hartfrid Wolff ({0}) von Akten beim Bund bekannt geworden ist? Wir reden von einem gravierenden Vertrauensverlust in die Fähigkeiten der Sicherheitsbehörden. Wie konnte es möglich sein, dass die Naziterroristen 13 Jahre im Untergrund lebten? Und: Wir reden von einem Vertrauensverlust in rechtsstaatliche Abläufe in Behörden. Weshalb wurden warum welche Akten gelöscht? Warum waren Beamte und V-Leute beim Ku-Klux-Klan aktiv? Wurden Rechtsextremisten gar von Sicherheitsbeamten gedeckt? Der Verfassungsschutz muss mit einem aktiven Sicherheitsauftrag ausgestattet und rechtsstaatlich wieder aufgerichtet werden. ({1}) Im Zuge einer grundlegenden Reform müssen wir für rechtsstaatliche Standards in ganz Deutschland für den Einsatz von V-Leuten, für neue Richtlinien zur Aufbewahrung und Löschung von Akten sowie für eine bessere Ausbildung der Mitarbeiter der Dienste sorgen. Vor allem aber brauchen wir eine deutlich bessere, kontinuierliche Kontrolle. Die Dienste müssen strenger an die Leine genommen werden. ({2}) Das Parlamentarische Kontrollgremium des Deutschen Bundestages muss erheblich gestärkt werden. Wir brauchen jederzeit Zugang zu allen Vorgängen, volle Akteneinsicht und einen ständigen Sonderermittler des Kontrollgremiums, der mit seinem Stab den Abgeordneten in ihrem Auftrag zuarbeitet. ({3}) Meine Damen und Herren, auch die Länder haben nebeneinanderher gearbeitet. Es wäre unverantwortlich, hieraus keine Konsequenzen zu ziehen. Die unverhohlene Verteidigung von Ressortegoismen und von Kompetenzen im Bund-Länder-Verhältnis muss auf den Prüfstand. Wer nicht zusammenarbeitet, schafft Sicherheitslücken. ({4}) Es macht fast fassungslos, dass nach wie vor einzelne Länder nicht bereit sind, sich konstruktiv an einer Reformdiskussion zu beteiligen, und lieber alte Strukturen verteidigen, die offensichtlich versagt haben, oder gar die transparente Aufklärung attackieren, wie beispielsweise im Fall des Landes Thüringen. Der Abbau von Doppelstrukturen ist nötig. Das ist leider immer noch ein Bohren dicker Bretter. Der Bund muss hier vorangehen. Auch im Zusammenhang mit dem MAD ist zu fragen, ob seine Aufgaben nicht besser mit den Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz zusammengeführt werden. Gerade heute haben wir dafür aus dem Untersuchungsausschuss die besten Beweise bekommen. Die Zusammenarbeit zwischen MAD, Verfassungsschutz und den anderen Sicherheitsbehörden leidet deutlich. Eine Verzahnung tut not. Nach den vergangenen 25 Jahren, in denen die Bundeswehr um drei Viertel geschrumpft wurde, brauchen wir nicht wirklich einen zusätzlichen Geheimdienst der Bundeswehr. Hier wünsche ich mir mehr Mut zum Wohle und zur Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Eine stärkere Kontrolle der Dienste, bundeseinheitliche Standards, mehr Zusammenarbeit, effektivere Strukturen und ein rechtsstaatliches Selbstverständnis können wieder Vertrauen schaffen. Die FDP wird weiter auf lückenloser Aufklärung bestehen und im Ausschuss konsequent und konstruktiv mitarbeiten. Nur so kann es gelingen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Wolff. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Petra Pau. Bitte schön, Kollegin Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 4. November 2011 offenbarte sich eines der größten politischen und Sicherheitsversagen: der Nazimordskandal, der seitdem unter dem Kürzel NSU verhandelt wird. Zehn Morde und noch mehr Verletzte gehen auf das Konto dieses terroristischen Nazitrios und seiner Unterstützer. Wir müssen allerdings auch berücksichtigen: Bevor sie im Jahr 2000 ihre erste Hinrichtung ausführten, waren seit 1990 bereits 105 Menschen in der Bundesrepublik aus rassistischen, rechtsextremen Motiven umgebracht worden - erschlagen, erschossen, verbrannt, ertränkt. Auch sie müssen uns mahnen. ({0}) Latenter Rassismus wird auch heute immer wieder befeuert. Aktuell geschehen ist dies im Land Berlin, wo demonstrierenden Asylbewerbern in nasser Kälte Decken, Isomatten und Schirme entzogen wurden, damit sie ab- und zusammenbrechen. Nazis frohlocken öffentlich darüber; ich schäme mich dafür. ({1}) Ich habe ein anderes Verständnis von Menschen- und Bürgerrechten. Der NSU-Untersuchungsausschuss sei eine seltene Sternstunde der Demokratie. Er versuche, sachlich aufzuklären, statt politisch zu keilen. Diese Einschätzung las ich in einem Magazin, und ich teile sie gern. Das sind wir den Opfern und ihren Hinterbliebenen aber auch schuldig. Umso verantwortungsloser sind Versuche, ausgerechnet uns Parlamentarier in hintergründigen Gesprächen als Sicherheitsrisiko zu brandmarken. ({2}) Was für ein Demokratieunverständnis bricht sich hier eigentlich Bahn? Das Nazitrio wurde in den 1990er-Jahren rassistisch sozialisiert. Dazu gehörten Pogrome in Mölln und RostockLichtenhagen, aber es war viel schlimmer. 1991 und 1992 gab es Tag für Tag rassistische Angriffe auf Unterkünfte von Migranten und Asylsuchenden. Dabei hatten militante Rassisten viele Biedermänner an ihrer Seite. Und auch das gab es: Auch Polizisten sahen weg, anstatt diese Menschen zu schützen. Nazis mussten sich in ihrem Wahn regelrecht bestätigt fühlen, auch durch die Politik. Wer diese Geschichte, diese Vorgeschichte ausblendet, hat das NSU-Desaster nicht verstanden. ({3}) Ich sage aktuell aber auch: Deshalb ist es ein Spiel mit dem Feuer, erneut eine Asyldebatte zu entfachen, noch dazu gegen Sinti und Roma. ({4}) Man kann doch nicht ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma einweihen und gleichzeitig lebende Sinti und Roma zur Unperson erklären. ({5}) Schauen wir uns die Ermittlungen zur NSU-Mordserie an: Als acht Menschen mit türkischen Wurzeln und ein Grieche ermordet wurden, suchte man die Täter unter Türken. Als in Heilbronn die Polizistin Kiesewetter ermordet wurde, suchte man die Täter unter Sinti und Roma, wieder mit Eifer und europaweit. Die These, man habe vorurteilsfrei in alle Richtungen ermittelt, ist eine pure Schutzbehauptung und stimmt einfach nicht. ({6}) Um es klar zu sagen: Ich unterstelle keinem Beamten, er sei Rassist. Das wäre auch schlicht falsch. Aber die einseitigen Ermittlungen hatten rassistische Züge. Deshalb hat der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, recht: Wer ernsthaft über Integration sprechen will, muss endlich auch über Rassismus in Deutschland reden. ({7}) Ich füge hinzu: Sonst gedeihen im Schatten dieses Schweigens die nächsten NSU-Banden. Aktuell wird viel über die Sicherheitsarchitektur gesprochen. Ich tue das heute nicht. Ich möchte abschließend auf einen anderen Widerspruch verweisen: Die Naziszene hat sich systematisch und langfristig militarisiert. Wie wir aus der V-Leute-Praxis wissen, auch mit staatlichem Beistand. Jene aber, die sich alltäglich gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren, werden kurzatmig gehalten und obendrein brüskiert. Das kann nicht gutgehen. Wir brauchen endlich eine neue Präventionsarchitektur, ohne Extremismusklausel, aber mit verlässlicher Förderung. ({8}) Kurzum: Es reicht nicht, ein Jahr nach dem Auffliegen des NSU-Nazitrios zu erinnern und zu mahnen. Das ersetzt keine politischen Konsequenzen. Sie fehlen noch immer. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Petra Pau. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Clemens Binninger. Bitte schön, Kollege Clemens Binninger. ({0})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es war eine Niederlage für die Sicherheitsbehörden, so Verfassungsschutzpräsident a. D. Fromm. Es war mehr. Dass Menschen in Deutschland Angst um ihr Leben haben mussten, weil sie ausländischer Abstammung waren oder weil sie unseren Staat als Polizistin repräsentiert haben, war eine Niederlage für unsere ganze Gesellschaft und darf sich nicht wiederholen. ({0}) Dass bei der Untersuchung der Mordserie eines abgetauchten Trios, das zunächst nicht gefunden werden und mehrere Jahre unentdeckt morden und rauben konnte, Fehler passiert sind, ist offenkundig. Wer hier eine andere Ansicht vertreten würde, wäre in der Tat fehl am Platze. Deshalb ist es gut, dass der Deutsche Bundestag gemeinsam einen Untersuchungsausschuss eingesetzt hat. Unsere Aufgabe ist es, alle Fragen zu stellen - alle -, auch im Interesse der Opfer und der Familien der Opfer. Wir stellen stellvertretend für sie die Fragen, die sie sich selber stellen. ({1}) Warum ist es nicht gelungen, die Täter zu ermitteln, obwohl es doch so viele Hinweise gab? Für mich gab es viele Fehler; ich will aber keine Rangliste aufstellen. Da war der Sprengstoffanschlag in Köln, in einer Straße, in der nur ausländische Mitbürger leben. Er wurde genau so begangen, wie es in einem Dossier des Verfassungsschutzes steht; die Tatbegehungsweise passt also exakt auf ein Dossier des Nachrichtendienstes, das vier Wochen später veröffentlicht wurde. In diesem Dossier sind auch mögliche Täter genannt. Da steht drin: Für solche Taten könnten auch die Jenaer Bombenbastler in Betracht kommen, also Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Trotzdem hat man nicht in diese Richtung ermittelt. Das macht mich wirklich fassungslos und ratlos. Das darf sich nicht wiederholen. ({2}) Wenn wir Kritik an den Sicherheitsbehörden üben, müssen wir trotzdem fair bleiben. Es wurde mit hohem Aufwand ermittelt; wohl wahr. Aber wenn man sich ansieht, wie die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Nachrichtendiensten ablief, muss man feststellen: Das ist nicht hinnehmbar. Bei einer Anfrage aus den Ermittlerkreisen musste man neun Monate warten, bis dann eine völlig unzureichende Antwort kam. Es war in Summe ein schlechter Informationsaustausch. Dass es nicht gelingt, eine Verbindung herzustellen zwischen 14 Banküberfällen, bei denen immer zwei Männer mit Fahrrad vom Tatort weggefahren sind, und einer Verbrechensserie, bei der ebenfalls immer zwei Männer mit Fahrrad am Tatort gesehen wurden, ist ein Armutszeugnis für die Analysefähigkeit. ({3}) Gleichwohl wurde mit hohem Aufwand ermittelt. Das, glaube ich, kann niemand bestreiten. Ich würde niemandem in diesem Land unterstellen, nicht willens zu sein, einen Mord aufzuklären. Aber wenn man den Aufwand, der für eine bestimmte Ermittlungsrichtung betrieben wurde - über Monate, gar Jahre, und das bis zuletzt -, mit dem Aufwand vergleicht, der für Ermittlungen in Richtung rechtsradikaler Täter betrieben wurde, dann muss man sagen: Hier besteht ein Missverhältnis, das sich so nicht wiederholen darf. ({4}) Ich glaube, dass der Gedanke der Opferbeauftragten der Bundesregierung, Frau John, ein kluger ist und in unsere weiteren Überlegungen mit einfließen sollte. Wenn es um ein Verbrechen geht, bei dem das Opfer ausländischer Herkunft ist oder der jüdischen Religion angehört und der Täter nicht feststeht, muss es für die Behörden eine Verpflichtung sein, nachhaltig in Richtung Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus zu ermitteln und das auch zu dokumentieren. Wenn man keine Hinweise hat, darf man nichts ausschließen. ({5}) Wenn dies - neben vielen technischen Dingen, die wir hier und heute nicht erörtern müssen - eine Lehre aus den Geschehnissen ist, dann wäre, glaube ich, viel gewonnen. Ich will noch etwas zu einem Instrument sagen, das Nachrichtendienste einsetzen und das viel Beachtung findet: zu V-Leuten. Ich maße mir, gemeinsam mit den Kollegen im Untersuchungsausschuss, an, mittlerweile einen einigermaßen guten Einblick zu haben, wie dieses Instrument im Bereich des Rechtsextremismus genutzt wird; das mag in anderen Bereichen anders sein. Angesichts dessen, wie V-Leute im Bereich der Neonaziszene für mehr als 10, 12, 14, 15 Jahre genutzt wurden und was sie zutage gefördert haben, muss ich wirklich sagen: Der Aufwand, den man mit dieser Methode betrieben hat, und das Risiko, das man damit eingegangen ist, standen in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn. ({6}) Was die Rechtsextremismusdatei angeht, richte ich mich ohne Schärfe an die Adresse der Grünen. Ich bitte Sie, Ihre Position zu überdenken. Man kann diese Datei, die wir beschlossen haben, nicht ablehnen. Sie ist ein sehr wichtiger Baustein, der dazu beiträgt, das Wissen zusammenzuführen. ({7}) - Dann macht einen Vorschlag, lehnt sie aber nicht ab! Es sind zwar schon viele Maßnahmen auf den Weg gebracht worden. Über das Instrument der V-Leute müssen wir allerdings noch einmal grundlegend nachdenken. Wir alle haben die Aufgabe, alle Fragen zu stellen, die notwendig sind, damit sich so etwas nie wiederholt. Wir tun das im Interesse der Opfer und ihrer Familien, aber auch im Interesse der Zivilgesellschaft in diesem Land, die frei von Angst vor Rechtsextremisten und Neonazis leben können muss. Niemand soll Angst um sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit haben, nur weil er ausländischer Herkunft ist. Das darf sich nicht wiederholen. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Clemens Binninger. - Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Sönke Rix. Bitte schön, Kollege Sönke Rix. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Binninger, genau da möchte ich anknüpfen. Sebastian Edathy sagt immer, wenn er über dieses Thema spricht: Wir haben als Staat unseren Bürgerinnen und Bürgern, allen, die hier leben, zwei Versprechen gegeben. Das erste Versprechen: Wir wollen die rechtsstaatlichen Mittel dafür zur Verfügung stellen, dass der Schutz von Leib und Leben gewährleistet werden kann. Das zweite Versprechen: Wenn das nicht erfolgreich ist, dann wollen wir so schnell wie möglich aufklären, damit so etwas nicht weiterhin geschehen kann. Man muss an dieser Stelle deutlich machen: Diese zwei Grundsätze konnten wir bei der Mordserie nicht einhalten. Dafür können wir als gewählte Vertreterinnen und Vertreter dieses Staates nur immer wieder um Verzeihung bitten. ({0}) Bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit den NSU-Morden gerieten über Jahre hinweg immer wieder die Angehörigen ins Visier der Ermittler. Über Jahre hinweg wurde ihnen immer wieder gesagt: Ihr seid schuld, teilschuld, mitschuld; ihr seid die Verdächtigen, die Hauptverdächtigen. - Bis heute ist ein unheilbarer Schaden entstanden. Auch dafür können wir nur wieder um Verzeihung bitten. Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass die Bundeskanzlerin eine Ombudsfrau berufen hat, damit genau über diese Problematik intensiv gesprochen und den Menschen vielleicht ein Sprachrohr gegeben werden kann. Wir haben uns im Untersuchungsausschuss darauf verständigt, die Angehörigen der Opfer nicht noch einmal in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Aber wir reden alle viel mit Frau John. Die Idee der Bundesregierung, eine Ombudsstelle einzurichten, war eine gute Idee. Die Arbeit von Frau John verdient ganz herzlichen Dank von uns allen. ({1}) Diese Arbeit, meine Damen und Herren, könnte uns als Beispiel dienen. Die Ombudsstelle ist entstanden für die Angehörigen dieser zehn Opfer. Wir könnten aber auch eine Ombudsstelle für Opfer rechter Gewalt und die Angehörigen dieser Opfer dauerhaft einrichten. Denn es gibt ja mehr als diese zehn Opfer: Je nachdem, welche Berechnung man zugrunde legt, kommt man auf weit über 140 Todesopfer durch rechte Gewalt in den letzten Jahren. Ich glaube, wir können als Staat ein gutes Zeichen setzen, wenn wir sagen können: Es gibt eine unabhängige Stelle, an die ihr euch wenden könnt, die euch beraten kann, die für euch ein Sprachrohr sein kann. Wir sollten das in unsere Beratungen und in die Arbeit im Untersuchungsausschuss auf jeden Fall mit aufnehmen. Das ist eine Idee, über die man nachdenken sollte. Neben der notwendigen Neustrukturierung der Sicherheitsbehörden ist natürlich - das wurde schon von mehreren angesprochen - Rassismus insgesamt ein Thema. Wir müssen den Rassismus in unserer Gesellschaft überall bekämpfen, nicht nur in den Sicherheitsbehörden. Aber auch die Sicherheitsbehörden können sich nicht freisprechen von Rassismus; auch dort gibt es Menschen mit rassistischem Hintergrund. Rassismus ist leider bis in die Mitte unserer Gesellschaft verbreitet. Herr Friedrich, ich finde es gut, dass Sie gerade angesprochen haben, dass die Sicherheitsbehörden für die Bekämpfung von Rechtsextremismus mehr Mittel erhalten. Ich finde es aber schade, dass nicht auch die Mittel entsprechend erhöht werden, die zur Verfügung gestellt werden, um den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft zu bekämpfen: Mittel für die politische Bildung oder für eine Stärkung der Zivilgesellschaft. Auch da würde man sich vonseiten der Bundesregierung deutlichere Zeichen wünschen. ({2}) Solche Zeichen hat es leider nicht gegeben. Sie haben gerade von 25 Millionen Euro gesprochen. Wenn die Mittel für die Programme gegen Rechtsextremismus auch nur um die Hälfte dieser Summe aufgestockt würden, wäre das die richtige Antwort. Abschließend habe ich noch eine Bitte, einen Appell. Das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden ist ganz massiv erschüttert. Das gilt nicht nur für die Angehörigen der Opfer und diejenigen, die unmittelbar damit zu tun haben; vielmehr gilt das aufgrund der bisherigen Aufklärungsarbeit für viele Bürgerinnen und Bürger. Daher habe ich die Bitte an die Vertreter der Behörden, der Regierung, der Exekutive, wirklich intensiv daran mitzuarbeiten, dass dieses Vertrauen wiederhergestellt werden kann. Wir werden alle darunter zu leiden haben, wenn - bis in die Mitte der Gesellschaft - dieses Vertrauen nicht mehr existiert. Ich sage ausdrücklich: Wir brauchen die Sicherheitsbehörden - wenn auch nicht in dieser Form - als Partner der Bürgerinnen und Bürger. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen sich den Behörden gegenüber nicht als Bittsteller fühlen. Bitte helfen Sie mit, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Wir im Untersuchungsausschuss wollen auf jeden Fall unseren Beitrag dazu leisten. Danke schön. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Sönke Rix. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Serkan Tören. Bitte schön, Kollege Serkan Tören. ({0})

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr ist das NSU-Trio aufgeflogen. Drei Rechtsextreme sind über Jahre unentdeckt durch Deutschland gezogen und haben eine Blutspur hinterlassen, die ihresgleichen sucht. Dieses Trio hat Menschen aufgrund ihrer Herkunft ermordet oder weil sie, wie im Fall der Polizistin Kiesewetter, Teil des von ihnen so verhassten Systems waren. Noch immer bin ich fassungslos ob der Morde und des Leids der Angehörigen der Mordopfer, die dieses Trio zu verantworten hat. Wahrscheinlich werden wir nie begreifen können, wie Menschen zu solchen Taten fähig sein können. Wie sieht nun die Bilanz ein Jahr nach der Entdeckung des NSU aus? Noch immer kennen wir nicht alle Hintergründe dieser schrecklichen Mordserie. Nun stellt sich natürlich die Frage: Was macht die Politik? Was trägt sie zur Aufklärung der Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bei? In noch nie dagewesener Einmütigkeit arbeiten Koalition und Opposition im Untersuchungsausschuss zusammen. Unser gemeinsames Ziel ist zum einen die Aufklärung und zum anderen die Erarbeitung von Empfehlungen dafür, wie wir die Sicherheitsarchitektur in Deutschland umbauen müssen. So etwas wie die Mordserie des NSUTrios darf es in Deutschland nie wieder geben. Dies sind wir auch den Opfern schuldig. In beinahe jeder Sitzung des Untersuchungsausschusses fördern wir neue Fehlleistungen der Sicherheitsbehörden zutage, sei es auf Ebene des Bundes oder auch der Länder. Es erschreckt mich immer wieder, wie die Sicherheitsbehörden gearbeitet haben. So wurde zwar das Motiv der Ausländerfeindlichkeit bei den Ermittlungen immer wieder thematisiert, aber konsequent nachgegangen wurde diesem Motiv nie. Das war ein Fehler. Dieser Fehler rechtfertigt aus meiner Sicht aber nicht den oft erhobenen Vorwurf, dass die Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind seien. Mit der gleichen Logik könnte man zum Beispiel auch den Vorwurf erheben, dass die Sicherheitsbehörden auf dem linken Auge blind seien. Man muss sich nur die vielen unaufgeklärten Morde der Rote-Armee-Fraktion anschauen. Nein, die immer wieder geäußerten Vorwürfe, die Behörden seien auf dem einen oder dem anderen Auge blind, bringen uns keinen Millimeter weiter. Wer von einem latenten Rassismus bei Sicherheitsbehörden spricht, der spaltet die Gesellschaft. Die Idee, dass man bei Gewaltopfern mit Migrationshintergrund immer zuerst rechte Gewalt vermuten muss, halte ich hier für nicht zielführend. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir derartige Morde künftig besser verhindern können, wenn Menschen mit Migrationsgeschichte einen höheren Anteil in den Sicherheitsbehörden stellen als bislang. Sie bringen eine besondere Sensibilität und auch einen anderen Blickwinkel mit, die helfen können, vergleichbaren Straftaten schneller und erfolgreicher entgegenzutreten. Wir - auch meine Vorredner - haben bis jetzt immer vom Versagen der Sicherheitsbehörden gesprochen. Wenn man sich die Vergangenheit anschaut, dann erkennt man, dass auch die Medien versagt haben. Das muss man leider auch feststellen. ({0}) Es ist seinerzeit nicht hinterfragt worden, ob die Sicherheitsbehörden richtig agieren und richtig handeln. Teilweise wurden in Überschriften sogar Wörter wie „Döner-Morde“ kreiert. Das ist ein schrecklicher Begriff, der auch von den Medien kam. Deswegen - das muss man leider sagen - haben in diesem Zusammenhang auch die Medien versagt. Mein Mitgefühl gilt heute allen Opfern und ihren Angehörigen. Wir als Politik sind in der Verantwortung, die schrecklichen Taten aufzuklären und zu verhindern, dass sich so etwas in Deutschland wiederholt. Vielen Dank. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Serkan Tören. - Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Hans-Christian Ströbele. Bitte schön, Kollege Hans-Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir geht es so: Wenn ich ein Jahr nach dem Auffliegen des Terrortrios von Bürgerinnen und Bürgern, vor allen Dingen von Angehörigen der Opfer, gefragt werde: „Was habt ihr denn nun herausbekommen?“, wenn die Frage gestellt wird, zum Beispiel vorgestern in der Sendung Fakt im Fernsehen: „Wieso können die so lange morden?“, dann erwarte ich eigentlich, dass der Bundesinnenminister, wenn er heute hier redet, wenigstens versucht, eine vorläufige Antwort und Erklärung zu geben. Allein eine Statistik, wie viele Beamte eingesetzt sind und wie viele Ressourcen losgetreten worden sind, kann doch nicht ausreichen. Vielmehr sollte wenigstens der Innenminister, der für die Sicherheitsorgane im Bund zuständig ist, einmal versuchen, eine Erklärung abzugeben, wieso es so weit kommen konnte. ({0}) Wenn die in der Sendung anwesende Angehörige in Anspielung auf die gerade bekannt gewordene Schredderaktion beim Verfassungsschutz in Berlin ihren Beitrag schließt mit der Frage: „Wird es wieder gelingen, zu verbergen?“, dann kann ich nur sagen: Sie hat recht. Deshalb erwarte ich von dem Innenminister, dass er versucht, eine Antwort darauf zu geben, wie es sein kann, dass ein halbes Jahr nach Auffliegen des Terrortrios sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene Akten vernichtet, geschreddert werden, die uns vielleicht Aufschluss über die Frage geben könnten: Wie konnte das passieren? Wieso haben die Behörden so versagt? ({1}) Hier ist zutreffend darauf hingewiesen worden - diese Überlegung hatte ich ursprünglich auch -: Es gab einfach nicht die Idee, dass Rechte damit etwas zu tun haben könnten, als die Morde passierten, einer nach dem anderen. Man wusste relativ wenig, außer dass die Morde alle mit derselben Waffe begangen worden sind und dass es sich hier nicht um einfache Morde, sondern um gezielte Hinrichtungen gehandelt hat. Inzwischen weiß ich mehr. Zwei Beispiele sind von den Kollegen Wieland und Binninger erwähnt worden; ich will ein drittes hinzufügen. Wir haben gesicherte Erkenntnis darüber, dass es in den Behörden sehr wohl ein Problembewusstsein gegeben hat, dass es auch die Idee gegeben hat, dass hier die rechte Szene am Werk war. Und es geht noch einen Schritt weiter: Wir wissen inzwischen, dass der Militärische Abschirmdienst, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass Landesämter für Verfassungsschutz, dass die Polizei in Berlin sehr wohl Hinweise auf das untergetauchte Trio gehabt haben. Diese Hinweise sind zum Teil weitergegeben worden, aber sie haben nicht dazu geführt, dass man der Sache mit der Vehemenz nachgegangen ist, wie man ihr hätte nachgehen müssen angesichts einer einmaligen Mordserie in Deutschland. ({2}) Wenn wir Erklärungen dafür suchen - und die suchen wir alle -, dann stellen wir immer wieder fest: Bei den Behörden hat es Informationen gegeben. Die Beamten haben sich damit beschäftigt. Warum haben sie nicht eins und eins zusammengezählt? Wenn das Trio im Untergrund ist und sagt: „Wir brauchen Geld“, und eines Tages kommt die Meldung: „Das Trio braucht kein Geld mehr“, und gleichzeitig passieren im nahen Chemnitz und im nahen Zwickau fünf Banküberfälle, die nicht anders zu erklären sind, als dass das zwei Täter gewesen sein müssen, von denen es Videoaufnahmen gab, die Männer zeigten, die die Statur und das äußere Aussehen dieses Terrortrios gehabt haben - warum hat man das nicht zusammengebracht? Was haben die Beamten vom Bundesamt für Verfassungsschutz sich gedacht, als sie zur Ermittlung dieser Täter in Thüringen waren? Warum sind sie nicht darauf gekommen, dass das eine mit dem anderen zusammengehört und zu erklären ist? ({3}) Nun die Erklärung. Ich sehe mit wenigen Ausnahmen bei fast allen Zeugen aus den Ämtern, aus den Geheimdiensten, aus den Polizeibehörden von Bund und Ländern eine bürokratische Ignoranz sowie eine Mentalität, eine Sichtweise, eine Einstellung des Denkens dieser Mitarbeiter - vor allen Dingen derjenigen von den Geheimdiensten -, das nicht wahrhaben zu wollen. Für diese war das Bewahren ihrer Geheimnisse wichtiger als die Aufklärung einer Mordserie. Ich gehe deshalb als Schlussfolgerung davon aus: Diesen Beamten, diesen Mitarbeitern kann man es nicht überlassen, in Zukunft die Grundsätze des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sicherzustellen und die Sicherheit der Menschen in Deutschland zu garantieren. ({4}) Wir müssen hier die Konsequenzen ziehen und sagen: Diese Beamten sind nicht die Richtigen, um jetzt aufzuklären. Diese Beamten sind auch die Falschen, die Sicherheit in Deutschland in Zukunft zu garantieren. Wir brauchen einen vollständigen personellen Neuanfang. Es reicht nicht, die Präsidenten oder Vizepräsidenten auszutauschen. ({5}) Abschließend: Herr Bundesinnenminister, ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie entsprechend dem Beschluss des Deutschen Bundestages, der lautet: „Alle demokratischen Gruppen in Deutschland, die sich gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagieren, müssen gestärkt werden“, als ersten wichtigen Schritt in diese Richtung dem Deutschen Bundestag heute mitgeteilt hätten: Wir heben die Extremismusklausel auf. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. HansPeter Uhl. Bitte schön, Kollege Hans-Peter Uhl. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr nach der Aufdeckung dieser entsetzlichen Morde ziehen wir heute eine Zwischenbilanz. Es ist kein Wunder, Herr Ströbele, dass wir zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, weil wir von unterschiedlichen Einstellungen zu den Behörden, über die wir heute reden, geprägt sind, zumindest beim Verfassungsschutz. Lassen Sie mich eines vorausschicken - das ist schon mehrfach apostrophiert worden -: In zehn Jahren zehn Morde, von Nazihand begangen, nicht aufgeklärt zu haben, ist natürlich kein Ruhmesblatt für die Sicherheitsbehörden in Deutschland. Es ist richtig, Untersuchungsausschüsse eingerichtet zu haben. Es ist richtig, das alles zu hinterfragen. Aber ich versetze mich in diesen Tagen auch in die Lage von Mitarbeitern von Verfassungsschutzämtern, Herr Ströbele, und frage mich: Geht man heute mit diesen Mitarbeitern fair um? Ich meine, zum fairen Umgang gehört auch, dass ein abgeschlossener Sachverhalt nicht mit dem Wissen von heute beurteilt wird. In Ihrem Fall, Herr Ströbele, war es so, dass Sie die Tatsachen, nämlich dass zwar einige Beamte in Thüringen den Sachverhalt so kannten, wie sie ihn kannten, aber dass die Beamten im benachbarten Sachsen diesen Sachverhalt eben nicht so kannten, einfach in einen Topf werfen, umrühren und fragen: Warum haben die Beamten nicht eins und eins zusammengezählt? ({0}) Das ist kein fairer Umgang mit den Menschen. Ich möchte auch davor warnen, dass wir unsere Beamten pauschal verdächtigen und gar in eine geistige Nähe zu dem braunen Sumpf rücken. Dafür gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte. ({1}) - Bitte lesen Sie die Zeitungen. Dann sehen Sie, dass das permanent gemacht wird, immer und immer wieder. Selbst die dümmste Unterstellung von irgendeinem Journalisten wird sofort als möglicherweise wahr angesehen und die Frage aufgeworfen, ob jetzt die ganze Behörde von dem, was behauptet wird, geprägt ist. Meine Damen und Herren, wir dürfen keine herabsetzende Diffamierung unserer Beamten zulassen. Wir müssen vor allem heute eines feststellen: Ein Jahr Untersuchungsausschuss hat gezeigt, dass es keinerlei Nachweis für die Behauptung gibt, dass unsere Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind seien. Dafür gibt es keinerlei Nachweis! Dieser Staat ist nicht auf dem rechten Auge blind. Er war es nicht und ist es nicht. Er darf es auch niemals werden. ({2}) Frau Högl hat dem Minister vorgeworfen, dass er die Akten zum Rechtsextremismus mit gewissen Aktivitäten schließen wolle, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Das will keiner von uns. Wir wissen sehr wohl, dass wir in Deutschland Verantwortung für unsere Geschichte haben und dass wir den Kampf gegen Nazis niemals beenden dürfen. In dieser Woche wurde das Thema Trennungsgebot auf sehr eigentümliche Weise behandelt. So wurden im Untersuchungsausschuss wieder einmal Beamte des Verfassungsschutzes gefragt, warum sie ihr Wissen nicht an die ermittelnde Polizei weitergegeben haben. ({3}) Zur gleichen Zeit musste sich der Innenminister vor den Verfassungsrichtern in Karlsruhe wegen eines Gesetzes verteidigen, das die Zusammenführung von Informationen des Nachrichtendienstes und der Polizei in einer Verbunddatei vorsieht und dazu dient, Verbrechern von links und rechts sowie Islamisten das Handwerk zu legen. Wie Sie sehen, gibt es hier ein Thema, das immer zu einem Zielkonflikt geführt hat und immer dazu führen wird. ({4}) - Hören Sie doch bitte zu, und seien Sie nicht so aufgeregt! Wenn Sie im Grundgesetz suchen, werden Sie keinen Artikel finden, der das Trennungsgebot regelt. Es gibt nur den sogenannten Polizeibrief vom April 1949 - unterschrieben von drei Generälen der Besatzungsmächte -, in dem das steht. Aus, Ende, mehr nicht. ({5}) - Herr Trittin, man kann das auch Soldatenbrief nennen, wenn Sie wollen. - Dieser Polizeibrief stellt die Grundlage für das Trennungsgebot dar. Ich werde Ihnen diesen Brief geben; denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie ihn nicht kennen. Ich rate dem Bundesverfassungsgericht, auf diesem Gebiet rechtsschöpferisch tätig zu werden, und zwar gerade aus diesem Anlass und in dieser Zeit. Wie viel Trennung zwischen Nachrichtendienst und Polizei brauchen wir in unserem Staat, und wie viel Verbunddatei sowie gemeinsames Wissen und Zusammenarbeit brauchen wir? Die Beantwortung dieser Fragen ist angezeigt. Ich möchte Ihnen dringend raten, die Polizei und den Verfassungsschutz nicht pauschal zu diffamieren und keinen Austausch an Haupt und Gliedern, von oben bis unten zu fordern, Herr Ströbele. Nein, wir brauchen einen starken Verfassungsschutz und eine starke Polizei. Das Parlament sollte über alle Parteigrenzen hinweg zum Verfassungsschutz und zur Polizei stehen. Wir brauchen sie alle. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Aydan Özoğuz. Bitte schön, Frau Kollegin Aydan Özoğuz. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Uhl, bevor Sie gesprochen haben, hatte ich den Eindruck, dass hier eigentlich große Einmütigkeit über das herrscht, was sich in den letzten zehn Jahren in unserem Land getan hat, ({0}) über das, was es aufzuarbeiten gilt, über die Fehler, die gemacht wurden. Die Stärke dieses Untersuchungsausschusses besteht darin, dass wir dort wirklich zusammenarbeiten, dass wir die Fehler sehen und nicht die Augen davor verschließen. Wir sollten jetzt nicht anfangen, alle möglichen Verteidigungstaktiken an den Tag zu legen. Das wird uns am Ende überhaupt keine Aufklärung bringen, befürchte ich. ({1}) Ich hatte vor Ihrer Rede gedacht, dass man gar nicht mehr so viel zu sagen braucht. Ich glaube, es tut doch not, einige Aspekte erneut zu unterstreichen. Wenn man sich mit Eltern und Angehörigen der Opfer unterhält, dann merkt man doch sehr deutlich - das haben einige schon angedeutet -, was es eigentlich bedeutet und anrichtet, wenn man verdächtigt wird, wenn man von seinem gesamten Umfeld ausgegrenzt wird, wenn es immer wieder heißt: Da muss doch etwas dran sein, wenn alle ermittelnden Behörden meinen, dass bei denen etwas nicht stimmt. Ich möchte mich deshalb dem Dank an Barbara John anschließen, die sich weit über den Auftrag hinaus, der ihr erteilt worden ist, für die Familien einsetzt und die es geschafft hat, gerade die Kinder, die ihre Väter verloren haben, zusammenzubringen. Diese hatten damit zum ersten Mal die Gelegenheit, sich über das auszutauschen, was über viele Jahre ihr Leben in so schrecklicher Weise bestimmt hat. ({2}) Ich habe in der Ausschussarbeit auch gelernt, dass Angehörige von Opfern häufig in einem Verhältnis zu den Tätern stehen. Das ist oft so, und das war mir vorher nicht bewusst. Daher haben wir auch im Ausschuss nie gesagt, man hätte in diese Richtung nicht ermitteln dürfen; ganz im Gegenteil. Es ist klar, dass man in alle Richtungen ermitteln musste. Das gehört nicht nur zur Routine, sondern auch zu dem, was wir erwarten dürfen. Der entscheidende Punkt ist nur, dass man nicht aufgehört hat, nur in Richtung der Familien der Opfer zu ermitteln, obwohl es dafür keine nachvollziehbaren Gründe und keine wirklichen Hinweise mehr gab. Da sollten wir genauer hinsehen. Es wurden Polizisten mit Migrationshintergrund als türkische Privatdetektive getarnt, wie wir wissen, um in einer Opferfamilie zu recherchieren, weil man glaubte - das finde ich nun doch bemerkenswert -, dass „die Türken“ der deutschen Polizei nicht die volle Wahrheit sagen würden. Die Familien der Opfer wurden in den abgelegensten Winkeln der Türkei aufgesucht, um vermeintliche Verbindungen zur Mafia, zur PKK, zur türkischen Hisbollah und wem auch immer aufzuspüren. Aber es gab diese Hinweise nicht, es gab nichts, was weitergeführt hätte, und trotzdem blieb der Schwerpunkt der Ermittlungen in dieser Richtung bestehen. Es ist bemerkenswert, dass nicht von einem Gleichgewicht bei den Untersuchungen gesprochen werden kann; denn Ermittlungen in eine andere Richtung fehlten. Herr Binninger, Sie haben eben zu Recht gesagt, es habe Hinweise gegeben. Aber diesen Hinweisen wurde nicht in gleicher Weise und mit gleicher Akribie nachgegangen. Die Medienstrategie der Polizei - das erklärt zu einem gewissen Grade den Umgang mit dem Thema in der Öffentlichkeit - bestand darin, zu sagen, man solle die türkischstämmigen Menschen nicht unnötig beunruhigen, um zu vermeiden, dass sie Angst davor haben, vielleicht selbst Opfer werden zu können. Man tat so, als ob diese in einem luftleeren Raum leben würden und gar nicht mitbekämen, was um sie herum los ist. Das kann man nicht mehr nachvollziehen. Nach den Morden im April 2006 gab es Demonstrationen in Kassel und Dortmund, auf denen die Demonstranten gefordert haben: Kein zehntes Opfer. - Es war also allen bewusst, was da eigentlich los ist, aber die Ermittlungsbehörden - ich sage es jetzt so, wie ich es empfinde - blieben in ihrer eigenen Parallelwelt. Sie kümmerten sich nicht darum, was öffentlich gesagt wurde. ({3}) Ich komme zu meinem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Wir haben schon gesagt, dass man heute und gestern nicht völlig voneinander trennen darf. Herr Bundesinnenminister, Sie wissen, dass ich von Ihrer Kampagne „vermisst“ nichts halte, weil ich glaube, dass es sehr pauschalisierend ist, Gesichter von Menschen wie mir, also von Muslimen, auf deutschen Straßen zu plakatieren und die Frage zu stellen, ob diese möglicherweise dem Terrorismus zuneigten und deswegen plötzlich verschwunden seien. ({4}) Diese Plakate aufzuhängen, zeugt von pauschalem Denken. Eines hat mich ebenfalls sehr betroffen gemacht. Vor einigen Wochen gingen in meinem Büro viele Anrufe von Anwohnern der Keupstraße in Köln ein. Damals, nach dem Attentat, wurden die Anwohner dieser Straße stigmatisiert; denn es wurde angenommen, dass sie etwas mit diesem Attentat zu tun haben müssten, weil die Keupstraße in einem Ausländerviertel liegt. Genau in dieser Straße fängt man an, solche Postkarten zu verteilen und die Leute erneut zu stigmatisieren, indem man andeutet, dass sie irgendwie auch etwas mit Terrorismus zu tun haben könnten. Ich finde, ein bisschen mehr Sensibilität ist das Mindeste, was man heute aus diesen Dingen ziehen kann. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Stephan Stracke. Bitte schön, Kollege Stracke. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Oberlandesgericht München hat heute mitgeteilt, dass gegen Zschäpe und vermutlich andere aus dem Unterstützerkreis Anklage erhoben wurde. Das ist der geeignete Anknüpfungspunkt für die heutige Debatte. Es ist der richtige Zeitpunkt für die Anklageerhebung. Das ist die Antwort des Rechtsstaates auf die Verbrechen der Terroristen, die Antwort, die Familien der Opfer zu Recht erwarten dürfen. ({0}) Es ist gut, dass der Prozess nun beginnt. Was die Angehörigen der Opfer auch erwarten dürfen, ist eine sachgerechte Auseinandersetzung darüber, warum die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund nahezu 13 Jahre unentdeckt geblieben ist. Wer sich sachlich mit diesen Dingen beschäftigt, muss meines Erachtens differenziert vorgehen; er muss differenzieren in Bezug auf objektive Fehler und vermeintliche Fehler der Sicherheitsbehörden, die aber der Rechtslage geschuldet waren, und auch in Bezug auf den Umgang beispielsweise der Exekutive mit dem Untersuchungsausschuss dieses Hohen Hauses. Diese Differenzierung ist es, die Aufklärung gelingen lässt, um daraus die richtigen und notwendigen Schlussfolgerungen beispielsweise im Rahmen des Abschlussberichtes zu ziehen. Wir werden dafür sorgen und genau diese rückhaltlose Aufklärung betreiben. Das ist auch der Kern der Aufgabe des Untersuchungsausschusses. Diese Aufgabe nehmen wir über Parteigrenzen hinweg sehr ernst. Der Untersuchungsschuss leistet gute Arbeit, weitaus bessere, als manch einer zu Beginn gedacht oder erwartet hätte. Über 200 Beweisbeschlüsse haben wir gefasst, über 40 Befragungen von Sachverständigen und Zeugen durchgeführt. Dies tun wir immer im Bewusstsein unserer Verantwortung und mit Blick auf das erschütterte Vertrauen in die Sicherheitsbehörden. Dass diese Untersuchung in einem so kurzen Zeitraum möglich ist, ist vor allem dem gemeinsamen Einsatz über die Parteigrenzen hinweg zu verdanken. Mein Dank gilt dabei in besonderem Maße dem großen persönlichen Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen und des Ausschusssekretariats sowie unserem Ermittlungsbeauftragten. ({1}) Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Behörden von Bund und Ländern, die den Ermittlungsauftrag des Untersuchungsausschusses ernst nehmen und diesen tatkräftig unterstützen. Die zahlreichen Akten aus fast 20 Jahren für den Untersuchungsausschuss aufzubereiten, ist, gelinde gesagt, eine Herkulesaufgabe und harte Arbeit. Gerade Bayern leistet hier Vorbildliches. Ohne die zügige und umfängliche Aktenzulieferung und auch Personalabordnung des Freistaats Bayern wären wir längst nicht so weit, wie wir heute sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit unserem Auftrag sind wir im Untersuchungsausschuss noch lange nicht fertig. Es zeichnet sich jedoch ein erstes Bild ab. Die Sicherheitsarchitektur in Bund und Ländern ist entgegen mancher Darstellungsversuche dem Grunde nach nicht unfähig oder untauglich. Aber die Zusammenarbeit zwischen den Behörden muss verbessert werden. Hier besteht noch viel Optimierungspotenzial, gerade was den Informationsaustausch in der Praxis angeht und auch was den rechtlichen Rahmen betrifft, der diese Kooperation regelt. Der Bundesinnenminister hat auf die erkannten Lücken und Mängel schnell und gut reagiert. ({2}) Was mögliche und weitergehende Vorschläge angeht, so müssen diese freilich immer wieder mit dem Rechtsrahmen abgeglichen werden, und vor allem müssen auch die grundrechtlichen Grenzen in den Blick genommen werden. Das wird sicherlich noch Gegenstand so mancher Debatte sein. Im Hinblick auf die Möglichkeiten, den EDV-gestützten nachrichtendienstlichen Informationsaustausch zu verbessern, bin ich gespannt, welche Debatten hier noch geführt werden. Beispielsweise wäre die Vorratsdatenspeicherung ein wirksames Instrument gewesen, ({3}) das Unterstützerumfeld zum Zeitpunkt des Auffliegens des Terrortrios zu identifizieren. Viele Ermittlungen bezüglich der Mordserie und der Sprengstoffanschläge waren nach heutigem Wissen nicht zielführend. Zu dieser Erfolglosigkeit stehen auch die polizeilichen Ermittler. Echte Fehler, die wir im Rahmen des Untersuchungsausschusses identifizieren konnten, wurden dabei nur wenige gemacht. Nach dem, was wir bislang wissen, gab es beispielsweise Fehler - Kollege Binninger hat es angesprochen - im Zusammenhang mit der Spur in Köln, Stichwort „Sprengstoffanschlag“, und im Zusammenhang mit der Waffenspur. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß, im Untersuchungsausschuss liegt noch eine Menge Aufgaben vor uns; es ist noch viel zu tun. Ich versichere Ihnen, dass wir die Arbeit des Untersuchungsausschusses weiterhin mit großem Ernst, zielstrebig und entschlossen vorantreiben werden. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, Kollege Armin Schuster. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind es den Opfern und Hinterbliebenen schuldig, konsequent die Ursachen dafür zu erforschen, weshalb wir diese Mordserie nicht aufklären konnten. Aus meiner Sicht gibt es, zusammenfassend gesagt, drei Fehlerquellen: individuelle Fehler, strukturelle Fehler und Fehler im System. Wir wollen verstehen, warum die Täter nicht gefasst wurden und die Mordserie nicht gestoppt werden konnte. Wenn es den oder die Schuldigen gibt, dann geht es natürlich auch um Verantwortung. Bei Hunderten von Ermittlern bundesweit, bei Abertausenden von Ermittlungsstunden können wir zwar von einer Niederlage der Sicherheitsbehörden, was ihre bundesweite Vernetzung angeht, sprechen. Aber zur Fairness gehört auch - ich habe es als wohltuend empfunden, dass das fast alle so ausgedrückt haben -, festzustellen, dass in unserer intensiven Arbeit im Ausschuss bisher kein stichhaltiger Beweis für ein ultimatives Versagen einer bestimmten Person oder einer bestimmten Organisation erbracht worden ist. Es gibt bisher kein Beispiel dafür, dass wir mit unserem nachträglichen Wissen, also unserem Wissen von heute, mit Sicherheit sagen können: Wäre genau das nicht Armin Schuster ({0}) passiert, hätten wir Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe viel früher gestoppt. Bleibt also die Frage: Sind die Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind? Ich bin allen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss sehr dankbar, dass sie sagen - vor allem im Ausschuss, nicht immer vor der Kamera -: Dafür gibt es keinen Beweis. - Ein Beweis wäre, wenn sich Sicherheitsbehörden in Deutschland, die sich bei der Annahme eines OK-Hintergrunds gravierend geirrt haben, vorsätzlich einer rechtsterroristischen Falltheorie verweigert hätten. Dann wären wir auf dem rechten Auge blind. Doch dafür gibt es keinen Beleg - nicht einen einzigen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir hinterfragen im Ausschuss auch Fehler im System, also in der länder- und ressortübergreifenden Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Ich frage einmal provokant: Ist Föderalismus oder das Trennungsgebot ein K.-o.-Kriterium für einen solchen Fall? Vorschnell könnte man zu einer solchen falschen Bewertung kommen. Immerhin konnten wir uns bei dieser einzigartigen Mordserie nur auf ein bundesweites Lenkungsgremium in Bayern, aber nicht auf eine bundesweit zuständige Ermittlungsgruppe unter einheitlicher Führung eines Landes oder des BKA mit bundesweiter Weisungsbefugnis einigen. Das haben wir eben nicht geschafft. Woran es offenkundig mangelt, ist eine Routine zur überregionalen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Wie, wenn nicht durch vernetzte, hochflexible Ermittlungsgruppen über Ländergrenzen hinweg sollen wir eigentlich Bedrohungen des Terrorismus oder des Cybercrime heutzutage wirkungsvoll begegnen? Die schnelle Schaffung des GAR - ich betone: die schnelle Schaffung des GAR - ist für mich auch deshalb so wichtig, weil es geradezu symbolhaft in diesem vernetzten Sinne dazu führt, dass wir dem föderalen und nach Autarkie strebenden Alltagsbetrieb unserer Behörden Einhalt gebieten. Dafür müssen die Länder ein bestimmtes Selbstständigkeitsbestreben zurückstellen. Ich sage ganz offen: Das GAR und das GTAZ sind für mich ein erster guter Schritt in eine neue Zeit, aber auf gar keinen Fall schon die Lösung unseres Problems. ({2}) Das Trennungsgebot ist historisch von großer Bedeutung - ob es Verfassungsrang genießt, ist noch unklar; vielleicht hören wir dazu aus Karlsruhe mehr -; in der Praxis unserer Sicherheitsbehörden wirkt es aus meiner Sicht offenkundig völlig überhöht. Die strikte Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten, wie sie sich in diesem Fall gezeigt hat, ist nicht mehr gesund. Die fehlende Beteiligung des Bundesamtes für Verfassungsschutz an der BAO „Bosporus“ ist für mich nur ein Beleg dafür. Wie relevant die Erkenntnisse der Dienste waren, hätte nur in Zusammenarbeit mit der Polizei richtig bewertet werden können. Es ist auch wenig hilfreich - aus der Praxis kann ich das sagen -, wenn nur eine Routineschnittstelle, fast ein Single Point of Contact, zwischen dem polizeilichen Staatsschutz und den Verfassungsschutzämtern besteht und sonst nichts. Hier sieht man auch, was in diesem Fall falsch gelaufen ist. Ich sehe Informationen aus der Vorfeldaufklärung, die bei den Diensten gewonnen werden, als sehr wichtig an; bei der Polizei kommt es nicht immer so an. Dritter Komplex: strukturelle Defizite. Unsere Sicherheitsarchitektur ist nicht überholt. Sie ist kein Irrgarten vieler Behörden. Sie bedarf ganz sicher aber einer Fortentwicklung. Innenminister Friedrich hat im Kampf gegen Rechtsextremismus - meine Damen und Herren, das muss ich noch einmal geraderücken - mit seinem ZehnPunkte-Plan schnell und konsequent reagiert. Man kann auch in Aktionismus verfallen. Jetzt lassen Sie uns erst einmal diesen Ausschuss zu Ende bringen, den Abschlussbericht machen, und dann wird man sehen, was man noch weiter tun kann. ({3}) Eine professionellere Vernetzung befürworte ich auf jeden Fall. Ich möchte überregional agierende gemeinsame Ermittlungsgruppen unter einer Führung. Es verstößt auch nicht gegen das Trennungsgebot, wenn wir die Personalfluktuation zwischen Diensten und Polizei verstärken. Die Liste der strukturellen Verbesserungsmöglichkeiten, auch beim Thema Akten, ließe sich beliebig verlängern. Ich will keine neue Kommission zur Sicherheitsarchitektur, aber, meine Damen und Herren - das richte ich auch an den Minister -, innerhalb unserer Sicherheitslandschaft fehlt eine Organisation, ein Thinktank, dessen tägliche Aufgabe darin besteht, strukturelle Fragestellungen aufzuwerfen, Schwachstellenanalysen durchzuführen, Zukunftsszenarien im Bereich der inneren Sicherheit zu bewerten und Lösungskonzepte zu erarbeiten. Für die Fehler gab es viele kritische Worte. Aber es hat keinen Sinn, Sicherheitsbehörden jetzt, medial verstärkt, über Gebühr an den Pranger zu stellen. Wir wollen mit ihnen arbeiten, und sie stehen für Deutschland. Da möchte ich um mehr Ausgewogenheit bitten. Zwei, drei Schuldige können wir nicht präsentieren, obwohl es für die Hinterbliebenen sehr wichtig wäre. Aber wir können durch konsequente Umsetzung der als richtig erkannten Verbesserungsvorschläge ein Vorbild werden für den gesamtgesellschaftlichen Prozess, den am Anfang der Debatte Herr Wieland hier eingefordert hat. Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir sind am Ende unserer Aktuellen Stunde. Ich möchte mich bei allen Rednerinnen und Rednern in die- ser Aktuellen Stunde herzlich bedanken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages- ordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vizepräsident Eduard Oswald Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Drucksachen 17/10748, 17/11055 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - Drucksache 17/11382 Berichterstattung: Abgeordneter Pascal Kober - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/11397 Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer ({2}) Bettina Hagedorn Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Priska Hinz ({3}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Sabine Zimmermann, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1:1 an Kommunen weiterreichen - Drucksachen 17/8606, 17/11382 Berichterstattung: Abgeordneter Pascal Kober Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir dies so beschlossen. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl Schiewerling. ({5})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute entscheiden wir in zweiter und dritter Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung mit dem etwas nüchternen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch“. Es geht um die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Hinter diesem etwas nüchternen Titel verbirgt sich nichts anderes als die größte Entlastung der Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({0}) In den Jahren 2013 bis 2016 werden die Kommunen um voraussichtlich 20 Milliarden Euro entlastet. ({1}) Der Beschluss, den wir heute fassen, hat ein gutes Stück auch mit Ordnungsprinzipien zu tun; denn wir stärken damit den Grundsatz der Subsidiarität. Die Kommunen sind seit 1961, als das Bundessozialhilfegesetz geschaffen worden ist, verantwortlich für die Durchführung des Gesetzes und auch für die Finanzierung. Aus dem Bundessozialhilfegesetz wurde 2003 die Grundsicherung für Ältere ausgegliedert und in einen eigenen Bereich übertragen. 2003 hatte die damalige rotgrüne Bundesregierung die Annahme, man käme mit einem Festgeldzuschuss von 409 Millionen Euro für die Kommunen klar. Tatsächlich hat es aber einen gewaltigen Aufwuchs gegeben, eine gewaltige finanzielle Belastung, zu der weitere finanzielle Belastungen der Kommunen kamen. Deswegen ist die Entscheidung, die wir jetzt treffen, nämlich dass wir die Kommunen im Jahr 2013 zu 75 Prozent und ab dem Jahr 2014 zu 100 Prozent von den Kosten der Grundsicherung im Alter entlasten, richtig. ({2}) Der Bund gibt den Kommunen diese Mittel im Rahmen des Instituts der Bundesauftragsverwaltung und hat ein Interesse daran, dass die Mittel ordentlich, sachgerecht und nach klaren Vorgaben ausgegeben werden. Die Kommunen haben damit deutlich mehr Gestaltungsspielraum. Sie erhalten damit eine Stärkung der eigenen kommunalen Selbstverwaltung. ({3}) Meine Damen und Herren, die Grundsicherung im Alter ist gewiss eine wichtige Hilfe des Sozialstaates, die, wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende, vor dem Sturz in das finanziell Bodenlose bewahrt. Die Grundsicherung im Alter ist eine durchaus akzeptierte Errungenschaft. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, dass die Grundsicherung viel bewirkt hat. Viele Menschen haben in der Vergangenheit jedoch den Weg zum Amt gescheut, weil sie den Rückgriff auf ihre Kinder befürchteten. In der Grundsicherung im Alter ist dieses so nun nicht mehr gegeben. Daher beantragen auch mehr Menschen als früher die Grundsicherung im Alter. Auch dies ist ein Grund für den Aufwuchs und ein Grund für die Mehrausgaben, die sich dort ergeben. Unter den Menschen, die jetzt entsprechende Anträge stellen, sind viele Frauen, vor allem Witwen, die älter sind und die, als sie als Mutter in der Familie tätig waren, auf Erwerbsarbeit verzichtet haben. Sie haben ihre Kinder erzogen und ihre Angehörigen gepflegt. Sie haben im Alter ein Einkommen, das dazu führt, dass sie auf Grundsicherung angewiesen sind. Normalerweise müsste in der Systematik die innerfamiliäre Solidarität greifen; denn die Familie hat davon profitiert. Aber viele wollen und können ihren Familien, ihren Kindern dieses nicht zumuten. Deswegen hilft an dieser Stelle der Staat. ({4}) In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist dies eine große und wichtige Aufgabe. Deswegen ist der eigentlich bedeutsame Teil des heutigen Gesetzes, dass die Kommunen nicht nur bis 2016 entlastet werden, sondern auch in Zukunft. In einer immer älter werdenden Gesellschaft würden auf die Kommunen erhebliche Mehrbelastungen in noch größerem Maße zukommen. Deswegen ist das eigentlich Besondere an diesem Gesetz, dass wir sagen: Diese Belastungen kommen auf die Kommunen nicht zu. Das übernimmt der Bund in seiner Verantwortung. ({5}) CDU und CSU sind und bleiben die Kommunalparteien, ({6}) weil wir die Grundprinzipien von Subsidiarität, Solidarität und Eigenverantwortung auch in diesem Bereich schärfen und sie zur Grundlage unseres Handelns machen. Wir haben einen gut abgestimmten Gesetzentwurf vorgelegt und bitten um Ihre Unterstützung. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Karl Schiewerling. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Gabriele HillerOhm. Bitte schön, Frau Kollegin Hiller-Ohm. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Minuten werden wir hier über ein Gesetz beschließen, das Städte und Gemeinden so stark wie noch nie entlasten wird. Der Bund wird die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung komplett übernehmen. Dafür haben wir, die SPD, gekämpft, und dies haben wir durchgesetzt. Und das ist richtig so. ({0}) Seit Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Jahr 2003 hat sich die Zahl der Betroffenen bis heute nämlich mehr als verdoppelt; inzwischen sind 850 000 Menschen darauf angewiesen. Es geht hier um viel Geld, um etwa 4 Milliarden bis 5 Milliarden Euro jährlich. Diesen Kostenaufwuchs können die Städte und Gemeinden nicht länger schultern, deshalb muss der Bund in die Pflicht. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, haben die Kommunen so richtig zappeln und fast am langen Arm verhungern lassen. ({1}) Denn versprochen war diese Entlastung schon lange. Aber erst heute legen Sie den Gesetzentwurf endlich auf den Tisch. Diese Bummelei kritisieren wir. ({2}) Und wer nun denkt, Ihr Gesetzentwurf wäre Ihnen dann wenigstens in einem Guss gelungen, der irrt gewaltig. Noch gestern im Sozialausschuss wurden wir mit etlichen Änderungen konfrontiert. Ich freue mich, dass bei dieser Herumdokterei wenigstens einige Verbesserungen für die Länder und die Kommunen herausgesprungen sind, die wir seit längerem gefordert haben: Erstens. Das Abrechnungsverfahren wird zumindest für eine Übergangszeit vereinfacht. Zweitens. Städte und Gemeinden dürfen weiterhin auf eigene Kosten höhere Leistungen zahlen, so wie das in München jetzt der Fall ist. Es ist gut, dass Sie unsere Forderungen aufgegriffen und Ihren Gesetzentwurf entsprechend geändert haben. ({3}) Bei zwei weiteren wichtigen Punkten sind Sie jedoch stur geblieben. So können die Gelder vom Bund zukünftig nur alle drei Monate und nicht monatlich abgerufen werden. Ein monatliches Abrufen wäre natürlich besser, weil die Grundsicherung ja auch monatlich ausgezahlt wird. Schade, dass Sie hier nicht über Ihren Schatten springen konnten. Leider fehlt auch eine Zweckbindung, sodass nicht sichergestellt ist, dass die Entlastung vollständig bei den Kommunen ankommt. Hier hätten Sie eine Lösung finden müssen und die Kommunen nicht im Regen stehen lassen dürfen. ({4}) Sie sehen, wir sind mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden. Wir werden dem Gesetz aber trotzdem zustimmen. Denn wir haben es erkämpft, und die Kostenübernahme ist wichtig für die klammen Städte und Gemeinden. Leider wird dieses Gesetz für die betroffenen Rentnerinnen und Rentner selbst nichts ändern. Sie werden weiterhin mit ihrer schmalen Grundsicherung auskommen müssen. Und es werden immer mehr. Frauen sind besonders stark von Altersarmut bedroht. Das müssen wir ändern. Damit Altersarmut gar nicht erst entsteht, brauchen wir faire Löhne, einen gesetzlichen Mindestlohn und gute Arbeit. ({5}) Lohndumping und prekäre Beschäftigung gehören abgeschafft. Dafür setzen wir uns ein. Und was, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, tun Sie? Genau das Gegenteil. Noch in der letzten Sitzungswoche haben Sie die Verdienstgrenze bei den Minijobs von 400 auf 450 Euro heraufgesetzt und damit gleichzeitig das Armutsrisiko vor allem der Frauen erhöht. Das, meine Damen und Herren, ist ein politisches Armutszeugnis. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Schiewerling hat es schon für die Regierungskoalition hervorgehoben, ich möchte es wiederholen: Der heutige Tag ist nicht nur ein hervorragender Tag für die Kommunen in unserem Land; er ist geradezu ein historischer Tag für die Kommunen. Denn noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat es eine Entlastung für die Kommunen vonseiten des Bundes in diesem Ausmaß gegeben. Das ist ein wirklich gutes Signal dieser Regierung an die Kommunen. Es zeigt, dass wir die Verantwortung für die Kommunen wahrnehmen und sie mit ihren Belastungen nicht alleinlassen. ({0}) Allein in den nächsten Jahren wird die Entlastung der Kommunen 18,5 Milliarden Euro ausmachen. Das ist kein geringer Betrag; das ist auch für den Bund viel Geld. Deshalb ist diese Leistung nicht gering zu schätzen. Wir sind stolz, dass wir auf der einen Seite dies leisten und auf der anderen Seite den Pfad der Haushaltskonsolidierung nicht verlassen werden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, Sie haben die Grundsicherung im Alter in ihrer jetzigen Form im Jahr 2001 eingeführt. Für Sie war klar, dass die Kosten bei den Kommunen bleiben würden. Sie haben damals eine Kompensation von 600 Millionen DM vorgeschlagen. Diese Summe wurde dann im Vermittlungsverfahren auf 800 Millionen DM erhöht; das entspricht - auch das hat Karl Schiewerling schon ausgeführt - etwa 409 Millionen Euro, während die Gesamtbelastung heute bei etwa 4,8 Milliarden Euro liegt. Das zeigt: Wären wir auf Ihrem Pfad geblieben, dann wäre es für die Kommunen in der Zukunft immer schwieriger geworden, diese sozialen Leistungen zu erbringen. ({2}) Deshalb ist es gut, dass diese Regierung jetzt handelt und nach elf Jahren des Nichtstuns insbesondere von Rot jetzt endlich etwas für die Kommunen tut. ({3}) - Nichts dergleichen, Frau Hiller-Ohm. Sie haben in den letzten Wochen und Monaten im Gesetzgebungsverfahren niemanden zum Jagen getragen. Sie haben insbesondere versucht, den Menschen in unserem Land und den Kommunen Angst zu machen. Sie haben immer wieder infrage gestellt, ob die Bundesregierung zu ihrer Zusage stehen würde. Sie haben in diesem Hause mehrfach versucht, den Menschen Sand in die Augen zu streuen, und betont, dass diese Regierung wahrscheinlich nicht zu ihren Zusagen stehen werde. Heute zeigen wir Ihnen, dass das richtig ist, was wir in diesem Hause immer gesagt haben: Wir stehen zu unserer Zusage. Heute ist es so weit: Das Gesetz wird heute verabschiedet. ({4}) Wir haben immer darauf hingewiesen, dass es, weil wir die Leistungen aufgrund der föderalen Finanzbeziehungen des Bundes zu den Ländern nicht direkt an die Kommunen auszahlen können, in der Verantwortung der Länder liegt, das Geld an die Kommunen weiterzureichen. Ich möchte diese Ermahnung an dieser Stelle eindringlich wiederholen. Es ist auch nicht unbegründet, dass wir diese Ermahnung wiederholen. Ich möchte einmal einen kleinen Ausschnitt aus der Schweriner Volkszeitung vom 8. Februar dieses Jahres zitieren. Dort heißt es: Zwischen den neuen Großkreisen und dem Land ist ein erster handfester Streit entbrannt: Während das Sozialministerium Mittel des Bundes in zweistelliger Höhe für die Grundsicherung im Alter - also Gelder für arme und ärmere Senioren einbehalten will, fordern sie die Kommunen für sich. Allein 2012 könnte die Summe rund 20 Millionen Euro betragen, für das Jahr 2015 schätzt sie der Landkreistag auf 77 Millionen Euro, sagte Geschäftsführer Jan Peter Schröder auf Nachfrage. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, dieses Sozialministerium von Mecklenburg-Vorpommern, das die Gelder, die den Kommunen zur Verfügung gestellt werden sollen, für sich einbehält, wird von der stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD, Manuela Schwesig, geführt. ({5}) Es liegt in ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Handhabe ihres Ministeriums in MecklenburgVorpommern ein Ende hat, damit die Gelder den Kommunen wirklich zur Verfügung stehen und die Entlastung wirklich bei den Kommunen ankommt. ({6}) Sie haben kritisiert, dass im Ausschuss weitere Änderungen an dem Gesetzentwurf vorgenommen worden sind. Frau Hiller-Ohm, das hat seine guten Gründe: Wir haben den Gesetzentwurf noch einmal im Sinne der Kommunen verbessert. Beispielsweise werden künftig die Kosten nicht jährlich, sondern quartalsweise abgerechnet. Das Statistische Bundesamt wird die Zusammenführung und Prüfung der Daten vornehmen. Ihre politischen Konzepte, die Sie schon im Vorgriff auf die Bundestagswahl hier vorstellen, bedeuten Steuererhöhungen und Belastungen für die Wirtschaft. All das wird zu geringeren Gewerbesteuereinnahmen und zu geringeren Löhnen führen. Das ist eine falsche Politik, weil sie die Kommunen, die Unternehmen und am Ende die Menschen in unserem Land belastet. Das werden wir verhindern. Mit unserer Politik haben die Kommunen und die Menschen einen starken Partner an ihrer Seite. Vielen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Katrin Kunert. Bitte schön, Frau Kollegin Katrin Kunert. ({0})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kober, Sie wollten im Rahmen der Gemeindefinanzreform an die Gewerbesteuer ran und niemand anders. Sie haben sie infrage gestellt. Sich heute als Rächer der Kommunen darzustellen, das ist schon sehr abenteuerlich. ({0}) Wenn die Rente zum Leben nicht reicht, egal ob es die Rente im Alter oder bei Erwerbsminderung ist, muss Grundsicherung bezogen werden. Es ist ausdrücklich nicht Aufgabe der Kommunen, für diese Kosten aufzukommen; dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die kompletten Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom Bund übernommen werden. Bereits in der ersten Lesung haben wir Nachbesserungen gefordert. Wir haben Ihnen im Arbeits- und Sozialausschuss einen Änderungsantrag vorgelegt. Erstens wollten wir, dass die Möglichkeit der örtlich abweichenden Regelleistungen beibehalten wird. Das heißt, die Stadt München gibt den Grundsicherungsbeziehenden 19 Euro mehr, weil die Preise in München sehr hoch sind. Diese Möglichkeit hat die Koalition aufgegriffen, sie will aber die höheren Kosten nicht über den Bund, sondern über die Länder finanzieren lassen. Wir sagen: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer die Kommunen von den Kosten entlasten will, der muss das auch in vollem Umfang tun. ({1}) Zweitens wollten wir, dass die Menschen mit Behinderung, die bei ihren Eltern leben und dort betreut werden, ihre Unterkunftskosten unbürokratisch erhalten können. Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts müssen Mietverträge zwischen den Eltern und ihrem leistungsberechtigten Kind geschlossen werden, um die Kosten der Unterkunft zu erhalten. Eltern, die sich liebevoll um ihr Kind weit über das 18. Lebensjahr hinaus kümmern und es betreuen, werden mit einem erheblichen bürokratischen Aufwand belastet. Zudem sind die Eltern meist die gesetzlichen Betreuer ihrer Kinder und müssten daher einen Vertrag mit sich selbst schließen, was juristisch überhaupt nicht möglich ist. Es wäre also nötig, einen Ersatzbetreuer zu bestellen. Das halten wir für einen unhaltbaren Zustand. Bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention muss solcher Unfug ausgeschlossen sein. ({2}) In einem Änderungsantrag haben wir Ihnen dazu einen Vorschlag unterbreitet, aber leider haben Sie ihn abgelehnt, was wir sehr bedauern. ({3}) Als Nächstes frage ich Sie, wie Sie Ihr gegebenes Versprechen, die Kommunen zu entlasten, halten wollen. Der Bund lehnt derzeit jede Übernahme von Verantwortung ab. Sie haben aber die Möglichkeit, unserem Antrag zuzustimmen, in dem wir fordern, dass die Entlastung eins zu eins an die Kommunen weiterzuleiten ist; denn eine Ermahnung reicht nicht, Herr Kober. ({4}) Wie oft ermahnen wir Sie von diesem Pult aus, dass Sie sich gegenüber den Ländern entsprechend verhalten! Wir sind der Meinung, dass man das gesetzlich regeln kann. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der in den nächsten Jahren zu erwartende Anstieg im Bereich Grundsicherung muss uns alle alarmieren. Die Anzahl der Menschen, die lange gearbeitet haben und trotzdem auf Grundsicherung angewiesen sind, wird stark steigen. Bereits in der ersten Lesung habe ich die Frage gestellt: Warum lassen wir, verdammt noch mal, die Menschen nicht mit ihrer Hände Arbeit eine armutsfeste Rente erarbeiten, indem wir hier im Hause die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns beschließen? ({6}) Es hilft nicht, die Verdienstgrenze bei Minijobs von 400 auf 450 Euro anzuheben. Eine Kollegin hat einmal vorgerechnet: Man müsste 200 Jahre arbeiten, um überhaupt das Grundsicherungsniveau zu erreichen. Es gibt auch in Zukunft keinen Weg weg von der Grundsicherung. Die Linke sagt: Wir wollen den Mindestlohn, und wir wollen das System der Rentenversicherung endlich sozial, solidarisch und gerecht gestalten. ({7}) Die Rente muss zum Leben reichen. Das Rentenniveau muss angehoben werden. Wir wollen die in der Rentenanpassungsformel enthaltenen Kürzungen streichen. Wir wollen die Rente in Ost und West endlich gleich gestalten. ({8}) Dazu gehört auch, dass wir die Rente mit 67 abschaffen wollen. Herzlichen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Katrin Kunert. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Britta Haßelmann. Bitte schön, Frau Kollegin Britta Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Frau Ministerin! Wenn wir das Gesetz gleich beschließen mit einer ziemlich großen Mehrheit des Deutschen Bundestages -, dann bewirkt dies eine wirkliche Verbesserung für die Städte und Gemeinden. Denn die Kommunen werden an einer ganz zentralen Stelle massiv dadurch entlastet, dass die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung demnächst zu 100 Prozent vom Bund übernommen werden. Das ist aus meiner Sicht absolut richtig, weil klar ist, dass nicht die Kommunen die Verantwortung für Altersarmut und prekäre Beschäftigungssituationen tragen, die die Grundsicherung im Alter erst erforderlich machen, sondern der Bund. Wir müssen gesamtgesellschaftlich die Verantwortung übernehmen. ({0}) Von daher wird auch meine Fraktion heute diesem Gesetzentwurf zustimmen. Ich finde das gut und richtig. Die Kommunen und die Menschen, die vor Ort Politik machen und dort leben, sowie die dort hauptamtlich tätigen Menschen wissen, dass die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter durch den Bund tatsächlich eine Entlastung ist. Ich finde es unangemessen, dass hier argumentiert wird: Dieses Gesetz ist allein von CDU/CSU und FDP auf den Weg gebracht worden. Nein, das ist natürlich nicht so. Das wissen Sie auch. ({1}) Lassen Sie das doch einfach, und sagen Sie nicht ständig: Wir haben das Förmchen heute erfunden. Die Kommunalos wissen genau, dass sie diese Leistungen des Bundes brauchen; denn die Finanzsituation der Kommunen ist ziemlich dramatisch. Wir haben auf der einen Seite Steuermehreinnahmen, die, gesamt betrachtet, auch bei den Kommunen auflaufen. Es gibt aber auf der anderen Seite eine unglaubliche Entwicklung hin zu einer Zweiklassengesellschaft bei den Kommunen. Einerseits gibt es Steuermehreinnahmen, gleichzeitig haben wir aber immer mehr Kommunen, die sich in Haushaltsnotlagen befinden, die Notlagegesetze anwenden und die auf Kassenkredite angewiesen sind, die sich in Deutschland auf insgesamt über 44 Milliarden Euro belaufen. Darauf ist man in diesen Kommunen nicht stolz; denn das bedeutet Mangelverwaltung. Wir haben es also mit einer totalen Spaltung zu tun. ({2}) Deshalb ist die Frage der Bundesanteile gerade für diese Kommunen so wichtig und so bedeutend. Herr Kober, gerade die Politik der FDP hat nichts dazu beigetragen, dass es den Städten und Gemeinden besser geht. Ich frage nur: Wer stand bis vor kurzem hier im Haus in der Frage der Abschaffung der Gewerbesteuer noch in der ersten Reihe? Das war Ihre Fraktion. ({3}) Frau Piltz, so etwas kann man locker fordern, wenn man aus Düsseldorf kommt, wo man von einem großen Speckgürtel profitiert und natürlich über ausreichende Steuereinnahmen verfügt. ({4}) Das aber ist nicht die Realität vieler Kommunen in Deutschland.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Blumenthal?

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gern, wenn er mich etwas fragen möchte.

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben uns eben unterstellt, wir würden die Kommunen schwächen, indem wir ihnen die Gewerbesteuer wegnehmen wollen. Können Sie uns bestätigen, dass der Sachstand so aussieht, dass die FDP in einem Alternativkonzept gesagt hat, dass der Hebesatz und Zuschlagsmöglichkeiten bei anderen Steuerarten für die Kommunen gewährleistet sind? Können Sie bestätigen, dass das unser Alternativvorschlag war, der den Kommunen sehr wohl eine finanzielle Grundlage geboten hat? Es gibt also eine Alternative. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und hier richtigzustellen? ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wissen Sie, ich beschäftige mich schon ziemlich lange mit dem Thema Kommunen. Ich habe selbst elf Jahre lang Kommunalpolitik gemacht. ({0}) - Frau Piltz, Sie hätten sich Redezeit verschaffen können, wenn Sie etwas sagen wollen. Sie können mich auch noch etwas fragen. Ich weiß, dass die Kommunen vor Ort die Gewerbesteuer sehr schätzen. Genauso sind sehr viele Unternehmen bereit, Gewerbesteuer zu zahlen, weil sie wissen, dass sie Verantwortung für ihr Gemeinwesen tragen, und weil sie das Band zwischen Kommunen und Wirtschaft vor Ort durch die Gewerbesteuer gesichert sehen. ({1}) Das, was Sie wollten, haben sowohl die kommunalen Spitzenverbände als auch die grün und rot regierten Länder völlig verrissen. Auch den CDU/CSU-Kommunalos wurde klar, dass Ihr Modell der Einkommensteuer- und Hebesatzberechnungen dazu führt, dass der Wettbewerb unter den Kommunen massiv zunimmt. ({2}) Kommunen wie Düsseldorf mit hohem Einkommensteueraufkommen hätten natürlich davon profitiert; das wissen Sie alle ganz genau. Die kommunalen Spitzenverbände haben eine vernichtende Stellungnahme abgegeben. Deshalb haben wir in der Gemeindefinanzkommission gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und der CDU/CSU verhindert, dass dieses Projekt Realität wurde. Darüber bin ich heilfroh. Dieses Projekt ist beerdigt, zumindest bis zum Ende dieser Legislaturperiode. Danach wird es, glaube ich, keine Rolle mehr spielen, weil dann auch die FDP keine Rolle mehr spielen wird. ({3}) Zur Frage nach den Bundesanteilen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie werden förmlich bedrängt, Frau Kollegin. Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn wir hier einen Kurs in Gewerbesteuer oder Steuerpolitik geben wollen, dann können wir das gerne machen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Alle weiteren möglichen Nachfrager darf ich daran erinnern, wie lange der heutige Plenartag noch dauert. ({0}) Bitte schön, Kollege Kolb, Sie haben das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Haßelmann, zwar konnten Sie die Frage des Kollegen Blumenthal nicht beantworten, ({0}) aber vielleicht können Sie mir ja folgende Frage beantworten, da Sie sich hier als Kommunalfreundin präsentieren: Die Entlastung der Kommunen durch die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter war Ergebnis der überfraktionellen Gespräche Anfang des letzten Jahres im Zusammenhang mit der Hartz-Reform. Können Sie mir erklären, warum die Kommunalfreunde von den Grünen sich damals in einer Nacht-und-NebelAktion aus dem Konsens mit den anderen Fraktionen verabschiedet haben und diese Regelung im Ergebnis gar nicht mitgetragen haben? Das ist angesichts Ihres Auftretens hier sehr erstaunlich. ({1})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das kann ich Ihnen gerne erklären, Herr Kolb. Ich bin froh, dass Sie im Gegensatz zu Herrn Kober gesagt haben, dass das ein Ergebnis von uns allen war. ({0}) Halten wir einmal fest: Im Vermittlungsausschuss diskutierten Bund und Länder über das Bildungs- und Teilhabepaket. Auch die Kommunen waren beteiligt. Die Ministerin kann bestätigen, dass auch die kommunalen Spitzenverbände befragt worden sind. Es ist doch klar, dass auch mit den kommunalen Spitzenverbänden ausführlich über das Bildungs- und Teilhabepaket diskutiert worden ist. Wir haben die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter von Anfang an begrüßt. Wären sie Mitglied im Unterausschuss Kommunen wie Herr Götz oder andere, dann wüssten Sie, dass wir dort über das Thema soziale Kosten immer positiv diskutiert haben. Dann wüssten Sie, dass wir immer gesagt haben, dass neben der Zukunft der Eingliederungshilfe insbesondere die Grundsicherung im Alter und die diesbezügliche Verantwortung des Bundes eine große Rolle spielen. Das war schon immer unsere Position. ({1}) - Sie wollten, dass ich Ihre Frage beantworte. - Die Grünen sind erst aus den Verhandlungen ausgestiegen, als klar war, ({2}) dass Sie dieses mit Bürokratie völlig überlastete Bildungs- und Teilhabepaket konzipieren würden. ({3}) Herr Kolb, ich möchte es Ihnen gerne erklären: Es war klar, dass ein ganz erheblicher Teil der Mittel für Verwaltungs-, für Bürokratiekosten aufgewendet wird und nicht bei den Betroffenen ankommt. Heute können wir feststellen, dass es viele Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes gibt. Das zeigt, dass viele unserer Gründe, über die wir damals mit Ihnen diskutieren wollten, absolut gerechtfertigt waren. ({4}) Das belegen ganz offensichtlich auch die Berichte des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. ({5}) Vielleicht darf ich noch kurz ausführen, dass der Gesetzentwurf zur Grundsicherung im Alter, um den es jetzt hauptsächlich geht, an drei Punkten nachgebessert worden ist. Das finde ich gut und richtig. Das erleichtert uns die Zustimmung. Zum einen geht es um die Frage der regionalen Regelsätze. Darüber hatten wir diskutiert, insbesondere am Beispiel von München, wo die Regelsätze höher sind als im übrigen Bundesgebiet. Der zweite Punkt ist die Spitzabrechnung. Im ersten Gesetzentwurf, auch im ersten Gesetz zur Grundsicherung im Alter, war der Vorvorjahresabzug vorgesehen. Er wurde auch praktiziert. Das war für die Städte und Gemeinden natürlich sehr schwierig, weil gerade die Kosten der Grundsicherung im Alter stark schwanken. Deshalb würden bei den Kommunen unglaublich große Defizite auflaufen, wenn wir keine Spitzabrechnung machen würden. Ich begrüße es sehr, dass wir uns auf diese Lösung verständigt haben. Dritter Punkt. Wir haben im Unterausschuss Kommunen betont - das stimmt mich hoffnungsvoll -, dass wir weiter über die monatliche Kostenerstattung diskutieren wollen. Gerade weil die Leistungen so schwankend sind, ist das für die Städte und Gemeinden sehr wichtig. Es ist also im Endeffekt ein positives Ergebnis. Alle haben dazu beigetragen. Frau Kunert, das Thema, das Sie angesprochen haben, werden wir weiterverfolgen. Ich glaube, es ist absolut notwendig, darüber zu sprechen - das wurde im Unterausschuss Kommunales und auch im Ausschuss für Arbeit und Soziales deutlich -, aber es rechtfertigt aus grüner Sicht nicht eine Ablehnung oder Enthaltung bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf; denn wir finden es gut, dass jetzt diese Entlastung bei der Grundsicherung im Alter in Höhe von circa 4 bis 4,5 Milliarden Euro erfolgt. Deshalb werden wir zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Britta Haßelmann. Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Kollege Peter Götz für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, man kann es nicht oft genug sagen: Heute ist ein guter Tag für die Kommunen. ({0}) Die Bundesregierung hat zugesagt, die Kommunen deutlich stärker als bisher finanziell zu unterstützen und zu entlasten. Dieses Versprechen lösen wir heute ein. Die Übernahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist ein wichtiger Schritt zum Erfüllen dieser Zusage. Im vergangenen Jahr haben wir - das wurde vorhin bereits erwähnt - mit dem ersten Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen den Bundesanteil für 2012 von 16 auf 45 Prozent angehoben. 2013 erhöhen wir den Anteil des Bundes auf 75 Prozent. Ab 2014 übernimmt der Bund die vollen Kosten für die Grundsicherung von den Kommunen. Allein bis 2016 bedeutet diese Kostenübernahme eine neue zusätzliche Entlastung in einer Größenordnung von 20 Milliarden Euro. Ich wiederhole: 20 Milliarden Euro. Dies ist unbestritten die größte Entlastung der Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dafür sollten wir dankbar sein. ({1}) Ein Zweites kommt hinzu. Profitieren werden von dieser besonderen Entlastung vor allem die Kommunen, die unter ganz drängenden Finanzproblemen leiden, weil sie strukturelle Probleme haben, weil sie besondere Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben und vieles andere mehr. Wir reden über Kosten der Städte, Gemeinden und Kreise - auch diese Zahl wurde vorhin schon genannt, aber sie kann nicht oft genug wiederholt werden - in Höhe von über 4 Milliarden Euro pro Jahr. Sie werden sich überproportional dynamisch nach oben weiterentwickeln. Nur zur Vermeidung von Geschichtsverfälschung: Mit der heutigen Entscheidung wird ein besonders kommunalfeindlicher Akt der früheren rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahr 2001 rückgängig gemacht und damit endgültig beseitigt. ({2}) Liebe Kollegin Haßelmann, in der rot-grünen Regierungszeit wurden die Kassen der Städte, Gemeinden und Landkreise systematisch geplündert. ({3}) Ich belege dies auch mit Zahlen, Herr Scheelen. Dies führte im Jahr 2003 zu dem historischen Tiefpunkt der Kommunalfinanzen mit einem bundesweiten Defizit von über 8 Milliarden Euro. Dabei handelt es sich nicht um die Folgen einer weltweiten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, sondern um die Folgen einer kommunalfeindlich gestalteten Bundespolitik. Noch nie hat eine Bundesregierung so viel für die Kommunen getan wie die Regierung unter Angela Merkel. ({4}) Mit der Entlastung der Kommunen bei den Sozialausgaben durch den Bund wird der Paradigmenwechsel in der Bundespolitik für jeden sichtbar. In der nächsten Legislaturperiode wollen wir die Kommunen bei den Kosten der Eingliederungshilfe ebenfalls entlasten. Die Unterstützung von Menschen mit Behinderung ist eine gesamtgesellschaftliche und keine kommunale Aufgabe. ({5}) Bereits in diesem Jahr wird sich die Finanzsituation vor Ort erheblich verbessern. „Fast alle Kommunen konnten ihre Finanzsituation … verbessern“, stellt der Deutsche Städtetag in seinem aktuellen Finanzbericht fest. Nach Einschätzung des Bundesfinanzministeriums wird sich dieser Haushaltsüberschuss bis 2016 kontinuierlich auf über rund 5,5 Milliarden Euro steigern. Die gute Zukunftsperspektive ist nicht nur auf die schrittweise Umsetzung der Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission, sondern ohne Frage auch auf die gute Konjunktur zurückzuführen. Für die nächsten Jahre können die Gemeinden damit rechnen, dass ihre Steuereinnahmen jedes Jahr um 3 Milliarden Euro wachsen. Da nicht alle Kommunen gleichermaßen davon profitieren, ist die milliardenschwere Entlastung bei den Sozialausgaben besonders wichtig. Wir danken an dieser Stelle Bundesfinanzminister Schäuble, dass er - in einer für den Bund haushaltspolitisch sicherlich schwierigen Zeit - bereit war, diese dynamisch steigenden Kosten zu übernehmen. ({6}) Frau Haßelmann, Sie haben recht: Natürlich gibt es arme und reiche Kommunen; das ist überhaupt keine Frage. Nach wie vor gibt es - vor allem im Ruhrgebiet und in Rheinland-Pfalz - Kommunen, denen es unmöglich ist, den Haushalt aus eigener Kraft auszugleichen. ({7}) - Bochum ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür: Bochum muss wie viele andere Städte im Ruhrgebiet die laufenden Kosten mit Kassenkrediten finanzieren. ({8}) In einigen Ländern müssen die Kommunen zur Durchsetzung ihrer berechtigten Ansprüche bedauerlicherweise immer wieder auf die Hilfe der Landesverfassungsgerichte zurückgreifen, zum Beispiel in RheinlandPfalz, wo die SPD-geführte Landesregierung vom Gericht dazu gezwungen wird, zugunsten der Kommunen nachzubessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein weiteres ärgerliches Problem ansprechen, das zunehmend um sich greift: Aufgrund der sehr positiven finanziellen Entwicklung der Kommunen wachsen bei einigen Ländern Begehrlichkeiten, den Kommunen das zusätzliche Geld, das sie vom Bund bekommen, an anderer Stelle wieder abzuziehen. ({9}) Das dürfen wir nicht zulassen. ({10}) Die Entlastung, die wir heute beschließen, muss vollständig bei den Kommunen ankommen. ({11}) - Vielen Dank für Ihren Beifall. - Die Länder dürfen sich nicht zulasten der Kommunen bereichern. Ich denke, in dieser Frage sind wir uns alle einig. ({12}) Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, ihre Heimat selbst zu gestalten. Dazu gehören Finanzautonomie und eine angemessene finanzielle Ausstattung der Kommunen. Mit diesem Gesetz leisten wir einen hervorragenden Beitrag für starke Städte, Gemeinden und Landkreise. Deshalb werbe ich für eine breite Zustimmung. Vielen Dank. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD hat Kirsten Lühmann jetzt das Wort. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Verehrte anwesende Gäste! Ich freue mich, heute einem Gesetz zustimmen zu können, durch das die Kommunen entlastet werden. Allerdings musste ich bei der Debatte wieder verwundert zur Kenntnis nehmen, dass auch diesmal Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, die Vaterschaft für dieses Gesetz beanspruchen. Wenn wir jetzt einmal einen entsprechenden Test machen, werden wir vielleicht feststellen, dass Sie gar nicht die Erzeuger dieses Gesetzes sind. ({0}) Wir freuen uns trotzdem, dass Sie sich zu einer Adoption entschlossen haben, und wollen Sie dabei tatkräftig unterstützen. ({1}) In der ersten Lesung war von der größten Entlastung der letzten Jahrzehnte die Rede. In dieser Lesung habe ich gelernt, es sei die größte Entlastung in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie sieht die Realität aus? Schauen wir uns die Bilanz der schwarz-gelben Bundesregierung an, was eine Entlastung der Kommunen angeht: Absenkung der Erstattung der Kosten der Unterkunft: minus 400 Millionen Euro jährlich. Wachstumsbeschleunigungsgesetz: minus 1,6 Milliarden Euro jährlich. ({2}) Änderungen bei der Unternehmensteuer: minus 800 Millionen Euro jährlich. Das summiert sich während Ihrer Regierungszeit zu einem Minus von 11 Milliarden Euro in den Kassen der Kommunen. ({3}) Wenn man davon die 4 Milliarden Euro, um die die Kommunen jetzt entlastet werden sollen, abzieht, bleibt immer noch ein Minus von 7 Milliarden Euro. Es ist unanständig, dies als größte Entlastung in der Geschichte der Bundesrepublik zu bezeichnen. ({4}) Dabei haben Sie noch nicht einmal alle Projekte umgesetzt, die in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Wir haben heute schon ausgiebig darüber gesprochen, wie die Gewerbesteuer durch alternative Modelle ersetzt werden könnte. Die Betroffenen haben diese Alternativen einhellig abgelehnt. Wie sieht es mit der Mutterschaft für dieses Gesetz von der linken Hälfte dieses Hauses aus? Wir haben schon mehrfach festgestellt, dass es Verhandlungen im Rahmen des Bildungspaketes waren, in denen die entsprechenden Länder - für uns verhandelte Manuela Schwesig - der Bundesregierung diese Entscheidungen abgerungen haben. Die Entscheidung wurde deutlich abgerungen und fiel nicht freiwillig. ({5}) Hinterher haben Sie versucht, diese Einigung als einen Erfolg der Gemeindefinanzkommission zu verkaufen. Natürlich mussten Sie das; denn sonst hat die Gemeindefinanzkommission ja nichts zustande gebracht. ({6}) Auch die jetzige Veränderung des Auszahlungsmodus ist Ihnen nicht plötzlich eingefallen, sondern auch diese Veränderung wurde Ihnen in den Verhandlungen mit den Ländern zum Fiskalpakt abgetrotzt. Auch hier sind nicht Sie die Eltern, sondern wir von der linken Seite dieses Hauses. Das muss man einmal ganz deutlich so sagen. ({7}) Was heißt das? Wenn diese Änderung nicht gekommen wäre, wären den Kommunen aufgrund von Buchungstricks Kosten in Höhe von 500 Millionen Euro jährlich nicht erstattet worden, obwohl Sie behaupten, 100 Prozent zu erstatten. Sie wären darauf sitzen geblieben. Im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf - das wurde mehrfach erwähnt - wird das verändert. Es gibt jetzt eine Dreimonatsfrist, das heißt, die Kommunen finanzieren noch immer vor, aber nicht mehr so lange, und das finden wir gut. ({8}) In diesem Zusammenhang bedanke ich mich recht herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit im Unterausschuss Kommunales. Wir haben mehrere Probleme, die in einem Antrag der SPD und auch von anderen Fraktionen angesprochen wurden, behandelt. Wir haben über behinderte Kinder und über klebrige Finger einiger Länder, die es möglicherweise geben könnte, gesprochen. Mir fallen dabei auch andere ein, als hier heute genannt wurden. Wir haben uns einvernehmlich darauf verständigt, dass wir dieses Thema noch einmal auf die Tagesordnung rufen, wenn der jetzt zu beratende Gesetzentwurf Gültigkeit hat. Das heißt, wir werden uns in sechs Monaten wieder zusammensetzen und schauen, was wir noch verbessern können. Eine Verbesserung haben wir schon ausgehandelt. Sie kommt leider nicht mehr in dieser Legislaturperiode. Ich meine den Einstieg des Bundes in die Übernahme der Kosten für die Eingliederungshilfe, was auch im Rahmen der Verhandlungen über den Fiskalpakt besprochen wurde. Es geht hier immerhin um eine Belastung der Kommunen von jährlich 14 Milliarden Euro. Wenn wir hier in der nächsten Legislaturperiode unter einer SPDgeführten Bundesregierung ({9}) einen Schritt weiter sind, dann können wir endgültig sagen: Dies ist ein guter Tag für die Kommunen. Danke schön. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11382, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10748 und 17/11055 in der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten, alle anderen Fraktionen haben zugestimmt. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, der möge sich erheben. - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! - Damit ist der Gesetzentwurf bei gleichem Stimmverhältnis wie vorher angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1 : 1 an die Kommunen weiterreichen“. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss auf Drucksache 17/11382, diesen Antrag auf Drucksache 17/8606 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! Die Enthaltungen! - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Die Koalitionsfraktionen haben zugestimmt, die Fraktion Die Linke war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen und SPD haben sich enthalten. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten HansUlrich Klose, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine Neubelebung und Stärkung der transatlantischen Beziehungen - Drucksachen 17/9728, 17/10169 Berichterstattung: Abgeordnete Peter Beyer Dr. Rolf Mützenich Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({1}) Vorgesehen ist es, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Dr. Rainer Stinner hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({2})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Berichterstattung der letzten Monate beiderseits des Atlantiks über die jeweilige andere Seite anschaut, dann kommt man nur ins Staunen. Auf beiden Seiten sieht man dasselbe Bild: Der jeweils andere ist im Abschwung begriffen, „in decline“. Das ZEITmagazin hat im letzten Jahr das Bild veröffentlicht: „Europe in Decline“. Der Spiegel hat in dieser Woche das Bild veröffentlicht: „America in Decline“: ({0}) Das heißt, auf beiden Seiten des Atlantiks haben wir offensichtlich die Anschauung, dass es dem anderen schlecht geht und er unabwendbar vor dem kurzfristigen Untergang steht. Meine Damen und Herren, diese Bilder sind falsch. Europa ist nicht „in decline“, im Abschwung, sondern Europa ist nach wie vor, trotz aller Probleme, die wir haben und die wir gar nicht verschweigen wollen, für viele Regionen der Welt ein Modellfall. Viele in aller Welt fragen uns ganz neidisch: „Wie habt ihr es in Europa geschafft, aus der kriegerischen Region eine Region des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands zu machen?“ Auch das Bild von Amerika im Abschwung, „in decline“, ist falsch. Jawohl, es gibt viele Probleme, die aber werden in diesem Bild zusammengemixt; das betrifft willkürlich alle Probleme, ob das die Schuldenkrise ist, ob das Guantanamo ist oder ob das soziale Probleme sind. All das wird zusammengebündelt, und daraus wird dieses negative Bild zusammengesetzt. Amerika heißt aber auch, dass nach wie vor bis zum heutigen Tage die besten Studenten der Welt danach streben, in Amerika ausgebildet zu werden. Amerika heißt nach wie vor, dass die amerikanischen Universitäten bei den Rankings immer in der Spitzengruppe zu finden sind. Amerika heißt auch, dass Technologieerfindungen, dass ganze Industrien, wie zum Beispiel die Kommunikationsindustrie, von Amerika aus ganz prägend gestaltet werden. Von daher ist dieses Bild, dass Amerika im Niedergang sei, völlig falsch und völlig einseitig. ({1}) Es ist also hohe Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass auch wir gerade in Deutschland vom hohen Baum des Hochmuts herunterkommen und uns mit der Situation beschäftigen, wie sie ist, und mit den Möglichkeiten der Kooperation mit Amerika. Insoweit ist sicherlich die Wiederwahl Obamas ein positives Zeichen. Wir wissen, woran wir sind. Obama hat im Gegensatz zu seinem Vorgänger ein anderes Prinzip der Kooperation und Konzentration eingeführt, das sehr gut ist, nicht vollständig und nicht perfekt, aber immerhin. Deshalb haben wir alle Chancen, mit Amerika zusammenzuarbeiten. Ich halte dafür, dass aus amerikanischer Sicht, wenn man denn dort überhaupt glaubt, Partner auf der Welt zu brauchen - manche in Amerika glauben das ja nicht, aber die Mehrzahl glaubt es halt -, Europa auch in Zukunft der natürliche Partner der Vereinigten Staaten sein wird. Darauf können und darauf sollen wir aufbauen. Ich gehe zunächst auf die bilateralen Beziehungen ein. Hier sehe ich eine ganz große Aufgabe auf uns zukommen, eine Schwerpunktaufgabe, die große Folgen haben könnte, nämlich die Verabschiedung eines Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich glaube, dass die Mächtigkeit dieses Themas noch in weiten Teilen unterschätzt wird. Es geht nämlich bei dem Abschluss eines Freihandelsabkommens um viel mehr als nur darum, auf beiden Seiten des Atlantiks wirtschaftlich neue Impulse zu setzen, die ja ohne jeden Zweifel vorhanden wären. Es geht auch darum, gemeinsam zu zeigen, dass wir bei einem solch wichtigen Thema zusammenarbeiten können. Überall auf der Welt werden Freihandelsabkommen geschlossen. Das Signal, das von einem europäisch-amerikanischen Freihandelsabkommen ausgehen würde, von einer großen wirtschaftlichen Zone, wäre sicherlich sehr prägend auch für andere Teile dieser Welt. ({2}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus Amerika bekommen wir deutliche Signale: „Jawohl, wir sind bereit, wir wollen ein solches Freihandelsabkommen abschließen. Aber wir werden mit Verhandlungen nicht beginnen, wenn wir nicht ganz sicher sind, dass wir diese auch abschließen können.“ Man befürchtet also, dass man vor Verhandlungen auf beiden Seiten in Gefahr ist, irgendwelche unüberwindbaren Hindernisse aufzubauen. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, gefällt mir Ihr diesbezüglicher Satz, dass wir dafür sorgen sollten, die fortschrittlichsten Regelungen für alles Mögliche einzubeziehen, nicht so richtig. Erstens: Wer definiert Fortschritt? Zweitens: Das war immer die SPD; das ist bekannt. ({3}) Aber das hat sich weltweit vielleicht noch nicht herumgesprochen. Von daher plädiere ich dafür, in Sachen Vorbedingungen Vorsicht walten zu lassen; denn das Abkommen ist meines Erachtens sehr wichtig. Das Niveau von bilateralen Beziehungen erhöht sich, wenn man nicht nur über bilaterale Probleme spricht, sondern wenn man gemeinsam auch darüber spricht, wie man in der Welt agiert. Hier haben die Europäer und die Amerikaner noch ein weites Feld vor sich und weitere Möglichkeiten, die wir entsprechend nutzen sollten. Ich bin dafür, dass wir in dem Fall der europäisch-amerikanischen Partnerschaft wirklich von einer strategischen Partnerschaft sprechen können. Das Wort wird zum Teil inflationär gebraucht. Hier ist es wirklich angebracht, weil wir tatsächlich eine gemeinsame Basis haben, von der aus wir die Welt betrachten können. In Amerika hat es jetzt diesen „pivot“, die Hinwendung nach Asien gegeben. Die Frage ist: Bedrängt uns das? Ich sage Nein, das bedrängt uns nicht. Das ist eine ganz natürliche Bewegung. Zur Erinnerung: Amerika ist immer eine pazifische Macht gewesen. Der Zweite Weltkrieg ist über den Pazifik hinweg gestartet worden. Ich erwähne den Koreakrieg, den Vietnamkrieg. Vielfältige amerikanische Beziehungen nach Asien sind seit Jahrzehnten vorhanden. In Asien spielt heute eben die Musik. Von daher ist das für uns meines Erachtens keinerlei Bedrohung. Wir können damit sehr gut leben. Die Wiederwahl von Präsident Obama gibt uns aber auch die Möglichkeit, auf zwei Feldern voranzukommen, die uns sehr am Herzen liegen. Das erste Thema ist der Klimaschutz, das zweite Thema ist die Abrüstung. Meine Meinung ist, dass ein anderer Ausgang der Wahl in Amerika es uns in beiden Fällen wesentlich schwerer gemacht hätte, auf diesen beiden wichtigen Feldern voranzukommen. Von daher begrüßen wir es, dass wir es mit einer Obama-2-Administration zu tun haben werden. ({4}) Ich glaube, dass wir als Europäer auch in Zukunft gut daran tun, mit unseren amerikanischen Freunden im Rahmen der NATO eng zusammenzuarbeiten. Es ist auch unter veränderten politischen Rahmenbedingungen weltweit so, dass die NATO für uns beide, sowohl für Amerika als auch für Europa, einen Wert als Sicherheitsbündnis hat, nicht mehr und nicht weniger. Wenn unsere Sicherheit dadurch gefördert wird, dann ist das umso besser. Wir wollen daran weiter mitarbeiten. Lassen Sie mich zum Schluss kurz auf die innenpolitische Situation in Amerika eingehen. ({5}) Wir erleben in Amerika eine Spaltung, wie sie größer nie gewesen ist. Sie war schon immer da: Auch der erste Präsident, den ich in Amerika erlebt habe, Nixon, war auf der anderen Seite nicht gerade beliebt. Aber die jetzige Spaltung ist größer als jemals zuvor. Auch wenn wir jetzt nach der Wahl von beiden Seiten versöhnliche Worte gehört haben, so bin ich nicht sicher, ob es gelingt, die Spaltung zu überwinden; denn es ist nicht so, wie es in Deutschland verkürzt dargestellt wird, dass dabei nur die Republikaner durch ihre Blockade schuld sind, sondern beide Seiten sind daran beteiligt. Um es verkürzt auszudrücken: Wenn Sie sich Fox oder MSNBC anschauen, dann können Sie, was das Geifern und die Verunglimpfung des politischen Gegners angeht, kaum Unterschiede in der Intonierung bemerken. Vielleicht aber ist die kurzfristig größte Krise eine Chance, um die langfristige Krankheit der Spaltung zu überwinden. Die Krise besteht darin, dass dann, wenn nichts passiert, am 2. Januar nächsten Jahres ein Automatismus in Form von Kürzungen und Steuererhöhungen eintritt. Wir wissen, dass weder Demokraten noch Republikaner das wollen. Die Hoffnung ist, dass aufgrund dieser schwierigen Lage eine Kooperation möglich wird. Ein starkes Amerika ist in unserem Interesse. Uns verbindet die Geschichte. Uns verbindet gemeinsame Kultur. Uns verbinden Werte wie Demokratie, Menschenrechte, die marktwirtschaftliche Ordnung und der Rechtsstaat. Uns verbinden Interessen. Bei so viel Gemeinsamkeiten ist es nach meinem Dafürhalten nicht nur Interessenpolitik, die uns verbindet, sondern ich sage es zum Schluss so: Für mich persönlich ist es ein Herzensanliegen, dass wir weiterhin mit unserem amerikanischen Partner zusammenarbeiten: zum Wohle unserer Völker und, soweit das möglich ist, zum Wohle der Welt. Vielen Dank ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Philipp Mißfelder hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Amerika hat gewählt, und Deutschland hat in starkem Maß Anteil daran genommen. Die Begeisterung gerade vieler Deutscher über die Wiederwahl von Barack Obama zeigt, dass sich unsere Völker sehr nahe sind. Ich kenne kein anderes Beispiel dafür, dass Menschen so lange wach bleiben, um mit großer Spannung eine Wahl zu verfolgen, mit den Kandidaten mitzufiebern und sich letztendlich darüber zu freuen, dass sich der Wunschkandidat - jedenfalls der meisten Deutschen, wenn man den Umfragewerten glauben kann - durchgesetzt hat. Rainer Stinner hat es bereits angesprochen: Es gibt sehr viele Stereotypen, die gegenseitig bedient werden. Einerseits erwarten die Amerikaner von uns mehr Aktivität bei der Verschuldungskrise im Euro-Raum. Gegenseitiges Unverständnis herrscht an mancher Stelle in der Geldpolitik. Manche Amerikaner erwarten von uns, die Probleme durch eine radikale Inflationspolitik zu lösen. Andererseits betrachten viele Europäer das amerikanische Budget und die nach wie vor hohen Verteidigungsausgaben mit großer Skepsis. Ich glaube, die Zerrbilder, die auf beiden Seiten entstanden sind, haben auch etwas damit zu tun, dass aufgrund der Spaltung Amerikas, die offensichtlich ist - das wurde bereits angesprochen -, ständig Extrembeispiele genannt werden. Peter Hintze und ich haben vor ein paar Wochen an der Republican Convention teilgenommen und haben gesehen, wie zerrissen diese Partei ist und wie die Tea Party teilweise versucht, die Richtung und den Kurs der von sehr vernünftigen Außenpolitikern geprägten republikanischen Partei fundamental zu verändern. Das ist ein Zeichen dafür, dass es in vier Jahren unter Barack Obama nicht gelungen ist, das Land zu einigen. Nein, es ist an manchen Stellen tiefer gespalten, als man erwartet hat. Das betrachten wir natürlich mit großer Sorge. Vor dem Hintergrund, dass sich der Blick in der Administration Obamas mehr in Richtung Pazifik richtet - er selbst bezeichnet sich als ersten pazifischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika -, hat die althergebrachte Konstellation „Europa und die USA gemeinsam“ zwar keine Risse bekommen. Sie hat aber nicht mehr die oberste Priorität. Das führt teilweise zu einer Entfremdung. Diese muss allerdings nicht von Dauer sein und muss uns auch nicht schaden, im Gegenteil. Ich glaube, dass die Wiederwahl von Barack Obama in den USA die Chance bietet, die nicht behandelten Themen aufzugreifen und für mehr Verständnis auf beiden Seiten des Atlantiks für den jeweils anderen zu werben. Die Bundeskanzlerin hat in ihren Gratulationsworten deutlich gemacht, dass Herr Obama in Deutschland nach wie vor sehr herzlich willkommen ist. Wir freuen uns auf Barack Obama als wiedergewählten Präsidenten. Wir freuen uns, wenn er die Bundesrepublik Deutschland besucht. ({0}) In den Vereinigten Staaten ist die Selbstdefinition der Rolle der USA - das konnte man gerade in der dritten Fernsehdebatte sehen - sehr wichtig. Wenn man beide Kandidaten im Wahlkampf verfolgte, konnte man feststellen, dass keiner davon gesprochen hat, dass Amerika bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen, im Gegenteil. Obama hat gestern in seinen Dankesworten davon gesprochen, dass er weiß, dass die Amerikaner nach zehn Jahren Krieg in Afghanistan und im Irak nur eines wollen: sich um ihre Probleme kümmern und die offenen Fragen in den USA beantworten. Sie wollen nicht durch weitere Interventionen in der Welt die Rolle des Weltpolizisten übernehmen. Das, was viele Europäer eingefordert haben, nämlich dass die UNO an die Stelle der USA als Weltpolizist tritt, wird nun in Erfüllung gehen. Leider zeigt Syrien als aktuelles Beispiel, dass die UNO keineswegs die Kompetenzen hat, entsprechende Probleme zu lösen. Zwar haben wir 2005 die Responsibility to Protect eingeführt und zum Schutz der Zivilbevölkerung das UNO-Statut geändert. Nichtsdestotrotz führt die Blockade im UNO-Sicherheitsrat dazu, dass die UNO an dieser Stelle eher ein Totalausfall ist und nicht als Weltpolizist eingreifen kann. Das bezahlt gerade die Zivilbevölkerung in Syrien mit ihrem Leben. Man kann lange darüber spekulieren, warum das der Fall ist, ob die Ursache dafür der Rückzug der Amerikaner aus der Weltpolitik oder das verloren gegangene oder mangelnde Vertrauen zwischen der westlichen Welt und China bzw. Russland gewesen ist. Darüber kann man lange diskutieren. An all diesen Vermutungen ist etwas dran. Aber wir als mittlere Macht in Europa können es nicht hinnehmen, dass ein Fall wie Syrien unerledigt im UN-Sicherheitsrat liegt. Wir dürfen nicht wegschauen, sondern wir müssen das Thema mit großer Ernsthaftigkeit begleiten. Ich gehe davon aus, dass gerade von den Amerikanern erwartet wird, dass wir in Zukunft mehr Verantwortung innerhalb der NATO übernehmen als weniger. Ich bin gespannt darauf, welche Antwort unser Land und unsere Bevölkerung darauf geben werden. ({1}) Die Erwartungshaltung der USA ist auf jeden Fall klar, was die Agenda der NATO betrifft. In Sachen Sharing und Pooling, das heißt Fähigkeiten zusammenführen und Lasten teilen, ist die Erwartungshaltung in Washington ganz klar, dass wir mehr leisten müssen. Ich weiß nicht, ob alle dazu bereit sind. Ich glaube, dass die Grundsatzdiskussion in unserem Land noch geführt werden muss, ob wir militärisch, wirtschaftlich und auch finanzpolitisch bereit sind, einen größeren Beitrag zu leisten. Ich bin vergangene Woche in Boston und New York gewesen. ({2}) - Ich weiß nicht, wo Sie zuletzt waren; ich auf jeden Fall war in der letzten Woche in den USA. - Ich habe mit großem Interesse verfolgt, welche Debatten in den USA geführt werden, insbesondere im geistigen Zentrum, der Harvard University. Viele sprechen von „decline“. Rainer Stinner hat gerade die europäischen und amerikanischen Medien angesprochen. Ob nun Erfindungen von Amazon, neue Technologien wie Facebook oder andere Innovationen der Internetwirtschaft - alles kommt aus Amerika. Ich kann allen nur das Buch The Quest von Yergin empfehlen, in dem Sie nachlesen können, welche großen energiepolitischen Herausforderungen Amerika gerade meistert. Ich glaube, dass Amerika nach wie vor das innovativste und dadurch auch wirtschaftlich erfolgreichste Land der Welt ist und es auch bleiben wird. Deshalb würde ich auch nicht von „decline“ sprechen; Amerika ist vielmehr der wichtigste und beste Partner, den sich Deutschland wünschen kann. Ich komme auf meine Reise und den Besuch der Universität von Harvard zurück. Herr Kollege Klose, ich habe dort sehr viele, zugegebenermaßen ältere Professoren getroffen, die bewundernd über Ihre Arbeit gesprochen haben. Das gilt nicht nur für Karl Kaiser, der mit Ihnen freundschaftlich verbunden ist, sondern auch für viele amerikanische Professoren, die dort lehren. Sie haben von Ihrer großartigen Lebensleistung und Ihrer Tätigkeit im Deutschen Bundestag gesprochen und betont, wie sehr Sie sich für die Beziehungen unserer beiden Staaten eingesetzt haben. ({3}) Dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich im Namen unserer Fraktion danken. Ich möchte Ihnen auch für die kollegiale und menschlich wunderbare Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg danken. Die Anerkennung, die Sie in den USA genießen, muss erst einmal jemand aus unserem Kreis und unserer Generation erwerben. Deshalb möchte ich Ihnen, auch im Namen meiner Fraktion, meinen ganz großen Respekt bekunden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hans-Ulrich Klose hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es war eine sehr kluge Entscheidung der Geschäftsführer, die Debatte über den SPDAntrag zu den transatlantischen Beziehungen auf die Zeit nach den amerikanischen Wahlen zu schieben; denn jetzt, einen Tag danach, wissen wir jedenfalls, mit welchem Präsidenten und mit welchem Kongress wir es zu tun haben: wie gehabt mit Barack Obama und mit einem republikanischen Haus. Same procedure also? Nein, meine Damen und Herren, nicht ganz. Der Präsident hat weitere vier Jahre Zeit, um zu bewirken, was er in den ersten vier Jahren nicht bewirken konnte, vor allem dies: die Wirtschaft wieder voranzubringen und die zunehmende Spaltung des Landes in sehr Reiche und sehr Arme - eine gefährdete Mittelschicht dazwischen zu überwinden. Ob ihm das gelingen wird, hängt nicht allein von seiner Führungskraft ab; es hängt auch ab von der Bereitschaft der republikanischen Führung, sich aus der Umklammerung von Tea Party und Grover Norquist zu befreien. Ich weiß nicht, wer von beiden schwieriger ist. Auf deren Einsicht zu hoffen, halte ich für ziemlich verwegen. Die republikanische Führung hat aber bei dieser Wahl - hoffe ich - gelernt, dass bedingungslose Konfrontation weder dem Land dient noch der republikanischen Partei. Es geht nicht ohne Kompromissbereitschaft und ein Mindestmaß an Bipartisanship. ({0}) Es gilt schnell zu lernen, meine Damen und Herren; denn Amerika steuert zu auf das sogenannte „fiscal cliff“. Wenn es zum Ende dieses Jahres keine Vereinbarung zur Haushaltspolitik gibt, kommt es durch Wegfall von Steuervergünstigungen faktisch zu Steuererhöhungen und zugleich zu kräftigen Einschnitten in den Haushalt. Die Rede ist von Einsparvolumina von circa 600 Milliarden US-Dollar - Untergrenze. Die Folgen solcher Einschnitte für die Wirtschaft wären gravierend. Sie abzuwenden und zugleich die Weichen für mehr Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung zu stellen - darum geht es, übrigens nicht nur aus amerikanischer Sicht. Für die ganze Welt ist es wichtig, wie sich die amerikanische Wirtschaft entwickelt, auch für uns. Denn noch immer ist Amerika für Europa der wichtigste Handels- und Wirtschaftspartner - und umgekehrt. Amerikanische Investitionen sichern Arbeitsplätze in Europa. Europäische, vor allem auch deutsche Investitionen in den USA sichern dort amerikanische Arbeitsplätze. Deutschland ist aus amerikanischer Sicht ein wichtiger ökonomischer Partner, nicht zuletzt weil Deutschland in Amerika als Beispiel gesehen und sogar auch ein bisschen bewundert wird, weil es uns bisher trotz massiver Konkurrenz zum Beispiel aus China gelungen ist, unsere produktive industrielle Basis zu behalten und sogar auszubauen. Deutschland ist deshalb ein Partner, der bei der dringend notwendigen Reindustrialisierung Amerikas helfen kann, auch weil deutsche Firmen, die in den USA investieren, ihre Arbeitskräfte vor Ort finden und schulen. Ich habe das vor einem Jahr in einem VW-Werk in Chattanooga gesehen und zuletzt bei Stihl in Virginia Beach. Die Zusammenarbeit ist rundherum gut und könnte noch besser werden, wenn es, ja wenn es endlich gelänge, das Projekt einer transatlantischen FreihandelsHans-Ulrich Klose zone in die Tat umzusetzen. Das ist nicht einfach, weil, wenn es um Regeln und Standards geht, es auf beiden Seiten des Atlantiks und, zugegeben, auch innerhalb der EU deutlich unterschiedliche Auffassungen gibt. Der Nutzen einer transatlantischen Freihandelszone wäre aber groß. Deshalb hat die Bundesregierung sich wiederholt für die Errichtung einer solchen Freihandelszone ausgesprochen. Auch der Kollege Polenz hat sich kürzlich noch einmal dazu geäußert - wie ich finde, zu Recht. Denn es liegt auch an uns, das Projekt voranzutreiben. Die Amerikaner sehen jedenfalls Deutschland als das europäische Powerhouse. Sie erwarten, dass Deutschland seine ökonomischen Stärken politisch-strategisch nutzt, zum Vorteil Europas und des gesamten Westens. Meine Damen und Herren, die Zeiten westlicher Dominanz gehen zu Ende. Der Anteil westlicher Länder an der Weltbevölkerung nimmt ab auf bald nur noch 12 bis 13 Prozent. Die westliche Führungsmacht Amerika steckt in einer innenpolitischen Krise, die durch die jüngsten Wahlen nicht einfach aufgelöst worden ist. In den USA ist - nicht nur vereinzelt - die Rede von „decline“, also Abstieg. Der Glaube, dass Demokratie und Marktwirtschaft einander bedingen und wirtschaftlicher Erfolg nur in einer Demokratie möglich sei, ist durch China erschüttert. China ist erfolgreich, aber ganz sicher keine Demokratie. Das verursacht hier und da ideologische Kopfschmerzen. Manch einer erwartet, dass die westliche Führungsmacht von China eingeholt und sogar überholt werden könnte. Ich teile diese Besorgnis nicht. Ich kenne mich in der amerikanischen Geschichte ein bisschen aus und weiß, dass Amerika es mehr als einmal geschafft hat, Zeichen von Schwäche und Konflikten zu überwinden. Jedenfalls hat Amerika nicht nur aus meiner Sicht die deutlich besseren Chancen, seine Führungsposition zu erhalten. Amerika ist ein großes Land und verfügt, anders als China, über reichhaltige Bodenschätze, vor allem über ausreichend Energievorräte. Amerika ist, anders als China, in der Lage, seine wachsende Bevölkerung aus eigener Kraft zu ernähren und produziert Nahrungsmittel über den eigenen Bedarf hinaus für den Export. Amerika hat in seiner Nachbarschaft keine relevanten Feinde. Amerika ist ein attraktives Land mit hohem Innovationspotenzial; der Kollege Mißfelder hat darauf hingewiesen. Amerika ist ein Land mit freiheitlicher Verfassung, ein freies Land, in dem jeder und jede eine Chance für persönlichen Aufstieg hat. Nicht zuletzt deshalb ist Amerika als Zuwanderungsland attraktiv für junge Menschen aus aller Welt. Und - um auch dies zu erwähnen -: Amerika wird noch lange Zeit die stärkste Militärmacht bleiben. Ich glaube deshalb - um es noch einmal zu sagen -, dass Amerika mit den neuen Herausforderungen fertigwerden kann. Aber es bleibt auch richtig: Amerika und der Westen sind herausgefordert. Wir müssen uns diesen Herausforderungen stellen. Amerika hat das lange vor Europa erkannt. Es hat sich nach der Zeitenwende 1989/90 strategisch neu aufgestellt, schrittweise, aber konsequent Richtung Asien und Pazifik. „Pivot to Asia“, das war die Kurzformel der strategischen Neuausrichtung, in deren Verlauf sich der amerikanische Präsident selbst einen pazifischen Präsidenten nannte. „Pivot to Asia“, das klang für manche europäischen Ohren nach Abwendung von Europa, war aber nie so gemeint und ist deshalb, um Missverständnisse zu vermeiden, inzwischen durch das Wort „rebalancing“ ersetzt worden. Das bedeutet Herstellung einer neuen Balance zwischen andauerndem US-Engagement in Europa und verstärktem Engagement der pazifischen Macht Amerika in Asien, also ausdrücklich nicht Abwendung von Europa, sondern die Zusicherung, auch künftig im NATO-Rahmen in Europa engagiert zu bleiben, verbunden allerdings mit der Forderung an die Europäer, künftig mehr zu tun, mehr Verantwortung zu übernehmen, und zwar, Herr Kollege Mißfelder, in doppelter Hinsicht: Zum einen erwarten die Amerikaner von den Europäern einen höheren, effektiveren Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit. Das Missverhältnis zwischen amerikanischen NATO-Aufwendungen, circa 70 Prozent, und denen der Europäer, zusammen nur etwa 30 Prozent, ist offensichtlich und aus amerikanischer Sicht nicht akzeptabel. Es geht aber nicht nur um Geld und Fähigkeiten, sondern auch um strategisches Burden Sharing. Amerika will, dass sich die Europäer um die Probleme in der europäischen Peripherie selbst kümmern. Amerika hilft, wenn nötig, will aber nicht führen. Das war so im Fall Libyen und wird, fürchte ich, so sein im Fall Mali. Weil das so ist, macht es Sinn, dass sich die Europäer vorher darüber verständigen, was sie mit welchen politischen und/oder militärischen Mitteln in Mali oder in ähnlich gelagerten Fällen erreichen wollen. Die Betonung, dass es sich nur um eine Ausbildungsmission handele, trägt allein nicht. Europa braucht mehr Gemeinsamkeit und, wenn ich das so sagen darf, mehr Entschlossenheit, um als europäischer Akteur in der transatlantischen Zusammenarbeit ein relevanter Partner zu bleiben oder zu werden. ({1}) Deutschland, so hört man es gelegentlich in den USA, dürfe nicht zu einem Land der Neinsager werden; es müsse bereit sein, mehr Verantwortung zu übernehmen. Ich weiß, meine Damen und Herren, das alles klingt eher ein bisschen bedrohlich in den Ohren all jener, die weiterhin auf eine Politik der Zurückhaltung setzen. Diese Politik war historisch begründet. An der Richtigkeit der Gründe war und ist nicht zu zweifeln. Die Schlussfolgerungen müssen aber überdacht und den Realitäten der heutigen Zeit angepasst werden. Für Europa und für Deutschland in Europa gilt die Formel „pivot to reality“. „Pivot to reality“ bedeutet nicht, die Prinzipien einer wertorientierten Außen- und Sicherheitspolitik infrage zu stellen. Die Orientierung an Werten ist konstitutiv für das Selbstverständnis des Westens. Es ist aber eben auch richtig, dass eine wertorientierte Außenpolitik an den oft widrigen Realitäten nicht vorbeidiskutieren kann. Wir müssen sie zur Kenntnis nehmen, nicht resignierend oder zynisch, sondern in guter Weise pragmatisch. Was, meine Damen und Herren, bedeutet das für die praktisch-politische Arbeit der nächsten Jahre, vielleicht Jahrzehnte? Erstens. Die strategische Neuorientierung der US-Außenpolitik in Richtung Pazifik liegt nicht nur im amerikanischen Interesse. Auch Europa muss die geostrategischen Veränderungen in Richtung Pazifik zur Kenntnis nehmen. Vor allem das exportorientierte Deutschland ist an berechenbar stabilen Verhältnissen in Ostasien in besonderer Weise interessiert. Da es für die EU und einzelne Mitgliedstaaten der EU eine pazifische Machtprojektion nicht gibt, muss sie sich einmal mehr auf das stabilisierende Potenzial der USA verlassen, insbesondere darauf, dass die USA wie auch China auf ein kooperatives Miteinander hinarbeiten und Konflikte vermeiden. ({2}) Zweitens. Deutschland hat Einfluss in den USA und in China. Mit China verbindet uns eine, wie es heißt, strategische Partnerschaft. Strategisch oder nicht - richtig ist, dass Deutschland aus chinesischer Sicht ein wichtiger Akteur ist, politisch und ökonomisch. Die Stimme Deutschlands hat Gewicht in China. Das sollten wir in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern nutzen, um unsere europäische Perspektive positiv zu Gehör zu bringen - in China und darüber hinaus. Drittens. Politisch muss es unser Ziel sein, die europäischen Lehren aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts global auszuwerten; will sagen: Der europäische Gedanke von gemeinsamer Sicherheit und Sicherheitspartnerschaft könnte auch in anderen Weltregionen an Bedeutung und Zustimmung gewinnen. ASEAN und ASEAN-Staaten sind Ansprechpartner, um die wir uns intensiv und hochrangig bemühen sollten. Viertens. Deutschland ist ein Partner in Leadership, zuerst und vor allem in Europa. In Europa gibt es heute Schwierigkeiten rund um den Euro. Das eigentliche Problem ist aber nicht der Euro, sondern das mangelnde Bewusstsein von europäischer Zusammengehörigkeit und Identität. ({3}) Wechselseitige Vorurteile und Ressentiments sind im Verlauf der Euro-Krise überdeutlich zutage getreten. Es wird schwer sein, neuerliche wechselseitige Verwundungen zu heilen. Fünftens. Die Erfahrung eigener Unzulänglichkeit sollte uns im Auftreten - ich betone: im Auftreten! - etwas bescheidener machen, wenn wir international agieren. Europäer, zumal wir Deutschen, haben eine Neigung zu, wenn ich das so sagen darf, missionarischen Auftritten mit erhobenem Zeigefinger. Vor allem im Umgang mit den neuen Akteuren in Asien wird uns das immer wieder vorgehalten. Die Welt ist eben nicht so, dass alle Staaten und Völker sich an gleichen universellen Werten orientieren. China zum Beispiel lehnt das ausdrücklich und mit chinesisch-philosophischer Begründung ab. „Kommt uns bloß nicht mit Kant“, titelte die FAZ, als sie über eine Philosophenkonferenz in China berichtete. Gleichwohl müssen wir mit China wie auch mit Russland oder mit Staaten der islamischen Welt kooperieren, deren Wertvorstellungen und Verhalten in Sachen Menschenrechte unseren europäischen Vorstellungen nicht entsprechen. Es geht nicht anders - das wissen wir -, auch wenn wir es gern anders hätten. Zum Schluss erlauben Sie mir eine sehr persönliche Bemerkung. Ich weiß, Dankbarkeit ist in der Politik keine belastbare Größe. Als kindlicher Zeitzeuge der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre erlaube ich mir aber bei dieser Gelegenheit ein Wort des Dankes an die Amerikaner. Ohne sie wären wir nicht, wo wir heute sind. ({4}) Ohne sie hätten wir weder die deutsche noch die europäische Teilung überwunden. Ich denke, wir sollten uns hin und wieder an diese Wahrheit erinnern. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Stefan Liebich hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 25. April 1945 haben sich an der Elbe bei Torgau amerikanische und sowjetische Soldaten die Hand gereicht. Dieses historische Bild wurde gezeichnet anlässlich des gemeinsamen militärischen Sieges der AntiHitler-Koalition über das Naziregime. Auch Deutsche in US-amerikanischer Uniform kamen damals in ihre Heimat zurück, die sie wegen Verfolgung und politischem Druck verlassen haben, weil sie ein Leben in Freiheit und nicht in der Diktatur wollten. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren damals das Land ihrer Wahl. Ich nenne hier beispielhaft Marlene Dietrich, die vom Berliner Senat im Jahr 2003 dafür zur Ehrenbürgerin ernannt wurde, oder auch den ehemaligen Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages Stefan Heym, dessen hundertsten Geburtstag wir im nächsten Jahr feiern. ({0}) Die aktuellen transatlantischen Beziehungen begannen mit der Befreiung Deutschlands - ein guter Start, wie ich finde. Die Anti-Hitler-Koalition ist schnell zerStefan Liebich brochen. Deutschland wurde gespalten. Die USA haben dem Westen unseres Landes mit dem Marshallplan eine Perspektive heraus aus Hunger und Ruinen geboten. Dieses Angebot wurde angenommen und war die Grundlage für das sogenannte Wirtschaftswunder. Deshalb sind viele Menschen in unserem Lande den USA bis heute zutiefst verbunden. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland entschieden sich für eine feste Bindung an die USA. Auch der Bundestag etablierte Strukturen enger Zusammenarbeit mit dem Kongress. Bald werden wir wieder, wie in jedem Jahr, ein Treffen mit den Kolleginnen und Kollegen aus Senat und Repräsentantenhaus haben. Es wird das letzte Mal sein, dass unsere Parlamentariergruppe von Hans-Ulrich Klose angeführt wird. Sie sagten mir einmal, wie es Sie geprägt hat, dass die USA nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg sofort junge Leute wie Sie in ihr Land eingeladen haben. Das merkt man. An dieser Stelle möchte ich Ihnen auch im Namen meiner Fraktion recht herzlich für Ihre langjährige engagierte Arbeit danken. ({1}) Der Blick zurück ist wichtig. Kommende Beziehungen sind aber vor allen Dingen von den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft geprägt. Am Dienstag - es wurde hier natürlich angesprochen - haben die Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten ihren Präsidenten Barack Obama wiedergewählt. Viele, auch hier bei uns im Land, hat das sehr gefreut. Wir haben aber auch am Dienstag gesehen: Die USA sind immer noch politisch tief gespalten. Dies ist ja nicht nur einfach ein Klischee, sondern es ist die Wirklichkeit. Wenn man sich die Abstimmungen angeschaut hat, dann hat man gesehen: Es sind auf der einen Seite in Maryland und Maine Cannabis legalisiert bzw. die Ehe zwischen zwei Männern oder zwei Frauen gestattet worden - beides übrigens Punkte, die eine Mehrheit hier in unserem Haus ablehnt -, auf der anderen Seite ist in Kalifornien die Todesstrafe bestätigt worden. In Florida wurde abgelehnt, dass der Staat Krankenversicherungen unterstützt, die Abtreibungen beinhalten. Es gab Kandidaten mit sehr seltsamen Auffassungen. Todd Akin aus Missouri meinte, dass Schwangerschaften nach Vergewaltigungen sehr selten seien, weil der weibliche Körper Wege habe, diese zu unterbinden, und dass deshalb Abtreibungen auch in so einem Fall nicht zulässig sein sollen. Zum Glück hat er seine Wahl verloren. Schön dagegen ist, dass mit Tammy Baldwin erstmals eine offen lesbisch lebende Frau in den Senat gewählt wurde. Das hat mich sehr gefreut. ({2}) Mit Barack Obama hat ein Präsident gewonnen, der das Gefangenenlager in Guantanamo immer noch nicht geschlossen hat, obwohl er es angekündigt hatte. Mangelnde Glaubwürdigkeit attestiert ihm daher völlig zu Recht der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Obamas Drohnenangriffe in souveränen Staaten brechen internationales Recht; die Tötung von Menschen, die niemand verurteilt hat, können wir nicht einfach hinnehmen. Dies ist nur die eine Seite. Er hat auch dafür gesorgt, dass sich die USA international wieder abstimmen, in der UNO ordentlich ihre Beiträge bezahlen, er hält den Klimawandel nicht für einen Scherz. Er setzt sich für die Rechte von Migranten, von Lesben und Schwulen ein. Und er wird als derjenige Präsident in die US-Geschichte eingehen, der für den Großteil der Menschen in den Vereinigten Staaten eine Krankenversicherung organisiert hat. Ich bin ganz ehrlich: Mir war die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger in der vorletzten Nacht nicht egal. Ich bin über die Wiederwahl von Barack Obama trotz aller Kritik froh, da er die bessere Alternative war. ({3}) Ein Kandidat, der sagt, es sei nicht sein Job, sich um die ärmere Hälfte der eigenen Bevölkerung zu kümmern - Mitt Romney hat sich so geäußert -, aber die Unternehmenssteuern senken will, der außenpolitisch eher noch im Kalten Krieg lebt, weil er Russland für eine Bedrohung hält, wäre aus meiner Sicht eine schlechtere Wahl gewesen. Die Welt hat sich dramatisch geändert. Klimawandel, internationaler Terrorismus, Globalisierung - das sind neue Herausforderungen. Aber die Antworten, die diesseits und jenseits des Atlantik gegeben werden, sind häufig immer noch die alten: Militär gegen Bedrohung und zur Ressourcensicherung, Abbau sozialer Sicherung und statt klarer Regeln durch den Staat freie Hand für Märkte und Banken. Barack Obama hat gestern in seiner Siegesrede in Chicago von Werten gesprochen, die ein Land so voller Unterschiede zusammenhalten sollen: Verantwortung untereinander und künftigen Generationen gegenüber. Ich würde es Solidarität nennen. Er hat von Freiheit gesprochen und von Respekt. Gestützt auf diese Werte können Europa, Deutschland und die Vereinigten Staaten eine neue transatlantische Partnerschaft begründen. Wir könnten zusammen den Frieden in der Welt fördern, indem wir mutige Abrüstungsschritte unternehmen, zum Beispiel, indem man in einem ersten Schritt die Atomwaffen aus Deutschland abzieht. ({4}) Wir könnten die Armut weltweit bekämpfen, indem Banken und Finanzmärkte mutig reguliert werden, zum Beispiel, indem wir als ersten Schritt eine weltweite Finanztransaktionsteuer einführen. Wir könnten eine neue internationale Sicherheitsarchitektur aufbauen, zum Beispiel, indem wir als ersten Schritt die OSZE, in der beide Länder Mitglied sind, stärken. Wir könnten gemeinsam im Nahen Osten eine Initiative dazu ergreifen, dass es endlich zu einer Zwei-Staaten-Lösung kommt. Die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied bei den Vereinten Nationen könnte hierfür ein erster Schritt sein. ({5}) Und wir könnten gemeinsam für die Achtung der Menschenrechte weltweit eintreten und deshalb eine Initiative ergreifen, Waffenexporte zu ächten. Der Stopp von Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete könnte hier ein erster Schritt sein. ({6}) Die Lösungen liegen also vor uns. Wir müssen es nur schaffen, uns endlich von den Dogmen der Vergangenheit zu lösen. Auch wir als Linke machen dazu in der nächsten Woche einen kleinen Schritt. Mancher denkt ja, wir Linke seien antiamerikanisch. ({7}) Das ist falsch. ({8}) Am kommenden Dienstag nehmen unser Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi, unsere stellvertretende Fraktionsvorsitzende Cornelia Möhring und ich in New York City an der Eröffnung des ersten US-Büros der RosaLuxemburg-Stiftung teil. Das war auch an der Zeit. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ruprecht Polenz hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über die transatlantischen Beziehungen ist im Grunde eine Debatte über unser außenpolitisches Koordinatensystem. Ich sage das deshalb, weil ich diese Beziehungen von den etwas inflationär entstehenden strategischen Partnerschaften unterscheiden möchte. Die Vereinigten Staaten sind ein wesentlicher Bestandteil unseres außenpolitischen Koordinatensystems, und zwar in dem Sinne, dass uns dieses Koordinatensystem Anhaltspunkte dafür gibt, wie wir andere Bereiche einordnen und mit anderen außenpolitischen Themen umgehen. In diesem Zusammenhang ist als zweite große Koordinatenlinie die deutsch-französische Freundschaft zu nennen, die wir im Rahmen des Weimarer Dreiecks jetzt um die Achse nach Warschau verlängern und in die europäische Einigung einbetten. Als dritte Koordinatenlinie - um den Rang deutlich zu machen - möchte ich die Sonderbeziehung Deutschlands zu Israel anführen. Das ist das außenpolitische Koordinatensystem Deutschlands. Gute transatlantische Beziehungen sind also wichtig für die Einordnung von Themen. Das ist in einer unübersichtlicher gewordenen Welt nicht immer einfach. Warum aber ist es so wichtig, gute transatlantische Beziehungen zu haben, sodass wir bei anderen Themen die Frage immer mit im Auge behalten: Welche Auswirkungen hat unser Verhalten in dieser oder jener Frage auf die transatlantischen Beziehungen? Verbessert es sie, stärkt es sie, oder würde es sie schwächen? Außenpolitik heißt ja, dass wir unsere Interessen verfolgen und dass wir das von einer wertegeleiteten Basis her tun. Nun können Werte und Interessen miteinander in Konflikt geraten. Aber im Verhältnis zu den USA ist es so, dass unsere Werte und unsere Interessen in sehr hohem Maße übereinstimmen. Sie sind nicht deckungsgleich oder identisch. Es gibt durchaus Handelskonflikte mit den USA, es hat auch durch den wirtschaftlichen Wettbewerb immer Situationen gegeben, in denen man bis hin zur Anrufung von internationalen Schiedsgerichten um eine Klärung nachsuchen musste. Aber uns verbindet doch die Grundüberzeugung, dass Freihandel und Marktwirtschaft für die Völker dieser Welt wohlfahrtsfördernd sind und dass wir uns dafür gemeinsam einsetzen sollten. Was die Werte angeht: Ja, es ist richtig: Wir versuchen, unsere amerikanischen Freunde davon zu überzeugen, die Todesstrafe endlich abzuschaffen. Wir haben auch Probleme damit, zu verstehen, dass in Amerika tatsächlich Menschen glauben, man könne ohne eine gesetzlich verpflichtende Krankenversicherung auskommen. Aber trotzdem verbindet uns ein Freiheitsverständnis, ein gemeinsames Verständnis der Menschenrechte, von Rechtsstaat und Demokratie. Das ist zusätzlich zu den historischen Erfahrungen die gemeinsame Basis, die uns mit den Amerikanern verbindet. Auch nach meiner Überzeugung sind die USA in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts noch auf Jahrzehnte hinaus mit Abstand die Nummer eins. Sie erbringen gegenwärtig ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung und verfügen über eine große Innovationskraft. Die Attraktivität ihrer wissenschaftlichen Einrichtungen ist groß; 800 000 Studenten, die besten Köpfe aus aller Welt, studieren in den USA. Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Die Amerikaner nutzen dieses Potenzial wesentlich intelligenter als wir, indem sie denen, die nach dem Studium dort bleiben wollen, diese Möglichkeit eröffnen, ({0}) während wir, kaum hat man das Examen oder die Promotion abgeschlossen, diskret darauf hinweisen, dass jetzt das Aufenthaltsvisum abgelaufen sei. Amerika verfügt nach wie vor über eine große kulturelle Anziehungskraft. Nicht zu vergessen ist: Die USA haben eine wachsende Bevölkerung. Die amerikanische Bevölkerung wird bis 2030 um etwa 100 Millionen Menschen wachsen; im gleichen Zeitraum wird Europa 100 Millionen Menschen verlieren. Herr Klose hat schon betont, dass die USA auf lange Sicht auch die militärisch stärkste Macht auf dieser Welt sind. Sie sind unser wichtigster Verbündeter, und die NATO ist die Klammer, mit der wir unsere Sicherheit vom Bündnis mit den Amerikanern abhängig machen. Es ist in der Debatte bereits angesprochen worden: Die USA wenden sich dem Pazifikraum zu. Das ist auch in unserem Interesse; denn die selbsttragenden, den Frieden stabilisierenden Strukturen, die in Europa in den letzten 60 Jahren - denken Sie etwa an die Europäische Union! - unter tatkräftiger Mithilfe der Amerikaner entstanden sind, fehlen in Asien völlig. Es gibt in Asien keinerlei vertrauensbildende, länderübergreifende Mechanismen oder Maßnahmen. Wir beobachten im Fernsehen, wie chinesische und japanische Schiffe vor einer Insel fast kollidieren, und müssen wissen: Es gibt kein rotes Telefon für Gespräche zwischen Peking und Tokio. Das Fehlen solcher Strukturen verlangt danach, dass sich Amerika als Ordnungsmacht diesem Raum zuwendet. Das ist in unserem Interesse. Wir wenden uns diesem Raum - das ist schon gesagt worden - in anderer Weise ebenfalls zu. Es ist hier schon darauf hingewiesen worden: Wir müssen selber etwas dafür tun, die transatlantischen Beziehungen auch in Zukunft mit Leben zu erfüllen. Der Gedanke einer transatlantischen Freihandelszone sollte nicht nur auf dem Papier stehen; er muss jetzt mit Leben erfüllt werden. Die Zeit ist reif dafür, ({1}) einen gemeinsamen Markt für über 800 Millionen Menschen zu schaffen, mit großen Wohlfahrtsgewinnen für beide Kontinente. Gerade in der jetzigen Wirtschaftsund Finanzkrise sind solche Visionen und Perspektiven notwendig. Meine Damen und Herren, die transatlantischen Beziehungen, die Freundschaft zwischen Deutschland und den USA, wollen gepflegt werden; sie müssen gelebt werden. Unser Kollege Hans-Ulrich Klose hat das in beispielhafter Weise über lange Jahre hinweg in vielfältigen Funktionen getan. Lieber Herr Klose, dafür möchte auch ich mich ganz persönlich bei Ihnen bedanken. Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kerstin Müller hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa feiert mit den USA den wiedergewählten USPräsidenten. Hätten wir in Europa ihn wählen dürfen - einige von Ihnen haben es schon gesagt -, wäre das Ergebnis wahrscheinlich fast ein sozialistisches geworden. ({0}) Überall in Deutschland und Europa haben die Menschen mitgefiebert. Die allermeisten Umfragen ergaben, dass 90 Prozent Barack Obama die Daumen gedrückt haben. Er hat es geschafft - und daher von mir und meiner Fraktion - Herr Liebich, ich bin da ganz offen - einen ganz herzlichen Glückwunsch an den neu gewählten Präsidenten. ({1}) Warum elektrisiert uns diese Wahl so? Ich glaube, es gibt zwei Gründe: Erstens. Der Typ ist einfach gut und trotz allem irgendwie cool; das höre ich von vielen jungen Menschen. Zweitens. Die transatlantischen Beziehungen sind allen Unkenrufen zum Trotz tief in unserer Gesellschaft und in unserer politischen Kultur verwurzelt. Warum ist Obama nun so toll? Hat er nicht eine enttäuschende Bilanz aufzuweisen? Keine Antwort auf den Klimawandel, anhaltende Kriege und Krisen, außer Kontrolle geratene Finanzmärkte. Haben wir nicht alle erwartet, er bringe das alles in Ordnung? Ja, das haben wir erwartet. Aber wir haben dabei die Macht des amerikanischen Präsidenten überschätzt. Es wird nämlich gerne vergessen, dass jeder Präsident stärker aussieht, als er ist, dass er ohne den sehr mächtigen Kongress - zumal, wenn im Repräsentantenhaus die Opposition die Mehrheit hat - in vielen Fragen nicht alleine regieren kann, vor allem wenn er es, wie Obama, mit einer Opposition zu tun hat, die nicht einmal den Anschein von Kooperationsbereitschaft erweckt und unter Anführung der rechten Tea-Party-Bewegung zentrale Projekte des Präsidenten kategorisch blockiert. Wenn wir also die überzogenen Erwartungen einmal beiseitelassen, dann müssen wir feststellen, dass Obama viele Erfolge vorzuweisen hat. Er hat zum Beispiel nach der verheerenden Finanzkrise 2008 den wirtschaftlichen Totalabsturz der USA verhindert durch ein 800 Milliarden Dollar schweres Konjunkturprogramm und zumindest den Einstieg in überfällige Regulierungen des Finanzsektors. Es war Obama, der die Bush-Ära der Antiterrorkriege beendet hat durch den Abzug aus dem Irak und durch das absehbare Ende des Afghanistan-Einsatzes 2014. Unter ihm hat die Politik wieder die Oberhand über das Militärische gewonnen, auch wenn wir sicherlich nicht mit allem einverstanden sind, was er gemacht Kerstin Müller ({2}) hat. Schließlich - viele von Ihnen haben es erwähnt - hat Obama mit seiner Gesundheitsreform den Mut bewiesen - entgegen einiger seiner Berater, die gesagt haben: Das wirst du nicht durchsetzen; lass die Finger davon -, eine gesellschaftspolitische Zeitenwende einzuleiten, meines Erachtens vergleichbar mit der Einführung des Wahlrechts für Frauen oder der Bürgerrechte für Schwarze. Klug statt kühn hat Obama die Geschicke seines Landes vier Jahre geführt. Er ist und bleibt ein Ausnahmepräsident, auch nicht zuletzt deshalb, weil er der erste Afroamerikaner ist, der dieses Staatsamt bekleidet. Vor dem Hintergrund der grausamen Geschichte des Rassenhasses in den USA kann man deshalb die gesellschaftspolitische Wirkung seiner Präsidentschaft nicht hoch genug einschätzen. Sie hat Wirkung weit über die Grenzen der USA hinaus - denken wir zum Beispiel an die Bilder des Freudenfestes zu seiner Wiederwahl im Dorf seiner Familie im kenianischen Kogelo. Obama hat die Wahl gewonnen, weil er wie 2008 die schwarze Bevölkerung zu 93 Prozent und die ethnischen Minderheiten, etwa die Latinos, zu 71 Prozent hinter sich versammeln konnte, weil ihn überwiegend junge Menschen und Frauen gewählt haben. Er hat sich als erster Präsident für die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen. Er ist dafür scharf kritisiert worden, wie er mitten im Wahlkampf dazu käme. Man hat das als großen Fehler eingeschätzt. Man muss schon sagen: Er verkörpert ein modernes, liberales Amerika, und wir sind froh, dass das von den Amerikanern bestätigt wurde. ({3}) Als wiedergewählter „Präsident der Hoffnung“ hat Obama nun erfreulicherweise auch Gelegenheit, viele seiner Projekte umzusetzen, deren Umsetzung bisher nicht gelungen ist, zum Beispiel die Schließung von Guantanamo. Vielleicht gibt es einen Wiedereinstieg in die Debatte über die Verabschiedung eines Klimaschutzgesetzes, was aufgrund der Verhältnisse im Kongress schwierig wird; es wäre aber wichtig. Vielleicht bringt er die Reform des Einwanderungsrechtes voran. Ich meine, wir sollten ihn bei seinen Vorhaben unterstützen, zum Beispiel indem Europa beim Klimaschutz unter der Führung Deutschlands vorangeht, was leider von dieser Bundesregierung nicht zu erwarten ist, aber notwendig wäre. ({4}) Die Wahlen haben uns nicht nur wegen des spannenden Duells oder wegen unseres Lieblingskandidaten begeistert. Sie haben auch gezeigt, dass die transatlantischen Beziehungen keinesfalls ein siechendes Relikt des Kalten Krieges sind. Das Wahlfieber hierzulande hat deutlich gemacht, dass die Verbindungen zwischen den USA und Europa auf allen gesellschaftlichen Ebenen fester Bestandteil unserer politischen Kultur sind. Herr Kollege Klose, auch ich möchte Ihnen an dieser Stelle persönlich und für meine Fraktion für Ihren Einsatz für das transatlantische Verhältnis danken. Ich weiß aus vielen Gesprächen in den USA, wie sehr Sie dort geachtet und respektiert werden. Das war und ist für uns alle wichtig. Ich danke Ihnen sehr dafür. Ich bin sicher, dass Sie hier weiter intensiv engagiert bleiben. ({5}) Ich glaube, dass ein gutes transatlantisches Verhältnis angesichts der Herausforderungen einer multipolaren Welt unerlässlich ist. Man könnte sagen: Obama hat ein schwächeres Amerika in einer schier nicht zu regierenden Welt geführt - und das geht nicht ohne Partner. Herr Stinner und Herr Mißfelder, diese Einsicht ist meines Erachtens seine größte Leistung. Es ist die Einsicht in die Grenzen der amerikanischen Macht, die verbunden ist mit dem Mut, diese Einsicht gegenüber den Partnern und der Welt auch offensiv zu vertreten. Das war seine Leistung; denn die Vorgängerregierungen sind ganz anders vorgegangen. Da hieß es: „Hoppla, wir sind wieder wer“, und: „nicht ohne uns“, verbunden mit verheerenden Kriegen. Diese Einsicht durchgesetzt und verankert zu haben, ist eine große Leistung. Es ist sozusagen Multilateralismus aus der Einsicht in die Notwendigkeit, dass kein Staat der Welt, auch nicht die USA, die neuen Herausforderungen alleine meistern kann. Das war verbunden mit einem maßvollen Auftreten und mit einem Ton der Selbstbeschränkung, und das war wichtig. Was heißt das für Europa? Herr Kollege Klose, ich stimme Ihnen zu: Ich glaube, es hilft nicht, darüber zu jammern, dass es eine Hinwendung zum pazifischen Raum gibt. Diese Hinwendung fordert vielmehr von Europa, sich endlich zusammenzuraufen. Die neue strategische Ausrichtung ist keine Abkehr von Europa. Sie bedeutet vielmehr, dass die Europäer zum Beispiel in den Krisenregionen in der Nachbarschaft, von Osteuropa bis nach Afrika, noch mehr Verantwortung übernehmen, also ein transatlantisches Burden Sharing. Mit Obama kann eine solche Politik der gemeinsamen Verantwortung gelingen, aber nur, wenn Europa seine Probleme gemeinsam anpackt und weitere Schritte in Richtung einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik unternimmt, um die EU endlich als ernstzunehmenden Global Player zu etablieren.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin gleich fertig. - Das Beste kommt erst noch, hat Barack Obama gesagt. Wir sollten auf dem Teppich bleiben. Dann gibt es gute Chancen, dass wir das transatlantische Verhältnis noch verstärken können. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn das Wort. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Präsidentschaftswahlen in den USA, die nach den Umfragen über Wochen hinweg ein Kopf-an-Kopf-Rennen waren, haben nicht nur dort, sondern in ganz Europa und in der ganzen Welt für große Aufmerksamkeit gesorgt. Obama sorgte allerdings schon bei seinem ersten Wahlerfolg in unserem Land und in Europa für große Aufmerksamkeit. Das kam auch durch die Verleihung des Friedensnobelpreises zu einem sehr frühen Zeitpunkt seiner Regierungszeit zum Ausdruck. Es zeigt sich, dass für viele Menschen in der Welt - auch bei uns in Deutschland - große Hoffnungen mit dem Präsidenten verbunden sind, der als erster Präsident afrikanische Wurzeln hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit gestern wissen wir, dass Präsident Barack Obama vier weitere Jahre regieren kann. Ich gratuliere dazu, und ich freue mich darüber, dass es ein eindeutiger Regierungsauftrag ist. Er mag hoffentlich dazu beitragen, die Spaltung der Gesellschaft, die nach den Umfragen in diesem Kopf-anKopf-Rennen zum Ausdruck gekommen ist, etwas zu überwinden. Diese Wiederwahl wird es mit sich bringen, dass wir an die gewachsenen Kontakte der letzten Jahre anknüpfen können und dass wir die Kontinuität in den transatlantischen Beziehungen nutzen können, um unser Verhältnis zu vertiefen. Die transatlantischen Beziehungen sind neben der europäischen Integration die tragende Säule unserer Außenpolitik. Das liegt nicht nur daran, dass diese Beziehungen so umfassend angelegt sind, sondern vor allem daran, dass wir ein gemeinsames Gerüst an Werten und Interessen verfolgen. Es gibt ein tiefes gemeinsames Verständnis zwischen unseren amerikanischen Freunden und uns darüber, dass Prinzipien wie Freiheit und Demokratie über den Westen hinaus Anziehungskraft besitzen. Natürlich ist die transatlantische Zusammenarbeit darüber hinaus auch wichtig, weil es eine ganze Reihe von drängenden globalen Herausforderungen gibt, die wir gemeinsam angehen müssen: von der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, von Krankheit und Armut über die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen bis hin zum Klimaschutz. All das müssen wir auf die internationale Agenda setzen. Wir müssen auch den Versuch unternehmen, gemeinsame Initiativen zu starten. Die Sicherheitspolitik wird sicher ein großer Teil unserer Zusammenarbeit bleiben. Ich glaube, es ist wichtig, zu sehen, dass nicht nur die gemeinsame Partnerschaft in der NATO, sondern auch die NATO als solche von außerordentlich hoher Bedeutung für uns bleibt, nicht nur, weil wir damit gemeinsamen Bedrohungen begegnen können, sondern auch, weil sich in diesem Bündnis unsere gemeinsamen Werte und Grundüberzeugungen immer wieder neu konkretisieren. Wir sollten die Zusammenarbeit im Bündnis auch deshalb ernst nehmen, weil sich aus einer erfolgreichen Zusammenarbeit im Bündnis eine ganze Reihe von Konsequenzen für den Ausbau der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Europäischen Union ergeben können. Was die vermeintliche Abwendung der USA von Europa und die Hinwendung zum Pazifik angeht, rate ich zu einer nüchternen und sehr gelassenen Betrachtungsweise. Natürlich stellen das Bevölkerungswachstum und das Wirtschaftswachstum in Asien für die Vereinigten Staaten eine Herausforderung dar. Deswegen ist die Hinwendung der USA zu diesem Raum eine ganz natürliche Konsequenz. Das ist nicht zugleich eine Abwendung von Europa; im Gegenteil: Die amerikanische Außenministerin hat im letzten Jahr in München zu Recht betont, dass Europa für die Vereinigten Staaten in Sicherheitsfragen der erste Ansprechpartner bleibt. Wir sollten den Kurswechsel der Vereinigten Staaten in der Außenpolitik vielmehr als eine eigene Aufgabe verstehen. Wir sollten in die Rolle hineinwachsen, die nicht nur die Amerikaner von uns erwarten, sondern die wir auch von uns selbst erwarten. Wir sprechen in der Europäischen Union immer gerne über den Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Diesen Worten müssen wir jetzt Taten folgen lassen. Wir entscheiden selbst, wie wir unsere Rolle in Zukunft ausfüllen. Lassen Sie mich noch anführen, dass wir neben den sicherheitspolitischen Fragen in Zukunft auch die wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen Europa und den USA in viel stärkerem Maße auf die Tagesordnung setzen müssen. Auch auf diesem Gebiet gibt es gemeinsame Herausforderungen: von der Frage, wie man neue Arbeitsplätze schaffen kann, über die Frage, wie man die industrielle Produktion erhalten kann, bis hin zu Fragen, wie wir Umwelttechnologien und Ähnliches sinnvoll nutzen können. Ich denke, Deutschland hat diesbezüglich ein Angebot zu unterbreiten: Wir haben wie die Vereinigten Staaten eine Marktwirtschaft; aber wir haben eine spezifische Tradition, die soziale, die ökologische und die fiskalische Dimension unseres Wirtschaftens zu ordnen - anders, als die Amerikaner dies tun. Ich sehe mit Interesse, dass die Vereinigten Staaten Fragen der sozialen Sicherung sehr streitig und heftig diskutieren, für die wir in Deutschland seit langem Lösungen haben. Ich verfolge mit großer Aufmerksamkeit, dass die umweltpolitischen Fragestellungen in den USA immer ernsthafter diskutiert werden. Wir werden auch über die fiskalischen Herausforderungen, zum Beispiel hinsichtlich der Regulierung der Finanzmärkte, gemeinsam diskutieren müssen. Wir haben in Deutschland eine hohe gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität - mit Sicherungssystemen, mit einem starken Mittelstand, mit Zukunftstechnologien. Ich glaube, das ist eine gute Basis für die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Wir sind ein verlässlicher Partner und ein Partner, der mit Selbstbewusstsein diese Beziehungen pflegt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Beyer. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die transatlantischen Beziehungen waren in der Vergangenheit nie wirklich ein Selbstläufer. Zwischen Kennedy einerseits und Adenauer andererseits herrschte seinerzeit Misstrauen, zwischen Schmidt und Carter Funkstille. Die Welt hatte damals klarere Strukturen als heute; Freund und Feind waren klar definiert. Das ist Teil unserer gemeinsamen transatlantischen Geschichte. Es bedarf einer westlichen Selbstbehauptung. Europa hat dabei zu begreifen, dass unser Einfluss nicht am Nordrand des Mittelmeeres endet, sondern am Südrand der Sahara. Wir Deutsche scheuen uns vor geografischen Debatten, weil da Großräumigkeit mitschwingt, gewissermaßen der Wiener Kongress. Europa und Amerika müssen mehr kooperieren. - Das sind richtige Worte; aber sie stammen nicht von mir. Sie stammen von einem geschätzten Kollegen des Hauses, von Hans-Ulrich Klose, den wir zu Recht mit der Ehrenbezeichnung „Atlantiker“ titulieren. Damit reiht sich Hans-Ulrich Klose in eine Reihe von großen Persönlichkeiten ein, die sich in besonderem Maße um die transatlantischen Beziehungen verdient gemacht haben. Ich nenne einen Namen: Gerhard Schröder. Nein, nicht der Gerhard Schröder der SPD, sondern der CDU-Politiker. Er war Innenminister, Außenminister und Verteidigungsminister dieser Bundesrepublik. Ich freue mich, dass ich heute den Wahlkreis, den er damals im Deutschen Bundestag vertreten hat, vertreten darf. Der Kollege Klose schlägt mit seinen Worten einen ganz ähnlichen Ton an wie der ehemalige deutsche Botschafter in den Vereinigten Staaten Wolfgang Ischinger, der vor wenigen Tagen in der Zeitung Folgendes gesagt hat: Wir sind strategischer Partner, wahrscheinlich der einzige wirkliche Partner der USA. Auf wen sonst sollte man sich stützen bei internationalen Krisen und globalen Fragen, wenn nicht auf uns Europäer? - Ja, es ist richtig, wir brauchen eine Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit, und zwar mit einer gemeinsamen strategischen Politik. Das meine ich nicht nur in Bezug auf Asien, insbesondere auf China, sondern auch in Bezug auf die Herausforderungen in anderen Feldern. Ich nenne beispielsweise den Nahen Osten, ich nenne Syrien, ich nenne die Fortführung der Rüstungskontrolle. Ich nenne den Iran als Politikfeld. Ich nenne den Zugang zu Rohstoffen und eine gemeinsam abgestimmte Afrika-Politik als Beispiele weiterer möglicher Handlungsfelder im transatlantischen Bereich. Mit der Wiederwahl Barack Obamas als Präsident der Vereinigten Staaten stehen die Zeichen klar auf Kontinuität. Das heißt sicherlich nicht - dies trage ich mit großer Überzeugung vor -, dass in Washington auf eine globale Machtverschiebung gesetzt wird, also weg vom Atlantik hin zum Pazifik. Nein, es geht um - wir haben es schon mehrfach gehört - eine Ausbalancierung des Verhältnisses. Es ist im beiderseitigen Interesse, im europäischen wie im amerikanischen, hier einen Gleichklang zu finden. Nie standen die Zeichen günstiger als heute für Europa, sich als verlässlicher Partner zu beweisen und eben nicht nur als Verwerter amerikanischer Sicherheitsgarantien zu agieren. Es bietet sich aber auch - ich möchte sagen: vor allem - die Aussicht auf eine transatlantische Wirtschaftsinitiative, von der wir hier schon mehrfach gehört haben. Hierfür haben wir als Union seit längerem mit sehr großer Intensität geworben. Wir waren es, die im Mai dieses Jahres einen hochkarätig besetzten internationalen Kongress hier im Hause veranstaltet haben und damit anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Transatlantischen Wirtschaftsrats den Diskurs mit einer neuen Dynamik bewegt haben. ({0}) Ich freue mich, dass allen Unkenrufen zum Trotz - ich nenne das Unwort vom angeblichen Continental Drift - die Bemühungen für die Idee einer umfassenden transatlantischen Wirtschaftszone Unterstützung auf allerhöchster politischer Ebene erfahren. Die Weiterentwicklung der transatlantischen Wirtschaftsintegration verspricht den Wachstums- und Jobmotor in Europa und in den USA weiter zu befeuern. Es gibt Probleme, insbesondere im Bereich der nichttarifären Hemmnisse und bei den unterschiedlichen Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei Gütern, bei Dienstleistungen, beim Handel, bei Innovationen und Investitionen. Dies verursacht jedes Jahr beidseits des Atlantiks, in Europa wie in den USA, Kosten in mehrfacher Milliardenhöhe, die völlig unnötig sind. Die Verhandlungen zwischen der EU und Kanada über die Errichtung einer Freihandelszone sollen bis zum Ende des Jahres erfolgreich abgeschlossen werden. Diese könnte als Blaupause für eine transatlantische Freihandelszone dienen. Die Schwierigkeiten, die es hier noch zu überwinden gilt, müssen wir anpacken, damit es für eine Befeuerung des Wachstumsmotors eine Perspektive gibt. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss: Die transatlantischen Beziehungen waren, wie ich eingangs erwähnte, nie wirklich ein Selbstläufer. Aber nie war die Ausgangssituation für eine gleichwertige Partnerschaft, für eine Partnerschaft auf Augenhöhe, so günstig wie heute. Nutzen wir sie für eine gemeinsame globale Strategie eines geschlossenen Westens im Wandel der Welt! Ich danke Ihnen. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für eine Neubelebung und Stärkung der transatlantischen Beziehungen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf DruckVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt sache 17/10169, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9728 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Für die Beschlussempfehlung haben die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke gestimmt, dagegen die SPD-Fraktion; Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur ({1}) auf Grundlage der Resolution 1769 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2063 ({3}) vom 31. Juli 2012 - Drucksachen 17/11036, 17/11389 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Heidemarie Wieczorek-Zeul Jan van Aken Kerstin Müller ({4}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/11398 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort hat für die FDP-Fraktion der Kollege Joachim Spatz. ({6})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in diesem Jahr im sechsten Jahr des Hybrideinsatzes in Darfur, bei dem die Vereinten Nationen zusammen mit der Afrikanischen Union im Westen des Sudan für Sicherheit sorgen. Die Lage ist nach wie vor fragil. Nach wie vor müssen wir den Schutz der Zivilbevölkerung mit militärischer Präsenz garantieren. Nach wie vor müssen wir den Zugang für humanitäre Hilfe mit militärischer Präsenz sicherstellen. Daher beantragt die Bundesregierung, diesen Einsatz zu verlängern. Die Lage ist, wie ich sagte, nach wie vor fragil; die politischen Fragen sind noch immer ungelöst. Es muss unseren Soldatinnen und Soldaten möglich sein, zum eigenen Schutz Waffen einzusetzen. Deshalb braucht es für diesen Einsatz ein robustes Mandat gemäß Kapitel VII der UN-Charta. Wir beteiligen uns an diesem Einsatz mit einem relativ bescheidenen Kontingent von zurzeit zehn Soldatinnen und Soldaten und vier Polizeibeamten, ausgehend von einer Obergrenze von 50 Soldaten und 15 Polizisten. Man ist vor allem in Stäben unterwegs und nicht direkt in Kampfhandlungen eingebunden. Trotzdem ist es ein wichtiger Einsatz. Die Kompetenzen unserer Soldaten im Hinblick auf Logistik, Ausbildung, Personal und die Bereitstellung von Geoinformationen sind geschätzt, wenn es darum geht, die Truppen anderer Truppensteller entsprechend zu befähigen. Wir sind bei diesem Einsatz auch präsent, um ein Umfeld zu schaffen, in dem die Ergebnisse des DohaAbkommens umgesetzt werden können. Mit einzelnen Rebellengruppen - leider nicht mit allen - gibt es bereits Vereinbarungen. Es geht auch darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Initiativen wie die von Thabo Mbeki, der mit anderen Rebellengruppen spricht, umgesetzt werden können. All das braucht Zeit. Um dieses Window of Opportunity offen zu halten, ist leider militärische Präsenz notwendig. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit zwei überragende Themen ansprechen. Das erste Thema. Neben der Notwendigkeit der militärischen Präsenz ist die nach wie vor existierende Uneinsichtigkeit der Regierung in Khartoum bezüglich eines wesentlichen Faktors zu erwähnen, dass nämlich die Regierung in Khartoum nach wie vor nicht bereit ist, die peripheren Regionen des Sudan, sei es Darfur, sei es Südkordofan, sei es die Region Blauer Nil, und die Bevölkerungen, die dort leben, wirklich ehrlich an der Macht und am Reichtum des Landes teilhaben zu lassen. Solange diese Einsicht nicht vorhanden ist, werden die Probleme im Grunde nicht gelöst sein. Man setzt Gewalt ein - nicht nur in Darfur -, bombardiert Dörfer, zum Beispiel in der Region Blauer Nil, und löst Flüchtlingsbewegungen in Richtung Süden des neu gegründeten, auch fragilen Südsudan in der Größenordnung von über 100 000 Menschen aus. Solange man eine solche Politik macht, ist man letztendlich nicht friedensfähig. Trotzdem setzt die Weltgemeinschaft auch hier auf Verhandlungen. Sie ist aber eben gezwungen, auch militärisch präsent zu sein. Das zweite überwölbende Thema ist, dass wir nicht nur im Sinne der Unterstützung der UNAMID-Mission tätig sind, sondern unser Engagement bei dem Kofi Annan International Peacekeeping Training Centre, das wir in Ghana unterhalten, führt dazu, dass eben auch Polizeibeamte aus Afrika, zum Beispiel aus Sierra Leone, trainiert werden, um dann in Darfur eingesetzt zu werden. Das alles ist ein Teil unserer Unterstützung für den Aufbau eigenständiger Friedens- und Sicherheitsstruktu24764 ren und einer eigenständigen Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Afrika. Ich denke, es muss insgesamt unser Ziel sein, dass wir die Afrikaner selbst Stück für Stück befähigen, in ihrer jeweiligen Region, ob das Ostafrika oder die Region ECOWAS ist, die ja jetzt leider an anderer Stelle Bedeutung und Berühmtheit erlangt hat, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Es muss eine Kombination entstehen: Zwar mit unserer Hilfe, aber doch unter Beachtung der African Ownership - es geht um das große und wichtige Stichwort Eigenverantwortung - müssen sie in der Lage sein, ihre eigenen Dinge zu regeln. ({0}) Das unterstützt die Bundesregierung seit Jahren. In diesem Gesamtbild aller Herausforderungen ist diese Mission ein Baustein. Deswegen werbe ich um die Zustimmung dieses Hauses für eine Verlängerung der UNAMID-Mission. Danke schön. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 15. November 2007 hat der Deutsche Bundestag zum ersten Mal die Beteiligung an der von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union gestellten Friedenstruppe für Darfur, also im Sudan, bewilligt. Deutschland entsendet seitdem Soldaten und Polizisten in die Krisenregion im Westsudan. Nun liegt der Antrag der Bundesregierung vor, die Beteiligung an der Operation UNAMID bis zum 31. Dezember 2013 zu verlängern, natürlich nur, sofern ein Mandat des UN-Sicherheitsrates vorliegt. Die SPD ist und bleibt ein zuverlässiger außen- und verteidigungspolitischer Partner. Das gilt gegenüber der Bundesregierung, vor allem jedoch gegenüber den Truppen und Kräften, die ihren Dienst in den verschiedenen Einsatzgebieten verrichten. Stellvertretend für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich heute den Soldatinnen und Soldaten sowie den weiteren Beteiligten an UNAMID unseren Dank aussprechen. ({0}) Ihre Arbeit dort ist wichtig und wird hoch geachtet. Sie tragen dazu bei, diese krisengeschüttelte Region langfristig sicherer zu machen und eine noch größere humanitäre Katastrophe zu verhindern. Ich denke, das verdient unser aller Respekt und Dank. Die SPD weiß um die internationale Verantwortung Deutschlands und hat friedenbringende Einsätze stets unterstützt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Meine Damen und Herren, die Bundeswehr und die weiteren Einsatzkräfte nehmen bei UNAMID unsere Verantwortung in der internationalen Staatengemeinschaft wahr. Sie nehmen die Verantwortung gegenüber den Menschen in Not wahr, gegenüber den Parteien, die den Frieden wollen, und natürlich auch gegenüber unseren Bündnispartnern. Sie agieren verantwortungsvoll, konsequent und - ich denke, man kann dies sagen - mit höchster Professionalität. Wir möchten, dass dies in der Krisenregion Darfur auch im Jahr 2013 so bleibt. Kernauftrag von UNAMID ist und bleibt der Schutz der Zivilbevölkerung. Zusätzlich flankiert UNAMID das humanitäre Engagement vor Ort, unterstützt und achtet auf die Einhaltung von vertraglichen Übereinkünften, achtet auf die Einhaltung von Menschenrechten. UNAMID leistet auch Unterstützung für die DarfurFriedensabkommen vom Mai 2006 und Juli 2011. Die UN und damit auch die Bundesrepublik Deutschland sind Partner der Afrikanischen Union bei der Umsetzung und bei der Einhaltung dieses schwierigen Prozesses. Ziel sind ein friedliches Darfur und Frieden in Sudan. Was tun wir ganz konkret? Zugegeben, unser eigener Beitrag - das ist schon erwähnt worden - ist nur eine kleine Truppe, die überwiegend in Städten tätig ist. Zum Beispiel tragen über 200 Patrouillen im Durchschnitt täglich zu einem besseren Sicherheitsgefühl bei. Deutsche Polizisten stehen in Ghana ihren afrikanischen Kollegen bei der polizeilichen Ausbildung zur Seite. Der UNAMID-Einsatzblock der Bundeswehr bestätigt, dass das deutsche Engagement in der Mission sehr positiv aufgenommen wird, auch wenn die DarfurRegion im Westen des Sudan noch ein gutes Stück weit weg ist vom Frieden. UNAMID zeigt Wirkung. Der Weg ist richtig, und wir müssen ihn gemeinsam mit unseren beteiligten Partnern weitergehen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Pläne und Ideen entstehen immer nur in einer angstfreien Umgebung. Der Kaufmann, der seine Waren zum Markt bringt, die Köchin, die in der Straße ihre Speisen anbietet, oder die Kinder, die gemeinsam spielen wollen, sie alle haben ihre Träume, wollen arbeiten und sind voller Energie, alles in die Tat umzusetzen. Mehr Sicherheit bedeutet, die Kraft und den positiven Willen der Menschen in Darfur für Gutes einsetzen zu können. Im Frieden kann man gestalten, Krieg und Angst ersticken Hoffnung und Tatendrang. Die Region Darfur braucht den Frieden und die positive Kraft der dort lebenden Menschen dringend. Mit UNAMID wollen wir dabei helfen, diese Kräfte und Energie freizusetzen. Auch aus diesem Grund müssen wir weiterhin in Darfur präsent sein. Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede am 25. Oktober 2012 in diesem Haus bereits die schlimmen Zahlen genannt: über 300 000 Tote zwischen 2003 und 2008, 2,5 Millionen Vertriebene und - so darf ich ergänzen - weitere 2 Millionen auf Hilfe angewiesene Menschen. Diese Zahlen sind Warnung, den Konflikt nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Der Minister sagte bei gleicher Gelegenheit: Der Darfur-Konflikt ist eine der furchtbarsten Katastrophen des letzten Jahrzehnts. Und: Der Konflikt hat den Sudan weiter destabilisiert, und er hat sich zeitweise auch auf die Nachbarländer, Tschad und die Zentralafrikanische Republik, ausgeweitet. Das ist ein Statement, das uns in unserer Meinung zusätzlich unterstützt, dass eine konsequente Erfüllung des Mandats notwendig und eine gute Strategie ist. Die Bundestagsfraktion der SPD unterstützt deshalb das Mandat mit Dank an die Frauen und Männer in Darfur, die dort eine hervorragende Arbeit unter oftmals schwierigen Bedingungen leisten. Wir tun das in der Überzeugung, dass man in der internationalen Staatengemeinschaft auf die Bundesrepublik Deutschland als verlässlichen starken Partner zählen kann. Diese Mission ist ein ausgezeichnetes Beispiel, wie das Konzept der vernetzten Sicherheit auch in einem Einsatz unter dem Dach der UN funktionieren und Gutes bewirken kann. Daran wollen wir konsequent weiterarbeiten. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Johannes Selle hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann nahtlos an Kollegin Evers-Meyer anschließen: Der Darfur-Konflikt gehört zu den furchtbarsten aktuellen Katastrophen. Zwischen 2003 und 2008 verloren Hunderttausende Menschen ihr Leben, und 2,5 Millionen Menschen wurden vertrieben. 2007 wurde das UN-Mandat für UNAMID beschlossen. Aufgabe ist im Wesentlichen, die Bewegungsfreiheit der Helfer zu sichern, die Bevölkerung zu schützen und ein Friedensabkommen zu begleiten. Mit dieser Mission, die wesentlich auf den Schultern der Afrikanischen Union ruht, konnte der Konflikt seit 2008 eingedämmt werden. Die Mission ist immer noch mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, aber die Gewalt ist zurückgegangen. Flüchtlinge kehren teilweise wieder in ihre Heimat zurück. Einheimische haben jetzt ein politisches Mitspracherecht in der regionalen Verwaltung, der „Darfur Regional Authority“. Die Basis dafür wurde im Doha-Friedensabkommen von 2011 gelegt, leider nur mit einer Rebellengruppe, der „Liberation and Justice Movement“. Die Rebellengruppe „Justice and Equality Movement“, die bisher als die militärisch stärkste galt, hat sich nach dem Tod ihres Führers Khalil Ibrahim gespalten. Teile der JEM wollen jetzt mit der Regierung verhandeln, andere haben sich mit der SPLM-Nord zur „Sudan Revolutionary Front“ zusammengeschlossen und wollen die Regierung in Khartoum stürzen. Der brüchige Zusammenschluss von Rebellenorganisationen zur „United Resistance Front“ sorgt für zusätzliche Unruhe in der Region. Die Rückzugsgebiete im Tschad dienen immer wieder dazu, Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu starten. Auch UNAMID selbst ist immer wieder das Ziel von Angriffen. Das zeigt, wie komplex die Zusammenhänge im Sudan insgesamt sind und dass sie als Ganzes betrachtet werden müssen. Erschreckende Berichte erreichen uns in den letzten Tagen. Einige deutsche Hilfsorganisationen beklagen sich darüber, dass ihre Mitarbeiter keinerlei Reisegenehmigungen von der Zentralregierung für Projektbesuche erhalten. Die Sicherheitslage habe sich wieder verschlechtert. Projektbesuche in Krankenstationen und Kliniken in Norddarfur stellen ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Immer wieder flammen Kämpfe zwischen Rebellengruppen oder zwischen Rebellen und der sudanesischen Regierung auf. UNAMID bleibt daher bis auf weiteres als stabilisierendes Element unverzichtbar. Die Sicherheitslage in Darfur kann sich nur durch UNAMID verbessern. Uns ist es ein großes Anliegen, dass die Afrikanische Union in die Friedenssicherung einbezogen wird. Die Afrikanische Union selbst ist sich der Verantwortung bewusst, die sie gerade in solchen Konflikten übernehmen muss. Dazu begrüße ich insbesondere den Beitrag der Bundesregierung für die Ausbildung afrikanischer Staaten und Polizisten im Kofi-Annan-Training-Center in Accra. Ich war Ende August dieses Jahres in Khartoum. Dort traf ich zusammen mit dem Kollegen Rebmann den verantwortlichen Staatsminister der Zentralregierung für Darfur, Ghazi al-Attabani, Chef der Regierungspartei NCP. Unmissverständlich machten wir deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung in Darfur in erster Linie der sudanesischen Zentralregierung obliegt. Al-Attabani räumte Versäumnisse ein. Bislang hat Khartum keine größeren Investitionen in Darfur getätigt oder nationale Entwicklungsprogramme aufgelegt, die die Darfur-Provinz stärker an die Zentralregierung binden würden. Für die nähere Entwicklung favorisiert der Staatsminister landwirtschaftliche Projekte und die Schaffung von lokalen Serviceeinrichtungen. Uns gegenüber jedenfalls signalisierte er Kooperationsbereitschaft in den Fragen: Was kann getan werden, um der Krise Herr zu werden? Wie kann die rohstoffreiche Region befriedet und entwickelt werden? Man benö24766 tige für Darfur einen Strategieplan sowie Investitionen in die Landwirtschaft. Hier sollte sich Deutschland einbringen. Deshalb ist eine deutsche Beteiligung an der Verlängerung des UNAMID-Einsatzes wichtig. Mein Eindruck ist: Die Bevölkerung hat die gewaltsamen Machtkämpfe satt. Die Menschen sehnen sich nach Mitsprache und Entwicklung. Ich wünsche mir, dass sich Deutschland aktiv am Wiederaufbau in Darfur beteiligt. Katar plant im Dezember eine Konferenz zum Wiederaufbau in Darfur. Das ist die Gelegenheit. Aber ohne Sicherheit gibt es keinen Wiederaufbau. UNAMID wurde von den Vereinten Nationen bereits verlängert. Damit ist diese Mission nicht gescheitert, auch wenn noch viel zu tun bleibt. Deutschland ist der einzig verbliebene NATO-Partner mit momentan 14 Personen. Deutschland stärkt afrikanische Peacekeeping-Fähigkeiten vor allem durch den Einsatz deutscher Soldaten und Polizisten vor Ort. „Das Ausmaß, in dem unsere Anwesenheit wahrgenommen wird, ist nicht nur überraschend; es zeigt uns auch, dass das deutsche Engagement in der Mission sehr positiv aufgenommen wird“, berichtet ein Stabshauptmann aus Potsdam über die Mission. „Meine Aufgabe besteht im Aufbau der Geländeanalysefähigkeit. Diese auftragsbezogene individuelle Analysekompetenz bewertet alle räumlichen Einflussfaktoren für die operative Entscheidungsfindung und gehört zu den entscheidenden Leistungen einer geostrategischen Beratungsstelle. Diese Fähigkeit fehlt derzeit in UNAMID. In Absprache mit dem Chief entwerfe ich mit meinen Mitarbeitern daher ein Konzept für ein Team ‚Geländeanalyse‘, um so den operativen Bereich unterstützen zu können“, so der Stabshauptmann aus Potsdam weiter. Ich möchte dem Stabshauptmann zusammen mit allen Soldaten und Polizisten, die dort unter schwierigen Bedingungen ihren Dienst leisten, Dank und Anerkennung aussprechen. Im letzten Jahr wurde dieses Mandat für die deutsche Beteiligung an UNAMID von allen Fraktionen in großer Geschlossenheit getragen. Die Mission hat - so meine ich - diese Geschlossenheit verdient. Ganz sicher haben die Menschen in Darfur sowie unsere Bundeswehr- und Polizeikräfte diese Geschlossenheit verdient. Deshalb werbe ich um Ihre Zustimmung. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kathrin Vogler hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute wollen Sie das Bundeswehrmandat für die gemeinsame Mission der Afrikanischen Union und der Vereinten Nation in Darfur, kurz UNAMID, zum fünften Mal verlängern. Diese Mission wurde vom UNSicherheitsrat im Jahr 2007 beschlossen, um das damalige Friedensabkommen zwischen der sudanesischen Armee und verschiedenen Rebellentruppen zu unterstützen. Inzwischen gibt es seit 2011 ein neues Friedensabkommen. Aber auch dieses hat denselben Geburtsfehler wie alle vorangegangenen; denn es bezieht nicht alle Milizen ein, die in Darfur gegeneinander kämpfen. Die JEM als stärkste Rebellenarmee hat es scharf kritisiert. Auch die SLA ist nicht beteiligt. Ich sage Ihnen: UNAMID kann keine friedenssichernde Rolle spielen, weil es schlicht keinen Frieden in Darfur gibt, den man sichern könnte. ({0}) Das Bomben und das Schießen geht weiter. Das neue Abkommen birgt sogar die Gefahr neuer Eskalation und neuer Konfliktlinien, weil es die Gründung zweier neuer Bundesstaaten vorsieht, die die Spaltung entlang der ethnischen Grenzen vertiefen. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint. - Das trifft leider auch auf UNAMID zu: bestenfalls gut gemeint, aber ganz sicher nicht hilfreich für den komplizierten Friedensprozess im Sudan und zwischen den beiden sudanesischen Staaten. Deswegen sagen wir als Linke ganz klar Nein zu dieser Mandatsverlängerung. ({1}) UNAMID ist eine der größten und teuersten UN-Militärmissionen. Sie zeitigt trotzdem keine wirklichen Erfolge. Warum? Es ist eine Mission Impossible; denn UNAMID soll ein Friedensabkommen umsetzen, das selbst von der Bundesregierung unumwunden als gescheitert bezeichnet wird. UNAMID soll Zivilisten schützen. Doch die Zahl der Toten, der Verletzten und der Vertriebenen steigt gerade jetzt, wo wir debattieren, wieder an. Tatsächlich verteilt UNAMID Hilfsgüter. Aber das ist definitiv keine militärische Aufgabe. Verteilen darf UNAMID übrigens nur dort, wo es die sudanesische Regierung erlaubt. Mit dem Grundsatz, dass humanitäre Hilfe neutral und unabhängig sein muss, dass sie nach Bedürftigkeit und nicht nach Wohlverhalten gewährt wird, hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({2}) Dadurch macht sich die Mission zum Spielball der Konfliktparteien, die die Bevölkerung für ihre militärischen Ziele in Geiselhaft nehmen. UNAMID ist noch nicht einmal in der Lage, zu verhindern, dass unablässig neue Waffen nach Darfur strömen. UNAMID ist einfach ein gescheiterter Einsatz. Anstatt ihn zu verlängern, sollten Sie die deutsche Beteiligung hier und heute beenden. ({3}) Sie werden jetzt sagen: Aber man muss doch etwas tun. - Ja, da haben Sie völlig recht. Man muss auch etwas tun. Aber irgendetwas tun heißt nicht, das Richtige zu tun. ({4}) Richtig wäre, alles zu tun, damit die Regierungen des Sudan, des Südsudan und des Tschad an einen Tisch kommen und vereinbaren, dauerhaft keine Milizen in den Nachbarländern mehr zu unterstützen. ({5}) Dafür müssten die Konflikte um Grenzen und Rohstoffe zwischen den beiden sudanesischen Staaten endlich geklärt werden. Und wir sollten alles dafür tun, jungen Menschen in diesen Ländern eine Perspektive zu geben; denn wer eine Zukunft zu verteidigen hat, ist nicht mehr so anfällig für die Anwerbeversuche von gewaltbereiten Gruppen. Wir sollten natürlich endlich aufhören, überall hin Waffen zu exportieren; denn mit Waffen schafft man keinen Frieden. ({6}) Haben Sie endlich den Mut zu neuen Ideen, anstatt einen wirklich gescheiterten Einsatz nur deshalb fortzusetzen, weil Ihnen nichts Besseres einfällt. Ich danke Ihnen. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Agnes Brugger hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach einem viele Jahre andauernden bewaffneten Konflikt ist der Weg zum Frieden immer dornig und steinig. Eine Friedensmission in einem solchen Konflikt erlebt im Laufe ihres Einsatzes immer wieder Licht und Schatten, auch wenn sie im Grunde den richtigen Ansatz verfolgt. Die Situation in Darfur ist nach wie vor dramatisch. Millionen Menschen sind weiter tagtäglich mit Gewalt konfrontiert, und auch die humanitäre Lage ist katastrophal. Im Sudan ist rund ein Fünftel der UN-Kräfte stationiert; dennoch gelingt der Schutz der Zivilbevölkerung nur bedingt. Sicherlich, es ist schwer zu ertragen, dass unter den Augen der UN-Friedenskräfte immer noch Gewalt und Vertreibung stattfinden. Aber man muss sich doch die Frage stellen, wie die Situation ohne die UNAMIDMission aussehen würde. ({0}) Das Ausmaß der Gewalt wäre ohne die Blauhelme noch wesentlich höher. Ohne UNAMID wäre auch die dringend benötigte humanitäre Hilfe in Darfur vollends unmöglich. Deshalb werden wir Grüne dieser Mission, wie in den letzten Jahren auch, wieder zustimmen. ({1}) Eines der grundsätzlichen Probleme für UNAMID bleibt die Regierung des Sudan. Das liegt nicht nur an der brutalen und düsteren Geschichte der Regierungsmitglieder. Nach wie vor wendet die sudanesische Führung Gewalt gegen die eigene Bevölkerung an. Sie unterstützt auch Milizen, die mit äußerster Brutalität gegen Zivilisten und Zivilistinnen vorgehen. Gleichzeitig behindert sie die Arbeit von Hilfsorganisationen und UNAMID. Wenn man den Konflikt ganz grundsätzlich betrachtet, dann stellt man fest: Nach wie vor profitieren zu viele Akteure im Sudan von der Ökonomie des Krieges, die in diesem so viele Jahre andauernden Konflikt verfestigt wurde. Gleichzeitig werden Ressourcen wie Weideland und Wasser immer knapper, auch aufgrund des Klimawandels in der Region. Hinter dieser Gewalt - auch das muss man betrachten - stehen Fragen um Mitbestimmungsmöglichkeiten, von kulturellen Identitäten und Konflikten um die Verteilung von Ressourcen. Für diese Fragen muss eine politische Lösung gefunden werden. ({2}) Das im März auf den Weg gebrachte Doha-Dokument, das mögliche Schritte für den Frieden in Darfur aufzeigt, ist ein Hoffnungsschimmer. Aber noch ist das Dokument nicht von allen Rebellengruppen unterzeichnet. Noch steht seine Umsetzung aus. Aber es wäre falsch, die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft in Darfur aufzugeben. Die Menschen in Darfur tun dies auch nicht. Über UNAMID hinaus brauchen wir weitere Anstrengungen für den Frieden. Der fortdauernde Konflikt wird nach wie vor auch von außen angeheizt. Am Beginn dieses Jahres hat Amnesty International ausführlich über die nicht abreißenden Waffenlieferungen von Russland und China an den Sudan berichtet. Die Waffen finden ihren Weg auch nach Darfur. Sie werden dort auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet. Diese Waffenlieferungen sind nicht hinnehmbar. Deshalb müssen die Sanktionen gegen den Sudan effektiv umgesetzt werden. ({3}) Es gilt auch ganz grundsätzlich: Rüstungsexporte in Krisenregionen sind und bleiben eine Gefahr für den Frieden überall auf dieser Welt. ({4}) Trotzdem sind die Verhandlungen über die weltweite Begrenzung des Waffenhandels durch den Arms Trade Treaty im Sommer dieses Jahres leider ergebnislos verlaufen. Ich finde, wir müssen aus Konflikten wie in Darfur auch für die Zukunft Lehren ziehen, zum Beispiel gerade auch in Bezug auf die ungebremste Verbreitung von Kleinwaffen, die in solchen Krisenregionen verheerende Auswirkungen hat. Wir dürfen uns auch nichts vormachen: Der Weg zum Frieden in Darfur wird auch weiterhin noch lang und steinig sein. Leider stellen wir auch fest, dass dieser Konflikt aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten ist. Auch wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier stehen hier in der Verantwortung, den Blick der Öffentlichkeit auf die Situation der Menschen in Krisenregionen zu lenken. Das sollten wir nicht nur dann tun, wenn wir diese Mandate im Bundestag debattieren. An dieser Stelle möchte ich den deutschen und internationalen Friedenskräften der UNAMID-Mission, den Zivilen und den Soldatinnen und Soldaten, den Hilfsorganisationen im Land und den Menschen im Sudan, die trotz der anhaltenden Gewalt für eine friedliche Zukunft streiten, ganz herzlich danken. ({5}) Ich finde, ihr Engagement muss uns auch weiterhin eine Verpflichtung sein. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Reinhard Brandl hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Konflikt in Darfur droht schleichend in Vergessenheit zu geraten. Deswegen ist es gut, dass wir ihn in diesem Hohen Hause immer wieder zum Thema machen. Die humanitäre Lage dort ist weiterhin verheerend. 1,7 Millionen Menschen sind dort immer noch auf Nothilfe angewiesen. Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Monaten vor allem im Norden von Darfur noch weiter verschlechtert. Die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung haben zugenommen. Selbst auf Angehörige von UNAMID sowie auf Angehörige von zivilen Hilfsorganisationen werden Attacken verübt. Allein im Oktober kamen fünf Soldaten von UNAMID ums Leben. Ein Großteil dieser Attacken wird Milizen zur Last gelegt, die die Regierung in Khartoum unterstützen. Nach Angaben von UNAMID wurde trotz anderslautender Ankündigungen der Regierung bis heute niemand wegen der Morde an den Blauhelmen der sudanesischen Justiz vorgeführt. Das ist nicht akzeptabel, meine Damen und Herren. ({0}) Es passt aber in das Bild, das wir auch sonst von dieser Regierung haben. Immer wieder gibt es Schwierigkeiten: Visa werden nicht erteilt; Transportgenehmigungen für Hilfsgüter werden oft monatelang verzögert, und - der Kollege Selle hat es angesprochen - die Bewegungsfreiheit der Mission wird immer wieder eingeschränkt. Angesichts dieser Situation kann man sich natürlich fragen: Warum machen wir das überhaupt? ({1}) Die Kollegin Brugger hat die Antwort gerade gegeben: weil ohne UNAMID die Situation noch viel dramatischer wäre. Das gilt sowohl für die humanitäre Situation und die allgemeine Sicherheitslage als auch für den Schutz der Zivilbevölkerung. ({2}) Dazu kommt, dass wir mit unseren Beiträgen zu UNAMID, sei es finanziell oder personell, die Afrikanische Union dabei unterstützen, ihre Peacekeeping-Fähigkeiten weiter aufzubauen, damit sie auch selber in der Lage ist, für Sicherheit auf ihrem Kontinent zu sorgen. Die Afrikanische Union - auch das dürfen wir nicht vergessen - trägt die Hauptlast bei diesem Einsatz. Um einen Eindruck von der Größenordnung zu geben: Insgesamt umfasst UNAMID 21 000 uniformierte Soldaten und Polizisten. Wir Deutschen stellen derzeit vier Polizisten und zehn Soldaten. Das ist ein symbolischer Beitrag, aber es ist wichtig, dass wir ihn leisten und die Afrikanische Union in dieser Situation nicht alleinlassen. ({3}) Meine Damen und Herren, es ist auch nicht so, dass es gar keine Fortschritte gäbe. Am 22. Oktober hat die Regierung mit der Rebellengruppe Justice and Equality Movement ein Abkommen unterzeichnet, in dem sie sich zu dem gemeinsamen Ziel bekennen, die Gewalt in Darfur zu beenden. Sowohl die Gruppe als auch die Regierung haben angekündigt, auf Basis des Doha-Dokumentes weitere Verhandlungen zu führen. Damit hat sich nun bereits die zweite Rebellengruppe diesem Dokument angeschlossen. Die Umsetzung des darin skizzierten Friedensprozesses geht nur langsam voran; aber immerhin geht sie voran. Natürlich macht es die wirtschaftliche Situation für die Regierung in Khartoum schwierig - man muss die Situation im Sudan insgesamt sehen -, die nötigen Ressourcen dort zu allokieren. Aber, meine Damen und Herren, die Regierung in Khartoum kann mehr tun für Darfur, und sie muss mehr tun für Darfur. ({4}) Mehr Einsatz von Khartoum wäre auch ein Signal an die Gruppen, die sich dem Doha-Dokument noch nicht angeschlossen haben, und es wäre auch ein Zeichen, dass die Regierung es mit dem Friedensprozess ernst meint. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Fraktion wird diesem Mandat zustimmen. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei denjenigen Soldaten und Polizisten bedanken, die dieses Mandat für uns ausführen. ({5}) - Dieser Applaus ist sehr angebracht; denn diese Männer und Frauen leisten eine bewundernswerte Arbeit unter härtesten Bedingungen. Sie sind hervorragende Botschafter unseres Landes, und wir können stolz auf sie sein. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili- gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN- Hybrid-Operation in Darfur, UNAMID. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 17/11389, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 17/11036 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe- nen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Ab- stimmungsurnen besetzt? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über die Beschluss- empfehlung. Ich stelle die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses abgestimmt? - Das ist offensicht- lich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Zu- satzpunkte 5 a und 5 b, die Tagesordnungspunkte 46 c bis 46 e sowie den Zusatzpunkt 6 auf: ZP 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Oppermann, Christian Lange ({0}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz bei Nebeneinkünften herstellen durch Veröffentlichungspflicht auf Euro und Cent - Drucksache 17/11331 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Oppermann, Christian Lange ({2}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({3}), Britta Haßelmann, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Nebentätigkeiten transparent machen - Bran- chen kennzeichnen - Drucksache 17/11332 - 46 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({4}), Britta Haßelmann, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmit- glieder - Drucksache 17/11204 - d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Transparenz und Unabhängigkeit im Bundes- tag und in der Bundesregierung - Drucksache 17/11333 - e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln - zu dem Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Parteispenden von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden verbieten - zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({6}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Partei-Sponsoring transparenter gestalten - zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({7}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Parteispenden begrenzen - Drucksachen 17/892, 17/651, 17/1169, 17/547, 17/6566 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingo Wellenreuther Dr. Stefan Ruppert Wolfgang Wieland ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD „Karenzzeit“ für ehemalige Bundesminister und Parlamentarische Staatssekretäre in An- lehnung an EU-Recht einführen - Drucksache 17/11318 -1) Ergebnis Seite 24771 C Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Über einen der Anträge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({8}) - Wir wollen die Debatte fortsetzen. Deswegen bitte ich die Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses - CDU/CSU- und FDP-Fraktion -, die privaten Gespräche deutlich zu reduzieren.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute fünf Anträge meiner Fraktion zum Thema „Mehr Transparenz in der Politik“. Wir beraten heute mit mehr öffentlicher Aufmerksamkeit als bei der ersten Lesung einiger dieser Initiativen, weil wir die Diskussion über die Transparenz der Nebentätigkeit von Abgeordneten hatten. Leider redet dieses Hohe Haus über Transparenz, ob das beim Parteiengesetz ist oder beim Status der Abgeordneten, immer nur aus aktuellem Anlass. Das ist falsch. Wir sollten hier gründlicher arbeiten. Ich hoffe, dass uns das mit der heutigen Debatte gelingt. ({0}) Transparenz ist nämlich kein Selbstzweck. Transparenz soll sicherstellen, dass nicht Interessen in illegitimer Weise auf parlamentarische und exekutive Entscheidungen Einfluss nehmen. ({1}) Dies ist für die Legitimität einer Demokratie und eines Rechtsstaats unabdingbar. Deshalb geht es bei Transparenz der Nebentätigkeit von Abgeordneten nicht um Sozialneid, nicht um Neugier, sondern es geht darum, dass der Bürger nachvollziehen kann, dass der Abgeordnete nur nach bestem Wissen und Gewissen für das Allgemeinwohl und im Sinne des Wählerauftrags handelt und nicht für subjektive wirtschaftliche Interessen seiner Auftraggeber. ({2}) Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben in den letzten Wochen die Backen aufgeblasen, weil Sie den Kanzlerkandidaten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aufs Korn nehmen wollten. ({3}) Sie haben von ihm eine Transparenz gefordert, die Sie nicht bereit sind, als Regel für alle Mitglieder des Hohen Hauses gelten zu lassen. Das ist schäbig. Das ist Heuchelei. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({4}) Wir haben heute gemeinsam mit der SPD einen Antrag eingebracht, in dem wir Transparenz auf Heller und Batzen oder auf Euro und Cent fordern. Das heißt, das, was Herr Steinbrück gemacht hat, soll in Zukunft auch für alle Mitglieder des Hauses gelten und entsprechend vom Bundestagspräsidenten veröffentlicht werden. ({5}) Ich wüsste schon gern, was die Spitzenverdiener des Hauses, außer Herrn Steinbrück, verdienen. Vielleicht erscheint manches dann in einem ganz anderen Licht. ({6}) Wir hatten auch Diskussionen nach der Veröffentlichung von Herrn Steinbrück. Diese Diskussionen sind gut, weil sie klären sollen: Ist alles korrekt? Ist das vielleicht erstaunlich viel Geld, geht aber in Ordnung? Oder: Gibt es Dinge, bei denen es Nachfragen gibt? Wir wollen endlich auch durchsetzen, was wir im Jahr 2005 schon gefordert haben, dass nämlich die Berufsgeheimnisträger - die Steuerberater, die Rechtsanwälte wenigstens die Branchen ihrer Auftraggeber veröffentlichen. ({7}) Es gab den Fall des Herrn Friedrich Merz, der als Abgeordneter die Interessen der RAG wahrgenommen hat. Dem Webauftritt des Deutschen Bundestages konnte man seine Lobbytätigkeit als Rechtsanwalt für die RAGStiftung nicht entnehmen. Ich meine, das ist nicht richtig. So etwas müssen wir sehen, müssen wir erkennen. Darauf haben die Wählerinnen und Wähler einen Anspruch. ({8}) Wir fordern auch, dass, wenn Mitglieder der Bundesregierung aus ihrem Amt ausscheiden, klar sein muss, dass die Anschlussbeschäftigung eine allein berufliche Tätigkeit ist und kein Dankeschön für Entscheidungen im Amt und kein Einkaufen von Amtswissen durch Konzerne und Wirtschaftsverbände. ({9}) Das ist gegenwärtig nicht gewährleistet. Die EU-Kommission hat damals eine solche Regelung nach dem Wechsel von Bangemann zu Telefónica eingeführt. Volker Beck ({10}) ({11}) Es ist da nämlich derjenige in ein Telekommunikationsunternehmen eingetreten, der zuvor als EU-Kommissar den Telefonmarkt in Europa reguliert hat. Solche Sachen gehen nicht. Das muss genehmigt werden. Es kann nicht einfach das versilbert werden, was man im Amt geleistet hat. ({12}) Meine Damen und Herren, wir müssen auch im Parteiengesetz mehr Transparenz schaffen. Wir wollen Spenden auf 100 000 Euro pro Jahr und pro Person begrenzen, und wir wollen, dass Sponsoringverträge öffentlich gemacht werden. Daran ist nichts Verkehrtes. Wenn es aber als Produkt der Parteizentrale Verträge gibt wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen mit Herrn Rüttgers: „Rent a MP“, dann muss das vom Bundestagspräsidenten überprüft und unterbunden werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Denn das ist eine illegitime Tätigkeit. Diese illegitimen Formen des Zusammenhangs von Geld und Politik wollen wir beseitigen. ({0}) Da ist Transparenz die beste Remedur. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der UNAMID-Mission bekanntgeben: abgegebene Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 504, mit Nein haben gestimmt 68, Enthaltungen 1. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 572; davon ja: 503 nein: 68 enthalten: 1 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Peter Beyer Steffen Bilger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser ({6}) Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Alois Karl Siegfried Kauder ({7}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({8}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({9}) Nadine Schön ({10}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({11}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Henning Otte Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({12}) Lothar Riebsamen Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({13}) Anita Schäfer ({14}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({15}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({16}) Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Dieter Stier Gero Storjohann Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({17}) Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({18}) Stefanie Vogelsang Dr. Johann Wadephul Kai Wegner Marcus Weinberg ({19}) Peter Weiß ({20}) Sabine Weiss ({21}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Lothar Binding ({22}) Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({23}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Elke Ferner Dr. Edgar Franke Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Angelika Graf ({24}) Kerstin Griese Gabriele Groneberg Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({25}) Hubertus Heil ({26}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Frank Hofmann ({27}) Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({28}) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Christine Lambrecht Christian Lange ({29}) Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({30}) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({31}) Michael Roth ({32}) Marlene Rupprecht ({33}) Annette Sawade Anton Schaaf Axel Schäfer ({34}) Bernd Scheelen ({35}) Werner Schieder ({36}) Ulla Schmidt ({37}) Carsten Schneider ({38}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({39}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({40}) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({41}) Florian Bernschneider Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Angelika Brunkhorst Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({42}) Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Pascal Kober Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({43}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Michael Link ({44}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Gabriele Molitor Jan Mücke Dr. Martin Neumann ({45}) Dirk Niebel ({46}) Cornelia Pieper Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Johannes Vogel ({47}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({48}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({49}) Volker Beck ({50}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({51}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({52}) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Kerstin Müller ({53}) Beate Müller-Gemmeke Omid Nouripour Dr. Hermann E. Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({54}) Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Daniela Wagner Arfst Wagner ({55}) Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Heike Hänsel Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({56}) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Johanna Voß Sahra Wagenknecht Harald Weinberg Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann Enthalten SPD Petra Hinz ({57}) Nun erteile ich Bernhard Kaster für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({58})

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Debattenbeginn und auch die Anzahl der Anträge, die teilweise ohne Beratung im Geschäftsordnungsausschuss abgestimmt werden sollen, zeigen, dass es heute weniger um die Sache geht als vielleicht vielmehr um die Ablenkung von anderen Sachverhalten, ({0}) von Sachverhalten nämlich, bei denen die Transparenz in den vergangenen Wochen beispielhaft funktioniert hat, und zwar von Berlin bis Bochum. Die Bürger bilden sich da ihr eigenes Urteil. So ist es ja auch gewünscht. ({1}) Wir wollen den gläsernen Abgeordneten genauso wenig wie den gläsernen Bürger. Wir brauchen aber aus guten Gründen beim Abgeordneten mehr Transparenz als bei anderen Personen. Die Bürger sollen wissen: Steht beim Abgeordneten das Mandat noch im Mittelpunkt? Sie sollen wissen: Gibt es Einkünfte, die Interessen beeinflussen könnten? Hierfür brauchen wir klare Regelungen. Wir haben zwar klare Regelungen, aber wir brauchen Erweiterungen. Lassen Sie mich sagen: Der Fall eines einzigen Kollegen, der in Stil, Art, Ausmaß und Parlamentsverständnis aus dem Rahmen fällt, darf dabei nicht alleiniger Maßstab sein. ({2}) Ich persönlich finde es sogar ungeheuerlich, dass seitens der SPD - und die Grünen beteiligen sich daran - wegen der Besonderheiten eines Einzelfalles ein Zerrbild vom ganzen Parlament gezeichnet und auch in Kauf genommen wird. ({3}) 70 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages haben neben ihrem Mandat keinerlei Nebeneinkünfte. ({4}) Es gibt eine sehr interessante und, wie ich finde, ermutigende Analyse der Parlamentszusammensetzung nach der beruflichen Herkunft. Hiernach gibt es in unserem Parlament 15,5 Prozent Selbstständige aus den Bereichen Handwerk, Gewerbe und Landwirtschaft. Es gibt 15,9 Prozent freiberuflich Tätige, also Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Apotheker und Ingenieure. Wir in der Union begrüßen diese Zusammensetzung ausdrücklich. ({5}) All diese Kolleginnen und Kollegen, die sich dazu entschieden haben, ihre eigene Berufs- und Lebensbiografie für vielleicht zwei oder drei Legislaturperioden zu unterbrechen - das ist bei über 50 Prozent der Kollegen so -, müssen doch selbstverständlich Wege finden, wie ihr Betrieb, ihr Büro oder ihre Kanzlei für eine bestimmte Zeit noch weiterlaufen können. Deswegen werden wir als Koalition keiner Regelung zustimmen, die es diesen Berufsgruppen weiter erschwert oder sogar unmöglich macht, sich um ein Bundestagsmandat zu bewerben. ({6}) Zudem: Bei den Angaben über Nebeneinkünfte handelt es sich um Bruttozuflüsse; sie sind daher oft schwer miteinander vergleichbar. Ich will an dieser Stelle auch erwähnen, dass Zuflüsse aus vielen sogenannten Nebentätigkeiten fast nie mit dem eigentlichen Arbeits-, Personal- und Zeitaufwand gleichzusetzen sind, weil es sich um Zuflüsse handelt, die aus Betrieben fließend gemeldet werden und die nur dank personeller Umorganisationen zustande gekommen sind. So sieht die Wirklichkeit bei den Nebentätigkeiten und Nebeneinkünften hier im Deutschen Bundestag aus. Von schlimmsten dunklen Interessenvermischungen - diese grundsätzliche Unterstellung hört man ja teilweise heraus - kann jedenfalls keine Rede sein. Darauf dürfen wir hier im Deutschen Bundestag auch ein wenig stolz sein. ({7}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Eine Offenlegung der Einnahmen auf Heller und Batzen, auf Euro und Cent - das klingt ja gut. Das ist aber auch schon so. Auf Euro und Cent müssen alle Einnahmen gemeldet werden. Die Veröffentlichung erfolgt in Stufen, und das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat auch gute Gründe. Ich zitiere am besten aus der Debatte zur Einführung der Stufenregelung: Wir haben dieses Stufenmodell bewusst gewählt, um allen verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung zu tragen… … Wir haben dabei - da bin ich sicher - insgesamt einen angemessenen Ausgleich zwischen dem berechtigten Interesse der Öffentlichkeit auf Offenlegung von Nebentätigkeiten und dem Schutz der individuellen Grundrechte des einzelnen Abgeordneten gefunden. So der damalige Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. ({8}) Ein gewisser Kollege namens Volker Beck bemerkte zum gleichen Thema: … wir schützen die Abgeordneten sowie ihr Lebens- und Arbeitsumfeld mit der stufenweisen Veröffentlichung. Richtig. ({9}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Aufgeregtheiten in der SPD-Fraktion bei diesem Thema mag man verstehen. Ich persönlich finde es im Übrigen bemerkenswert und interessant, mit welchen Problemen sich die Partei eines August Bebel oder Kurt Schumacher in der heutigen Zeit herumschlagen muss. ({10}) Meine Damen und Herren, was die Tonlage in der Fraktion der Grünen angeht, kann ich nur feststellen: Das ist nicht nur Tagespopulismus; ich erkenne darin auch eine gewisse Berufsferne, eine Ferne zur Lebenswirklichkeit und zu den Verhältnissen hier im deutschen Parlament. ({11}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke wir sollten bei diesem Thema wieder zur Sachlichkeit zurückfinden, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, im Interesse der Transparenz und im Interesse des ganzen deutschen Parlamentes, dieses Deutschen Bundestages. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Thomas Oppermann für die SPDFraktion. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen heute über mehr Transparenz bei Nebeneinkünften ab. ({0}) Das hat in der Tat eine Vorgeschichte, Herr Kaster, aber Sie haben nur einen kleinen Teil davon erwähnt. Auf Initiative der SPD-Fraktion wurden seinerzeit, 1972, überhaupt erst Verhaltensrichtlinien für Abgeordnete des Deutschen Bundestags eingeführt. Die nächste Stufe kam im Jahre 2002, als die SPD, dieses Mal gemeinsam mit den Grünen, dafür gesorgt hat, dass Nebentätigkeiten und die Höhe der Einkünfte dem Präsidenten gemeldet werden müssen. Die dritte Stufe kam 2005; seitdem werden die auf Euro und Cent zu meldenden Einkünfte in drei Einkommensstufen unterteilt vom Präsidenten publiziert. Sie waren in allen drei Fällen - 1972, 2002 und 2005 - gegen diese Transparenz. ({1}) Heute gehen wir einen Schritt weiter. Es ist die Ironie der Geschichte, Herr Kaster, dass Sie anders als bei den drei letzten Malen dieses Mal einen aktiven Beitrag dazu geleistet haben. ({2}) Sie haben nämlich von Peer Steinbrück die volle Transparenz gefordert: Auf Euro und Cent solle er alles auf den Tisch legen. ({3}) Wir werden bei der Abstimmung heute sehen, ob Sie das ehrlich gemeint haben oder ob Sie lediglich mit zweierlei Maß messen wollten, nach dem Motto: Von anderen fordern wir Transparenz, aber selber sind wir nicht bereit, Transparenz zu schaffen. Das wäre scheinheilig. ({4}) Aber warum überhaupt Transparenz bei Abgeordneten? Transparenz soll nicht geschaffen werden, um den Abgeordneten das Leben schwerzumachen. Vielmehr ist Transparenz notwendig, um die Unabhängigkeit der Abgeordneten zu sichern. Wer das nicht glaubt, der mag das in unserem Grundgesetz nachlesen. In Art. 48 steht: ({5}) Die Abgeordneten … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Mit anderen Worten: Damit die Abgeordneten nicht nur Vertreter von Partikularinteressen sind, sondern Vertreter des ganzen Volkes sein können, müssen sie frei und unabhängig sein. Das freie Mandat steht nicht im Grundgesetz, um die persönlichen Freiheits- und Gestaltungsspielräume individueller Abgeordneter zu erweitern. Das freie Mandat ist eine Funktionsbedingung für die parlamentarische Demokratie. Es wird gebraucht, damit unsere Demokratie funktionieren kann. In dieser Demokratie ist Interessenvertretung keineswegs illegitim. Es trägt sogar zum Gelingen der Demokratie bei, wenn unterschiedliche Interessen vertreten und am Ende zum Ausgleich gebracht werden. Legitim ist Interessenvertretung allerdings nur dann, wenn auch der materielle Kontext transparent ist. ({6}) Finanzielle Abhängigkeiten, Interessenkollisionen oder Interessenverflechtungen müssen erkennbar, müssen diskutierbar, müssen kritisierbar sein. Das ist aber nur möglich, wenn Einkünfte aus Nebentätigkeiten nicht verheimlicht, sondern auf Euro und Cent veröffentlicht werden. Wir wollen damit dokumentieren, dass die Abgeordneten das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger auch verdienen. Wir haben Ihnen jetzt vorgeschlagen, vollständige Transparenz herzustellen. Sie spüren selbst: Die Zeit dafür ist reif. Sie bewegen sich enorm. Sie schlagen plötzlich weitere Einkommensstufen bis 250 000 Euro vor. Sie haben gemerkt: Sie sind in einer selbstgestellten Falle, da müssen Sie wieder raus. Sie bewegen sich ja in die richtige Richtung, aber uns geht das nicht weit genug. Das reicht noch nicht. Es wäre heute eine gute Gelegenheit, wenn wir als Bundestag alle gemeinsam an die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes das Signal aussendeten: Wir Abgeordneten haben nichts zu verbergen. Wir rechtfertigen das Vertrauen, das die überwiegende Mehrheit der Menschen noch in diese Institution hat. Wir veröffentlichen die Einkünfte auf Euro und Cent. ({7}) Wir wollen auch eine Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder einführen. Im deutschen Recht fehlt dazu bisher jegliche Regelung; es gibt aber ein Bedürfnis für eine vernünftige Regelung. Wir wollen diese in Anlehnung an die Regeln der Europäischen Kommission machen. Danach muss sich ein Kommissionsmitglied nach dem Ende der Dienstzeit innerhalb von 18 Monaten eine berufliche Tätigkeit nach Anhörung von einer Ethikkommission genehmigen lassen. Das halte ich für eine vernünftige Regelung. ({8}) Ich möchte zusammenfassen. ({9}) Sie von der Koalition haben in den letzten Wochen großen Eifer gezeigt, als es darum ging, finanzielle Transparenz vom politischen Gegner zu fordern. ({10}) Wir kommen Ihnen heute entgegen. Wir bieten Ihnen an, das zu machen, was Sie gefordert haben. Sie müssen sich jetzt nur noch bewegen. ({11}) Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie müssen sich bei drei Sachen bewegen. Erstens. Sie verhindern seit Jahren die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung und blamieren damit die deutsche Demokratie. ({12}) Zweitens. Sie verweigern die Offenlegung und Transparenz bei Nebeneinkünften auf Euro und Cent. ({13}) Drittens. Sie blockieren die Regelung für eine angemessene Karenzzeit von ausscheidenden Regierungsmitgliedern. Ich prophezeie Ihnen: Damit werden Sie und damit können Sie nicht durchkommen. ({14}) Ihre Antitransparenz entspricht einem Demokratieverständnis von gestern. Deshalb sage ich: Begrenzen Sie den Schaden, und stimmen Sie heute unseren Anträgen zu! ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was Sie hier vorführen, ist schon einigermaßen erstaunlich. Wir befinden uns seit Wochen und Monaten gemeinsam in intensiven Beratungen, um im Konsens eine vernünftige Lösung zur Steigerung der Transparenz herzustellen. Bei der vorletzten Sitzung der Rechtsstellungskommission war die SPD nicht anwesend. Deshalb konnten wir nicht beraten. ({0}) Bei der letzten Sitzung haben die Koalitionsfraktionen einen Vorschlag zur Erweiterung der Stufenregelung vorgelegt, der weit über das hinausging, was Sie in Wirklichkeit von uns erwartet hatten. Er sah nämlich zehn Stufen bis zu 250 000 Euro und darüber vor. ({1}) Heute Morgen haben wir zusammengesessen. Alle, die hier gesprochen haben, waren dabei. Wir haben eine Liste von 17 schwierigen und teilweise sehr komplizierten Punkten, die noch zu klären sind und über die wir möglichst im Konsens entscheiden wollen. ({2}) Genau in diesem Moment machen Sie hier diese Showveranstaltung. Sie wissen doch genau, dass Sie so zu keinem Ergebnis kommen. ({3}) Das ist Handeln nach dem Motto: „Haltet den Dieb!“ Wir wollen die gerade noch einmal vorführen, bevor wir mit ihnen zusammen etwas abstimmen. ({4}) Ohne die Causa Steinbrück hätten wir die Diskussion im Moment gar nicht. Liebe Kollegen, lieber Herr Oppermann, wer anderen Wasser predigt, darf nicht selbst Wein trinken. Das geht nicht. Das ist eine doppelte Moral. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, keine Zwischenfragen. ({0}) - Herr Kollege Beck, bei jeder Sitzung der Rechtsstellungskommission muss ich mit größter Geduld Ihre Einwürfe ertragen. Erlauben Sie mir, dass ich das heute nicht will; ({1}) denn immer, wenn wir mit der SPD auf einem konsensualen Weg sind, bringen Sie wieder Vorschläge ein, die diesen Konsens vermeiden. Dafür sind Sie mittlerweile bekannt. Nein, meine Damen und Herren, wir wollen Transparenz für die Abgeordneten und deren Beziehungen und berufliche Tätigkeiten, aber wir wollen die Tür zum Parlament für alle Berufsgruppen offen halten. Das ist das Entscheidende. ({2}) Wir haben nicht nur ein Parlament für Beamte oder Angestellte, sondern auch für Selbstständige und Mitglieder der freien Berufe. Diese haben schutzwürdige Interessen Dritter. Sie können nicht ins Parlament gehen und ihr Büro oder ihre Firma weiter betreiben, wenn alles aufgedeckt wird. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Deswegen ist die Stufenregelung richtig und vernünftig, und wir werden uns hier auf ein vernünftiges Ergebnis einigen. Herr Beck, abschließend will ich sagen: Sie reden vom Sponsoring. Sie haben überhaupt nicht begriffen, was Sponsoring ist. Sponsoring ist ex definitione öffentlich. ({3}) - Ja, natürlich kenne ich mich aus. Sie kennen sich auch aus, weil Sie das auf Ihren Parteitagen genauso machen. Das habe ich genau beobachtet. Sie machen genau das Gleiche. ({4}) Die Firmen, die dort ausstellen, bieten ihr Firmenlogo an, und Sie werben mit den Firmenlogos auf Ihren Broschüren. ({5}) Lassen Sie also diese doppelte Moral. ({6}) Wir alle zusammen stehen in der Verantwortung für dieses Parlament. Diese skandalisierenden Veranstaltungen, die Sie hier vorführen, schaden in Wirklichkeit allen und nutzen niemandem. ({7}) Ich appelliere an unsere gemeinsame Verantwortung, den Ruf des Parlamentes hochzuhalten, das Parlament für alle Berufsgruppen offen zu halten ({8}) und das Schwarzer-Peter-Spiel endgültig zu beenden. Davon hat keiner einen Vorteil. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich Volker Beck das Wort. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das müssen Sie schon ertragen, Herr Kauder. Noch darf in diesem Parlament auch die Opposition das Wort ergreifen. ({0}) Noch haben wir solche Verhältnisse. Damit müssen Sie jetzt zurechtkommen. Sehr geehrter Herr Freiherr von Solms, ({1}) Sie haben vorhin die Causa Steinbrück angesprochen. Weil wir drei Anträge zum Thema Parteienfinanzierung vorliegen haben, wollte ich Sie ansprechen und fragen, was aus der Causa Gauselmann für das Parteiengesetz folgen soll. ({2}) Wir müssen doch sicherstellen, dass auch nicht über den Umweg von wirtschaftlichem Handeln parteieigener Betriebe Spenden undeklariert in die Parteikassen fließen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Sponsoring tatsächlich einen Vertrag über eine Werbeleistung der Partei gegenüber dem Wirtschaftsunternehmen beinhaltet und nicht einfach eine verdeckte Spende ist, die gegenüber dem Bundestagspräsidenten und der Öffentlichkeit noch nicht einmal transparent gemacht werden muss. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Ich glaube, dafür gibt es in Ihrer Partei gute Gründe. Die Partei, die in letzter Zeit immer wieder Probleme mit den Parteifinanzen hatte, ist schließlich die Freie Demokratische Partei. ({3}) Volker Beck ({4}) Es gibt also einen Grund, warum man das fürchtet. Sie gehören ja selbst zu den ehemaligen Mitarbeitern der Gauselmann-Kompanie, wenn ich richtig informiert bin. Sagen Sie also einmal: Wann setzen wir uns zusammen? Wann machen wir Sponsoring transparent? Wann begrenzen wir die Möglichkeiten, durch Spenden Einfluss auf die Parteien zu nehmen? Wann wollen wir für einen fairen Wettbewerb sorgen und intransparente Einflussnahme auf die Politik - wie bei den Mövenpick-Spenden oder in Sachen Spielverordnung durch Gauselmann - zu verhindern? Ich glaube, wenn wir das nicht machen, büßt am Ende die parlamentarische Demokratie, büßt die Parteiendemokratie an Legitimität ein. ({5}) Darum mache ich mir ernsthaft Sorgen; ({6}) denn ein schwarzes Schaf im Parlament kann das ganze Haus und die gesamte demokratische Politik in Verruf bringen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Solms, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will in aller Kürze antworten: Keine Partei stellt ihre Fakten so öffentlich aus, wie wir das tun. ({0}) Alles wird ins Internet gestellt. Jeder kann das nachlesen. Jede Frage, jede Antwort, alles steht im Internet. ({1}) - Sie können unserem Beispiel gerne folgen. Auch die SPD, die im Verhältnis zu uns ein riesiges Parteivermögen hat, kann das alles ins Internet stellen und verkünden. ({2}) Wir haben kein schlechtes Gewissen. Wir sind da ganz offen. Im Übrigen würde ich Sie bitten, Herr Beck, mich mit dem Namen anzusprechen, mit dem ich in der Politik arbeite. Der hat sich seit vielen Jahren bewährt, und den brauchen Sie nicht zu verändern. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Raju Sharma für die Fraktion Die Linke. ({0})

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über den Themenkomplex „Parteienfinanzierung, Transparenz, Lobbyismus, Nebentätigkeiten“. Dazu gibt es insgesamt neun Anträge - das ist schon gesagt worden -: drei von den Grünen, zwei von SPD und Grünen, drei von der Linken und einen von der SPD. Die Einzigen, die sich zu dem Thema überhaupt nicht geäußert haben, die keinen eigenen Beitrag geleistet haben, sind bemerkenswerterweise die Koalitionsfraktionen von CDU/ CSU und FDP. ({0}) - Herr Kollege Grosse-Brömer, Sie haben nicht gehandelt. Deswegen hat mich auch gewundert, dass der Kollege Oppermann gesagt hat, es bewege sich etwas. Ich sehe keine Bewegung. Ich höre nur Ankündigungen. Das sind alles nur Sprüche. Es hat sich überhaupt nichts bewegt! ({1}) Seit Monaten blockieren FDP und Union die Umsetzung der Empfehlung der Staatengruppe gegen Korruption. Nichts ist passiert! Es wurde schon gesagt, dass Deutschland immer noch nicht die UN-Konvention gegen Korruption ratifiziert hat. Auch da sind wir keinen Schritt weitergekommen. Das liegt daran, dass Sie das alles blockieren. In Wirklichkeit sind Sie die DagegenPartei. Nichts passiert! Sie blockieren alles! ({2}) Zwei Oberbegriffe kennzeichnen auch die heutige Debatte: Transparenz und Verbote. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Beides ist wichtig. Wir wollen maximale Transparenz, und wir wollen genau das verbieten, was der Demokratie und dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat abträglich ist. Wir wollen maximale Transparenz, weil die Bürgerinnen und Bürger wissen sollen, was wie finanziert wird; denn nur dann können sie eine mündige Entscheidung treffen. Dazu gehört natürlich das Thema Nebentätigkeit. Alles redet hier über die Causa Steinbrück. Aber wir haben doch auch in anderen Fraktionen genug Fälle. Nehmen wir einmal das Beispiel des Kollegen Koschorrek, der für die CDU/CSU im Gesundheitsausschuss sitzt. Er hat in den Jahren 2010 und 2011 insgesamt 28 bezahlte VorRaju Sharma träge gehalten, vor allem vor Lobbyisten der Pharmaindustrie. Auch darüber kann man doch einmal reden. ({3}) Lassen Sie uns auch über Parteienfinanzierung reden. Auch auf diesem Gebiet brauchen wir Transparenz. Wenn die Bürgerinnen und Bürger vorher wissen, welche Großspenden zum Beispiel die FDP von Arbeitgeberverbänden oder Konzernen erhält, dann wundert sich hinterher niemand, welche Politik dabei herauskommt. Das ist doch klar. ({4}) Linke Wähler haben es einfach. Bei den Linken weiß man, woran man ist. ({5}) Wir bekommen keine Spenden von Großkonzernen. ({6}) Bei uns zieht kein Lobbyist und kein Unternehmen mit Spendenschecks an den Strippen. Das haben wir ganz bewusst so geregelt. ({7}) - Sie können sich gerne aufplustern, Frau Künast; ich komme auch noch zum Thema Parteiensponsoring. Auch dazu haben wir eine klare Position und im Gegensatz zu den Grünen eine klare Praxis. ({8}) Was die Spenden angeht, zieht bei uns niemand an den Strippen - bei den Linken weiß man, woran man ist -, deswegen sind wir nicht abhängig. ({9}) Transparenz ist wichtig, aber wir brauchen in diesem Feld auch Verbote. Verbote sind sinnvoll, weil es Wertentscheidungen des Gesetzgebers sind und weil wir bestimmte Mechanismen abstellen müssen. Das kann man ganz einfach formulieren: Wir als Linke sind dagegen, dass es Parteispenden von Unternehmen und Konzernen gibt, weil wir Abhängigkeiten vermeiden wollen. ({10}) Wir sind gegen ein Parteiensponsoring, weil dies nichts anderes ist als verdeckte Parteienfinanzierung. ({11}) Wir sind natürlich auch dagegen, dass es direkte Spenden an Abgeordnete gibt. Dort wird die Grenze zur Korruption so verwischt, dass man es nicht mehr sauber abgrenzen kann. Da Sie bisher alles blockiert haben und auch heute alles blockieren, kann ich mir vorstellen, wie Sie zukünftig damit umgehen werden. Union und FDP werden alle Initiativen blockieren. Aber wir als Linke wollen nicht darauf warten, dass Sie irgendwann in der Opposition sitzen und es andere Mehrheiten gibt. ({12}) Wir als Linke sind mit gutem Beispiel vorangegangen. Wir haben alle Nebenverdienste unserer Abgeordneten veröffentlicht und diese Angaben auf den Cent genau ins Netz gestellt, ohne dass es dazu eine gesetzliche Verpflichtung gibt. ({13}) Das kann jede und jeder von uns machen. Dazu fordere ich uns alle auf. Jeder kann diesem Beispiel folgen. Ich freue mich darauf, dass Sie in Ihren Wahlkreisen von den Bürgerinnen und Bürgern darauf angesprochen werden. Diese werden irgendwann vielleicht auch fragen: Wenn das bei Abgeordneten der Linken möglich ist, warum nicht bei dir? Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile ich Helmut Brandt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Sharma, dass Sie von der Industrie keine Spenden bekommen, liegt wahrscheinlich primär daran, dass es keine volkseigenen Betriebe mehr gibt. ({0}) Von denen wären Sie sicherlich gesponsert worden. In der vorletzten Sitzungswoche haben wir bereits in einer Aktuellen Stunde dem Grunde nach über das gleiche Thema debattiert. Damals hieß der Tagesordnungspunkt - das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen -: „Integrität parlamentarischer Entscheidungen durch mehr Transparenz und klare Regeln gewährleisten - Nebentätigkeiten, Karenzzeit für Regierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechung und Parteiengesetz“. Mehr kann man unter einem Punkt nicht zusammenfassen. Damit versucht man im Grunde genommen, zu erreichen, dass das, worum es eigentlich geht, nicht mehr offenkundig ist. Wenn die Opposition kein anderes Thema als dieses hier wöchentlich zur De24780 batte stellen kann, dann ist es um ihre Politikfähigkeit sehr schlecht bestellt. ({1}) - Ja, dazu komme ich gleich. Der ganze Wust von Vorschlägen, die jetzt auf den Markt geworfen werden, dient erkennbar nur einem einzigen Ziel - das ist eben und auch bei der Debatte in der vorletzten Sitzungswoche deutlich geworden -: Sie wollen eigentlich ein anderes Parlament, ein Parlament aus Beamten, Berufslosen und Gewerkschaftsfunktionären. ({2}) Sie wollen Freiberufler, Handwerker und Selbstständige ausschließen. Eben ist richtigerweise von Bernhard Kaster darauf hingewiesen worden, wie wichtig gerade diese Berufsgruppen in diesem Parlament sind. ({3}) Ich bin ganz eindeutig der Auffassung, dass das ZehnStufen-Modell, das wir in der Rechtsstellungskommission eingebracht haben, ausreichend ist und transparent macht, was jeder Einzelne mit seiner Nebentätigkeit tatsächlich verdient. Eine ausdifferenzierte Veröffentlichungspflicht in zehn Stufen ist sicherlich bestens geeignet, das Informationsbedürfnis zu befriedigen. Herr Oppermann, Sie können das noch so oft wiederholen, aber ich habe bisher noch kein Argument gehört, warum eine Veröffentlichung auf Euro und Cent genau im Vergleich zu dieser Staffelung einen Mehrwert an Öffentlichkeit bringen würde. Das ist einfach nicht der Fall. Im Übrigen ist es so, dass die SPD offensichtlich nicht überall dieser Auffassung ist. Gestern las ich in der Berliner Morgenpost, dass die Berliner Landespolitiker der SPD gegen eine Verschärfung der Offenlegungspflichten für Nebeneinkünfte seien. ({4}) Sogar eine Veröffentlichungspflicht nach dem bisherigen Drei-Stufen-Modell passt denen nicht in den Kram. Was gilt denn nun: das, was Ihre Kollegen von der Berliner SPD sagen, oder das, was Sie hier zum Besten geben? ({5}) Das Gleiche, Herr Beck, gilt für eine Aufschlüsselung nach Branchen. So etwas ist strikt abzulehnen. Ich will auch sagen, weshalb: Wenn man diese Aufforderung ernst nimmt, kommt es - das ist Ihnen ja schon vorgeführt worden - zum offenen Rechtsbruch, und zwar immer dann, wenn ein Anwalt in einer bestimmten Region Mandanten vertritt und aus der Branchenbezeichnung erkennbar würde, welcher Mandant gemeint ist. Wenn Sie die Vorschriften des Strafgesetzbuches ernst nehmen, dann müssten Sie dies auch so sehen. Ich bin seit über 30 Jahren Anwalt. Frau Künast war eben stolz, über eine Anwaltszulassung zu verfügen; ob sie tätig ist, weiß ich nicht. Ich kann jedenfalls sagen: Angenommen, jemand ist auf dem Lande in einer kleinen Anwaltspraxis tätig und vertritt Arbeitnehmer im Kündigungsschutz, Familien in Familiensachen und andere in Unfallsachen. Was sollte er dann als Branche angeben? ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich ertrage sie jetzt als Zwischenfrage; sonst muss ich sie wie der Kollege Solms nachträglich ertragen. Dann lieber sofort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nachdem Sie rechtlich umfangreich argumentiert haben, welche Bedenken Sie gegen eine Veröffentlichung der Branche haben, frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass eine solche bereits Gegenstand des geltenden Rechts ist und vom Bundesverfassungsgericht in einem Urteil für verfassungskonform erklärt wurde? Der Präsident macht von dieser Veröffentlichungsmöglichkeit lediglich keinen Gebrauch; sie ist in den geltenden Verhaltensregeln aber ausdrücklich vorgesehen. ({0})

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Beck, was Sie wollen, hat mit den geltenden Verhaltensregeln nichts zu tun; das ist die Antwort auf Ihre Frage. Wenn die von Ihnen geforderte Pflicht bestünde, dann würde die Schweigepflicht des Anwalts im Einzelfall verletzt. Das ist nicht akzeptabel, das verstößt gegen geltendes Recht. ({0}) Die Grünen haben auch noch andere Dinge gefordert, unter anderem eine Karenzzeit für ehemalige Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretäre. Ich möchte einmal daran erinnern, dass sich gerade Mitglieder der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder in dieser Weise besonders hervorgetan haben. ({1}) Ich meine, hier gilt der Satz: Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen. ({2}) Nehmen wir den von Ihnen damals gestellten Außenminister: Er war erst wenige Monate aus dem Amt, da hat er Vorträge für Investmentbanken wie Barclays Capital oder Goldman Sachs gehalten, er hat Beraterverträge mit RWE und OMV, mit BMW, mit Siemens und mit Rewe. ({3}) - Es ist nicht schlecht, Herr Kollege, sondern es ist eine Tatsache, die in offensichtlichem Widerspruch zu Ihrer Argumentation hier steht. ({4}) Das Gleiche gilt für Herrn Schröder, den früheren Bundeskanzler. Wir wissen noch sehr gut: Nur wenige Wochen nachdem er aus dem Amt ausgeschieden ist, wurde bekannt, dass er einen Posten bei der Nord Stream AG angenommen hat, ({5}) und wir wissen auch, was er in der Folge getan hat. Wenn man über eine solche Vergangenheit verfügt, dann sollte man es sich gut überlegen, bevor man solche Forderungen aufstellt. Zum Abschluss noch ein paar Bemerkungen bezüglich der Frage der Parteispenden. Im Hinblick auf die Linken habe ich ja schon Stellung genommen. Ich persönlich muss ganz ehrlich sagen: Ich halte eine Begrenzung von Parteispenden für nicht erforderlich. Parteispenden werden laut Parteiengesetz öffentlich gemacht. Wir verfügen bereits über eine hinreichende Transparenz. Wenn man sieht, dass der Wahlkampf der beiden Kandidaten in Amerika 5,6 Milliarden Dollar gekostet hat, die aus privaten Spenden finanziert wurden, dann kann ich nur sagen: Ich hätte gerne einmal die Debatte hier erlebt, wenn das in Deutschland auch nur annähernd der Fall wäre. Besten Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Zusatzpunkt 5 a: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak- tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/11331 mit dem Titel „Transparenz bei Neben- einkünften herstellen durch Veröffentlichungspflicht auf Euro und Cent“. Wir stimmen über den Antrag auf Ver- langen der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grü- nen namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Abstimmungsurnen besetzt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung über den An- trag. Die pflichtgemäße Frage: Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Ich höre keinen Protest. Dann ist das der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh- rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte Sie, dazu Platz zu nehmen.1) Zusatzpunkt 5 b: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11332 mit dem Titel „Nebentätigkeiten transparent machen - Branchen kennzeichnen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppo- sitionsfraktionen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 46 c: Abstimmung über den An- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- che 17/11204 mit dem Titel „Karenzzeit für ausgeschie- dene Regierungsmitglieder“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak- tionen und der SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 46 d: Abstimmung über den An- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11333 mit dem Titel „Transparenz und Unabhängigkeit im Bundestag und in der Bundesregierung“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- fraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 46 e: Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksa- che 17/6566. Unter Buchstabe a empfiehlt der Aus- schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/892 mit dem Titel „Parteien- Sponsoring im Parteiengesetz regeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/651 mit dem Titel „Parteispenden von Unternehmen und Wirt- schaftsverbänden verbieten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- 1) Ergebnis Seite 24783 D Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse men der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1169 mit dem Titel „ParteiSponsoring transparenter gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/547 mit dem Titel „Parteispenden begrenzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen. Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11318 mit dem Titel „‚Karenzzeit‘ für ehemalige Bundesminister und Parlamentarische Staatssekretäre in Anlehnung an EURecht einführen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der Linken gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan ({1}) auf Grundlage der Resolutionen 1996 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und 2057 ({3}) vom 5. Juli 2012 - Drucksachen 17/11037, 17/11390 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Heidemarie Wieczorek-Zeul Jan van Aken Kerstin Müller ({4}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/11399 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion das Wort. ({6})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute vor der Verlängerung des deutschen Beitrags zum UNMISS-Mandat und damit des Einsatzes im Südsudan. Es ist ein robustes Mandat. Die Personalobergrenze liegt nach wie vor bei 50 Soldatinnen und Soldaten. Derzeit sind 16 Soldatinnen und Soldaten dort eingesetzt. UNMISS beruht auf dem ausdrücklichen Wunsch der südsudanesischen Regierung. Es ist ein Mandat, das hier im Hohen Haus große Unterstützung genießt; denn dabei geht es darum, dem neuen Staat Südsudan beim Staatsaufbau zu helfen, insbesondere auch bei der Gewährleistung der Sicherheit für die Zivilbevölkerung. Zum Auftrag von UNMISS gehört auch, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und diese Menschenrechtsverletzungen der Hohen Kommissarin für Menschenrechte zu melden und den Sicherheitsrat davon zu unterrichten. Deswegen ist es nicht akzeptabel, dass der Südsudan eine Mitarbeiterin von UNMISS aus dem Land gewiesen hat. Wir fordern, dass die Mitarbeiter von UNMISS ihrem Auftrag so nachkommen können, wie es vereinbart ist. ({0}) Wir können uns uneingeschränkt den Äußerungen der Leiterin von UNMISS, Frau Hilde Johnson, anschließen. Sie war in der letzten Sitzungswoche hier in Berlin zu Gast. Wir haben mit ihr verschiedene Gespräche geführt, auch im Unterausschuss „Zivile Krisenprävention“. Wir konnten uns davon überzeugen, dass sie mit viel Engagement und Herzblut an die Sache herangeht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Mandatsverlängerung ist nie „business as usual“. Es geht auch immer darum, ein Mandat einzubetten, in die politische Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Wir haben die Entwicklungen im Sudan und im Südsudan über viele Jahre begleitet. Wir haben hier im Deutschen Bundestag viele Debatten dazu geführt. Keiner von uns hat gedacht, dass sich am 9. Juli 2011 der Südsudan weitgehend friedlich vom Sudan abspaltet. Wir hatten damals große Sorge, dass die Lage eskalieren könnte. Die weitgehend friedliche Abspaltung hat aber auch ihren Preis, nämlich dass die strittigen Fragen nach wie vor nicht geklärt sind. Deutschland unterstützt deswegen die Vermittlungsversuche der Afrikanischen Union unter der Leitung von Thabo Mbeki. Wir sind froh, dass am 27. September dieses Jahres eine neue Einigung erreicht werden konnte. Doch auch danach läuft es schleppend. Immer noch nicht geklärt ist der finale Status der Region Abyei. Es gibt den Vorschlag, im Oktober nächsten Jahres ein Referendum abzuhalten. Ebenfalls nicht geklärt ist die tatsächliche Implementierung der Sicherheitsvereinbarungen. Nun soll sich ein technisches Team damit beschäftigen. Insofern haben wir an der Grenze immer noch keine wirklich demilitarisierte „buffer zone“. Ein weiterer Knackpunkt ist die tatsächliche Wiederaufnahme der Erdöllieferungen. Die Einstellung der Erdölförderung hatte große wirtschaftliche Verwerfungen hervorgerufen; denn 98 Prozent der Staatseinnahmen des Südsudan beruhen auf der Erdölproduktion. Fallen diese Einnahmen weg, ist die Erfüllung von staatlichen Aufgaben, beispielsweise die Basisversorgung für die Bevölkerung sicherzustellen, fast nicht mehr möglich. Deswegen ist es wichtig und richtig, dass sich die Bundesregierung auch in der humanitären Hilfe engagiert, insbesondere bei der Sicherung der Ernährungsgrundlage. So hat die Bundesregierung die humanitäre Nothilfe für den Südsudan noch einmal um 5 Millionen Euro auf jetzt 10,5 Millionen Euro aufgestockt. Es gibt weitere Projekte der GIZ, des UNHCR, des Roten Kreuzes und des World Food Programme, und zwar alles in den Bereichen Gesundheit, Trinkwasserversorgung, Ernährung. Wir sind sehr dankbar, dass es ein umfassendes Engagement der Bundesregierung gibt. Eine weitere Aufgabe, die man auf die Zeit nach dem CPA verschoben hat, ist die Entwaffnung. Wir wissen, dass nach wie vor sehr viele Kleinwaffen vor Ort im Umlauf sind. Die Entwaffnung hat bisher nicht gut funktioniert. Es ist wichtig, dass es einen neuen Impetus gibt, damit es in diesem Bereich vorangeht. Das Auswärtige Amt unterstützt weiterhin Projekte in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, juristische Ausbildung und Beratung bezüglich des Verfassungsprozesses. Das zeigt: Das UNMISS-Mandat selbst ist in ein umfassendes Engagement eingebettet. Wir haben uns auch in den parlamentarischen Beratungen mit zwei interfraktionellen Anträgen immer mit der Gesamtsituation befasst. Wir hatten jeweils einen großen interfraktionellen Antrag vor dem Referendum und erst kürzlich im Juni dieses Jahres eingebracht. Es ist besonders wichtig, dass wir weiterhin Unterstützung gewähren. ({1}) Ich will aber auch die Defizite beim Namen nennen. Wir wissen, dass die Korruption im Südsudan weit verbreitet ist. Es gibt dort keine transparente Rechenschaftslegung. Wir fordern außerdem die strikte Beachtung der Menschenrechte. Vor allem muss die „Kultur der Straflosigkeit“ endlich ein Ende haben. Wir wissen, dass es viele Probleme und Herausforderungen für den neuen Staat gibt. Es besteht die Gefahr, dass der Südsudan abdriftet. Deswegen ist es wichtig, dass das internationale Engagement erhalten bleibt, dass das Mandat für UNMISS fortgesetzt wird. Der Schlüssel dazu liegt natürlich vor Ort, im politischen Prozess. UNMISS und auch UNAMID - diese Mission haben wir vorhin verlängert - sind Bausteine. Es geht darum, die politische Lösung voranzubringen. Ein letztes Wort. Ich freue mich, dass wir heute zu einer früheren Tageszeit über die Verlängerung des Mandats diskutieren. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch den Zivilisten vor Ort schuldig. Ich möchte an dieser Stelle den Soldatinnen und Soldaten sowie den Polizisten und den zivilen Helfern für ihren Einsatz vor Ort meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Vor der nächsten Rednerin möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den von den Kollegen Thomas Oppermann und Volker Beck sowie anderen Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen eingebrachten Antrag mit dem Titel „Transparenz bei Nebeneinkünften herstellen durch Veröffentlichungspflicht auf Euro und Cent“: abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 271, mit Nein haben gestimmt 303. Der Antrag ist abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 574; davon ja: 271 nein: 303 Ja SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Lothar Binding ({0}) Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({1}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Elke Ferner Dr. Edgar Franke Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Graf ({2}) Kerstin Griese Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Gabriele Groneberg Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({3}) Hubertus Heil ({4}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Hinz ({5}) Frank Hofmann ({6}) Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({7}) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Christine Lambrecht Christian Lange ({8}) Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({9}) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({10}) Michael Roth ({11}) Marlene Rupprecht ({12}) Annette Sawade Anton Schaaf Axel Schäfer ({13}) Bernd Scheelen ({14}) Werner Schieder ({15}) Ulla Schmidt ({16}) Carsten Schneider ({17}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({18}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({19}) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Heike Hänsel Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({20}) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Johanna Voß Sahra Wagenknecht Harald Weinberg Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({21}) Volker Beck ({22}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({23}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({24}) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Kerstin Müller ({25}) Beate Müller-Gemmeke Omid Nouripour Dr. Hermann Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({26}) Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Daniela Wagner Arfst Wagner ({27}) Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({28}) Manfred Behrens ({29}) Peter Beyer Steffen Bilger Peter Bleser Wolfgang Börnsen ({30}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({31}) Dirk Fischer ({32}) Axel E. Fischer ({33}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser ({34}) Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Alois Karl Siegfried Kauder ({35}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({36}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({37}) Nadine Schön ({38}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({39}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Henning Otte Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({40}) Lothar Riebsamen Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({41}) Anita Schäfer ({42}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({43}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({44}) Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Dieter Stier Gero Storjohann Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({45}) Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({46}) Stefanie Vogelsang Dr. Johann Wadephul Kai Wegner Marcus Weinberg ({47}) Peter Weiß ({48}) Sabine Weiss ({49}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({50}) Florian Bernschneider Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Angelika Brunkhorst Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({51}) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Pascal Kober Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({52}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Michael Link ({53}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Gabriele Molitor Jan Mücke Dr. Martin Neumann ({54}) Dirk Niebel ({55}) Cornelia Pieper Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Johannes Vogel ({56}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({57}) Ich erteile nunmehr das Wort Susanne Kastner für die SPD-Fraktion. ({58})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001069, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 9. Juli 2011 hat der Süden des Sudans seine Unabhängigkeit erklärt. Seitdem sind 16 bewegte Monate vergangen. Vieles hat sich zum Besseren gewandelt. Aber vieles ist immer noch im Argen. Festzuhalten bleibt allerdings, dass es noch eine Menge zu tun gibt, bis im Südsudan stabile Verhältnisse herrschen. Zwei wichtige Faktoren sollten wir uns dabei vor Augen führen: die bewegte Geschichte des Landes sowie die enorme Größe. Mit einer Fläche von circa 650 000 Quadratkilometern ist der Südsudan fast doppelt so groß wie Deutschland. Daraus resultieren erhebliche logistische Probleme für den Aufbau und die Stabilisierung des Landes. Zweifelsohne konnten seit Inkrafttreten der UNResolution zahlreiche Fortschritte erzielt werden. Der Südsudan steht aber weiterhin vor großen Herausforderungen. So ist beispielsweise die wirtschaftliche Lage für große Teile der Bevölkerung weiterhin äußerst prekär und angespannt. Vergleichsweise gutgestellt sind da diejenigen, die über ein wenig Land oder Vieh verfügen. Dies gilt aber nur für einen Bruchteil der Bevölkerung. Durch den langjährigen Bürgerkrieg und die bewaffneten Auseinandersetzungen wurden tiefe Wunden gerissen. Diese werden sicherlich nicht von heute auf morgen zu heilen sein; das wissen wir alle. In Anbetracht der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Ausgangssituation muss man allerdings auch anerkennen, dass die südsudanesische Regierung ihr Möglichstes tut, um geordnete Verhältnisse zu schaffen. Es ist jedoch offenkundig, dass das Vorhaben zum jetzigen Zeitpunkt ohne die weitere konsequente und umfassende Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft zum Scheitern verurteilt wäre. Es ist daher unsere Pflicht, uns weiterhin für den Frieden im Südsudan zu engagieren. Im vergangenen August sind die Obleute des Verteidigungsausschusses zusammen mit mir in den Südsudan gereist. Wir wollten uns selbst einen Überblick verschaffen über die Einsatzbedingungen unserer Soldaten vor Ort und über die politische Lage in Dschuba. Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, ist die Situation alles andere als einfach. Wir reden schließlich von einer Region, in der noch immer Grenzkonflikte vorherrschen und in der bis an die Zähne bewaffnete Milizen agieren. Bei dem Zusammentreffen mit der Sonderbeauftragten für Südsudan, Hilde Johnson, bedankte sich diese ausdrücklich für den deutschen Beitrag zur UN-Mission. Diesen Dank möchte ich gerne an unser Parlament weitergeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Soldaten leisten im Südsudan unter schwierigsten Bedingungen eine hervorragende Arbeit. Dafür sagen wir herzlichen Dank, und es gilt, diese Arbeit fortzusetzen. ({0}) Die Vereinten Nationen und insbesondere die Zivilbevölkerung im Südsudan setzen große Hoffnungen auf den Erfolg der UN-Mission und auf das weitere Engagement der Bundeswehr. Wer wie ich die Situation vor Ort erlebt hat, der weiß, dass wir in der Pflicht sind, das UNMISS-Mandat der Bundeswehr zu verlängern. Neben der Unterstützung des Staats- und Institutionsaufbaus ist die Kernaufgabe dieser Friedensmission schließlich die Unterstützung beim Schutz der Zivilbevölkerung. Dies ist wahrlich keine leichte Aufgabe; denn die humanitäre Lage im Südsudan ist nach wie vor heikel. Die desaströse wirtschaftliche Entwicklung, die internen bewaffneten Konflikte und das anhaltende Problem der Vertriebenen sind ein schweres Erbe, dem sich die südsudanesische Regierung stellen muss. Die UN-geführte Mission ist daher dringend erforderlich, um den fragilen Staat zu stützen und weiter aufzubauen. Nach meinen Gesprächen mit UN-Vertretern, Politikern und unseren Soldaten im Südsudan muss ich allerdings nachdrücklich darauf hinweisen, dass der Einsatz nur dann gelingen kann, wenn wir auch die benötigte Ausrüstung zur Verfügung stellen. Unsere Soldaten machen derzeit bereitwillig Abstriche bei der Unterkunft und den Hygienebedingungen. Sie können aber nicht auf die entsprechende Ausrüstung verzichten, um diesen Auftrag zu erfüllen. Zu den Herausforderungen des Einsatzes im Südsudan gehören zweifelsohne die logistisch extrem schwierigen Ausgangsbedingungen. Aufgrund der geografischen Verhältnisse ist es unabdingbar, die UN-Mission dezentral aufzustellen. Es ist aber nun einmal so, dass man während der achtmonatigen Regenzeit in weite Teile des Landes nur mit einem Transporthubschrauber gelangen kann. Seit dem Abzug der russischen Hubschrauber ist eine gravierende Fähigkeitslücke entstanden, die dringend geschlossen werden muss. Diesen Appell der UN-Vertreter und unserer Soldaten muss ich daher mit Nachdruck an die Adresse unseres Verteidigungsministers richten: Sorgen Sie dafür, dass die benötigten Hubschrauber vor Ort zum Einsatz kommen! ({1}) Nur so kann UNMISS eine Erfolgsgeschichte werden. Es gäbe noch vieles über die schwierigen Verhältnisse und Einsatzbedingungen im Südsudan zu berichten. Offenkundig ist jedoch, dass die internationale Staatengemeinschaft seit der Unabhängigkeit des Südens dort gute Arbeit geleistet hat. Diesen Prozess gilt es fortzusetzen. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns weiterhin an dem Einsatz beteiligen und das UNMISS-Mandat für die Bundeswehr um ein weiteres Jahr verlängern. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung zur Mandatsverlängerung, damit der junge südsudanesische Staat gelingen kann. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Robert Hochbaum für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Free at last, endlich frei - das war am 9. Juli 2011 im Südsudan immer wieder zu hören und auf Plakaten zu lesen. Endlich frei zu sein, bedeutete für die Menschen, sich loszusagen von Repressalien, von bewaffneten Reitermilizen, die Menschen öffentlich gequält und erniedrigt haben, sich loszusagen von 20 Jahren Bürgerkrieg, 20 Jahren gezielter Vertreibung, Tötung und Ächtung. Heute, knapp anderthalb Jahre später, musste die Freiheitseuphorie leider der Realität weichen. Viele Hoffnungen der Menschen konnten bis heute noch nicht erfüllt werden. Stattdessen liegt ein Jahr hinter dem neuen Staat, das von einer tiefen Krise, humanitären Notlagen und einer sehr fragilen Sicherheitslage geprägt war. Die UN-Sondergesandte Hilde Johnson - ihr Name wurde heute schon öfter erwähnt - bilanzierte sehr treffend und spricht von einem „harten Start“, gar einem „schmerzvollen Jahr“ für den Südsudan. Aber, meine Damen und Herren, können wir da wegschauen? Sollen wir - jetzt richte ich meinen Blick auf Sie, meine Damen und Herren von der Linken - einem erneuten Abgleiten dieses Staates in Chaos und Mord tatenlos zusehen und somit die gesamte ostafrikanische Region in ihrer Stabilität gefährden? Sollen wir die Unabhängigkeit eines Staates, die in einer demokratischen Volksabstimmung mit sehr großer Mehrheit von den Menschen gewollt war, nicht anerkennen? Für uns gibt es darauf nur eine klare Antwort: Nein, wir wollen helfen. ({0}) Bei unserem Verständnis von humanitärer Verpflichtung, bei unserem Verständnis von Politik, die hier - das müsste jeder erkennen, zumindest derjenige, der hinschaut - ganz klar einem vernetzten Ansatz folgt, und bei unserem Verständnis von Menschlichkeit und Menschenrechten haben wir geradezu eine Verpflichtung, nämlich eine Verpflichtung zur Hilfe. Das ist wie so oft eine mit Ausnahme von Ihnen - dabei schaue ich wieder nach links - mehrheitlich getragene Meinung. Dafür möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei der SPD und den Grünen bedanken. Sie stellen Menschlichkeit über parteitaktisches Verhalten. ({1}) Das finde ich gut und, wenn ich nach links schaue, auch nachahmenswert. Merken Sie auf der linken Seite gar nicht, dass bei Ihnen manchmal etwas nicht stimmt? ({2}) Allen hier im Saal ist klar, dass der Südsudan unsere Unterstützung braucht. Wir alle wollen Frieden und nachhaltige Friedenssicherung in dieser Region. ({3}) Sie schauen anscheinend weg und nehmen die Tatsachen - das ist die Schlussfolgerung, wenn man Ihre Reden in der Vergangenheit und wahrscheinlich auch heute verfolgt - einfach nicht zur Kenntnis. ({4}) Nur so lässt sich für mich Ihre Ablehnung zu UNMISS erklären. Ich frage mich, wie Sie, wenn Sie wieder einmal dort hinfahren sollten, den Menschen dort noch in die Augen schauen können. Meine Damen und Herren, es bleibt natürlich unbestritten, dass die gegenwärtige Situation im Südsudan unbefriedigend ist. Aufgrund der andauernden Konflikte konnte sich die Regierung nicht um die grundlegenden Aufbauarbeiten des Landes bemühen. So liegen die Herausforderungen weiter auf der Hand: fehlende Infrastruktur, mangelnde Wirtschaftskraft, ein nicht aufgebauter Sicherheitssektor und fehlendes administratives Wissen der Verantwortlichen. Hinzu kommen die bekannte Flüchtlingsproblematik in den umkämpften Gebieten und weitere humanitäre Notlagen, die sich daraus ergeben. Entscheidend ist aus diesem Grund jetzt, dass die im September mit dem Sudan unterzeichneten Abkommen und Vereinbarungen umgesetzt werden. UNMISS wird dabei wie bereits beim Zustandekommen der Abkommen eine zentrale Rolle der Vermittlung und Unterstützung beigemessen. Schon deshalb ist es zu begrüßen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Juli dieses Jahres die Verlängerung des Mandats beschlossen hat. Wir sollten das aus meiner Sicht heute auch in diesem Hause mit großer Mehrheit tun. Wenn ich von den Vereinten Nationen spreche, muss ich schon wieder nach links schauen. Meine Damen und Herren von den Linken, mit Ihrer Ablehnung negieren Sie auch das UN-Mandat und stellen sich faktisch über die UN. Sie meinen wohl, dass sich die Weltgemeinschaft mehr nach Ihnen richten sollte als nach den Vereinten Nationen. ({5}) Es tut mir leid, dass wir Ihnen den Gefallen hier und heute nicht tun können. Um auch gleich Ihrem Hauptvorwurf, die militärische Komponente würde im Vordergrund stehen, den Wind aus den Segeln zu nehmen, möchte ich auf die zahlreichen Maßnahmen und Projekte der Entwicklungshilfe verweisen. Ernährungssicherheit, Bildung, Gesundheit, Trinkwasserversorgung - all das sowie die finanziellen Hilfen müssten sogar Ihnen den vernetzten politischen Ansatz deutlich machen. Es steht übrigens alles im Mandat geschrieben. Man kann es dort nachlesen. Lesen bildet normalerweise, zumindest im Regelfall. ({6}) Uns ist dabei eines klar: keine Entwicklung ohne Sicherheit und keine Sicherheit ohne Entwicklung. ({7}) Deshalb unterstützen wir UNMISS mit bis zu 50 Soldaten. Wie wir gehört haben, waren zuletzt 16 Stabsoffiziere vor Ort eingesetzt. An dieser Stelle möchte ich es wie andere Redner nicht versäumen, den Soldaten, den Polizisten, den zivilen Mitarbeitern unseren Dank und unseren Respekt für ihre Arbeit unter diesen ganz besonders schwierigen Bedingungen vor Ort auszusprechen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend den Bogen zum Anfang schlagen. „Endlich frei“, stand am 9. Juli 2011 auf den Plakaten. Ich wünsche mir, dass die Euphorie der Unabhängigkeit bei den Menschen im Südsudan wieder entflammt, dass die Menschen auf staatliche Strukturen vertrauen, dass sie ihr Land aufbauen und friedlich entwickeln. UNMISS hilft und unterstützt dabei. Gerade vor dem Hintergrund unseres Verständnisses von demokratischer Grundordnung und der Wahrung der Menschenrechte werden auch wir uns dieser Verantwortung stellen. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die Fraktion Die Linke spricht nun Jan van Aken. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur einmal daran erinnern: Es geht hier um einen Bundeswehreinsatz innerhalb des Südsudan. ({0}) Es ist relativ wichtig, das zu betonen, weil Sie alle heute und in der Debatte vor zwei Wochen sehr viel über Abyei, Südkordofan, die Grenze zum Sudan geredet haben. Das hat nur sehr bedingt mit UNMISS zu tun. Hier geht es um einen internationalen Militäreinsatz innerhalb des Südsudan. Ich glaube, es hilft nicht, das alles in einem Topf zu verrühren. Das verstellt manchmal den Blick auf die Lage, Herr Hochbaum. ({1}) UNMISS war von vornherein ein Konstrukt mit völliger Schieflage. Wir hatten es mit Interessen der UNO und Interessen der Regierung des Südsudan zu tun. Das ließ sich nicht vereinbaren: Die UNO wollte zum Beispiel die Armee reformieren, vor allem reduzieren. Die Regierung des Südsudan wollte vor allem die eigene Machtposition ausbauen. Dann gab es einen Kompromiss, der extrem problematisch ist. UNMISS steht an der Seite der Regierung des Südsudan. Die Regierung ist es, die darüber bestimmt, wo und wann UNMISS eingreifen darf. Das große Problem hier ist, dass die Regierung Südsudans manchmal überhaupt kein Interesse daran hat, dass UNMISS zuschaut: wenn nämlich die Regierung selbst oder ihre Armee, die SPLA, Verbrechen an der Zivilbevölkerung begeht. Sie wissen ganz genau - Frau Schuster hat es dankenswerterweise erwähnt -, dass die Regierung Südsudan die Arbeit von UNMISS massiv behindert. Vor kurzem hat sie eine UNMISS-Mitarbeiterin ausgewiesen. Daher ist es relativ hilflos, Frau Schuster, sich hier hinzustellen und zu sagen: Das kritisieren wir; die Regierung des Südsudan sollte es anders machen. ({2}) Trotzdem wollen Sie hier darüber entscheiden, dass Bundeswehrsoldaten an die Seite einer menschenrechtsverletzenden Regierung gestellt werden. Das finde ich nicht akzeptabel. ({3}) Ich möchte hier ein einziges Mal von Ihnen ein Argument dazu hören, wie Sie es verantworten können, Bundeswehrsoldaten an die Seite einer Regierung zu stellen, die die eigene Zivilbevölkerung bedroht. Das geht nicht. ({4}) Sie wissen genauso wie ich - Herr Hochbaum, eigentlich müssten auch Sie es wissen -, dass die Regierung gerade dabei ist, einen Einparteienstaat zu etablieren mit Korruption, mit Vetternwirtschaft, mit Unterdrückung der eigenen Bevölkerung, mit Vernachlässigung der Bevölkerung in der Peripherie und auf dem Lande, um nur einige Punkte zu nennen. Und dafür hat sie jahrelang Unterstützung bekommen? Ist das der Staatsaufbau, den Sie wollen, den die UNO wollte? Sie sollten eigentlich eingestehen, dass die bisherigen Bemühungen gescheitert sind. Jetzt ist es unsere AufJan van Aken gabe, zu schauen: Wo ist der Fehler? Was können wir anders machen? Da möchte ich Sie, Herr Hochbaum, einmal beim Wort nehmen. Sie haben die Frage gestellt: Sollen wir einfach zuschauen? Meine Antwort ist: Nein. Wir wollen helfen. ({5}) Aber wir wollen nicht so helfen, wie man es die letzten Jahre versucht hat und womit man komplett gescheitert ist. Wir haben dazu vor einem Jahr sehr ausführliche und detaillierte Vorschläge gemacht - die entsprechende Vorlage hätten Sie vielleicht lesen sollen, Herr Hochbaum; ich kann Ihnen die Drucksachennummer nennen -, ({6}) wie man den Menschen im Südsudan ganz konkret helfen kann, Gewalt zu vermeiden und den Staat wiederaufzubauen. Ich möchte nur einen einzigen Vorschlag nennen. Da es um den Schutz der Zivilbevölkerung, auch vor der südsudanesischen Regierung, geht, brauchen wir ein Frühwarnsystem. ({7}) Ich war im Südsudan und habe mir angeschaut, wie funktionierende Frühwarnsysteme aussehen können. Das Ganze funktioniert nicht mit internationalem Militär. Dazu braucht man Menschen vor Ort. Die Menschen, die in den Dörfern leben, die lokalen Autoritäten, die anerkannt sind, muss man einbinden. Dann braucht man neutrale Vermittler. So kann man einen Konflikt vermeiden. Was Sie machen, ist: Sie gucken in Jonglei zu, bis 800 Leute tot sind, ({8}) und dann schicken Sie einen Hubschrauber hin, um frühzuwarnen. Das reicht nicht. Wenn Sie den Menschen helfen wollen, dann machen Sie es zivil! Mit dem Militär funktioniert es nicht. ({9}) Ich finde es ganz zynisch - damit komme ich zum Schluss -, dass Herr Westerwelle vor zwei Wochen an dieser Stelle gesagt hat, seit der Unabhängigkeit habe der Südsudan eine eigene stabile Staatlichkeit. ({10}) Das ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen im Südsudan, die immer noch hungern, die immer noch an behandelbaren Krankheiten sterben, die ohne Anklage im Gefängnis sitzen, die gefoltert werden. An die Seite eines solchen Regimes darf man keine Bundeswehrsoldaten schicken. Deswegen werden wir dem UNMISS-Mandat nicht zustimmen. ({11}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen exportieren sollte. Auch das ist ein wichtiges Thema, aber dafür habe ich keine Zeit mehr. Danke. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Agnes Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Ja gestimmt - das haben im Juli 2011 alle grünen Abgeordneten bei der ersten Abstimmung über UNMISS, die damals neu geschaffene UN-Mission im Südsudan. Wir Grüne machen es uns mit einem Ja zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr niemals leicht und prüfen jeden Einsatz äußerst intensiv und kritisch. ({0}) - Sie tun das nicht; den Eindruck habe ich bei der Rede von Herrn van Aken gewonnen. ({1}) Nach wie vor halten wir UNMISS nicht nur für richtig, sondern auch für einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung im Südsudan. Ziel der Mission ist im Wesentlichen der Schutz der Zivilbevölkerung, die Verbesserung der Menschenrechtslage und die Unterstützung beim Staatsaufbau. Das sind keine einfachen Aufgaben, und der Weg zu einem funktionierenden Staat im Südsudan wird auch noch ein langer sein. Zentrale Voraussetzung dafür ist, dass wir sowohl die Regierung des Sudan als auch die des Südsudan in die Pflicht nehmen, die friedliche Koexistenz beider Staaten zu unterstützen und nicht weiter zu torpedieren. ({2}) Ende September haben sich beide Staaten auf eine Lösung für die Verteilung der Öleinnahmen geeinigt. Nachdem diese strittige Frage endlich geklärt zu sein scheint, muss nun die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone an der Grenze zwischen beiden Staaten zügig umgesetzt werden. ({3}) Dann hat eine politische Lösung für die Klärung der noch offenen Grenzfragen eine echte Chance und haben die dortigen Gewaltausbrüche hoffentlich schnell ein Ende. Wir müssen bei der Bewertung des Mandates allerdings auch immer realistisch bleiben: UNMISS kann nicht jeden Gewaltausbruch im Land verhindern; UNMISS hat aber die Möglichkeit, Gewalt effektiv und schnell einzudämmen. Um das konkret zu machen: Ja, es erreichte uns im August 2011 die traurige und erschreckende Nachricht, dass rund 600 Angehörige des Stammes der Nuer durch Angehörige der Murle getötet wurden. UNMISS reagierte auf diesen Gewaltausbruch schnell und mit einer Mischung verschiedener präventiver Maßnahmen, solcher Maßnahmen, die auch Sie, Herr Kollege van Aken, gerade gefordert haben. ({4}) Es gab ein Frühwarnsystem. Es gab die Ausweitung der Präsenz der Mission. Es gab Patrouillen in Zusammenarbeit mit der südsudanesischen Armee. Es gab Überwachung und die Unterstützung lokaler Verhandlungen. ({5}) Das hat dazu geführt, dass im Dezember auf diese Weise Angehörige der Murle vor einer Racheaktion der Nuer rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden konnten. Man geht davon aus, dass dieses besonnene Handeln mehrere Tausend Todesopfer und eine Eskalation der Gewalt verhindern konnte. ({6}) Ich finde, zu einer ehrlichen Auseinandersetzung gehört natürlich auch, dass man nicht verschweigt, dass es auch Rückschläge und Ereignisse im Südsudan gibt, die Anlass zur Sorge geben, so zum Beispiel die schon erwähnte Ausweisung einer UN-Mitarbeiterin, deren Aufgabe die Beobachtung der Menschenrechtslage war. Hier ist deutliche Kritik angebracht, wenn die Regierung Südsudans die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Menschenrechtsverletzungen unterbinden will. ({7}) Aber trotz der Rückschläge: Der Friedensprozess im Südsudan ist im Gange, und UNMISS leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Allerdings kann dies nur gelingen, wenn alle beteiligten Staaten die Mission voll und ganz unterstützen. Ich finde, Deutschland ist hierbei viel zu zurückhaltend. ({8}) Dafür ein Beispiel: Wir beschließen heute erneut eine Mandatsobergrenze von nur 50 Soldatinnen und Soldaten. Aber nicht einmal dieses kleine Kontingent wird ausgeschöpft. Bis heute waren zu keinem Zeitpunkt mehr als 17 Bundeswehrangehörige gleichzeitig im Südsudan. Bei den Missionen der Vereinten Nationen und gerade bei UNMISS im Besonderen finde ich diese deutsche Zurückhaltung falsch und, ehrlich gesagt, auch beschämend. ({9}) Diese mangelnde Unterstützung wird vor allem einem nicht gerecht: Auf meiner Reise in den Südsudan haben mich die Menschen, die dort trotz aller Schwierigkeiten fest an eine friedliche Zukunft für diesen jungen Staat glauben, unheimlich beeindruckt. Ebenso beeindruckt hat mich das Engagement von zivilen Kräften der NGOs und von UNMISS sowie der Soldatinnen und Soldaten dieser Mission, die dazu beitragen, dass diese Vision Realität wird - und das unter teilweise sehr schwierigen Bedingungen. Ihnen möchte ich auch im Namen der Grünen-Fraktion danken; denn ohne diese Menschen hätte der Frieden keine Chance. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner in dieser Debatte ist Kollege Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kurz nach Ostern dieses Jahres habe ich den Südsudan und die UNMISS-Mission besucht. Wenn man in Juba oder in der dortigen Region ein Ministerium oder eine Polizeistation betritt, kann man plötzlich mit Händen greifen, was es bedeutet, wenn wir hier von fehlender oder mangelnder staatlicher Ordnung sprechen. Es ist offensichtlich, dass sie dort aufgrund der Ausrüstung und der Mittel, die im Moment zur Verfügung stehen, praktisch nicht in der Lage sind, ihr Volk in der Fläche zu erreichen, geschweige denn, ihm substanziell zu helfen und die humanitäre Situation und Sicherheit zu verbessern. Mein persönlicher Eindruck war, dass diese noch sehr unterentwickelten staatlichen Institutionen es nicht schaffen, in diesem Land eine staatliche Identität herzustellen. Nationale Identität entsteht immer mehr durch die Abgrenzung gegenüber dem Norden. Ich habe mit einem Provinzgouverneur, vergleichbar einem Ministerpräsidenten bei uns, gesprochen und ihn gefragt, wie er darüber denkt, dass der Südsudan die Ölförderung ausgesetzt hat und damit auf 90 Prozent seiner Einnahmen verzichtet. Er hat mir gesagt: Wir haben so lange für unsere Unabhängigkeit gekämpft, dass wir jetzt lieber auf das Geld verzichten, als dass wir uns vom Norden bestehlen lassen. Ein solcher Ansatz ist natürlich Wahnsinn. Er ist fatal und wirft den Staatsaufbau massiv zurück. Aber es keimt die Hoffnung, dass der Staat Südsudan mittlerweile auf einem besseren Weg ist. Der Friedensplan der Afrikanischen Union von Ende April und der massive Druck der Vereinten Nationen haben zu einer Waffenruhe geführt und dazu, dass die beiden Länder Ende September eine ganze Reihe von Vereinbarungen geschlossen haben, unter anderem zur Aufnahme von Wirtschaftsbeziehungen und zur WiederDr. Reinhard Brandl aufnahme der Ölförderung. Wenn das alles eingehalten wird, wäre das eine gute Grundlage für die Normalisierung der Beziehungen zwischen dem Sudan und dem Südsudan. Bei der Konsolidierung des Friedens, dem Aufbau staatlicher Strukturen und dem Schutz von Zivilisten spielt UNMISS eine zentrale Rolle. Lieber Herr van Aken, in der letzten Sitzungswoche war die Leiterin von UNMISS, Hilde Johnson, zu Gast im Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“. Sie hat im Ausschuss sehr eindrucksvoll dargestellt, wie die SPLA, unterstützt von UNMISS, im letzten Dezember während der Stammesauseinandersetzungen in Jonglei das Leben von Tausenden Zivilisten gerettet hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Website von UNMISS befindet sich ein ausführlicher Bericht, der Hunderte von Seiten lang ist, in dem dargestellt worden ist, was gut und was schlecht gelaufen ist und welches die „lessons learned“ für die Regierung sind. Natürlich ist nicht alles gut gelaufen, und natürlich kann man noch etwas verbessern, aber ohne die internationale Präsenz hätten wir diese Form der Aufarbeitung gar nicht. Wir würden wahrscheinlich erst Wochen später erfahren, dass überhaupt etwas passiert ist. Meine Damen und Herren, UNMISS hat massiv dazu beigetragen - nicht nur im Fall der Stammesauseinandersetzungen -, das Leben der Zivilisten zu schützen. Hilde Johnson hat bei ihrem Besuch sehr deutlich gemacht, wie wertvoll sie den zwar zahlenmäßig geringen, aber hochqualifizierten Beitrag der deutschen Soldaten und Polizisten einschätzt. Ich kann es von meinem Besuch in Südsudan aus eigenem Erleben bestätigen: Die Soldaten sind hochqualifiziert und hochmotiviert. Ich möchte ihnen von dieser Stelle aus für ihren Einsatz dort unten ganz herzlich danken. ({0}) In Südsudan halten sich jedoch nicht nur Soldaten und Polizisten auf, wenngleich aufgrund der Mandatierung immer wieder von diesen Personengruppen hier im Parlament die Rede ist. Ich habe dort auch zivile Mitarbeiter getroffen, zum Beispiel von der Deutschen Lepraund Tuberkulosehilfe oder von der Weltbank. Bei diesen Menschen, die oft mehrere Jahre in Südsudan verbringen, handelt es sich um wirklich beeindruckende Persönlichkeiten, deren Kraft und Idealismus ich nur bewundern kann. ({1}) Unser Dank gilt allen, die dort unten für das Land und für die Menschen arbeiten. Meine Fraktion wird dem Mandat zustimmen. Ich würde mich freuen, wenn auch dieses Mandat, ebenso wie das UNAMID-Mandat, über das wir eben abgestimmt haben, eine breite Zustimmung im Parlament erfahren würde. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili- gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Süd- sudan, UNMISS. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/11390, den An- trag der Bundesregierung auf Drucksache 17/11037 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na- mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Abstimmungsurnen besetzt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich die Abstim- mung. Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses abge- stimmt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er- gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege- ben.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages- ordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Gerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing- Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neue Struktur der Nationalen Anti Doping Agentur schaffen - Drucksache 17/11320 - Überweisungsvorschlag: Sportausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Doping an Olympiastützpunkten, Bundesleis- tungszentren und Bundesstützpunkten konse- quent bekämpfen - Drucksachen 17/8896, 17/10083 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Riegert Martin Gerster Katrin Kunert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 1) Ergebnis Seite 24794 D Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Bevor wir mit der Debatte beginnen, bitte ich die lieben Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen, sofern sie an dieser Debatte teilnehmen wollen, oder die Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Dagmar Freitag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002655, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zwei Anträge, die ein gemeinsames Ziel haben: den Kampf gegen Doping glaubwürdiger und vor allen Dingen effektiver zu machen. Um es gleich vorweg zu sagen: Es gibt weitaus mehr Stellschrauben als nur die beiden, die heute im Mittelpunkt der Debatte stehen. Ich denke da nur an eine strikte AntiDoping-Gesetzgebung, die mehr ist als nur ein Feigenblatt. Aber die Diskussion über dieses Thema kommt in absehbarer Zeit ebenfalls auf uns zu. Ich bin gespannt, ob sich Koalition und Bundesregierung dann auch einmal mit zielführenden Vorstellungen zu Wort melden oder weiter in Lethargie verharren. ({0}) Der Kampf gegen Doping in unserem Land weist an den entscheidenden Stellen leider mehr Schwächen als Stärken auf. Wie kann es beispielsweise sein, dass der Leiter eines Olympiastützpunktes keine Ahnung hat, welche Blutanalysen an seinem Stützpunkt durchgeführt werden? So geschehen in Erfurt, wo im Auftrag der Ärzte Blutanalysen durchgeführt und von ihnen auch ausgewertet wurden, der OSP-Leiter aber leider keinen Überblick über die durchgeführten Untersuchungen hatte. Schlimm genug; aber Sie können es sich denken: Es geht noch schlimmer. Auf meine Frage an den Vorsitzenden des dortigen Trägervereins, ob man sich denn wenigstens nach den verbotenen Blutbehandlungen durch den Arzt Andreas Franke nunmehr darum kümmere und schaue, was mit den Blutuntersuchungen an diesem OSP geschieht, bekam ich in einer Sitzung die Antwort, er sei nicht gekommen, um solche Fragen zu beantworten. ({1}) Dies war ein wahrlich beeindruckendes Zeugnis echter Nulltoleranzpolitik in Sachen Anti-Doping. Es lässt uns, wie ich finde, fassungslos auf eines der Kompetenzzentren im deutschen Spitzensport schauen. Und was, Herr Dr. Bergner, sagt das Bundesinnenministerium dazu, das auch diesen Olympiastützpunkt mit hohen öffentlichen Geldern fördert? Die Vermutung ist richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen: nichts. ({2}) Schauen wir auf ein anderes Kompetenzzentrum: die Nationale Anti Doping Agentur. Vor genau zehn Jahren aus der Taufe gehoben, hat sich dieses Pflänzchen aus vielerlei Gründen nur kümmerlich weiter- und in einigen Bereichen sogar zurückentwickelt. Gründe dafür gibt es reichlich. Ein ganz wesentlicher Grund, wenn auch nicht der einzige, liegt in der mangelnden finanziellen Ausstattung. Das der NADA zugrunde liegende Stiftungsmodell, liebe Kolleginnen und Kollegen, das die Stakeholder zwar mit Sitz und starker Stimme in den Gremien verankert, aber die von ihnen zu leistenden finanziellen Beiträge leider nicht verbindlich regelt, muss als gescheitert betrachtet werden. ({3}) Einzig der Bund ist seinen Verpflichtungen nachgekommen, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Diese Vorhaltung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, kann ich Ihnen nicht ersparen. Erst haben Sie den Zuschuss zum Stiftungskapital in Höhe von 1 Million Euro gestrichen, was sich im operativen Geschäft nicht sofort bemerkbar gemacht hat, aber natürlich ein Signal war, leider eines in die völlig falsche Richtung. ({4}) In der Koalition war es bereits ausgemachte Sache, für 2013 weitere 1 Million Euro zu streichen. Nur massiver öffentlicher Druck und der weitgehend ergebnislose Runde Tisch des Herrn Bundesinnenminister haben Sie auf der Zielgeraden der Haushaltsberatungen dazu bewegt, diese Million wenigstens für 2013 wieder einzustellen. Eines will ich gerne einräumen: Ich teile durchaus die berechtigte Verärgerung von Innenminister Friedrich über den weitgehenden Ausfall der anderen Stakeholder. Lediglich die Firma Adidas hat sich mit einer nicht unerheblichen und vor allen Dingen gleichbleibenden Summe bislang als verlässlicher Kofinanzier aus den Reihen der Wirtschaft erwiesen. Deshalb empfehlen wir einen Blick über den Tellerrand. In vielen Staaten übernimmt das jeweilige Nationale Olympische Komitee einen durchaus beachtlichen Finanzierungsanteil für die jeweilige Anti-DopingAgentur. Swiss Olympic beispielsweise trägt mit umgerechnet 1,5 Millionen Euro jährlich zur Finanzierung der Schweizer Anti-Doping-Agentur bei. Und der Deutsche Olympische Sportbund als NOK Deutschlands? Gerade einmal 400 000 Euro ist es ihm wert plus 100 000 Euro für das Ergebnismanagement - ein Armutszeugnis verglichen mit den Zahlen aus der Schweiz oder mit den USA, wo der jährliche Beitrag des dortigen NOK immerhin bei umgerechnet 2,6 Millionen Euro liegt. Eine glaubwürdige Nulltoleranzpolitik - das muss sich der DOSB sagen lassen - sieht wirklich anders aus. ({5}) Zum finanziellen Beitrag der Bundesländer ist eigentlich alles gesagt: Da kam nichts, und da kommt nichts. ({6}) - Bis auf Baden-Württemberg mit einem kleineren Beitrag; richtig, Herr Kollege Gerster. Wann, wenn nicht nach zehn langen Jahren, wollen wir endlich die Frage nach der Effektivität des derzeitigen Stiftungsmodells stellen? Wer sich dieser Frage nicht stellt, nimmt billigend in Kauf, dass die NADA in einem Jahr um diese Zeit wieder um ihre Finanzierung bangen, wenn nicht sogar betteln muss - mit all den bekannten Problemen wie Personalabbau und Verringerung der Kontrolle, um nur zwei Beispiele zu nennen. An dieser Stelle darf man sich schon über die Aussagen der NADA-Vorstandsvorsitzenden wundern, die sich kürzlich wiederholt öffentlich als Verfechterin des derzeitigen Stiftungsmodells zu erkennen gab. Tenor: Das Stakeholder-Modell mit Bund, Ländern, Sport und Wirtschaft habe sich bewährt, es befinde sich lediglich in einer Finanzierungsschieflage. ({7}) Alle Partner müssten dazu bewegt werden, Herr Dr. Bergner, ihren Beitrag zu leisten. Da kann ich nur sagen: Wohlan! Ich garantiere den Verantwortlichen der NADA: Mit dieser passiven Haltung stehen Sie in einem Jahr wieder vor der Frage, ob man mit den zur Verfügung stehenden Mitteln wenigstens einen Mindeststandard in der Doping-Bekämpfung einhalten kann. Mit anderen Worten: Same procedure as every year! ({8}) Trotz des unbestreitbaren Misserfolgs des runden Tisches kommt Minister Friedrich offenkundig zu dem Schluss, dass alles am besten so bleibt, wie es ist. Mir ist jedenfalls kein anderer Gedankengang aus dem Hause BMI bekannt. Gleiches gilt, wie durch entsprechende Äußerungen bereits eindrucksvoll belegt, für die NADA und für den Deutschen Olympischen Sportbund sowieso. Angesichts der Bedeutung einer wirklich starken NADA für einen sinnvollen und effektiven Kampf gegen Doping hält meine Fraktion dagegen eine Diskussion über die zukünftige Finanzierung und Struktur der NADA für unverzichtbar. ({9}) Wir fordern daher die Bundesregierung auf, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, die zeitnah Vorschläge für eine neue Träger- und Finanzierungsstruktur der NADA erarbeitet. Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich nach zehn schwierigen und teilweise quälenden Jahren dieser Diskussion zu verschließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es macht im Gegenteil viel Sinn, ergebnisoffen darüber zu diskutieren. Es gibt nichts zu verlieren, aber sehr viel zu gewinnen, ({10}) nämlich im Idealfall eine starke, unabhängige und mutige NADA, die unbeirrt im Sinne der sauberen Sportler ihren Weg geht. Gerade kam eine Meldung herein: Das Urteil des Deutschen Sportschiedsgerichts in der Causa Erfurt, das von der NADA als richtungsweisend eingestuft worden ist, wird selbst vom Generalsekretär der DIS so nicht bewertet. Ich bin gespannt, welche Erklärungen Vertreter unserer NADA dafür morgen wieder liefern werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Sinne: Helfen Sie uns, eine starke NADA hinzubekommen. Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann können wir diesen Weg gemeinsam gehen. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Bergner.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Freitag, ich wundere mich ein wenig über die Rhetorik. ({0}) Es beginnt mit der Feststellung, dass die Anti-DopingGesetzgebung, die wir haben, nichts anderes als ein Feigenblatt sei. Sie wissen, dass diese Gesetzgebung jüngst durch eine Institution, die wir im Einvernehmen festgelegt haben, einer Evaluierung unterzogen wurde. Sie kennen das Evaluierungsergebnis; es spricht nun wirklich nicht von einem Feigenblatt. ({1}) Sie sagen, das Bundesinnenministerium habe zur Causa Erfurt nichts gesagt. Sie wissen, dass wir Ihnen einen umfänglichen Bericht dazu vorgelegt haben. Viel mehr will ich dazu nicht sagen. Im Zusammenhang mit diesem Punkt scheint mir immer noch nicht hinreichend verstanden worden zu sein, dass es hier nicht um irgendein Verdeckungsproblem ging, sondern um ein Qualifizierungsproblem im Rahmen des WADA-Codes, das den eigentlichen Konfliktpunkt hervorgerufen hat. Am meisten irritiert mich Ihre verspätete Geburtstagsrede zum zehnten Jahrestag der NADA. Hier ist von quälenden Jahren die Rede und davon, dass der NADA eigentlich nicht zu trauen sei. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich Anlass haben, der NADA ein solches Etikett mitzugeben. Meine Damen und Herren, als ich den SPD-Antrag las, hatte ich eigentlich Ernsthafteres erwartet. Das Problem, das Sie dort ansprechen, nehmen wir durchaus ernst. Es ist das Problem, dass wir für die Anti-DopingArbeit der NADA bisher keine hinreichende nachhaltige Finanzierungssicherung liefern konnten. ({2}) Diese Finanzierungssicherung ist das eigentliche Problem. Ich frage mich, wie Sie es lösen wollen, wenn Sie damit die Strukturfrage verbinden. Vor zehn Jahren hatten Sie die Regierungsmehrheit. In dieser Zeit hat man sich aus guten Gründen dazu entschlossen, die NADA als eine privatrechtliche Stiftung einzuführen. Wie gesagt, dies geschah aus gutem Grund. Man wollte eine unabhängige Institution haben, ({3}) und zwar unabhängig gegenüber dem Sport, aber auch gegenüber dem Staat; denn natürlich sind Interessenkonflikte denkbar. ({4}) Ich kann mir sogar Zeitungskommentare dergestalt ausmalen, dass der Staat als Träger von Sportfördergruppen und damit mit besonderen Beziehungen zu bestimmten Athletinnen und Athleten bei einer rein staatlichen Finanzierung und der damit verbundenen staatlichen Abhängigkeit unter Umständen einen unredlichen Einfluss ausübt. Ich glaube, man hat sich vor zehn Jahren aus guten Gründen und nicht zuletzt um der Unabhängigkeit willen für ein privatrechtliches Stiftungsmodell entschieden. Hier deckt sich meine Aussage vollkommen mit dem, was die Vorstandsvorsitzende Gotzmann gesagt hat. Wenn wir über den Tellerrand schauen, dann dürfte uns auch auffallen, dass von den führenden Sportnationen sehr viele genau dieses privatrechtliche Stiftungsmodell für ihre nationalen Anti-Doping-Agenturen verwenden. Ich will nur auf die USA hinweisen, wo sich dieses Modell im Zusammenhang mit der Causa Armstrong - das war eine sehr lange und sehr mühselige Aufklärungsarbeit - als ausgesprochen erfolgreich erwiesen hat. ({5}) Worum geht es also? Es geht um die Sicherstellung einer nachhaltigen Finanzierung. Auch in diesem Zusammenhang bitte ich um eine redliche Argumentation. Wir haben die Mittel nicht gestrichen, sondern wir haben uns seinerzeit, im Jahr 2007, als wir gemeinsam eine Koalition gebildet haben, gemeinsam darauf verständigt, dass wir zusätzliche Stiftungsmittel einstellen und eine Anschubfinanzierung für die Sportverbände zur Verfügung stellen, damit sie den zusätzlichen Anforderungen, die mit einer vermehrten Probenahme verbunden sind, gerecht werden können. Diese Anschubfinanzierung war von vornherein begrenzt. Im Grunde genommen war sie schon im laufenden Haushalt nicht mehr vorgesehen. Es ist bedauerlich, dass wir vonseiten des Bundes aufgrund der Tatsache, dass sich andere verweigert haben, nachliefern mussten. ({6}) Wir sollten uns auf den eigentlichen Anlass zur Besorgnis, auf den verbesserungsbedürftigen Sachverhalt, konzentrieren. Das ist der Umstand, dass der Bund im Rahmen des Stakeholder-Modells bisher fast ausschließlich die Finanzierungsleistung erbringt. Die Bundesregierung hat sich nachdrücklich bemüht, diesbezüglich zu einer entsprechenden Erweiterung zu kommen. Sie wissen, dass wir in der Sportministerkonferenz und am runden Tisch dafür geworben haben. Ich will den Landesregierungen von Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern sowie der Otto Bock GmbH, die im Ergebnis dieses Prozesses zusätzliche Mittel bereitgestellt haben, ausdrücklich danken. ({7}) - Ich bitte Sie, sich verantwortungsbewusst zu verhalten und darüber nachzudenken, welche Zwischenrufe Sie hier gerade produzieren: „Jämmerlich!“, „Unzureichend!“ ({8}) Wenn Sie eine vollständig staatlich finanzierte NADA haben wollen, dann liegt die Finanzierung im Ermessen des jeweiligen Haushaltsgesetzgebers, und zwar ausschließlich. Sie geben mit dieser Veränderung ein wesentliches Stück der Unabhängigkeit und der sachgerechten Bearbeitung im Anti-Doping-Kampf auf; denn es geht ja um die Durchsetzung und Überwachung sportrechtlicher Regelungen. Deshalb bitte ich Sie ausdrücklich: Würdigen Sie die Leistungen der NADA in den letzten zehn Jahren. Sie ist international anerkannt. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland eine beispielgebende Nationale Anti Doping Agentur. Sie hat international eine Vorbildfunktion. Lassen Sie uns gemeinsam dafür werben, dass diese Institution auch in ihrer Unabhängigkeit eine angemessene Förderung durch alle Stakeholder erfährt. ({9}) Das ist die eigentliche Lösung des Problems und nicht ein Systemwechsel in Richtung Verstaatlichung der NADA. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan ({0}) auf Grundlage der Resolutionen 1996 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und 2057 ({2}) vom 5. Juli 2012“ mitteilen: abgegebene Stimmen 563. Mit Ja haben gestimmt 496, mit Nein haben gestimmt 65, Enthaltungen 2. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 561; davon ja: 494 nein: 65 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({3}) Manfred Behrens ({4}) Peter Beyer Steffen Bilger Peter Bleser Wolfgang Börnsen ({5}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({6}) Dirk Fischer ({7}) Axel E. Fischer ({8}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser ({9}) Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Alois Karl Siegfried Kauder ({10}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({11}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({12}) Nadine Schön ({13}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({14}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Henning Otte Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({15}) Lothar Riebsamen Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({16}) Anita Schäfer ({17}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({18}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({19}) Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Dieter Stier Gero Storjohann Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({20}) Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({21}) Stefanie Vogelsang Dr. Johann Wadephul Kai Wegner Marcus Weinberg ({22}) Peter Weiß ({23}) Sabine Weiss ({24}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Lothar Binding ({25}) Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({26}) Edelgard Bulmahn Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Graf ({27}) Kerstin Griese Gabriele Groneberg Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({28}) Hubertus Heil ({29}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Frank Hofmann ({30}) Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({31}) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Christine Lambrecht Christian Lange ({32}) Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({33}) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({34}) Michael Roth ({35}) Marlene Rupprecht ({36}) Annette Sawade Anton Schaaf Axel Schäfer ({37}) Bernd Scheelen ({38}) Werner Schieder ({39}) Ulla Schmidt ({40}) Carsten Schneider ({41}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({42}) Ewald Schurer Frank Schwabe Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({43}) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({44}) Florian Bernschneider Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Angelika Brunkhorst Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({45}) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Pascal Kober Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({46}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Michael Link ({47}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Gabriele Molitor Jan Mücke Dirk Niebel ({48}) Cornelia Pieper Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Johannes Vogel ({49}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({50}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({51}) Volker Beck ({52}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({53}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({54}) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Beate Müller-Gemmeke Omid Nouripour Dr. Hermann E. Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({55}) Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Daniela Wagner Arfst Wagner ({56}) Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Heike Hänsel Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Johanna Voß Sahra Wagenknecht Harald Weinberg Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann Enthalten SPD Petra Hinz ({57}) DIE LINKE Paul Schäfer ({58}) Nun erteile ich Kollegen Jens Petermann für die Fraktion Die Linke das Wort. ({59})

Jens Petermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004128, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mafiöse Strukturen und systematisches Doping im Sport gehen Hand in Hand. Besonders exemplarisch und spektakulär ist der Fall Armstrong, der die Sportwelt in den vergangenen Wochen und Monaten wie kaum ein anderes Ereignis erschütterte. Der Abgrund - er wurde von vielen kundigen Beobachtern der Szene bereits seit langem vermutet - ist jetzt sichtbar. Die Tragweite ist bislang noch unklar. Sportfunktionäre, insbesondere bei der Internationalen Radsport-Union, ringen förmlich nach Luft. Hier geht es nicht nur um das tragische Schicksal einer einzelnen Person. Hinter dem Skandal Armstrong steckt ein ganzes System aus Sportärzten, Sportfunktionären, Sportlern und Geschäftsleuten. In besonders erschreckendem Ausmaß zeigt sich, wie mit Doping im Sport skrupellos Geschäfte gemacht werden. Die Kommerzialisierung des Sports ist eine wesentliche Ursache für ein betrügerisches Dopingsystem, das offensichtlich im Alltag der Sportwelt einen festen Platz hat. Das gibt uns allen, die ein Herz für den Sport haben, zu denken. Lassen Sie uns also das zum Anlass nehmen, um über Parteigrenzen hinweg nach Lösungen zu suchen. Ein wesentliches Moment ist die Verfolgung und Aufklärung von Dopingdelikten. Leider - das ist hier schon angeklungen - können wir mit der NADA, wie sie derzeit aufgestellt ist, keinen Staat machen. Die Aufdeckung des Falls Armstrong wäre wohl nie gelungen, wenn die US-Anti-Doping-Agentur nicht so einen langen, vor allem finanziellen, Atem gehabt hätte. Herr Bergner, da haben Sie völlig recht. Bereits 2003 hatte die US-amerikanische Anti-Doping-Agentur Einnahmen von über 10 Millionen US-Dollar, übrigens deutlich mehr als die Hälfte aus Zuwendungen des Staates. Das jährliche Gefeilsche im Sportausschuss um 1 Million Euro ist vor diesem Hintergrund wirklich lächerlich und ein Armutszeugnis. ({0}) Im Zentrum der Lösungen, nach denen wir gemeinsam suchen sollten, muss aus unserer Sicht vor allem eine Verbesserung der Prävention stehen. Doping ist kein alleiniges Phänomen des Spitzensports. Doping ist leider auch im Jugend- und Breitensport weit verbreitet. Hier geht es neben der Moral vor allem auch um die Gesundheit Tausender Menschen. Nierenschäden, Herzschwäche, Hautveränderungen und Veränderungen der Geschlechtsmerkmale sind nur einige der Nebenwirkungen, die insbesondere auf Anabolikamissbrauch zurückzuführen sind. Bereits Jugendliche müssen über die Gefahren für Leib und Leben aufgeklärt werden. Vielversprechende Ansätze wie beispielsweise die jährlich stattfindende Regionalkonferenz „Dopingprävention“ der Deutschen Sportjugend müssen zu einem flächendeckenden Angebot weiterentwickelt werden. ({1}) Dass diese Angebote Geld kosten, ist klar. Weitere Investitionen sind also unausweichlich. In der Pflicht steht dabei vor allem der Bund. Die Bundesregierung schreibt sich in ihrem letzten Sportbericht eine Vorreiterrolle zu. Das finanzielle Engagement indes ist überschaubar und steht in keinem Verhältnis zu den Herausforderungen, die der Anti-Doping-Kampf mit sich bringt. Die Bundesregierung hat sich damit ein echtes Glaubwürdigkeitsproblem geschaffen. Die Lippenbekenntnisse des Innenministeriums sind für die Galerie und helfen nicht weiter. Besonders pikant wird das Ganze, wenn wir zeitgleich erfahren müssen, dass es an der Bereitschaft zur Aufarbeitung mangelt. Aktuelles Beispiel hierfür ist ein Forschungsprojekt über Doping in Deutschland, das 1950 vom Deutschen Olympischen Sportbund initiiert und vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft beauftragt und gefördert wurde, nun aber offensichtlich nicht beendet werden kann. Das Bundesministerium des Innern und der Deutsche Olympische Sportbund schieben nun den beauftragten Wissenschaftlern den Schwarzen Peter zu. Diese hatten allerdings schon bei der Vorstellung des Zwischenberichts im Jahre 2011 regelwidrige Einflussnahmen durch die Auftraggeber beklagt. Mit dem Mittel der Zensur soll durch Schwärzungen Rücksicht auf prominente Namen aus Sport und Politik genommen werden. Im Sportausschuss wurde das Thema leider auf Mitte Januar verschoben. Dies ist völlig unverständlich. Dies ist ein typischer Fall für brutalstmögliche und zügige Aufklärung. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - So bekommen wir jedenfalls das Thema Doping nicht in den Griff. Die Verantwortlichen müssen endlich ehrlich, unvoreingenommen und ohne politische Rücksichtnahme handeln. Sonst wabert über dem deutschen Anti-DopingKampf weiterhin ein Nebelschleier der Scheinheiligkeit. Danke. Frau Präsidentin, ich bin jetzt fertig. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wie schön. - Das Wort hat der Kollege Dr. Lutz Knopek für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lutz Knopek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004074, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Antrag der SPD wird zu Recht festgestellt: Doping gefährdet die Grundwerte des Sports und zerstört ihn somit in seiner Substanz. - Dem können wir als Sportpolitiker alle zustimmen. ({0}) Es ist klar - Herr Petermann hat es angesprochen -, dass der Kampf gegen Doping eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist. Der Breitensport, die Schulen, die Familien: sie alle sind im Kampf gegen Doping gefordert. Es heißt in dem Antrag: Größtes Problem der NADA ist die mangelhafte finanzielle Ausstattung. Da müssen wir uns in Erinnerung rufen, wie es zur Gründung der NADA kam: Nachdem das IOC, als im Zusammenhang mit der Vergabe der Olympischen Winterspiele 2002 in Salt Lake City der Verdacht der Korruption aufgekommen war, eine heftige Krise durchlebt hatte, gab es die World Conference on Doping, es gab die Deklaration von Lausanne, und es folgte 1999 die Gründung der WADA und dann, drei Jahre später, der NADA. Herr Bergner hat ganz richtig gesagt: Es gibt gute Gründe dafür, dass die NADA die Struktur hat, die sie hat; denn für uns hat die Autonomie des Sports einen ganz hohen Stellenwert. Gerade nach den Erfahrungen mit dem Staatsdoping der DDR müsste doch eigentlich klar sein, dass eine staatliche Anti-Doping-Agentur nicht automatisch die Lösung aller Probleme sein muss. ({1}) Deshalb ist die NADA nach dem Stakeholder-Modell aufgebaut, deshalb haben wir eine privatrechtliche Stiftung. Das war 2002 eine Entscheidung der rot-grünen Koalition, ({2}) und diese Entscheidung ist grundsätzlich richtig gewesen. Als Stiftungskapital waren ursprünglich 80 Millionen Euro angesetzt. ({3}) Geworden sind daraus nur gut 6 Millionen Euro. Die Länder haben eine traurige Rolle gespielt: Sie haben gerade einmal 1 Million Euro beigesteuert. Die Beteiligung der Wirtschaft ist erst recht beschämend: Da kamen initial gerade einmal 150 000 Euro zusammen. Die Rolle des Bundes sollte eigentlich nur aus einer Anschubfinanzierung bestehen. Aktuell kommen aber ungefähr 85 Prozent des Stiftungskapitals vom Bund. Die NADA war also von Anfang an unterfinanziert. Jetzt kommt ein weiteres Problem dazu: Das Stiftungskapital verzinst sich kaum. Dieser Vorwurf betrifft Herrn Draghi und die Nullzinspolitik der EZB; wir Sportpolitiker können nichts dagegen machen. ({4}) Grundsätzliche Überlegungen für die Zukunft sind also sinnvoll. Fürs Erste ist die Finanzierung gesichert: Der Bund zahlt noch einmal 1 Million Euro; vielen Dank. ({5}) Nun sind die Länder und die Wirtschaft gefragt. Ein Dank geht an Baden-Württemberg dafür, dass BadenWürttemberg - sicherlich durch einen grünen Impuls ({6}) - durch einen grün-roten Impuls - eine Vorreiterfunktion eingenommen hat. Die anderen Länder müssen nachfolgen. Aber auch die Wirtschaft muss sich wesentlich mehr engagieren. Ich finde es klasse, wenn die Firma Adidas und die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände vorangehen. Das ist nicht das klassische Sponsoring, bei dem man unmittelbar einen positiven Produkteffekt hat; aber es steht einer verantwortungsvollen Sportindustrie gut zu Gesicht, sich hier mehr zu engagieren. Ich vertraue dem, was der neue Vorsitzende des Aufsichtsrates der NADA, Professor Näder, vor einigen Monaten bei uns im Sportausschuss gesagt hat: dass er sich als Mann aus der Wirtschaft noch einmal um Unterstützung aus der Wirtschaft kümmern wird. - Ich bin mir sicher, hier wird sich etwas tun. Es hat in der NADA aber auch organisatorische Anlaufschwierigkeiten gegeben. Als wir gestern im Sportausschuss den Anti-Doping-Bericht 2011 diskutiert haben, haben wir darüber gesprochen. Die Implementierung der Anti-Doping-Regularien war schwierig. Es geht um 60- bis 70-seitige Regelwerke und 57 vom Bund geförderte Verbände. Darunter befinden sich auch kleinere Verbände mit ehrenamtlichen Strukturen. Dies hat einer aufwendigen persönlichen Beratung bedurft. Mittlerweile gibt es gemeinsam mit dem DOSB Schulungen und eine E-Learning-Plattform. Es geht also voran. Dennoch ein weiterer Appell an die Länder: Die bürokratischen Hürden müssen abgebaut werden; denn - Herr Petermann sagte es - die Prävention ist hier ganz besonders wichtig. Präventionsveranstaltungen sind aber Aufgabe der Länder. Die NADA hat also einen schwierigen Start gehabt, leistet inzwischen aber gute Arbeit. Die SPD fordert nun die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission. Dazu kann ich nur sagen: noch eine Kommission. ({7}) Kommen wir zum zweiten Antrag. Sie sprechen vom Erfurter Skandal. In Ihrem Antrag heißt es: Medienberichten zufolge soll es am Olympiastützpunkt Thüringen zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein. Medienberichte? Was ist denn das für eine Evidenz? Statt über Medienberichte zu reden, sollten wir lieber in Ruhe die Untersuchungsergebnisse abwarten und dann angemessen entscheiden. Was war denn das überhaupt für ein Skandal? Es ging um eine Eigenblutinfusion. ({8}) 50 Milliliter Blut wurden dem Körper entnommen, danach mit UV-Licht bestrahlt und dann dem Körper wieder zugeführt. ({9}) Kein einziger der führenden Hämatologen kann sich hier das Potenzial eines leistungssteigernden Effektes vorstellen. ({10}) Die Sache war also vielleicht formal relevant, aber hier ist keinerlei leistungssteigernder Effekt abzusehen. ({11}) Es ist also ein Problem, dass es hier zu Quacksalberei kommt, die man sonst nur bei Heilpraktikern erlebt. Wie ist es eigentlich um die medizinische Qualität der Sportmedizin an unseren Olympiastützpunkten bestellt? Für mich ist der eigentliche Skandal: Wird so ein Humbug etwa durch Steuergelder bezahlt? ({12}) Kommen wir zu den Forderungen in Ihrem Antrag. Das sind die üblichen Appelle, gemischt mit einer Prise Heuchelei und leider auch mit einer sehr fragwürdigen Forderung: Alle Sportler und Sportlerinnen, die in Stützpunkten trainieren, müssen frei von jeglichem Dopingverdacht sein. Entscheidet also der bloße Verdacht - egal von wem erhoben, egal ob begründet? Das erinnert mich doch etwas an die Denkweise totalitärer Systeme. Sie sagen, für eine effektive Dopingbekämpfung sei eine nachhaltige und ausreichende Finanzierung unabdingbar. Das ist richtig. Wir arbeiten daran. Darüber dürfen wir aber nicht vergessen, dass die NADA inzwischen gute Arbeit leistet. Wir sollten das unterstützen und nicht infrage stellen. Die FDP-Fraktion lehnt daher beide Anträge ab. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Viola Cramon-Taubadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004025, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines vorweg: Die Debatte um die NADA-Finanzierung ist eine Farce. Wie in jedem Jahr beschließen Sie, Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, in einer Hauruckaktion, der NADA ein weiteres Mal 1 Million Euro zuzuschießen. ({0}) Damit beheben Sie aber das Grundproblem des AntiDoping-Kampfes nicht. ({1}) Die NADA ist chronisch unterfinanziert und kehrt auch mit einer zusätzlichen Million nur zum Finanzierungsstand des Vorjahres zurück. Der tatsächliche Fehlbedarf liegt bei 1,35 Millionen Euro. Herr Knopek, Sie sagen, dass Sie auf die Otto Bock HealthCare GmbH hoffen. Das ist ein Mittelständler im Eichsfeld. Er soll sich jetzt dafür einsetzen, den AntiDoping-Kampf in Deutschland zu reanimieren. Man muss wirklich sagen: Das ist ein absoluter Witz. ({2}) Warum der Hilfeschrei der NADA für den notwendigen Mittelaufwuchs erst so spät erfolgte, versteht allerdings auch niemand. Gegenfinanziert wird diese Million übrigens aus dem Traineretat, einer Gruppe - die Trainer -, die über die Gründung des Trainerbeirats eigentlich gestärkt und nicht geschwächt werden sollte. Wir Grüne plädieren für Planungssicherheit und haben deshalb einen zukunftsfähigen Vorschlag vorgelegt, der auch den Spitzensport selbst nicht verschont. Aus Sicht der Grünen ist es unerlässlich, einen Teil der Mittel für die Spitzensportförderung in den Anti-DopingKampf zu stecken. Wenn der Sport beweisen will, dass er sauber ist und dass ihm die Dopingbekämpfung ein echtes Anliegen ist, dann spricht nichts dagegen, automatisch 5 Prozent der Förderung für Dopingbekämpfung, für Prävention und für Anti-Doping-Forschung auszugeben. ({3}) Zum Vergleich: In Frankreich sind es sogar 10 Prozent. Die Koalition aber hat sich diesem Vorschlag verweigert. Ich sage Ihnen voraus - auch das hat Frau Freitag eben schon erwähnt -: Wir werden in einem Jahr wieder hier sitzen, um über die Unterfinanzierung der NADA zu debattieren. Mit der jetzigen Zahlung zeigt die Koalition allerdings keinen Großmut, im Gegenteil. Sie stellen doch mit Ihrer Last-Minute-Episode nur eines unter Beweis: Der Runde Tisch des Innenministers vom Februar ist endgültig gescheitert. Anstatt die Länder zum Zahlen zu bewegen, bringt der Herr Minister diese mit seinem Vorgehen gegen sich auf. Nur das grün-rot-regierte - ich hätte auch fast rot-grün gesagt - Baden-Württemberg zeigt Flagge ({4}) und zahlt 128 000 Euro für drei Jahre. Wo ist denn der Beitrag des CSU-regierten Bayern? Ich frage Sie. Allerdings hat sich auch die NADA sonst nicht mit Ruhm bekleckert. Während in den USA das Denkmal Armstrong durch kluge Ermittlungen, aber auch mit Unterstützung der WADA gestürzt wurde, freut sich die NADA hier, wenn die Verfahren vom Deutschen Sportschiedsgericht folgenlos eingestellt werden. ({5}) - Ich habe nicht Äpfel mit Birnen verglichen. Wir haben hier eine NADA, und wir haben dort eine unabhängige USADA. Beide könnten das Gleiche leisten. Wir haben hier Versagen, dort gibt es Erfolge. Das ist die Wahrheit. ({6}) Wir halten fest: Es gibt ständig Personalwechsel bei der NADA. Ab 2011 hätte die NADA eine Chance für personelle Kontinuität gehabt, aber eine engagierte kommissarische Geschäftsführerin wurde abgewatscht, Querdenker oder investigatives Personal wurden nicht eingestellt. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. In der Causa Erfurt ist die NADA jedes Mal einen Schritt zu spät: zu späte Akteneinsicht, zu spätes Einleiten der Ermittlungen. Anschließend überwirft sie sich auch noch mit der WADA. Das wenig wirksame Kontrollsystem krankt an Ineffizienz. Obwohl seit mehreren Jahren Blutkontrollen durch die NADA eingelagert werden und somit zur weiteren Verwendung zur Verfügung stehen, wurde immer noch kein indirekter Nachweis durch die Sportverbände geführt. Das ist das gängige Prinzip bei der Dopingbekämpfung in Deutschland. Man betrachtet sich selbst als die Spitze der Bewegung beim Anti-Doping-Kampf. Aber tatsächlich trägt man die rote Laterne. Die Bundesregierung hat bislang kein Konzept zur Qualitätsverbesserung vorgelegt. Sie kritisiert lieber die WADA, anstatt vor der eigenen Haustür zu kehren. Und mal ganz ehrlich: Wir wissen doch jetzt schon, was bei Professor Jahn und seiner Evaluierung des Arzneimittelgesetzes rauskommen wird. In der Evaluierung wird der Spitzensport gar nicht aufgegriffen. Wir beschäftigen uns dort mit dem Breitensport. Das, was Sie dazu in Auftrag gegeben haben, ist doch ein Witz; das kann man gar nicht anders sagen. Für mich steht fest: Die besten Dopingbekämpfer sitzen außerhalb der NADA, wie zum Beispiel das Ehepaar Berendonk/Franke, der Präventionsexperte Gerhard Treutlein oder auch der Sportmediziner Perikles Simon. Daher bleibt das Fazit: Die NADA ist seit 2002 in den Startblöcken stecken geblieben. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Klaus Riegert für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundespräsident Gauck hat gestern bei der Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes überraschenderweise auch den Kampf gegen Doping gewürdigt und ausdrücklich der NADA für ihre gute Arbeit gedankt. ({0}) Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, das Ganze anzupacken. ({1}) Wir haben hier Einigkeit im Kampf gegen Doping, das ist ja richtig. Aber zum SPD-Antrag zur Unzeit kann ich nur sagen: unsolidarisch. Wir bauen auf Länder, Wirtschaft und Sport Druck auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Wir haben vor zehn Jahren mit den Ländern, der Wirtschaft und dem Sport ein StakeholderModell als gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Dopingbekämpfung verabredet. Bisher ist nur der Bund seinen Verpflichtungen nachgekommen. Er hat rund 11 Millionen Euro ins Stiftungskapital gegeben und hat im Haushaltplanentwurf für 2013 2,2 Millionen Euro in Ansatz gebracht. Hinzu kommt 1 Million Euro heute - ich hätte beinahe gesagt: in der Nacht der langen Messer - durch den Beschluss des Haushaltsausschusses bei der Bereinigungssitzung. In Ihrem Antrag lese ich dann: Doch auch die Mittel des Bundes sind von der derzeitigen Bundesregierung gekürzt worden, so dass schon in diesem Jahr nur durch zusätzliche Mittel, die im Rahmen der Haushaltsberatungen nachträglich eingestellt wurden, der geordnete Betrieb der NADA für 2013 aufrecht erhalten werden kann. ({2}) Der erste Punkt: Das ist nicht korrekt, weil es immer um eine Anschubfinanzierung ging. Es war von Beginn an klar, dass diese Anschubfinanzierung nach vier Jahren ausläuft. ({3}) Der zweite Punkt: Es ist für Sie als Abgeordnete wirklich erbärmlich: Wir dringen auf das Königsrecht des Parlaments, das Haushaltsrecht. Die Haushaltsberatungen finden im Augenblick statt. Auf unseren Antrag hin wird 1 Million Euro zusätzlich eingestellt. Das aber diskreditieren Sie mit Ihrem Antrag. Das, was Sie da machen, ist völlig unmöglich. ({4}) Schauen wir, was noch in Ihrem Antrag steht. Sie schreiben: Dies ist nicht hinnehmbar, da eine glaubwürdige Dopingbekämpfung nur von einer starken, unabhängigen und finanziell dauerhaft auf sicheren Füßen stehenden NADA geführt werden kann. Was ist Ihre Antwort darauf? Die Einsetzung einer Expertenkommission. Ich lache mich ja kaputt. Sie hätten wenigstens ehrlich sein und schreiben können: Alles soll verstaatlicht werden, der Bund soll alles zahlen, auch wenn das zulasten des Sports im Haushalt geht. Mit der Unabhängigkeit ist es vorbei. Die Verantwortungen sind damit verlagert. Der Sport wird aus seiner Verantwortung entlassen. - Wenn Sie das wollen, dann sollten Sie das auch so in den Antrag schreiben. ({5}) Liebe Frau Vorsitzende, ein Wort zur Unabhängigkeit. Sie beklagen, die NADA habe nicht den nötigen Biss. Wir hätten von Ihnen als neutrale Vorsitzende des Sportausschusses und auch als Mitglied des Aufsichtsrats der NADA nicht erwartet, dass Sie der NADA in dieser Form in den Rücken fallen. Wir erwarten, dass Sie sich bei solchen politischen Themen etwas neutraler verhalten und vor allem auch sachgerechter äußern. ({6}) Zu Ihrem zweiten Antrag. Schon die Überschrift ist verräterisch: „Doping an Olympiastützpunkten, Bundesleistungszentren und Bundesstützpunkten konsequent bekämpfen“. Das wirkt so, als ob Sie davon ausgingen, dass an unseren Zentren, die überwiegend aus Steuergeldern finanziert werden, in hohem Maße gedopt wird. ({7}) Dann vergleicht die Frau von Cramon-Taubadel den Fall Armstrong, bei dem über Jahre nachgewiesenermaßen knallhart gedopt wurde, mit der Causa Erfurt. Das haben Sie gerade in Ihrer Rede gemacht. ({8}) Man muss aber der Öffentlichkeit erzählen, was dort genau passiert ist. Der Kollege Knopek hat das vorgemacht. ({9}) Wir sind zwar beim Thema Heilpraktiker und der Qualität ihrer Arbeit geteilter Meinung, aber ansonsten hat er es zutreffend geschildert: 50 Milliliter Blut wurden mit UV-Licht bestrahlt und dann zurückinjiziert. Nur: Sieht so knallhart verdecktes Doping in diesem Fall aus? Der zuständige Arzt hat dieses Verfahren auf einem medizinischen Bogen vermerkt. Diese Maßnahme wurde dann auch entsprechend abgerechnet, und zwar mit 17,50 Euro. Das in einen Zusammenhang mit konspirativem Doping zu stellen, das ist schon ziemlich weit hergeholt. ({10}) Jetzt hat das Deutsche Sportschiedsgericht hierzu eine Entscheidung getroffen. Solange der CAS keine andere Entscheidung getroffen hat, können Sie hier nicht behaupten, diese Maßnahme sei verboten. Das ist definitiv erst ab dem Jahr 2012 ganz klar vom WADA-Code erfasst. Vorher kann man den Sportlern keinen Vorwurf machen. Deshalb lassen Sie uns wieder ein Stück weit ruhiger diskutieren. Wir brauchen die NADA. Die NADA hat sich zum Kompetenzzentrum für Dopingbekämpfung in Deutschland entwickelt, ist international anerkannt, hat den WADA-Code, entsprechende Vorgaben und Richtlinien durchgesetzt. Deswegen lassen Sie uns hier nicht so ({11}) emotional diskutieren, sondern wieder zu den Fakten zurückkehren. Sie werden Verständnis dafür haben, dass wir beide Anträge von Ihnen ablehnen. Danke. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/11320 an den Sportausschuss vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Sportausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Doping an Olympia- stützpunkten, Bundesleistungszentren und Bundesstütz- punkten konsequent bekämpfen“. Der Ausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10083, den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck- sache 17/8896 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage- gen haben SPD und Grüne gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung - Drucksache 17/9874 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/11388 - Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Burkhard Lischka Halina Wawzyniak b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung - zu dem Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einsetzung einer Expertenkommission zur Sicherungsverwahrung - Drucksachen 17/8760, 17/7843, 17/11388 Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Burkhard Lischka Halina Wawzyniak Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Der Kollege Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({2})

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend über die Umsetzung des Abstandsgebotes und schließen damit die Reform der Sicherungsverwahrung ab, die 2010 begonnen hat. 2010 haben wir die Sicherungsverwahrung zuerst durch die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung und mit dem Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung reformiert. Jetzt folgt - schon damals angelegt - das Therapieunterbringungsgesetz, mit dem wir das Abstandsgebot rechtlich verankern. Damit setzen wir das Gesamtkonzept um, das das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom Mai 2011 verlangt. Wir können feststellen: Mit dieser Reform haben wir erstens erreicht, dass das Recht der Sicherungsverwahrung wieder auf verfassungsmäßig festem Boden steht, und zweitens, dass die Sicherheit für die Menschen in Deutschland effektiver und besser geworden ist, insbesondere was den Schutz vor gefährlichen Straftätern angeht. ({0}) Für diese Arbeit möchte ich mich bei der Justizministerin und ihrem Ministerium, aber auch bei den Kollegen von der Koalition bedanken. Diesem schwierigen Gesetz sind sehr umfassende, aber auch sehr konstruktive Beratungen vorausgegangen. In der gestrigen Beratung im Rechtsausschuss hat auch die Opposition anerkannt, dass das, was wir mit dem Abstandsgebot umsetzen, vernünftig und richtig ist und sich exakt an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Trotzdem gibt es eine Restkritik, die hier nicht unerwähnt bleiben soll, und zwar einfach deshalb, weil sie uns in der nächsten Zeit noch beschäftigen wird. Ich möchte daher einen kleinen Rückblick auf das wagen, was uns Probleme beim Recht der Sicherungsverwahrung bereitet hat. Wir haben 1998 den ersten Fehler gemacht, als die Zehnjahresfrist abgeschafft wurde und Personen, die bereits in Sicherungsverwahrung waren, längere Zeit in Sicherungsverwahrung geblieben sind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dies 2009 wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsgebot im Grunde genommen kassiert. Die Folge dieser Entscheidung war, dass wir nach 2009 Straftäter entlassen mussten, die auf ein Leben in Freiheit nicht vorbereitet und nicht theraChristian Ahrendt piert waren. Teilweise waren sehr umfangreiche Polizeimaßnahmen erforderlich, um die betreffenden Straftäter zu überwachen und die Bevölkerung zu schützen. Ein weiterer relevanter Punkt war 2004 die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach einer grausamen Straftat in Neumünster und dem aus dem Jahr 2001 stammenden allbekannten Satz: „Wegschließen - und zwar für immer!“ Auch die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat beim Bundesverfassungsgericht auf dem Prüfstand gestanden. Damit bin ich genau an der Schnittstelle, die uns sicherlich in den kommenden Debatten noch beschäftigen wird, nämlich bei der Frage: Ist nach wie vor eine nachträgliche Sicherungsverwahrung auch unter Beachtung des Abstandsgebotes zulässig? Wenn man heute die Pressemeldungen liest und die Äußerungen der Landesjustizminister zur Kenntnis nimmt, dann hat man das Gefühl, dass wir eine Debatte im Bundesrat vor uns haben, die ich, auch wenn ich den Antrag der SPD sehe, für durchaus gefährlich halte - gefährlich deswegen, weil wir es, wie ich eingangs gesagt habe, geschafft haben, das Recht der Sicherungsverwahrung wieder auf einen verfassungsmäßig festen Boden zu stellen. Wenn wir uns aber wieder auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung oder die nachträgliche Therapieunterbringung, um den aktuellen Begriff zu verwenden, hinbewegen, dann geben wir diesem Gesetz im Grunde genommen die Verfassungswidrigkeit schon wieder mit auf den Weg. ({1}) Wenn wir nicht das wollen, was 2009 passiert ist, nämlich dass wir irgendwann eine Anzahl von Straftätern entlassen müssen, dann sollten wir tunlichst davon absehen. Ich will Ihnen die Gründe nennen, warum ich das für den falschen Weg halte. Der erste Grund ist: Wenn man sich die Praxis anschaut, dann stellt man fest, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Grunde genommen zu vernachlässigen gewesen ist. ({2}) Derzeit gibt es gerade einmal 15 Fälle von 500, die davon betroffen sind. ({3}) Es sind in den Jahren seit 2004 über 115 Fälle von den obersten Gerichten abgelehnt worden, für die nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt worden ist. Der zweite Grund betrifft ein Problem, das mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu tun hat. Um überhaupt in die Nähe einer nachträglichen Therapieunterbringung zu kommen, braucht man das Drohen einer spezifisch konkreten Straftat. Das betrifft nicht die ferne Zukunft, nicht einen Zeitraum von zwei, drei Monaten, sondern es handelt sich um wenige Tage, bevor so etwas passiert. Damit ist eigentlich schon ausgeschlossen, dass Sie überhaupt eine nachträgliche Therapieunterbringung mit einem vernünftigen Rahmen in das Gesetz bekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat noch eine weitere Voraussetzung formuliert: Das ist die psychische Störung. Alles zusammengenommen zeigt die Schwierigkeit, dieses Rechtsgebiet zu regeln. Deswegen haben wir im Konzept 2010 das getan, was uns als richtiger Weg vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist. Das ist der Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung; denn damit erreichen wir mehrere Ziele. Die Gefährlichkeit des Täters wird durch seine Tat sichtbar. Sie ist sichtbar, wenn sie abgeurteilt wird. Anhand dessen, was der Richter zum Zeitpunkt der Urteilsabfassung weiß, kann er entscheiden, ob vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet wird oder nicht. Dann haben wir einen Täter in der Haft, der psychologisch betreut und kontrolliert wird, der aber auch auf ein Leben in Freiheit vorbereitet wird und hinsichtlich seiner Gefährlichkeit therapiert werden soll. Das ist alles das, was uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat. Damit haben wir eine engmaschige Überwachung genau dieses Täterkreises. Wenn sich dann tatsächlich die Gefährlichkeit herausstellt, haben wir am Ende die Möglichkeit, die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die im Urteil vorbehalten worden ist, ordnungsgemäß und rechtsstaatlich, angeknüpft an die Tat, anzuordnen, um damit die Bevölkerung vernünftig zu schützen. Das ist der bessere Weg. Deswegen sollten wir es nicht riskieren, auch in den weiteren Debatten, die uns bevorstehen, ein Gesetz, das jetzt auf verfassungsmäßig festem Boden steht - Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss -, zu gefährden. Insofern darf ich in Richtung der Ministerin und der Koalition sagen: Bei diesem schweren Rechtsgebiet haben wir eines erreicht: Der Glanz ist in die Rechtspolitik - ich sage das immer gerne - zurückgekehrt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Opposition kann Anteil an dem Glanz haben, und zwar in dem Moment, in dem sie abstimmt. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD ergreift das Wort der Landesminister Thomas Kutschaty. ({0}) Thomas Kutschaty, Minister ({1}): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom Mai 2011 die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur rechtlichen Neugestaltung der Sicherungsverwahrung in Deutschland gesetzt. Mit dem vorliegenden Gesetzent24804 Minister Thomas Kutschaty ({2}) wurf will die Bundesregierung nunmehr zur Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung Leitlinien vorgeben und damit den eigenen bundesrechtlichen Anteil am Gesamtkonzept erfüllen. Lassen Sie es mich vorab sagen: Ein Großteil der zweijährigen Frist, die uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat, ist leider dadurch verschwendet worden, dass sich die Bundesregierung anderthalb Jahre lang nicht einig werden konnte, wie die neue Regelung denn tatsächlich aussehen soll. ({3}) Es ist völlig unverständlich, dass die Bundesregierung bei einem so bedeutenden Thema derartig leichtfertig handelt. Bei derart wichtigen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben sollte der Zeitdruck möglichst minimiert werden, den die Länder nunmehr haben, weil wir noch in der Pflicht sind, eigene Umsetzungsgesetze bzw. Landesvollzugsgesetze dazu innerhalb eines halben Jahres zu schaffen. Dieses Thema dient nicht zur politischen Durchsetzung von Mindermeinungen in der Bundesregierung. ({4}) Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf entspricht zwar im Grundsatz unseren Vorstellungen, auch was die Frage der Regelung des Abstandsgebotes anbelangt; er ist allerdings nicht vollständig. Es klafft in einem sehr wesentlichen Punkt eine schwerwiegende Lücke. So ist die Bundesregierung gerade nicht der Forderung des Bundesrates und der Justizministerkonferenz nachgekommen, auch künftig hochgefährliche psychisch gestörte Sexual- und Gewalttäter geschlossen unterzubringen, wenn ihre besondere Gefährlichkeit erst im Strafvollzug offenbar wird. Das betrifft zwar nur sehr wenige - damit haben Sie recht, sehr geehrter Herr Arendt -, aber es sind gerade hochgefährliche Menschen. ({5}) „Die Möglichkeit, gefährliche Gewalt- und Straftäter auch nachträglich noch unterbringen zu können, darf uns nicht genommen werden!“ Dieser Satz fasst die Notwendigkeit, die sich abzeichnende Gesetzeslücke zu schließen, treffend zusammen. Dieser Satz stammt allerdings nicht von mir, sondern von der stellvertretenden Vorsitzenden der CSU, meiner bayerischen Amtskollegin Frau Dr. Beate Merk. ({6}) Auch meine Amtskollegin aus Mecklenburg-Vorpommern, Frau Uta-Maria Kuder von der CDU, sowie sämtliche sozialdemokratischen Landesministerinnen und -minister teilen diese Auffassung, ebenso die SPDFraktion im Deutschen Bundestag, und seien Sie doch ehrlich, sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/ CSU-Fraktion: Sie doch im Inneren eigentlich auch. So war es zumindest in der ersten Beratung erkennbar. ({7}) Sie sehen, meine Damen und Herren: Über Parteigrenzen hinweg haben sich Justizministerinnen und Justizminister auf den letzten drei Justizministerkonferenzen mit deutlicher Mehrheit für die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung ausgesprochen. Warum wird diese Forderung von der Bundesregierung nicht aufgegriffen? Warum enthält dieser Gesetzentwurf nach wie vor diese gravierende Lücke? Weil sich die Minderheit in der Bundesregierung gegen eine vernünftige parteiübergreifende Regelung sperrt. Das Bundesjustizministerium bzw. Sie, sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, haben im Vorfeld immer gesagt, es sei schwierig, dies zu regeln, da es auch juristisch sehr umstritten ist. Ist also die Schwierigkeit einer Materie nunmehr ein Argument, von einer gesetzlichen Regelung Abstand zu nehmen? Hoffentlich nicht. Denn ich will Ihnen an dieser Stelle einmal verdeutlichen, über was für Menschen wir hier sprechen, und Ihnen damit gleichzeitig zeigen, welche direkten Auswirkungen Bundesgesetzgebung auf unsere Arbeit vor Ort in den Ländern hat. Ein erster Fall: In Nordrhein-Westfalen lebt der in Bayern verurteilte Sexualstraftäter Karl D. Er hat in einem eigens dafür hergerichteten Transporter zwei junge Mädchen über einen langen Zeitraum in brutaler und höchst erniedrigender Art und Weise vergewaltigt und sexuell verstümmelt. Gutachter bescheinigen ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung und schließen daraus, dass er ohne Therapie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder rückfällig werden wird. Während seiner Strafhaft hat er nicht nur jedes Therapieangebot, sondern jegliche Auseinandersetzung mit seiner Tat verweigert. Karl D. ist frei. Er wird daher rund um die Uhr von nordrhein-westfälischen Behörden überwacht. Aufwand und Kosten dieser Maßnahme möchte ich an dieser Stelle bewusst nicht thematisieren. Ein weiteres Beispiel: Ein in Bayern Verurteilter hat über ein Jahrzehnt hinweg massive sexuelle Übergriffe auf seine Frau und seine Tochter verübt. Erst während der Verbüßung seiner 15-jährigen Haftstrafe wurde bei ihm eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert, nach der dieser Täter auch für die Allgemeinheit gefährlich ist. Wir alle wissen, dass eine nachträgliche Therapieunterbringung glücklicherweise nur in sehr wenigen Fällen in Betracht kommt. Schon die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist früher nur in wenigen Einzelfällen angeordnet worden. Das ist aber gerade kein Argument gegen die Schaffung einer neuen Maßregel. Das Gegenteil ist der Fall. Denn dieser Befund zeigt, wie sorgfältig unsere Gerichte bislang mit einem solchen Instrument umgegangen sind und auch zukünftig umgehen werden. Aber jeder Einzelfall, auf den die von uns vorgeschlagene Regelung abzielt, ist so gravierend, dass keine rechtliche Minister Thomas Kutschaty ({8}) Möglichkeit ungenutzt bleiben darf, um Schutzlücken zu schließen. ({9}) Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen nunmehr diese Menschen nach Verbüßung ihrer Strafe automatisch auf freien Fuß kommen. Warum? Weil es rechtlich schwierig ist. Dieses Argument, meine Damen und Herren, überzeugt bei solchen Straftätern nicht. ({10}) Dass die Forderung nach einer nachträglichen Therapieunterbringung auch über Parteigrenzen hinweg von ganz vielen Justizministerinnen und -ministern erhoben wird, sollte auch Sie im Deutschen Bundestag aufhorchen lassen. Es geht nämlich um nicht weniger als um den größtmöglichen Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor gefährlichsten Gewalt- und Sexualstraftätern. Hierfür muss alles gesetzgeberisch Mögliche getan werden. Der Bundesrat hat mit der auch von mir nachdrücklich unterstützten Einführung einer Maßregel der nachträglichen Therapieunterbringung Ihnen einen verfassungsrechtlich gangbaren Weg aufgezeigt, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Ich biete Ihnen auch heute noch ausdrücklich die Unterstützung der SPD bei der Lösung dieser rechtlichen Schwierigkeiten an. Wir lassen Sie nicht im Regen stehen, sondern sind bereit, Verantwortung zu tragen. Lassen Sie uns gemeinsam diese eklatante Lücke im Gesetzentwurf schließen. Ich appelliere daher an die Minderheit in der Bundesregierung, ihre Position zu überdenken. Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Verfassung bietet die Möglichkeit, gefährliche Straftäter auch weiterhin geschlossen unterzubringen. Diese Tür hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung aus dem Mai 2011 ganz bewusst ein Stück offengelassen. Wir sollten diese eklatante Sicherheitslücke nicht in Kauf nehmen; denn, meine Damen und Herren, welche Worte wollen Sie für die Eltern eines Kindes finden, das Opfer einer schwersten Gewalt- oder Sexualtat eines solchen Täters geworden ist? Wie wollen Sie den Eltern erklären, dass dieser Täter trotz erkannter höchster Rückfallgefahr sehenden Auges entlassen worden ist, obwohl die Möglichkeit bestanden hätte, ihr Kind vor ihm zu schützen? Meine Damen und Herren, das können Sie nicht erklären, und ich bin mir sicher: Das wollen wir auch nicht erklären. ({11}) Die SPD will auch weiterhin eine vernünftige, verantwortungsbewusste Regelung. Sollte dies heute nicht gelingen, werden wir dieses Ziel im Bundesrat weiterverfolgen. Deswegen noch einmal mein Appell an alle Parteien hier im Hause: Lassen Sie uns unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden! Herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Andrea Voßhoff für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Kutschaty, es ist richtig - es gibt überhaupt keinen Grund, das nicht auch hier zu sagen -, dass die Union sich eine Regelung zur nachträglichen Therapieunterbringung gewünscht hätte. Aber wenn Sie abschließend in einer solchen Art und Weise an uns appellieren und hier eine eklatante Schutzlücke feststellen, wenn Sie davon reden, dass ein Kind Opfer werden kann, und davon, dass dann die Eltern entsprechend belastet sind, ist das unseriös, Herr Kutschaty; ({0}) denn Sie erwecken den Eindruck, dass dieses Gesetz in keiner Weise den Sicherheitsanforderungen gerecht wird, und das stimmt schlicht nicht. ({1}) Wir schließen nämlich heute ein für die Sicherheitsarchitektur unseres Landes und unserer Bürger außerordentlich wichtiges Reformvorhaben ab. Der Kollege Ahrendt hat es gesagt. Nach der grundlegenden Reform der Sicherungsverwahrung im Jahre 2010 beschließen wir heute über den modernen und verfassungskonformen Vollzug einer solchen Sicherungsverwahrung. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen wir überhaupt sicher, dass die Sicherungsverwahrung über das Jahr 2013 hinaus Bestand haben kann. Ich denke, mit wenigen Ausnahmen, insbesondere von den Linken, sind sich die Mitglieder dieses Hohen Hauses auch weitgehend darin einig, dass die Sicherungsverwahrung unverzichtbar und der Staat verpflichtet ist, sie im Interesse der Sicherheit unserer Bürger zu ermöglichen, und wir tun dies heute. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit mit dem Freiheitsanspruch eines gefährlichen Täters kollidiert, der seine Freiheitsstrafe verbüßt hat, wie dies bei der Sicherungsverwahrung der Fall ist, stößt der Rechtsstaat naturgemäß an seine Grenzen. Daran haben uns der Europäische Gerichtshof, aber auch - wie wir wissen - das Bundesverfassungsgericht nicht nur erinnert, sondern sie haben uns gemahnt und eine entsprechende Gesetzgebung mit einem Urteil von uns eingefordert. Wir haben mit der Reform 2010 als Bundesgesetzgeber die materiell-rechtlichen Regelungen der Sicherungsverwahrung geregelt und sind dabei davon ausgegangen, dass entsprechend der Föderalismusreform wir als Bundesgesetzgeber nicht für den Maßregelvollzug zuständig sind, sondern dass es die Länder sind. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellten wir dann fest, dass das Bundesverfassungsgericht dies anders sieht und uns gemeinsam in die Pflicht nimmt. Es hat uns mit dem Urteil aufgegeben, den Vollzug der Sicherungsverwahrung neu zu gestalten. An dieser Stelle, Herr Kutschaty, darf ich einmal sagen: Bei allen Regelungen zur Sicherungsverwahrung, die wir in diesem Hohen Hause beschlossen haben, war immer der Appell - übrigens aller Fraktionen -, den Vollzug der Sicherungsverwahrung in den Ländern entsprechend auszugestalten. Dem sind die Länder in der Vergangenheit nicht nachgekommen. ({2}) Deshalb, meine Damen und Herren, liegt von uns heute ein Gesetzentwurf vor, der dem sogenannten Abstandsgebot Rechnung trägt, den Vollzug der Sicherungsverwahrung also deutlich vom Strafvollzug abhebt. Herr Kutschaty, wenn Sie sagen, wir hätten uns anderthalb Jahre Zeit gelassen: Es hat in der ganzen Zeit, jedenfalls nach meinem Kenntnisstand, eine intensive Abstimmung mit den Ländern stattgefunden, ({3}) weil es darum ging, gemeinsam die Vollzugsausgestaltung zu regeln. Wenn Sie hier also so tun, als hätten wir das hier anderthalb Jahre liegen gelassen, ist das schlicht und ergreifend falsch, unzutreffend. ({4}) Ich sage offen, dass wir uns als Union eine Regelung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung gewünscht hätten; völlig unbestritten. Dazu stehen wir auch. Wir wissen nur, dass wir durch die Frist des Verfassungsgerichts unter zeitlichem Druck stehen, weshalb wir diese unsere Forderung aufgegeben haben. Wir gehen aber in keiner Weise davon aus, lieber Herr Kutschaty, dass wir hier eine eklatante Schutzlücke haben. ({5}) Wir sehen eine Regelungslücke, aber eine eklatante Sicherheitslücke, wie Sie sie hier suggerieren wollen, können wir nicht feststellen. Meine Damen und Herren von der SPD, so vehement, wie Sie die nachträgliche Therapieunterbringung fordern, so vehement lehnen die Grünen sie ab. Das kommt mir irgendwie bekannt vor. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn Sie mit Ihrem Traumkoalitionspartner heute hätten etwas vorlegen müssen, hätten Sie keine Regelung zur nachträglichen Therapieunterbringung vorlegen können. ({7}) Das muss der Wahrheit halber dazugesagt werden. Das gehört zur Vollständigkeit dazu. Ich hoffe, Sie werden nie Gelegenheit haben, das auszutesten. ({8}) Meine Damen und Herren von der SPD, neben dem, was Herr Kutschaty gesagt hat, muss man auch die Zeitung lesen. Darin steht, dass auch die sachsen-anhaltinische Justizministerin Kolb vor einer eklatanten Schutzlücke warnt. In dem Artikel werden dann Fallzahlen offenbar genannt - von Frau Kolb genannt; anders kann es eigentlich nicht sein -: 22 betroffene Straftäter in Sachsen-Anhalt sitzen in der Sicherungsverwahrung im Gefängnis in Burg. Für weitere 17 Straftäter kommt nach dem Haftende eine Sicherungsverwahrung infrage. - Im Zusammenhang mit dem Artikel wird suggeriert, das seien Fälle, die nicht regelbar seien, ({9}) weil es keine nachträgliche Therapieunterbringung gebe. Meine Damen und Herren von der SPD, ich gehe einmal davon aus, dass das alles Altfälle sind, bei denen die Anlasstat vor dem 31. Dezember 2010 begangen worden ist. ({10}) Wenn das so ist, dann werden diese Fälle sehr zum Leidwesen der Grünen nach wie vor nach altem Recht geregelt, auch mit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung. ({11}) Ich bin sehr dafür, dass wir offen und vernünftig über das Thema diskutieren. Mit den Zahlen, mit dem, was Sie zum Schluss gesagt haben, versuchen Sie aber, der Bevölkerung zu suggerieren, hier würde die Bevölkerung gefährdet und die Sicherheit nicht in ausreichendem Maße gewährleistet. ({12}) Das ist schlicht und ergreifend nicht zutreffend. Vielen Dank. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden erneut über die Sicherungsverwahrung, weil das in dieser Legislaturperiode von der Mehrheit des Hauses verabschiedete Gesetz vom BundesverHalina Wawzyniak fassungsgericht in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt wurde. Die Bundesregierung musste also nachsitzen ({0}) und ein neues Gesetz vorlegen, ein Gesetz, das die bundesrechtliche Umsetzung des Abstandsgebotes regelt. Wir haben zu diesem Gesetz hier bereits geredet und eine Anhörung im Rechtsausschuss durchgeführt. Um es noch einmal sehr deutlich zu sagen: Bei der Sicherungsverwahrung geht es um einen präventiven Freiheitsentzug aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose für Straftäterinnen und Straftäter, die für ihre Tat bereits eine Freiheitsstrafe ver- und damit auch für die Tat gebüßt haben. Die Linke - ich wiederhole das hier - lehnt das Institut der Sicherungsverwahrung ab. ({1}) Wir sagen deutlich: Jede Straftat ist eine Straftat zu viel. Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel. Aber wir dürfen nicht suggerieren, es gäbe ein Mittel, das verhindert, dass überhaupt noch Straftaten begangen werden. ({2}) Das im Übrigen ist eine Weisheit, die bislang keiner infrage gestellt hat. Wir haben mittlerweile verschiedene Arten der Sicherungsverwahrung. Dazu kommt jetzt die Therapieunterbringung. Wir schlagen uns mit dem Begriff der psychischen Störung herum. Der Sachverständige Professor Kinzig hat darauf verwiesen, dass dieser Begriff zu unbestimmt sei, um darauf eine so schwerwiegende Sanktion zu stützen. Ich bitte Sie alle, sich noch einmal vor Augen zu führen, wovon der Sachverständige Asprion in der Anhörung gesprochen hat. Er hat aus der Praxis berichtet, wie es den aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen geht. Er hat beschrieben, dass es für die Entlassenen zum Teil nicht einmal Wohnungen gibt; sie können zum Teil keine Konten eröffnen, geschweige denn, dass sie eine Chance auf Arbeit oder eine Arbeitsgelegenheit haben. ({3}) Hier anzusetzen und den Auftrag auf Wiedereingliederung ernst zu nehmen, würde ein Ansatz sein, Rückfälligkeiten zu vermeiden. Und genau darum muss es uns doch allen gehen, nämlich erneut Straftaten zu vermeiden. ({4}) Die Ablehnung des Instituts der Sicherungsverwahrung hindert uns aber nicht, den Gesetzentwurf der Bundesregierung kritisch unter die Lupe zu nehmen. Wir finden es gut, dass mit dem § 66 c eine Art Rechtsanspruch auf individuelle und intensive Betreuung sowie eine vom Strafvollzug getrennte Unterbringung festgeschrieben wird. Wir wollen aber darauf hinweisen, dass die dafür notwendigen Mittel auf gar keinen Fall dazu führen dürfen, dass die Betreuung der Strafgefangenen verschlechtert wird. Wir hätten uns gewünscht, dass für den Fall der Unverhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung nicht die Aussetzung der Vollstreckung auf Bewährung die Rechtsfolge ist, sondern die Erledigung. ({5}) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung im Jugendgerichtsgesetz vorzusehen, halten wir für falsch. Sicherungsverwahrung und Jugendgerichtsgesetz, in dessen Mittelpunkt der Erziehungsgedanke steht, sind für uns ein unauflösbarer Widerspruch. ({6}) Wir halten auch die in § 109 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes vorgenommene Einschränkung, dass bei „Einfachheit der Sach- und Rechtslage“ im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens den Sicherungsverwahrten nicht zwingend von Amts wegen ein Rechtsanwalt beizuordnen ist, für problematisch. Hier sollte aus unserer Sicht tatsächlich Waffengleichheit hergestellt und dem Sicherungsverwahrten ein Rechtsanwalt beigeordnet werden. ({7}) Schließlich bedauern wir ausdrücklich, dass eine Beschränkung der Straftaten, für die gegebenenfalls Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, nicht erfolgt ist. Wenn die Regierung die Sicherungsverwahrung wirklich als Ultima Ratio versteht, dann hätte sie den Katalog der Anlasstaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte beschränken müssen. An dieser Stelle will ich darauf hinweisen, dass wir begrüßen, dass SPD und Grüne genau dies fordern. Allerdings ist für uns nicht nachvollziehbar, warum die SPD unter Umgehung des Urteils des EGMR eine nachträgliche Therapieunterbringung einführen will. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen sprachlos über Ihre Rede, Herr Kutschaty, weil das nichts mehr mit rationaler Kriminalpolitik zu tun hat, sondern mit der Bedienung von Stammtischen. ({8}) Wir werden dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es spricht Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über die Sicherungsverwahrung reden, dann reden wir über Menschen, die mehrfach schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begangen haben und bei denen festgestellt wird, dass eine ganz große Gefahr besteht, dass sie in Zukunft weitere solcher Straftaten begehen werden. Wir müssen deswegen den ersten Satz, wenn wir über Sicherungsverwahrung reden, den Opfern, den möglichen Opfern solcher Täter widmen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ist Ihre generelle Ablehnung der Sicherungsverwahrung ein Fehler, den Sie im Laufe der Zeit noch bereuen werden. ({0}) Andererseits haben sich genau diese Täter - schwerste Gewalttäter, Sexualtäter - an das Bundesverfassungsgericht und in mehreren Fällen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt und recht bekommen. Die Entscheidungen, die aufgrund des deutschen Rechts der Sicherungsverwahrung gegen sie ergangen sind, sind aufgehoben worden. Der Grund dafür ist ganz einfach: Auch diese Täter sind Menschen, und auch diese Menschen haben Rechte. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir uns natürlich der Opferseite zuwenden. Aber genauso wichtig ist es aus rechtspolitischen bzw. menschenrechtspolitischen Gründen, dass wir uns bei der Frage, welches Recht wir schaffen, wie wir die Regelung zur Sicherungsverwahrung gestalten, an das Menschenrecht und die Rechtsstaatlichkeit halten, an das, was ein Grundbestandteil unseres Landes ist. Deswegen bin ich so erstaunt und entsetzt, Herr Kutschaty, dass Sie bei der Frage, ob man noch mehr machen soll, von Lücken reden. Der Kollege Ahrendt hat die Geschichte des Sicherungsverwahrungsrechts von Januar 1998 bis heute erzählt. Im Januar 1998 ist die erste Lücke geschlossen worden. Danach - erinnern Sie sich bitte - war es die Union, die den Deutschen Bundestag und die damalige Regierungskoalition mit dem Aufzeigen immer weiterer Lücken geradezu gejagt hat. Zuerst gab es eine Lücke im Heranwachsendenstrafrecht, dann im Jugendstrafrecht, dann bei der Frage, wie mit Tätern aus der ehemaligen DDR umzugehen sei, usw. usf. Zum Schluss hatten wir - das sage ich ganz selbstkritisch - ein Desaster. Ich bin froh, dass das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jetzt eine Klärung herbeigeführt haben. Ich bin dankbar - das sage ich ganz ausdrücklich -, dass das Bundesjustizministerium jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der beim Vollzug einen Abstand zwischen der Strafhaft und der Haft in der Sicherungsverwahrung vorsieht. Im Grundsatz stimmen wir dem auch zu. Wir finden aber, dass dieser Gesetzentwurf noch etliche Schwächen hat. Diese Schwächen haben wir in einem Änderungsantrag zusammengefasst und im Rechtsausschuss im Einzelnen aufgeführt. Wir werden diesen Änderungsantrag heute zur Abstimmung stellen, weil wir auf dem Boden dieses Gesetzentwurfs für dessen Verbesserung streiten wollen. Zum Schluss will ich noch sagen: Wenn wir den Weg gehen würden, die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Kleid der nachträglichen Therapieunterbringung wieder ins Bundesgesetz hineinzuschreiben, dann würden wir sehenden Auges die nächsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heraufbeschwören. ({1}) Das aber sollten wir nicht tun, und das werden wir auch nicht tun. Herr Kollege Kutschaty, wenn Sie für die wenigen Fälle einen Regelungsbedarf sehen - ich habe dafür viel Verständnis -, bei denen bei Menschen in Freiheit - nicht in Haft, sondern in Freiheit - die Gefahr künftiger schwerer Straftaten besteht, dann sind Sie als Land aufgerufen, eine solche Regelung auf Landesebene herbeizuführen. ({2}) - Nein, das ist falsch, was Sie da sagen. ({3}) Sie wissen doch selbst: Was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, galt für die damalige Regelung und nicht für eine zukünftige Regelung nach dem Therapieunterbringungsgesetz. Ich fordere Sie auf: Finden Sie eine Regelung auf Landesebene. Schützen Sie dort Ihre Bürgerinnen und Bürger. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Montag!

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Fordern Sie uns nicht auf, hier ein verfassungswidriges Gesetz zu erlassen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Montag!

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das lehnen wir ab. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ansgar Heveling hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Wochen wurde in Großbritannien ein 59-jähriger vielfacher Sexualstraftäter verurteilt. In zwei Verfahren wurden ihm schwerste Sexualstraftaten nachgewiesen. Als Kopf eines Kinderschänderrings aus dem Großraum Manchester war er für den Missbrauch von 30 jungen Mädchen verantwortlich und wurde zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt. Außerdem wurde ihm in einem separaten Verfahren wegen des über zehn Jahre währenden vielfachen Missbrauchs eines jungen Mädchens ebenfalls der Prozess gemacht. Dafür wurde er zusätzlich zu 22 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. 41 Jahre Gefängnis - nach menschlichem Ermessen wird dieser Täter also keinen Lebtag mehr in Freiheit verbringen. Diesen Fall schildere ich Ihnen nicht, um emotionale Genugtuung zu verbreiten, die man angesichts eines solchen Strafmaßes für diese schrecklichen Straftaten empfinden mag. Ich schildere Ihnen diesen Fall, um aufzuzeigen, wie in Ländern, in denen es die Sicherungsverwahrung so nicht gibt, mit potenziell gefährlichen Straftätern umgegangen wird. Dort wird nicht nach der individuellen Gefährlichkeit des Täters gefragt. Vielmehr wird dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung allein über das Strafmaß Rechnung getragen, im Übrigen unangreifbar für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. ({0}) Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben bewusst einen anderen Weg gewählt. Wir haben uns bewusst für ein zweispuriges System entschieden: Strafe als Sanktion für individuelle Schuld und Maßnahmen, die nicht an die Schuld anknüpfen - dazwischen wird bei uns unterschieden. ({1}) Hierzu gehört die Sicherungsverwahrung, die angesichts der Zweispurigkeit ohne Frage kein repressives, sondern ein präventives Instrument ist. Ich bin der festen Überzeugung - der kurze Blick auf den eingangs geschilderten Fall zeigt dies auch -, dass unser bewährtes zweispuriges System viel differenzierter und damit im Einzelnen auch viel gerechter ist als andere Strafrechtssysteme, in denen die Frage der Gefährlichkeit eines Täters mit der Strafe gleichsam abgehandelt wird. ({2}) Daher lohnt es ohne Frage der gesetzgeberischen Mühen, dieses System der Strafe auf der einen Seite und der Sicherungsverwahrung auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten. Leider haben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht den zweispurigen Weg zu einem immer schmaleren Grat werden lassen. Ich hoffe aber, dass er breit genug bleiben wird, um den Weg der Sicherungsverwahrung weiterhin verfassungskonform beschreiten zu können. Es wäre bedauerlich, wenn wir mangels Alternativen irgendwann auch vor der Frage stünden, die Gefährlichkeit eines Täters bei uns ebenfalls allein über die Höhe der Strafe beurteilen zu müssen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung, den wir heute abschließend beraten, kommen wir den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil vom Mai 2011 nach und regeln die Sicherungsverwahrung zukünftig so, dass sich der Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vom Vollzug der Strafhaft deutlich unterscheidet. Damit wird die bundesrechtliche Grundlage gelegt, die es den Ländern ermöglicht, durch entsprechende Landesgesetze die Sicherungsverwahrung entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts weiter zu konkretisieren und im Sinne des Abstandsgebots umzusetzen. Bereits während des Gesetzgebungsverfahrens hat es dazu eine enge Abstimmung zwischen dem Bund und den Ländern gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bund und den Ländern diese Aufgabe gemeinsam aufgetragen. Daher ist dieses Zusammenwirken ausdrücklich zu begrüßen. Lassen Sie mich noch zu einzelnen Punkten Stellung nehmen. Anders als es die SPD in ihrem Antrag fordert, sehen wir keine Notwendigkeit, den Katalog der sogenannten Anlasstaten weiter einzugrenzen. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt keinen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Katalogs. Deswegen ist ein weiteres Handeln hier auch nicht erforderlich. ({3}) Auch halten wir die Regelung der sogenannten Vertrauensschutzfälle durch die Übergangsregelung in Art. 7 für sachgerecht und ausgesprochen wichtig. Ja, die Übergangsregelung führt dazu, dass über einen langen Zeitraum unterschiedliche Rechtsnormen zur Anwendung kommen. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass die Gerichte damit ohne große Schwierigkeiten zurechtkommen werden. Nur durch diese Übergangsregelung lässt sich unter Beachtung der verfassungsrechtlich vorgegebenen und durch das Bundesverfassungsgericht aufgezeigten erhöhten Voraussetzungen dem Schutzanspruch der Bevölkerung ausreichend Rechnung tragen, bis die materiell-rechtliche Neuausrichtung der Sicherungsverwahrung, insbesondere die der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, umfassend greift. In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend nicht verschweigen, dass wir, die CDU/CSU, es als wünschenswert angesehen hätten, auch zukünftig - nicht nur im Rahmen der Übergangsregelung - auf das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung zurückgreifen zu können. Damit wäre eine umfassende, vollständige und für alle Eventualitäten vorgesehene Regelung der unterschiedlichsten Fallkonstellationen möglich geblieben. Das bleibt nun in diesem Gesetz offen. Insgesamt kommen wir mit dem zur Entscheidung anstehenden Gesetzentwurf einerseits dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach, das Recht der Sicherungsverwahrung so zu regeln, dass ein ausreichender Abstand zwischen Strafhaft und Sicherungsverwahrung gewährleistet wird. Andererseits berücksichtigen wir insbesondere durch die Übergangsregelung in Art. 7 ausdrücklich, dass dem Anspruch der Bevölkerung auf Schutz vor gefährlichen Straftätern weiterhin Rechnung getragen wird. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11388, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9874 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, den Sie auf Drucksache 17/11406 finden. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion und die Fraktion Die Linke; die anderen Fraktionen haben dagegen gestimmt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen; Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt, die SPD-Fraktion hat sich enthalten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, der möge sich bitte erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen wie in der zweiten. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11388 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8760 mit dem Titel „Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung“. Die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen hat beantragt, dass über Ziffer II Nr. 2 des Antrages einerseits und über den übrigen Antrag andererseits getrennt abgestimmt werden soll. Wir stimmen daher zunächst über Ziffer II Nr. 2 des Antrags auf Drucksache 17/8760 ab. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist Ziffer II Nr. 2 des Antrags abgelehnt bei Zustimmung durch die SPD-Fraktion; alle anderen Fraktionen waren dagegen. Wer stimmt für den übrigen Teil des Antrags auf Drucksache 17/8760? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Zugestimmt haben SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen; dagegen gestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Die Linke hat sich enthalten. Der übrige Teil des Antrags ist abgelehnt. Damit ist der Antrag insgesamt abgelehnt. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11388 empfiehlt der Rechtsausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7843 mit dem Titel „Einsetzung einer Expertenkommission zur Sicherungsverwahrung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt; enthalten hat sich niemand. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Menschenrechte in Zentralasien stärken - Drucksachen 17/9924, 17/11287 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Marina Schuster Volker Beck ({1}) Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wenn sich jetzt bitte noch die Versammlung in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion auflösen könnte? - Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion. ({2})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal begrüße ich ausdrücklich, dass wir heute eine Debatte über die Menschenrechtslage in Zentralasien führen. Es ist richtig und wichtig, dass dieses Thema auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages Öffentlichkeit bekommt. Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass wir uns mit dieser Region beschäftigen. Wir haben im Menschenrechtsausschuss öfter über die Situation dort diskutiert, speziell über die Situation in Usbekistan. Wir wissen, dass wir es dort bei der Baumwollernte mit dem Phänomen der staatlich verordneten Kinderarbeit zu tun haben. Das war auch Anlass für den Menschenrechtsausschuss, zu versuchen, eine Reise nach Usbekistan durchzuführen. Leider wurde kein Visum erteilt. Die Reise musste aus technischen Gründen abgesagt werden, weil die usbekische Seite kein Interesse an der Einreise der Kolleginnen und Kollegen hatte. Das ist sehr bedauerlich; denn wir haben eine Reihe von Kollegen, die sich für Usbekistan engagieren. Ganz konkret möchte ich auf das Engagement von Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ eingehen. Das ist ein unheimlich wichtiges Programm. Meine Bitte geht an diejenigen Kollegen hier im Haus, die noch keine Patenschaft übernommen haben, eine Patenschaft für einen Oppositionspolitiker oder einen Menschenrechtsverteidiger in anderen Ländern zu übernehmen. Das ist etwas, was wir ganz konkret leisten können. Wir haben hier eine ganz wichtige Funktion. Kollegin Graf hat die Patenschaft für den usbekischen Menschenrechtsaktivisten und Oppositionspolitiker Akzam Turgunov übernommen. Dadurch, dass die Reise abgesagt werden musste, konnte sie ihn wieder nicht in der Haft besuchen. Ich glaube, es wäre wichtig, dass wir weiterhin Druck ausüben und versuchen, eine Einreise nach Usbekistan zu ermöglichen. Wenn der Menschenrechtsausschuss solche Reisen tätigt, dann gehört es auch zu seiner Aufgabe, den Finger in die Wunden zu legen und solche Sachen zur Sprache zu bringen. ({0}) Auch in Bezug auf Kasachstan haben Kollegen aus allen Fraktionen, auch Kollegen aus dem Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, Kritik formuliert. Es ging um den Fall Bolat Atabajew. Für ihn hat Frau von Cramon eine Patenschaft übernommen. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, hat versucht, Herrn Wladimir Koslow in der Haft zu besuchen und mit ihm zu sprechen. Wir sind tief enttäuscht darüber, dass es zu einer Verurteilung von Herrn Koslow gekommen ist. Er hat sich für die streikenden Ölarbeiter eingesetzt. Das ist ein vollkommen legitimes Interesse. Daher ist das Urteil für Herrn Koslow - sieben Jahre Gefängnis - vollkommen inakzeptabel. ({1}) Jetzt aber zum vorliegenden Antrag von SPD und Grünen. Sie haben im Feststellungsteil Ihres Antrags eine Reihe von Verletzungen der Menschenrechte aufgezählt. Wir haben dort eine sehr besorgniserregende Menschenrechtslage. Es gibt Folter, Misshandlungen, ein unzureichendes Justizwesen und Einschränkungen von Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Ich denke, darüber gibt es in diesem Hohen Haus keinen Dissens. Es gibt auch keinen Dissens bei der Einschätzung, dass Zentralasien als geostrategische Brücke zwischen Europa, Russland und China das Potenzial einer politischen und wirtschaftlichen Drehscheibe hat. Um jedoch ein verlässlicher Partner Europas zu werden, sind Rechtsstaatlichkeit, verantwortliche Staatsführung und Demokratisierung sowie die Einhaltung von Menschenrechten Voraussetzung. Dies sind ebenso Bedingungen für Stabilität und Sicherheit. Wie schon früher festgestellt, liegt das Problem des Antrags woanders. Ich denke, man kann die Situation in Zentralasien nicht ohne die historische Komponente, ohne die Einbeziehung der Sowjetvergangenheit diskutieren. Mir fehlt auch die Thematisierung von regionalen Konflikten, von schwelenden Konflikten untereinander; vor allem fehlt mir die Thematisierung der Verteilungskonflikte, zum Beispiel bezogen auf die Ressource Wasser, aber auch das Thema „ethnische Minderheiten“. Ich denke daher nicht, dass Sie mit diesem Antrag, insbesondere bezogen auf den Feststellungsteil, den Gegebenheiten vor Ort vollumfänglich gerecht werden. Auch wird ausgeblendet, was die Bundesregierung bereits tut. Die Bundesregierung setzt sich in den politischen Gesprächen mit den zentralasiatischen Regierungen nachdrücklich für eine Verbesserung der Menschenrechtslage ein. Wir haben im Rahmen der Europäischen Union, im Rahmen der Zentralasienstrategie, strukturierte Menschenrechtsdialoge aufgenommen. Wir haben eine Vielzahl von Programmen durchgeführt. Es gibt eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion zur Situation in Zentralasien. Die Antwort der Bundesregierung ist ziemlich klar. Darin wurden alle Projekte aufgezählt, die in dem Bereich Rechtsstaatlichkeit/Justizwesen durchgeführt werden, auch die Programme zur Medienförderung, die das Auswärtige Amt im Rahmen der Deutschen Welle unterstützt. Aber auch in anderen Bereichen engagiert sich die Bundesregierung, zum Beispiel für eine Verbesserung der Haftbedingungen. Seit 2009 fördert die Bundesregierung ein Projekt der NGO Golos Svobody zur Folterprävention. In Kasachstan hat die Bundesregierung Projekte der OSZE zur Stärkung der Ombudsmann-Institution unterstützt. Auch im Rahmen des Europarates - ich sehe meinen Kollegen Christoph Strässer, der sich im Rahmen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sehr stark engagiert - haben wir Projekte angeboten und durchgeführt. Vieles von dem, was Sie vorschlagen, ist also bereits Bestandteil der Politik der Bundesregierung. Mir fehlt auch die gesamtpolitische Einbettung. Natürlich spielen Sicherheitsüberlegungen insbesondere seit dem Einsatz in Afghanistan eine besondere Rolle. Wir haben organisierte Kriminalität, internationalen Terrorismus, Drogenhandel und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. All das bedroht Europa und Zentralasien gleichermaßen. Das hat die Fraktion der SPD in ihrer Kleinen Anfrage selbst geschrieben. Insofern greift der Antrag zu kurz. Das wird insbesondere deutlich, wenn man sich den Feststellungsteil anschaut. Ich denke, dass die Einbettung in die politische Struktur fehlt und die Situation in Zentralasien nicht hinreichend berücksichtigt wird. Insofern können wir Ihrem Antrag leider nicht zustimmen. Viele Ihrer Forderungen sind aber Bestandteil unserer Politik. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ullrich Meßmer hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Schuster, die freundliche Nichtzustimmung nehme ich einmal so hin. Die Zentralasienstrategie der Europäischen Union bildet seit 2007 den politischen Rahmen, um die Zusammenarbeit zwischen Europa und Zentralasien - wir reden hier von den Ländern Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan - zu gestalten und auszubauen. Es wurde schon gesagt: Es gibt viele Gründe dafür. Es gibt sicherheitspolitische Interessen in Europa wie die Bekämpfung von Waffen- und Drogenhandel, Terrorismus und organisierter Kriminalität. Es gibt wirtschaftliche Gründe wie die Sicherung von Rohstoffen, Energie, aber auch die Erschließung von Märkten. Nicht zuletzt - Kollegin Schuster, Sie haben es angesprochen - macht diese Länder die Nachbarschaft zu Afghanistan zu einem wichtigen strategischen und außenpolitischen Partner, aber - das möchte ich an dieser Stelle deutlich machen - nicht allein mit Blick auf einen möglichen Truppenabzug im Jahr 2014, sondern gerade darüber hinaus. Alle Länder in dieser Region, einschließlich Afghanistan, brauchen eine langfristige Perspektive für ihre friedliche und wirtschaftliche Entwicklung. ({0}) Hauptgrund aber - ich denke, darin sind wir uns einig ist der Einsatz für den Ausbau und die Weiterentwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für eine verantwortliche Staatsführung und vor allen Dingen für die Einhaltung von Menschenrechten. Aus unserer Sicht ist genau das die Voraussetzung für Sicherheit und Stabilität, aber auch für wirtschaftliches Wachstum und die Teilhabe der Bevölkerung, zum Beispiel an wirtschaftlicher Entwicklung oder auch an staatlichen Entscheidungen. Die Machthaber der zentralasiatischen Staaten - so muss man den Eindruck gewinnen - fürchten offensichtlich eine Öffnung und Demokratisierung ihrer jeweiligen Gesellschaft. Sie scheinen damit unmittelbar die Erosion ihrer eigenen Macht zu verbinden. Diese Sicht ist gerade mit Blick auf die Menschenrechte äußerst gefährlich, da Sicherheit in dieser Begrifflichkeit nicht auf den einzelnen Menschen und die Wahrung seiner Rechte bezogen wird, sondern ausschließlich auf die Machtsicherung autoritärer Herrscher oder der Eliten, die sie tragen. So laufen wir Gefahr, dass sich die autoritären Strukturen in diesen Ländern verfestigen. Ich erspare mir die Aufzählung der Menschenrechtsverletzungen - Frau Kollegin Schuster, ich teile, was Sie dazu gesagt haben -, von Kinderarbeit, fehlender und eingeschränkter Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zur Zensur. Auch über die Unterdrückung der Opposition in diesen Ländern hören wir regelmäßig Berichte. Man kann feststellen: Auch fünf Jahre nach der Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Rahmen der Zentralasienstrategie ist die Menschenrechtslage weiterhin problematisch. Deshalb sollte die seit diesem Jahr stattfindende Evaluierung zum Anlass genommen werden, der Frage nachzugehen, ob die Beziehungen Deutschlands und der EU zu den zentralasiatischen Staaten politisch so noch tragfähig sind, ob sie unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten kritisch hinterfragt werden sollten und möglicherweise auch auf eine andere bzw. neue Grundlage gestellt werden sollten. ({1}) Dabei sollten wir nicht davor zurückschrecken, auch die Wirtschaftsbeziehungen zu einzelnen Ländern kritisch zu hinterfragen. Die Unterzeichnung eines bilateralen Abkommens zwischen Deutschland und Kasachstan über eine Partnerschaft im Rohstoff-, Industrie- und Technologiebereich Anfang Februar 2012 nach einer blutigen Niederschlagung eines Gewerkschaftsaufstandes in Zhanaosen im Dezember 2011 ist sicherlich einer dieser Punkte. ({2}) Ich denke, Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen, ohne Konsequenzen für wirtschaftliche Beziehungen in Betracht zu ziehen, setzt einen schnell dem Vorwurf aus - ich möchte jetzt nicht von Double Standards sprechen -, mit zweierlei Maß zu messen. ({3}) Die zukünftige Zentralasienstrategie kann aber auch neue Impulse für die Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern setzen. Die Umbrüche in der arabischen Welt haben gezeigt, dass es Möglichkeiten gibt, autoritäre Systeme zu erschüttern, vor allem wenn man die Zivilgesellschaft selber stärkt und ihre Möglichkeiten ausbaut. Es wäre zu begrüßen, wenn der Fokus stärker auf die Artikulations- und Teilhabemöglichkeiten der Zivilgesellschaften gerichtet wird mit dem Ziel, diese nachhaltig zu stärken, zum Beispiel durch die Anbindung an die europäischen Informationsnetzwerke. Erste Schritte dazu sind getan - das ist immer wieder erwähnt worden -; aber dies könnte beschleunigt werden. Die Freiräume, die durch den Ausbau und die Nutzung des Internets entstehen, müssen verteidigt werden. Hier, denke ich, sind klare Worte sowohl der Bundesregierung als auch der Europäischen Union gegen Zensur des Internets und anderer Medien dringend gefordert. ({4}) Dies ist deutlich wahrnehmbar zu verurteilen. Natürlich - das will ich sehr deutlich sagen - unterstützen wir die Weiterentwicklung bewährter Maßnahmen und die Bemühungen zur Weiterentwicklung der Rechtsstaatlichkeit. Es geht weiter darum, Folter zu verhindern, Haftbedingungen zu verbessern und die bestehenden Bildungs- und Austauschprogramme weiter zu unterstützen und angemessen auszustatten. All das begrüßen wir. Das gilt auch für die Arbeit und das Wirken der politischen Stiftungen. Mit Blick auf die Gründe für die Ablehnung muss allerdings auch klar sein: Allein durch Entwicklungszusammenarbeit kann die Menschenrechtslage nicht verbessert werden. Entwicklungszusammenarbeit kann ein Teil sein; aber sie kann nie eine Gesamtlösung ersetzen, zu der wirtschaftliche Beziehungen und andere politische Maßnahmen gehören. Eigentlich erwarten wir, dass die Evaluierung als Chance für eine Verbesserung der Menschenrechtslage genutzt wird. Sie ist, wie ich finde, eine echte Chance, etwas zu verändern. Reine Rohstoffpartnerschaften, freie Handelswege, wirtschaftliche Zusammenarbeit, all das darf nicht den Kerngedanken und die Grundlage allen europäischen Handelns infrage stellen. Dies ist und bleibt die Wahrung und Förderung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit - in Zentralasien und überall sonst auf der Welt. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jürgen Klimke hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die außenpolitischen Diskussionen der letzten Monate waren auch von der Rolle der zentralasiatischen Staaten geprägt. Das hat - das ist mehrfach gesagt worden - primär etwas mit den Rohstoffpartnerschaften zu tun, die Deutschland mit Ländern wie der Mongolei oder Kasachstan geschlossen hat. Das hat aber auch etwas mit Afghanistan zu tun. Usbekistan ist ein Nachbarland von Afghanistan; es wird in diesem Zusammenhang immer wieder thematisiert. Damit haben wir im Zusammenhang mit Zentralasien zwei wichtige Interessen der deutschen und der europäischen Außenpolitik benannt: die Rohstoffpartnerschaften der deutschen und der europäischen Industrie sowie die Stabilität nach dem Abzug aus Afghanistan. Das ist eine geostrategische Frage, die Priorität hat. Diese gerechtfertigten Interessen in der Region müssen meiner Meinung nach noch viel stärker unsere Aufmerksamkeit erhalten und in unsere außenpolitische Strategie einfließen. Insofern ist es wichtig, dass wir heute darüber debattieren. Die Entwicklung dieser Staaten muss Teil unserer Beobachtung sein. In diesen Kontext ist auch die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung einzuordnen. Gerade weil wir Deutschen gute Beziehungen zu dieser Region unterhalten und daran ein großes Interesse haben, ist die Konsistenz der Menschenrechtspolitik in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Die Menschenrechtssituation in den Staaten Zentralasiens ist insgesamt nicht befriedigend; man könnte auch zu Bewertungen wie „unzureichend“ oder „mangelhaft“ kommen. Fortschritte erfolgen, wenn sie erfolgen, insgesamt in zu kleinen Schritten, wobei in einigen Ländern durchaus Fortschritte wahrnehmbar sind. Die Unterschiede sind allerdings so groß, dass hinterfragt werden muss, ob eine gemeinsame Behandlung dieser Staaten in einem Antrag möglich ist. Gemeinsam ist diesen Staaten, dass sie weitgehend autoritär regiert werden. Es gibt allerdings deutliche Unterschiede zwischen dem wirtschaftlich prosperierenden Kasachstan einerseits und Turkmenistan oder Usbekistan andererseits, die deutlich repressiver sind und bei denen die Probleme nicht durch eine dynamische Entwicklung der Wirtschaft abgemildert werden. Turkmenistan ist nach unserer Auffassung immer noch eines der repressivsten Länder der Welt. Mit Usbekistan unterhalten wir zwar eine enge Kooperation, und das Parlament hat einige Reformen zur formellen Stärkung der Rechtsstaatlichkeit angestoßen; die konkreten Auswirkungen auf die Menschen dürften aber wenig spürbar sein. Wohl auch deshalb ist eine Delegation des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, die sich im September vor Ort unter meiner Leitung über die Menschenrechtssituation in Usbekistan informieren wollte, nicht ins Land gelassen worden. Insofern muss man davon ausgehen, dass es um die Menschenrechtssituation in Usbekistan schlecht bestellt ist. Man muss deutlich sagen: Die Ausladung unserer Delegation widerspricht dem Umgang, den man dem wichtigsten Partner dieses Landes in Europa gegenüber erwarten würde. Wir sind auch ein wichtiger Geldgeber, was Entwicklungsmittel betrifft. Ich bin erstaunt, dass die usbekische Regierung glaubt, sich solche Signale leisten zu können. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist ja nicht so, dass wir Menschenrechtspolitiker auf unseren Reisen außerhalb von Europa auf entwickelte Demokratien mit unabhängiger Justiz treffen würden, in denen die Menschenrechte voll geachtet werden. Wir konnten aber eben auch in problematischen Ländern unsere Möglichkeiten ausschöpfen, Besuche machen und bei aller Kritik gelegentlich auch Fortschritte feststellen, die wir dann auch kommunizieren. Das muss ja auch im Interesse der Länder sein. Berichte von Fortschritten gab es auch aus Usbekistan, ({0}) vor allem auf dem Gebiet der Kinderarbeit und der vorzeitigen Annäherung an die Internationale Arbeitsorganisation, ILO. Diese Entwicklung vor Ort überprüfen zu lassen, wäre eigentlich auch für Usbekistan nützlich gewesen. Das Land wollte das aber nicht. So bleibt Usbekistan wie auch Turkmenistan in menschenrechtlicher Hinsicht problematisch. In beiden Staaten werden Andersdenkende besonders unterdrückt, und das nicht nur politisch und religiös, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Auch internationale Menschenrechtsaktivisten können in diesen Ländern eben nur schwer arbeiten und sich dort platzieren. Auch in Kirgistan macht die Entwicklung Sorgen; denn hier hat es durch die Übernahme des russischen Gesetzes über die Nichtregierungsorganisationen eine klare Verschlechterung der Menschenrechtssituation gegeben. Ein Thema, das im Zusammenhang mit Zentralasien auch immer wieder eine Rolle spielt, ist die Situation und die Rolle von sexuellen Minderheiten. Hier gibt es in Zentralasien große Defizite. Die Bereitschaft, zum Beispiel gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern die rechtliche Situation und die freie Ausübung ihrer sexuellen Orientierung voranzubringen, ist bei den meisten Regierungen fast überhaupt nicht ausgeprägt, und wenn überhaupt, dann nur sehr gering. Deswegen ist es auch unsere Verpflichtung, diese Themen immer wieder anzusprechen ({1}) und deutlich zu machen, dass das aus unserer Sicht eine unbequeme Situation für eine langfristige Partnerschaft ist. Allerdings stellt sich auch die Frage, in welcher Form man das tut. Nur anzuprangern, hilft kaum weiter. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Es gilt zum Beispiel, von unserer Seite vielmehr das Bewusstsein für diese Gruppen zu stärken und kleine Verbesserungen und auch Unterstützung durch eine entsprechende Zusammenarbeit mit diesen Gruppen anzubieten. Ich denke, dass wir alle uns über die menschenrechtlichen Probleme in Zentralasien einig sind, auch wenn ich nochmals davor warnen will, alle Länder über einen Kamm zu scheren. Dieses Bewusstsein hat im Handeln der EU und der Bundesregierung bereits einen deutlichen Niederschlag gefunden; ({2}) denn die EU-Zentralasienstrategie - sie ist angesprochen worden -, die ja auf Deutschlands Initiative zustande gekommen ist, widmet sich in weiten Teilen eben dem Thema Menschenrechte. In diesem Rahmen setzen wir uns für die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit vor Ort und für die Unabhängigkeit der Justiz ein, auch indem wir entsprechende Strukturen schaffen. Das Instrument der EU ist der Menschenrechtsdialog als eine wesentliche Gesamtstrategie. Diese Dialoge zielen auf konkrete praktische Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtssituation ab und unterstützen auch ganz spezifische Projekte. Deutschland als das einzige Land innerhalb der Europäischen Union, das in den fünf zentralasiatischen Ländern auch Botschaften unterhält und damit deutlich macht, wie wichtig die Länder aus unserer Sicht sind, ist in diesen Punkten ganz besonders engagiert. ({3}) Zudem ist Deutschland im Rahmen der EU der größte bilaterale Geber. Das müssen wir auch immer deutlich machen. Andererseits genießen wir in Zentralasien auch den Ruf, dass wir ein ehrlicher Makler und Partner sind. ({4}) Insofern werden die im Antrag der Grünen aufgeführten Punkte von der Bundesregierung permanent durchgeführt. Es ist nicht nötig, hier durch einen eigenen Antrag Aktionen zu fordern, die eben ohnehin politisches Handeln sind und ständig auf der politischen Agenda stehen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt. ({5}) Meine Damen und Herren, ein Element unserer Menschenrechtspolitik kommt im Antrag hingegen überhaupt nicht vor. Deswegen muss ich es hier ansprechen. Es geht um die Verknüpfung von Menschenrechten und Entwicklungszusammenarbeit, die gerade im neuen Menschenrechtskonzept des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung festgehalten ist und auch für die bilaterale Kooperation mit diesen Ländern sehr wichtig ist. ({6}) Dieses Konzept stellt eine ganz neue Qualität dar, auch weil es für alle Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit verbindlich ist. In deren Monitoring und Evaluierung werden jetzt erstmals Menschenrechte mit einbezogen. Beschwerde- und Sanktionsmechanismen werden geschaffen. Fast noch wichtiger ist, dass ein Kriterienkatalog erarbeitet worden ist, mit dem die Regierungsführung und die Menschenrechtssituation in den Partnerländern bewertet werden. ({7}) Grundlage sind die Umsetzung der Menschenrechtskonventionen in nationales Recht, die Schaffung entsprechender Institutionen und Verfahren sowie die Ergebnisse der Umsetzung zentraler Menschenrechte. Die Ergebnisse der Bewertungen sind dann auch Grundlage für die Art und Ausgestaltung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, also Antwort auf die Frage: Wie viel Gelder bekommen diese Länder? Wenn sie sich von „bad“ nach „good“ entwickeln, dann gibt es einfach mehr. So einfach ist es, aber so richtig ist es auch. Das bedeutet, dass wir uns bei schlechten Ergebnissen oder bei Verschlechterung bestimmter Formen der Entwicklungszusammenarbeit auch die grundsätzliche Frage stellen müssen, ob Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern noch sinnvoll und gut ist. Meine Damen und Herren, mit Druck und Belehrung kommen wir in Zentralasien nicht weiter, wie auf der Welt überhaupt nur selten. Wir müssen die Situation vor Ort in ein Verhältnis zu den regionalen und zu den historischen Kontexten setzen. Ein Teil der autoritären Tendenzen ist auch der Situation geschuldet, dass diese Staaten aus der autoritären Sowjetunion stammen und immer noch ein starker russischer Einfluss bemerkbar ist. Die Angst vor einer destabilisierenden Situation auch durch den Islamismus führt weiterhin dazu, dass man gerade die Religionsfreiheit einschränkt - das ist ein ganz wichtiger Punkt für uns - und man die Kontrolle nur ungern aus der Hand gibt. Der beste Weg ist aus meiner Sicht, unser Engagement zu erhöhen; denn wir werden mittelfristig auch eine nachhaltigere Menschenrechtspolitik in Zentralasien erreichen und durchsetzen müssen. Faire Zusammenarbeit und Ehrlichkeit sind Tugenden, die die Regierungen dort verstehen; denn sie befinden sich in einem jungen Prozess auch der Entwicklung im Kaukasus und in Zentralasien und sozusagen in einem schweren Übergang in echte Demokratieländer. Aus diesem Grunde sollten wir klar in der Analyse der Probleme sein, um die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung und die Zusammenarbeit mit diesen Ländern in den nächsten Jahren zu verbessern. Dazu gehört im Übrigen auch - das möchte ich noch als letzten Punkt anführen - die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, die bei der Zentralasienstrategie eine wichtige Rolle spielt, weil damit die Zivilgesellschaft unterstützt wird, weil wir hier zu einer offenen, teilweise manchmal auch problemlosen Kommunikation kommen können. Ich sage es noch einmal: Die auswärtige Kulturund Bildungspolitik mit all den Angeboten, ob das Goethe-Institute oder ob das Austauschprogramme sind, sind ein unschätzbarer Wert in dieser Zusammenarbeit. Also, meine Damen und Herren: Der Kaukasus und Zentralasien sind Schlüsselregionen für Deutschland. Das gilt nicht nur für die Rohstoffsicherung, sondern auch für den Zugang nach Ost- und Südasien. Geostrategisch sind diese Länder für die Zukunft, für unsere Zukunft und die Zukunft der EU, ein ganz wichtiger Bereich. Deswegen müssen sie weiterhin im Fokus bleiben, sie müssen von uns weiterhin unterstützt werden, aber auch mit einer Zurückhaltung und mit einer wirklichen Überprüfung unserer Arbeit und Kooperation. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin Katrin Werner das Wort. ({0})

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Menschenrechten in Zentralasien wurde lange Zeit zu wenig Beachtung geschenkt. Wir sollten immer als Erstes und zu jedem Land über die Menschenrechte reden und darüber, wie wir diese stärken können. Erst dann kann es um die wirtschaftlichen Interessen gehen. ({0}) Aber auf der Homepage des Auswärtigen Amts steht: Die Länder Zentralasiens gewinnen zunehmend strategische Bedeutung. Dann heißt es weiter: Im wirtschaftlichen Bereich wird die Region immer wichtiger für die Rohstoff- und Energiesicherheit Deutschlands und der EU. Auch für die Entwicklung einer transkontinentalen Transport-Infrastruktur, die Europa, Russland und Asien miteinander verbindet, gewinnt Zentralasien zunehmend eine Schlüsselstellung. Für Sie also zählt zuerst: Die Region ist reich an Rohstoffen, wie Erdöl, Erdgas, Uran und Seltenen Erden. Russland, die USA und China konkurrieren seit geraumer Zeit erbittert um den Zugang zu diesen Rohstoffen und um die Kontrolle der Transportwege, und auch die EU mischt mit. Weiter liest man auf der Homepage des Auswärtigen Amts: Daneben ist die Region wegen ihrer Nachbarschaft zu Afghanistan von herausragender Bedeutung. ({1}) Genau darum geht es. Der Flughafen Termez in Usbekistan dient der Bundeswehr von Anfang an als Drehscheibe für den Transport von Material und Soldaten nach Afghanistan. Dafür zahlt Deutschland circa 20 Millionen Euro pro Jahr. ({2}) An der Zentralasienstrategie zeigt sich, wie sich die EU die Entwicklung ihrer Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern vorstellt. An der Ausarbeitung dieser Strategie hat die ehemalige schwarz-rote Bundesregierung 2007 maßgeblich mitgewirkt. Mit dem heutigen Antrag fordern SPD und Grüne richtige und wichtige Punkte, aber sie halten weiter an der EUZentralasienstrategie fest. Es stehen weiter die wirtschaftlichen Interessen an erster Stelle. Dabei ist die Situation bei den bürgerlichen und politischen Menschenrechten in Zentralasien dramatisch. Hier geht es vor allem um Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit. In all diesen Ländern herrschen mehr oder weniger autoritäre Regime, die demokratische Grundrechte systematisch verletzen. Auch bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten bestehen zum großen Teil Defizite. Beispielsweise werden in Usbekistan Kinder vom Staat verpflichtet, in der Baumwollindustrie zu arbeiten. Die Linke sagt: Ausbeuterische Kinderarbeit ist ein Skandal und gehört endgültig abgeschafft! ({3}) Diese Punkte werden in ihrem Antrag kritisch und richtig beschrieben. ({4}) Entscheidend ist aber, was in Ihrem Antrag fehlt. ({5}) Hinzu kommt, dass Sie völlig inkonsequent bleiben, was die realen Umsetzungsmöglichkeiten Ihrer Forderungen angeht. Die EU-Zentralasienstrategie ist primär auf wirtschaftliche Ziele ausgerichtet. Es geht um Freihandel und Privatisierung von Wirtschaftsressourcen in diesen Ländern. Menschenrechte spielen nur eine Nebenrolle. Dies zeigt sich beispielsweise auch daran, wie ungeniert die Bundesregierung den diktatorischen Präsidenten Kasachstans hofiert hat, ({6}) um Anfang des Jahres eine Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan abzuschließen, und das trotz der bekannten Missstände in Kasachstan. Wenn SPD und Grüne ihre eigenen Anträge ernst nehmen würden, müssten sie fordern, dass die EU-Zentralasienstrategie vor allem um menschenrechtsbezogene Ziele erweitert wird. Ohne eine andere Gewichtung und inhaltliche Änderung der Zentralasienstrategie lassen sich ihre Forderungen nicht umsetzen. ({7}) Den rot-grünen Antrag lehnt die Linke ab. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Viola von Cramon für Bündnis 90/Die Grünen.

Viola Cramon-Taubadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004025, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich in der Tat meinen SPD-Kolleginnen und -Kollegen für die Initiative zu diesem Antrag ganz herzlich danken. Es war eine ausgesprochen angenehme Kooperation. ({0}) Ich bin erfreut, dass wir gemeinsam ein durchaus kritisches Resümee der EU-Zentralasienstrategie ziehen können. Diese hat im Bereich Demokratie und Menschenrechte - ich glaube, Frau Werner, das haben wir explizit so beschrieben - nicht zu relevanten Fortschritten in den fünf zentralasiatischen Ländern beitragen können. Bei der Neujustierung der Strategie haben die EUStaaten im Sommer jetzt ausgerechnet die sicherheitspolitische Kooperation mit den zentralasiatischen Staaten stärker ins Zentrum gestellt. Das geschieht natürlich - das haben einige vor mir erwähnt - vor dem Hintergrund des ISAF-Abzugs. Es ist symptomatisch für die westliche Politik gegenüber Zentralasien: Im Rahmen des Antiterrorkampfes und der Sicherung der nördlichen Abzugsrouten sind Menschenrechte und Demokratie in Zentralasien leider absolut nachrangig. ({1}) Hinzu kommen massive Interessen an Rohstoffen aus Turkmenistan und Kasachstan. Das ist leider der Hintergrund, vor dem wir hier über Menschenrechte in Zentralasien diskutieren. Wir hören menschenrechtliche Bekenntnisse aus den Regierungsfraktionen, aber sie klingen hohl. Nichts verdeutlicht die Doppelmoral der Bundesregierung in Bezug auf die Menschenrechte in Zentralasien besser als die hier schon erwähnte bilaterale Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan und die Sicherheitskooperation mit Usbekistan. Zu Kasachstan. Im Februar hat die Bundeskanzlerin dem kasachischen Präsidenten Nasarbajew hier in Berlin den großen Hof gemacht. Der Grund? Die deutsche Wirtschaft will privilegierten Zugang zu den Seltenen Erden und anderen Rohstoffen haben. Den Besuch Nasarbajews und den Abschluss der bilateralen Rohstoffpartnerschaft halte ich aus vier Gründen für ein politisches Fiasko: erstens der Zeitpunkt - keine zwei Monate nach dem Massaker an den streikenden Ölarbeitern und keinen Monat nach den pseudodemokratischen Parlamentswahlen im Januar, das war absolut schamlos -; ({2}) zweitens der bilaterale Charakter - damit unterläuft die Bundesregierung eine kohärente europäische Menschenrechtspolitik und multilaterale Governance-Strukturen im Rohstoffsektor -; drittens das fehlende Engagement bei Substitution und Recycling zum Beispiel von Seltenen Erden - denn nur deswegen gerät unsere Wirtschaft in die Abhängigkeit von zweifelhaften Regimen wie dem kasachischen - und viertens der Inhalt des Abkommens zur Rohstoffpartnerschaft. Im Abkommen fehlen Verweise auf maßgebliche internationale Abkommen des Menschenrechtsschutzes, der Arbeitsrechte, der Bürgerbeteiligung und der Transparenz. Wir haben mit dem Entwurf eines Abkommens für eine alternative Rohstoffpartnerschaft gezeigt: Es geht eben auch anders, wenn man wertegeleitete Politik ernst nimmt. ({3}) Es überrascht mich aber nicht, dass die Bundesregierung die Forderung der Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, Pillay, nach einer internationalen Untersuchungskommission noch nicht einmal unterstützt. Man will es sich auf Teufel komm raus mit dem Autokraten Nasarbajew nicht verderben. In Einzelfällen, ja, da setzt man sich für einen prominenten politischen Gefangenen wie den Theaterregisseur Bolat Atabajew ein. Das freut mich. Aber ich denke nicht, dass das ausreicht. ({4}) Zweites Beispiel, Usbekistan. Hier sieht die Menschenrechtslage noch düsterer aus als in Kasachstan; die Details sind uns bekannt. Doch ist und bleibt Usbekistan ein zentraler Partner der NATO-Staaten in Bezug auf Afghanistan. Deutschland spielt mit einem Geheimvertrag über die Nutzung des Flughafens Termez eine besondere Rolle. ({5}) In der Antwort auf eine Kleine Anfrage unsererseits hat sich die Bundesregierung zu den Konsequenzen aus der katastrophalen Menschenrechtslage für die sicherheitspolitische Kooperation im Mai ignorant gezeigt und ist auf diese Frage gar nicht eingegangen - ich zitiere -: Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Usbekistan konzentriert sich wesentlich auf die Unterstützung der Operationsführung der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan ({6}) und in diesem Zusammenhang die Nutzung des Flughafens Termez. That’s it. Wie soll man das anders verstehen, als dass Menschenrechte einfach keine Rolle für Art und Ausmaß der sicherheitspolitischen Kooperation spielen? ({7}) Dazu passt, dass Usbekistan, Herr Klimke, weiterhin vorrangiges Kooperationsland, ein sogenanntes A-Land, der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bleibt. Aber die UKW-Frequenz für die Deutsche Welle, die dringend notwendig wäre, wird eingestellt. Das ist eine Katastrophe. ({8}) Obwohl die Bundesregierung immer wieder vorgibt, sich für die Abschaffung der Kinderzwangsarbeit bei der Baumwollernte einzusetzen, hört man hinter den Kulissen, dass sie ein konsequenteres Engagement in der ILO zu diesem Thema ausbremst.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Viola Cramon-Taubadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004025, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin fertig. ({0}) - Ich bin fertig mit meiner Rede. Das ist leider die traurige Realität der Menschenrechtspolitik unserer Bundesregierung in Zentralasien. Ich könnte noch viel hinzufügen. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Menschenrechte in Zentralasien stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11287, den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9924 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Linke angenommen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung einer Markttransparenzstelle für den Großhandel mit Strom und Gas - Drucksachen 17/10060, 17/10253 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - Drucksache 17/11386 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Lindner Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Interfraktionell wurde vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann nehmen wir das so zur Kenntnis.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/11386, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10060 und 17/10253 in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Diejenigen die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Da- mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu- stimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Fraktion Die Linke war dagegen. SPD und Bündnis 90/ Die Grünen haben sich enthalten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt zuvor angenommen. Ich lasse über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11401 abstimmen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion, enthalten haben sich Linke und Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP waren dagegen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz - Drucksachen 17/2419, 17/8622 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Herrmann Carsten Schneider ({2}) Florian Toncar Steffen Bockhahn Katja Dörner Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie- ren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und teile Ihnen mit, dass Frau Vogelsang und Herr Danckert ihre Reden zu Pro- tokoll geben.1) ({3}) Ich gebe das Wort der Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion. ({4})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt: Keine andere Stadt, und gewiss nicht Bonn, will Berlin, der Hauptstadt der Deutschen, ihren historischen und geistigen Rang und ihre Zukunftsaufgaben für alle Deutschen streitig machen. - Die Behauptung in dem Antrag der Fraktion Die Linke, Berlins Rolle als Bundeshauptstadt werde durch den zweiten Dienstsitz von Ministerien in Bonn geschwächt, ist - das zeigt auch die jüngere Geschichte in Berlin - schlicht haltlos. In der politischen und gesellschaftlichen Realität ist es längst unstrittig - deshalb reden wir auch hier und nicht in Bonn -, dass Berlin die Funktion als Bundeshauptstadt voll erfüllt. Das ist im In- und Ausland anerkannt. Auch wenn man die Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger anschaut, sieht man es; denn wichtige Demonstrationen finden hier statt und nicht in Bonn. Zudem darf bei der Diskussion nicht vergessen werden, dass damals die Zustimmung zu dem Berlin-BonnGesetz an die Bedingung geknüpft war, dass Bonn zum Teil Dienstsitz von Ministerien bleibt. Eine Änderung des Gesetzes wäre somit ein nachträglicher Wegfall der Geschäftsgrundlage, und für die FDP-Bundestagsfraktion gilt immer noch: Pacta sunt servanda, Verträge müssen eingehalten werden. ({0}) Nur weil einem 20 Jahre später etwas anderes einfällt, kann man das nicht ändern. Eines sage ich Ihnen sehr klar - ich habe damals in Bonn studiert und habe es erlebt -: Berlin hätte nie eine Mehrheit bekommen, wenn dieses Gesetz nicht auf den Weg gebracht worden wäre. Das muss man der Ehrlichkeit halber sagen. ({1}) Eines bewegt mich als überzeugte Föderalistin ohnehin, nämlich die Tatsache, dass wir in Deutschland mit dem Umzug eine Art Rutschbahneffekt erleben. Wir bauen ein neues Bundespolizeipräsidium. Wo wird es gebaut? In Potsdam. Die Abteilung 6 des Verfassungsschutzes zieht wohin? Nach Berlin. Der BND zieht zum überwiegenden Teil wohin? Nach Berlin. Manchmal frage ich mich im Nachhinein, wie dieses Land jahrzehntelang ohne moderne Technologie funktioniert hat. Man hat mit diesen Häusern offenbar über Kilometer hinweg kommunizieren können. Irgendwie habe ich die Entwicklung wohl verschlafen. Deutschland kann offenbar auch mit gut verteilten Institutionen leben. ({2}) Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Wir sind ein föderalistischer Staat, wir sind kein zentralistischer Staat. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wieder einen zentralistischen Staat wollen, so sage ich Ihnen: Wir sind schon in Berlin. - Das sollte als Erfahrung für Sie reichen. Man kann natürlich vieles noch verbessern, zum Beispiel die Konferenztechnologie. Man kann sich auch in dem einen oder anderen Ausschuss morgens überlegen, wie man damit umgeht, wenn Beamtinnen und Beamte aus Bonn anreisen. Es ist alles schon viel besser geworden. In Ihrem Antrag erwähnen Sie übrigens die Umzugskosten mit keinem Wort. Sie tun so, als ob sich der Umzug von selbst bezahlen würde. Wenn Sie die Beamtinnen und Beamten hier unterbringen wollten, müssten Sie Neubauten errichten. Wer sich wie ich mit dem Bau des Polizeipräsidiums und des Innenministeriums beschäftigt hat, der weiß, dass ein Neubau nicht für 1 Euro zu haben ist. Der ist vielmehr richtig teuer. ({3}) Da wir uns vorgenommen haben, zu sparen, ist das, glaube ich, auch ein Beitrag zu einem strukturell ausge- glichenen Haushalt. Auch deshalb ist es für uns selbst- verständlich, dass wir einem Antrag, der eine geschätzte 1) Anlage 3 Amortisationszeit von 200 bis 500 Jahren hat, nicht zustimmen können. Wenn Sie so weit denken, herzlichen Glückwunsch! Wir denken an die schwarze Null im Jahr 2014. ({4}) Vor allen Dingen ist es interessant, dass ausgerechnet die Linke - wo Sie sich hier immer so sozial gerieren sich um konkrete Vorschläge zu den sozialen Betroffenheiten herumdrückt. Über die berechtigten Anliegen der Betroffenen - das sind nicht nur topbezahlte Beamtinnen und Beamten, sondern vor allen Dingen auch Menschen im mittleren oder vielleicht sogar einfachen Dienst schweigen Sie sich einfach aus. Dazu fällt Ihnen eigentlich nur ein, dass das Ganze durch die Mitbestimmung - die sowieso gesetzlich vorgeschrieben ist - geregelt werden soll. Wenn Ihnen nicht mehr zur sozialen Betroffenheit von Tausenden von Beamten, die von Bonn nach Berlin umziehen sollen, einfällt, dann weiß ich nicht, wo Ihr soziales Gewissen geblieben ist. ({5}) Eines weiß ich aber: dass jeder, der heute Ihrem Antrag nicht zustimmt, ein soziales Gewissen hat und sich an rechtsstaatliche Verbindlichkeiten hält. ({6}) Wenn Sie das nicht können, ist Ihnen nicht zu helfen. Wir haben eine andere Auffassung. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort erteile ich jetzt dem Kollegen Roland Claus für die Linke. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meiner Vorrednerin will ich in einem Punkt ausdrücklich zustimmen: Dass wir weiter denken als die FDP, stimmt in der Tat. ({0}) Aber dass die FDP gerade bei diesem Antrag ihr soziales Gewissen entdeckt, ist etwas kurios. Worüber reden wir hier? Wir reden über eine seit 13 Jahre zweigeteilte Bundesregierung. Sie haben richtig gehört. Fast die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesregierung arbeitet nach wie vor am Standort Bonn. Da geht es nicht um Bundesämter und nachgeordnete Behörden, sondern um eine unmittelbare Regierungstätigkeit. Zu jeder Zeit unserer Beratungen führt das dazu, dass konkret 170 Angestellte des Bundes oder Bundesbeamte sich in der Luft befinden - zwischen Bonn und Berlin oder Berlin und Bonn. Zurzeit sind es ausdrücklich einige mehr, weil wir in den Haushaltsberatungen stecken. ({1}) Was tut die Bundesregierung und die sie tragende Koalition in dieser Zeit? Sie tut nichts oder eher das Gegenteil: Sie verfestigt diese Teilung, beispielsweise mit der Absicht, eine zentrale Bundesbehörde für die gesamte Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes in Bonn zu installieren. ({2}) Uns wird gelegentlich vorgehalten, dass wir diesen Antrag alle Jahre wieder stellten. Das ist auch nicht falsch, aber ich weiß, dass Sie dieses „alle Jahre wieder“ nicht als Kompliment meinen. Deshalb sagen wir Ihnen ganz deutlich: Solange Sie sich nicht oder in diesem Schneckentempo bewegen, mit dem Sie jetzt unterwegs sind, werden Sie mit diesem Antrag auch künftig zu tun haben. ({3}) Was schlägt Ihnen nun die Linke vor? Die Linke sagt: Wir wollen einen schrittweisen Komplettumzug der Bundesregierung nach Berlin, und wir wollen trotzdem den Erhalt einer bundesweiten Verteilung von Bundesämtern und Bundesbehörden. Unser Hauptargument heißt: Geteilt regieren heißt schlecht regieren. Man merkt dieser Regierung an allen Ecken und Enden an, dass dies auch zutrifft. ({4}) Ich will Ihnen auch eines klarmachen, weil mir immer wieder entgegengehalten wird, wir seien jetzt im Zeitalter von Computern und Telefonkonferenzen, was ich natürlich alles begrüße und nicht abstreite. ({5}) Aber Sie werden auch die Erfahrung gemacht haben: Wirklich wichtige Entscheidungen in Regierung, Politik und Fraktionen fallen immer noch dadurch, dass Menschen zusammenkommen, sich die Sachlage erklären und etwas gemeinsam verabreden. Die Bundesregierung hat uns den jährlichen Teilungskostenbericht vorgelegt. Er enthält wie immer natürlich nur einen Teil der Wahrheit. Die ganze entgangene Arbeitszeit gehört auch zur Wahrheit; das geschieht beispielsweise dadurch, dass Beamte des Bundes, die Sie als Abgeordnete hierher zu uns zur Beratung einladen, ({6}) quasi umsonst hierher gefahren sind, wenn sich eine Tagesordnung verändert und dann eine Debatte stattfindet. Auch diese Wahrheit sparen Sie aus. ({7}) Dazu kommt, dass es bundesweit viele junge kreative Leute gibt, die sich vorstellen können, ihre berufliche Entwicklung in einem Bundesministerium stattfinden zu lassen. Diese jungen Leute - das kann ich Ihnen wirklich sagen; das können uns auch alle mit Personalfragen Beschäftigten sagen - haben natürlich in erster Linie ein Interesse, nach Berlin zu kommen. Sie wollen nicht nach Bonn. Auch das muss gesagt werden. ({8}) Nun haben wir den Antrag im Haushaltsausschuss beraten. CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen haben unseren Antrag abgelehnt. Die SPD hat sich der Stimme enthalten. Das ist für uns wirklich ein beachtenswerter Schritt; dass sie sich hier bewegt hat, wollen wir auch anerkennen. ({9}) - Die SPD hat sich in dem federführenden Ausschuss, Herr Kollege Kelber, ausdrücklich enthalten. Das können auch Sie nachlesen. Zu dem Einwand, man müsse geschlossene Verträge einhalten, kann ich Ihnen nur sagen: Alles, was der Bundesstadt Bonn - bitte schön, auch zu Recht - versprochen wurde, wurde spätestens bis 2003/2004 eingehalten. Man kann heute mit Fug und Recht sagen: Keinem Bonner wird es schlechter gehen. ({10}) Das Berlin-Bonn-Gesetz hatte seine Zeit, getreu dem Bibelwort: Ein Jegliches hat seine Zeit. - In der Bibel steht aber nicht: Ein Jegliches hat seine Ewigkeit. Deshalb gehört auch jetzt das Berlin-Bonn-Gesetz aufgehoben.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Beim Stichwort „Ewigkeit“ darf ich Sie an die Redezeit erinnern.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, ich komme dem gerne nach. - Auf zur Wiedervereinigung der Bundesregierung in Berlin! ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Roland Claus. - Die Kollegin Katja Dörner hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Beendigungsgesetz zum Berlin-BonnGesetz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8622, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2419 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Gegenprobe! - Die Linksfraktion. ({0}) Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. ({1}) - Das kann der Herr Kelber selber sagen, wenn es so ist. Hier ist es nicht gesehen worden. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zur Verordnung ({2}) Nr. 648/2012 über OTCDerivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister ({3}) - Drucksache 17/11289 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ralph Brinkhaus. ({5}) Ich darf bei der Gelegenheit darauf hinweisen, dass man um diese Uhrzeit einen hohen Zeitanteil nicht immer ausschöpfen muss. Bitte schön!

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war jetzt aber gemein, Herr Präsident. - Nein, das werde ich auch nicht machen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ich habe „muss“ gesagt. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der verehrte Herr Präsident hat ja gerade den sperri- gen Titel dieses Gesetzes vorgelesen. Man mag sich wirklich fragen: Was machen wir hier? Ausführungsge- setz zur Verordnung über OTC-Derivate - ist es wirklich wichtig, dass wir zu dieser späten Stunde darüber noch diskutieren? Ich sage Ja. Ich sage ganz ausdrücklich Ja; 1) Anlage 3 denn dieses Regulierungswerk ist wieder einmal ein sehr epochales Regulierungswerk, das wir hier zusammen mit unseren europäischen Kollegen auf den Weg bringen. Ich nenne Ihnen nur einmal eine Zahl. Das Nominalvolumen der ausstehenden Derivate, das weltweit über die Finanzmärkte wabert, beträgt nach seriösen Schätzungen zwischen 600 Billionen und 1 000 Billionen USDollar. Das muss man sich einmal vorstellen! Das wirklich Beunruhigende an der ganzen Sache ist, dass diese Märkte größtenteils nur wenig bis gar nicht reguliert sind. Hier soll Abhilfe geschaffen werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung behandeln. Was sind überhaupt Derivate, meine Damen und Herren? Sind Derivate eigentlich etwas Schlimmes? Nein, Derivate sind ganz normale Termingeschäfte, und diese werden in der Realwirtschaft auch gebraucht. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Ein Maschinenbauer schließt am 1. Juli eines Jahres einen Vertrag, nach dem er zum 1. Dezember zu einem bestimmten Preis in US-Dollar eine Maschine liefert. Er stellt während der Zeit, wo er die Maschine baut, fest, dass der US-Dollar im Wert verfällt und er am Ende des Tages viel weniger für seine Maschine bekommt, als er ursprünglich gedacht hat. Um so etwas zu vermeiden, sichert man sich mit einem Devisensicherungsgeschäft ab. Das hört sich durchaus nützlich an. Es gibt ja auch Zinssicherungsgeschäfte und Warensicherungsgeschäfte. Die Realwirtschaft braucht diese Geschäfte. Nichtsdestotrotz sind wir - ich glaube, das gilt für alle Fraktionen hier im Hause - sehr beunruhigt. Warum sind wir beunruhigt? Einmal aufgrund des hohen Volumens dieser Geschäfte mit Derivaten - 600 bis 800 Billionen US-Dollar - und zum anderen deshalb, weil wir festgestellt haben, dass das Volumen dieser Geschäfte viel schneller gewachsen ist als das Bruttosozialprodukt in der Welt. Man lernt daraus, dass es anscheinend so ist, dass sich diese Geschäfte vom realwirtschaftlichen Bezug abgekoppelt haben. Findige Finanzmanager, findige Investmentbanker haben entdeckt, dass man für Geschäfte mit Derivaten, mit denen sich ein Gewinn, ein Ertrag erzielen lässt, den besagten Maschinenbauer überhaupt nicht braucht. Man kann untereinander handeln. So hat sich die ganze Sache unglaublich aufgebläht. Wir wissen eigentlich auch gar nicht, was auf diesen Derivatemärkten so abgeht. Wir haben das festgestellt, als wir 2010 die Griechenland-Krise gehabt haben. Da wurde gesagt: Mit Credit Default Swaps wird gegen Griechenland gezockt. Wir hätten gern empirische Daten gehabt. Wir hätten gern gewusst: Wer zockt gegen Griechenland, in welcher Höhe, mit welchen Verträgen? Wir wussten es nicht. Deswegen, meine Damen und Herren, konnte die Aufsicht auch nicht eingreifen. Deswegen sind wir sehr daran interessiert, dass dort Transparenz entsteht. Wir haben eine weitere beunruhigende Feststellung gemacht, nämlich dass diese Produkte immer komplexer werden. Wir hatten im Finanzausschuss eine Anhörung zu Spread Ladder Swaps. Das ist so kompliziert, dass mir selbst der Vorstand der Deutschen Bank nicht so richtig erklären konnte, was er an Kommunen und mittelständische Unternehmen verkauft hat. Das hat zu einem erheblichen Schaden geführt: bei Kommunen, bei mittelständischen Unternehmen. Solche Geschäfte sind im Übrigen auch heute noch gerichtsanhängig. Wenn ich das einmal zusammenfasse: einerseits riesengroße Volumina, die durch die Welt gehen, wenig Transparenz, Abkopplung von realwirtschaftlichen Prozessen und andererseits Produkte, die so komplex sind, dass sie wahrscheinlich nur noch der mathematisch vorgebildete Fachmann versteht. Das ist, glaube ich, Anlass genug, zu regulieren. Insofern erfüllen wir heute zusammen mit unseren europäischen Kollegen das Versprechen, das wir im Koalitionsvertrag gegeben haben, dass kein Finanzprodukt, kein Finanzmarkt und kein Akteur unreguliert bleibt. Deswegen wird hier heute das Ausführungsgesetz zur EMIR-Verordnung auf den Weg gebracht. Was beinhaltet die EMIR-Verordnung, meine Damen und Herren? Die EMIR-Verordnung regelt erstens, dass diese Derivate zukünftig, wenn sie standardisiert sind, über zentrale Plattformen abgewickelt werden. Das schafft Transparenz. Das schafft Sicherheit. Das schafft eine bessere Abwicklung. Das ist wichtig. Zweitens wird geregelt, dass es da, wo es nicht möglich ist, diese Derivate über zentrale Plattformen abzuwickeln, ein besseres Risikomanagement gibt und dass alle diese Geschäfte transparent gemacht werden, indem sie in Register eingetragen werden. Das müssen wir jetzt hier in Deutschland eigentlich gar nicht direkt umsetzen, weil es sich um eine EU-Verordnung handelt, die gleich deutsches Recht ist, aber wir müssen einige Sachen auf den Weg bringen, damit diese Verordnung hier in Deutschland auch ordentlich wirken kann. Als Erstes müssen wir - wie es immer so ist - festlegen, welche Behörde in Deutschland für die EMIR-Verordnung zuständig ist. Wir müssen als Zweites einige konkurrierende gesetzliche Regelungen im KWG ändern, die mit der EMIRVerordnung nicht zusammenpassen. Wir müssen drittens - das ist auch ganz wichtig - hier in Deutschland Bußgeldtatbestände festlegen. Wir müssen viertens einige Folgeänderungen vornehmen: im Versicherungsaufsichtsgesetz, im Investmentgesetz und - das ist ganz wichtig; das wird uns noch beschäftigen - im Insolvenzrecht. Das ist das, was wir hier machen müssen. Das werden wir machen. Wenn Sie sich das alles einmal anschauen, dann merken Sie, dass als Grundalgorithmus hinter dieser Verordnung steht: Risiko minimieren und Risiko transparent machen. Das ist genau das, was wir in der christlich-liberalen Koalition in mittlerweile weit über 15 Gesetzen auf den Weg gebracht haben: Ich nenne die Gesetze zur Neuordnung der Vergütungsstrukturen, zur Neuordnung des Ratingwesens, zum Verbot der Leerverkäufe, die Umsetzung der Kapitaladäquanzrichtlinie, die Regelung von Verbriefungen von Großkrediten, ({0}) darüber hinaus noch das Bankenrestrukturierungsgesetz, das Anlegerschutzgesetz, das Finanzanlagenvermittlergesetz, die Neuordnung der deutschen Finanzaufsicht, die Integration der deutschen Finanzaufsicht an die europäische Finanzaufsicht, die Eigenkapital- und Liquiditätsregeln, die wir im Zuge von Basel III auf den Weg bringen, Solvency II, mit dem wir das Versicherungswesen sicherer machen, die Regulierung der alternativen Investmentfonds. Überall geht es darum, Risiko zu minimieren und vor allem Risiken transparent zu machen, damit eine Aufsicht vernünftig eingreifen kann. ({1}) Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Umsetzung der EMIR-Verordnung; denn der 600 bis 800 Billionen Dollar große Derivatemarkt muss, wie gesagt, dringend schärfer reguliert werden. Das werden wir heute machen. Jetzt könnte ich sagen: Alles ist toll gelaufen. Wir sind mit der Regulierung fast fertig, nichts kann mehr passieren. Aber auch hier ist es so, dass wir alle, die wir hier sitzen, in Demut sagen: Nein, wir wissen nicht, woher die nächste Finanzkrise kommt. Wir wissen auch nicht, ob wir durch all diese Regulierungen die nächste Finanzkrise verhindern können. Aber wir machen sie ein wenig unwahrscheinlicher. Das ist wichtig. Vielleicht gibt es den einen oder anderen Politiker in diesem Land, den einen oder anderen Kanzlerkandidaten der einen oder anderen Partei, ({2}) der hin und wieder behauptet, er könne die Finanzmärkte sicherer machen. Wir sagen das jedoch nicht; denn wir haben noch ganz viel Arbeit vor der Brust. Über die Regulierung der Derivatemärkte und über die Regulierung der alternativen Investmentfonds hinaus müssen wir noch einige dicke Eisen anpacken. Dazu gehört beispielsweise der große Bereich der Schattenbanken. Das wird eine der wesentlichen zentralen Aufgaben der nächsten Jahre sein. Wir müssen uns endlich der Too-big-to-fail-Problematik lösungsorientiert annehmen. Die SPD schlägt eine Art Trennbankensystem vor. Das überzeugt uns nicht ganz. Vielleicht müssen wir an dieser Stelle auch über mehr Eigenkapital nachdenken. Ich glaube, wir sind uns aber darin einig, dass wir es nicht akzeptieren können, dass es auf den Finanzmärkten Marktteilnehmer gibt, die so groß sind, dass sie bei einer Insolvenz den ganzen Markt zerstören. Das dem nicht so ist, ist nicht von uns, dem Gesetzgeber, nachzuweisen, sondern die jeweilige Bank steht in der Pflicht, das nachzuweisen. Das könnte sich die ein oder andere sehr große deutsche Bank einfach einmal hinter die Ohren schreiben. ({3}) Meine Damen und Herren, um dem Wunsch des Präsidenten nach kürzerer Redezeit gerecht zu werden, kürze ich meine Rede ab: EMIR wird jetzt in das parlamentarische Verfahren hineingehen. Wir werden noch im November eine Anhörung zu diesem Thema haben. Die zweite und dritte Lesung dieses Gesetzes wird noch im Dezember dieses Jahres stattfinden. Dann werden wir am Ende des Jahres sagen können, dass wir die Finanzmärkte wieder einmal ein wenig sicherer und besser gemacht haben. Ich glaube, das ist die Mühe wert. Danke schön. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus. Sie haben in der Tat Ihre Redezeit abgekürzt, aber dafür haben Sie schneller gesprochen. Nächster Redner in unserer Aussprache ist Kollege Dr. Carsten Sieling für die Sozialdemokraten. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Vorredner hat zu Beginn seiner Rede schon deutlich gemacht, welche Dimension die Derivate haben. Er hat die Zahl von 600 Billionen Dollar, mehr als das Zehnfache des Weltbruttoinlandsprodukts, genannt. Das sind in der Tat gewaltige und bedeutende Zahlen. Diese Zahlen zeigen, dass das Kernproblem noch nicht gelöst ist. Das ist nämlich die Entkoppelung der spekulativen Aktivitäten von der Realwirtschaft, also den erwirtschafteten Produkten und Dienstleistungen. Darin sind wir uns einig. Ich höre dieses Argument aus den Reihen der Koalition, vor allem aus den Reihen der CDU/CSU, in neuer Schärfe. Seit einigen Wochen erleben wir ja hier finanzmarktkritische Beiträge der gleichen Art, wie es heute der Fall ist. Von daher gehört das vielleicht zu der neuen Melodie ein Jahr vor der Bundestagswahl. ({0}) Herr Kollege, Sie dürfen aber bei Ihren Argumenten einen weiteren Punkt nicht vergessen. Nachdem dieses Missverhältnis zum Ausbruch der Finanzkrise vor fünf Jahren geführt hat, hat der G-20-Gipfel von Pittsburgh im Jahr 2009, vor drei Jahren, dieses Problem thematisiert. Sie stellen sich hier hin und gestehen für die Regierung quasi ein, dass Sie seitdem nichts gemacht haben. ({1}) Das ist doch das Wesentliche: dass Sie eben nichts gemacht haben. Sie können jetzt nicht mit Klagen über die schlechten Verhältnisse kommen, wenn Sie als Bundesregierung gleichzeitig drei Jahre Stillstand zu verantworten haben. So geht es nicht. ({2}) Das ist das eigentliche Problem bei dieser Vorlage. ({3}) Jetzt werden Sie sagen: Das musste doch auf der europäischen Ebene gemacht werden. ({4}) - Sogar international, wunderbar. Die klugen Kollegen von der FDP weisen darauf hin, dass das Ganze sogar international gemacht werden müsste. ({5}) Dazu will ich Ihnen an dieser Stelle deutlich sagen: Viele von Ihnen hier im Plenum waren, wie ich selber auch, vor wenigen Wochen bei der IWF-Jahrestagung und der Weltbanktagung in Japan. Von der dortigen Finanzaufsicht ist uns erklärt worden, dass Japan die Regulierung der Derivate schon umgesetzt hat und das Ganze zum Ende des Jahres ins Werk gesetzt wird. Da stellt sich die Frage, warum das die deutsche Bundesregierung nicht konnte. ({6}) Jetzt wird wieder das Argument kommen: Das lag ja an der EU, und wir mussten das im EU-Rahmen machen. Dazu sage ich nur: Es gibt in diesem Zusammenhang auch noch andere Themen. Ich nenne nur die Leerverkäufe, bei denen Sie sich hier immer hinstellen und sehr stolz sagen: Das haben wir vorauseilend gemacht. Die Frage steht also im Raum: Warum machen Sie das in diesem gefährlichen Bereich nicht auch? Warum haben Sie das Problem liegen gelassen? ({7}) - Ihre Erregung spricht Bände. Sie sind erwischt an dieser Stelle. Das ist keine gute Botschaft für die Stabilität der Finanzmärkte. ({8}) Wenn Sie hier behaupten, dass man mit dieser Verordnung Versprechen - Sie haben es mit diesem großen Wort bezeichnet - erfüllt, dann darf ich doch darauf hinweisen, dass es sich hier um ein Ausführungsgesetz handelt. Bei den vor uns liegenden Beratungen, insbesondere im Rahmen der Anhörungen, wird man sich deshalb noch vielen Einzelfragen zuwenden müssen. In diesem Ausführungsgesetz soll nun erst die Grundlage dafür geschaffen werden, dass geregelt werden kann, wie überhaupt die Erfassung dieser over the counter, also über der Ladentheke - ich sage immer: eigentlich unter der Ladentheke - stattfindenden Geschäfte auf vernünftigen Börsenplattformen erfolgen soll. Das ist aber noch lange keine Regelung. ({9}) - Kollege Schindler, Japan gehört nicht zur EU. Gut, dass Sie diese Erkenntnis dem Hohen Hause mitteilen. Japan gehört aber zur G 20; und die G 20 hat entsprechende Verabredungen im Jahr 2009 getroffen. Die einen haben sich daran gehalten, die anderen eben nicht. Das ist die Kritik, und sie bleibt richtigerweise bestehen. Ich verweise an dieser Stelle nur darauf, dass wir überhaupt noch keine Antwort haben - ich kenne auch noch keine Position der Bundesregierung dazu -, welche Derivate eigentlich reguliert werden sollen und welche im nicht standardisierten Bereich verbleiben werden. Die wesentliche Musik wird noch kommen, nämlich die Entscheidung darüber, was letztlich auf die Plattformen gezogen werden soll und wie diese Plattformen am Ende organisiert werden. Der Inhalt fehlt ganz einfach. Wir sprechen über ein Ausführungsgesetz, ein Formalgesetz, in dem eigentlich relativ wenig Musik - das wissen Sie auch, auch wenn Sie versucht haben, das hier anders darzustellen - drinsteckt. ({10}) Deshalb ist es notwendig, dass wir jetzt über die inhaltlichen Ziele reden. ({11}) Dazu hätte ich gerne ein bisschen mehr gehört, aber wir stehen ja noch am Anfang der Beratungen. Es wird allerdings deutlich, dass die schöne Rede darüber, was alles an Finanzmarktregulierungen geleistet worden sei, leider nicht mehr ist als eine schöne Rede. ({12}) Auch an dieser wichtigen Stelle zeigt sich, dass Sie ziemlich hinter dem herhinken, was in Pittsburgh vereinbart wurde. Pittsburgh war übrigens der letzte G-20-Gipfel - da können Sie reden, wie Sie wollen -, an dem Peer Steinbrück als zuständiger Finanzminister teilgenommen hat. ({13}) Dort hat man diese Vereinbarungen bereits getroffen, und erst jetzt kommen Sie mit Fakten. Das ist ziemlich müde. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({14})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Carsten Sieling. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Björn Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger. ({0})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Geschätzter Kollege Sieling! Die Regulierung der Ratingagenturen, die Regulierung der Kreditverbriefun24824 gen, das Leerverkaufsverbot, das wir übrigens auf nationaler Ebene umgesetzt haben, die Regulierung von Vergütungen und Boni, das Bankenrestrukturierungsgesetz, das wir im Übrigen national umgesetzt haben und das auf EU-Ebene zum Vorbild wurde, die Bankenabgabe, OGAW, die Finanzvermittlerrichtlinie - ich könnte noch Zigtausende Dinge aufzählen, die diese Bundesregierung umgesetzt hat. ({0}) - Okay, Tausende nicht ganz; „Dutzende“ würde es sicherlich am ehesten treffen. ({1}) Ich könnte also Dutzende Dinge aufzählen, die wir hier in diesem Hohen Haus beschlossen und mit denen wir Lehren aus der Finanzkrise gezogen haben. Bei den entsprechenden Abstimmungen haben Sie sich im Übrigen entweder enthalten oder haben dagegen gestimmt. ({2}) Nahezu alle Probleme der Finanzkrise sind von dieser Bundesregierung angepackt worden. Heute haben wir die Regulierung der Derivate im Zuge der Umsetzung der EMIR-Richtlinie auf der Tagesordnung. Ein Derivat ist im Grunde genommen ein klassisches Unimogprodukt; es ist nicht genau zuzuordnen. Wenn der Winter kommt, kennen wir alle den Unimog als ein schönes orangefarbenes kommunales Fahrzeug mit einem Räumschild vorne und finden ihn gut. Den gleichen Unimog gibt es aber auch in Olivgrün mit komischen Gerätschaften hinten darauf. Wenn er durch Krisengebiete fährt, finden wir ihn möglicherweise nicht so gut. Genau so verhält es sich mit einem Derivat: Es ist in der Realwirtschaft tagtäglich zigtausendfach im Einsatz und leistet gute Dienste. Es ist für unsere Unternehmen im internationalen Handel ein Instrument der Risikosteuerung. Der Derivatemarkt hat jedoch zwei Seiten. Auf der einen Seite, im Bereich der Realwirtschaft, haben wir die „guten“ Unternehmen, die den Markt nutzen, um Risiken zu steuern. Auf der anderen Seite haben wir einen Investor, der in ein bestimmtes Risiko investiert. Den nennt man dann Spekulant. Sein Handeln auf dem Derivatemarkt ist aber notwendig, damit Arbeitsplätze erhalten werden. ({3}) Bei dem Ganzen ist aber problematisch, dass man nicht genau weiß, wer wo welche Risiken trägt und wie viele es überhaupt sind. Das heißt, es besteht eine gewisse Intransparenz, eine Unsicherheit. Da setzt die EMIR-Richtlinie mit drei Maßnahmen an: Die erste Maßnahme ist die Bündelung der OTC-Geschäfte, der sogenannten Over-the-Counter-Geschäfte, die nicht an regulären Börsenplätzen abgehalten werden, bei den CCPs, den zentralen Gegenparteien, soweit dies möglich ist; denn diese Geschäfte - das liegt in der Natur der Sache - sind sehr individuell, je nachdem, welches Bedürfnis bei den Unternehmen vorherrscht. Die zweite Maßnahme ist eine Transparenzoffensive - das ist ganz wichtig -, die eine Eintragung in ein zentrales Transaktionsregister vorsieht, damit man weiß, wer gerade was macht. Das dient dazu, das Misstrauen zu mindern. Die dritte Maßnahme dient der Absicherung des Ausfallrisikos durch eine weitere Hinterlegung von Sicherheiten. Das alles sind grundsätzlich richtige Maßnahmen, die natürlich nicht ganz unproblematisch sind. Wenn wir beispielsweise alles auf zentrale Gegenparteien verlagern, dann stellen diese aufgrund der Kumulation der Risiken wiederum ein Risiko dar. Man muss dann aus meiner Sicht durchaus darüber nachdenken, ob das wirklich systemstabilisierend ist. Man muss auch den Aufwand der Realwirtschaft im Auge haben. Es nützt nichts, wenn die Erhöhung der Kosten der Risikosteuerung dazu führt, dass die Realwirtschaft in andere Märkte abwandert, die vielleicht nicht mit der Sorgfalt regulieren, wie wir das hier in Deutschland tun. Insgesamt müssen wir auch beachten, dass es hier bestimmte Regelungen gibt - Stichwort „Nachteilsausgleich bei Insolvenzen“; jetzt wird es schon sehr technisch -, die möglicherweise auch nicht geeignet sind, um insgesamt die Stabilität herzustellen, die wir brauchen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind aber erst am Anfang der Beratungen. Wir werden eine Anhörung durchführen und einen Erkenntnisgewinn haben. Am Ende wird es, wie bei allen vorhin genannten Vorhaben bzw. schon umgesetzten Maßnahmen im Bereich der Finanzmarktregulierung, auch hier wieder eine sehr sorgfältig erarbeitete gute Lösung geben, wie wir das von dieser Bundesregierung, die im Bereich der Finanzmarktregulierung nun wirklich führend ist, gewohnt sind. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen. Herzlichen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. - Die Kollegen Dr. Axel Troost für die Linke und Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geben ihre Reden zu Protokoll.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/11289 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 4 Vizepräsident Eduard Oswald Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für einen wirksamen Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in der Europäischen Union und in Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Dr. Frithjof Schmidt, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen - Drucksachen 17/10786, 17/10638, 17/11131 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({2}) Ulla Jelpke Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Redner lie- gen dem Präsidium vor, sodass wir gleich zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Innenausschus- ses auf Drucksache 17/11131 kommen.1) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10786. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10638. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes ({3}) - Drucksachen 17/10745, 17/10798 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksachen 17/11335, 17/11416 - Berichterstattung: Abgeordnete Peter Aumer Martin Gerster Richard Pitterle Dr. Gerhard Schick Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Die Liste der Redner liegt hier vor. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden, Widerspruch erhebt sich nicht. So kom- men wir zur Abstimmung.2) Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/11335 und 17/11416, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10745 und 17/10798 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Niemand. Enthaltungen? - Das sind wieder die drei Oppositionsfraktionen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes - Drucksachen 17/10744, 17/10797 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5}) - Drucksache 17/11387 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Schindler Sabine Bätzing-Lichtenthäler Lisa Paus - Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/11400 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({7}) Otto Fricke Dr. Gesine Lötzsch Priska Hinz ({8}) Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. 1) Anlage 5 2) Anlage 6 Vizepräsident Eduard Oswald Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Die Namen der Redner liegen auch hier vor,1) so- dass wir gleich zur Abstimmung kommen können. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/11387, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10744 und 17/10797 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshal- ber: Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshal- ber: Enthaltungen? - Es ist niemand aufgestanden. Infol- gedessen ist der Gesetzentwurf angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent- schließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11402. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Vor- sichtshalber: Enthaltungen? - Keine. Der Entschlie- ßungsantrag ist abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11403. Wer stimmt für die- sen Entschließungsantrag? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Gegen- probe? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die So- zialdemokraten. Enthaltungen? - Niemand. Der Ent- schließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Fritz Rudolf Körper, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Keine Modernisierung der US-Nuklearwaffen in Europa und Deutschland - Abrüstungschancen nicht ungenutzt verstreichen lassen - Drucksache 17/11323 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({9}) Verteidigungsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abzug statt Modernisierung der US-Atomwaffen in Deutschland - Drucksache 17/11225 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({10}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist dies so beschlossen. Die Redner sind auch schon bereit. Erste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten: unsere Kollegin Uta Zapf. Bitte schön, Frau Kollegin Zapf. ({11})

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obama hat die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Alle, die auf weitere Abrüstung hoffen, haben natürlich erleichtert aufgeatmet. Herr Minister Westerwelle hat gesagt, es gebe neue Im- pulse in der Abrüstung und es müsse ein „energischer weiterer Schritt“ gemacht werden. Das ist sehr schön. Seine Forderung wird auch von Herrn Leibrecht, dem Koordinator für die transatlantischen Beziehungen, auf- gegriffen. Er sieht eine Chance dafür, dass Obama in sei- ner zweiten Amtszeit im Bereich der Abrüstung mutige Schritte gehen könnte. Beide werfen die Frage auf - und das ist wichtig -, was mit den in Europa stationierten Atomwaffen geschehen soll. Wenn man mich fragt, ist die Antwort ziemlich leicht: Sie sollen weg - wenigstens die, die in Büchel stationiert sind. Unserer Regierung sage ich: Machen Sie einen mu- tigen Schritt! Dieses Hohe Haus hat bereits 2010 partei- übergreifend beschlossen - ich zitiere, wenn auch nicht ganz wörtlich -, dass im Zuge der Ausarbeitung eines neuen strategischen Konzeptes der NATO sich die Bun- desregierung im Bündnis sowie gegenüber den amerika- nischen Verbündeten dafür einsetzen solle, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen wer- den. Nichts dergleichen ist geschehen. Das neue Strategi- sche Konzept bestätigt den alten Mix aus konventionel- len und Nuklearwaffen als die richtige und nötige Struk- tur für die NATO. Damit nicht genug: Es wird darüber hinaus festgeschrieben, dass die Verbündeten, bei denen Nuklearwaffen stationiert sind, also auch wir Deutschen, sich verpflichten, alle Komponenten der NATO-Ab- schreckung - dazu gehören auch die B61-Bomben und die Carrier, also die Tornado-Flugzeuge - sicher und funktionsfähig zu halten, solange die NATO eine Nukle- arallianz ist. Das bedeutet, dass Deutschland zur Modernisierung der B61 beitragen muss, indem es die Tornados moder- nisiert. Es wird Zeit, dass die Regierung aufhört, sich zu winden und auf Allianzzwänge zu berufen, wenn ein Abzug der strategischen Waffen auf der Tagesordnung steht, und gleichzeitig in der Öffentlichkeit hohe Ziele zu propagieren, die nicht einzuhalten sind. Ich glaube, wir müssen jetzt unbedingt handeln. Die Regierung muss ihre Stimme erheben, wenn in den USA über die Modernisierung der B61 verhandelt wird. Das sind die 1) Anlage 7 Bomben, die in Büchel lagern. Die Regierung muss Protest erheben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese geplante Modernisierung würde eine höchst kostspielige Modernisierung des Trägersystems Tornado erfordern. Es wäre nicht, wie immer beschönigend gesagt wird, nur eine Lebensdauerverlängerung. Das Thema B61 gehört auf den Tisch der NATO. Nicht nur Deutschland ist betroffen, sondern auch die Niederlande, Belgien, Italien und die Türkei. Wollen und müssen alle diese NATO-Partner viel Geld in die Modernisierung der Trägersysteme stecken? Die USA haben angekündigt, dass die NATO-Partner konsultiert werden. Das bietet die Chance, sich dagegen zu verwehren. Diese Regierung muss dann bitte deutlich und klar erklären, dass sie gegen eine Stationierung der modernisierten B61 in Deutschland ist. Bei dieser Modernisierung geht es nicht nur darum, die Bomben sicherer zu machen, wie uns erzählt wird. Auch die strategischen Qualitäten werden verändert. Reichweite, Präzision, Zielgenauigkeit und Durchschlagskraft werden modernisiert. Eine neue Qualität und neue Fähigkeiten werden damit erreicht. Das ist eine neue Bombe und damit eine strategische Nuklearwaffe und keine substrategische mehr. Das widerspricht der Absicht, die Bedeutung von Nuklearwaffen zu verringern und Abrüstung zu fördern. Nicht nur im Koalitionsvertrag steht, dass man Abrüstung fördern will, sondern auch die USA haben diese Absicht erklärt - Obama ist vor seiner ersten Wahl mit diesem Thema viel in der Welt unterwegs gewesen -, und alle Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrages - das sind insgesamt immerhin 190 Staaten - haben 2010 im Rahmen des Aktionsplanes des Nichtverbreitungsvertrages beschlossen, in ihren Strategien und Doktrinen die Rolle der Nuklearwaffen zu verringern und alles zu tun, um Abrüstung zu fördern. Eine solche neue Waffe wie die modernisierte B61 gibt Russland allerdings keinen Anreiz, über taktische Nuklearwaffen und deren Abrüstung zu verhandeln. Wie soll ein Angebot von mehr Transparenz angesichts von Modernisierungsplänen Vertrauen bilden? Vielmehr steht zu befürchten, dass Russland seine eigenen Nuklearwaffen modernisiert, wie angekündigt bzw. angedroht. Wenn sich die NATO bei ihrer Argumentation, die US-Waffen in Europa zu behalten, auf die weit höhere Anzahl taktischer Nuklearwaffen der Russischen Föderation beruft, vergisst sie, dass Russland die hohe konventionelle Überlegenheit der NATO durch Nuklearwaffen kompensieren will. Wenn wir Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung wollen, wenn wir eine Welt ohne Atomwaffen anstreben, müssen wir dringend zu neuer konventioneller Abrüstung kommen. Im Konzept des Prompt Global Strike werden auf fatale Weise konventionelle und nukleare Komponenten vermischt, um mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln schnell überall in der Welt zuschlagen zu können. Missile Defense, Raketenabwehr, soll möglichst für Unverletzlichkeit sorgen. Beides zusammen ist eine Strategie, die Konfrontation signalisiert und den Willen zur Überlegenheit zeigt. Was wir aber brauchen, ist gemeinsame Sicherheit in Europa, aber nicht nur in Europa. Ohne sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Russland werden wir nicht zu neuen Abrüstungsschritten kommen. Der NATO-Russland-Rat, aber auch alle anderen politischen Ebenen wie EU und OSZE müssen genutzt werden, um die konventionelle Rüstungskontrolle, die durch den Absturz des KSE-Vertrages zum Erliegen gekommen ist, wiederzubeleben. Wir brauchen wieder Verifikation und Vertrauensbildung, wir brauchen den Aufbau einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft, wie sie im Rahmen der OSZE diskutiert wird, aber wir brauchen weiß Gott keine modernisierten Nuklearwaffen. Ich danke Ihnen. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Zapf. - Der angekündigte nächste Redner, Dr. Wadephul, hat seine Rede zu Proto- koll1) gegeben, sodass ich nun unsere Kollegin Frau Inge Höger für die Fraktion Die Linke bitte, ans Pult zu kommen. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland ist gegen Atombomben. Über 80 Prozent sagen dies in Umfragen. Selbst im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb wurde ein Abzug der Atomwaffen in Aussicht gestellt. Angesichts des verheerenden Zerstörungspotenzials von Atombomben war dies erfreulich. Leider hat sich diese Passage des Koalitionsvertrages inzwischen als Luftnummer entpuppt. Die Bundesregierung scheint die Abrüstung im eigenen Land nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil: Sie hat dazu beigetragen, dass Atombomben auf absehbare Zeit in Deutschland stationiert bleiben. Diese Regierung hat wiederholt zugestimmt, dass Atomwaffen ein zentraler Teil der Kriegs- und Abschreckungsstrategie der NATO bleiben, zuletzt beim NATO-Gipfel in Chicago. Atomare Abrüstung geht anders. Die Bundesregierung - Frau Zapf hat schon darauf hingewiesen - unterstützt die Modernisierung der USAtomwaffen in Deutschland. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um mehr als um eine oberflächliche Modernisierung. Es geht um die Stationierung weitgehend neuer atomarer Waffensysteme. ({0}) Zur Mitwirkung an genau dieser Neustationierung hat sich die Regierung am Rande des NATO-Gipfels im Frühjahr verpflichtet. 1) Anlage 8 Zu diesem Aufrüstungsprojekt gehört auch die Modernisierung der Tornados, von denen aus deutsche Piloten die US-Atomwaffen abwerfen können. Allein die Umrüstung und Lebenszeitverlängerung der Tornados wird die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler etwa 250 Millionen Euro kosten. Das gesamte atomare Modernisierungsprojekt kostet circa 10 Milliarden Euro. An diesen Kosten wird sich Deutschland voraussichtlich beteiligen. Hier wird wieder einmal Politik gegen den Willen und auf Kosten der Bevölkerung gemacht. Die geplante neue Generation von Atomwaffen eröffnet völlig neue Einsatzoptionen. Die bisher frei fallenden Bomben sollen zu lenkfähigen, angeblich intelligenten Waffen werden. Diese können dann effektiver und zielgerichteter als bisher eingesetzt werden. Wahrscheinlich werden dadurch neue Einsatzmöglichkeiten geschaffen, wie etwa ein Angriff auf befestigte unterirdische Ziele. Durch die Neuerungen wird die Hemmschwelle für einen Einsatz der Atomwaffen gesenkt und ein Atomkrieg wahrscheinlicher. Die bisherige Politik der atomaren Abschreckung war schon mehr als fahrlässig. Durch die Umsetzung der Modernisierungspläne wird ein tatsächlicher Einsatz noch wahrscheinlicher. Wer so mit dem Feuer spielt, handelt völlig unverantwortlich. ({1}) Dieser fatalen Entwicklung müssen wir uns entschlossen entgegenstellen. Ganz nebenbei wird der Öffentlichkeit vorgegaukelt, dass die Gefährdung für die Anwohnerinnen und Anwohner der Stationierungsorte durch die neuen, angeblich sicheren Waffen verringert wird. Erst einmal gilt: Nur Abrüstung macht die Welt sicherer. Aber auch auf der technischen Ebene stimmen die Beschwichtigungen nicht. Die größte Gefährdung für die Umgebung eines Atomwaffenstützpunktes geht von Feuerunfällen aus. Einen feuerresistenten Kern werden die Atombomben auch nach der Modernisierung nicht haben. Die Gefahren, die durch die Stationierung und den Einsatz von Atombomben ausgehen, können nur durch weltweite Abrüstung beendet werden. Die Bundesregierung muss gegenüber den USA und innerhalb der NATO allen Modernisierungsplänen entschlossen entgegentreten. Sie darf dabei nicht vor einem Veto oder der Kündigung des Stationierungsvertrages zurückschrecken. Alle Atombomben müssen endlich aus Deutschland abgezogen und verschrottet werden. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Höger. - Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Christoph Schnurr. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP-Fraktion wird die beiden vorliegenden Anträge ablehnen. Anders als von der SPD und von den Linken dargestellt, sind wir selbstverständlich kein Stück von unserem Ziel eines Abzuges der in Deutschland gelagerten Atomwaffen abgerückt, und wir setzen uns auch weiterhin offensiv dafür ein. ({0}) Es ist nicht zuletzt der Bundesregierung und Außenminister Westerwelle zu verdanken, dass sich die NATO heute zum Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt bekennt, ({1}) dass sie negative Sicherheitsgarantien ausspricht und dass es jetzt einen Abrüstungsausschuss gibt. Das Bündnis hat sich außerdem dafür ausgesprochen, in einem ersten Schritt Verhandlungen mit Russland über mehr Transparenz bei den substrategischen Atomwaffen aufzunehmen. Richtig ist, dass wir uns im neuen Strategischen Konzept der NATO und im Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv sehr viel deutlichere Formulierungen gewünscht hätten. Richtig ist vor allem, dass wir unser Ziel noch nicht erreicht haben. Richtig ist aber auch, dass wir mehr erreicht haben als alle Koalitionen vor uns. ({2}) Bei Joschka Fischer und Frank-Walter Steinmeier gab es das Thema „Abzug der Atomwaffen“ gar nicht. Erst Guido Westerwelle und diese Bundesregierung haben das Thema auf die internationale Agenda gebracht. ({3}) Liebe Kollegen, wenn wir heute über Ihre Anträge debattieren, müssen wir uns zunächst verständigen, um was es eigentlich geht. Die Amerikaner sprechen von einem Life Extension Program, also von einem Lebensverlängerungsprogramm für die Atomwaffen des Modells B61. Die Sozialdemokraten nennen es Modernisierung, genauso die Linke; sie nimmt das aber mit dem Hinweis, dass es sich gar nicht um eine Modernisierung handelt, gleich wieder zurück und spricht lieber von einer Neustationierung. Hinter diesen Begriffen stehen natürlich ganz verschiedene Interpretationen. Sie betonen vor allem, dass neue Fähigkeiten geschaffen werden. ({4}) - Sie sagen, es werden neue Fähigkeiten geschaffen. Dem will ich grundsätzlich gar nicht widersprechen. ({5}) Das ändert aber nichts daran, dass es auch für eine in ihren Fähigkeiten veränderte Bombe und die europäischen Trägersysteme nach wie vor keine Einsatzszenarien gibt; ich jedenfalls sehe keine Panzerarmeen auf uns zurollen. Deshalb ist es falsch, wenn die Linke behauptet Frau Höger, Sie haben das gerade noch einmal so dargestellt -, der Einsatz von Atomwaffen würde wahrscheinlicher. Es bleibt dabei: Die Atomwaffen, über die einige unserer Partner verfügen, sind Waffen mit einem ausschließlich politischen Symbolwert. ({6}) Auch an anderer Stelle verheddern Sie sich in Widersprüchen: Einerseits fordern Sie, die Bundesregierung solle im NATO-Rat gegen das amerikanische Programm stimmen, andererseits behaupten Sie, die Bundesregierung hätte sich mit den Plänen der USA schon ausdrücklich einverstanden erklärt und sich gleich auch noch verpflichtet, den Tornado umzurüsten. Dabei vergessen Sie aber, dass der Haushalt immer noch vom Parlament beschlossen wird. Angeblich wissen Sie auch darüber Bescheid, wie viel eine Umrüstung kosten würde. Keine Frage - um das hier noch einmal ganz deutlich zu sagen -: Von mir aus könnten die USA jederzeit auf das Programm verzichten. ({7}) Auch ich befürchte, dass dadurch der Abzug und die Reduzierung der Zahl der Atomwaffen erschwert werden. Die Entscheidung über eine Verlängerung der Lebensdauer bzw. Modernisierung ist aber eine nationale Entscheidung der Vereinigten Staaten, eine Entscheidung, bei der das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, und zwar aus mindestens drei Gründen: Erstens laufen die Kosten bereits jetzt aus dem Ruder. Aus ehemals geschätzten Kosten von 4 Milliarden Dollar sind mittlerweile 10 Milliarden Dollar geworden. Angesichts der Haushaltslage in den Vereinigten Staaten ist das für die Gegner des LEP sicher kein ganz schlechtes Argument. Wir kennen das ja aus Deutschland: Nicht alles, was entwickelt wird, wird dann auch beschafft. Zweitens hängt das Programm maßgeblich von der weiteren Entwicklung der innenpolitischen Situation ab. ({8}) Drittens spielt die politische Großwetterlage eine entscheidende Rolle, insbesondere die Entwicklung der Nuklearstrategie der USA und die Beziehungen zu Russland. Präsident Obama hat bereits vor längerem angekündigt, nach seiner Wiederwahl mit Russland verhandeln zu wollen und dabei auch die substrategischen Atomwaffen einzubeziehen. Heute ist noch nicht absehbar, wie diese Verhandlungen ausgehen werden und ob die USA danach noch ein Interesse an der Modernisierung der in Europa lagernden Waffen haben werden. Auch wir sollten uns aber immer wieder ins Gedächtnis rufen, was eigentlich unsere sicherheitspolitischen Interessen sind. Der Abzug der Atomwaffen ist nämlich kein Selbstzweck. Es geht darum, mehr Sicherheit zu schaffen - für uns und unsere Partner. Dafür müssen wir in Staaten außerhalb der NATO Vertrauen aufbauen und unsere Glaubwürdigkeit im Hinblick auf weltweite Abrüstung stärken. Wir brauchen aber auch ein stabiles transatlantisches Bündnis. Wir müssen die Sorgen der anderen ernst nehmen und die Lasten innerhalb der Gemeinschaft fair teilen. Darum geht es, und darum halten wir an unserem Ziel fest, gemeinsam mit unseren Partnern den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland und Europa zu beschließen. Vielen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir haben zu danken. - Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Agnes Brugger. Bitte schön, Frau Kollegin Agnes Brugger.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor drei Jahren hat Schwarz-Gelb sich im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, den Abzug der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen in Angriff zu nehmen. Der Deutsche Bundestag unterstützte dieses Ziel mit großer Mehrheit: Er sprach sich in einem interfraktionellen Antrag klar für ein atomwaffenfreies Deutschland aus. Auch international waren bei der nuklearen Abrüstung Fortschritte zu beobachten. Die Vision einer atomwaffenfreien Welt war in aller Munde. Eigentlich also beste Voraussetzungen dafür, die Gunst der Stunde zu nutzen und die in Deutschland verbliebenen Relikte aus dem Kalten Krieg endlich loszuwerden. Doch Schwarz-Gelb wäre nicht Schwarz-Gelb, wenn sie es nicht schaffen würden, durch Zwist, Zank und Zoff historische Chancen für eine zukunftsorientierte Politik verstreichen zu lassen. Wenn Außenminister und Verteidigungsminister in einer so wichtigen außenpolitischen Frage gegeneinander arbeiten und die Regierungskoalition so gespalten ist und am liebsten alles auf die lange Merkel-Bank schiebt: Wie soll es da eigentlich gelingen, andere Staaten in der NATO davon zu überzeugen, dass die Zeit reif ist für eine neue Strategie, die auf Atomwaffen in Deutschland verzichtet? ({0}) Gestern, gleich nach dem Sieg Obamas bei den Präsidentschaftswahlen, bekräftigte Außenminister Westerwelle die Forderung nach neuen Impulsen bei der Abrüstung. Ich begrüße es wirklich ausdrücklich, dass der Außenminister dieses Thema auf der Agenda hält. Doch daran, ob er sich damit durchsetzen kann, habe ich noch meine Zweifel. ({1}) Da Minister de Maizière in den Verteidigungspolitischen Richtlinien dieser schwarz-gelben Bundesregierung die Bedeutung der nuklearen Abschreckung noch einmal unterstreicht, frage ich mich schon, wie glaubwürdig Außenminister Westerwelle ({2}) eigentlich weltweit für eine atomwaffenfreie Welt und nukleare Abrüstung werben kann. ({3}) Die Antwort bekamen wir auf dem letzten NATOGipfel im Mai dieses Jahres präsentiert: Die NATO will, solange es Atomwaffen gibt, eine nukleare Allianz bleiben. Ein Abzug der US-Atomwaffen ist nicht mehr in Sicht. Im Gegenteil: Die USA wollen die in Deutschland stationierten Waffen mit Milliarden modernisieren, damit sie bis 2050 einsetzbar sind. Modernisierung und damit Verbleib statt Abzug: Das ist die faule Frucht, die diese Bundesregierung mit ihrer zwiespältigen Abrüstungspolitik geerntet hat. ({4}) Deutschlands Beteiligung - das muss man sich, glaube ich, auch immer klarmachen - geht weit über die bloße Duldung der Stationierung dieser menschenverachtenden Waffen auf deutschem Boden hinaus. Die Bundeswehr selbst stellt Tornados und Soldatinnen und Soldaten für einen möglichen Atomwaffeneinsatz zur Verfügung. Man muss sich auch klarmachen: Modernisierung der Atombomben bedeutet zugleich auch Modernisierung der Trägermittel. In Zeiten knapper Kassen bürdet Schwarz-Gelb den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern damit Millionensummen für eine ebenso gefährliche wie überholte Militärdoktrin auf. Stellvertretend für unsere grüne Fraktion kann ich Ihnen schon jetzt sagen: Diesen sicherheitspolitischen Irrsinn machen wir definitiv nicht mit. ({5}) Wir sparen uns lieber die nukleare Teilhabe, als für das abrüstungspolitische Fiasko von Schwarz-Gelb Millionen von Euro in die Hand zu nehmen. Aus den Reihen der CDU ist immer wieder zu hören, die nukleare Teilhabe sichere uns den Einfluss in der NATO, den wir für eine starke Abrüstungspolitik bräuchten. Wie groß ihr abrüstungspolitischer Einfluss in der NATO ist, hat die Bundesregierung auf dem letzten NATO-Gipfel in Chicago gezeigt. Dessen Abschlusserklärung ist eine abrüstungspolitische Bankrotterklärung. Ich frage mich schon auch, welchen Einfluss die Bundesregierung den Atomwaffen in Deutschland angeblich zu verdanken hat und geltend machen will, wenn sie nicht einmal über die konkreten Modernisierungspläne bezüglich der Waffen, die im eigenen Land liegen, informiert wird. ({6}) Den Beleg für diese Ahnungslosigkeit habe ich auch schwarz auf weiß als Antwort auf meine schriftliche Frage zu diesen Plänen. Der Kenntnisstand der Bundesregierung über die konkreten Modernisierungspläne liegt offensichtlich sogar hinter dem zurück - so legt es die Antwort nahe -, was man aus der Lektüre von US-Publikationen erfahren kann und von offizieller Seite schon bestätigt wurde. Das finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich peinlich. ({7}) Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, ich wollte meine Rede eigentlich mit den Worten beenden: Ersparen Sie uns das Gerede von Ihrem vermeintlichen Einfluss, den Sie mit der nuklearen Teilhabe sichern wollen! - Da die Reden der CDU/CSU aber zu Protokoll gegeben sind, schließe ich meine Rede mit: Ersparen Sie uns die Fortsetzung der nuklearen Teilhabe! Denn ich bin fest davon überzeugt: Nur damit wäre dem abrüstungspolitischen Einfluss Deutschlands ein großer Dienst erwiesen. Vielen Dank. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. - Der nächste Redner, Kollege Dr. Wolfgang Götzer von der Fraktion der CDU/CSU, kann nicht darauf reagieren, weil er seine Rede zu Pro- tokoll gegeben hat1), sodass wir am Ende der Aussprache sind. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/11323 und 17/11225 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden; Widerspruch erhebt sich nicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich komme zurück auf den Tagesordnungspunkt 14, zu dem ich noch etwas bekannt geben möchte. Es gab dazu eine Abstimmung über das Thema „Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz“. Noch einmal zu dem Votum der SPD: Es lautet Ja zur Beschlussempfehlung. Das ist nun auch festgehalten. ({0}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll 1) Anlage 8 Vizepräsident Eduard Oswald vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren - Drucksache 17/10916 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) - Drucksache 17/11392 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Tauber Marlene Rupprecht ({2}) Miriam Gruß Diana Golze Ekin Deligöz Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben1). - Sie sind damit einverstanden, sodass wir jetzt zur Ab- stimmung kommen. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11392, den Gesetzentwurf der Bundes- regierung auf Drucksache 17/10916 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, sich zu erheben. - Das sind alle Fraktionen. Vorsichts- halber noch die Gegenprobe. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetz- entwurf ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages- ordnungspunkte 21 a und 21 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Konsequenzen aus der Havarie der MSC Flaminia ziehen - EU-Notfallpläne und Gefahrgutkontrollen im Seeverkehr überprüfen - Drucksache 17/10819 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Europäisches Notfall- und Havariemanagement wirksam und verbindlich weiterentwickeln - Drucksache 17/11324 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. - Widerspruch erhebt sich nicht.

Matthias Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Unfall der „MSC Flaminia“ hatte bereits in den Beratungen der Arbeitsgruppen und Ausschüsse einen vordringlichen Stellenwert, und über ihn wurde dement- sprechend auch viel diskutiert. Glücklicherweise ereilen uns Unfälle wie dieser nicht regelmäßig. Sie müssen aber vor allem aus diesem Grund vernünftig erörtert und ausgewertet werden. Während in diesem Zusammenhang das Notfallma- nagement von einigen kritisiert und angezweifelt wurde, komme ich persönlich zu dem Schluss, dass Deutschland sein Können in dieser Krisensituation unter Beweis ge- stellt hat. Ich bin froh und erleichtert, dass dieser Unfall keinen schlimmeren Ausgang nahm, und kann den Ver- antwortlichen und Beteiligten in diesem Sinne nur ein großes Lob aussprechen. Gleichzeitig zeigen konkrete Unfälle und Gefahren- situationen auf, ob alles wie zuvor geplant eingehalten und realisiert werden kann und ob im Falle des Falles tatsächlich alles so abläuft, wie man es sich einst dachte. Sicher ist eine Seenot, eine Havarie, immer ein individueller Vorgang, der dementsprechend auch unter Berücksichtigung der speziellen Faktoren und Gegeben- heiten gesteuert und beurteilt werden muss. Allerdings gibt es vor allem in unserem Land ausreichend recht- liche Rahmenbedingungen, die für solche Situationen konzipiert wurden. So war es im speziellen Fall auch möglich, dass Deutschland seiner flaggenrechtlichen Verantwortung, unter Berücksichtigung von maritimen Umweltbelangen, vollumfänglich nachkommen konnte. Nichtsdestotrotz spielen vor allem in internationalen Gewässern zusätzliche Parameter eine Rolle. So spricht die SPD in ihrem Antrag zu Recht einige wünschens- werte Änderungsbedarfe hinsichtlich des Managements der Notliegeplätze und Nothäfen an. Auch ich sehe ein wochenlanges Umhergetreibe der „MSC Flaminia“ auf hoher See kritisch. Aber ich möchte keinen deutschen oder anderen europäischen Hafen zwingen, ein auf See havariertes Schiff aufzunehmen, bevor überhaupt er- sichtlich ist, welche Gefahren noch zu erwarten sind, oder wenn gar von vornherein klar ist, dass der Hafen mit der Aufnahme überfordert wäre und noch schlimme- res Unheil drohen könnte. Wir alle wissen, dass das Schiff trotz Experteneinschätzungen, nach denen es keine Brandherde mehr geben dürfte, auch im JadeWe- serPort nochmals Feuerwehreinsätze ausgelöst hatte. Die Ausweisung eines geeigneten Notliegeplatzes ist eine national zu entscheidende Frage und obliegt den je- weiligen Behörden. Da Notliegeplätze, „sheltered areas“, keine Liegeplätze am Kai sein müssen, sondern ebenso individuell zu ermittelnde Orte, wie etwa Flussmündun- gen, Buchten oder anderes sein können, halte ich eine nationale Einschätzung auch weiterhin für sinnvoll. Ei-1) Anlage 9 nem uneingeschränktem Recht, wie es die SPD-Fraktion hier fordert, stehe ich deshalb kritisch gegenüber. Es stellt sich die Frage, wie wir in solchen Notfällen bestenfalls vorgehen. Im Falle der „MSC Flaminia“ sprechen wir sehr wahrscheinlich eine europäische Antwort an. Schließlich ereignete sich der Unfall nicht etwa auf dem Rhein, sondern im Nordatlantik. Hier müssen viele internationale Kräfte zusammenspielen, um eine reibungsfreie Lösung im Notfall herbeizuführen. Während die Kollegen von der SPD und der Linken offenbar wieder einmal wissen, was es bestenfalls zu tun gilt, halte ich es für äußerst sinnvoll, zunächst die Ergebnisse der noch laufenden Sicherheitsuntersuchung abzuwarten. Die Tatsache, dass der Schleppverband am 9. September 2012 im JadeWeserPort einlaufen konnte, ohne große Umweltverschmutzungen oder Schädigungen auf See verursacht zu haben, ist ein glücklicher Umstand, den wir vielen positiven Bedingungen zu verdanken haben. Die umweltgerechte Reinigung des Schiffes kann bisweilen noch ein paar Wochen andauern und wird nach Abschluss ebenso aufgearbeitet werden müssen wie der komplette Havarie- und Rettungsvorgang. Derzeit prüft die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchungen, BSU, in Hamburg auf Grundlage der europäischen Richtline 2009/18/EG den Fall der „MSC Flaminia“ bis ins kleinste Detail. Diese Untersuchungsstelle ist unabhängig und weisungsfrei. Den noch ausstehenden Ergebnissen sollte daher auch keine Lösung vorangehen. Nach Abschluss der Untersuchungen wird der Ergebnisbericht einschließlich Sicherheitsempfehlungen veröffentlicht. Dieses Verfahren soll sicherstellen, dass der maritime Sektor sich eigenständig mit den zu lösenden Problemen auseinandersetzen kann, um geeignete Maßnahmen zur Vorbeugung weiterer Unglücksfälle treffen zu können. Dabei muss natürlich auch geklärt werden, welche Maßnahmen in der Zeit zwischen dem Unfall am 14. Juli 2012 und dem Tag des formellen Antrags an Deutschland zur Hilfestellung hätten getroffen werden können. Ebenso wird gegenwärtig die Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten sowie die Rolle der Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, EMSA, ins Visier genommen. Ich warne vor vorzeitigen Anträgen und Empfehlungen. Ich glaube nicht, dass die Genossen von SPD und Linken mit auf See waren und nun dazu befähigt sind, eine intensive Vorabeinschätzung inklusive Lösungsansätzen präzisieren zu können. Das sollten wir, bitte schön, der verantwortlichen Behörde überlassen. Sonst könnten wir die Gewaltenteilung ja gleich als hinfällig betrachten. Ich glaube auch nicht, dass Schuldzuweisungen und voreilige Schlüsse hier sachdienlich sind. Bisher haben wir aus gravierenden Schiffsunfällen immer gelernt und bereits vieles verbessert. Auch wenn die besagten Sicherheitsempfehlungen keinen zwingenden Charakter haben, bin ich gern bereit, mich auf Grundlage konkreter Ergebnisse über weitergehende Maßnahmen oder über die Ausbesserung bestehender Regelungen zu unterhalten. Nichts anderes streben meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion in dieser Sache an. Der Bericht ist also entscheidend für das weitere Prozedere und sollte die Grundlage für jede weitere Antragslage sein. Die Anträge der SPD-Bundestagsfraktion und der Bundestagsfraktion Die Linke sind dementsprechend abzulehnen.

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Großartige Triumphe und tragische Unfälle liegen manchmal sehr eng beieinander. Die Einweihung des JadeWeserPorts in Wilhelmshaven am 21. September war nicht nur für meinen Wahlkreis, nicht nur für Niedersachsen, sondern für ganz Deutschland ein großer Tag. Ingenieurleistung und politische Entschlossenheit haben unserem Land ein einzigartiges Tor zur Welt beschert; Deutschlands einzigen Tiefwasserhafen. Schon zwölf Tage vor der offiziellen Eröffnung des JadeWeserPorts war die „MSC Flaminia“ in den Hafen geschleppt worden. Am 14. Juli 2012 war es während einer Fahrt von Charleston nach Antwerpen auf dem Containerfrachter zu einem Brand im Laderaum 4 gekommen. Bei den anschließenden Versuchen, das Feuer zu löschen, kam es zu einer weiteren Explosion. Das Unglück ereignete sich zwischen Kanada und Großbritannien - rund 1 000 Seemeilen vom Festland entfernt. Ich möchte an dieser Stelle des Ersten Offiziers, der bei diesem schrecklichen Unfall sein Leben verlor, und des Seemanns, der seit der Katastrophe vermisst wird, gedenken. Wegen der an Bord befindlichen Gefahrgutcontainer erhielt der Schleppzug mit der „MSC Flaminia“ keine Genehmigung, in Irland, Großbritannien, Frankreich oder Spanien ein wettergeschütztes küstennahes Gebiet oder einen Nothafen anzulaufen. Aber auch bei uns gab es verantwortungslose Äußerungen. Von berufsmäßigen Angstmachern wurde der havarierte Containerfrachter als „Wrack“ oder gar „Giftschiff“ bezeichnet. Ein SPD-Politiker fühlte sich sogar dazu bemüßigt, davor zu warnen, dass das Wattenmeer zu einer „Müllkippe für havarierte Frachter“ verkommt. Diese Kräfte stellen sich nicht der Verantwortung, sondern versuchen, in einem schmutzigen, verabscheuungswürdigen Spiel mit den Sorgen der Bevölkerung politisches Kapital aus diesem tragischen Unfall zu schlagen. Das ist nicht mehr zu unterbieten! Diesen Kräften fehlt jedes Gefühl für Verantwortung. Sie ignorieren nicht nur, dass das Schiff unter deutscher Flagge fährt und Deutschland daher auch Verantwortung übernehmen muss. Nein, man gaukelt den Menschen auch vor, das schwer beschädigte Schiff sei auf See besser aufgehoben. Dabei steigt das Risiko einer Umweltkatastrophe mit jedem Tag auf See. Profis haben die „MSC Flaminia“ dann doch sicher in den JadeWeserPort geschleppt. Das Havariekommando in Cuxhaven und die anderen beteiligten Behörden haben bislang eine hervorragende Arbeit geleistet. Das Schiff ist in Wilhelmshaven in besten Händen. Mittlerweile wurden alle Container, in denen Glutnester schwelten, von Bord gebracht. Das Havariekommando Zu Protokoll gegebene Reden wird daher schon in dieser Woche die Einsatzleitung abgeben. Mein Dank geht nach Cuxhaven für die großartige Koordination der Bergung des Havaristen! Heute liegen uns zwei Anträge der Opposition vor, die Konsequenzen aus der Havarie der „Flaminia“ anmahnen. Die Forderung nach einer Überarbeitung der EUNothafenpläne kann ich nur unterstützen. In der Tat ist es nicht hinnehmbar, dass ein Schiff auf hoher See verbleiben muss, weil kein nahegelegener Küstenstaat Verantwortung übernehmen möchte. Europa basiert auf Solidarität. Das muss auch für havarierte Schiffe gelten. Unser Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer ist längst tätig geworden. Auf europäischer Ebene hat Deutschland bereits eine Diskussion über das Nothafenkonzept angestoßen. Die Koalition kann und wird es nicht hinnehmen, dass sich Staaten mit geeigneten Nothäfen aus der Verantwortung stehlen können. Sobald die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung den Unfallhergang vollständig ausgewertet hat, muss das Thema auch auf der Ebene der Internationalen Maritimen Organisation angesprochen werden. Beschädigte Schiffe müssen schnell geborgen werden - egal vor wessen Küste sie sich befinden! Es ist gut, zu wissen, dass die Opposition uns dabei unterstützt - auch wenn sie mit diesem Anliegen offene Türen einrennt. Etwas anders sieht es bei einer anderen Forderung der beiden Anträge aus. Die deutliche Ausweitung von Meldepflichten für Gefahrgüter sehe ich skeptisch. Schon heute gelten strenge Sicherheitsbestimmungen. Diese regeln nicht nur die Verpackung von Gefahrgut, sondern auch, wie die Container mit Gefahrgut an Bord verstaut werden. Sicherheitsabstände zwischen solchen Containern sind ebenso vorgeschrieben wie die klare Kennzeichnung der Container selbst. Anhand von Ladungslisten und Stauplänen lässt sich nachvollziehen, wie viele Gefahrgutcontainer an Bord sind und wo sich diese befinden. Die Vorschriften sind also eindeutig. Werden Schiffsunglücke durch noch mehr Regeln verhindert? Nein. Finden Havaristen dadurch schneller einen Notliegeplatz? Bedauerlicherweise auch nicht. Ich möchte jedoch nicht ausschließen, dass wir es mit einem Vollzugsdefizit zu tun haben. Der Verband der Deutschen Reeder geht davon aus, dass es insbesondere in Asien häufig zu Falschdeklarationen kommt. Die Reeder und Schiffsbesatzungen selbst können nicht sicherstellen, dass die Container korrekt gekennzeichnet sind. Die Kontrollen müssen durch Zollbehörden in den Häfen vor Ort erfolgen. In Deutschland selbst sehe ich hier derzeit keinen Handlungsbedarf. Natürlich wird Deutschland weiter auf eine konsequente Beachtung der geltenden Regeln auf internationaler Ebene drängen. Aber machen wir uns nichts vor: Unser Fokus muss darauf liegen, havarierte Schiffe schnell zu bergen. Havaristen gehören nicht auf hohe See, sondern in sichere Häfen. Ich denke, wir sind daher gut beraten, zunächst den Bericht der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung abzuwarten. Die dortigen Experten werden die Ursachen und Begleitumstände der „Flaminia“-Havarie bis ins letzte Detail durchleuchten. Die Koalition wird dann die erforderlichen Konsequenzen sofort ziehen. Blinden Aktionismus - wie diese Anträge - lehnen wir aber ab.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Risiko fährt mit. Das zeigt der Fall des im Nordatlantik verunglückten Containerfrachters „MSC Flaminia“. Der wachsende Schiffsverkehr in Nord- und Ostsee bedeutet auch ein steigendes Gefahrenpotenzial für Meere und Küsten, und mit der Dynamik des Containerverkehrs rücken die Transportrisiken beim Seeversand von Gefahrgut stärker in den Blick. Auf Seeschiffen, die gefährliche Ladung befördern, stellen Feuer, Leckagen und Schiffsunfälle ein besonderes Risiko dar und stellen Reederei und Besatzung vor große Herausforderungen. Das rasche Aufsuchen eines Notliegeplatzes kann wesentlich zum Erfolg des Unfallmanagements beitragen. Doch im Falle der unter deutscher Flagge fahrenden „MSC Flaminia“ war lange Zeit kein rettender Hafen in Sicht. Erst nach wochenlanger Irrfahrt durch den Nordatlantik und einem heftigen Streit unter den Anrainerstaaten wurde schließlich die Bundesrepublik Deutschland als Flaggenstaat aktiv, und das verunglückte Schiff konnte unter Koordination des Havariekommandos von Schleppern durch den Ärmelkanal über das zum Weltnaturerbe zählende Wattenmeer zum JadeWeserPort gebracht werden; im Tiefwasserhafen wurden jetzt die beschädigten Container und das mit Giftstoffen belastete restliche Löschwasser entsorgt. Die Arbeiten an dem Schiff werden aber noch Wochen andauern, wie das Havariekommando erst gestern mitgeteilt hat. Trotz aller Anstrengungen, die Sicherheit im Seeverkehr zu verbessern, zeigt das Beispiel der „MSC Flaminia“: Es besteht Handlungsbedarf. Wir brauchen mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in künftigen Krisensituationen. Zu prüfen sind zum einen die bestehenden Notfallkonzepte auf EU-Ebene, zum anderen die aktuellen Sicherheitsvorkehrungen für den Gefahrguttransport. Notwendig sind praxistaugliche Vereinbarungen für Seenot-Fälle. Seit Jahren fordern Experten die Bereitstellung von sicheren Häfen oder Notliegeplätzen, in denen havarierte Schiffe Zuflucht finden können. Die Erfahrung bisheriger Havarien hat gezeigt, dass bei rechtzeitiger Zuweisung eines Notliegeplatzes die Folgen für die Umwelt und damit auch die finanziellen Folgeschäden weitaus weniger gravierend gewesen wären. Denn das Anlanden in einem sicheren Hafen erlaubt es, effektivere Hilfe zu organisieren, als dies auf See möglich wäre. Erste Versuche zur Regelung internationaler Sorgfalts- und Verfahrenspflichten bei der Zuweisung solcher Notliegeplätze wurden als Reaktion auf die Havarie des Frachters „Pallas“ 1998 und den Unfall der Tanker „Erika“ und „Prestige“ in den Jahren 1999 und 2002 unternommen. Mit drei Gesetzgebungspaketen hat die EU seither dafür gesorgt, dass die Sicherheitsstandards Zu Protokoll gegebene Reden im europäischen Seeverkehr erheblich erhöht worden sind. Nach der Havarie der „MSC Flaminia“ stellt sich jedoch die Frage, ob dies ausreichend war. Die EU-Bestimmungen schreiben den Mitgliedstaaten zwar Notfallpläne und das Vorgehen in einer Krisensituation vor. Das uneingeschränkte Recht, einen Nothafen anlaufen zu dürfen, ist jedoch weder in internationalen Übereinkommen noch im EU-Recht oder in nationalen Regelungen niedergelegt. Gemäß den EU-Richtlinien und den Vorgaben der International Maritime Organization hat der betreffende Mitgliedstaat, zu dessen Notliegeplatz ein havariertes Schiff Zugang erbittet, eine umfassende Interessenabwägung zu treffen. Der Zugang darf nur verwehrt werden, wenn die Gefahren durch ein Einlaufen des Unglücksschiffes größer wären als bei einem Verbleib auf See. Gleichwohl sehen die EU-Vorgaben keine ausdrückliche Ausweisung von Notliegeplätzen vor; diese obliegt einer Einzelfallentscheidung der jeweiligen nationalen Behörde. Unkalkulierbare Risiken und ein Containerterminal im Industriegebiet: Mit diesem Argument hat denn auch beispielsweise Frankreich die Aufnahme des Frachters im Hafen von Le Havre abgelehnt. Die Benennung eines Nothafens hilft aber nur dann, wenn dieser im Notfall auch tatsächlich angelaufen werden kann. Die Abweisung eines havarierten Schiffes durch Anrainerstaaten beruht häufig auf fehlenden Informationen, mangelnder Kooperation der betroffenen Staaten und einem schlechten Krisenmanagement. Wir als SPDBundestagsfraktion fordern daher, die Regeln für die Verbringung havarierter Schiffe in geeignete Nothäfen und Notliegeplätze zu überprüfen. Dies betrifft insbesondere die Kriterien für die Festlegung des auszuweisenden Nothafens bzw. dessen Beschaffenheit und Ausrüstung mit Sicherheitsvorkehrungen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Partnerländer über ausreichende Informationen über die sicheren Häfen verfügen. Dazu sollte das gemeinschaftliche Überwachungs- und Informationssystem für den Schiffsverkehr fortentwickelt werden, wobei die nationalstaatlichen Kompetenzen zu berücksichtigen sind. Es muss sichergestellt sein, dass Schiffe in Not die nächstgelegenen und am besten geeigneten Nothäfen oder Notliegeplätze schnellstmöglich anlaufen können. Die Bergung der „MSC Flaminia“ wird nach aktueller Einschätzung bis zum Jahresende dauern. Das Schiff hatte mehr als 2 800 Container geladen, davon enthielten rund 150 Gefahrgut. Der Anteil der Gefahrgüter am gesamten Güteraufkommen im Seeverkehr beträgt nach Schätzung von Experten rund 30 Prozent; bei den Containerlinienverkehren sind es demnach zwischen 15 und 20 Prozent. Die International Maritime Organization, IMO, hat auf den wachsenden Trend zur Containerisierung reagiert und die international geltenden Vorschriften kontinuierlich angepasst. Sie regeln verbindlich, wie der Transport von Gefahrgut auf Containerschiffen zu erfolgen hat. So sind denn auch keine Unfälle bekannt, die auf fehlende Vorschriften zurückzuführen wären. Das Problem ist vielmehr die Nichtbeachtung bzw. die falsche Anwendung der Bestimmungen. Immer wieder wird Gefahrgut, ob nun aus Unwissen oder absichtlich, von den Versendern falsch oder unzureichend deklariert und dann verschifft. Ein Großteil von Unfällen und Vorkommnissen mit Ladung jeglicher Art ist auf die falsche Deklaration der Waren zurückzuführen - eine Problematik, die insbesondere Gefahrguttransporte aus Asien betrifft. Notwendig sind verlässliche Informationen über Vorfälle mit gefährlichen Gütern und ein Höchstmaß an Transparenz, um die Risiken beim Transport verpackter gefährlicher Güter zu minimieren. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dazu eine Reihe von Vorschlägen auf den Tisch gelegt. Sinnvoll ist aus unserer Sicht eine Meldepflicht für nicht ausreichend oder falsch deklariertes Gefahrgut und eine zentrale Datenbank, um den Informationszugang und -austausch zwischen den nationalen Behörden zu erleichtern. Denkbar sind auch gemeinsame Kontrollen der Seefracht durch die für Gefahrgut zuständigen nationalen Behörden und die Zollverwaltungen. Zu diskutieren ist darüber hinaus, ob nach dem Vorbild des Luftverkehrs ein neuer Status „bekannter Versender“ einzuführen ist, um eine sichere Lieferkette auf See zu gewährleisten. Bei der Erstellung der sogenannten schwarzen Listen von Schiffen, die im Zuge der Hafenstaatkontrolle durch Sicherheitsmängel aufgefallen sind, sollten künftig auch unzuverlässige Versender berücksichtigt werden. Dies sind konkrete Vorschläge, die an bestehende Vorschriften anknüpfen und diese fortentwickeln. Wir brauchen möglichst einheitliche und weltweit anerkannte Standards für den Gütertransport auf See und das Notfallmanagement, damit wir sagen können: mit Sicherheit kein Risiko.

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Als ich Mitte Juli des Jahres von dem Brand auf einem deutschen Containerschiff mitten auf dem Atlantik zum ersten Mal hörte, habe ich mir zunächst nicht viel dabei gedacht. Na ja, dachte ich, so etwas passiert leider mal; aber sicherlich wird die Besatzung den Brand bald gelöscht haben, und dann wird das Schiff seine Reise in einen sicheren Hafen fortsetzen, um sich dort einer Unfalluntersuchung zu unterziehen. Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, dass diese Meldung der Auftakt zu einer wochenlangen Odyssee ist, an dessen Ende das letzte Glutnest erst Ende Oktober dieses Jahres gelöscht werden konnte - und das Ganze auch noch in einem Hafen, dem neuen JadeWeserPort, der zum Zeitpunkt der Verbringung der „MSC Flaminia“ noch nicht einmal in Betrieb war. Das wirkt manchmal wie ein Stück aus dem Tollhaus und hat auch mich fassungslos gemacht. Vielleicht könnte man sich sogar darüber amüsieren, wenn nicht zwei Menschen bei der Katastrophe zu Tode gekommen wären, einer nach wie vor vermisst wäre und die Fahrt nach Wilhelmshaven nicht durch das sensible Ökosystem WattenZu Protokoll gegebene Reden meer geführt hätte, mit allen damit verbundenen Umweltrisiken. Ich teile durchaus die Intention, die hinter Ihren Anträgen steckt, nämlich dass sich alle Beteiligten einmal Gedanken darüber machen müssen, wie ein solches kollektives Durcheinander fast aller europäischen Partner in Zukunft unterbunden werden kann. Dass Ihre Anträge hierfür eine große Hilfe sind, will ich dann allerdings doch infrage stellen. Aus meiner Sicht geht es jetzt um zweierlei Sachen: Erstens steht die eigentliche Unfalluntersuchung im Mittelpunkt. Es muss herausgefunden werden, was die Ursachen der Katastrophe auf der „MSC Flaminia“ waren, um anschließend Konsequenzen für mehr Sicherheit an Bord ziehen zu können. Hierzu werden wir aber in Ruhe die weiteren Untersuchungen, die die BSU bereits aufgenommen hat, abwarten und dann die Ergebnisse auswerten müssen. Zweitens muss uns aber auch die Frage beschäftigen, warum es so lange gedauert hat, bis sich ein sicherer Notfallhafen gefunden hat, in den die „MSC Flaminia“ verbracht werden konnte. Hier sind durch verschiedene EU-Richtlinien - 2002/59/EG und 2009/17/EG - die Mitgliedsländer dazu angehalten, entsprechende Notfallpläne zu entwickeln. An diesem Unglück ist aber deutlich geworden, dass dieses offenkundig noch nicht so reibungslos läuft, wie es laufen müsste. In diesem Punkt liefert der Antrag der SPD durchaus gute Ansätze. Aus meiner persönlichen Sicht sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein havariertes oder in diesem Falle brennendes Schiff ohne bürokratischen Aufwand sofort den nächstgelegenen Hafen anlaufen kann, um Hilfe in Anspruch zu nehmen. Für diese Selbstverständlichkeit bedarf es eigentlich keiner zusätzlichen Regelungen, sondern nur der Anwendung der auf See im Rahmen der International Convention for the Safety of Life at Sea, SOLAS, gültigen Regeln. Die Forderung von Linken und Grünen nach dem Aufbau einer gemeinsamen Küstenwache, verbunden mit der Abgabe nationaler Kompetenzen an die EMSA, teile ich nicht. Wichtiger ist mir, die Bestrebungen einer nationalen Küstenwache mit der Integration der am maritimen Geschehen beteiligten Ministerien und Länderkompetenzen voranzubringen. Ich freue mich, wenn es uns gelingt, im Rahmen der parlamentarischen Beratungen weitere Erkenntnisse zu gewinnen und vielleicht auch die eine oder andere konstruktive Idee für eine Verbesserung des Notfallmanagements zu entwickeln.

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In den letzten Wochen und Monaten hat uns die Odyssee der „MSC Flaminia“ stark beschäftigt. Es geht um ein Containerschiff unter deutscher Flagge, auf dem es am 14. Juli mitten auf dem Atlantik aus noch immer unbekannten Gründen zu einem Brand und zu heftigen Explosionen kam, bei denen mehrere Menschen starben und weitere schwer verletzt wurden. Unter der Ladung befanden sich über 150 teils hochgefährliche Gefahrgutcontainer. Obwohl wenige Tage später bereits Notschlepper vor Ort waren und den Containerfrachter in Schlepp nahmen, begann eine wochenlange Irrfahrt über den Nordostatlantik. Nach Angabe der Reederei und des Bergungsunternehmens erhielten sie über einen Monat keine Genehmigung für das Einlaufen in einen europäischen Nothafen. Als sie sich schließlich an Deutschland als Flaggenstaat wendeten, dauerte es nochmal drei Wochen, bis die „MSC Flaminia“ letztlich in den JadeWeserPort geschleppt werden konnte. Wir können und dürfen es nicht akzeptieren, dass ein Havarist fast zwei Monate auf den Weltmeeren umherirrt, bis er letztlich einen sicheren Hafen anlaufen kann, weil sich keiner zuständig fühlt. Nach der Übertragung der Gesamteinsatzleitung an das Havariekommando wurde das weitere Notfallmanagement den Berichten zufolge sehr professionell weitergeführt. Nachdem nun „die heißen Container“ entladen und der Einsatz heute Morgen beendet worden waren, möchten wir uns an dieser Stelle ausdrücklich bei dem Leiter, Herrn Monsees, und seinem Team für die geleistete Arbeit bedanken. Doch sind noch viele Fragen offen. Warum hat Deutschland zum Beispiel als zuständiger Flaggenstaat erst nach über einem Monat auf Anruf reagiert und nicht eigeninitiativ durch frühzeitige diplomatische Bemühungen eine schnelle Lösung erwirkt? Hätte Deutschland anders reagiert, wenn die „MSC Flaminia“ nicht unter deutscher Flagge gefahren wäre? Warum ist vier Monate nach der Havarie die Brandursache eigentlich immer noch ungeklärt, trotz intensivster Untersuchungen? Unsere Sicherheitsstandards im Seeverkehr wurden leider immer erst nach großen Katastrophen weiterentwickelt. Die großen Havarien der „Pallas“ 1998, der „Erika“ 1999 und der „Prestige“ 2002 waren die Auslöser für eine entsprechende EU-Gesetzgebung. 2003 und 2004 sind die Vorschriften der Erika-I+II-Pakete in Kraft getreten, in dem verschärfte Rechtsvorschriften vereinbart und unter anderem die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, EMSA, gegründet wurde. Bei uns wurde in diesem Zuge das Havariekommando eingerichtet. Das dritte Erika-Paket wurde schließlich bis 2009 verhandelt. Danach sollte unter anderem für die Aufnahme von Schiffen in Seenot an Notliegeplätzen die Unabhängigkeit der Entscheidungen garantiert werden. Doch bis heute gibt es kein uneingeschränktes Recht zum Anlauf in einen Notliegeplatz für havarierte Schiffe; denn es gibt eine gravierende Regelungslücke. Nach geltendem Recht hat der Staat, zu dessen Notliegeplatz das havarierte Schiff Zugang erbittet, eine Abwägung zwischen den Gefahren durch ein Einlaufen des Havaristen in den Hafen und dem Verbleib des Schiffes auf See zu treffen. Nur wenn das Risiko eines Einlaufens größer ist, darf der Zugang zu einem Notliegeplatz verwehrt werden. Grundsätzlich dürfen Umweltrisiken aber nicht durch Abweisung eines Schiffes in ein anderes Gebiet verlagert werden. Nach Aussage des Reeders verweigerten zum Beispiel Spanien, Frankreich, Großbritannien und Irland der Zu Protokoll gegebene Reden „MSC Flaminia“ einen solchen Notliegeplatz. Die europäischen Vereinbarungen gelten auch nur innerhalb der Hoheitsgewässer der EU-Mitgliedstaaten. Doch die Havarie hat sich nun mal auf dem freien Ozean ereignet. Nach den bisherigen Unglücken hat man sich auf die Folgen von Chemie- und Ölunfällen vor der Küste konzentriert, dabei aber nicht über den Teller- oder Küstenrand der Hoheitsgewässer hinaus auf den Ozean geschaut. Wir haben Ihnen dazu einen Antrag vorgelegt, der im September fast wortgleich als Drucksache 16/5187 von SPD, Linke und Grünen im Landtag Niedersachsen eingebracht wurde. In dieser Frage sollten wir fraktionsübergreifend zusammenarbeiten. Dem SPD-Antrag werden wir zwar zustimmen, jedoch gehen unsere Vorschläge wesentlich weiter: Wir fordern nicht nur die Aufklärung der Umstände, sondern ein verbindliches und wirksames Schiffssicherheitskonzept inklusive Nothafenkonzept im EU-Recht und im internationalen Recht. Während wir eine konkrete Eingriffskompetenz der EU bei größeren Schiffshavarien fordern und dazu die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, EMSA, zu einer koordinierenden, gemeinsamen Küstenwache weiterentwickeln wollen, sollen nach dem SPD-Antrag die Zuständigkeiten und Richtlinien bewahrt und nur richtig angewendet, die Rolle der EMSA lediglich geprüft werden. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da waren Sie in Niedersachsen schon einmal weiter, und daran wollen wir Sie mit unserem vorgelegten Antrag erinnern. Eine gemeinsame Küstenwache ist ja auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP zumindest auf nationaler Ebene vereinbart worden. Doch diese Pläne sind im letzten Sommer an Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ressorts gescheitert. Damit bleibt ein Wirrwarr von verschiedenen Landes- und Bundesbehörden, die sich um die Sicherheit vor unseren Küsten kümmern. Wir denken hier nicht national, sondern gleich europäisch und wollen daher die EMSA zu einer solchen gemeinsamen Küstenwache weiterentwickeln, wobei hierbei natürlich das Havariekommando eingebunden werden soll. Diese europäische Küstenwache soll sich allein auf die Verhinderung von Schiffshavarien und entsprechende Notfallkonzepte konzentrieren. Die bisherige Verknüpfung mit der Einrichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems sowie der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, Frontex, lehnen wir ausdrücklich ab. Diese Probleme können nur durch Bekämpfung der Migrationsursachen und nicht der Migranten gelöst werden. Wir fordern Sie auf, heute mit unserem Antrag einer wirksamen und verbindlichen Weiterentwicklung des europäischen Notfall- und Havariemanagement zuzustimmen. Wir brauchen europäische Regelungen, die verbindliche und schnelle Lösungen einer Havarie gewährleisten können, damit sich ein solcher Vorfall mit einer solchen monatelangen Hängepartie nicht wiederholen darf. Wir fordern die Bundesregierung auf, in der EU umgehend ein neues Erika-IV-Paket mit einem verbindlichen europäischen Seesicherheitssystem einzubringen.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Juli dieses Jahres ist der Containerfrachter „MSC Flaminia“ im Atlantik, circa 1 800 Kilometer bzw. 1 000 Seemeilen vor der europäischen Küste, havariert. Nach Explosionen und Feuer an Bord gab es Tote, mehrere Verletzte und anschließend monatelange Kompetenzstreitigkeiten europäischer Behörden. Die Bergung des Schiffes entwickelte sich zu einer Odyssee entlang der europäischen Küsten. Niemand wollte das Schiff in seinen Hafen lassen, bis es schließlich in Wilhelmshaven geborgen werden konnte. Enormes Risiko ging von dem sehr schweren Seeunfall aus. Gefahr bestand während bzw. nach dem Unfall nicht nur für die Besatzung, sondern auch für die Meeresumwelt. Zu jeder Zeit ging vom an Bord befindlichen Schweröl und von der Ladung auch eine Bedrohung für den Fischbestand aus. Die Ladung an Bord enthielt auch 151 deklarierte Gefahrgüter, von denen einige wohl auch als Brandbeschleuniger gewirkt haben. Aufgrund der großen Gefahren, die von dem Wrack ausgingen, hieß es daher längere Zeit in Überschriften der deutschen Presse: „Giftige Irrfahrt der brennenden ,MSC Flaminia‘“, „Zeit Online“ vom 31. August 2012, und „Reederei schweigt zu ‚Flaminia‘-Gefahrstoffen“, „Spiegel Online“ vom 10. September 2012. Die Havarie hat gezeigt, dass sowohl die Nothafenregelung der EU als auch die Kompetenzen der Europäischen Maritimen Sicherheitsagentur EMSA deutlich nachgebessert werden müssen. Ich finde es sehr schade, dass es immer erst einen schweren Seeunfall geben muss, bevor gesetzliche Regelungen angepasst werden. Ich habe noch zu sehr das Bild vor Augen von verschmutzten Stränden, ölverklebten Meerestieren und Strandvögeln in Nordspanien und Südwestfrankreich in den Jahren 2000 und 2002. Verantwortlich dafür waren die verheerenden Seeunfälle der beiden Öltanker „Erika“ und „Prestige“. Die EU hat daraufhin zwar relativ schnell Handlungsbereitschaft gezeigt, in der europäischen maritimen Sicherheit nachzubessern. Zu viel lag im Argen und zu sehr waren die Kompetenzen zerstreut, sodass ein rasches Eingreifen nicht gewährleistet war. Daher kamen auf EU-Ebene insgesamt drei Gesetzespakete - Erika I, II und III - zustande, und die Europäische Maritime Sicherheitsagentur EMSA wurde aus der Taufe gehoben. Seither müssen Öltanker zwei Außenwände haben. Dass die relativ zügig umgesetzten Regelwerke jedoch an verschiedenen Punkten nicht konsequent umgesetzt worden sind, zeigt sich jetzt wieder anhand der Havarie der „MSC Flaminia“. Das derzeitige europäische Nothafenkonzept, so wichtig es ist, verpflichtet die Staaten der Europäischen Union derzeit leider weder zu Koordination noch zu Kooperation. Dadurch ist es leider so, dass schwer havarierte Schiffe von verschiedenen EU-Mitgliedstaaten abgewiesen werden können, selbst wenn sie dringend Hilfe benötigten und geborgen werden müssten. Dies hat das Zu Protokoll gegebene Reden Containerschiff „MSC Flaminia“ im Juli bzw. August 2012 leidvoll erfahren müssen. Das Nothafenkonzept hat versagt. Daher muss nach unserer Auffassung dringend eine Anpassung der einschlägigen EU-Richtlinie erfolgen. Außerdem muss die Europäische Maritime Sicherheitsagentur EMSA dringend weitere operative Befugnisse bekommen: Notliegeplätze für havarierte Schiffe müssen von ihr europaweit zugewiesen werden können, um die Gefahr, die von einem verunfallten Schiff ausgeht, schnellstmöglich zu bannen. Meist ist in einem Hafen bzw. in Hafennähe die Gefahr, die von einem solchen Schiff ausgeht, leichter zu bannen als auf hoher See. Auf hoher See wirken durch Wind und Wellen starke Kräfte auf das Schiff ein. Dadurch können das Schiff weiter destabilisiert und das Gefahrenpotenzial unnötig erhöht werden. Dass Deutschland nach Anfrage des Frachters „MSC Flaminia“ Hilfe zugesagt hat, ist vor allem dem Havariekommando des Bundes und der Küstenländer zu verdanken. Das Schiff fuhr unter deutscher Flagge; daher war Deutschland die letzte Rettung. Nicht auszudenken, wie lange die Odyssee des Wracks noch gedauert hätte, wäre es unter der Flagge eines außereuropäischen Staates unterwegs gewesen. Hier liegt ein Schwachpunkt im ergänzend eingebrachten Antrag der Linken, in dem Sie gleich eine europäische Küstenwache fordern. Das schaffen wir ja nicht mal in Deutschland aufgrund unserer zersplitterten Zuständigkeiten. In Europa sind die Zuständigkeiten in den einzelnen Mitgliedstaaten noch viel komplexer über die einzelnen Mitgliedstaaten verteilt. Viel effektiver ist aus unserer Sicht, der bestehenden Europäischen Maritimen Sicherheitsagentur EMSA nach und nach mehr Kompetenzen zu übertragen. Dies ist trotz verschiedener Gesetzespakete seit rund zehn Jahren versäumt worden. Der Antrag der SPD geht unserer Auffassung nach nicht weit genug. Es geht Ihnen nur darum, Sachverhalte und Änderungen an bestehenden Richtlinien „zu prüfen“. Hätte die Prüfung zum Ergebnis, alles solle bleiben wie bisher, würden Sie dann auch das mittragen? Dies wäre fahrlässig, sowohl für die Besatzungen auf den Schiffen und für die Meeresumwelt als auch für die europäische Küste. Die Havarie des Motorschiffs „MSC Flaminia“ fordert zum Handeln auf. Die Bundesregierung muss nun auf europäischer Ebene tätig werden und versuchen, Änderungen herbeizuführen. Es bleiben dabei zunächst die Ergebnisse der noch andauernden Seeunfalluntersuchungen abzuwarten. Dann müssen die richtigen Schlüsse gezogen werden, wie es zukünftig in Europa mit der Sicherheit auf den Meeren weitergehen soll. Hier sind die EU-Mitgliedstaaten am Zuge, also auch die deutsche Bundesregierung. Bisher war von der schwarzgelben Regierung im Bereich der maritimen Politik wenig zu erwarten. Aber ich lasse mich gerne überraschen und freue mich über konstruktive Vorschläge.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/10819 und 17/11324 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind alle damit einverstanden; Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begleitung der Verordnung ({0}) Nr. 260/ 2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 924/ 2009 ({2}) - Drucksachen 17/10038, 17/10251 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3}) - Drucksache 17/11395 - Berichterstattung: Abgeordnete Peter Aumer Martin Gerster Dr. Gerhard Schick Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben1). Die Reden liegen hier auch vor. - Alle sind damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Wir kommen infolgedessen zur Abstimmung. ({4}) - Wollten Sie, Kollege Rehberg, ans Mikrofon gehen? ({5}) - Okay. Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/11395, den Gesetzentwurf der Bundesregie- rung auf den Drucksachen 17/10038 und 17/10251 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitions- fraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Fraktion der SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- ter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Sozialdemo- 1) Anlage 10 Vizepräsident Eduard Oswald kraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11407. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbindliches Mitwirkungsrecht für Kommunen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen und Verordnungen sowie im Gesetzgebungsverfahren - Drucksachen 17/1142, 17/4726 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Frieser Gisela Piltz Frank Tempel Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. - Alle sind damit einverstanden, sodass wir zur Abstimmung kommen.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der heute zur Debatte stehende Antrag der Fraktion Die Linke fordert großspurig die Einführung verbindlicher Mitwirkungsrechte für die Kommunen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen und Verordnungen sowie im Gesetzgebungsverfahren. Wo leben denn die Antragsteller? Die Forderungen sind doch längstens von der christlich-liberalen Koalition umgesetzt. Die erfolgte Stärkung der Mitwirkungsrechte der Kommunen bei der Bundesgesetzgebung reiht sich ein in eine umfassende Richtungsänderung der Bundespolitik für die kommunale Ebene. Dieser Paradigmenwechsel wurde von CDU und CSU seit 2005 Schritt für Schritt zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung forciert. Bereits die unionsgeführte Große Koalition hat mit der Föderalismusreform I für die existenziellen Belange der Kommunen Rechnung getragen. Damit wurde eine direkte Aufgabenzuweisung an die Kommunen in Bundesgesetzen sowohl bei der Landesverwaltung der Bundesgesetze als auch bei der Bundesauftragsverwaltung ausgeschlossen. Der Weg neuer Aufgabenübertragungen auf Gemeinden und Gemeindeverbände führt nur über die Länder. Da die in den jeweiligen Landesverfassungen verankerten Konnexitätsregelungen uneingeschränkt greifen, ist Aufgabenübertragung auf die Kommunen ohne entsprechende Finanzierung seitdem ausgeschlossen. In der in dieser Legislaturperiode eingesetzten Gemeindefinanzkommission wurden - gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden - konkrete Handlungsempfehlungen zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung vorgelegt. Diese schließen eine verstärkte Beteiligung der Kommunen an der Gesetzgebung des Bundes bzw. der Rechtsetzung der EU ebenso ein wie die Flexibilisierung von Standards bzw. den Abbau von Bürokratie in allen Bereichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, vielleicht sollten Sie die seit Mai 2012 geltende Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gründlich lesen. Sie werden dann feststellen, dass wir auf Initiative der christlich-liberalen Koalition bereits vor Monaten verbindliche Mitwirkungsrechte für die Kommunen und eine privilegierte Anhörung der kommunalen Spitzenverbände beschlossen haben. § 69 Abs. 5 Satz 1 GO-BT wurde von einer Soll- in eine Istvorschrift geändert. Den kommunalen Spitzenverbänden muss seitdem Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden, wenn ein Ausschuss federführend Gesetzentwürfe berät, durch die deren wesentliche Belange berührt werden. Daneben wurde in § 70 Abs. 4 ({0}) GO-BT geregelt, dass den kommunalen Spitzenverbänden Gelegenheit zur Teilnahme an einer öffentlichen Anhörung zu entsprechenden Gesetzentwürfen zu geben ist. Hierbei soll eine Anrechnung der Vertreter der kommunalen Spitzenverbände nach § 70 Abs. 2 Satz 2 GO-BT auf die jeweiligen Fraktionskontingente unterbleiben. Mit dieser Privilegierung der kommunalen Spitzenverbände in seiner Geschäftsordnung folgte der Deutsche Bundestag entsprechenden Änderungen in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien ({1}). Dort regelte die unionsgeführte Bundesregierung bereits im vergangenen Jahr die Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände an Rechtsetzungsvorhaben umfassend neu, und zwar ebenfalls zugunsten der Kommunen. Neben dieser GGO-Privilegierung wird den kommunalen Spitzenverbänden im Zusammenhang mit EURechtsetzungsvorhaben außerdem der Zugang zur zentralen ZEUS-Datenbank ({2}) des EU-Ratssekretariats beim Auswärtigen Amt angeboten. Der Server, der der Bundesregierung zur Verfügung steht, enthält alle für die EU-Ratsarbeitsgruppen relevanten Dokumente und wird kontinuierlich von Brüssel aus ergänzt und gepflegt. Bundesregierung und Bundestag sind damit den Empfehlungen der Arbeitsgruppe „Rechtsetzung“ aus der Gemeindefinanzkommission gefolgt. Diese Kommission wurde vor dem Hintergrund des gemeinsamen Ziels der christlich-liberalen Koalition gebildet, um sich für leistungsfähige Städte, Gemeinden und Kreise einzusetzen. Das wichtigste Ergebnis der Kommission war jedoch, dass der Bund die kommunalen Haushalte durch die Reduzierung der kommunalen Sozialausgaben entlastet. Die heute Vormittag in zweiter und dritter Lesung im Deutschen Bundestag beschlossene Übernahme der Nettoausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund entlastet die Kommunen allein im Zeitraum 2012 bis 2016 um rund 20 Milliarden Euro. Dies stärkt die kommunale Selbstverwaltung mehr als irgendwelche zusätzlich von der Fraktion Die Linke geforderten Formalitäten bei der Bundesgesetzgebung. Die realen Ergebnisse unserer Politik stärken die Kommunen - und zwar auf Dauer. Das wird für die Städte, Gemeinden und Landkreise immer konkreter spürbar. Nach Angaben des Deutschen Städtetags konnten fast alle Kommunen ihre Finanzsituation weiter verbessern. Bereits im laufenden Jahr 2012 rechnen die Kommunen mit einem Überschuss von 2,3 Milliarden Euro. Im Finanzplanungszeitraum bis einschließlich 2016 kann dieser Überschuss nach Einschätzung des Bundesfinanzministeriums kontinuierlich auf rund 5,5 Milliarden Euro gesteigert werden. Verantwortlich für die Gesundung der Kommunalfinanzen ist in erster Linie unsere auf Wachstum ausgerichtete Politik. Nach der aktuellen Steuerschätzung von letzter Woche können die Gemeinden bis ins Jahr 2017 damit rechnen, dass ihre Steuereinnahmen jedes Jahr um rund 3 Milliarden Euro anwachsen. In letzter Zeit verweisen die kommunalen Spitzenverbände völlig zu Recht verstärkt auf die besondere Verantwortung der Länder. Schließlich weisen die Kommunalfinanzen nach wie vor enorme regionale Unterschiede auf, denen der Bund gar nicht entgegenwirken kann. In manchen Bundesländern geht die Schere zwischen armen und reichen Kommunen immer weiter auseinander. Die Rechtslage ist klar: Die Länder sind für ihre Kommunen und den kommunalen Finanzausgleich verantwortlich. Leider müssen die Kommunen zur Durchsetzung ihrer Ansprüche immer wieder auf die Hilfe der Landesverfassungsgerichte zurückgreifen, wie zum Beispiel zuletzt in Rheinland-Pfalz. Vor diesem Hintergrund hoffe ich, dass die kommunalfreundliche Politik beispielgebend für das Verhalten der Länder gegenüber ihren Kommunen ist. Ich fasse zusammen: CDU und CSU haben die kommunalfeindliche Politik der rot-grünen Bundesregierung beendet und kämpfen seit 2005 in Regierungsverantwortung erfolgreich für die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Sinkende Sozialausgaben durch die Kostenübernahme vom Bund und gleichzeitig höhere Einnahmen bei den Anteilen an der Einkommensteuer und Gewerbesteuer ermöglichen den Kommunen, zu investieren und ihre kommunalen Aufgaben zu erfüllen. Es liegt im ureigenen Interesse der Städte, Gemeinden und Landkreise, dass sich dieser neue Politikstil noch lange fortentwickeln kann.

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Viele Gesetze, die auf Bundesebene beschlossen werden, haben Auswirkungen auf die Kommunen. Wir halten es deshalb für wichtig, dass die Kommunen an den Entscheidungsprozessen auf Bundesebene beteiligt werden. In Städten, Gemeinden und Landkreisen erhält Politik für die Menschen ein konkretes Gesicht: Hier wirken sich Entscheidungen direkt auf ihre Lebenssituation aus. Die Erfahrungen, die die Menschen vor Ort machen, entscheiden über Akzeptanz unserer Politik oder Politikverdrossenheit. Die Städte, Kreise und Gemeinden schaffen die Infrastruktur, die für unsere wirtschaftliche Entwicklung und die Lebensqualität der Menschen existenziell ist. Kommunen organisieren die Kinderbetreuung, sorgen für Sicherheit, sanieren Schulen, beseitigen Abwasser, zahlen Sozialhilfe, bieten einen öffentlichen Personennahverkehr an, stehen Menschen mit Behinderung und Pflegebedürftigen zur Seite, fördern Kultur und stärken mit Investitionen das örtliche Handwerk. Kurzum: Die Kommunen erfüllen einen umfassenden Fürsorgeauftrag. Deshalb sind die Stärkung unserer Städte, Gemeinden und Kreise und die Lösung ihrer Probleme für uns ein Kernanliegen. In der Vergangenheit haben Bund und Länder den Kommunen eine Vielzahl Aufgaben übertragen, ohne ihnen immer die dafür angemessene Finanzausstattung zu geben. Zugleich erhöhte sich infolge der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen. Seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich die kommunalen Sozialausgaben fast verdoppelt, erreichen inzwischen ein Niveau von gut 45 Milliarden Euro jährlich und wachsen dynamisch weiter. Wenn aber den Kommunen die Mittel fehlen, ihren Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherung nachzukommen, dann wird ihre Schlüsselrolle für unser Gemeinwesen grundsätzlich infrage gestellt. Es ist daher wichtig, auch bei Gesetzen, die auf Bundesebene beschlossen werden, Auswirkungen auf die kommunale Ebene stärker als bisher zu berücksichtigen. Zwar sind die Kommunen als Teil der Länder im Bundesrat bereits indirekt beteiligt, es ist aber sinnvoll, ihre Perspektive auch im Bundestag von vorneherein stärker in politische Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Dafür haben wir uns mit Nachdruck eingesetzt, zum Beispiel indem wir die Bildung des Unterausschusses Kommunales forciert haben. Die Regierungskoalition hat dabei keine rühmliche Rolle gespielt. Ende 2009 gab es einen Beschluss aller Fraktionen, diesen Ausschuss einzusetzen. Im Februar und März 2010 hatten SPD, Grüne und Linke ihre Mitglieder für den Unterausschuss benannt, CDU/CSU und FDP nicht. Im Mai beschloss der Innenausschuss offiziell seine Einsetzung und wählte den Vorsitzenden. Die Benennung der Mitglieder der FDP erfolgte einen Monat später, die der CDU/CSU drei Monate später. Im September konnte das erste gemeinsame Obleutegespräch des Ausschusses stattfinden, in dem beschlossen wurde, eine Geschäftsordnung festzulegen. Diese notwendige Voraussetzung Zu Protokoll gegebene Reden für unsere Arbeit wurde wiederum von den Koalitionen CDU/CSU und FDP hinausgezögert. Im November 2011 konnte dann endlich die erste Sitzung des Unterausschusses Kommunales stattfinden. Knapp ein Jahr lang hatten die Regierungsfraktionen die Einsetzung des Ausschusses verschleppt. Im Folgenden wurde die Blockade auf andere Ebenen verlagert. Der Rahmenbeschluss zu den Kompetenzen des Unterausschusses wurde so eingeschränkt wie nur irgend möglich verfasst. Die Zuweisung von Themen an den Unterausschuss wird immer wieder von CDU/CSU und FDP abgelehnt - trotz eindeutigen kommunalen Bezugs. Letztes Beispiel: das Betreuungsgeld. So werden die Belange der Kommunen mit Füßen getreten. Der nächste Kraftakt betraf die Regelung, wie die kommunalen Spitzenverbände zu relevanten Gesetzentwürfen im Bundestag angehört werden. Nach den Beschlüssen der Gemeindefinanzkommission sollten die kommunalen Spitzenverbände bei öffentlichen Anhörungen im Bundestag privilegiert werden beziehungsweise das „Recht des ersten Wortes“ erhalten. Im Folgenden unterbreitete der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestages einen Vorschlag, der ohne großes Aufheben in den Kleinstgremien der Obleuterunden versenkt werden sollte. Erst die Intervention der Kommunalpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion holte den Antrag wieder aus der Versenkung und leitete ein geordnetes Verfahren ein. Im Ergebnis haben wir einen überfraktionellen Beschluss gefasst, das Mitspracherecht der Kommunen auf Bundesebene zu verbessern. Im April 2012 wurde die Geschäftsordnung des Bundestages so geändert, dass zu allen relevanten Gesetzentwürfen Stellungnahmen der Kommunalverbände eingeholt werden müssen. Die Forderung nach einem eigenen Kommunalmitwirkungsgesetz auf Bundesebene halten wir verfassungsrechtlich für problematisch. Mit den eben genannten Instrumenten haben wir die Mitwirkungsmöglichkeiten der Kommunen bereits erheblich verbessert und müssen diesen Weg auch nicht gehen. Bei der ganzen Diskussion über Mitwirkungsmöglichkeiten sollten wir aber eines im Blick behalten: Wichtig ist, dass die Kommunen eine ausreichende finanzielle Ausstattung bekommen. Die Steuereinnahmen dieses Jahr sind zwar gut, aber die Kommunen schieben einen Schuldenberg von etwa 50 Milliarden Euro vor sich her. Die Sozialausgaben steigen weiter, und die Schere zwischen armen und reichen Kommunen wird breiter. Darüber sollten wir reden in der nächsten Debatte.

Dr. Birgit Reinemund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Entscheidungen, die wir hier im Bundestag treffen, stehen nicht im luftleeren Raum. Sie haben vielfältige Auswirkungen, auch und gerade auf die Kommunen. Das gilt besonders für die Bereiche Sozial- und Steuergesetzgebung. Als Gebietskörperschaften der Länder ist den Kommunen ein direktes Recht auf Mitwirkung an der Gesetzgebung verwehrt. Sie müssen ihre Belange über die Länder im Bundesrat vertreten lassen - auch gegenüber dem Bund und Europa. Dennoch ist eine Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände an der Bundesgesetzgebung explizit politisch gewollt und für mich und die gesamte FDP-Fraktion selbstverständlich. Nach dem Antrag der Linken soll die Bundesregierung aufgefordert werden, „zur Sicherstellung der Mitwirkungsrechte ein Kommunalmitwirkungsgesetz in den Deutschen Bundestag einzubringen“. Diese Formulierung ist derartig undifferenziert, dass man sich fragt, welche gesetzlichen Maßnahmen Ihnen, liebe Kollegen der Linken, hier genau vorschweben. Diese Antwort bleiben Sie schuldig. Sie haben diesen Antrag in der letzten Legislaturperiode ja schon einmal eingebracht fast wortgleich. Der Antrag ist Schnee von gestern. Auch damals waren Sie zu konkreten Aussagen nicht fähig. Wenn Sie schon einen Schaufensterantrag einbringen, sollten Sie wenigstens auch ein bisschen Inhalt in die Auslage legen. Ihren Antrag lehnen wir ab, nicht weil wir gegen eine Mitwirkung der Kommunen am Gesetzgebungsverfahren wären, sondern weil der Antrag schlicht und ergreifend zu schlecht ist. Sie fordern in Ihrem Antrag dazu auf, dass Bundesregierung und Bundestag Kommunen verbindliche Mitwirkungsrechte bei der Beratung von Gesetzentwürfen geben. Diese Forderungen sind überholt. Hier haben wir bereits gehandelt: Wir haben die Geschäftsordnung des Bundestages so geändert, dass den kommunalen Spitzenverbänden im federführenden Ausschuss eine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden muss, wenn dort kommunal relevante Gesetzentwürfe beraten werden. Das gilt im Übrigen auch für nichtöffentliche Ausschusssitzungen. In öffentlichen Anhörungen müssen die kommunalen Spitzenverbände ebenfalls gehört werden, wenn ihre Belange betroffen sind. Alle anderen Sachverständigen werden in solchen Anhörungen von den Fraktionen benannt. Die Anzahl an Experten, die eine Fraktion benennen darf, richtet sich dabei nach der Fraktionsstärke. Bei den kommunalen Spitzenverbänden findet solch eine Anrechnung auf Fraktionskontingente nun nicht mehr statt. Bisher sind die Vertreter der Kommunen behandelt worden wie Lobbyisten. Wir haben das geändert. Wir beteiligen die Kommunen angemessen am Gesetzgebungsprozess. Das sage ich sehr deutlich als kommunalpolitische Sprecherin meiner Fraktion, der FDP. Es freut mich, dass die Bundesregierung das genauso sieht und die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien ebenfalls geändert hat, um den kommunalen Spitzenverbänden mehr Mitwirkungsrechte zu geben. Genauso selbstverständlich war es für uns, die Kommunen beim Umsetzungsgesetz zum Fiskalvertrag, das wir aktuell im Bundestag beraten, einzubeziehen. Der Stabilitätsrat, der die Einhaltung der Schuldenbremse und die Haushalte von Bund und Ländern überwacht, wird einen Beirat erhalten, in dem auch die kommunalen Spitzenverbände vertreten sein werden. Die Schuldenbremse im Fiskalvertrag umfasst auch die Kommunen. Die Kommunen sind von Sanierungsprogrammen des Stabilitätsrates potenziell mit betroffen. Deshalb ist Zu Protokoll gegebene Reden diese Beteiligung vernünftig und notwendig. Gut, dass wir im Umsetzungsgesetz übrigens auch festschreiben, dass die Länder für die Umsetzung der Schuldenbremse im Bereich der Kommunen verantwortlich zeichnen! Für mich ist ganz klar: Dort, wo Gesetzentwürfe und politische Maßnahmen die Interessen der Kommunen berühren, müssen die kommunalen Spitzenverbände so in die Gremien eingebunden werden, dass sie dort ihre Meinung einbringen können. Die Belange der Städte und Gemeinden sind bei FDP und Union in guten Händen. Deshalb brauchen die Kommunen auch nicht aufgewärmte Anträge der Linken, sondern die kommunalfreundliche Politik der Regierungskoalition.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nach langwierigen Beratungen, mitunter schwierigen Verhandlungen und auf Druck der Linken hat sich der Bundestag am 26. April 2012 einstimmig dafür ausgesprochen, den Gemeinden und Gemeindeverbänden bei Vorlagen, von denen „wesentliche Belange von Gemeinden und Gemeindeverbänden berührt werden“, ein obligatorisches Recht auf Stellungnahme einzuräumen. Kommunale Spitzenverbände müssen nun bei allen Anträgen, die seitens der Fraktionen in den Bundestag eingebracht werden, gehört werden. Es kann sich niemand mehr darum herum mogeln, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war. Ein Manko dieser Regelung ist indes, dass sie nicht für Vorlagen - zum Beispiel Gesetzentwürfe - der Bundesregierung gilt. Unserer Forderung, dass dies auch ausnahmslos für Regierungsvorlagen gelten muss, stellten sich die Fraktionen von CDU/CSU und FDP entgegen. Die Linke hat dem trotzdem zugestimmt, weil es ein Schritt in die richtige Richtung ist. Allerdings ist die Linke der Auffassung, dass wir unbedingt den nächsten Schritt gehen müssen. Daher halten wir auch an den anderen Forderungen in unserem Antrag fest. Wir wollen ein Kommunalmitwirkungsgesetz. Die Kommunen brauchen ein verbindliches Mitwirkungsrecht, damit sie ihre Beteiligung notfalls auch einklagen können. Dafür bedarf es einer gesetzlichen Regelung, die sicherstellt, dass Kommunen in allen Phasen der Entscheidung über ein Gesetzesvorhaben des Bundes beteiligt werden. Es reicht nicht aus, dass kommunale Spitzenverbände nur am Anfang eines Gesetzgebungsverfahren gehört werden. In die dann folgende Debatte, in der es in der Regel zu Änderungen der Gesetzentwürfe kommt, müssen die kommunalen Spitzenverbände ebenso einbezogen werden. Daher brauchen wir hier ein geordnetes Verfahren, einen Konsultationsmechanismus, ähnlich wie er in Österreich bereits seit Mitte der 90er-Jahre erfolgreich angewandt wird. Es kann und darf nicht im Ermessen einzelner Ministerien oder Personen liegen, darüber zu befinden, wann und in welchem Maße Kommunen an Gesetzesvorhaben, die kommunale Belange berühren, beteiligt werden. Wir wollen sicherstellen, dass die Kommunen frühzeitig beteiligt werden. Frühzeitig heißt für uns, die kommunalen Spitzenverbände müssen zum frühestmöglichen Zeitpunkt einbezogen werden, und sie müssen Zeit haben, Vorlagen für Gesetzesvorhaben mit ihren Mitgliedskommunen zu diskutieren. Dies gewährleitstet, dass im Vorfeld die möglichen Auswirkungen durch die Kommunen selbst bewertet werden können. Nur so kann offengelegt werden, welche finanziellen Folgen einzelne Gesetzesvorhaben für Kommunen und welche Auswirkungen sie auf das Leben in den Städten, Landkreisen und Gemeinden haben. Und eine einseitige Lastenverschiebung auf die Kommunen kann verhindert werden. Auch die Formulierung in Gesetzesvorlagen: „mögliche finanzielle Auswirkungen sind nicht bezifferbar“, wie zum Beispiel bei der Änderung des Gesetzes zum Vormundschafts- und Betreuungsrecht, würde der Vergangenheit angehören. Die Umsetzung des genannten Gesetzes führt zu einer Verdopplung des Personalbedarfs in den Jugendämtern. Die Kosten hierfür müssen die Kommunen tragen. Auch heute ist es noch gang und gäbe, dass kommunale Spitzenverbände kurzfristig aufgefordert werden, zu Gesetzesentwürfen Stellung zu nehmen. Ein Beispiel hierfür war der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, der kurzfristig und mitten in den Osterferien den kommunalen Spitzenverbänden zur Abstimmung zugesandt wurde. Mit dieser Praxis muss Schluss sein. Im Übrigen ist es schon bemerkenswert, wenn immer häufiger externe Unternehmen an Gesetzen mitwirken, aber kommunale Spitzenverbände - wenn es um Belange der Kommunen geht - um eine Mitwirkung ringen müssen. Allein im Jahr 2009 wurden 16 Gesetze verkündet, an denen externe Unternehmen mitgewirkt haben. Im Zeitraum von 1990 bis 1999 war es gerade mal ein Gesetz. Insgesamt wendeten die Ministerien über 4 Millionen Euro für die Mithilfe an Gesetzen durch externe Berater auf. Während also externen Unternehmen und Beratern alle Türen offenstehen, wenn es um die Erarbeitung von Gesetzentwürfen geht, stehen die Kommunen vor einer fast verschlossenen Tür. Sie werden nur unzureichend an der Gesetzgebung beteiligt, und das vor dem Hintergrund, dass 80 Prozent der Bundesgesetze Kommunen ausführen müssen. Eine Änderung dieses Zustandes erreichen wir nur, wenn kommunale Spitzenverbände ein gesetzlich verankertes Mitwirkungsrecht erhalten. Bei allen Fortschritten, die es hier in der jüngsten Vergangenheit gegeben hat, halten wir an dieser Forderung fest und stehen damit auch an der Seite der Kommunen. Im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Rechtsetzung“ der Gemeindefinanzkommission ist vermerkt: „Die kommunalen Spitzenverbände halten an der Auffassung fest, dass eine Verankerung von Beteiligungsrechten in der Rechtsetzung im Kontext des Art. 28 Abs. 2 GG der Stellung der Kommunen im föderalen Staatsgefüge angemessener wäre als deren Berücksichtigung auf Geschäftsordnungsebene.“ Die Linke ist der Auffassung, dass durch ein verbindliches Mitwirkungsrecht der kommunalen Spitzenverbände Gesetze an Qualität gewinnen, weil die konkreten Erfahrungen aus der Praxis der Umsetzung der Gesetze Zu Protokoll gegebene Reden berücksichtigt werden können. Wir hätten nicht nur bessere Gesetze, wir könnten uns auch eine Vielzahl von Korrekturen und Änderungen im Nachhinein ersparen. Ich bitte sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Bund spart bei der Arbeitsmarktpolitik, die Länder versuchen den Fiskalpakt einzuhalten, der dringend notwendige Kitaausbau ist überfällig, aber nicht ausfinanziert. Diejenigen, die vor Ort Politik machen, müssen letztendlich die Umsetzung und die finanziellen Lasten schultern. Für Bürgermeister oder Landräte wird die Redensart, den Letzten beißen die Hunde, schnell zum Alltag. Woran liegt das? Auf den ersten Blick genießen die Kommunen einen hohen verfassungsrechtlichen Schutz. Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes hält fest: „Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.“ Die Gemeinden haben das Recht, eigene Regeln zu verantworten, sich selbst zu verwalten und ihnen stehen Einnahmen aus eigenen Steuern zu. Das hört sich doch gut an. Leider ist die Realität vor Ort eine andere. Wie viel sind solche Rechte wert, wenn andere Gebietskörperschaften der kommunalen Familie Pflichtaufgaben aufzwingen und bisherige Einnahmen absenken können? Anhörungs- und Mitwirkungsrechte der Kommunen bei solchen Entscheidungsfindungen sind gesetzlich nicht vorgesehen. Ergebnis: Nach der Meinung der Kommunen kräht kein Hahn. Dass es auch anders geht, zeigt die Rolle der Länder bei wichtigen Entscheidungen. Die Anhörungsund Zustimmungsrechte der Länder im Bundesrat zwingen den Bund zu Kompromissen. Niemand fordert heute eine vergleichbare Machtposition für die Kommunen. Allerdings ist eine Aufwertung der bisherigen kommunalen Teilhabe zwingend notwendig. Die mangelnde Mitwirkung hat sogar die erfolglose Gemeindefinanzkommission entdeckt. So hält die Arbeitsgruppe „Rechtssetzung“ fest: Die kommunalen Spitzenverbände sollen möglichst zeitlich vor Interessenvertretungen an Rechtsetzungsvorhaben beteiligt werden. Auch soll die Möglichkeit einer Kostenfolgenabschätzung von Bundesgesetzen für Kommunen geprüft werden. Spätestens die beiden Aussagen müssen doch auch den letzten Zweifler von einer besseren Einbindung der Kommunen überzeugen. Es spricht doch Bände: Die kommunalen Spitzenverbände werden bisher genau wie Interessenverbände behandelt. Erstens. Bund und Länder können Steuerrechts- oder Sozialrechtsänderungen beschließen, ohne irgendeine Information über finanzielle Auswirkungen für die Kommunen zu besitzen. Zweitens. Der vorliegende Antrag der Linksfraktion zielt auf diese Schwachstellen ab. Die Forderung nach verbindlichen Mitwirkungsrechten für Kommunen sind notwendig. Die Festschreibung von solchen Rechten ist dabei der richtige Weg. Darauf haben auch wir Grüne im Rahmen der Debatte der Gemeindefinanzkommission gedrängt. Wir müssen einfach den Status quo überwinden: Die Beteiligung der Kommunen darf nicht mehr im Ermessen des Gesetzgebers liegen, sondern muss durch ein gesetzlich garantiertes Mitwirkungsrecht ersetzt werden. Außerdem überlässt der Antrag die genaue Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte der Bundesregierung. Deshalb stimmen wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, diesem Antrag zu.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4726, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1142 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 - Drucksache 17/10041 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 17/11363 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Frieser Manuel Höferlin Dr. Konstantin von Notz Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben heute einen Gesetzentwurf vor uns liegen, bei dem ich eigentlich davon ausgegangen bin, dass dieser ohne größere Diskussionen sogar interfraktionell verabschiedet werden könnte. So kann man sich täuschen. Selbst die Verlängerung eines zunächst nüchtern klingenden Gesetzes, wie die des Mikrozensus, scheint die Opposition in Unruhe zu versetzen und für strittige Abstimmungen zu sorgen. Warum brauchen wir dieses Gesetz? Es gibt einen schönen Satz: „Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität.“ Genau darum geht es beim Mikrozensus. Um die Betrachtung der Realität. Diese soll nun mit einem bestehenden und dem Grunde nach bewährten Gesetz nicht bis Ende dieses Jahres, sondern bis 2016 fortgesetzt werden. Angesichts der politischen und rechtlichen Probleme, mit denen seit den 1980er-Jahren die Volkszählung in Deutschland zu kämpfen hatte, ist der Mikrozensus mittlerweile zur zentralen Informationsquelle für die Erstellung öffentlicher Statistiken geworden. Im Gegensatz zu einer Volkszählung werden beim Mikrozensus nur nach bestimmten Zufallskriterien ausgewählte Haushalte beteiligt. Die Anzahl der Haushalte wird so gewählt, dass die Repräsentativität der Ergebnisse statistisch gesichert ist. Der Mikrozensus dient dazu, die im Rahmen von umfassenden Volkszählungen erhobenen Daten in überschaubaren Zeitabständen mit klar definiertem organisatorischem Aufwand zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Für die Praxis bedeutet das, dass für vier weitere Jahre wie bisher auch jährlich 800 000 Bürgerinnen und Bürger zu Auskünften auf Fragen verpflichtet werden, wobei jede Befragung ungefähr eine halbe Stunde dauert. Zudem werden weitere 200 000 Bürgerinnen und Bürger zur Beantwortung weiterer Fragen verpflichtet, deren Beantwortung nur rund 15 Minuten dauert. Es handelt sich insgesamt also um nur 1 Prozent unserer Bevölkerung, der Gewinn durch die Befragung ist aber gewaltig. Die Ergebnisse des Mikrozensus betreffen aber uns alle, ganz besonders jedoch uns in der Politik Tätigen. Für unsere politischen und wirtschaftlichen Planungen, ebenso für die wissenschaftliche Forschung, brauchen wir verlässliche Daten, nicht nur darüber, wie viele Menschen in Deutschland in welchen Städten und Gemeinden leben, sondern ebenso darüber, beispielsweise welche Bildungsabschlüsse diese Menschen haben oder welchen Beruf sie ausüben, ob sie davon leben können, in welchen Verhältnissen sie wohnen. Für mich, in meiner Funktion als Integrationsbeauftragter der Unionsfraktion besonders interessant ist der Abschnitt „Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsdauer“. Für eine passgenaue Integrationspolitik ist es von entscheidender Bedeutung, genau zu wissen, wer bei uns lebt, woher die Menschen kommen und ob Sie die deutsche Staatsangehörigkeit bereits angenommen haben. Für jedes Projekt, für jede Regelförderung werden Mittel aus dem Haushalt aufgrund dieser Zensusdaten errechnet. Unser Mikrozensus ist mit seinen Ergebnissen darüber hinaus europapolitisch mittlerweile eigentlich zwingend. Inhaltlich ist er verknüpft mit der Arbeitskräftestichprobenerhebung der EU. Die entsprechende Verordnung der EU (VO ({0}) Nr. 577/98 des Rates vom 9. März 1998 zur Durchführung einer Stichprobenerhebung über Arbeitskräfte in der Gemeinschaft ({1})) sieht Lieferverpflichtungen für Deutschland vor, die ohne den Mikrozensus nicht mehr erfüllt werden können. Dieses Gesetz gilt es heute zu verlängern, um 2016, also später als im Mikrozensus 2005 ursprünglich vorgesehen, ein modernisiertes Gesetz zu verabschieden. Die Gründe dafür liefert die ebenso einfache wie einleuchtende Begründung des Gesetzentwurfs, der nichts hinzuzufügen ist: Die Ergebnisse des Zensus 2011 sind für eine sinnvolle Justierung des Mikrozensus entscheidend. Diese werden allerdings erst voraussichtlich im Jahr 2014 vorliegen. Die Volkszählungsdaten bilden den Auswahl- und Hochrechnungsrahmen des Mikrozensus, der, um künftig noch genauer und zielgerichteter eingesetzt zu werden, nach der Auswertung der Ergebnisse des Zensus 2011 angepasst werden muss. Darüber hinaus soll künftig alle zehn Jahre ein europäischer Zensus stattfinden. Hier gilt es für uns zuvor noch zu klären, welche Daten künftig durch diesen Zensus abgedeckt werden und welche Daten dann noch unser eigenes Instrument des Mikrozensus beisteuern soll und kann. Zum Dritten laufen derzeit im Statistischen Bundesamt konzeptionelle Überlegungen zur Weiterentwicklung des Systems der Haushaltsstatistiken. Auch diese Ergebnisse werden für den Mikrozensus zu berücksichtigen sein. Wir würden - auch dies beschreibt die Begründung des Gesetzentwurfes -, sollte der Mikrozensus nicht vor Ablauf dieses Jahres verlängert werden, in den rechtlichen und am Ende auch tatsächlichen Stand von 1957 zurückfallen. Das Ergebnis wäre: Wir würden keine Daten über die Bevölkerungsstruktur, wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung, über Familien und Haushalte, Erwerbstätigkeit, Arbeitssuche, Ausbildung, Wohnverhältnisse erhalten, nach denen wir unsere Politik mit ausrichten können, und wir können auch keine Daten mehr den Parlamenten in Bund, Ländern und Europa zur Verfügung stellen. Nicht nur viele gute Gründe sprechen für ein einstweiliges Beibehalten des Mikrozensus 2005, auch gibt es keine ernsthaft in Betracht zu ziehende Alternative. Deshalb empfehle ich auch der Opposition, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Mikrozensus wird seit 1957 als Haushaltsstichprobe über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt durchgeführt. Seine Hauptaufgabe ist es, umfassende, aktuelle und zuverlässige Daten über die Bevölkerung bereitzustellen. Dabei geht es um die Bevölkerungsstruktur, die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung, Familien und Haushalte, Erwerbstätigkeit, Arbeitssuche, Ausbildung und Wohnverhältnisse. Diese Daten sind eine wichtige Grundlage für Entscheidungen der Parlamente, Regierungen und Verwaltungen in Bund und Ländern. Auch für Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft und andere politische und gesellschaftliche Institutionen sind sie eine wichtige Informationsquelle. Jedes Jahr werden 800 000 Bürgerinnen und Bürger befragt, also 1 Prozent der Bevölkerung. Die Befragten müssen dafür jeweils etwa eine halbe Stunde Zeit aufwenden. Grundsätzlich besteht für diese Erhebungen Auskunftspflicht. Allerdings sind einige Merkmale von Zu Protokoll gegebene Reden der Pflicht ausgenommen: So sind zum Beispiel Auskünfte über Wohn- und Lebensgemeinschaft oder vermögenswirksame Leistungen freiwillig. Die Mikrozensusdaten erlauben es, Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse schnell festzustellen und auch längerfristige Entwicklungen zu untersuchen. Für politische Entscheidungen sind solche Daten eine unverzichtbare Grundlage. Nehmen wir das Beispiel demografischer Wandel: Die niedrige Geburtenrate und zunehmende Kinderlosigkeit rücken immer mehr in den Fokus öffentlicher und politischer Debatten. Wie genau wird sich unsere Bevölkerungsstruktur verändern? Wie können wir mit dem demografischen Wandel umgehen? Um diese Fragen zu beantworten, brauchen wir Daten, die unter anderem durch den Mikrozensus erhoben werden. Wesentliche Kriterien für Berechnungen zur künftigen Entwicklung der Bevölkerung sind zum Beispiel Veränderungen des Anteils der Frauen mit bzw. ohne Kinder und die Gesamtzahl der Kinder einer Frau. Ohne solche Angaben lassen sich keine sinnvollen Planungen zum Beispiel zur langfristigen Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme machen. In Verbindung mit weiteren Angaben wie Ausbildung und Erwerbstätigkeit können wir Ansatzpunkte für familienpolitische Maßnahmen erkennen - oder die Wirkung von Maßnahmen etwa zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aufgrund dieser Argumente sind wir uns einig, dass eine Weiterführung des Mikrozensusgesetzes notwendig ist. Wir verlängern das Gesetz heute um vier Jahre bis 2016. Die befristete Verlängerung hat ihren Sinn darin, dass in regelmäßigen Abständen überprüft werden soll, ob die Datenerhebung ergänzt oder verändert werden soll. Bei der letzten Verlängerung wurde zum Beispiel eingeführt, dass nicht nur die aktuelle Staatsangehörigkeit der Befragten erfasst wird, sondern auch die vorherige, sofern vorhanden. Dadurch wurde es möglich, die Bevölkerungsstruktur und Integration von Migranten und Migrantinnen genauer zu beschreiben. Vorher tauchte der Migrationshintergrund dieser Menschen in der Statistik nicht mehr auf. Nunmehr kann die Gruppe der Eingebürgerten separat ausgewiesen werden. Da über die Einbürgerung eine formale Integration erfolgt, lässt dies Rückschlüsse auf die Integrationsbereitschaft dieser Bürger und Bürgerinnen zu. Ein weiterer Befund der Forschung in diesem Bereich ist, dass Eingebürgerte günstigere sozioökonomische Merkmale aufweisen. Hier fallen also positive Beispiele der Integration auf, die vorher so nicht sichtbar waren. Insofern werden wir das Mikrozensusgesetz auch in vier Jahren wieder auf den Prüfstand stellen. Bis dahin muss die Arbeit des Statistischen Bundesamtes auf einer gesetzlichen Grundlage weiter gewährleistet werden. Das tun wir heute mit Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das 2005 verabschiedete Mikrozensusgesetz verlängert. Die Laufzeit endet dieses Jahr und wird nun auf 2016 ausgeweitet. Und ich freue mich, dass wir zum ersten Mal seit langem wieder die Zeit finden, dieses wichtige Thema zu debattieren; denn auch ein Mikrozensusfortschreibungsgesetz wirft Fragen auf. Wird der Datenschutz ausreichend berücksichtigt? Ist die Auskunftspflicht das richtige Mittel, um die Daten für den Mikrozensus zu erheben? Ist eine solche Befragung überhaupt zeitgemäß? Um Sie nicht allzu sehr auf die Folter zu spannen: Die Antwort auf all diese Fragen lautet „Ja!“. Die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern hatten bereits in den vergangenen Jahren keine Einwände gegen das Gesetz geäußert. So viel Einmütigkeit ist - gerade bei einem so sensiblen Thema - selten und erfreulich. Auch halte ich die Auskunftspflicht im Rahmen des Mikrozensus für gerechtfertigt. Die Befragung ist eine der wichtigsten in Deutschland und liefert zentrales Datenmaterial über Haushalte und Familiensituationen. Für die Planung der Sozialpolitik und für die Dokumentation des demografischen Wandels ist sie unerlässlich. Die Daten, die mit dem Mikrozensus erhoben werden sind, daher auch ungemein wichtig. Und damit habe ich auch schon die halbe Antwort auf die dritte Frage gegeben: Selbstverständlich ist der Mikrozensus zeitgemäß, da das erhobene Datenmaterial für wichtige Planungen bereitliegen muss und die Grundlage für die Zukunftsplanungen darstellt. Sehr geehrtes Präsidium, sehr geehrte Damen und Herren, mit dem Mikrozensusgesetz haben wir in den letzten sieben Jahren sehr gut wichtige Informationen gewinnen können, und - abgesehen von einigen wenigen Korrekturen im Jahr 2007 - es gab keinen Anlass, dieses Gesetz einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem hier heute zur Abstimmung stehenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 soll die erneute Verlängerung des Mikrozensus um weitere vier Jahre beschlossen werden. Das Gesetz aus dem Jahre 2005, das die Durchführung des Mikrozensus bis zum Jahre 2012 vorgesehen hatte, wurde bewusst befristet, „um regelmäßig das Erhebungsverfahren prüfen und die Merkmale an den aktuellen Informationsbedarf anpassen zu können“. Von einer Prüfung des Erhebungsverfahrens und dessen Ergebnissen ist allerdings bislang nichts bekannt geworden. Auf diesen Punkt komme ich später noch einmal zurück. Die heute zur Abstimmung stehende Änderung besteht zwar lediglich in der Ersetzung der Jahreszahlen „2012“ durch „2016“ - weitere Änderungen sind diesmal nicht vorgesehen -, hat aber durchaus weitreichende Auswirkungen. So heißt es im Erläuterungsteil des Gesetzes: Zu Protokoll gegebene Reden „Wie bisher werden daher jährlich 800 000 Bürgerinnen und Bürger zu Auskünften auf Fragen verpflichtet, deren Beantwortung je Fall rund eine halbe Stunde dauert. Zudem werden jeweils 200 000 Bürgerinnen und Bürger zu Auskünften auf weitere Fragen verpflichtet, deren Beantwortung rund 15 Minuten dauert.“ Das klingt offenbar in Ihren Ohren relativ harmlos, ist es unseres Erachtens aber nicht. Denn wenn man sich der Beantwortung der Fragen verweigert, wird man mit Zwangsgeldern von bis zu 5 000 Euro bzw. Beugehaft bestraft. Meine Fraktion hatte bereits das Ausgangsgesetz abgelehnt, weil seine Notwendigkeit nach unserer Meinung und der Auffassung vieler Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler nicht konkret nachgewiesen, der Umfang der Datenabfrage ausufernd und teilweise unverständlich bis diskriminierend gewesen ist. Letzteres - beispielsweise die Abfrage der Geburtenfolge bei Frauen oder Religionsgemeinschaften - ist zwar freiwillig anzugeben, die Abfrage wird dadurch aber nicht plausibler. Kritisch beurteilen wir auch, dass der Bürgerinitiative „Arbeitskreis Zensus“ im Rahmen ihres Engagements zur letzten Volkszählung, dem „Zensus 2011“, offenbar eine Reihe von Berichten über unwürdige Befragungspraktiken im Rahmen des Mikrozensus zugetragen wurden und dies zumindest keine öffentlich wahrnehmbare Diskussion, geschweige denn eine Änderung der kritisierten Praxis, zur Folge hatte. Der Arbeitskreis warnte in seiner Stellungnahme vom Sommer 2012 ebenfalls vor einem „bürokratischen Automatismus der alle vier Jahre stattfindenden Verlängerung der Gesetzesgrundlage“. Richtig ist, dass von einer unabhängigen und gründlichen Überprüfung der Erhebungsverfahren und Merkmale sowie ihrer entsprechenden Anpassung bislang nichts bekannt geworden ist. Dies ist schon extrem verwunderlich. Denn es hätten sich ja durchaus Möglichkeiten ergeben können, auf bestimmte Daten zu verzichten oder die Verfahren zu vereinfachen. Immerhin werden beim 59 Seiten langen Fragebogen des derzeitigen Mikrozensus 200 Fragen und zahlreiche detaillierte persönliche Angaben zwangsweise abgefragt. Aus bürgerrechtlicher Sicht wäre also eine Überprüfung des Erhebungsverfahren insbesondere hinsichtlich seiner Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit, selbst wenn es durch die Befristung nicht eh vorgesehen wäre, unbedingt angebracht. Aber wie gesagt, von einer Überprüfung war und ist keine Rede bei Ihnen. So scheinen diese Fortsetzung der Zwangserhebung und das Bekenntnis zu einer Überprüfung für die Bundesregierung reine Formalitäten zu sein - ein Verfahren, das den tatsächlichen Belastungen nicht gerecht wird. Denn es geht dabei nicht um die von der Regierung und dem Normenkontrollrat penibel ausgerechnete zeitliche Belastung für jede Bürgerin und jeden Bürger, sondern um die Belastung durch massive Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht. Darüber hinaus ist auch die Kostenverteilung - der Bund trägt mit 2 105 070 Euro gerade einmal ein Zehntel der Kosten der Länder in Höhe von 21 610 193 Euro - nicht so ganz einleuchtend ohne einen Nachweis der Nützlichkeit. Die Befristung hätte für alternative Überlegungen und Verfahren zur Bedarfsplanung genutzt werden können - daran bestand und besteht offensichtlich aufseiten der Bundesregierung keinerlei Interesse. Oder warum wurden keine Ergebnisse von Überprüfungen der Verfahren und des Datenumfanges im Parlament ausführlich diskutiert? Auch ist nicht bekannt, ob und wenn ja welche Änderungen in dem neuaufgelegten Fragebogen für die Jahre bis 2016 vorgenommen wurden und welche Veränderungen des Hochrechnungsrahmens sich nach dem Zensus 2011 ergeben haben und inwiefern der Mikrozensus daran gegebenenfalls angepasst wurde. Wir wissen ebenfalls nicht, welche Überlegungen im Statistischen Bundesamt zur Weiterentwicklung des Systems der Haushaltsstatistiken angestellt werden. Allein schon aufgrund dieser mehr als unbefriedigenden Informationslage könnten wir diesem Anschlussgesetz nicht zustimmen. Solange kein klarer und verständlicher Nachweis über Sinn, Nützlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Befragungen vorgelegt worden ist, muss der Mikrozensus ausgesetzt werden. Wir erwarten außerdem, dass den Vorwürfen der Bürgerrechtler über einen unwürdigen Umgang der Statistikämter mit den Befragten nachgegangen wird und es, sollten sich die Berichte bestätigen, auch zu entsprechenden Konsequenzen kommt. Ein Staat, der auf unwillige Bürgerinnen und Bürger bei solchen Fragen mit der Androhung von Verwaltungszwang reagiert, bekommt vielleicht irgendwann irgendwelche Auskünfte - beliebter werden solche Maßnahmen dadurch aber nicht, und auch die Verlässlichkeit erzwungener Auskünfte bleibt zweifelhaft. Meine Fraktion wird daher dem Gesetz heute hier nicht zustimmen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Angaben des Mikrozensus versorgen uns mit so segensreichen Erkenntnissen wie zum Beispiel, dass in Hamburg jede 20. Wohnung leer steht, dass fast die Hälfte der Informatikerinnen und Informatiker im klassischen Familienalter kinderlos sind oder die wirklich triste Aussicht, wonach die Bundesrepublik Deutschland die weltweit niedrigste Geburtenrate von nur acht Kindern auf 1 000 Einwohner aufweist. Die neuesten Erkenntnisse des jährlich erscheinenden Statistischen Jahrbuches, das vergangenen Monat vorgestellt wurde und uns Deutschen aktuell bescheinigt, nach Japan die zweitälteste Gesellschaft der Welt zu sein, stammen aus dem Mikrozensus. Gerade weil der präventive, der vorsorgende und auch auf Nachhaltigkeit und komplexe Steuerungskonzepte setzende Staat nur effektiv sein kann, wenn er über laufend aktuelle Zahlen zur Bevölkerung verfügt, gewinnt das Statistikwesen an Bedeutung. Wer wie die Zu Protokoll gegebene Reden Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren auf der Grundlage von Demografieberichten mit den Folgen schrumpfender Erwerbsbevölkerung, der zunehmenden Alterung und dem Kinderschwund zu rechnen hat, kann auf die Statistik nicht verzichten. Darüber haben wir bereits im vergangenen Jahr hinlänglich im Rahmen der Debatte um den Zensus 2011 diskutieren können. Der Mikrozensus stellt die Grundlage unserer Erkenntnisse dar; er ist gewissermaßen der kleine Bruder der bei uns nur selten erfolgenden großen Zensen. Alljährlich sind eine beachtliche Anzahl von circa einer Million Bundesbürgern mit den umfänglichen Fragenkatalogen der Statistikbehörden konfrontiert, denen sie nicht ausweichen können. Denn die Teilnahme an den Interviews oder auch wahlweise Ausfüllung der Fragebögen ist bußgeldbewehrt. Die oft besonders weit das Privatleben berührenden Fragen etwa nach dem Einkommen, nach den familiären Verhältnissen oder der Ausbildung stellen ohne Zweifel - völlig unabhängig von ihrer konkreten Weiterverarbeitung - aufgrund der Zwangslage der Auskunftspflicht einen schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz dar. Genau diese Konflikte haben die Volkszählungsproteste der 1980er-Jahre ausgelöst. Viele Grüne haben diese Bewegung mitgetragen, und sie zählt sicherlich als bürgerrechtliches Großereignis bis heute zu einer der Wurzeln des grünen Selbstverständnisses. Im Kern geht es dabei um die Sicherung der informationellen Selbstbestimmung des Einzelnen. Selber wissen und so weit als möglich auch mit entscheiden zu können, wer was wann über einen erfährt und was dann mit diesem Wissen gemacht werden darf, das zählt heute zum Kern des Datenschutzes, so wie ihn auch die grüne Partei gemeinsam mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Gruppen erstritten hat. Dank des tatsächlich wegweisenden Volkszählungsurteils von 1983 wurden genaue Vorgaben gemacht, die den Gesetzgeber bis heute beschäftigen und binden. Das Mikrozensusgesetz basiert auf diesen Vorgaben. Es dient dazu, diese Vorgaben zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger gegen eine überbordende staatliche Datenerhebung, und sei sie auch nur zu statistischen Zwecken, sicherzustellen. Die Aufsichtsbehörden für den Datenschutz in den Ländern berichten alljährlich von Bürgerinnen und Bürgern, die sich mit Beschwerden auch gegen den Mikrozensus an sie wenden. Das derzeit in Kraft befindliche, wie seine Vorgänger zeitlich befristete Mikrozensusgesetz von 2005 enthält zwar nicht mehr sämtliche Einzelfragen im Gesetz selbst, sondern enthält Fragenkomplexe, die dann im späteren Verordnungswege konkretisiert werden dürfen. Gleichwohl besteht an dieser Verfahrensweise trotz der teilweisen Zurücknahme des strikten Gesetzesvorbehalts ein berechtigtes Interesse der Flexibilisierung, um eben möglichst aktuelle, besonders zielgerichtete Fragenkomplexe entwerfen zu können. Die Bundesregierung hat sich mit dem vorgelegten Gesetzentwurf entschieden, das bisherige Mikrozensusgesetz um weitere vier Jahre zu verlängern. Sie räumt in der Begründung durchaus ein, dass sich das Statistikwesen im Umbruch befindet. Denn die Ergebnisse des Zensus 2011 werden für 2014 erwartet und könnten und sollten auch Auswirkungen auf den Mikrozensus haben. Außerdem werden entsprechende Vollzensusverfahren gemäß EU-Verordnung zukünftig alle zehn Jahre erfolgen. Man könnte vor diesem Hintergrund theoretisch deshalb wohl auch den Verzicht auf den Mikrozensus bis zur weiteren Klärung oder eine kürzere, eine grundrechtsschonendere Befristung um lediglich zwei Jahre ins Auge fassen. Der Preis wäre dann allerdings wohl die Lückenhaftigkeit der Statistik für diese Zeiträume. Zu bedenken bleibt zudem, dass sich die Fragebögen des Zensus 2011 und die Fragebögen des Mikrozensus keinesfalls umfänglich überschneiden, sondern durchaus unterschiedlich angelegt sind. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die Radikalkritik bezüglich des Mikrozensus eingehen. Ohne Zweifel muss auch das Mikrozensusverfahren im Fokus des Datenschutzes bleiben. Grundlegende Schutzprinzipien müssen gewahrt und willkürliche Ausdehnungen und Erweiterungen der Fragen verhindert werden. Doch muss angesichts des hohen Verrechtlichungsgrades, der wirklich sehr dichten Begleitung des gesamten Prozesses durch die Aufsichtsbehörden und den nur wenigen konkreten Beschwerdefällen trotz der bereits seit vielen Jahren stattfindenden Befragungen festgestellt werden, dass bei diesem Thema aktuell nicht die Front der rechtspolitischen Auseinandersetzung verläuft. Wir haben wahrlich andere Großbaustellen zu bewältigen, wie schon der ebenfalls für diese Sitzungwoche aufgezeigte Debattenpunkt zur EU-Datenschutzreform zeigt. Wir sollten deshalb in unserem Einsatz für die Bürgerrechte auch klare Prioritäten zu setzen. Das Mikrozensusverfahren zählt zu den weitgehend geregelten und ganz überwiegend zufriedenstellend verlaufenden Datenerhebungen unseres Staates, das insoweit auch Vorbild sein kann für andere Bereiche. Diese Erkenntnis sollte uns gleichwohl nicht davon abhalten, in der Auswertung der Ergebnisse des Zensus 2011 kritisch nachzufragen, auf welche Weise die Anzahl der Betroffenen und der Umfang der Fragen weiter reduziert werden kann, damit das Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung weiter reduziert werden kann.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11363, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10041 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Vizepräsident Eduard Oswald Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 sowie Zusatzpunkt 7 auf: 25 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Soziale und ökologische Offenlegungspflichten für Unternehmen regeln - Drucksachen 17/9567, 17/11229 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Serkan Tören Volker Beck ({2}) ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Karin Roth ({3}), Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Transparenz für soziale und ökologische Unternehmensverantwortung herstellen - Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Arbeits- und Umweltbedingungen auf europäischer Ebene einführen - Drucksache 17/11319 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittig Die Reden werden zu Protokoll genommen. - Alle sind einverstanden.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Manchmal hat man das Gefühl, dass man als Verbraucher sowieso nichts ausrichten kann, wenn einem etwas nicht passt, zum Beispiel wenn einem nicht gefällt, mit welchen zum Teil zweifelhaften Methoden große, meist global agierende Konzerne ihre Waren produzieren und verkaufen. Einerseits gibt es die Verbraucher, die sich über die als ungerecht empfundenen Produktionsmethoden in Entwicklungsländern ärgern, durch welche die Umwelt geschädigt oder Mitarbeiter ausgebeutet werden. Meistens nehmen sie die Missstände jedoch hin. Sie zucken mit den Schultern und sagen sich: „So ist das eben. Daran kann man nichts ändern!“ Gleichzeitig gibt es aber auch die Verbraucher, die ihre geballte Verbrauchermacht einsetzen und Macht auf große Konzerne und manchmal sogar ganze Länder ausüben - wenn sie sich zusammentun und den Mut haben, offen gegen das zu protestieren, was ihnen missfällt. Verbraucherproteste und -boykotte, meist unterstützt durch das Engagement politischer Aktionsgruppen, haben schon häufiger dazu geführt, dass Unternehmen ihre Produktionsmethoden überdacht und geändert haben. Diese Verbrauchermacht muss gestärkt werden, besonders auch im Rahmen der sozial-ökologischen Standards. Ich bezweifle jedoch, ob diese Verbrauchermacht durch staatlichen Zwang gestärkt werden kann. Meistens binden verpflichtende Berichtssysteme Ressourcen, die die Unternehmen für eine bessere CSR einsetzen könnten. Die Opposition fordert dies in ihrem Antrag. Mir ist der Gedanke jedoch nicht konsequent zu Ende gedacht, daher schlage ich im Rahmen der Aufgaben der Bundesregierung eher folgendes Vorgehen vor: Erstens. Die Menschenrechte müssen in den Formulierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in einem eigenen Kapitel behandelt werden. Es ist zu diskutieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens ausgeweitet werden können. Zweitens. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche Sanktionsmechanismen für deutsche Unternehmen aussehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen mit nicht nachhaltigem Wirtschaften von staatlichen Förderinstrumenten für eine Zeit lang ausgeschlossen werden. Drittens. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die Zuständigkeiten über die OECD-Leitsätze im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich von dem Referat trennen, das auch gleichzeitig für die Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit dort entstehenden Interessenskonflikte dürfen nicht sein und untergraben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die Bundesregierung die Leitlinien umsetzen will. Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschutzes für Geschädigte gegenüber den internationalen Unternehmen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang kommen die Instrumente der deutschen Entwicklungspolitik und die Arbeit der deutschen Stiftungen im Ausland ins Spiel. Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt Rechtsberatung als einen Schwerpunkt der gemeinsamen Entwicklungspolitik mit unseren Partnerländern in Regierungsverhandlungen verankern muss. Grund ist, dass oftmals deutsche Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, keine Handhabe haben, Sozialstan24848 dards in den produzierenden Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssysteme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen. Daher wäre es auch nicht gerecht, dass deutsche und internationale Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationalen Gerichten angeklagt werden können. Es muss auch in der Selbstverantwortung der Partnerländer liegen, ein Arbeitsrecht zu schaffen, das es den Arbeitern vor Ort ermöglicht, Recht erst mal im eigenen Land zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO, die Arbeitsorganisation der UN, in die Pflicht nehmen, endlich ihre internationalen Ansätze nachhaltiger und rechtlich einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden die zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnormen in den Partnerländern nicht ernst genommen, da die rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffassung, dass wir auch hier einen neuen internationalen Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen finden müssen. Abschließend ist somit zu sagen, dass wir alle die Chancen in Fragen der Unternehmensverantwortung erkennen müssen. Wir müssen internationale Verträge neu justieren und der Wirtschaft vor Augen führen, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR erhalten. Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lauten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstandards zwischen importierenden deutschen und internationalen Unternehmen geben darf. Die Bundesregierung nimmt sich dieser Maxime an, es ist der moralische Anspruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu folgen.

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Thema „Menschenrechte und Unternehmensverantwortung“ ist in den letzten Jahren zu Recht in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Bereits 2011 wurden mit der Revision der OECD-Leitsätze und der Annahme der Guiding Principles von Ruggie, dem VN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Wirtschaft, durch den VN-Menschenrechtsrat wichtige Signale für mehr Unternehmensverantwortung gesendet. Des Weiteren steckten die Erklärung der ILO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik, der Global Compact der Vereinten Nationen und der VN-Sozialpakt einen Rahmen für menschenrechtskonformes unternehmerisches Handeln ab. Daneben existieren eine Reihe freiwilliger Initiativen der Wirtschaft zur Einhaltung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten zur nachhaltigen Entwicklung und zur Beachtung von Umweltfaktoren. Sie werden mit dem Begriff Corporate Social Responsibility, oder kurz: CSR, zusammengefasst. CSR beinhaltet nur freiwillige Maßnahmen bzw. Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Sie werden von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich oder gar nicht angewandt. CSR wird nicht überprüft; auch Sanktionen sind nicht vorgesehen. Sie können verbindliche Standards höchstens ergänzen oder den Weg hin zu verbindlichen Standards vorzeichnen. Verbindliche Standards und Normen sind zum Beispiel gewerkschaftlich erstrittene tarifliche Vereinbarungen und Arbeitnehmerrechte, die nicht nur den Betrieb binden, sondern für jeden einzelnen Betriebsangehörigen gelten und einklagbar sind. So schützen sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Bezahlung, ihres Rechts auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Urlaub, Absicherung usw. und vor Diskriminierung. Es gibt aber noch weitere Gründe, die für verbindliche soziale und ökologische Offenlegungspflichten von Unternehmen sprechen. Ökologische und soziale Auswirkungen unternehmerischen Handelns berühren nämlich fast immer auch den Bereich der Menschenrechte. Wenn Ureinwohnern beispielsweise durch sogenanntes Landgrabbing ihre Lebensgrundlage entzogen wird, verletzt dies ihre Menschenrechte sogar in existenziellem Sinne. Ebenso können die Rodung von Wäldern, die Verseuchung ganzer Fluss-Systeme durch Industrie oder fehlende Nachhaltigkeit ganze Bevölkerungsgruppen ihrer Menschenrechte berauben. Schlechte Entlohnung, fehlende Gesundheitsfürsorge und gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen verletzen Menschenrechte sogar in erheblichem Umfang. Wir begrüßen daher die im Antrag geforderten sozialen und ökologischen Offenlegungspflichten für Unternehmen. Neben der Offenlegungspflicht für finanzwirtschaftliche Daten wird die gesetzliche Pflicht für die Offenlegung der sozialen und ökologischen Produktionsbedingungen die Transparenz unternehmerischen Handelns in erheblichem Umfang erhöhen, besonders wenn, wie im Antrag gefordert und soweit möglich, auch die Lieferkette mit einbezogen wird. Gerade Verbraucherinnen und Verbraucher haben das Recht, zu erfahren, unter welchen Bedingungen Waren hergestellt wurden. Es ist sicherlich vernünftig, dabei den Kapazitäten kleiner und mittlerer Unternehmen Rechnung zu tragen. Wichtig ist - das hat der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Menschenrechte und Wirtschaft, Ruggie, immer wieder zu Recht betont -, dass neben die verbindlichen Pflichten vor allem Sanktionsmöglichkeiten und ein ausgeprägter Schutz der Opfer treten müssen. Von Menschenrechtsverletzungen betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen einen wirksamen Rechtsweg beschreiten können, der ihnen nebst einer Anerkennung des erlittenen Unrechts auch Hilfe und Wiedergutmachung gewährt. Längst haben viele Unternehmen erkannt: Transparenz über Produktionsbedingungen auch entlang der Wertschöpfungskette zahlt sich aus. Gute Unternehmensführung und Nachhaltigkeit sind absatzfördernd, da kritische Verbraucherinnen und Verbraucher zunehmend solche Informationen nachfragen und zur Grundlage ihrer Kaufentscheidung machen. Verbindliche Offenlegungspflichten würden ihre Position und ihren Einfluss weiter stärken. Unternehmen, die ihre Offenlegungspflichten verletzen und damit womöglich Menschenrechtsverletzungen decken oder vertuschen wollen, müssen auch mit SankZu Protokoll gegebene Reden tionen im Falle nachgewiesener Menschenrechtsverletzungen belegt werden können. Die vorliegenden Anträge verfolgen einen sinnvollen Weg, den wir seitens der SPD begrüßen und unterstützen werden.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich, dass wir heute gemeinsam über die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen debattieren - vor allem über die Vorschläge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, nach welchen Regeln diese von der Wirtschaft wahrgenommen werden soll. Ich halte die Debatte in unserem Hause für dringend notwendig und hätte mir eine lebhafte Diskussion darüber gewünscht - statt einer Rede für das Protokoll. Ich hoffe, wir haben an anderer Stelle dazu noch Gelegenheit. Die Frage der unternehmerischen Verantwortung ist eine ganz grundlegende, entscheidende Frage. Im Kern geht es darum: Soll die Wirtschaft für die Menschen da sein, oder ist es etwa umgekehrt der Fall? Wenn ich immer wieder Berichte lese, wie Menschen rund um die Welt ausgebeutet werden oder sogar betriebsbedingt verunglücken, wie Gewerkschaftsrechte mit Füßen getreten werden und wie vielerorts die Umweltzerstörung voranschreitet, habe ich erhebliche Zweifel daran, dass die Wirtschaft den Menschen dient. Das betrifft auch europäische und deutsche Konzerne, in deren Lieferketten bereits schlimme Fälle bekannt geworden sind. Wenn in Pakistan eine ganze Fabrik abbrennt und 250 Menschen darin verbrennen, die auch für den deutschen Textildiscounter KiK produziert haben, ist das mehr als erschütternd. Offensichtlich wurden dort keinerlei Arbeitsschutzmaßnahmen für die Beschäftigten getroffen. Es gab keine Notausgänge, und die Fenster waren vergittert. Das ist nicht hinnehmbar! Es muss im Interesse jedes Unternehmens sein, solche Missstände in der eigenen Produktions- bzw. Zulieferkette zu verhindern. Mehr noch: Es muss in der Verantwortung der Unternehmen liegen, sorgfältig zu prüfen, unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen ihre Produkte hergestellt werden. Die im Juni 2011 verabschiedeten UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte legen Unternehmen diese Sorgfaltspflicht auf, die über die eigenen Unternehmensaktivitäten hinausgeht und Geschäftspartner und andere Akteure in der Wertschöpfungskette einbezieht. Als SPD-Fraktion begrüßen wir die - vor fast genau einem Jahr veröffentlichte - neue EU-Strategie für die soziale Verantwortung der Unternehmen. Die EU-Kommission bekennt sich damit zum ersten Mal zu verpflichtenden Vorschriften zur Förderung der Transparenz und erwartet insbesondere von großen Unternehmen, eine risikobasierte Sorgfaltsprüfung bis in die Lieferketten vorzunehmen. Transparenz ist das entscheidende Stichwort: Den Verbraucherinnen und Verbrauchern hilft es doch nicht, wenn sie von einigen Unternehmen in Hochglanzbroschüren lesen, was Gutes auf den Weg gebracht wurde. Denn erstens wissen die interessierten Konsumenten damit noch nicht, ob es an anderer Stelle der Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens soziale oder ökologische Probleme gibt, die natürlich nicht in einem freiwilligen CSR-Bericht des Unternehmens auftauchen würden. Zweitens können die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen Vergleich zu anderen Unternehmen vornehmen. Wichtig wäre zu wissen, wie sich alle bekannten Firmen einer bestimmten Branche, wie zum Beispiel Sportartikelhersteller, verhalten. Drittens kann es ohne klare Regeln für Transparenz auch zur Irreführung der Kunden kommen: So hatte Lidl 2010 mit einem Versprechen geworben, faire Arbeitsbedingungen bei Textilzulieferern in Bangladesch zu garantieren. Erst aufgrund einer Klage der Verbraucherzentrale Hamburg infolge einer Untersuchung der Arbeitsbedingungen vor Ort musste Lidl seine Werbung kleinlaut zurückziehen. Fehlende Transparenz ist auch für die vorbildlichen Unternehmen ein Problem, wenn sie durch Lohndumping und schlechte Arbeitsbedingungen in anderen Unternehmen von diesen preislich unterboten werden können. Der Preis ist doch heute für potenzielle Kunden die einzige überprüfbare vergleichbare Größe. Das wollen, das müssen wir ändern! Von der Bundesregierung haben wir hier - wie so oft - leider nichts zu erwarten, vor allem nichts Gutes. Schwarz-Gelb gefällt sich in der Rolle als größter Bremsklotz auf EU-Ebene für die aktuellen Pläne der Kommission, für echte Transparenz und verbindliche Unternehmensverantwortung zu sorgen. Wir wollen der lahmen Bundesregierung mit unserem Antrag Beine machen, damit wir hier in Deutschland und Europa endlich vorankommen. Wir fordern, dass Unternehmen verpflichtet werden, Informationen zu sozialen und ökologischen Aspekten ihrer Geschäftstätigkeit vorzulegen, und zwar nach einheitlichen Standards, wahrheitsgemäß und vollständig und auch im Rahmen ihrer Verantwortung für die Wertschöpfungs- und Lieferkette. Es muss öffentlich werden, wo Niedriglöhne gezahlt werden, wie viele Arbeitsunfälle passieren, wie Kinderarbeit verhindert wird, ob Betriebsräte vorhanden sind. Genauso liegt es im öffentlichen Interesse, Angaben zum Flächenverbrauch von Agrarbetrieben oder die Menge abgebauter Rohstoffe zu erhalten. Wir flankieren diese Offenlegungspflichten mit einem Verbandsklagerecht. Denn bei Verstößen gegen die wahrheitsgemäße und pflichtgemäß vollständige Offenlegung müssen Verbraucherverbände oder auch Gewerkschaften die Möglichkeit haben, dagegen vorzugehen. Wichtig ist, dass die Unternehmensinformationen geprüft und im Anschluss veröffentlicht werden. Dies soll durch unabhängige Prüfgesellschaften - ähnlich wie Wirtschaftsprüfer heute, aber mit Know-how im sozialen und ökologischen Bereich - erfolgen. Zu Protokoll gegebene Reden Das Ziel muss, darauf aufbauend, ein Auditierungsund Zertifizierungssystem sein, mit einheitlichen Standards und europaweit gültig. Dann können Verbraucherinnen und Verbraucher besser vergleichen und sich für faire und nachhaltige Produkte entscheiden. Klar ist auch: Kleine und mittlere Unternehmen dürfen wir nicht überfordern. Sie sollen in einer ersten Phase ausgenommen sein und später angemessen in die Offenlegung von Informationen einbezogen werden, gerade wenn es sich um risikoreiche Branchen wie Textilunternehmen handelt. Ich freue mich, dass die Grünen sich ebenfalls für die geforderte Transparenz aussprechen. Auch wenn in ihrem Antrag viele Prüfaufträge enthalten sind, schließen wir uns diesem gerne an. Wir brauchen Transparenz mit vergleichbaren und verbindlich einzufordernden Informationen. Nur so ist ein fairer Wettbewerb um nachhaltige Handels- und Produktionsbedingungen möglich, und nur so dient die Wirtschaft tatsächlich den Menschen.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert die Bundesregierung auf, strenge Offenlegungspflichten zu sozialen und ökologischen Aspekten der Geschäftstätigkeit von Unternehmen in Zukunft gesetzlich festzuschreiben. Im Falle eines Verstoßes soll über mögliche Sanktionsmechanismen nachgedacht werden. Die Bundesregierung wird außerdem erneut dazu aufgerufen, sich auch weltweit verstärkt für umfassende Offenlegungspflichten einzusetzen. Die Forderungen der Grünen sind nicht neu. Ganz im Gegenteil: Ähnliche Sachverhalte haben wir bereits mehrfach debattiert und sie mit guten Gründen stets abgelehnt. Diese guten Gründe ignorieren die Grünen allerdings vollständig. Ihr Antrag blendet zudem sämtliche Fortschritte aus, die bislang auf internationaler Ebene errungen wurden. Aber der Reihe nach. Der inhaltliche Kern des Antrags - die soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen zu stärken - ist ein zentrales Anliegen der FDP. Über den Weg dorthin lässt sich jedoch streiten.Der große Sprung in unbekanntes Terrain, wie ihn die Grünen vorsehen, birgt die Gefahr, zurückrudern zu müssen. Ein Ansatz auf freiwilliger Basis, wie ihn die Liberalen vertreten, stellt hingegen sicher, dass der Prozess kontinuierlichen Fortschritts nicht ins Stocken gerät. Vor allem zeigt das Vorhaben der Grünen ein mangelndes Verständnis für die Entwicklung unserer heutigen Wirtschaftstrukturen. Das Hauptproblem liegt dabei in der Definition von Verantwortung und Pflichten von Unternehmen, die in unserem Land tätig sind und waren. Jahrzehntelang wurden Pflichten gegenüber anderen Akteuren als den jeweiligen Anteilseignern nämlich kaum eingefordert. Seitdem haben sich Unternehmen jedoch zunehmend zu verantwortungsbewussten Partnern des Staates und der Gesellschaft entwickelt. Sie haben aus eigener Initiative heraus ein verstärktes Bewusstsein für die weitergefassten sozialen und ökologischen Auswirkungen ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten geschaffen. Die Übernahme von ökologischer und sozialer Verantwortung entwickelt sich zunehmend zum Wettbewerbsvorteil. Änderungen in Bezug auf die Offenlegungs- und Kontrollpflichten eines Unternehmens, wie sie von den Grünen gefordert werden, würden daher höchstens einen enormen bürokratischen und finanziellen Mehraufwand darstellen. Vor allem in Anbetracht der starken Wirtschaftsleistung mittelständischer Unternehmen und ihres bereits großen freiwilligen Engagements im Bereich sozialer und ökologischer Verantwortung, ist es fraglich, ob sich eine zusätzliche gesetzliche Regelung nicht eher kontraproduktiv auf die bereits erzielten Fortschritte auswirkt und eine zu hohe Belastung darstellt. Unternehmen brauchen flexible Regelungen, um soziale und ökologische Verantwortung nachhaltig als einen Teil ihrer Unternehmenskultur und -identität zu etablieren. Solche Regelungen müssen in erster Linie auf supranationaler Ebene verfolgt werden, um Wettbewerbsnachteile und Standortverlagerungen ins Ausland zu verhindern. Dass dieser Prozess bereits an Fahrt aufgenommen hat, zeigt sich an der zunehmenden Akzeptanz internationaler Initiativen für stärkere soziale und ökologische Pflichten seitens der Unternehmen. Konkret meine ich damit die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, den Runden Tisch Verhaltenskodizes, die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschrechte der Vereinten Nationen, die Modernisierungsrichtlinie der EU sowie die Reform der Transparenzrichtlinie auf europäischer Ebene. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Unternehmen diesen Vorschriften angeschlossen und sich freiwillig zu verantwortlicherem Handeln verpflichtet, das oftmals sogar über eine reine Offenlegungsverpflichtung hinausgeht. Wir sollten uns also eher dafür einsetzen, die bereits vorhandenen freiwilligen Initiativen zu stärken, als uns unbedacht in gesetzliche Experimente zu stürzen. Das spart nicht nur Zeit und Geld, sondern bringt uns dem eigentlichen Ziel, soziale und ökologisch nachhaltige Unternehmensstrukturen zu stärken, entscheidend näher. Freiwilligkeit ist und bleibt die bessere Alternative um das gesellschaftliche Umdenken zu unterstützen und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit und Existenz von Unternehmen zu sichern. Nur so kann kontinuierlicher Fortschritt sichergestellt werden, besonders im Bereich der Menschenrechte ist das der einzig vernünftige Weg. Den Antrag der Grünen lehnen wir deshalb ab.

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Forderung, durch Transparenz Öffentlichkeit und damit demokratische Kontrolle von Aktivitäten transnational arbeitender Unternehmen zu schaffen, ist richtig. Die Fraktion Die Linke unterstützt deshalb den Antrag, fordert aber gleichzeitig die Einführung von verbindlichen und konkreten Mindeststandards für international arbeitende Konzerne. Unverbindliche Selbstverpflichtungen der Unternehmen, Transparenzrichtlinien und unverbindliche internationale Abkommen werden die sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen nicht verbessern. Deshalb hätten wir uns gewünscht, dass in Zu Protokoll gegebene Reden dem Antrag auch verbindliche und vor allem individuell einklagbare Mindeststandards für Unternehmen gefordert werden. Wir werden den Antrag trotzdem unterstützen, da Transparenz eine wichtige Voraussetzung für Gegenwehr und Protest ist. Die Liberalisierung des internationalen Handels, der in den letzten 25 Jahren von allen Bundesregierungen unterstützt wurde, hat zu immer mehr Macht der internationalen Konzerne geführt. Viele der großen, börsennotierten transnationalen Konzerne haben Jahresumsätze, die das Bruttoinlandsprodukt mittelgroßer Staaten deutlich übersteigen. So hat zum Beispiel Wal Mart als umsatzstärkstes Unternehmen der Welt einen Jahresumsatz von fast 410 Milliarden Dollar und beschäftigt etwa 2,1 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Royal Dutch Shell und Exxon Mobil erwirtschaften beide fast 290 Milliarden Dollar pro Jahr. Das größte deutsche Unternehmen, die Volkswagen AG, hat einen Jahresumsatz von fast 150 Milliarden Dollar. Nur 21 der wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt haben ein größeres Bruttoinlandsprodukt als Wal Mart. Länder wie Norwegen, Schweden, Venezuela oder Österreich haben ein geringeres Bruttoinlandsprodukt als diese Unternehmensgiganten. Es ist notwendig, diese zunehmende Macht der großen Konzerne zu kontrollieren und über ihre Aktivitäten größtmögliche Öffentlichkeit herzustellen. Seit vielen Jahrzehnten versuchen entwicklungspolitische und menschenrechtliche Initiativen und Organisationen durch Kampagnen diese Öffentlichkeit herzustellen. Alle Kampagnen fordern ebenfalls eine verbindliche Veröffentlichungspflicht der Unternehmen über die sozialen, menschenrechtlichen und ökologischen Auswirkungen ihres unternehmerischen Handelns. Beispiel: Clean-Clothes-Kampagne. Die „Kampagne Saubere Kleidung“ engagiert sich seit vielen Jahren für die Einhaltung von ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen Mindeststandards in den Unternehmen der Bekleidungsindustrie. Mit Aktionen zu KiK, Aldi, Lidl und der Sport- und Outdoor-Branche haben sie Informationen über die Hersteller und Handelsunternehmen aus diesen Bereichen gesammelt und öffentlich gemacht. Es ist der „Kampagne Saubere Kleidung“ zu verdanken, dass große Unternehmen wie Puma und Adidas einen Teil ihrer Verbindungen mit Zulieferern öffentlich machen und erste innerbetriebliche Zertifizierungen aufgebaut haben. Die Kampagne betont, dass die Herstellung von Öffentlichkeit ein zentraler Baustein für die Veränderung der Unternehmenspolitik ist. Nur wenn die Kundinnen und Kunden die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen der Zulieferer, die Einschränkung von Menschenrechten und die katastrophalen ökologischen und arbeitsrechtlichen Standards der Unternehmen kennen, können sie Druck auf die Konzerne, zum Beispiel durch Kaufverzicht, ausüben. Beispiel: Bankenkampagne. Die Kampagne „Bankwechsel jetzt!“ klärt über die Geschäfte von Großbanken auf. Sie stellt Öffentlichkeit über die Finanzierung von Atomanlagen, Finanzierung von Rüstungsproduktion, Landgrabbing und über die Spekulation mit Nahrungsmitteln her. Banken und Versicherungen sind im großen Stil an Landgrabbing beteiligt. In Deutschland werden über 30 verschiedene Fonds angeboten, die direkt oder über Firmenbeteiligungen Landgrabbing unterstützen und eine Geldanlage in Landflächen unterstützen. Die Fonds hatten im Jahr 2010 ein Gesamtvolumen von mehr als 5,2 Milliarden Euro. FIAN weist in einer Studie darauf hin, dass allein die Fondgesellschaft der Deutschen Bank DWS etwa 300 Millionen Euro in Unternehmen investiert hat, die mehr als 3 Millionen Hektar Ackerland in Südamerika, Afrika und Südostasien kontrollieren. Damit wird Land den Menschen in den betroffenen Ländern entzogen, das dann nicht mehr der Produktion von Nahrungsmitteln für den eigenen Bedarf zur Verfügung steht. Beispiel: Rüstungsexport. Die „Aktion Aufschrei Stoppt den Waffenhandel!“ weist darauf hin, dass jede Minute ein Mensch an den Folgen einer Gewehrkugel, einer Handgranate oder einer Landmine stirbt. Allein durch Gewehre und Pistolen der Waffenschmiede Heckler & Koch haben in den letzten 60 Jahren mehr als eine Million Menschen ihr Leben verloren. Ziel der Kampagne ist, Alternativen zur Rüstungsproduktion durchzusetzen. Die Aktion klärt über Rüstungsaktivitäten großer Unternehmen wie Daimler AG, Siemens oder Deutsche Bank auf. Die Kampagne fordert „eine grundsätzliche Veröffentlichungspflicht aller geplanten und tatsächlich durchgeführten Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern durchzusetzen, um öffentliche Diskussionen und parlamentarische Entscheidungen überhaupt zu ermöglichen“. Beispiel: Landgrabbing. Verbände wie FIAN, INKOTA, urgewald, NaturFreunde und GRAIN decken international die Folgen von Landgrabbing auf. In vielen Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas werden riesige Landflächen an internationale Investoren verkauft und Menschen von ihrem zum Teil seit Jahrhunderten genutzten Land vertrieben. Durch verbindliche Register sollen alle internationalen Akteure bekannt gemacht werden, Verträge veröffentlicht und soziale und ökologische Folgen der Landdeals öffentlich werden. Transparenz und Öffentlichkeit sind auch für sie wichtige Grundlagen, um in Europa oder den betroffenen Ländern Investitionen verhindern oder zumindest kritisch begleiten zu können. Beispiel: Lidl-Kampagne von Verdi. Am 10. Dezember 2004, dem Tag der Internationalen Menschenrechte, veröffentlichte die Gewerkschaft Verdi das „SchwarzBuch Lidl“, das auf gravierende soziale und arbeitsrechtliche Defizite bei dem Discounter hinwies. Mit einer Öffentlichkeitskampagne wurde der Discounter gezwungen, sich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen und zum Teil Veränderungen herbeizuführen. Auch Verdi hat betont, dass Öffentlichkeit und Information Grundvoraussetzungen für gesellschaftlichen Druck sind. Beispiel: „Handel gegen den Frieden“. Die kürzlich veröffentliche Publikation von europäischen kirchlichen Zu Protokoll gegebene Reden Hilfswerken und Menschenrechtsorganisationen „Handel gegen den Frieden: Wie Europa zur Erhaltung illegaler israelischer Siedlungen beiträgt“ prangert europäische Firmen an, die gegen internationales Völkerrecht verstoßen, indem sie Produkte aus illegalen israelischen Siedlungen nicht als solche kennzeichnen. Stattdessen werden sie mit dem Label „Made in Israel“ versehen. Damit unterstützen Firmen wie zum Beispiel Heidelberg Cement oder Veolia die völkerrechtswidrigen und menschenrechtsverletzenden Praktiken im Rahmen der fortgesetzten Besatzung palästinensischer Gebiete. Eine der Hauptforderungen der kirchlichen Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen ist die Kennzeichnungspflicht von Produkten, die in den illegalen Siedlungen gefertigt wurden. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 25. Februar 2010 entschieden, dass das Vorgehen der Zollbehörden, Waren aus den Siedlungen die Präferenzbehandlung zu verweigern, rechtmäßig ist und dass die in den völkerrechtswidrigen Siedlungen produzierten Waren keinen Anspruch auf EU-Zollvergünstigungen haben. Die britische Regierung hat bereits 2009 Richtlinien zur Kennzeichnung eingeführt; die dänische Regierung kündigte im Mai 2012 ähnliche Richtlinien an. Da sich Firmen zunehmend zu internationalen Rahmenbedingungen der Corporate Social Responsibility, CSR, bekennen, haben sich etliche Firmen, wie zum Beispiel die Deutsche Bahn, aus den besetzten Gebieten zurückgezogen. Diese Beispiele zeigen auf, dass verbindliche soziale und ökologische Offenlegungspflichten für Unternehmen einen wichtigen Beitrag für gesellschaftlichen Druck und die Arbeit von Gewerkschaften, NGOs und Betroffenen darstellen. Deshalb unterstützt die Fraktion Die Linke ausdrücklich die Forderung nach einer gesetzlichen Verpflichtung der Unternehmen, die sozialen, menschenrechtlichen und ökologischen Auswirkungen ihres unternehmerischen Handelns offenzulegen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Transnationale Unternehmen haben mitunter ganz konkreten Einfluss auf Menschenrechtsverletzungen, nehmen an diesen teil oder profitieren von ihnen. Dies betrifft auch Unternehmen, die in Deutschland und der EU ihren Sitz haben oder hier einen Großteil ihres Umsatzes erwirtschaften. Es ist seit jeher eines der Kernanliegen grüner Politik, diese Verletzungen der Menschenrechte sowie der ökologischen und sozialen Standards zu beenden. Wir Grüne haben an die Bundesregierung eine Kleine Anfrage zu den Arbeitsbedingungen in Indien gerichtet. Die Antwort mit der Drucksachennummer 17/11222 ist frustrierend. Es geht in der Anfrage in erster Linie um das sogenannte Sumangali-System. In der tamilischen Sprache beschreibt das Wort Sumangali eine glückliche Braut oder eine Braut, die Wohlstand bringt. Um Wohlstand geht es tatsächlich, aber gewiss nicht um den der Bräute. Es geht um ein Geschäft, das in Spinnereien im Süden Indiens beginnt und von den dortigen Textilfabriken bis in deutsche Kleidergeschäfte führt. Beim Sumangali-System im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu geht es letztlich um die Versklavung junger Frauen. Eltern geben die Mädchen in die Obhut von Textilfabriken, in denen sie dann ihre eigene Mitgift verdienen müssen. Drei Jahre lang werden die Mädchen „ausgebildet“; sie werden aber tatsächlich wie Gefangene gehalten und ausgebeutet. In der Regel bekommen sie monatlich nur ein Taschengeld von etwa 20 Euro. Wird der Bonus von 500 bis 800 Euro nach Ablauf des Vertrags überhaupt gezahlt, wandert er direkt in die Taschen der Familie des Bräutigams. Laut Terre des Hommes gehört das Sumangali-System zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Der Bundesregierung ist dieses Problem bewusst. Das gibt sie in der Antwort auf unsere Anfrage zu. Möglichkeiten, die Produkte der Sklavenarbeit von deutschen Ladentischen zu verbannen, sieht sie aber praktisch nicht. Denn wörtlich antwortet sie: „Es besteht keine rechtliche Verpflichtung der deutschen Unternehmen ihre Bezugsquellen anzugeben.“ Ihr lägen daher keine Informationen darüber vor, welche deutschen Unternehmen unter solchen Umständen produzieren lassen und in Deutschland verkaufen. Schwarz-Gelb setzt bei Fragen der Offenlegung und Transparenz bei unternehmerischem Handeln einzig und allein auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Auch in dieser Debatte werden Union und FDP wieder einmal darauf verweisen, dass Freiwilligkeit der einzig richtige Weg sei. Ich sage ganz deutlich: Spätestens mit dieser Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zu den Sumangali-Mädchen in Indien hat sich Ihr Dogma der Freiwilligkeit bis auf die Knochen blamiert. Wenn nicht einmal die schlimmsten Auswüchse unternehmerischer Tätigkeit im Ausland bekannt gemacht werden können, dann brauchen wir dringend gesetzliche Regelungen. Die Bundesregierung sieht nichts, hört nichts und weiß nichts. Nicht einmal das, was Journalisten recherchiert haben. Aber Schwarz-Gelb will offenbar nichts an diesem Zustand ändern. Wir fordern daher in unserem hier vorliegenden Antrag die Bundesregierung auf, Unternehmen gesetzlich zu verpflichten, Informationen zu menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Aspekten ihrer Geschäftstätigkeit zu veröffentlichen. Auf Ebene der Vereinten Nationen und auch in der EU hat man längst eingesehen, dass es ohne rechtliche Verpflichtung nicht geht. Im Jahr 2011 wurden sowohl die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen als auch die neue EU-Strategie für die soziale Verantwortung der Unternehmen verabschiedet. Damit wurde der langjährige internationale Streit darüber beendet, ob die weltweite Einhaltung grundlegender Menschenrechtskriterien durch Unternehmen freiwillig erfolgen oder verbindlich gemacht werden soll. Beide Vorlagen drängen auf eine Kombination von verbindlichen Regelungen und freiwilligen Maßnahmen und erkennen an, dass negative soziale und ökologische Auswirkungen von Unternehmenshandeln nicht allein auf freiwilliger Basis verhindert werden können. Zu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({0}) Warum die Bundesregierung wider besseres Wissen dennoch weiterhin dem reinen Prinzip der Freiwilligkeit anhängt, ist mir schleierhaft. Kleine und mittlere deut- sche Unternehmen schützt sie dadurch nicht. Denn die meisten dieser Unternehmen haben überhaupt kein Inte- resse daran, die deutschen Verbraucher zu täuschen. Geschützt werden dadurch nur riesige Konzerne wie H & M, Lidl, KiK oder Metro. Sie verstecken sich hinter wohlklingenden Strategien zur Corporate Social Res- ponsibility, kümmern sich aber zum Teil nicht einen Deut um die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen in den Zu- lieferbetrieben. Diese und andere deutsche und europäische Unter- nehmen verkauften und verkaufen in Deutschland Wa- ren, die unter teilweise gravierenden Verletzungen der menschenrechtlichen, ökologischen und sozialen Stan- dards produziert wurden. Dazu gehören Fälle von Kin- derarbeit, Fälle, in denen die Löhne unter der absoluten Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar liegen, und Fälle, in denen die Arbeiterinnen und Arbeiter aufgrund der Ar- beitsbedingungen sterben oder schwer erkranken. Die Textilindustrie sticht dabei heraus; dort ist die Si- tuation besonders miserabel. Bei einer furchtbaren Feu- erkatstrophe in einer pakistanischen Textilfabrik starben im September 2012 mehr als 250 Menschen, weil die Fenster vergittert und die Türen verriegelt waren, damit niemand den Arbeitsplatz verlässt. Auch das deutsche Unternehmen KiK ließ dort produzieren. Die Verbrau- cherinnen und Verbraucher erfahren von diesen Miss- ständen zu wenig. Nur wenn ein besonders drastischer Skandal aufgedeckt oder eine besonders bekannte Marke betroffen ist, dringt dies in breite Bevölkerungs- gruppen durch. Doch fehlende Offenlegungspflichten belasten auch jene Firmen, die sich nichts zu Schulden kommen lassen. Auch im Interesse gleicher Wettbewerbsbedingungen ist eine gesetzliche Offenlegungspflicht daher notwendig. Denn die vorbildlichen Unternehmen leiden darunter, wenn sie im Wettbewerb mit Konkurrenten stehen, die Lohndumping, Zwangs- und Kinderarbeit sowie die Dis- kriminierung von Frauen tolerieren. Mehr Transparenz in der Geschäftstätigkeit nützt daher nicht nur den Men- schen in den Betrieben. Sie nützt auch den Betrieben sel- ber und damit der deutschen und europäischen Wirt- schaft. Zwar sind Berichtspflichten natürlich eine zusätzliche Aufgabe, die Unternehmen erfüllen müssen. Doch selbstverständlich wollen wir die Offenlegungs- pflicht so ausgestalten, dass den Kapazitäten von klei- nen und mittelständischen Unternehmen ausreichend Rechnung getragen wird. Die Kosten sind nicht hoch, und der Verwaltungsaufwand ist nicht groß. Die relevan- ten Daten werden von der überwiegenden Anzahl der Unternehmen bereits jetzt erhoben. Es ist auch im Inte- resse der Betriebe, eine klare Übersicht über menschen- rechtliche, ökologische und sozialpolitische Bedingun- gen ihrer Geschäftstätigkeit zu haben. Multinationale Unternehmen können einen erhebli- chen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung leisten, wenn Handel und Investitionen verantwortungsbewusst auch auf menschenrechtliche, soziale und ökologische Ziele ausgerichtet sind. Einige, wahrscheinlich sogar die meisten Unternehmen in Deutschland und Europa tun dies freiwillig. Die wenigen schwarzen Schafe aber müs- sen gesetzlich dazu verpflichtet werden, ihre Zuliefer- und Produktionsketten offenzulegen. Denn wer irrefüh- rendes Marketing, sogenanntes Greenwashing, verhin- dern möchte, braucht einheitliche und überprüfbare In- dikatoren. Diese sind über eine Vielzahl freiwilliger Kodizes nicht zu erreichen. Das geht nur über klare ge- setzliche Regelungen. Hier hat die Politik nicht nur eine Regelungskompetenz, hier hat sie sogar die Pflicht, menschen- und völkerrechtlichen Standards zur Geltung zu verhelfen. In den USA werden durch die Cardin-Lugar-Bestim- mung des Dodd-Frank-Act von 2010 Öl-, Gas- und Bergbauunternehmen verpflichtet, ihre projektbezoge- nen Zahlungen zu veröffentlichen. Das ist zwar nur ein kleiner Ausschnitt aller Unternehmen, aber immerhin ein Anfang. In Europa wurden im Oktober 2011 die Re- formen der Transparenzrichtlinie zur Aufnahme börsen- notierter Unternehmen und der Rechnungslegungsricht- line zur Aufnahme großer nicht börsennotierter Unternehmen veröffentlicht. Dies wurde auch als euro- päischer Dodd-Frank-Akt bezeichnet. Europäische Un- ternehmen, die in der Mineralgewinnung und der Forst- wirtschaft tätig sind, sollen demnach Zahlungen offenlegen, die sie an Regierungen für den Zugang und Abbau von Erdöl, Erdgas, anderen Bodenschätzen und Wald zahlen. Während sich EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich und Großbritannien auf europäischer Ebene für eine verpflichtende Offenlegung im Rohstoffsektor eingesetzt haben, blockiert die Bundesregierung nach wie vor diese Entwicklung. Es ist schon erstaunlich, dass die USA uns auf diesem Gebiet einen Schritt voraus sind. Es ist ja positiv, dass etwa das Bundesministerium für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung dem gro- ßen Komplex Wirtschaft und Menschenrechte mittler- weile etwas mehr Aufmerksamkeit schenkt; auf der großen Veranstaltung vor zwei Wochen anlässlich des ersten Geburtstages des Menschenrechtskonzepts im BMZ stand dieses Thema im Fokus. Dass die Bundesre- gierung aber weiterhin alle rechtlichen Verpflichtungen in diesem Bereich ablehnt, lässt ihr Engagement inkon- sequent und leider auch etwas unglaubwürdig erschei- nen. Es darf einfach nicht sein, dass Waren in Deutschland gehandelt werden, die unter menschenverachtenden Be- dingungen wie etwa im Sumangali-System produziert wurden. Es darf auch nicht sein, dass die hiesige Öffent- lichkeit noch nicht einmal die Chance hat, dies zu be- merken. Derzeit werden Verbraucherinnen und Verbrau- cher, die bewusst handeln wollen, in ihren Handlungs- möglichkeiten und im Wunsch, sich ethisch vernünftig zu verhalten, eingeschränkt; denn sie können einfach nicht in Erfahrung bringen, was woher stammt und wie es produziert wurde. Ich fordere die Bundesregierung da- her eindringlich dazu auf, Unternehmen gesetzlich zu verpflichten, Informationen zu menschenrechtlichen, so- zialen und ökologischen Aspekten ihrer Geschäftstätig- keit zu veröffentlichen. Zu Protokoll gegebene Reden

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11229, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/9567 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio- nen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfrak- tionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfeh- lung ist angenommen. Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/11319 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also die Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Wer stimmt für diesen Überwei- sungsvorschlag? - Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Ko- alitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Enthaltun- gen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Sozia- les. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/10957 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - Drucksache 17/11393 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Judith Skudelny Dorothea Steiner b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dorothea Steiner, Jerzy Montag, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen nach der EGRichtlinie 2003/35/EG ({1}) - Drucksache 17/7888 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) - Drucksache 17/8876 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Judith Skudelny Dorothea Steiner Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. - Sie sind damit einverstanden.

Dr. Thomas Gebhart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004038, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass das deutsche Recht derzeit hinter den Anforderungen zurückbleibt, wenn es um die gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten der deutschen Umweltverbände geht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung räumen wir diese Bedenken aus und billigen den Umweltverbänden wesentlich mehr Klagerechte zu. Bislang konnten Umweltverbände nur Verstöße gegen Umweltvorschriften geltend machen, die dem Schutz subjektivöffentlicher Rechte dienen. Nun können sie die Verletzung aller umweltrechtlichen Vorschriften rügen. Den Grünen gehen diese klaren Vorstellungen nicht weit genug. Wenn es nach ihrem Willen geht, sollen sogar Stiftungen Klageinstrumente an die Hand bekommen. Wir als Regierungskoalition lehnen dies ab. Um welche Entscheidungen geht es konkret, und welche Entscheidungen können angefochten werden? Es geht beispielsweise um Genehmigungsentscheidungen bei Infrastruktur- und Energieprojekten, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfen. Der Energieleitungsausbau, der in den kommenden Jahren erforderlich wird, ist davon erheblich betroffen. Es geht um Offshoreanlagen auf hoher See, deren Bau eine Umweltverträglichkeitsprüfung erfordert. Es geht um Speicherprojekte und vieles mehr. In diesen Fällen kann künftig beispielsweise eine behördliche Entscheidung auf die Zielsetzung der FFH-Richtlinie hin gerichtlich überprüft werden. Die Verletzung der Umweltvorschriften über die Artenvielfalt kann gerichtlich angefochten werden. Wir wollen bei diesen Projekten den bestmöglichen Schutz unserer Umwelt, und wir verstehen die Umweltverbände als Interessenschützer unserer Umwelt. Daher ist es im Grundsatz richtig, dass die gerichtliche Kontrolle effektiv und umfassend ist. Dies schreibt im Übrigen auch die Aarhus-Konvention vor, deren Vertragspartei Deutschland ist. Bereits heute werden zahlreiche Großprojekte gerichtlich angefochten. Dies kann zu erheblichen Verzögerungen führen, die mitunter mit hohen Kosten verbunden sind. Die Industrie und auch die Energiewirtschaft fürchten durch die Erweiterung der Verbandsklage weitere Verfahrensverzögerungen bei wichtigen Infrastruktur- und Energieprojekten. Dies kann Investitionsunsicherheit bedeuten. Diese wollen wir ausdrücklich nicht. Deutschland ist Industrieland, und wir wollen, dass Deutschland Industrieland bleibt. Wir wollen, dass weiterhin wichtige Infrastrukturvorhaben der Wirtschaft in Deutschland entstehen und Investitionsentscheidungen am Standort Deutschland getroffen werden. Wir wollen - und das ist Konsens in diesem Hohen Haus -, dass der Umbau unserer Energieversorgung gelingt. Wir stehen damit vor dem Erfordernis, den europarechtlichen Anforderungen zu genügen, die ökologischen Notwendigkeiten zu berücksichtigen und gleichzeitig die Bedenken etwa aus dem Bereich der Wirtschaft - nicht nur vor dem Hintergrund des Umbaus der Energieversorgung - ernst zu nehmen. Dieses Zieldreieck bringt der vorliegende Gesetzentwurf in Ausgleich. Wir setzen die europäischen Vorgaben in deutsches Recht um. Zugleich werden flankierende Maßnahmen eingeführt, die zu effizienten Verfahren führen sollen. Insbesondere soll Verzögerungen vorgebeugt werden. Klagen müssen etwa ausreichend begründet und bestimmte Fristen eingehalten werden. Der behördliche Beurteilungsspielraum bekommt ein stärkeres Gewicht. Zugleich werden die Anforderungen an die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen erhöht. Diese Regelungen werden künftig bei Rechtsbehelfen auf dem Gebiet des Umweltrechts auch für Individualkläger gelten. Nur so erfüllen wir die europarechtlichen Anforderungen. Die Regelungen sollen in der konkreten Ausgestaltung dazu beitragen, dass sich die Rahmenbedingungen bei Vorhaben, wie zum Beispiel Infrastrukturprojekten im Energie- oder im Verkehrsbereich, nicht so verändern, dass sich diese kaum noch durchsetzen lassen. In der Anhörung des Umweltausschusses mit Sachverständigen wurde deutlich, dass diese flankierenden Maßnahmen europarechtskonform und wichtig sind. Es wurde sogar geäußert, dass man hätte weiter gehen können. Die flankierenden Maßnahmen sind eine Teilantwort auf die Befürchtung, dass die erweiterten Klagemöglichkeiten zu mehr Investitionsunsicherheit führen. Ich kann an dieser Stelle daher nur an die Opposition und den Bundesrat appellieren, diese flankierenden Maßnahmen zu unterstützen. Im Übrigen greifen wir in drei unserer Änderungsanträge Anliegen des Bundesrates auf. Wir werden sehr genau beobachten, wie sich die neuen gesetzlichen Regelungen in der Praxis auswirken werden. Wir werden insbesondere beobachten, ob es zu einer Häufung von Klagen kommt und inwiefern die Gerichte ausreichend ausgestattet sind. Vor dem Hintergrund der erweiterten Klagebefugnisse müssen wir uns außerdem die Frage stellen: Wie können wir es schaffen, dass es erst gar nicht zur Klage kommt? Wie schaffen wir es, sowohl neue Energieleitungsnetze zu bauen als auch die Bürger- und Umweltinteressen zu wahren? Eine generelle Antwort auf die Sorge, dass es am Ende der Entscheidungsprozesse zu mehr Klagen und Verzögerungen kommen könnte, muss heißen: Wir müssen künftig bei wichtigen Infrastrukturprojekten am Anfang des Entscheidungsprozesses die Betroffenen stärker einbinden und für Transparenz sorgen. Die Planungen von Großvorhaben müssen offengelegt, die Alternativen abgewogen werden, und schlussendlich muss entschieden werden. Diese Entscheidungen sollten dann auch Bestand haben. Ich sage nicht, dass diese Entscheidungen dann grundsätzlich nicht mehr angefochten werden. Durch die frühzeitige Einbindung und eine erhöhte Transparenz verringern wir aber die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt zu Klagen kommt. Wir können damit auch das Vertrauen in unsere demokratischen Entscheidungsprozesse und -ergebnisse stärken. Ich möchte an dieser Stelle eine Aussage Heiner Geißlers anführen, der als Schlichter beim gefährdeten Großprojekt Stuttgart 21 hervorragende Arbeit geleistet hat. Heiner Geißler hat gesagt: „Man kann doch nicht dauernd in Entweder-Oder-Kategorien denken, sondern es gibt auch das Denken Sowohl-Als-Auch.“ So ist es. Durch eine transparente Einbindung der Öffentlichkeit am Anfang des Entscheidungsprozesses ergeben sich nicht zuletzt neue Möglichkeiten, Kompromisse auszuloten. Wir wollen die Akzeptanz von sinnvollen Vorhaben steigern und eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung schaffen. Wir wollen, dass die Umwelt geschützt wird und Deutschland Industrieland bleibt. Ich kann nur für Ihre Zustimmung zum UmweltRechtsbehelfsgesetz und für diesen Weg werben.

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften wird - darüber bin ich sehr betrübt - wohl nicht nur kein Fortschritt in der Beteiligungskultur in der Bundesrepublik Deutschland erzielt werden. Es wird mit Ihrer Novelle sogar zu einem Rückschritt bei der Einbeziehung von Stakeholdern vor Ort kommen. Schlimmer noch: Es wird zu weitreichenden Eingriffen in geltende Rechtsdogmatiken kommen, die Sie hier und heute in ihren langfristigen Auswirkungen gar nicht erfassen können. In der Summe wird der unendlichen Geschichte der Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof wegen der unzureichenden Umsetzung völker- und europarechtlicher Vorgaben bei der Beteiligung von Umweltverbänden und natürlichen Personen an Planungs- und Genehmigungsverfahren einfach ein weiteres Kapitel hinzugefügt. Zu Protokoll gegebene Reden Die Anhörung im Umweltausschuss hat sehr deutlich gezeigt, dass es bei den anwesenden Experten und bei den Berufsverbänden der Verwaltungsrichter und Anwälte massive Bedenken wegen der Einschränkung der Beteiligungsrechte der anerkannten Umweltverbände sowie von Einzelpersonen gibt. Der Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb ist geprägt von einem tiefen Misstrauen der Wirtschaft und des Wirtschaftsministeriums gegenüber dem Einbringen von Sachverstand in die Planungs- und Genehmigungsverfahren durch die Verbände. Mit der sechswöchigen Klagebegründungsfrist und der Präklusionsregelung werden die Hürden für die Verbände unnötig hoch gehängt; zu der behaupteten Verfahrensverkürzung führt dies nicht. Darüber hinaus werden durch die Modifizierung der Verwaltungsgerichtsordnung die Einschränkung und Verschärfung des gerichtlichen Prüfmaßstabes zugunsten des Vorhabens bezweckt. Besonders problematisch ist die Regelung hinsichtlich des einstweiligen Rechtsschutzes, wonach dieser nur noch bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Vorhabens gewährt werden soll. Eine Interessenabwägung der Vollzugsfolgen scheint dagegen überhaupt nicht mehr gewollt zu sein. Diese Regelungen werden sogar auf den Rechtsschutz von Individualklägern ausgedehnt. Das ist im Hinblick auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes sehr bedenklich. Selbst in der Sitzung des Umweltausschusses haben die Berichterstatter der Koalition durch ihre Wortbeiträge dokumentiert, dass sie kein Interesse an einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dieser rechtlich komplexen Materie besitzen. „Augen zu und durch“ ist die Devise. Diese Haltung möchte ich an einem Beispiel illustrieren. Frühere Entwürfe der Novelle zum Umweltrechtsbehelfsgesetz sahen Regelungen zu Umweltverträglichkeitsprüfungen beispielsweise im Bereich des Fracking vor. Obwohl - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - bereits zwei Ihrer Umweltminister über mehrere Jahre durch die Lande ziehen und versprechen, gesetzliche Regelungen zum Umgang mit Fracking vorzulegen, wurden die einschlägigen Passagen aus dem Entwurf herausgestrichen. „Augen zu und durch“, wir lassen die Unternehmen einfach mal machen und denjenigen, die sich mit ihrem Sachverstand gegen mögliche Vorhaben aussprechen könnten, verpassen wir einen Maulkorb! Die Wirtschaftsverbände und das Wirtschaftsministerium verkennen bei ihrem Kampf gegen die Verbände, dass gerade die Organisationen vor Ort über große Datenmengen zu Fauna und Flora des von einer Planung betroffenen Gebiets verfügen, die betroffenen Habitate sehr gut kennen und daher auch besser geeignete alternative Standorte oder umweltverträglichere Lösungsmöglichkeiten aufzeigen können. Sie können damit einen konstruktiven Beitrag zur Realisierung eines Projektes leisten. Ausgrenzung der Verbände statt Kooperation mit ihnen ist die Maxime der Bundesregierung - eine Vorgehensweise, die nicht von Erfolg gekrönt sein wird: nicht nur, weil dieses Denken und Handeln überhaupt nicht dem Sinn und den Buchstaben der Aarhus-Konvention, den Richtlinien zur Öffentlichkeitsbeteiligung und zum Zugang zu Gerichten entsprechen, sondern auch, weil im Jahre 2012 nach den Erfahrungen mit Stuttgart 21 und anderen Großprojekten einfach ein anderer Umgang mit den betroffenen Bürgern und Bürgerinnen und den Umweltverbänden dringend erforderlich ist. Die Bundesregierung wird aus Schaden nicht klug, sondern versucht einfach weiter, Störenfriede möglichst schnell mundtot zu machen. Dass sich aufgrund einer solchen Vorgehensweise erst recht Widerstand regen wird und sich Bürgerinitiativen vor Ort umso stärker engagieren werden, je öfter man ihnen mit Missachtung begegnet, scheint in die Überlegungen von Schwarz und Gelb keinen Eingang gefunden zu haben. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns zum Ziel gesetzt, die Planungs- und Genehmigungsverfahren zu öffnen und sie den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anzupassen. Das dazu erarbeitete Papier, das Bürger und Verbände bei der Vorhabenplanung auf Augenhöhe von Anfang an einbezieht, ihre Anliegen ernst nimmt und das ganze Verfahren transparent und nachvollziehbar macht, wurde mit großer Zustimmung breit diskutiert. Durch eine frühzeitige, gleichberechtigte Einbeziehung aller Stakeholder werden Verfahrensfehler minimiert, die Verfahren mit geringerer Wahrscheinlichkeit beklagt und damit insgesamt verkürzt. Man sollte auch erwähnen: Damit wird es insgesamt sehr viel billiger für den Vorhabenträger. Dieser neue Ansatz bedeutet einen Paradigmenwechsel: weg vom Planen hinter verschlossenen Türen, hin zu einem transparenten, auf Dialog ausgerichteten Verfahren. Solange die Bundesregierung nicht begreift, dass sich Bauprojekte nur mit den Bürgerinnen und Bürgern und den Verbänden und nicht gegen sie realisieren lassen, und solange sie diese nur als Störfaktor betrachtet und sie mit gesetzlichen Einschränkungen ihrer Beteiligung überzieht, werden große Infrastrukturprojekte wie die Energiewende nur schwerlich zu realisieren sein. Außerdem wird sich die Bundesregierung wohl noch öfter auf der Anklagebank des EuGH wiederfinden.

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kernpunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Umsetzung des sogenannten Trianel-Urteils des EuGH vom 12. Mai 2011. Darin hat der EuGH die umweltrechtliche Verbandsklage nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz als europarechtswidrig beurteilt, da anerkannte Umweltverbände nur solche Verstöße gegen Umweltvorschriften geltend machen können, die dem Schutz Dritter dienen. Der EuGH hat dies damit begründet, dass nach Art. 10 a der UVP-Richtlinie, mit dem die Europäische Union Vorschriften der UNECE Aarhus-Konvention über den Gerichtszugang in Umweltangelegenheiten umgesetzt hat, Umweltverbände die Möglichkeit erhalten müssen, die Verletzung aller für die Zulassung von Vorhaben maßgeblichen Umweltvorschriften gerichtlich geltend zu machen, die auf dem Unionsrecht basieren. Anerkannten Umweltverbänden ist danach in Umweltangelegenheiten ein weiterer Zugang zu den Gerichten Zu Protokoll gegebene Reden zu gewähren. Es bedarf somit einer Anpassung des deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorgaben. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht eine Aufhebung dieser Einschränkung vor. Danach können Umweltvereinigungen künftig Verletzungen aller umweltrechtlichen Vorschriften rügen, auch die Beachtung eines vorsorgenden Umweltschutzes beispielsweise im Bereich der Luftreinhaltung und des Artenschutzes. Dies bedeutet eine deutliche Ausweitung der bisherigen umweltrechtlichen Verbandsklage. Die Herausforderung bei der Novellierung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes besteht darin, einen Ausgleich zwischen der europarechtlich gebotenen Ausweitung der Verbandsklage und der Umsetzung bzw. Verfahrensbeschleunigung von dringend notwendigen Infrastrukturprojekten zu schaffen. Denn es ist zu befürchten, dass durch die Ausweitung der Verbandsklage die Genehmigungsdauer für Projekte noch weiter zunimmt und auch die Kosten für diese weiter steigen. Hierdurch könnte für Deutschland ein erheblicher Wettbewerbsnachteil entstehen. Diese Interessen will der vorliegende Gesetzentwurf gleichermaßen berücksichtigen. Insbesondere soll verhindert werden, dass das Instrument der Verbandsklage in der Praxis zu sachlich ungerechtfertigten Verzögerungen von Vorhaben instrumentalisiert wird. Als Ausgleich für die europarechtlich notwendige Erweiterung der umweltrechtlichen Verbandsklage sollen daher künftig bei Rechtsbehelfen auf dem Gebiet des Umweltrechts bestimmte verwaltungsprozessuale Regelungen, § 4 a UmwRG, gelten. Diese sollen aus europarechtlichen Gründen nicht nur bei Verbandsklagen, sondern auch bei Individualklagen zur Anwendung kommen. Diese Maßnahmen sind auch der Knackpunkt der Differenzen mit der Opposition. Hierbei handelt es sich zum einen um die Einführung einer sechswöchigen Klagebegründungsfrist; diese ist notwendig. Die Umsetzung des Trianel-Urteils wird unbestritten zu einer Ausweitung der Klagerechte anerkannter Umweltvereinigungen führen. Diese können mit der Novellierung auch vorsorgenden Umweltschutz einfordern, beispielsweise in Bezug auf Luftreinhaltung und Artenschutz. Diese Ausweitung ist europarechtlich geboten und richtig. Jedoch brauchen wir bestimmte ausgleichende Regelungen. Schon jetzt dauern Planungsund Genehmigungsverfahren in Deutschland zu lange. Das können wir uns spätestens vor dem Hintergrund der Umsetzung der Energiewende nicht leisten. Dabei ist die Einführung einer sechswöchigen Klagebegründungsfrist weder europarechtswidrig noch Sonderrecht außerhalb der Verwaltungsgerichtsordnung, wie die Opposition behauptet. Denn es gibt diese Klagebegründungsfrist seit Jahren unbeanstandet in vielen Fachplanungsgesetzen, beispielsweise im Allgemeinen Eisenbahngesetz und im Bundesfernstraßengesetz. Außerdem ist in dem vorliegenden Gesetzentwurf sogar eine Möglichkeit zur Verlängerung der Frist durch das Gericht vorgesehen. Als weitere verwaltungsprozessuale Regelung wird der gerichtliche Prüfungsmaßstab gemäß § 80 Abs. 5 VwGO modifiziert, wonach Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Maßnahme bei einer summarischen Prüfung „ernstliche“ sein müssen. Es ist wichtig und richtig, dass eine solche Modifizierung des Prüfungsmaßstabes im Eilverfahren erfolgt, um rechtssichere und schnelle Entscheidungen herbeizuführen, die zu Planungs- und Investitionssicherheit für alle Beteiligten führen, auch für den Fall, dass ein Vorhaben nicht verwirklicht werden kann. Das beste Beispiel, dass dies mit dem geltenden Prüfungsmaßstab nicht gelingt, ist der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Oktober zur Elbvertiefung. Hier wurde nach Maßgabe des alten Prüfungsmaßstabes der Ausbau der Elbvertiefung mit drei Sätzen Begründung abgelehnt. Dies kann aufgrund der großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung eines solchen Vorhabens nicht richtig sein. Hier geht es um Planungs- und Investitionssicherheit für beide Seiten. Es kann weder im Interesse von Investoren und Planern noch im Interesse der Bürger und der Umweltverbände sein, dass keine ordentliche Interessenabwägung vorgenommen wird und der Ausgang eines solchen Vorhabens offen bleibt und möglicherweise um mehrere Jahre verzögert wird. Die Verbandsklage bezieht sich auf nahezu alle industrierelevanten Entscheidungen, wenn mit ihr behördliche Entscheidungen bei UVP-pflichtigen Vorhaben, Genehmigungen für Anlagen nach einem förmlichen immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, wasserrechtliche Erlaubnisse und Planfeststellungsbeschlüsse für Deponien angegriffen werden können. Dies zeigt die große praktische Relevanz und Bedeutung dieses Gesetzentwurfs, insbesondere vor dem Hintergrund der Herausforderungen im Rahmen der Energiewende. Als liberale Partei wollen wir in Deutschland Vorhaben verwirklichen und nicht ausbremsen. Durch die in dem Gesetzentwurf der