Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
({0})
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie. Ich freue mich über die offenkundig besonders gute Stimmung und werde mit Interesse verfolgen,
wie lange sie anhält.
({1})
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
dem Kollegen Hans-Joachim Otto im Namen des ganzen Hauses herzlich zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den er vor wenigen Tagen gefeiert hat.
({2})
Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung bedauerlicherweise erneut eine Schriftführerwahl durchführen.
({3})
- Ich stelle mit besonderer Verblüffung fest, dass die
größte einzelne Empörung über diesen Vorgang aus den
Reihen der Linken zu registrieren ist. Denn genau diese
Fraktion schlägt vor,
({4})
für die Kollegin Sabine Stüber die Kollegin Kathrin
Vogler als Schriftführerin zu wählen.
({5})
- Sie werden sich hoffentlich etwas dabei gedacht haben. - Ich darf einmal fragen, ob auch die anderen Abgeordneten mit diesem Vorschlag einverstanden sind. Das sieht so aus. Dann ist die Kollegin Kathrin Vogler
als neue Schriftführerin gewählt. Herzlichen Glückwunsch!
({6})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Haltung der Bundesregierung zu Residenzpflicht und Sondergesetzen für Flüchtlinge sowie Asylbewerberinnen und Asylbewerber
({7})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 49
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Markus
Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bilaterale Verhandlungen aufnehmen zur
unverzüglichen Stilllegung besonders gefährlicher grenznaher Atomkraftwerke in
Frankreich
- Drucksache 17/11206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Swen Schulz
({9}), Willi Brase, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Für einen breiten Qualitätspakt in der Reform der Lehrerbildung
- Drucksache 17/11322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Carsten Sieling, Ingrid Arndt-Brauer,
Präsident Dr. Norbert Lammert
Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Finanztransaktionsteuer im Rahmen einer
verstärkten Zusammenarbeit einführen
- Drucksache 17/11321 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Stephan Kühn, Markus Tressel, Dr. Anton
Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationalen Radverkehrsplan 2020 zum ambitionierten Aktionsplan der Radverkehrsförderung weiterentwickeln
- Drucksache 17/11357 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({12})
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({13}), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Residenzpflicht abschaffen
- Drucksache 17/11356 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 50
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Nachhaltigkeitsstrategie weiter-
entwickeln und stärker institutionell in der EU
verankern
- Drucksache 17/11329 -
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Jahrestag des Bekanntwerdens der NSU-Ter-
rorzelle - Zwischenbilanz der Ermittlungs-
pannenaufklärung und Stand des Kampfes ge-
gen den Rechtsextremismus
ZP 5 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas
Oppermann, Christian Lange ({15}), Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker
Beck ({16}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz bei Nebeneinkünften herstellen
durch Veröffentlichungspflicht auf Euro und
Cent
- Drucksache 17/11331 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas
Oppermann, Christian Lange ({17}), Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker
Beck ({18}), Britta Haßelmann, Ingrid
Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nebentätigkeiten transparent machen - Branchen kennzeichnen
- Drucksache 17/11332 ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
„Karenzzeit“ für ehemalige Bundesminister
und Parlamentarische Staatssekretäre in Anlehnung an EU-Recht einführen
- Drucksache 17/11318 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Karin Roth ({19}), Elvira
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Transparenz für soziale und ökologische Unternehmensverantwortung herstellen - Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von
Arbeits- und Umweltbedingungen auf europäischer Ebene einführen
- Drucksache 17/11319 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des AZR-Gesetzes
- Drucksache 17/11051 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({21})
- Drucksache 17/11364 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({22})
Ulla Jelpke
Memet Kilic
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 9 a)Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes ({23})
- Drucksache 17/9917 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({24})
- Drucksache 17/11404 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Caren Marks
Florian Bernschneider
Diana Golze
Ekin Deligöz
Bericht des Haushaltsausschusses ({25})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11405 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Mattfeldt
Rolf Schwanitz
Dr. Florian Toncar
Steffen Bockhahn
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({26})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld
- zu dem Antrag der Abgeordneten Diana
Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Betreuungsgeld nicht einführen - Öffentli-
che Kinderbetreuung ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Betreuungsgeld einführen - Kinder
und Familien durch den Ausbau der Kin-
dertagesbetreuung fördern
- Drucksachen 17/9572, 17/9582, 17/9165,
17/11404 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Caren Marks
Florian Bernschneider
Diana Golze
Ekin Deligöz
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Betreuungsgeldgesetzes ({27})
- Drucksache 17/11315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({28})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in
Deutschland endlich verwirklichen
- Drucksache 17/10117 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({29})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 11 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen
- Drucksachen 17/10747, 17/10799 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({30})
- Drucksache 17/11396 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Gesundheit
({31})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Praxisgebühr abschaffen - Hausärztin-
nen und Hausärzte stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Praxisgebühr sofort abschaffen
Präsident Dr. Norbert Lammert
- zu dem Antrag Harald Weinberg,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Praxisgebühr abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Praxisgebühr jetzt abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse
für Abschaffung der Praxisgebühr nut-
zen
- zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt
abschaffen
- Drucksachen 17/10784, 17/9189, 17/11192,
17/9031, 17/11141, 17/9408, 17/11179, 17/11396 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 41, 46 a,
46 b und 47 abgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den
in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderun-
gen des Ablaufs.
Sind Sie auch damit einverstanden? - Das sieht ganz
so aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitsrechts ({32})
- Drucksache 17/11316 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({33})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit im Verein
- Drucksache 17/5713 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({34})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
darf ich Einvernehmen feststellen. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Christian von Stetten für die CDU/CSU-Fraktion.
({35})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem heute von den Regierungsfraktionen im Deutschen
Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf zur Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitsrechts haben die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ein Versprechen eingelöst, welches sie den Vereinsvertretern
und den damals betroffenen ehrenamtlich Tätigen während der Zeit der Großen Koalition gegeben haben. Wir
haben damals bei den Berichterstattergesprächen zu dem
Gesetz mit dem Arbeitstitel „Hilfen für Helfer“ nicht alle
Punkte unterbringen können, welche wir mit den Ehrenamtlichen eigentlich besprochen hatten und welche wir
in diesem Gesetz gern untergebracht hätten. Das galt insbesondere für die weitere Beseitigung von Bürokratie
und für Fragen der Haftung von Vereinsvorständen.
Dies holen wir heute nach. Wir legen gemeinsam mit
unserem Koalitionspartner, der FDP, ein umfangreiches
Gesetzesvorhaben vor. In diesem Zusammenhang darf
ich mich besonders bei unseren beiden Bundesministern
Dr. Wolfgang Schäuble und Frau LeutheusserSchnarrenberger bedanken. Sie haben sich beide an den
Gesprächen persönlich beteiligt und das heute vorliegende Gesetzespaket ermöglicht.
({0})
Dieser Gesetzentwurf wurde bereits im Oktober im Bundeskabinett beschlossen. Herzlichen Dank für diese umfangreiche Hilfe der Ministerien!
({1})
Ich lade aber auch alle Kolleginnen und Kollegen der
Opposition recht herzlich ein, diesen Gesetzentwurf in
den nächsten Wochen nicht nur intensiv zu beraten, sondern auch dazu beizutragen, dass wir ihn gemeinsam
verabschieden. Weitere Vorschläge zur Entbürokratisierung sind also jederzeit herzlich willkommen. Wenn Sie
den Gesetzentwurf gelesen haben, ist Ihnen auch aufgefallen: Wir haben bereits wesentliche Anregungen des
Bundesrates in den Gesetzentwurf einfließen lassen. Ich
glaube, es wäre ein gutes Zeichen, wenn wir am Ende
der Beratungen, am Ende der Debatten zu diesem Gesetzentwurf den Bürgerinnen und Bürgern unseres LanChristian Freiherr von Stetten
des zeigten, dass wir es mit der Förderung des Ehrenamts gemeinsam ernst meinen und nicht nur in
Sonntagsreden darüber sprechen.
({2})
Ziel des Gesetzes und, ich glaube, aller Fraktionen
hier im Parlament ist es, den ehrenamtlich engagierten
Bürgerinnen und Bürgern sowie den steuerlich begünstigten Körperschaften ihr wichtiges Arbeiten durch Entbürokratisierung, Konkretisierung und Flexibilisierung
der rechtlichen Rahmenbedingungen zu erleichtern. Da
bürgerschaftliches Engagement zu großen Teilen in Vereinen und Stiftungen geschieht, benötigen diese einen
besseren und einen verlässlicheren Rahmen für ihre Tätigkeiten. Das gilt insbesondere für die Punkte, die heute
im Erlasswege geregelt werden. Es ist für Ehrenamtliche
schon schwierig genug, wenn sie sich durch Gesetzestexte wühlen müssen; aber völlig unverständlich ist es,
wenn wichtige Punkte gar nicht mehr im Gesetz zu lesen
sind, sondern seit Jahren über Erlasse geregelt werden.
Diesen unhaltbaren Zustand wollen wir beenden. Da
freuen wir uns auf die Zustimmung der Opposition.
({3})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Anhebung der
Freibeträge für die nebenberufliche ehrenamtliche Tätigkeit zum 1. Januar 2013. Die Inkraftsetzung zum 1. Januar 2013 ist uns wichtig. Sie kann selbst dann passieren, wenn die letzte Beratung im Bundesrat erst nach
diesem Datum stattfindet. Ich glaube, positive Maßnahmen können auch rückwirkend in Kraft treten. Da all die,
die eine Steuererklärung für das Jahr 2013 abgeben, dies
frühestens im Jahr 2014 tun werden, dürfte das auch von
daher kein Problem sein.
Den sogenannten Übungsleiterfreibetrag wollen wir
um rund 15 Prozent von 2 100 Euro auf 2 400 Euro erhöhen. Den sogenannten Ehrenamtsfreibetrag für Vorstandsmitglieder, Schiedsrichter, Platzwarte oder besonders engagierte Helfer im Verein wollen wir um satte
44 Prozent von 500 Euro auf 720 Euro erhöhen. Diese
Erhöhung ist sicherlich ein deutlicher Schritt. Wie bei allen anderen steuerlichen Maßnahmen, die in unserem
Paket sind, sind wir aber auch hier der Überzeugung,
dass das wichtige Investitionen in unsere Gesellschaft
sind; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die kulturelle und soziale Bedeutung der Vereine ist in den letzten
Jahren noch einmal stark gestiegen.
Wer sich in funktionierenden Vereinen aufhält, der
spürt eine Art Wärme, ja fast schon zum Teil familiäre
Atmosphäre, und in einigen Bereichen sind die Vereine
bereits zu einer Art Ersatzfamilie für Kinder geworden.
Besonders bei der Integration der ausländischen Jugendlichen in unserem Lande leisten die Vereine einen wesentlichen Beitrag. Deswegen sind wir der festen Überzeugung, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind.
({4})
Es ist besonders hervorzuheben, dass die Übungsleiter in unseren Sportvereinen schon längst mehr sind als
nur gut ausgebildete und durchtrainierte Vorturner. Sie
kümmern sich auch immer mehr um die persönlichen
Probleme der Jugendlichen, die ihnen anvertraut sind.
Viele Jugendliche erfahren im Verein das erste Mal, wie
wichtig Pünktlichkeit, Fairness, aber auch Kameradschaft untereinander sind. Auch deswegen haben wir unser Hauptaugenmerk auf diese ehrenamtlich tätigen
Übungsleiter gelegt und sind uns sicher, dass die Gesellschaft das doppelt zurückerhält.
Haftungsrisiken sind ein anderes wichtiges Thema für
uns. Es ist dringend notwendig, dass wir das jetzt regeln.
Da Veränderungen bei den Haftungsrisiken der einzelnen Vorstandsmitglieder uns bei der letzten Gesetzesreform leider nicht gelungen sind, ist es umso wichtiger,
dass wir dies nun regeln. Die Haftung bei der zweckwidrigen Verwendung von Spendengeldern wollen wir an
die allgemein übliche Haftung in anderen Rechtsbereichen angleichen. Das heißt, künftig werden Fehler nur
dann zu Konsequenzen führen, wenn ehrenamtlich Tätige Spendengelder mit Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit zweckwidrig verwendet haben.
Damit wird den engagierten Bürgerinnen und Bürgern
unserer Gesellschaft der Schritt zur ehrenamtlichen Verantwortung deutlich leichter fallen. Natürlich stellen wir
auch klar: Wer schwere Fehler macht oder kriminell handelt, wird auch zukünftig zur Verantwortung gezogen
werden. Aber derjenige, der sich engagieren will und bereit ist, ein Vorstandsamt anzunehmen, soll dies mit einem guten Gefühl tun und nicht die ständige Angst haben, dass er ein unkalkulierbares persönliches oder
finanzielles Risiko eingeht. Das darf kein Grund sein,
dass man ein Vorstandsamt nicht annimmt.
({5})
Auch für die Stiftungen und deren Stifter schlagen wir
heute eine Verbesserung der Rahmenbedingungen vor.
Wir sind weltweit - das ist bekannt - schon jetzt das
Land der Ehrenamtlichen. Millionen von Bürgern engagieren sich bei uns. Wir sind aber auch auf einem guten
Weg, das Land der Stifter und der Stiftungen zu werden.
Diesen Weg wollen wir erfolgreich weitergehen und
danken allen Stiftern, die ihr Vermögen zum Wohl der
Allgemeinheit einsetzen.
Den Weg hierzu, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Opposition, wollen wir gemeinsam mit Ihnen gehen.
Den heute vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir in den
nächsten Wochen ausführlich diskutieren. Wir wollen
- das betone ich zum Abschluss noch einmal ausdrücklich - auch mit Ihnen gemeinsam zu einem positiven Ergebnis kommen. Wir machen heute einen Anfang. Ich
glaube, es ist ein guter Tag für das Ehrenamt in Deutschland.
Herzlichen Dank
({6})
Petra Hinz ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Guten Morgen, lieber Herr Präsident. - Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Es ist richtig: Wir haben in
der letzten Legislaturperiode gemeinsam an dem Gesetz
zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements gearbeitet. Ich glaube, es war ein großer Schritt.
Nach der Arbeit in der Enquete-Kommission mit über
200 Anregungen, der Arbeit im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ zum Sport- und Kulturbereich
ist das, was wir in diesem Gesetz gemeinsam gebündelt
haben, der richtige Weg. Es war, wie ich finde, ein fulminanter Start für bürgerschaftliches Engagement. Es ist
dann nur folgerichtig, wenn wir daran jetzt weiter arbeiten. Ihr Angebot und Ihre ausgestreckte Hand zur Zusammenarbeit nehmen wir sehr gern an. Sie werden aber
sicherlich auch verstehen, dass wir noch andere Schwerpunktsetzungen haben und dass das eine oder andere
kritisch zu hinterfragen ist; denn das, was Sie in dem
Gesetzentwurf vorgesehen haben, wurde bei den Beratungen in der zurückliegenden Legislaturperiode kritisch
diskutiert. Dort gab es einige Abwägungen, die wir in
den jetzt anstehenden Verhandlungen berücksichtigen
müssen. Dazu komme ich später noch in meinen Ausführungen.
Ich gebe allen recht, die heute darauf aufmerksam
machen, dass wir gemeinsam im Rahmen des Internationalen Tages des Ehrenamtes, der am 5. Dezember begangen wird, das Ehrenamt und damit die über 23 Millionen
Menschen, die sich für unsere Gesellschaft und damit für
uns alle ehrenamtlich starkmachen, besonders anerkennen und würdigen sollten. Diese wollen nämlich - das
möchte ich in dieser Diskussion insbesondere deutlich
machen - keine Entgeltumwandlung, keine Entlohnung
oder etwas Ähnliches, sondern eine Würdigung. Darüber
hinaus wollen sie nur, dass ihr Aufwand entlohnt wird.
Aus meinen Ausführungen können Sie entnehmen, dass
wir sehr genau aufpassen müssen, dass es beim Ehrenamt bleibt und nicht möglicherweise etwas anderes hineininterpretiert wird.
({0})
Viele von uns, wenn nicht sogar alle, werden am
5. Dezember, wie ich gesagt habe, das Ehrenamt würdigen. Wir werden sehr viele Ehrungen vornehmen, und
zwar zu Recht.
Wir werden bei den Beratungen dieses Gesetzentwurfes im Ausschuss und bei einer Anhörung aber noch andere Prioritäten setzen. Wir werden Sie fragen, wie Sie
auf die Erhöhung der Übungsleiterpauschale von 2 100
Euro auf 2 400 Euro kommen. Auch die Anhebung der
Zweckbetriebsgrenze werden wir hinterfragen. Das sind
einige Themen, die wir ansprechen werden.
Ein Punkt - er ist vielleicht verräterisch, vielleicht
aber auch nur missverständlich - betrifft nicht das eigentliche Gesetz, sondern nur dessen Begründung. Die
Begründung erklärt ja das, was im Gesetz steht. Dort
schreiben Sie - ich zitiere -:
Bürgerschaftliches Engagement hilft wirtschaftliches Wachstum, gesellschaftliche Integration,
Wohlstand sowie stabile demokratische Strukturen
auch für die Zukunft zu erhalten und zu verbessern.
Bis hierhin können wir uns noch einig sein. Aber dann:
In Zeiten knapper öffentlicher Kassen gewinnt die
Förderung und Stärkung der Zivilgesellschaft an
Bedeutung, denn die öffentliche Hand
- jetzt kommt es wird sich wegen der unumgänglichen Haushaltskonsolidierung auf ihre unabweisbar notwendigen
Aufgaben konzentrieren müssen.
Wenn Sie es tatsächlich so meinen, wie es da steht,
haben wir ein Problem. Denn wir sehen den ehrenamtlichen Bereich nicht als Kompensation für falsche Prioritätensetzung
({1})
oder für verfehlte Wahrnehmung der politischen Verantwortung, sondern das Ehrenamt soll ein Ehrenamt bleiben. So verstehen es auch diejenigen, die ehrenamtlich
tätig sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein ganz
wichtiger Punkt, und die Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, achten sehr genau darauf. Sie sind zu Recht sehr
sensibel, wenn wir Politiker - insbesondere Sie während
Ihrer Regierungszeit - den Eindruck erwecken, dass wir
beim Hauptamt sparen, kürzen, den Kommunen das
Geld wegnehmen und letztendlich auf Umwegen das Ehrenamt an Stelle des Hauptamtes setzen. Diesen Eindruck dürfen wir nicht erwecken. Ich gebe Ihnen recht:
Die Ehrenamtlichkeit bringt dem Staat ein Vielfaches
wieder zurück, aber bitte nicht auf diesem Weg. Das
muss im Laufe der Beratungen noch klargestellt werden.
({2})
Ich möchte noch einmal betonen, dass bürgerschaftliches Engagement kein Reparaturbetrieb dafür sein
kann, was die Politik versäumt hat, sondern ganz im Gegenteil eine zusätzliche Komponente. So verschieden die
Ehrenämter auch sind, so unterschiedlich und vielfältig
müssen wir sie unterstützen und fördern. Für dieses Engagement zum Zusammenhalt der Gesellschaft möchte
ich an dieser Stelle für meine Fraktion noch einmal ein
ganz herzliches Dankeschön sagen.
Unsere Aufgabe ist es unter anderem auch, zur Stärkung und zur Förderung der Zivilgesellschaft Impulse zu
setzen. In diesem Zusammenhang schaue ich insbesondere in Richtung der FDP. Herr Wissing hat in seinen
Ausführungen in der letzten Wahlperiode sehr deutlich
gemacht, wie er über das Gesetz zur weiteren Stärkung
des bürgerschaftlichen Engagements denkt.
({3})
- Lesen Sie einmal die Protokolle, bevor Sie sich jetzt
äußern. Herr Wissing schaut schon weg; er weiß, was
jetzt kommt.
({4})
Petra Hinz ({5})
Er hat nämlich gesagt, es sei einfach nur eine Aufsattelung bereits bestehender Beträge, aber von den Strukturen her sei nichts in Angriff genommen worden.
({6})
- Herr Wissing, Sie machen jetzt in einigen Bereichen
nichts anderes. Sie wollen die Übungsleiterpauschale
von 2 100 Euro auf 2 400 Euro anheben, Sie bieten an,
die Ehrenamtspauschale von 500 Euro auf 720 Euro anzuheben. Ich vermisse hier jedoch noch etwas Gehaltvolleres, nämlich wie Sie mit denjenigen umgehen, die
nicht steuerlich veranlagt sind und die letztendlich nicht
davon profitieren können.
({7})
Ich denke beispielsweise an die Menschen, die Vorleseaktionen durchführen und hierfür noch nicht einmal ihre
Fahrtkosten erstattet bekommen, weil es dafür keine
Kostenstelle gibt. Ich gebe Ihnen insofern recht, dass
jetzt ein weiterer Schritt getan ist; es gibt jedoch noch
eine ganze Menge zu tun und auf den Weg zu bringen.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle mit den Worten von
Michael Bürsch, der gemeinsam mit meiner Kollegin
Ute Kumpf in den letzten Legislaturperioden sehr engagiert in der Enquete-Kommission und im Unterausschuss gearbeitet hat, das Thema noch einmal in drei
Punkten zusammenfassen.
Erstens. Wir wollen den Schutz der Engagierten. In
den zurückliegenden Legislaturperioden haben wir bereits einige große Schritte unternommen, unter anderem
mit der Unfallversicherung, der Übungsleiterpauschale
usw. Diese Regelungen umfassen nicht nur den Sportbereich, sondern wir haben in der letzten Legislaturperiode
Erweiterungen vorgenommen, sodass auch andere Bereiche hierauf zugreifen können.
({9})
Zweitens. Wir müssen trotz der vorgesehenen Regelungen noch stärker auf den Nachteilausgleich eingehen.
Drittens. Die allgemeine Förderung des Engagements
muss stärker ausgebaut werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles sind nur
erste Schritte in die richtige Richtung. Ich nehme Ihr Angebot zur Diskussion gerne an, ich sage Ihnen aber auch:
Hierbei kann es nicht bleiben. Gerade bei der Zweckbetriebsgrenze - das habe ich gerade gesagt - haben wir
sehr lange verhandelt. Wir hatten uns auf 35 000 Euro
geeinigt. Sie reden jetzt von 45 000 Euro. Ich bin sehr
gespannt, wie Sie das mit dem Thema „Wettbewerbsverzerrung“ usw. in Einklang bringen werden.
({10})
- Ja, genau, nur der Sportbereich. Sie werden sicherlich
auch entsprechende Anfragen und Anschreiben aus Ihrem Wahlkreis bekommen haben. Hier sind wir wieder
bei der Frage nach Erweiterungen und Strukturveränderungen. Es ist doch klar, dass diejenigen, die nicht von
diesen Regelungen profitieren, uns anschreiben und
nachfragen, warum die Änderungen nicht breiter gefasst
werden und auch andere Bereiche einschließen. Diesen
Fragen müssen wir uns jedenfalls stellen und schlussendlich zu einer Antwort kommen. Da gebe ich Ihnen allerdings wiederum recht.
({11})
Herr Präsident, ich nehme Ihr Signal wahr, auch wenn
Sie hinter mir sitzen. - Ich möchte mich ganz herzlich
bei Ihnen bedanken. Es gibt einige Punkte, bei denen wir
übereinstimmen. Ich freue mich sehr, dass wir hier über
die Stärkung und auch über die Frage der Entbürokratisierung des bürgerschaftlichen Engagements reden. Es
ist immer eine Sternstunde, wenn wir hier im Parlament
das würdigen, was die Menschen draußen auf den Weg
bringen.
In diesem Sinne möchte ich mich bei allen ehrenamtlich Tätigen bedanken und bei Ihnen für Ihr sehr intensives Zuhören. Herzlichen Dank und Glück auf!
({12})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Birgit
Reinemund das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir bringen hier ein richtig
gutes Maßnahmenpaket auf den Weg.
({0})
Es ist sehr schön, dass die SPD keinen wirklichen inhaltlichen Kritikpunkt gefunden hat.
({1})
Wir bringen deutliche Verbesserungen im steuerlichen
und zivilrechtlichen Bereich und deutliche strukturelle
Verbesserungen auf den Weg. Das Einzige, was mir persönlich daran nicht gefällt, ist der furchtbare Name: Gemeinnützigkeitsentbürokratisierungsgesetz.
({2})
Denn es ist ein Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts, und
genau so sollte es auch genannt werden.
({3})
Wie viel ärmer wäre unser Land ohne unser Ehrenamt, ohne die rund 23 Millionen Menschen, die sich in
Kirchen, Sportvereinen, sozialen Einrichtungen, Par24682
teien und Initiativen engagieren! In keinem anderen
Land ist die Kultur des ehrenamtlichen Engagements so
ausgeprägt wie in Deutschland. Die Aufgaben in vielen
Bereichen des öffentlichen und sozialen Lebens wären
ohne die ehrenamtlich Tätigen nicht machbar. Das Ehrenamt ist Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Deswegen
hat die christlich-liberale Koalition dieses Gesetzespaket
auf den Weg gebracht, in großer Harmonie, in guter Zusammenarbeit untereinander und mit Finanzministerium
und Justizministerium. Herzlichen Dank dafür.
({4})
Wer besondere gesellschaftliche Verantwortung übernimmt, und dazu noch in der Freizeit, fördert damit den
Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Dies verdient unsere höchste Anerkennung und Unterstützung, nicht nur
in Sonntagsreden, sondern ganz konkret, so wie über
dieses Gesetz: durch Abbau bürokratischer Hemmnisse,
durch steuerliche Entlastung, durch Schaffung von
Rechtssicherheit und durch flexiblere Vorgaben für die
gemeinnützigen Vereine und Stiftungen zur Verwendung
ihrer Mittel.
Unser Ziel muss es sein, die tägliche Arbeit in den
Vereinen zu erleichtern. Und unser Ziel muss es sein,
den Menschen in den Vereinen die Angst zu nehmen,
plötzlich und unversehens mit Haftungsansprüchen ihres
Vereins oder der Finanzbehörden konfrontiert zu sein,
obwohl sie doch eigentlich nur ehrenamtlich Gutes tun
wollten. Vereine beklagen vielfach, dass Menschen allein aus diesem Grund davor zurückschrecken, ein Amt
überhaupt erst anzunehmen. Deswegen ist die Begrenzung der Haftung von Ehrenamtlichen auf Fälle von grober Fahrlässigkeit und Vorsatz für uns eine sehr wichtige
Verbesserung, zumal dies künftig nicht nur für Mitglieder der Vereinsvorstände gilt, sondern für alle Vereinsmitglieder. Denn auch ein Hallenwart sollte sich zum
Beispiel beim Schmücken der Halle für eine Veranstaltung nicht primär mit Haftungsfragen auseinandersetzen
müssen. Vielleicht gelingt es den Vereinen so in Zukunft
wieder leichter, Menschen zu finden, die überhaupt Verantwortung übernehmen wollen.
({5})
Als Anerkennung für das überragende ehrenamtliche
Engagement, das man nicht genug loben kann, erhöhen
wir die Ehrenamtspauschale von 500 auf 720 Euro, die
Übungsleiterpauschale von 2 100 auf 2 400 Euro. Das ist
nicht nur eine steuerliche Entlastung für Übungsleiter im
Sport, für Chorleiter oder für Eltern, die ihre Kinder regelmäßig zu Veranstaltungen oder zum Training fahren;
es bedeutet auch weniger Belegesammelei und Bürokratie für die Ehrenamtlichen selbst, für die Vereine und für
die Finanzämter.
Wir verlängern die Frist, in der gemeinnützige Vereine und Stiftungen ihre Mittel für steuerbegünstigte
Zwecke ausgeben müssen, um ein weiteres Jahr. So werden sie in ihrer Planung flexibler. Stellen Sie sich vor,
ein Verein erhält eine unerwartete hohe Spende oder eine
Erbschaft. Bisher müssen die entsprechenden Mittel bereits im Folgejahr ausgegeben sein. Das löst ungewollt
Handlungsdruck aus. Sehr kurzfristig müssen sinnvolle
Investitionsmöglichkeiten und Projekte gefunden werden. Das ist nicht gewollt. Diesen Druck werden wir herausnehmen.
Flexibler werden die gemeinnützigen Organisationen
auch bei der Rücklagenbildung. Sie können künftig die
freie Rücklage in den folgenden zwei Jahren nachholen.
Neu ist, dass sie jetzt auch eine Wiederbeschaffungsrücklage ansparen können. Ein Beispiel: Ein Turnverein
plant, seinen alten Kleinbus durch einen neuen zu ersetzen. Dazu kann der Verein künftig jedes Jahr Mittel in
Höhe der Abschreibung in die Rücklage einlegen, bis
zum vollen Anschaffungswert. Gut begründet kann der
Verein sogar darüber hinausgehen, wenn zum Beispiel
der neue Kleinbus mehr Plätze benötigt und die Kosten
dadurch höher werden. So können die Gelder konzentriert und bedarfsgerecht verwendet werden. So können
Investitionen besser geplant werden, ohne dass die Gemeinnützigkeit gefährdet wird.
Zu einem weiteren, scheinbar kleinen Punkt mit großer Wirkung, der uns Liberalen sehr wichtig war: Vereine erhalten künftig nach Prüfung ihrer Satzung einen
rechtsverbindlichen Bescheid darüber, ob sie die Voraussetzung für die Anerkennung als gemeinnütziger Verein
erfüllen. Bisher erhielten sie lediglich einen unverbindlichen Brief, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass sie ab
sofort Spendenbescheinigungen ausstellen dürfen. Immer wieder bestand die Unsicherheit, ob die Anerkennung bis zum nächsten Steuerbescheid Bestand hat; denn
die Auslegung der Anforderungen variiert stark von
Bundesland zu Bundesland. Schon ein Wechsel des zuständigen Sachbearbeiters birgt heute das Risiko, die
Gemeinnützigkeit rückwirkend aberkannt zu bekommen. Das kann gerade kleine Vereine schnell in die Insolvenz führen. Hier schaffen wir jetzt Rechtssicherheit.
Das künftige Verfahren stellt einen rechtsverbindlichen
Verwaltungsakt dar, der die Finanzverwaltung an ihre
einmal getroffene Bewertung der Satzung bindet.
({6})
Mit all den genannten Maßnahmen erleichtern wir
Vereinen und Stiftungen die Arbeit und drücken vor allem unsere Anerkennung für das Ehrenamt aus. Aus der
Antwort des Finanzministeriums auf meine schriftliche
Anfrage geht hervor, dass im Veranlagungszeitraum
2007 insgesamt 96 280 Steuerpflichtige die Pauschalen
in Anspruch genommen haben. Das Finanzministerium
geht laut Gesetzentwurf von Steuermindereinnahmen
von 110 Millionen Euro aus. Da es sich um einen überschaubaren Personenkreis handelt, erscheint mir der Betrag sehr hoch. Doch selbst wenn: Ehrenamtliche Tätigkeit ist nicht kostenlos, aber für unsere Gesellschaft ist
sie unbezahlbar.
Vielen Dank.
({7})
Barbara Höll ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Zielsetzung des Gesetzes ist klar umrissen: Durch
Entbürokratisierung und Flexibilisierung der rechtlichen
Rahmenbedingungen soll zivilgesellschaftliches Engagement erleichtert werden, und steuerbegünstigte Organisationen und ehrenamtlich Tätige sollen ihre Aufgaben
besser und leichter wahrnehmen können.
Ich frage mich natürlich: Was ist eine Flexibilisierung
der rechtlichen Rahmenbedingungen? Ich dachte, Recht
ist etwas, worauf man sich verlassen kann: Wenn es verabschiedet ist, dann weiß ich, woran ich bin. Sie wollen
nun die rechtlichen Rahmenbedingungen flexibilisieren.
Ich weiß nicht: Muss man solche Begriffe in den Gesetzestext hineinschreiben?
({0})
Sie haben in Ihrer Begründung richtigerweise ausgeführt - ich zitiere -:
Bürgerschaftliches Engagement ist Ausdruck einer
freiheitlichen Gesellschaft, in der Bürgerinnen und
Bürger freiwillig einen solidarischen Beitrag für die
Gemeinschaft leisten.
Ja, viele Bürgerinnen und Bürger aller Altersklassen
- das beginnt im Jugendalter und hält bis ins hohe Alter
an - engagieren sich tatsächlich freiwillig. Ich komme
aus Leipzig, der Geburtsstadt der Schrebergartenbewegung. Wir haben allein 208 Kleingartenvereine mit über
32 500 Parzellen. Wir haben in Leipzig eine Aidshilfe,
in jedem Stadtbezirk gibt es Bürgervereine. Wir haben
Vereine zur Betreuung von Menschen mit psychischen
Behinderungen.
({1})
Es gibt Sportvereine. Ich könnte die Liste endlos fortsetzen. Das zeigt: Es wird unheimlich viel gemacht, und
zwar freiwillig und unentgeltlich.
Bürgerinnen und Bürger haben zu Recht die Hoffnung, dass sie wenigstens das, was sie an zusätzlichen
Aufwendungen haben, also die Straßenbahnfahrkarte
oder den Busfahrschein, eventuell vom Verein erstattet
bekommen. Sie schlagen nun vor, die steuerlichen Freigrenzen anzuheben. Die Zahlen wurden genannt: bei der
Ehrenamtspauschale auf monatlich 60 Euro, bei der
Übungsleiterpauschale auf monatlich 200 Euro. Das ist
schön und gut. Schauen wir uns aber einmal die Realität
an. Die im Freiwilligensurvey 2009 genannten Zahlen
belegen, dass nur 23 Prozent, also ungefähr jede oder jeder Vierte, die oder der sich freiwillig engagiert, eine
Vergütung erhalten. Das ist das Problem.
({2})
Von diesen 23 Prozent erhielten 57 Prozent eine Vergütung von unter 50 Euro pro Monat. Das heißt, 77 Prozent
der Ehrenamtlichen haben von einer Änderung der steuerlichen Rahmenbedingungen überhaupt nichts.
({3})
Die 57 Prozent der übrigen 23 Prozent haben ebenfalls
nichts davon, ob eine Vergütung in Höhe von 50 Euro
oder 60 Euro im Monat vorgesehen ist; denn sie bekommen ohnehin weniger. Nur ganze 8 Prozent erhalten tatsächlich über 350 Euro im Monat. Das ist die Realität.
({4})
Mit der Erhöhung der Pauschalen, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen, erfassen Sie maximal 10 Prozent
der freiwillig Engagierten. Das ist einfach zu wenig, um
zu sagen: Jetzt haben wir wirklich etwas geschafft.
({5})
Im Fußballverein Leipzig Nordost kann ein Übungsleiterentgelt gezahlt werden. Im Kinder- und Jugendbereich sind es 1,50 Euro pro Stunde. Das heißt, der Trainer
müsste 6,5 Stunden pro Tag und 133 Stunden im Monat
Kinder und Jugendliche trainieren, um auf 2 400 Euro zu
kommen und so den maximalen Freibetrag absetzen zu
können. Das kann er natürlich nicht. Das wäre kein Ehrenamt mehr. Hier liegt das Problem: Real gibt es in vielen Bereichen, in denen Ehrenamtler tätig sind, eine sogenannte Arbeitsmarktnähe. Menschen üben inzwischen
ehrenamtlich Tätigkeiten aus, die bis vor kurzem noch
bezahlt wurden.
Der Jugendtrainer trainiert meistens nicht nur - auch
im Fußballverein Nordost ist das so -, sondern er ist
gleichzeitig mitverantwortlich für den Fußballplatz und
für die Halle. In Leipzig gibt es kaum noch Hallen mit
Hallenwarten. Die Logik, die dem zugrunde liegt, muss
man aufknacken: In den letzten Jahren gab es eine
Schwächung der Finanzen der öffentlichen Hand. Das
heißt, Hallenwarte werden entlassen, und dem entlassenen Hallenwart, der am Sport und an seinem Verein
hängt, sagt man: Du kannst ja im Ehrenamt weitermachen. Ein paar Pfennige bekommst du dann noch von
uns, aber bezahlen können wir dich leider nicht mehr.
Der letzten Erhebung zufolge haben ein Viertel
- 27 Prozent - aller ehrenamtlich Engagierten die Erfahrung gemacht, dass sie Tätigkeiten ausüben, die bis vor
kurzem noch regulär bezahlt wurden. Ich finde, das ist
einfach skandalös.
({6})
Dankenswerterweise haben Sie das in Ihrem Gesetzentwurf sehr klar benannt. Ich zitiere aus der Begründung:
In Zeiten knapper öffentlicher Kassen gewinnt die
Förderung und Stärkung der Zivilgesellschaft an
Bedeutung, denn die öffentliche Hand wird sich
wegen der unumgänglichen Haushaltskonsolidierung auf ihre unabweisbar notwendigen Aufgaben
konzentrieren müssen. Es ist daher notwendig, Anreize für die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen
Engagement zu stärken und bestehende Hindernisse
bei der Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten abzubauen.
Was heißt das? Das ist keine Freiwilligkeit.
({7})
Das ist kein freiwilliges Engagement, sondern Sie missbrauchen das Ehrenamt tendenziell als Lückenbüßer für
die Bereiche, in denen der Sozialstaat nicht mehr richtig
funktioniert. So ist es beschrieben. Hier sollen Stiftungen als mildtätige Organisationen zum Beispiel beim
Bilderankauf für Museen einspringen, weil diese kein
Geld mehr haben. Das ist eine Entwicklung, die wir
nicht gutheißen können.
({8})
Deshalb ist in Ihrem Gesetzentwurf sehr genau auf
den Bereich der Stiftungen zu schauen; denn es ist Realität, dass Stiftungen in der Bundesrepublik Deutschland
in einem großen Bereich dazu dienen, Erbschaftsteuer
und Schenkungsteuer zu umgehen. Bis zu einem Drittel
der Stiftungseinkommen können zur Alimentierung und
zur Pflege des Andenkens des Stifters verwandt werden.
Im Gesetz ist also einiges versteckt, was nicht im
Sinne des bürgerschaftlichen Engagements sein kann.
Ich glaube, wir müssen hier massiv nachbessern und
endlich über Regelungen nachdenken, die vielleicht
nicht im Bereich des Steuerrechts liegen, sondern zum
Beispiel einer kleinen Zugabe für Rentner dienen. Eine
Verbesserung der gesellschaftlichen Anerkennung des
bürgerschaftlichen Engagements gelingt nur,
Frau Kollegin, würden Sie freundlicherweise gelegentlich auf die Uhr blicken?
- wenn es nicht missbraucht wird, sondern das Sahnehäubchen für die Arbeit ist.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Lisa Paus für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Reinemund, Sie haben recht: Der Titel des Gesetzentwurfs ist falsch gewählt. Von einem Gemeinnützigkeitsentbürokratisierungsgesetz erwartet man wirklich etwas.
Wieder einmal erleben wir eine Diskrepanz zwischen
dem pompösen Titel auf der einen Seite und den eher wenig konkreten Änderungen auf der anderen Seite.
({0})
2007 gab es schon einmal den Plan, das bürgerschaftliche Engagement steuerlich besser zu fördern. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück hatte dazu ein
Zehn-Punkte-Programm vorgelegt. Nicht nur meine
Fraktion war damals unzufrieden. Fraktionsübergreifend
wurde kritisiert, dass diese zehn Punkte deutlich hinter
dem zurückbleiben, was man, und zwar ressortübergreifend, eigentlich tun müsste, um das ehrenamtliche Engagement zu unterstützen.
({1})
Vorneweg war damals die FDP; es wurde schon zitiert. Herr Wissing sagte: Aufsatteln bei einigen Steuervergünstigungen, sämtliche Strukturfragen bleiben offen. - Ich sage einmal: Wo Herr Wissing recht hatte, da
hatte er recht.
({2})
Wir haben zwar ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis von ehrenamtlichem Engagement - Sie wollen
Stellen abbauen und die Leute zu ehrenamtlicher Arbeit
zwingen; wir haben die Vorstellung, dass ehrenamtliches
Engagement unterstützend wirkt -, aber in diesem Punkt
hatte Herr Wissing einfach recht.
Aber Sie von der FDP haben damals darüber hinaus
konkret etwas versprochen. Sie haben den Menschen in
diesem Lande damals zugerufen: Halten Sie durch! Auf
die Reformbemühung der Großen Koalition wird mit uns
eine echte Reform folgen. ({3})
Und jetzt das. Mal ganz ehrlich, Frau Reinemund, da
müssen auch Sie lachen, oder?
({4})
Was wollen Sie konkret ändern? Vor allem wollen Sie
die Übungsleiterpauschale von 2 100 auf 2 400 Euro erhöhen. Weniger stark wollen Sie die Aufwandspauschale
erhöhen, von 500 auf 720 Euro. Auch in diesem Zusammenhang zitiere ich gerne den Kollegen Wissing.
({5})
Herr Wissing sagte damals - diese Meinung wurde in
den Ausschüssen übrigens fraktionsübergreifend geteilt -:
Wir lehnen dieses Zweiklassensystem bürgerschaftlichen Engagements ab.
({6})
Schon 2007 gab es eine breite Debatte darüber, ob es
wirklich sinnvoll ist, die sogenannte Übungsleiterpauschale zu erhöhen - damals ging es um eine Erhöhung
von 1 848 auf 2 100 Euro -, oder ob es nicht sinnvoller
wäre, den Personenkreis der Berechtigten zu erweitern.
Doch das berühmte Steinbrück’sche Wort verhinderte
diese Lösung. Deshalb haben wir heute zum Beispiel
beim Behindertentransport nach wie vor eine absurde Situation: Der Helfer, der das Fahrzeug fährt, kann den
Freibetrag nicht in Anspruch nehmen, während der Helfer, der die behinderte Person betreut, diesen Freibetrag
sehr wohl in Anspruch nehmen kann. Absurd!
Und welches Ziel verfolgen Sie jetzt mit diesem Gesetzentwurf, jetzt, wo Steinbrück nicht mehr Finanzminister ist, jetzt, wo die FDP mit in der Regierung ist?
Statt den starren Katalog zu öffnen und den Abstand
zwischen Übungsleiterpauschale und Aufwandsentschädigung zu verringern, vergrößern Sie ihn noch.
({7})
Wenn das so kommt, wird der Vater, der seinen Sohn und
andere Kinder auf dem Fußballplatz trainiert, 2 400 Euro
geltend machen können, während die Mutter, die die
gleiche Zeit aufwendet, um zum Beispiel die Trikots zu
waschen, nur 720 Euro geltend machen kann. Das finden
wir falsch.
({8})
Anders als Sie von der FDP und insbesondere Herr
Wissing haben wir auch heute noch Diskussionsbedarf.
Wir würden uns an dieser Stelle weniger Amtsschimmel
und mehr Praxistauglichkeit wünschen.
Wenn wir uns umhören, dann stellen wir fest - darauf
hat Frau Höll schon hingewiesen -, dass die Übungsleiterpauschale von 2 100 Euro schon heute nicht immer
ausgeschöpft wird, weil gerade die kleinen Organisationen sich das überhaupt nicht leisten können. Nicht dass
Sie glauben, dass ich der Meinung bin, dass die Bürgerinnen und Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren,
keinen Freibetrag von 2 400 Euro verdienen! Natürlich
verdienen sie ihn.
({9})
Trotzdem bin ich skeptisch, was diese Erhöhung angeht;
denn - das ist kein Geheimnis - die Erhöhung der
Übungsleiterpauschale erhöht den Anreiz, diese Pauschale quasi als „Miniminijob“ mit einem normalen Minijob zu verbinden. So würde der Gefahr, dass mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse im gemeinnützigen
Bereich entstehen, weiter Vorschub geleistet. Das spricht
dafür, dass es sinnvoller ist, den starren Katalog endlich
zu öffnen, als die Pauschale zu erhöhen. Wir werden uns
mit dieser Frage in den Beratungen genauer beschäftigen.
Leitschnur sollte nicht sein, das Ehrenamt zu monetarisieren, sondern die Bedingungen für ehrenamtliches
Engagement sollten durch Förderung und durch Strukturentwicklung verbessert werden; denn - zumindest darin sind wir uns alle einig; von daher habe ich auch noch
Hoffnung - ehrenamtliches Engagement ist unersetzlich
und eine Stärkung dieses Engagements dringend erforderlich. Das gilt für die derzeitige Situation, aber vor allem mit Blick auf die Zukunft; denn aufgrund der Entwicklung unserer Gesellschaft kommen noch weitere
Aufgaben hinzu. Die Umstellung von Energieerzeugung
und Energienutzung zum Beispiel ist ein wichtiges
Thema für bürgerschaftliches Engagement. Auch für die
europäische Integration benötigen wir ehrenamtliches
Engagement. Ebenso müssen wir in den Bereichen
Stadtentwicklung und Verkehrsentwicklung die Strukturen des ehrenamtlichen Engagements stärken.
({10})
Deswegen kann es nicht dabei bleiben, dass bis zum
heutigen Tage die Finanzämter die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements als gemeinnützigen Zweck
wegen des Anwendungserlasses des Bundesfinanzministeriums nicht anerkennen; auch dieser Aspekt war bereits 2007 zentrales Thema. Doch Ihr Bundesfinanzminister schnürt den Sack zu, der im parlamentarischen
Verfahren mühsam geöffnet wurde. Auch darüber wollen
wir in den Beratungen reden.
({11})
Ein weiterer zentraler Punkt, der die Gemeinnützigkeitsszene seit 2007 bewegt hat, kommt in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht, mit keinem einzigen Wort,
vor: eine Antwort auf das verloren gegangene Vertrauen
in so manche gemeinnützige Organisation aufgrund von
einzelnen Skandalfällen, die bundesweit Aufmerksamkeit erregt haben, Stichwort: Kinderhilfswerk UNICEF
2008. Dieser Skandal und andere Skandale hatten nicht
nur Folgen für die jeweilige Organisation, sondern darunter leiden seitdem auch alle anderen gemeinnützigen
Organisationen, die auf Spendengelder angewiesen sind.
Die Spendenbereitschaft ist in der Folge in Deutschland
massiv eingebrochen.
Diese Fälle haben gezeigt: Wir brauchen deutlich mehr
Transparenz in diesem Bereich. Die Menschen müssen
vor einer Spende verlässliche Informationen darüber haben, was mit ihrem Geld geschieht und welche steuerlichen Konsequenzen eine Spende für sie selber hat. Das ist
aber zurzeit in Deutschland nicht der Fall. So sieht etwa
das Wissenschaftszentrum Berlin gerade in der im internationalen Vergleich hohen Intransparenz in Deutschland
eine zentrale Ursache dafür, dass in Deutschland viel weniger Menschen spenden als beispielsweise in Skandinavien.
Ein öffentliches Register könnte Transparenz herstellen, ein Register, das alle Vereine, Stiftungen und gemeinnützigen Kapitalgesellschaften aufführt, die als
steuerbegünstigt anerkannt sind. Wir finden, diese Organisationen sollten offenlegen, wofür sie ihr Spendengeld
verwenden. Es gibt ja inzwischen schon einige freiwillige Register wie das von Transparency International.
Darauf sollte unserer Ansicht nach ein öffentliches Register aufbauen.
({12})
Uns ist wichtig, dass ein öffentliches Transparenzregister aussagekräftig ist. Aber es darf natürlich auch
nicht zu kompliziert sein. Vorbild könnte aus unserer
Sicht die Offenlegungspflicht für Kapitalgesellschaften
im elektronischen Bundesanzeiger sein, mit differenzierten Offenlegungspflichten zum Beispiel entlang der
Größe der Organisationen. Im Übrigen: Ein öffentliches
Transparenzregister wäre auch ein sehr gutes Instrument,
um nichtgemeinnützigen extremistischen Organisationen tatsächlich auf die Spur zu kommen und Informationen zu erhalten, die helfen, zum Beispiel verkappten Naziorganisationen den Gemeinnützigkeitsstatus entziehen
zu können.
({13})
Ihre Versuche, den Verfassungsschutz dafür heranzuziehen, sind bisher allesamt kläglich gescheitert. Bis
heute gibt es etwa ein Dutzend Verfahren vor Finanzgerichten, von denen absehbar in keinem einzigen Fall die
Aberkennung der Gemeinnützigkeit wegen extremistischer Aktivitäten bestätigt werden wird. Wir wissen inzwischen - leider -: Unsere Geheimbehörden können
vieles nicht. Definitiv sind sie nicht qualifiziert, Steuerprüfungen durchzuführen. Die Erkenntnisse der Geheimbehörden entziehen sich einer transparenten Überprüfbarkeit. Kein Finanzgericht kann das als Grundlage
einer Entscheidung anerkennen. Deswegen: Vergessen
Sie endlich den Verfassungsschutz an dieser Stelle! Der
gemeinnützige Sektor braucht mehr Transparenz, nicht
mehr Geheimnisse.
({14})
Ein anderes Skandalstichwort ist im Zusammenhang
mit der Berliner Treberhilfe - mir als Berlinerin besonders präsent - die sogenannte Maserati-Affäre.
({15})
Auch hier sagt einem doch das Gerechtigkeitsgefühl:
Wenn der Geschäftsführer einer gemeinnützigen Organisation die Steuerbegünstigung unter anderem dafür
nutzt, sich exorbitante Gehälter zu zahlen, dann stimmt
etwas nicht.
({16})
Folgerichtig wäre also eine Begrenzung der Spitzengehälter bei gemeinnützigen Organisationen. Aber auch
dazu findet sich in Ihrem Gesetzentwurf nichts. Wir wollen das in die Beratungen einbringen.
Was bringt der Gesetzentwurf darüber hinaus? Neben
einigen wichtigen Verfahrensänderungen bringt er vor
allen Dingen Änderungen, die die Welt nicht braucht:
Sie wollen die Frist für die Geltung von Freistellungsbescheiden für Spenden auf drei Jahre verkürzen. Bisher
gelten fünf Jahre. Auch bei Verwendungsauflagen sieht
der Entwurf eine Festschreibung auf zwei Jahre statt der
bisher üblichen drei Jahre vor. Das bedeutet für die betroffenen Träger eine erhebliche Verschlechterung gegenüber der aktuellen Situation.
({17})
Die Sportveranstaltungen wurden schon angesprochen. Ich bin gespannt darauf, Herr Steffel, wie Sie mir
gleich erklären werden, was bei Sportveranstaltungen so
viel anders ist als bei allen anderen, dass es notwendig
ist, sie im Gesetz mit einem um 10 000 Euro höheren
Freibetrag zu begünstigen; dieser soll ja für Sportveranstaltungen von 35 000 auf 45 000 Euro erhöht werden.
Meine Damen und Herren, das Steuerrecht wird die
notwendige Ausweitung des gesellschaftlichen Engagements von Bürgerinnen und Bürgern nur dann nachhaltig
unterstützen, wenn die Struktur der steuerlichen Förderung den aktuellen Anforderungen angepasst wird, statt
dass die vorhandenen Starrheiten, so wie Sie es tun,
immer wieder neu bedient werden. Ich fordere Sie deshalb im Sinne des bürgerschaftlichen Engagements auf:
Spenden Sie in den kommenden Wochen Ihre persönliche Zeit, um diesen Gesetzentwurf besser zu machen!
({18})
Das Wort erhält nun der Kollege Frank Steffel für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir sprechen heute über die Anerkennung des
Ehrenamts, über die Stärkung unserer Vereine, über
Wertschätzung für Ehrenamtliche und über Dank an Ehrenamtliche, die unendlich viel für unsere Gesellschaft
leisten.
Sie sprechen über Skandale, Missbrauch des Ehrenamts und Steuerhinterziehung. Unser Verständnis von Ehrenamt und Vereinen ist, mit Verlaub, ein völlig anderes.
({0})
Wie man bei einem Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts,
zur Anerkennung des Ehrenamts, zur Entbürokratisierung der Arbeit ehrenamtlich arbeitender kleiner Vereine
ernsthaft über Steuerhinterziehung und Missbrauch des
Ehrenamts sprechen kann, ist mir völlig schleierhaft.
Insofern danke ich den Sozialdemokraten für ihren
Beitrag. Sie haben sich zwar im Detail kritisch mit dem
Vorschlag auseinandergesetzt - was völlig in Ordnung
ist -; aber im Grundsatz sagen sie: Jawohl, das geht in
die richtige Richtung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mich freut
es, dass wir uns heute hier endlich einmal nicht mit
Finanzkrisen oder Marktkrisen beschäftigen, sondern
mit Menschen: mit den 30 Millionen Deutschen, die sich
ehrenamtlich - ohne Marktpreis und ohne Entgelt - jeden Tag für uns und unsere Gesellschaft engagieren.
({1})
Herr Kollege Steffel, darf Ihnen die Kollegin Höll
eine Zwischenfrage stellen?
Nein. - Mich freut es, dass in Deutschland 25 Millionen Menschen in Sportvereinen Sport treiben können.
Das wäre ohne das Engagement unserer ehrenamtlichen
Trainer, Übungsleiter, übrigens auch der Schatzmeister,
der Kassierer, unserer Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter überhaupt nicht möglich.
({0})
Deswegen danken wir besonders den 7,5 Millionen
Deutschen, die sich in ihrer Freizeit gerne und aus Überzeugung ehrenamtlich in Sportvereinen engagieren, zumeist übrigens, um sich um Kinder und Jugendliche zu
kümmern.
Ich will auch sehr deutlich sagen: Kein Fitnessstudio
und keine Nordic-Walking-Gruppe kann das ersetzen, was
deutsche Vereine für Kinder und Jugendliche leisten.
({1})
Gerade weil sich ein großer Teil dieses sehr guten Gesetzes zur Stärkung des Ehrenamts mit Vereinen - im
Wesentlichen mit Sportvereinen - beschäftigt, ist es mir
ein besonderes Anliegen, heute auch über die Ehrenamtlichen zu sprechen, die sich nicht im Sport engagieren,
sondern in anderen Bereichen unserer Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, das, was Elternvertreter
- Väter und Mütter - in Schulen und Kitas leisten, ist herausragende ehrenamtliche Arbeit.
Bei unseren Hilfsorganisationen - das Deutsche Rote
Kreuz, die Johanniter, das Technische Hilfswerk, Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund, die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft - stehen, wenn es kritisch wird, von
Montag bis Sonntag Männer und Frauen, Jungs und Mädels für unser Leben, für unser Wohl ein. Deshalb verdienen sie Anerkennung, Entbürokratisierung und eine
Stärkung ihrer Tätigkeit.
({2})
Ich will ausdrücklich auch auf die Arbeit der Gemeindekirchenräte in Deutschland hinweisen und darauf, was
die Kirchen in Deutschland - seien es christliche, jüdische oder islamische - leisten: bei der Integration von
Menschen, in der sozialen Arbeit in unserem Land. Auch
das spielt eine große Rolle. Das sollte im Zusammenhang mit dem Ehrenamt erwähnt werden.
Ich möchte auch die Arbeit der Parteien erwähnen.
Das, was Kommunalpolitiker in Deutschland leisten,
das, was ehrenamtliche Mitglieder in allen Parteien für
unser Gemeinwohl leisten, sollte hier im Deutschen
Bundestag anlässlich dieser Debatte auch einmal lobend
erwähnt werden. 90 Prozent der Mitglieder in den deutschen Parteien arbeiten ehrenamtlich und engagieren
sich in der Nachbarschaft, kommunal, für uns und unsere
Gesellschaft.
({3})
Meine Damen und Herren, was bedeutet das Ehrenamt, über das wir so viel und so gerne sprechen?
({4})
Es bedeutet zum Ersten, eine Aufgabe zu übernehmen
und sich dauerhaft, zumeist sehr lange, vielfach ein ganzes Leben, für eine Sache zu engagieren.
Schon das verdient in unserer Gesellschaft Anerkennung.
Es bedeutet zum Zweiten, Zeit zu opfern, Freizeit zu
opfern. Dabei geht es nicht darum, irgendetwas abzusetzen, Frau Paus. Vielmehr sprechen wir von einer Aufwandsentschädigung von läppischen 60 Euro pro Monat.
({5})
Das hat mit dem Absetzen von Quittungen, Steuerhinterziehung und Missbrauch überhaupt nichts zu tun. Das ist
ein bisschen Taschengeld für die, die sich für uns alle
engagieren.
({6})
Es geht auch um Menschen, die in der Tat Geld mitbringen. Die Mutter, die einen Kuchen für das Kita-Fest
mitbringt, engagiert sich ehrenamtlich und bringt noch
Geld mit. Der Vater, der seine Kinder zum Sport fährt,
engagiert sich ehrenamtlich und gibt das Geld für sein
Benzin und sein Auto gerne aus.
Über was reden wir hier eigentlich?
({7})
Wir reden über Menschen, die nicht fragen: „Was kriege
ich? Wie hoch ist die Verzinsung?“, sondern die im Wesentlichen darüber reden: Was kann ich tun? Wo kann
ich anpacken? Wo kann ich unserer Gesellschaft und uns
allen helfen? - Das sind die Männer und Frauen, die wir
in diesem Land brauchen - und nicht die Nörgler, die das
Ehrenamt noch beleidigen und beschädigen.
({8})
Wenn wir über die Rahmenbedingungen des Ehrenamts sprechen, ist mir eine Bemerkung besonders wichtig: Viele Ehrenamtliche haben auch Nachteile aus ihrem
Ehrenamt. Sie treten im Beruf kürzer. Sie kriegen keine
bezahlten Überstunden, sondern sie leisten unbezahlte
ehrenamtliche Arbeit. Sie verzichten vielleicht auf Karrierechancen,
({9})
auf Fortentwicklung, auf Weiterbildung, auf Beförderung. Deshalb möchte ich auch heute hier ausdrücklich
an alle Unternehmen in Deutschland appellieren: Das
Ehrenamt darf nicht zum Nachteil eines Arbeitnehmers
gereichen, sondern unsere Unternehmen sollten Ehrenamtliche fördern und unterstützen und sie im Zweifelsfall denen vorziehen, die sich nicht ehrenamtlich engagieren.
({10})
Abschließend möchte ich den Familien der Ehrenamtlichen einen besonderen Dank aussprechen. Die Familien von Ehrenamtlichen zahlen vielfach einen hohen
Preis. Manch ein Vater und manch eine Mutter, die am
Wochenende für eine Hilfsorganisation tätig sind, können sich eben nicht um ihre eigenen Kinder, ihre eigenen
Eltern, ihre Freunde und ihre sonstigen Familienangehörigen kümmern.
({11})
Manch ein Trainer verzichtet abends darauf, seinen eigenen Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen,
weil er sich um andere Kinder auf deutschen Sportplätzen oder in Sporthallen kümmert.
Deshalb möchte ich einen besonderen Dank und eine
besondere Anerkennung auch denen aussprechen, die in
ihren Familien Ehrenamtliche unterstützen, ihnen den
Rücken freihalten, sie ermuntern, sie motivieren, in unserer Gesellschaft auch weiterhin eine unverzichtbare
Aufgabe zu übernehmen.
({12})
Auf die Details des Gesetzentwurfes wurde umfangreich hingewiesen. Heute ist ein guter Tag für das Ehrenamt. Heute ist ein Tag der Anerkennung für Ehrenamtliche in Deutschland. Heute ist ein guter Tag für deutsche
Vereine, Hilfsorganisationen und viele andere. Wir werden die Anerkennung des Ehrenamts und die Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement verbessern.
Wir werden das Ehrenamt stärken. Auch Ihre kleinteilige
Nörgelei wird uns davon nicht abbringen.
Uns geht es ums Ehrenamt und nicht um Parteipolitik.
Wir brauchen ehrenamtliche Menschen in diesem Land,
die etwas tun, was kein anderer an anderer Stelle durch
den Staat jemals leisten könnte.
Herzlichen Dank.
({13})
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Höll
das Wort.
Danke, Herr Präsident. - Ich möchte zunächst eine
Bemerkung machen: Herr Steffel, ich weise entschieden
zurück, dass ich das Ehrenamt diskreditieren würde. Im
Gegenteil! Ich achte - das habe ich in meinen Ausführungen klargemacht - das Engagement der vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren.
({0})
Ich würde nie, wie Sie eben, sagen, dass es hier um
„läppische 60 Euro“ geht. Nein, auch 60 Euro wären
eine gute Anerkennung. Ich habe Ihnen aber gesagt
- hier kennen Sie leider die Realität nicht -: Nur jeder
vierte ehrenamtlich Engagierte kommt überhaupt in den
Genuss, wenigstens den Aufwand erstattet zu bekommen.
Ganze 10 Prozent der Ehrenamtlichen werden von Ihren
steuerlichen Regelungen etwas haben. Das ist nicht die
notwendige Anerkennung, sondern viel zu wenig.
({1})
Noch ein Gedanke. Sie müssten wirklich einmal den
Vergleich mit anderen Ländern wagen. In Skandinavien
gibt es ein wesentlich größeres ehrenamtliches Engagement, weil die Menschen dort ihr Ehrenamt gerade im
sozialen Bereich, im kulturellen Bereich, im Bildungsbereich als Ergänzung empfinden können und sich nicht als
Lückenbüßer sehen, wie Sie es im Gesetzentwurf begründen, weil die öffentliche Hand kein Geld mehr hat
und da jetzt bitte einmal das unentgeltliche freiwillige
Engagement ran soll. Das ist ein Missbrauch von bürgerschaftlichem Engagement durch die Politik. Das kritisiere ich und lehne ich ab.
({2})
Nun möchte die Kollegin Paus noch etwas klarstellen,
weil sie direkt angesprochen worden ist. Dazu sollte sie
Gelegenheit haben. Und wenn er möchte, kann der Kollege Steffel dann darauf noch kurz reagieren. Ich mache
aber darauf aufmerksam, dass ich jetzt natürlich nicht
die Absicht habe, zuzulassen, dass die ohnehin gemeldeten Redner der Fraktionen sich durch anschließende
Präsident Dr. Norbert Lammert
Kurzinterventionen wechselseitig eine Verlängerung ihrer jeweiligen Redezeiten erschleichen.
({0})
- Ich nehme es mit Rührung zur Kenntnis, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Paus, bitte schön.
Herr Präsident! Der Redner hat keine Zwischenfragen
zugelassen. Er hat mich aber trotzdem direkt angesprochen. Deswegen wollte ich einfach noch einmal Folgendes klarstellen: Ich kann nicht nachvollziehen, dass der
Fahrer eines Behindertentransports keinen Freibetrag
geltend machen kann, während der Betreuer des Behinderten diesen sehr wohl geltend machen kann. Mein
Punkt war, dass ich beim ehrenamtlichen Engagement
insgesamt nicht nachvollziehen kann, warum Sie in Ihrem Gesetzentwurf wieder so stark unterscheiden, warum Sie nicht endlich herunterkommen von dem starren
Katalog und warum Sie in der Tendenz Frauen gegenüber Männern benachteiligen,
({0})
indem bei der Übungsleiterpauschale der Mann auf dem
Platz den hohen Freibetrag geltend machen kann, während die Frau nur einen geringeren Freibetrag geltend
machen kann.
({1})
Um diese Ungleichbehandlung ging es mir.
Außerdem haben Sie meine Frage zu den Sportveranstaltungen nicht beantwortet. Das ist für mich ein wichtiger Punkt, und darüber möchte ich diskutieren. Das ist
keine Kleinkrämerei, und deswegen möchte ich gerne
entsprechend gewürdigt werden. Es ist nun einmal so,
dass man das ehrenamtliche Engagement auf unterschiedliche Art und Weise stärken kann. Wir wollen eine
Gleichbehandlung, Sie wollen das nicht.
({2})
Für die Vertiefung dieser zweifellos klärungsbedürftigen Punkte stehen ja auch die Ausschussberatungen zur
Verfügung. - Möchte der Kollege Steffel noch etwas
dazu sagen?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es freut
mich, Frau Kollegin Höll, dass wir Sie bei unserem Engagement für das Ehrenamt an unserer Seite wissen. Und
es freut mich, Frau Kollegin Paus, dass Sie einmal mehr
deutlich gemacht haben, dass Sie ganz anders denken als
wir. Deswegen wählen die Menschen auch unterschiedliche Parteien. Ich bin sicher: Die Ehrenamtlichen in
Deutschland wählen uns, weil sie spätestens seit heute
wissen, worum es uns geht.
({0})
Herzlichen Dank.
({1})
Wenn das, Herr Kollege Steffel, tatsächlich 30 Millionen sind, lässt das ja eigentlich ziemlich sichere Prognosen bezüglich des Wahlergebnisses zu, nicht wahr?
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marianne Schieder
für die SPD-Fraktion.
({1})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, es ist so. Was wäre unsere Gesellschaft,
was wäre unser Land ohne das vielfältige, uneigennützige gesellschaftliche und bürgerschaftliche Engagement?
Viele Menschen engagieren sich in den verschiedensten Bereichen für ihre Mitmenschen; sie engagieren sich
für Gesellschaft, Kirche und Staat, und sie engagieren
sich für unser aller Wohl. Ehrenamtliches Engagement
ist, gerade im ländlichen Raum, das gesellschaftliche
Bindeglied.
Vor allen Dingen für junge Menschen ist die Möglichkeit eines ehrenamtlichen Engagements enorm wichtig;
denn es fördert soziales Lernen, eröffnet sinnvolle Freizeitgestaltung, übt Verantwortungsbewusstsein ein und
lässt den Wohnort zur Heimat werden.
Wir alle wissen doch, wovon wir sprechen; denn auch
die meisten von uns kamen über ein umfangreiches ehrenamtliches Engagement in die Politik und nicht zuletzt
auch zum Bundestagsmandat. Und auch die meisten von
uns stellen sich nach wie vor im bürgerschaftlichen Engagement, im ehrenamtlichen Engagement in den Dienst
der Allgemeinheit.
Alle in unserem Land ehrenamtlich tätigen Männer
und Frauen haben natürlich ein Recht darauf, dass wir
als Gesetzgeber die Rahmenbedingungen so gestalten,
dass ehrenamtliches Engagement gefördert und nicht behindert wird, dass unnötige Bürokratie abgebaut und
rechtliche Festsetzungen nachvollziehbar und durchschaubar gestaltet werden.
({0})
Ehrenamt muss man sich leisten können. Ehrenamt
muss man sich auch zutrauen können. Es kann doch
nicht sein, dass viele Menschen, die sich engagieren oder
Marianne Schieder ({1})
sich engagieren wollen, das Gefühl haben, sie befänden
sich stets mit einem Bein im Gefängnis
({2})
oder wären von Haus aus nicht in der Lage, den Berg
von Vorschriften und einzuhaltenden Regelungen überhaupt zu überblicken, geschweige denn einzuhalten.
({3})
Hier sind natürlich Klarstellungen und Erleichterungen zu schaffen. Der Deutsche Bundestag hat dies bereits im Jahre 2009 mit der Schaffung des § 31 a des
Bürgerlichen Gesetzbuchs getan; das wurde heute schon
erwähnt. Dort steht, dass der Vereinsvorstand, der unentgeltlich tätig ist, gegenüber dem Verein und auch gegenüber den Mitgliedern des Vereins nur dann haften muss,
wenn Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt. Gegenüber Dritten wird zwar gehaftet, aber da gibt es gegenüber dem Verein den Befreiungsanspruch, der eingeräumt wird.
Nun soll diese Regelung auch auf Mitglieder anderer
Organe und auf besondere Vertreter von Vereinen und
Stiftungen erweitert und § 31 a BGB entsprechend gefasst werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird auch
vorgeschlagen, diese Beschränkung der Haftung auf alle
Vereinsmitglieder auszudehnen. So soll dann künftig ein
ehrenamtlich tätiges Vereinsmitglied nur noch dann für
einen Schaden, der durch sein Handeln entsteht, haften,
wenn grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorliegt. Entsteht der Schaden einem Dritten und liegt beim Schadensverursacher weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit vor, dann soll das Vereinsmitglied zwar haften, aber
eben auch diese Freistellung in Anspruch nehmen können. Dazu wird vorgeschlagen, den § 31 b neu ins BGB
einzufügen.
In diesem Sinne soll es auch eine Veränderung im
Einkommensteuergesetz geben, nämlich eine Veränderung in § 10 b, mit der die Veranlasserhaftung bei
zweckfremder Verwendung von Spenden auf die Fälle
der grob fahrlässigen oder vorsätzlichen Schadensverursachung beschränkt werden soll. Solche Verbesserungen
sind natürlich sinnvoll, und solche Verbesserungen unterstützen wir.
({4})
Allerdings möchte ich an dieser Stelle schon darauf
hinweisen, dass solche Verbesserungen nur eine kleine
Verbesserung darstellen. Es darf keinesfalls der Eindruck erweckt werden, dass damit die zweifellos hohen
Anforderungen an die Vereinsvorstände, was die Kenntnis von steuerrechtlichen, strafrechtlichen, urheberrechtlichen, arbeitsrechtlichen und diversen anderen rechtlichen Vorschriften betrifft, gesunken wären. Die Augen
davor zu verschließen oder den Kopf in den Sand zu stecken, hilft niemandem weiter,
({5})
weil Nichtwissen ebenso wenig vor Strafe schützt wie
Nicht-wahrhaben-Wollen. Hier möchte ich an die Verbände, Vereine und Organisationen appellieren, sich dieses Themas verstärkt anzunehmen und die Verantwortlichen vor Ort über Ausbildung und Schulung auf ihre
Aufgaben ausreichend vorzubereiten.
({6})
Allerdings müssten wir in dieser Hinsicht die Vereine,
Verbände und Organisationen natürlich entsprechend unterstützen; denn nach meiner Erfahrung - auch ich bin
umfangreich ehrenamtlich tätig - ist die Angst vor all
diesen Anforderungen gerade dort groß, wo das Wissen
gering ist, und es entstehen schlimme Folgen gerade deswegen, weil man sich eben nicht rechtzeitig und ausreichend um die rechtlichen Belange kümmert.
Ich frage mich allerdings auch, warum die Bundesregierung nicht auch einen anderen Bereich in Angriff genommen hat, nämlich den Bereich der Versicherungen.
Da gibt es ein wirklich unüberschaubares Chaos, und
kaum ein ehrenamtlich Tätiger weiß, was Sache ist.
Dazu gibt es unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern. Hier hätte ich mir wirklich eine länderübergreifende Initiative mit dem Ziel der Vereinfachung gewünscht.
({7})
In diesem Sinne müssen wir noch intensiv diskutieren, um diesen Gesetzentwurf zu verbessern und entsprechend anzureichern, sodass er den Ehrenamtlichen
wirklich dienlich ist.
Auch ich möchte schließen mit einem ganz herzlichen
Dank an alle Männer und Frauen in unserem Land, die
ehrenamtlich tätig sind; denn sie alle leisten eine wirklich großartige Arbeit.
({8})
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Marco
Buschmann für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie man
eine so gute Sache so schlechtreden kann, das werde ich
auch nach drei Jahren Parlamentserfahrung nicht verstehen.
({0})
Wie man eine solch gute Sache, nämlich den ehrenamtlich Tätigen zu helfen, die in unserem gemeinsamen Interesse liegt, für die kleine Münze parteitaktischen Kalküls nutzen kann, das werde ich nach drei Jahren
Mitgliedschaft im Parlament nicht verstehen.
({1})
Das will ich auch nicht verstehen; das möchte ich nicht
verstehen. Dass man versucht, aus der Unterstützung des
ehrenamtlichen Engagements eine Genderfrage zu machen, werde ich ebenfalls nicht verstehen. Das will ich
auch nicht verstehen.
({2})
In Deutschland gibt es über 600 000 eingetragene
Vereine, eine Unzahl nicht eingetragener Vereine und
rund 19 000 Stiftungen. Viele davon sind gemeinnützig
und sind in einem Bündnis für Gemeinnützigkeit organisiert. Ich hoffe, dass viele von denen heute zuschauen
und zur Kenntnis nehmen, dass Sie auf den von uns geplanten Maßnahmen - diese lassen sich in Mitteilungen
vieler Verbände wiederfinden; viele Verbände rufen regelrecht danach und bitten uns, ihnen in der Praxis mit
vielen kleinen Maßnahmen zu helfen, die ihnen ihre Arbeit etwas erleichtern - geradezu herumtrampeln und sagen, das alles sei dummes Zeug. Ich bin sicher, dass die
Betreffenden dann die Konsequenzen daraus ziehen werden.
({3})
Wenn Sie von der Linken uns weismachen wollen, es
sei etwas Schlimmes, wenn gemeinnützige Vereine Lücken schließen, dann halte ich Ihnen mit dem großen Liberalen Ralf Dahrendorf entgegen: Das Wesen des Ehrenamts sowie von gemeinnützigen Vereinen und
Stiftungen besteht doch darin, Initiativlücken zu schließen; denn die Gesellschaft deckt hier Bedarfe, die der
Staat nie finden würde. Das ist Innovation und Fortschritt, der aus der Gesellschaft kommt. Es ist das normale Wesen von gemeinnützigen Vereinen und Stiftungen, Lücken zu schließen, die der Staat noch gar nicht
erkannt hat. Wenn Sie sagen, der Staat sei schlauer als
die Gesellschaft, die gemeinnützigen Vereine und die
Bürger, dann zeigt das Ihr Gesellschaftsbild und Ihr
Staatsverständnis. Das teilen wir nicht.
({4})
Ich möchte nun mit meinen Entgegnungen auf all die
Vorwürfe aufhören, weil es der Sache nicht gerecht wird,
und zum Verbindenden kommen. Ich bin der Kollegin
Schieder sehr dankbar, dass sie auf einen wichtigen
Punkt hingewiesen hat, auf den ich erst gestern angesprochen wurde. Eine Lehrerin, die zu einer Besuchergruppe gehörte und die sich in einer Umweltgruppe engagiert, liebe Frau Paus, sprach mich an und sagte mir:
Die größte Sorge, die wir haben, ist das Haftungsrisiko.
Wir finden immer weniger Menschen für ehrenamtliche
Tätigkeiten, weil sich viele Sorgen machen. Die meisten
würden gerne etwas tun, wissen aber nicht, welchem
Haftungsrisiko im Steuer-, Abgaben- und Zivilrecht sie
sich aussetzen.
Ich möchte auf das hinweisen, was die Kollegin
Schieder gerade angesprochen hat. Wir gestalten die zivilrechtliche Haftungsverfassung endlich so fair und
transparent aus, dass man keine Angst haben muss, wenn
man als Mitglied eines Vereins die Aufgabe übernimmt,
das Vereinsheim oder die Turnhalle für die Weihnachtsfeier zu schmücken. Wenn eine Lichterkette herunterfällt, die man vielleicht nicht perfekt festgemacht hat,
oder wenn eine Metallklammer auf einen Tisch fällt, auf
dem ein Smartphone liegt, stellt sich die Frage, wer nun
den entstandenen Schaden in Höhe von Hunderten Euro
trägt. Früher musste man darüber diskutieren, ob es sich
um leichte oder mittlere Fahrlässigkeit handelt. Unabhängig von der Frage, wer für den Schaden aufkommen
muss, findet man niemanden mehr für eine ehrenamtliche Tätigkeit, wenn sich im Verein erst herumgesprochen hat, dass man im Schadensfall per Rechtsanwalt
klären muss, welcher Grad an Fahrlässigkeit exakt vorliegt.
Sie haben damals eine Lösung für die Vereinsvorstände in § 31 a BGB gefunden. Wir gehen jetzt einen
Schritt weiter; wer A sagt, muss auch B sagen mit dem
neuen § 31 b BGB. Wenn wir nun das von Ihnen den
Vereinsvorständen gewährte Privileg auch dem normalen Vereinsmitglied zukommen lassen, dann stellt das
eine praktische Hilfe dar. Ich bitte insbesondere die Kollegen von der Linken und den Grünen, die sagen, das alles sei nur eine Randerscheinung und nicht so wichtig:
Nehmen Sie Kontakt mit gemeinnützigen Vereinen auf
und fragen Sie, wo konkret Probleme bestehen. Sie werden dann feststellen: Es ist die Sorge um die Haftung in
der Zeit des ehrenamtlichen Engagements.
Wir helfen nun mit einer einfachen, fairen und transparenten Regelung, die nichts anderes bedeutet als: Ihr
müsst euch keine Sorgen machen. Erst dann, wenn ihr
vorsätzlich einen Schaden anrichtet und wenn jedermann
klar ist, dass man das nicht machen darf, wenn man also
grob fahrlässig handelt, müsst ihr euch Sorgen machen.
Das schafft Transparenz für die, die sich ehrenamtlich
engagieren. Ich denke, das ist eine gute Sache, die man
hier nicht aus parteitaktischen Gründen zerreden sollte.
({5})
Ich freue mich auf die konstruktive Diskussion mit
den Sozialdemokraten; denn sie haben sich als einzige
Oppositionsfraktion konstruktiv eingebracht, indem sie
einen Bezug zu dem Gesetz, das wir vorgelegt haben,
hergestellt haben.
({6})
Ich bin gespannt, wie die Grünen uns erklären wollen,
wie wir die Genderfrage durch das Vereins- und Gemeinnützigkeitsrecht lösen können, und ich bin wirklich
sehr gespannt, wie die Linken uns erklären werden, wie
wir demnächst dafür sorgen können - ich habe es gar
nicht richtig verstanden; das gebe ich offen zu, das muss
ich Ihnen ganz ehrlich sagen -,
({7})
den Gedanken, dass ehrenamtliches Engagement immer
Aufwand und Opfer bedeuten, aus der Welt zu schaffen.
Auch das werde ich nicht verstehen; denn das ist der In24692
begriff ehrenamtlichen Engagements. Wir wollen den
Leuten durch die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen helfen. Wie man das zerreden kann - damit beende ich meinen Beitrag so, wie ich ihn begonnen habe -,
das werde ich nie verstehen, und das möchte ich auch
nicht verstehen.
({8})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin
Katrin Kunert.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Buschmann, meine Oma hat immer gesagt: Wenn
du etwas nicht verstehst, dann sprich nicht darüber.
({0})
Ja, das bürgerschaftliche Engagement in der Gesellschaft muss gestärkt und unterstützt werden.
({1})
Die Linke sagt allen ehrenamtlich Tätigen in Deutschland ausdrücklich Danke, weil wir auf dieses Engagement bauen.
({2})
- Ich möchte Sie von der CDU bitten, das „KauderWelsch“ zu unterlassen.
({3})
Neben vielen anderen Dingen, die Sie mit diesem Gesetzentwurf verändern wollen, geht es insbesondere um
die Anhebung der Grenzen für Ehrenamtspauschalen
und Freibeträge. Frau Höll hat bereits gesagt, dass viele
gar nicht in den Genuss kommen, höhere Freibeträge
geltend zu machen. Die Ehrenamtlichen wollen auch gar
nicht, dass man sich darauf konzentriert. Was wir und
die Ehrenamtlichen wollen, ist eine Stärkung der Anerkennungskultur, was das ehrenamtliche Engagement in
der Bundesrepublik betrifft.
({4})
Herr Steffel, es geht nicht um Nörgelei und kleinteilige Kritik; aber wir müssen das Gesetz sehr wohl daraufhin überprüfen, ob wir alle würdigen, die in diesem
Land ehrenamtlich tätig sind, oder ob wir das nicht tun.
Wir schlagen vor, über diesen Gesetzentwurf in einer
Anhörung intensiv zu diskutieren und auch diejenigen,
die sich ehrenamtlich betätigen, zu Wort kommen zu lassen.
({5})
Ich will einige Fragen stellen, die mir von ehrenamtlich Tätigen aus meinem Wahlkreis mitgegeben wurden:
Unter welchen Bedingungen leisten Feuerwehrleute ihren Dienst? Haben sie ausreichend Unterstützung, wenn
sie von schweren Unfällen zurückkommen, zu denen sie
gerufen werden? Wie sieht es aus mit der Freistellung in
Betrieben? Wie kann man dies für die Kameradinnen
und Kameraden bei der Feuerwehr besser regeln? Wie
geht der Gesetzgeber mit der Forderung um, über zusätzliche Rentenpunkte für langjährige Mitglieder der Feuerwehr nachzudenken?
({6})
Wie können wir Lehrerinnen und Lehrer unterstützen,
die sich nach der Schule um Kinder und Jugendliche
kümmern? Kann man ihre Arbeit vielleicht durch Abgeltungsstunden usw. unterstützen? Warum sind die Ausgabestellen der Tafeln im Land immer in stark sanierungsbedürftigen Räumen untergebracht? Warum müssen
Sportvereine immer höhere Kosten tragen, wenn sie
Sportanlagen der Kommunen nutzen? Wie kann Ehrenamt im ländlichen Raum weiterhin funktionieren, wenn
die Bevölkerung immer älter und weniger wird? - Das
sind Fragen, die wir gemeinsam mit den Ländern, den
Kommunen und den ehrenamtlich Tätigen klären sollten.
Ihre Würdigung des Ehrenamts beschränkt sich im
monetären Bereich leider nur auf die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Nachdem Sie im Gesundheitssystem
eine Zweiklassengesellschaft geschaffen haben, setzen
Sie dies im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements
leider fort. Ich will Ihnen auch sagen, warum. - Die
CDU lächelt bei diesen Ausführungen.
({7})
Während normale Erwerbstätige beim Überschreiten
ihrer Freibetragsgrenze nur für einen Teil Steuern abzuführen haben, wird dem Arbeitslosengeld-II-Beziehenden oberhalb der Freibetragsgrenze die Aufwandsentschädigung zu 100 Prozent abgezogen bzw. auf den
Regelsatz angerechnet.
({8})
Das ist für die Linke nicht hinnehmbar,
({9})
übrigens auch deshalb, weil wir in diesem Hause überhaupt nicht darüber reden, ob Vergütungen für Nebentätigkeiten von Bundestagsabgeordneten vielleicht auch
in entsprechendem Umfang von den Diäten abgezogen
werden sollten.
({10})
Aber bei Arbeitslosengeld-II-Beziehenden gehen wir so
brutal heran und ziehen ihnen die Entschädigung ab.
({11})
Sie setzen sich überhaupt nicht mit der Frage auseinander, warum Aufwandsentschädigungen keine GegenKatrin Kunert
leistung für erbrachte Arbeit sind, sondern Ersatz für erbrachten Aufwand. Haben Sie sich einmal gefragt,
warum in Kommunalverfassungen geregelt ist, wie hoch
die Aufwandsentschädigungen sind? Haben Sie sich einmal gefragt, warum in Kommunen Verordnungen oder
Satzungen zum Ehrenamt beschlossen werden? Darin
wird geregelt, wie groß eine Körperschaft ist, welchen
Umfang die Aufgabe hat, welcher Aufwand damit
verbunden ist und welche Anforderungen an Qualifikationen es gibt. All dies hat nämlich Auswirkungen auf
die Höhe einer Aufwandsentschädigung. Diese Fragen
haben Sie nicht beantwortet.
Bei den Arbeitslosengeld-II-Beziehenden stellen Sie
sich diese Fragen erst gar nicht. Sie glauben immer noch,
die Erwerbslosigkeit in Deutschland bekämpfen zu können, indem Sie die Erwerbslosen bekämpfen. Das kann
nicht sein.
({12})
Sie verpeilen völlig, dass bürgerschaftliches Engagement wertvoll ist, egal von wem es erbracht wird. Circa
25 Prozent der Arbeitslosengeld-II-Beziehenden bekleiden ein Ehrenamt. Ich möchte Ihnen gern ein Beispiel
nennen:
Kerstin ist seit Jahren mit Leib und Seele Mitglied der
Freiwilligen Feuerwehr im Land Brandenburg. Sie war
im Kreis für die Ausbildung im Bereich ABC-Unfälle
und für den Umgang mit Kampfmitteln, Tierseuchen und
Terroranschlägen zuständig. Regelmäßig hat sie dazu
Lehrgänge durchgeführt. Zudem war sie Jugendwartin
bei der Jugendfeuerwehr und war für die Ausbildung
von 300 Feuerwehrleuten zuständig. Sie war auch Sicherheitspartnerin der Polizei.
Das alles sind Tätigkeiten, für die ein hohes Maß an
Qualifikation, Engagement und Disziplin erforderlich
sind. Die Anrechnungspraxis hat dazu geführt, dass sie
ihre Ehrenämter aufgegeben hat. Sie hat zwei Berufe, in
denen sie arbeiten könnte. Entsprechende Möglichkeiten
hat sie aber vor Ort nicht; sie bezieht daher Arbeitslosengeld II. Sie kann demnächst vielleicht wieder eine neue
Arbeit finden und würde die ehrenamtliche Tätigkeit
wieder aufnehmen.
Ich zitiere aus einer Pressemitteilung der Bundesregierung: „Bürgerschaftliches Engagement ist ein
Grundpfeiler unserer Gesellschaft.“ Das Problem aber
ist: Diesen Grundpfeiler reißen Sie in dem von mir gerade erwähnten Bereich ein. Er ist aber viel zu wichtig
für die Gesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von
Langzeitarbeitslosen dürfen Sie nicht weiter diskriminieren. Die Linke fordert, diese Anrechnungspraxis abzuschaffen.
Schönen Dank.
({13})
Stephan Mayer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Von Albert Schweitzer
stammt das Zitat: „Das Wenige, das du tun kannst, ist
viel.“ Dieses Zitat verdeutlicht, wie wichtig jeder Beitrag für den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens und
das menschliche Miteinander in Deutschland ist. Mehr
als 23 Millionen Bundesbürger folgen in Deutschland
diesem Motto und engagieren sich in den unterschiedlichsten Bereichen ehrenamtlich, sei es im sportlichen,
kulturellen oder karitativen Bereich, insbesondere aber
auch im Bildungsbereich und in vielen Selbsthilfegruppen.
Der Gesetzentwurf hilft all denjenigen, die sich in
Deutschland ehrenamtlich engagieren. Deswegen - das
muss ich gestehen - wundert es mich, dass diese Debatte
am heutigen Vormittag so kontrovers verläuft.
({0})
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie sich insgeheim nur darüber ärgern, dass
Sie diesen Gesetzentwurf nicht vorgelegt haben.
({1})
Von dem Gesetzentwurf profitiert jeder vierte Bundesbürger in Deutschland. Ich betone auch: Wenn der
Staat einspringen müsste, dann wäre es in keiner Weise
finanzierbar. Der Staat wäre völlig überfordert. Ich gehe
sogar noch weiter: Es wäre auch nicht richtig, wenn der
Staat einspringen würde. Denn die Kreativität, Individualität und auch die breite Vielfalt an Angeboten könnte
der Staat nicht so abdecken, wie es die vielen ehrenamtlich Engagierten und die zahllosen Vereine in Deutschland tun.
({2})
Das einzige Sperrige an dem Gesetzentwurf ist aus
meiner Sicht der Name. Er ist zu lang geraten und erklärt
sich auch nicht von selbst. Aber der Inhalt des Gesetzentwurfs ist alles andere als sperrig. Es gibt zahllose
Regelungen, die bessere Rahmenbedingungen für das
Ehrenamt in Deutschland schaffen.
Ich komme gerade von einem parlamentarischen
Frühstückstermin mit Ehrenamtlichen vom THW, die im
Bereich des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes
tätig sind. Ich habe ihnen erzählt, welche Debatte an diesem Plenartag als erste ansteht. Sie waren voll des Lobes
über den Inhalt dieses Gesetzentwurfes. Sie haben mir
deutlich gemacht - ich glaube, dies gilt es noch einmal
herauszustreichen -: Es geht ihnen nicht darum, 1 oder
2 Euro mehr zu bekommen oder auf 1 oder 2 Euro, die
sie zusätzlich bekommen, keine Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern zahlen zu müssen. Vielmehr geht es
ihnen um die Wertschätzung, um die Anerkennung ihrer
Leistung, ihres Engagements. Das ist neben der finanziellen Besserstellung, die durch dieses Gesetz erreicht
Stephan Mayer ({3})
wird, der zentrale, vielleicht sogar wichtigere Punkt:
dass ehrenamtliches Engagement in Deutschland wirklich wertgeschätzt wird.
Ich finde es schon schade, wenn zahlreiche Vertreter
der Opposition in ihren Reden immer wieder versuchen,
das Ehrenamt in Deutschland madig zu machen,
({4})
und darauf verweisen, dass die Situation in anderen
Ländern doch viel besser sei. Wir können auf die ehrenamtliche Kultur, die wir in Deutschland haben, wirklich
stolz sein. Das Gesetz, das wir heute in erster Lesung
beraten, verstärkt und verbessert diese ehrenamtliche
Kultur in Zukunft.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
geht vor allem darum, dass man unnötige Bürokratie abbaut. Wenn zum Beispiel die Ehrenamtspauschale von
500 Euro auf 720 Euro erhöht wird, dann ist dies für den
Einzelnen zwar kein entscheidender Betrag, aber es
entlastet ihn davon, dass er Quittungen sammeln und
aufwendig Einzelabrechnungen anfertigen muss. Er
kann dann pauschal einen Entschädigungsbetrag geltend
machen und muss nicht erst eigens Nachweise vorlegen.
Das entlastet den Übungsleiter, das entlastet das Vorstandsmitglied, das entlastet denjenigen, der ehrenamtlich in einer Selbsthilfegruppe tätig ist. Wir wollen doch,
dass die Bürgerinnen und Bürger sich ihrem ehrenamtlichen Engagement zuwenden und ihre Zeit nicht am
Schreibtisch verbringen.
({5})
Es geht auch darum, dass wir uns Gedanken darüber
machen, in welchen Bereichen man vielleicht das eine
oder andere noch verbessern könnte. Allerdings: Immer
nur von einer Verbesserung der Anerkennungskultur für
ehrenamtliches Engagement in Deutschland zu reden, ist
mir persönlich zu wenig. Jeder von uns kennt es: In
Sonntagsreden wird wohlfeil über die Bedeutung ehrenamtlichen Engagements gesprochen. Es geht jetzt in der
konkreten Gesetzesarbeit darum, wirklich Hand anzulegen.
Ich bin schon der Meinung, dass man das eine oder
andere über diesen Gesetzentwurf hinaus verbessern
kann. Ich denke zum Beispiel daran, dass Schiedsrichter
oder Kampfrichter jedes Wochenende viele Stunden in
Turnhallen und auf Sportplätzen verbringen, ohne dass
sie in § 3 Nr. 26 des Einkommensteuergesetzes einbezogen sind. Da ist meines Erachtens noch Verbesserungsbedarf gegeben.
({6})
Die Begründung dafür, dass das bisher nicht so war,
ist, dass nur pädagogisch ausgerichtete Tätigkeiten unter
diesen Paragrafen fallen. Meines Erachtens ist die
Arbeit, die ein Schiedsrichter oder ein Kampfrichter erbringt, in disziplinarischer, pädagogischer Hinsicht für
junge Menschen vielleicht wertvoller als die manches
Übungsleiters. Angesichts dessen, wie sich manche
Schiedsrichter und Kampfrichter behandeln lassen müssen - sie werden nicht nur ausgepfiffen und angepöbelt,
sondern teilweise sogar auch tätlich angegriffen -,
({7})
wäre es nur recht und billig, die Kampf- und die
Schiedsrichter genauso zu behandeln wie die Übungsleiter.
({8})
Was mir persönlich in Gesprächen mit ehrenamtlich
Engagierten oder potenziell Willigen auffällt, ist, dass
sie sagen: Na ja, aber dann stehe ich doch mit einem
Bein schon im Gefängnis. Ich habe ohnehin das Problem, meiner Familie erklären zu müssen, dass ich
meine Freizeit nicht bei ihr verbringe, sondern sie für
Mitmenschen opfere, indem ich etwa auf dem Sportplatz
bin, die Kinder zum Training, zu den Auswärtsspielen
fahre, die Trikots wasche. Dabei kann immer einmal
etwas passieren, was mir möglicherweise zum Vorwurf
gemacht wird. - Insofern ist es ein sehr sinnstiftender
und auch sehr zielgerichteter Ansatz, den Haftungsmaßstab für ehrenamtlich Tätige zu reduzieren. In Zukunft
wird es neben § 31 a den § 31 b im BGB geben, durch
den sämtliche ehrenamtlich Tätigen von der Haftung
ausgenommen werden - außer wenn natürlich Vorsatz
oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt.
({9})
Ich glaube, dass dadurch konkret sehr viele Hemmschwellen für viele Willige abgebaut würden, die an sich
bereit wären, sich ehrenamtlich zu engagieren, dies aber
aufgrund der bisher sehr strengen Haftungsmaßstäbe
nicht getan haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt
ist dies wirklich ein Gesetzentwurf, der sich sehen lassen
kann. Er wird im Bereich des Ehrenamts durchaus auf
große Anerkennung stoßen. Es ist richtig, dass man für
Sportvereine, die im Zweckbetrieb Veranstaltungen
durchführen, den Freibetrag von 35 000 Euro auf
45 000 Euro erhöht.
({10})
Dies ist sachgerecht und zielgerichtet, weil es immer
wieder Veranstaltungen gibt, für die die bisherige
Grenze von 35 000 Euro nicht ausreicht.
Deswegen würde es mich wirklich freuen - das sage
ich abschließend -, wenn die Kolleginnen und Kollegen
aus der Opposition diesem Gesetzentwurf nicht so apodiktisch negativ gegenüberstünden. Auch wenn es nicht
Ihre Erfindung ist, meine Damen und Herren: Begleiten
Sie uns positiv und konstruktiv auf diesem Weg! Mit
diesem Gesetzentwurf wird das Ehrenamt in Deutschland ganz konkret gestärkt und verbessert.
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Ute Kumpf für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege von Stetten und lieber Kollege
Mayer, wir nehmen die Einladung gern an, dieses Gesetz
in der Beratung positiv zu begleiten, um zu erreichen,
dass es zu einem Meilenstein in der Reform des Gemeinnützigkeitsrechts wird, wie wir das 2007 mit dem Gesetz
„Hilfen für Helfer“ geleistet haben.
({0})
Sie haben selbst darauf hingewiesen, dass da einiges
offengeblieben ist. Sie kennen auch das, was all die Verbände, Organisationen, Vereine und Initiativen sagen:
Was damals, 2007, noch nicht geregelt worden ist, das
muss jetzt geregelt werden. - Es geht da oft gar nicht so
sehr um das Geld; es geht vor allem um strukturelle Verbesserungen, es geht um Vereinfachungen,
({1})
es geht tatsächlich um den Abbau von Bürokratie. Dieser
Katalog ist Ihnen bekannt. Im Koalitionsvertrag ist auch
angekündigt worden, dass die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen wird, der zur Entbürokratisierung beiträgt.
Ist der vorliegende Gesetzentwurf jetzt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung, also auch des Finanzministeriums? Das Finanzministerium ist, glaube ich, gar nicht
vertreten.
({2})
- Es ist aber nicht politisch vertreten.
({3})
Lieber Kollege Kauder, Steinbrück hat damals da gesessen. Er hat sogar geredet. Wo ist Herr Schäuble?
({4})
Oder wo ist wenigstens der Parlamentarische Staatssekretär? Es geht hier um die Wertigkeit, die dadurch zum
Ausdruck kommt.
Ich finde, Loben ist wichtig - das tun wir auch -, aber
Lob wird zur Lobhudelei, wenn die Schwachstellen, die
in diesem Gesetz sind, nicht beseitigt werden. Es ist unsere Aufgabe, in diesem Parlament ein besseres Gesetz
auf den Weg zu bringen.
({5})
Wir stehen mit dieser Kritik und mit dieser Anmerkung nicht allein da. 2010 hat das Nationale Forum für
Engagement und Partizipation einen Katalog erarbeitet,
auch mit Unterstützung aus dem Ministerium. Das
Bündnis für Gemeinnützigkeit hat aus diesem Katalog
eine Synopse zusammengestellt, aus der sich ergibt,
inwieweit Regelungen noch notwendig sind. Das alles
ist Ihnen bekannt, aber leider sind diese Vorschläge, die
sich nicht unbedingt in der Erhöhung der Übungsleiterpauschale oder der Ehrenamtspauschale erschöpfen, nur
unzureichend aufgegriffen worden.
({6})
Es ist, denke ich, unsere Aufgabe, diese Vorschläge aus
der Bürgergesellschaft, aus der Zivilgesellschaft mit einzubinden.
Was die Menschen sowie die Organisationen und Vereine irritiert hat: Normalerweise ist es so, dass zu einem
Gesetzentwurf, der von der Bundesregierung vorgelegt
wird, eine Voranhörung der Verbände stattfindet. Eine
solche Anhörung hat es hier nicht gegeben.
({7})
Alle wurden davon überrascht. Es war auch unklar: Ist
der Bundesrat von Anfang an dabei oder nicht? Auf
einmal heißt es: Der Bundesrat soll doch dabei sein. Dieses Gesetz ist zustimmungsbedürftig. Sie brauchen
auch die Zustimmung der Länder.
({8})
Es ist doch wichtig, bei diesem zentralen Thema die
Zustimmung der Zivilgesellschaft und auch die des
Bundesrates von Anfang an zu organisieren. Deswegen
bitte ich Sie, eine entsprechende Klarstellung zu liefern.
Der Gesetzentwurf wird von Ihnen ja so gelobt. Ich
finde es gut, dass er da ist. So können wir weiter daran
stricken und ihn sozusagen zu einem wirklich wohlgenährten Kind machen - mit unserer Unterstützung und,
wie ich denke, auch mit Unterstützung der Grünen sowie
der Linken. Wir alle werden daran arbeiten, dass es tatsächlich ein herausragender Meilenstein wird.
Aber nun zur Reaktion der Organisationen auf Ihren
Gesetzentwurf. Es gibt Kritik. Sie wissen ganz genau,
dass die Verbände ein bisschen zurückhaltend sind, weil
sie wissen, dass sie von verschiedenen Häusern zum Teil
finanziell abhängig sind. Olaf Zimmermann hat gesagt:
Ein bisschen Butter bei die Fische wäre vielleicht nicht
schlecht. - Wir können die Butter liefern. Frau Fehres
aus dem Sportbereich hat kritisch angemerkt, dass die
Erhöhung der Übungsleiterpauschale zwar ganz gut ist,
aber dass der Punkt Stärkung des bürgerschaftlichen
Engagements wieder nicht die notwendige Beachtung
findet. Auch Herr Fleisch vom Bundesverband Deutscher Stiftungen hat darauf verwiesen, dass es nicht nur
darum geht, Stiftungen zu bedienen. Die Stiftungen werden in dem Gesetz gut bedient. Wir müssen noch einmal
genau hinschauen, ob die Regelungen auf einem guten
Weg sind. Aber Herr Fleisch hat darum geworben, dass
auch alle anderen ehrenamtlich tätigen Menschen von
diesem Gesetz profitieren. Es ist unsere Aufgabe, entsprechend dafür zu sorgen.
({9})
Sie wissen selbst: Auch Sie als Regierungsfraktionen
stehen im Wort. Es gibt in Ihrem Gesetzentwurf den Teil
der Begründung - dazu werde ich noch etwas sagen,
weil auch dieser Teil sehr problematisch ist -, und es
gibt einen Engagementbericht. Sie selber reden davon,
dass die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement verbessert werden können, wobei sich Ihre
Definition von Rahmenbedingungen und Infrastruktur
oft auf die Vereine beschränkt. Aber auch für die Vereine
tun Sie in diesem Gesetz schlichtweg zu wenig: Sie werden nicht von Bürokratie entlastet. Es wird zu wenig getan, um Klarheit zu schaffen, zum Beispiel bei Umsatzsteuerfragen. Es wird in diesem Gesetz zu wenig getan,
die Weichen so zu stellen, dass bei einer Insolvenz eines
Spenders die gespendeten Gelder nicht mehr zurückgefordert werden können. Eine ganze Latte von Fragen ist
hier nicht beantwortet worden, die wir im Laufe der Beratungen vonseiten der SPD ansprechen werden.
Dazu gehört - ich möchte das an dieser Stelle sagen;
dies ist ein wichtiger Punkt, den wir seit fünf Jahren vor
uns herschieben; er beruht auf dem Gesetz von 2007 -:
Die Klarstellung zur Förderung des bürgerschaftlichen
Engagements
({10})
muss als eigenständiger Zweck anerkannt werden. Das
ist eine Forderung aller Verbände. Dafür müssen wir
Sorge tragen.
({11})
- Ich weiß, ich war bei den Verhandlungen dabei. Ich
weiß, woher das rührt. Da bin ich nicht außen vor. Wir
hatten damals mehr gefordert, mehr gewünscht.
Jetzt ist es die Aufgabe, dies tatsächlich zu leisten. Es
fehlt auch eine Klarstellung, dass die öffentlichen Zuschüsse, die die Vereine bekommen, tatsächlich umsatzsteuerfrei gestellt werden. Dies ist ein großes Thema, das
gerade kleine Vereine beschäftigt, die eine entsprechende Unterstützung bekommen.
Sie loben ja den Sport rauf und runter. Aber ich
möchte darauf hinweisen, dass im Sportbereich durch
Strukturveränderungen, durch Fusionen ein großes Problem bei der Grunderwerbsteuer entsteht. Dies ist nicht
geregelt. Einige Fusionen werden nicht durchgeführt,
weil dem steuerliche Hemmnisse entgegenstehen.
({12})
Manche Städte - Stuttgart macht es -, die reichen Städte,
helfen dann den Sportvereinen. Aber nicht alle Städte
sind reich, also muss auch hier eine ganz klare Regelung
getroffen werden.
({13})
- Kollege Kauder, lassen Sie doch die Nebenkriegsschauplätze. Dies interessiert mich an dieser Stelle überhaupt nicht. Ich will den Vereinen helfen und hier keine
Polemiken hören.
({14})
Zum Schluss einige kritische Anmerkungen. Ähnlich
hat es die Kollegin von der Linken gesehen; auch die
Kollegin Paus hat es angeführt. Es geht um Ihren Begriff
des Engagements in der Begründung in diesem Gesetzentwurf. In der Enquete-Kommission waren wir uns einig: Engagement ist freiwillig,
({15})
kann nicht verordnet werden, muss eigensinnig sein und
darf nicht dazu führen, dass man hier einen kleinen dritten oder vierten grauen Arbeitsmarkt aufbaut.
({16})
Es darf vor allem nicht sein, dass Engagierte zu Lückenbüßern funktionalisiert werden. Die Leute spüren das,
sind sauer und sagen: Da machen wir nicht mehr mit. Daher ist es unsere Pflicht und Notwendigkeit, dafür zu
sorgen, dass solche Begrifflichkeiten, die Sie in Ihrer
Begründung verwenden, gestrichen werden.
Die Alarmglocken schrillen vor allem bei den Engagierten ganz heftig, da in Ihrem Ersten Engagementbericht eine Definition von bürgerschaftlichem Engagement
auftaucht, die so moralisierend und ideologieüberfrachtet ist, dass alle fragen: Was soll das sein?
({17})
Dort wird auf einmal von der Freiwilligkeit in der Mitverantwortung gesprochen. Die Leute sagen: Wir waren
in der Finanzkrise verantwortlich. Wir haben in unserem
Engagement nicht nachgelassen. Wir haben im Gegensatz zu den Unternehmen die Verantwortung mitgetragen. Wo ist die Verantwortung der Unternehmen in diesem Sektor?
Frau Kollegin.
Hier stellt sich für mich die Frage: Wo ist die Verantwortung der Bundesregierung, sich diesem Thema zu
stellen und dieses Gesetz positiv zu begleiten. Einen
dicken Gruß und eine aufrichtige Einladung an die Bundesregierung -
Frau Kollegin, mit den Grüßen sollte man anfangen,
weil am Ende dafür keine Zeit mehr ist.
Gut. - Aber ich wollte gerade noch den Finanzminister Schäuble einladen, dass er auf unserer Seite ist, wenn
es darum geht, Verbesserungen auf den Weg zu bringen.
Danke schön.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Reinhard Grindel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gerne will ich die versöhnliche Art der Diskussion aufgreifen, die Frau Kumpf hier eingeführt hat. Ich würde
mich sehr freuen, wenn wir es durch Berichterstattergespräche, möglicherweise auch durch Ergänzungen unseres Gesetzentwurfs, hinbekommen, dass sich der vorliegende Entwurf auf eine breite parlamentarische
Mehrheit stützen kann.
({0})
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Wir brauchen
den Bundesrat. Es wäre ein gutes Signal an den Bundesrat, wenn wir hier miteinander festhalten, dass es uns bei
diesem Thema nicht um die parteipolitische Auseinandersetzung geht, sondern um das Ehrenamt, vor allen
Dingen im Sportbereich. Das ist der gemeinsame
Wunsch des Bundestages, und wir würden uns freuen,
wenn der Bundesrat dann auch an unserer Seite wäre.
Herzlichen Dank für die konstruktive Art der Diskussion.
({1})
Frau Hinz, ich stimme Ihnen völlig zu: Es wäre nicht
in Ordnung, wenn mit unserem Gesetzentwurf einer
Tendenz Vorschub geleistet würde, die den Eindruck erweckt, der Staat ziehe sich zurück
({2})
und die Vereine müssten diese Lücke ausfüllen. Die
Stelle, aus der das Zitat stammt, das Sie und, ich glaube,
auch andere Redner gebracht haben, bezieht sich ausschließlich auf den Bereich der Stiftungen; hier müssen
wir fair miteinander sein.
({3})
- Nein, Frau Schieder. - Auch bei den Kirchen gibt es
die Entwicklung, dass sich diese manches nicht mehr
leisten können und die Gemeinden dann durch Stiftungen ergänzend tätig werden. Das trifft auch noch auf andere Bereiche zu. Beispielsweise werden für große kulturelle Veranstaltungen in den Kommunen Stiftungen
gegründet, und zwar durch Unternehmen, auch durch die
örtlichen Stadtwerke.
({4})
Das sind die Bereiche, an die wir denken.
Ich bin wie Sie der Auffassung, dass sich der Staat
hier nicht der Verantwortung entziehen darf, gerade
wenn es um Sportförderung geht.
({5})
Ich will nur auf eines hinweisen: Durch die Übernahme
der Grundsicherung im Alter seitens des Bundes sind die
Kommunen finanziell erheblich entlastet. Ich sage Ihnen: Davon profitieren auch die Bereiche Sport und Kultur, weil sonst im Rahmen der freiwilligen Leistungen
vielleicht vieles auf den Prüfstand gekommen wäre, jetzt
aber die Kommunen neuen Handlungsspielraum haben.
({6})
Insofern haben wir ganz konkret etwas dafür getan, dass
sich der Staat nicht aus der Verantwortung zieht.
Frau Kunert, Sie haben dem Kollegen Buschmann zu
verstehen gegeben, man solle nur über das reden, wovon
man Ahnung hat, und haben in diesem Zusammenhang
die Feuerwehrrente angesprochen. Ich sage Ihnen: In
meinem Wahlkreis lehnen die Feuerwehren diese Rente
ab, und zwar nicht nur deshalb, weil das Ganze mit unendlich viel Bürokratie verbunden ist, sondern weil es
noch immer zu Situationen kommt, dass einige Feuerwehrleute diese Rente erhalten, andere hingegen nicht.
Dann fragen Letztere: Ist denn unsere Leistung für die
Feuerwehr weniger wert? Irgendwann macht sich dann
der Spaltpilz in diesem ehrenamtlichen Bereich breit.
Wenn es dann um Übungen und Einsätze geht, werden
einige Betroffene sagen: Lasst doch erst einmal diejenigen fahren, die die Rente bekommen, und nicht die anderen, die über Jahre und Jahrzehnte Dienst geleistet haben, das aber ohne Rente.
Wir wollen gerade das Ehrenamt stärken. Deswegen
ist es nicht richtig, mit irgendwelchen Leistungen an den
unterschiedlichen Stelle letztlich die Arbeit und den Zusammenhalt vor Ort infrage zu stellen.
({7})
Ich möchte auf Folgendes hinweisen - Frau Hinz hat
es bereits angesprochen -: Es geht nicht um einen allgemeinen Steuerbefreiungstatbestand, sondern es geht um
Leistungen, die ein Verein Übungsleitern oder sonst wie
ehrenamtlich Tätigen gewährt. Diese Betroffenen sollen
steuerlich ein bisschen mehr Spielraum bekommen.
Darf die Frau Kollegin Kumpf eine Zwischenfrage
stellen oder eine Zwischenbemerkung machen?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Grindel, ist Ihnen bekannt, dass Ihre
jetzt vorgesehene Regelung die Feuerwehrleute nicht
umfasst, sondern dass sie nur den Sportbereich und die
Übungsleiter umfasst, und eben nicht die Hilfeeliten wie
Deutsches Rotes Kreuz, THW und Feuerwehr, die aus
öffentlichen Kassen bezahlt werden?
Frau Kollegin Kumpf, das ist eine Frage der Rechtsanwendung durch die Steuerbehörden bzw. das Finanzamt.
({0})
Wir müssen mit dem Finanzministerium darüber sprechen, welche Rahmenbedingungen wir schaffen können.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Da es sich um Leistungen des Staates an die Feuerwehrleute handelt und nicht,
wie etwa im Sportbereich, um Leistungen von Privaten
aus Vereinsbeiträgen, muss man hier nach einer rechtlichen Lösung suchen. Ich bin gerne bereit, im Rahmen
der von mir angesprochenen Berichterstattergespräche
über diese Frage zu diskutieren. Wir wollen hier das Ehrenamt möglichst breit erreichen.
Insofern ist es richtig, dass Sie hier die Vereine besonders hervorgehoben haben und gesagt haben, dass
wir mehr tun müssen, um tatsächlich für Entbürokratisierung zu sorgen. Aber, Frau Kollegin Kumpf, gerade
deswegen nehmen wir hier eine Erhöhung vor: Sportliche Veranstaltungen eines Vereins sind zukünftig dann
als Zweckbetrieb steuerfrei, wenn die Einnahmen
45 000 Euro nicht übersteigen; bisher liegt die Grenze
bei 35 000 Euro. Das ist eine konkrete Entbürokratisierungsmaßnahme für die Vereine. Wir treffen diese Regelung bewusst für den Sportbereich und nicht für den Bereich Essen und Trinken, für die Vereinsgaststätte; denn
wir wollen nicht, dass vor Ort die alte Problematik auftritt - DEHOGA hat es immer wieder angesprochen und die Gaststätten im ländlichen Raum sagen: Hier
wird eine Wettbewerbsverzerrung vorgenommen.
({1})
Frau Kollegin Paus, tun Sie mir einen Gefallen und
sprechen Sie einmal mit Michael Vesper, dem Generaldirektor des DOSB, mit dem wir dieses Gesetz natürlich
intensiv abgestimmt haben. Was Sie hier zur Frage der
Übungsleiter gesagt haben, ist wirklich nicht richtig;
Claudia Roth, die hinter Ihnen sitzt, weiß das. Wir haben
eine Vielzahl von Programmen, etwa im Fußball, bei denen es darum geht, dass Frauen, zum Beispiel Mädchen
mit Migrationshintergrund, als Trainer tätig werden. Die
Vorstellung, der Übungsleiter sei ein Mann, während für
das Waschen der Trikots die Frauen zuständig seien, entspricht dem Bild der Vereine der 70er-Jahre. So ist es
heute wirklich nicht mehr, Frau Kollegin Paus.
({2})
Ein weiteres Kennzeichen des heutigen Ehrenamts:
Wir stellen fest, dass das Leisten-Wollen des Ehrenamtlichen gut ist, aber das Können-Müssen hinzukommen
muss. Ehrenamtliche sind bewusst keine Profis; aber die
Erwartung der Mitglieder ist immer stärker auf eine professionelle Vereinsarbeit gerichtet. Deswegen machen
wir jetzt so viel für Übungsleiter. Denn sie sind eben
nicht mehr allein für das Training zuständig. Sie leisten
einen Beitrag zur Integration und zur Inklusion. Sie müssen sich mit Maßnahmen zur Prävention von sexualisierter Gewalt, Spielsucht, Wettmanipulation und vielem anderen mehr auseinandersetzen. Die Qualität eines
Übungsleiters - das belegen sportwissenschaftliche Untersuchungen - entscheidet ganz zentral darüber, ob ein
junger Mensch beim Sport bleibt oder ein Drop-out wird
und sich anderen Freizeitbetätigungen zuwendet. Deswegen ist es eine richtige Maßnahme, die Übungsleiterpauschale im Sinne einer Anerkennungskultur anzuheben. Die Übungsleiter müssen nicht noch Geld
mitbringen, wenn sie ihren Dienst an der Gesellschaft
leisten, sondern bedürfen der Unterstützung.
({3})
Das gilt auch für die ehrenamtlich Tätigen: für den
Schiedsrichter, für den Schatzmeister, für denjenigen,
der am Wochenende den Platz kreidet oder sich als Öffentlichkeitsreferent um die Homepage kümmert.
Ich sage hier ganz klar: Wir wollen vor allen Dingen
den Vereinen im Breitensport helfen. Die öffentliche
Wahrnehmung ist meines Erachtens zu sehr auf den Spitzensport gerichtet. Große Vereine können sich einen Geschäftsführer leisten. Sie haben Steuerberater und
Rechtsanwälte. Sie haben unser Ehrenamtspaket nicht so
sehr nötig. Wir richten uns an den Verein um die Ecke,
weil wir wissen, dass gute Arbeit an der Basis, im Breitensport, die Voraussetzung ist, um überhaupt gute Erfolge und Spitzenleistungen erreichen zu können. Wir
haben eine Einheit des Sports: Ohne eine gute Arbeit in
der Breite gibt es keine gute Spitze. Deswegen bringen
wir unser Paket auf den Weg.
Lassen Sie mich eines klar sagen: Frau Kumpf hat zu
Recht angesprochen - auch das gehört dazu -, dass wir
die Menschen allein mit diesem Paket nicht dazu bewegen können, ehrenamtlich tätig zu werden. Wir müssen
den Menschen deutlich machen, dass ehrenamtliches
Engagement eine Bereicherung für ihr eigenes Leben ist,
dass man dabei viele Kompetenzen erwirbt, die man
auch im Berufsleben nutzen kann. Deshalb müssen Unternehmen ehrenamtliches Engagement fördern. Hier
geht es um soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit und
Führungsstärke, aber auch um geistige und körperliche
Fitness. Viele Unternehmen geben eine Menge Geld aus,
um über Schulungsmaßnahmen Fähigkeiten zu vermitteln, die im Verein täglich gelebt werden. Wir müssen
gerade jungen Leuten und allen anderen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen, deutlich machen: Der Ehrenamtliche ist nicht der Dumme, er ist der Schlaue. Er
muss von uns unterstützt werden. Das tun wir.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Detlef Seif, auch für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mangel des vorliegenden Gesetzentwurfes wurde angesprochen: Sein Name ist furchtbar, nicht hinnehmbar und bedarf der Änderung.
({0})
Wir beraten den Entwurf heute in erster Lesung. Wir alle
wissen, dass der Gesetzentwurf in Teilbereichen noch
geändert werden kann und auch geändert werden sollte.
({1})
Bei der Diskussion konnte man in der Tat den Eindruck bekommen, dass es sich um ein Streitthema handelt.
Das Versöhnende stelle ich voran: Wir alle schätzen die
23 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, die ehrenamtlich tätig sind.
({2})
Wir alle wissen, wie wichtig das ehrenamtliche Engagement für die Gesellschaft ist. Wir alle haben ein Interesse
daran, das Ehrenamt zu fördern und zu unterstützen.
({3})
In Bezug auf die Historie ist auf Folgendes hinzuweisen: Im Frühjahr 2011 gab es eine Initiative der Länder
Baden-Württemberg und Saarland. Sie betraf einzig und
alleine die Einführung eines neuen § 31 b BGB. Es ging
darum, eine Haftungserleichterung auch für Mitglieder
eines Vereins herbeizuführen, wodurch sie im Prinzip
mit den Vorstandsmitgliedern gleichgesetzt werden sollten.
({4})
Das haben einige Koalitionspolitiker zum Anlass genommen, zu sagen: Das kann doch nicht wahr sein. Es
gibt doch viele andere Bereiche, die ebenfalls geregelt
werden müssen. - Deswegen wurde der vorliegende Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Diesen Ansatz sollte
man lobend erwähnen.
({5})
Die Erhöhung der Übungsleiterpauschale von 2 100
auf 2 400 Euro sowie der Ehrenamtspauschale von 500
auf 720 Euro wurden angesprochen. Es handelt sich
nicht um eine abzugsfähige Vergütung, sondern um eine
Pauschale. Erst wenn diese überschritten wird, kommt
die Steuerwirksamkeit zum Tragen. Frau Paus, das sollten Sie zukünftig berücksichtigen.
({6})
Die Erhöhung der Umsatzgrenze für Sportvereine bei
sportlichen Veranstaltungen von 35 000 auf 45 000 Euro
im Jahr ist ein Akt der Entbürokratisierung. Andernfalls
müssen die Vereine für reine Sportveranstaltungen Aufzeichnungen in erheblichem Umfang durchführen, was
die Vereine in der Vergangenheit belastet hat.
Vorhin wurde die Frage gestellt: Warum gilt dies nur
für Sportvereine und nicht für andere Organisationen?
Das betrifft über 70 000 Sportvereine, die rein sportliche
Veranstaltungen durchführen. Legen Sie uns im weiteren
Verfahren dar, welche anderen Vereine betroffen sind.
Sie können davon ausgehen: Wenn es wirklich noch Regelungsbedarf gibt, dann werden wir den Gesetzentwurf
entsprechend anpassen. Ihre Ausführungen waren bisher
nur abstrakt, Sie haben keine konkreten Fallbeispiele gebracht.
({7})
Die Frist, innerhalb der steuerbegünstigte Körperschaften ihre Mittel verwenden müssen, wird um ein
Jahr verlängert. Auch die Wiederbeschaffungsrücklage
wird neu geregelt. Dies führt zu einer Entlastung der
Vereine, weil sie nicht unter dem Druck stehen, etwas
tun zu müssen, nach dem Motto: Wir haben da noch etwas in der Kasse, das muss unbedingt ausgegeben werden.
Kaum lag der Gesetzentwurf vor und wurde vom
Bundeskabinett beschlossen, wurde auch schon erste
Kritik geübt. Frau Kumpf, Sie hatten direkt, wahrscheinlich im Eifer des Gefechts, eine Pressemitteilung herausgegeben. Sie haben unter anderem in Bezug auf
§ 52 Abgabenordnung kritisiert, dass Engagement insgesamt förderungswürdig sei und nicht nur, wenn bestimmte Zwecke erfüllt würden.
({8})
- Richtig, das ist eine alte Kamelle. Sie haben eine
Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die
Antwort war: Förderungswürdig sind nur die Tätigkeit
und das Engagement, die oder das tatsächlich mildtätig,
gemeinnützig oder kirchlich-kulturell ist. Daran ist auch
nichts zu ändern.
({9})
Sie haben kritisiert, dass die Vereine in Bezug auf öffentliche Zuschüsse Gefahr liefen, in eine Falle zu tappen. Öffentliche Zuschüsse müssten eindeutig umsatzsteuerfrei gestellt werden. Allgemeine Zuschüsse, das
heißt Zuschüsse ohne Gegenleistung, waren und sind
umsatzsteuerfrei, und sie werden auch Zukunft umsatzsteuerfrei bleiben. Geht es um die Fälle, in denen der
Verein Gegenleistungen vereinbart, kann ich nur empfehlen, eine andere Rechtsgestaltung zu wählen. In den
meisten Fällen ist das überhaupt kein Problem.
Wir sehen keinen Bedarf, das Gesetz an dieser Stelle neu
zu regeln. Die Kritik, die Sie hier und im Vorfeld geübt
haben, ist Teil einer regelrechten Neiddebatte.
({10})
Man kann Ihnen wirklich dankbar dafür sein, weil Sie
damit zeigen, dass der Gesetzentwurf gut ist.
({11})
Frau Höll, Sie haben gesagt, es würden flexible Rahmenbedingungen eingeführt.
({12})
- Sie sind nicht Frau Höll, das weiß ich. Ich gucke Sie
aber auch gern an.
({13})
Frau Höll, Sie haben von flexiblen Rahmenbedingungen gesprochen und gesagt, das Gesetz müsse verbindlich sein. Damit vernebeln Sie natürlich. Das Gesetz ist
und bleibt verbindlich, aber durch die Erhöhung der Umsatzgrenze von 35 000 Euro auf 45 000 Euro, durch die
Wiederbeschaffungsrücklage, die jetzt geregelt wird,
und durch die freie Rücklage, die man ein Jahr länger
verwenden kann, sind die Vereine in der Lage, flexibler
zu arbeiten. Das ist damit gemeint. Damit ist nicht gemeint, dass wir ein Gesetz haben, das in alle Richtungen
zu bewegen und völlig unverbindlich ist.
Machen Sie Ihre Vorschläge im Detail. Ich denke, wir
alle sind bei diesem Thema sehr engagiert, weil wir wissen, wie wichtig der Einsatz der Menschen in diesem
Land ist. Der Kollege Grindel hat es schon gesagt: Es
geht nicht darum, dass sich der Staat der Verantwortung
entzieht und staatliche Aufgaben überträgt. Das werden
wir Koalitionspolitiker sehr sorgfältig beobachten. Wir
werden Regelungen entgegenwirken, die etwas anderes
wollen.
Lassen Sie uns gemeinsam an dem Thema arbeiten.
Lassen Sie uns das Ehrenamt gemeinsam nach vorne
bringen und es fördern. Lassen Sie uns das Gesetz - vielleicht mit kleinen Änderungen - zügig umsetzen.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/11316 und 17/5713 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Hat jemand dazu andere Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann fängt das Ganze mit großem Einver-
nehmen an, und die Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 f auf:
a) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Jan Korte,
Sevim Dağdelen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Umgang mit der NS-Vergangenheit
- Drucksachen 17/4126, 17/8134 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,
Dr. Dietmar Bartsch, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
NS-Vergangenheit in Bundesministerien aufklären
- Drucksachen 17/3748, 17/9448 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({1})
Dr. Stefan Ruppert
Wolfgang Wieland
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Michael Kretschmer, Dr. Hans-Peter
Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten
Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann,
Angelika Krüger-Leißner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert, Patrick Kurth
({3}), Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern - Die
Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten staatlichen Institutionen in Bezug auf die
NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugang unterstützen und Bestandsaufnahmen
zur Aufarbeitung der frühen Geschichte der
Bundesministerien und -behörden sowie der
vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Roth
({4}), Tom Koenigs, Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NS-Vergangenheit von Bundesministerien und
Behörden systematisch aufarbeiten - Bestandsaufnahme zur Forschung erstellen Erinnerungsarbeit koordinieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Wolfgang Wieland, Jerzy
Präsident Dr. Norbert Lammert
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verantwortlichkeit der Bundesregierung für
den Umgang des Bundesnachrichtendienstes
mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf
Eichmann
- Drucksachen 17/11001, 17/10068, 17/4586,
17/11260 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({5})
Dr. Stefan Ruppert
Dr. Konstantin von Notz
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,
Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Demokratie durch Transparenz stärken - Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich regeln
- Drucksachen 17/6128, 17/11261 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({7})
Dr. Stefan Ruppert
Wolfgang Wieland
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({8}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla
Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen
- Drucksachen 17/2201, 17/11262 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({9})
Dr. Stefan Ruppert
Wolfgang Wieland
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({10}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla
Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichtes stärken
- Drucksachen 17/4037, 17/11383 Berichterstattung:
Abgeordnete Detlef Seif
Sebastian Edathy
Jens Petermann
Es liegt hierzu ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke zu ihrer Großen Anfrage vor.
Interfraktionell ist auch für diese Debatte eine Aussprache von 90 Minuten vorgesehen. Das findet offenkundig allgemeine Zustimmung und ist damit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
({11})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute, einen Tag vor dem 9. November, führen wir eine
wichtige Debatte, die aktueller denn je ist. Wieso? Vor
kurzem wurde bekannt, dass der BND jahrelang den
Aufenthaltsort von Adolf Eichmann kannte. Geschehen
ist nichts.
Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, verantwortlich für 7 591 Deportationen und 4 342 Hinrichtungen,
wurde 1966 Informant des BND. Er erhielt 500 DM pro
Monat. Carl-Theodor Schütz, ehemaliger SS-Hauptsturmführer, befehligte die Hinrichtung von 335 italienischen Geiseln. Wie gerade bekannt wurde, wurde er
hauptamtlicher Abteilungsleiter beim BND. Es hieß, er
sei eine charakterlich einwandfreie Persönlichkeit.
({0})
So steht es in seiner Personalakte, die erfreulicherweise
einmal nicht geschreddert wurde.
In der Antwort auf die Große Anfrage der Linken
zum Umgang mit der NS-Vergangenheit sagt die Bundesregierung in ihrer Einleitung - ich darf zitieren -:
Bund und Länder haben diese Aufarbeitung von
Beginn an … unterstützt.
Diese Behauptung ist
({1})
absurd. Sie ist wissenschaftlich nicht haltbar, und sie ist
im Übrigen politisch fahrlässig und inakzeptabel.
({2})
Die 50er- und 60er-Jahre waren geprägt durch das
Schweigen und die große Rückkehr der Täter in Amt
und Würden. Ralph Giordano nannte dies: „Der große
Frieden mit den Tätern“. Besonders bedauerlich ist gewesen, dass dies von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wurde.
Die Abwehr und Beendigung der Entnazifizierung
war ein wesentlicher Kern der frühen bundesdeutschen
Politik - im Hintergrund übrigens gesteuert und vorangetrieben von Leuten wie Werner Best, dem ehemaligen
Justiziar im Reichssicherheitshauptamt. Diese „Unfähigkeit zu trauern“, wie es die Mitscherlichs beschrieben
haben, beschädigte die demokratische Entwicklung der
Bundesrepublik; wir haben auch heute noch mit ihr zu
tun.
Die Bundesregierung widerspricht sich in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage übrigens selber. Das war
eben keine reine Erfolgsgeschichte. Die Bundesregierung listet auf: Ein Bundeskanzler und 26 Bundesminister waren NSDAP-Mitglieder. Noch erhellender ist die
Antwort auf diese Frage - ich zitiere sie -:
Wie viele Angestellte, Beamte, Mitarbeiter in Institutionen des Bundes sind nach 1949 aufgrund ihrer
NS-Vergangenheit aus dem Dienst entlassen worden?
Die Antwort der Bundesregierung - Zitat -:
Für den Verantwortungsbereich des AA wurden explizit aufgrund ihrer Tätigkeit im „Dritten Reich“
drei Personen aus dem Auswärtigen Dienst entlassen.
Drei! Man stelle sich das einmal vor! Wer die Ergebnisse
der Studie „Das Amt“ zur Kenntnis genommen hat,
weiß, welch verbrecherischen Charakter das Auswärtige
Amt hatte.
({3})
Im Bereich des Bundesjustizministeriums wurde eine
Person entlassen, und beim BKA wurden ganze drei Personen aufgrund einer NS-Belastung entlassen. Das Fazit
ist erschreckend: Offenbar war eine NS-Vergangenheit
der Schlüssel, um einen guten Posten in der frühen Bundesrepublik zu bekommen.
Noch erschreckender sind die Zahlen, die die Bundesregierung uns zum Thema „Berufsbeamtentum und öffentlicher Dienst“ mit auf den Weg gibt. Der öffentliche
Dienst wurde von den Alliierten ja als besonders naziverseucht eingestuft. Deswegen wurden die Beamten
dort zu Recht aus Amt und Würden herausgedrängt. Infolge der sogenannten 131er-Regelung des Grundgesetzes - das war ein Kernanliegen der damaligen Politik,
insbesondere der Konservativen im damaligen Bundestag - kehrten allerdings alle Berufsbeamten inklusive der
Gestapobeamten zurück an die Schaltstellen der jungen
Bundesrepublik. Ein paar Zahlen - Stichtag: 1955 -:
77,4 Prozent der Besetzungen im Verteidigungsministerium erfolgten aufgrund der 131er-Regelung; im Vertriebenenministerium waren es 71 Prozent, und im Wirtschaftsministerium waren es 68,3 Prozent.
Das Ausmaß des Skandals, dass diese Täter straflos
davonkamen, wird erst richtig deutlich, Kollege Kauder,
wenn Sie sich die Frage stellen: Wie hat es eigentlich auf
die Emigranten und die Opfer gewirkt, dass die Täter
wieder in Amt und Würden kamen? Der Historiker
Norbert Frei sagt zur 131er-Regelung kurz, knapp und
richtig:
Die Hitler den Staat gemacht hatten - kaum zehn
Jahre später waren sie, soweit nicht in Pension, fast
alle wieder in Amt und Würden.
Das sollte auch Sie aufregen.
({4})
Jetzt sagen Sie bestimmt: Das ist vielleicht alles richtig, aber trotzdem war es eine demokratische Erfolgsgeschichte. Das war es aber leider nicht; denn die Nazirichter waren nicht nur zurück, sondern sie prägten natürlich
auch die Rechtsprechung in diesem Land. Die Rechtsprechung wurde eben nicht geprägt von Leuten wie
Fritz Bauer oder Ernst Fraenkel, der den Nationalsozialismus trefflich als System „bürokratisierter Rechtlosigkeit“ analysierte.
Ich will das konkret belegen an der Gehilfenrechtsprechung: Der Kommandeur der Einsatzgruppe 8, der
die Ermordung von 15 000 Juden befohlen und eigenhändig mit geschossen hatte, wurde als Gehilfe, nicht als
Täter verurteilt. Der Adjutant von Auschwitz, der selber
an Selektionen teilnahm, wurde nicht als Täter, sondern
als Gehilfe verurteilt. Die Faustformel in der frühen
Bundesrepublik war: Je größer die Zahl der Ermordeten
und je monströser die Tat gewesen ist, umso geringer die
Strafe. Es muss uns doch umtreiben, dass das bis heute
nicht vollständig aufgearbeitet ist.
({5})
Die Folgen sind bekannt. Deswegen muss es jetzt darum gehen, alles offenzulegen. Ich kann nicht verstehen,
dass die Bundesregierung in einer Drucksache zur Aufarbeitung der Geschichte des Verfassungsschutzes folgende Auflage macht - ich zitiere -:
Das BfV begleitet die Drucklegung des Buches
- über seine Vergangenheit und entscheidet über presseöffentliche Maßnahmen zu seiner Bewerbung. Während der Projektphase verzichtet der Projektnehmer
- also die Wissenschaftler auf die Veröffentlichung von Teilergebnissen des
Projekts und auf öffentlichkeitswirksame Stellungnahmen zum Projekt,
({6})
sofern letztere nicht mit der Projektleitung im BfV
abgesprochen oder von dieser ausdrücklich gewünscht sind.
Das ist Zensur. Das ist der Sache nicht angemessen. Hier
müssen wir dringend etwas ändern.
({7})
Ganz kurz noch zu dem Antrag von CDU/CSU, FDP
und bedauerlicherweise auch SPD. Es stehen sicherlich
einige richtige Sachen in diesem Antrag, zum Beispiel
die Forderung, ein forschungsfreundliches Klima zu
schaffen. Dort steht auch, „dass im Westteil Deutschlands und Berlins der Aufbau einer stabilen freiheitlichJan Korte
demokratischen und sozial-marktwirtschaftlichen Ordnung früh gelungen ist“ - Zitat Ende -, das ist zum Teil
richtig. Aber es fehlt etwas, nämlich ein Hinweis darauf,
wie zum Beispiel mit Willy Brandt oder Fritz Bauer in
der frühen Bundesrepublik umgegangen worden ist. Wie
kann man als SPD so etwas unterschreiben? Das kann
ich nicht verstehen.
({8})
Ich möchte auf einen weiteren Aspekt eingehen. Wir
haben einen Antrag zur Anerkennung des Widerstandes
der Kommunistinnen und Kommunisten eingebracht.
Wir wissen aus der Geschichte, dass es im Zuge eines
wirklich maßlosen Antikommunismus Vorgänge gegeben hat, die heute nicht mehr akzeptabel sind. Durch das
Bundesentschädigungsgesetz wurden kommunistischen
Widerstandskämpfern, die zum Teil jahrelang im Konzentrationslager gesessen haben, in den 50er- und 60erJahren ihre Anerkennung und Würde genommen. Außerdem wurde damit natürlich auch die Unrechtsprechung gegenüber kommunistischen Widerstandskämpfern im Nachhinein legitimiert. Wir möchten mit
unserem Antrag auf diese Fehlentwicklung aufmerksam
machen. Wir wollen, dass auch heute der Widerstand
von Kommunistinnen und Kommunisten vom Bundestag anerkannt wird, so wie es Richard von Weizsäcker
übrigens schon 1985 eingefordert hat.
({9})
Der Spiegel schreibt - ich darf zitieren -:
Die Zahl der zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile gegen Kommunisten lag fast siebenmal so
hoch wie die gegen NS-Täter - obwohl die Nazis
Millionen Menschen ermordet hatten, während man
westdeutschen Kommunisten politische Straftaten
wie Landesverrat vorwarf.
Das kann doch nicht die letzte Position sein! Es gibt eine
Unteilbarkeit des Widerstandes, und zwar vom sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstand der Arbeiterbewegung bis zum Widerstand vom 20. Juli 1944.
Dem können sich jetzt endlich auch die Konservativen
beugen, indem sie diese wissenschaftlichen Erkenntnisse
zur Kenntnis nehmen und den Widerstandskämpfern
ihre Würde zurückzugeben.
({10})
Ich fasse zusammen: Ich glaube, der Bundestag, die
Bundesregierung und die Öffentlichkeit sollten nun darangehen, die Aufarbeitung der „zweiten Schuld“, wie
sie Ralph Giordano genannt hat, entschlossen anzugehen, und zwar ohne Verzögerung und ohne Reglementierung.
({11})
Wir sollten darüber nachdenken, wie diese Vorgänge auf
die Opfer gewirkt haben. Ich will deutlich sagen: Wir
müssen auch über politische Verantwortung reden, auch
ganz aktuell, und beispielsweise die Frage beantworten:
Wer trägt die politische Verantwortung dafür, dass im
Jahre 1996 und im Jahre 2007 beim BND Akten über die
NS-Verstrickungen zum Fall Alois Brunner geschreddert
worden sind? Das muss uns als Parlamentarier alle gemeinsam umtreiben!
({12})
Wir sollten heute auch der Minderheiten gedenken - zu
ihnen gehörten unter anderem Fritz Bauer, Martin
Niemöller, Eugen Kogon und Gustav Heinemann -, die
in der Bundesrepublik damals sehr alleine gestanden haben. Ihnen sollten der Dank und die Anerkennung des
ganzen Bundestages gelten. Sie haben nämlich vieles
sehr viel früher erkannt als einige andere.
Zum Schluss möchte ich ein Zitat vortragen. 1999
sagte Joachim Perels, ein bekannter Politikwissenschaftler und Sohn von Friedrich Justus Perels - er war einer
der Widerständler vom 20. Juli 1944 und Justiziar der
Bekennenden Kirche -:
Es ist an der Zeit, sich der Erkenntnisse der überwiegend misslungenen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Schreckenssystems in der jungen
Bundesrepublik zu stellen. Die kritische Reflexion
dieser großen Blockierung gehört zur Selbstfindung
unserer rechtsstaatlichen Demokratie.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich hoffe auf große Zustimmung zu den heute vorliegenden Anträgen.
Vielen Dank.
({13})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Armin Schuster.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Lieber Herr Korte, welches Geschichtsbild versuchen Sie uns eigentlich zu vermitteln?
Ich möchte nicht polemisch werden; aber diese Frage
drängt sich einfach auf: Wie kommen Sie nach so vielen
gemeinsamen Jahren auf die Idee, in Ihrer Rede ausschließlich zu fragen: „Wie hat sich die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf die junge Bundesrepublik
ausgewirkt?“
({0})
Was soll denn das? So sahen DDR-Geschichtsbücher
aus; aber wir befinden uns im Jahr 2012.
({1})
Armin Schuster ({2})
Wir möchten mit unserem Antrag erreichen, dass die
Geschichte in ganz Deutschland aufgearbeitet wird. Wir
dürfen nicht nur die Frage stellen: „Wie war es in der
jungen Bundesrepublik?“, wir müssen auch vergleichen:
„Wie war es in der DDR?“ Eine einseitige Betrachtung
wie in den Geschichtsbüchern der DDR bringt uns
nichts.
({3})
Meine Damen und Herren, zwischen 1933 und 1945
ist unendliches Leid von deutschem Boden ausgegangen:
({4})
Menschen wurden planmäßig und in nie dagewesenem
Umfang vernichtet, Andersdenkende gnadenlos verfolgt.
Der Zweite Weltkrieg hat Europa weitgehend verwüstet.
Mit nicht enden wollender Akribie vernichteten Hitler
und seine Gefolgsleute - hinter ihnen eine jubelnde
Masse und zahllose Helfershelfer - einen Großteil des
deutschen Judentums.
({5})
Spätestens seit den 68ern treibt unsere Gesellschaft
die Frage um: Wer waren diese Menschen, wie haben sie
nach dem Ende der NS-Herrschaft weitergelebt, und, vor
allen Dingen: wo haben sie gearbeitet? Immerhin war
die Nachkriegsverwaltung in beiden Teilen Deutschlands auf Personal mit Verwaltungserfahrung angewiesen, und ein irgendwie funktionierender Verwaltungsapparat stand schließlich zur Verfügung. Es gibt viele
rationale und irrationale Gründe dafür, warum wahrscheinlich viele NS-belastete Personen, Menschen mit
schwerer Schuld, in der Exekutive der neu gegründeten
Bundesrepublik und in der DDR die Geschicke des Landes geführt haben. Dies zu erklären oder gar zu entschuldigen, ist gar nicht Gegenstand dieser Debatte, meine
Damen und Herren.
({6})
Wir beschäftigen uns mit der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945
({7})
sowie mit der Zeit davor und danach. Bis heute gibt es
viele gefragte Forschungsgebiete, die diese Zeit zum Gegenstand haben.
({8})
Es gibt unzählige Publikationen. Viele Bereiche sind gut
erforscht. Trotzdem ist das Interesse der Wissenschaftler
- glücklicherweise - ungebrochen. Neue Aspekte, neue
Fragestellungen kommen immer wieder auf.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwei deutsche
Staaten gegründet, die mit einem schweren Erbe umgehen mussten. Wie die alten Eliten in beiden Teilen integriert wurden, lässt sich vor allem anhand von Archivbeständen des Bundes näher beleuchten. Auch die Rolle
der Alliierten auf diesem Feld könnte weiter erforscht
werden.
Für uns, Herr Korte, ist vor allem die Frage spannend,
wie und warum sich in der Bundesrepublik Institutionen
und Eliten mit all diesen Kontinuitäten in Politik und
Verwaltung im Vergleich zur DDR so unterschiedlich
entwickeln konnten und warum sich bei ähnlichen personellen Voraussetzungen auf der einen Seite der Mauer
ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat, die
Bundesrepublik, entwickeln konnte, auf der anderen
aber nicht - ich will nicht sagen: das Gegenteil.
({9})
Eine spannende Frage ist zum Beispiel: Kommt dem
Bundesverfassungsgericht für die Entwicklung von
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Bundesrepublik eventuell eine entscheidende Bedeutung zu? Das alles gilt es noch zu untersuchen. Deshalb zielen wir in unserem Antrag darauf ab, dass zum Beispiel auch die
Akten zu Abwägungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen leichter zugänglich werden.
Rein quantitative Fragestellungen wie in Ihrer Großen
Anfrage, meine Damen und Herren von den Linken,
greifen aus meiner Sicht zu kurz. Die NSDAP-Mitgliedschaft eines Beamten beispielsweise ist nur bedingt aussagekräftig.
({10})
Art und Schwere der Verstrickung sollten im Einzelfall
untersucht werden.
({11})
Einzelfallprüfungen sind aufwendig und erweisen sich
aufgrund lückenhafter Aktenbestände oft als schwierig.
Aber wenn die Verstrickung eines Beamten festgestellt
wurde, kann man auch die Frage stellen: Inwiefern hat
sie Einfluss auf seine Arbeit und auf seine Entscheidungen gehabt?
Eine methodische Herangehensweise zur Lösung dieser Fragen wollen wir nicht vorgeben. Das gehört zur
Forschungsfreiheit, die wir auf jeden Fall bewahren wollen.
({12})
Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Rahmenbedingungen für die Forschung zu verbessern, Archivbestände zu
sichern und weitere Akten in die Hände des Bundesarchivs zu geben. Die Wissenschaftler sollen in Deutschland ein forschungsfreundliches Klima in den Behörden
vorfinden.
Wir brauchen dafür nicht eine staatlich gesteuerte
Auftragsforschung, wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern.
Wer den Wissenschaftlern Fragestellungen vorgibt,
Armin Schuster ({13})
greift nicht nur in deren Freiheit ein, sondern deutet und
begrenzt. Das ist genau das, was Sie gerade eben in Ihrer
Rede auch getan haben.
Wir konzentrieren uns darauf, dem einzelnen Wissenschaftler bessere Rahmenbedingungen bei der Akteneinsicht und der Sicherung der Akten zu bieten. Sein Forschungsobjekt, seine Methoden, seine Quellen und seine
Fragestellungen sollte er selbst wählen können. Damit
können auch seine Ergebnisse in einem sachlich neutralen Umfeld diskutiert werden, ohne sofort politisch bewertet zu werden.
({14})
Herr Kollege Schuster, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Korte?
Ja.
Bitte schön, Herr Korte.
Kollege Schuster, ich habe dazu eine ganz konkrete
Frage. Sie unterstellen hier sozusagen, dass die Opposition staatliche Auftragsarbeit will und die Forschungsfreiheit nicht ernst nimmt. Deshalb möchte ich Sie fragen: Wie schätzen Sie die Studie Das Amt und die
Vergangenheit oder die Studie zum BKA ein? Sie zu erstellen, waren ja politische Entscheidungen, die von der
rot-grünen Regierung auf den Weg gebracht wurden,
aber auch von Ihren Regierungen weiter getragen wurden.
({0})
Was ist das denn dann, bitte schön?
({1})
Wir haben in - ich glaube - fünf Ministerien unabhängige Historikerkommissionen eingesetzt, deren Arbeit schon abgeschlossen ist. In mindestens einem
Ministerium und zwei Behörden laufen gerade die Arbeiten unabhängiger Historikerkommissionen.
Mit unserem Antrag gehen wir der Frage nach, die Sie
jetzt stellen: Haben wir in Wirklichkeit alles erforscht?
Unser Antrag soll zu einer reinen Bestandsaufnahme
führen. Wir überprüfen uns quasi noch einmal selbst.
Waren diese unabhängigen Historikerkommissionen
richtig eingesetzt? Haben sie die richtigen Fragen beantwortet? Gibt es weitere zu stellen? Insofern sehe ich
überhaupt keinen Grund, anzunehmen, dass wir da etwas
falsch gemacht hätten. Allein das Wort „unabhängig“ erklärt doch schon alles.
Im Übrigen wird der Fall Barbie/Eichmann, den Sie
ansprechen, durch eine unabhängige Historikerkommission, die im BND arbeitet, gerade bearbeitet. Es gibt
nicht die geringsten Zweifel daran, dass alle Akten, die
verfügbar sind, dieser Kommission zur Verfügung gestellt werden,
({0})
sodass die Kommission diesen Fall glasklar aufarbeiten
kann. Insofern weiß ich gar nicht, was Sie mir mit Ihrer
Frage sagen wollen.
({1})
- Macht nichts, Frau Roth.
({2})
- Ja, Sie kommen ja aus dem gleichen Ländle.
({3})
Um bei dem Thema Akteneinsicht zu bleiben: Einigen, hoffentlich wenigen, hier in diesem Haus ist nach
wie vor nicht klar, warum wir nicht jede Akte für jedermann jederzeit zugänglich machen. „VS“ heißt „Verschlusssache“, etwas, das unter Verschluss bleibt und der
Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden soll.
Dies geschieht im öffentlichen Interesse und dient vor
allem der inneren Sicherheit.
Gerade weil Deutschland beispielsweise bevorzugtes
Spionageziel ist, brauchen wir die Verschlusssachenklassifizierung. Wir wollen damit verhindern, das extremistische und kriminelle Organisationen zu viel über die Bekämpfungsstrategien unserer Sicherheitsorgane erfahren.
({4})
Herr Kollege Schuster, jetzt würde gerne der Kollege
Beck eine Zwischenfrage stellen.
Nein.
Nein, keine Zwischenfrage mehr.
Ich führe zu Ende. - Vertraulichkeit ist in manchen
Lebenssituationen unerlässlich und eben auch im staatlichen Handeln manchmal notwendig. Klar muss aber
auch sein, dass nur die Vorgänge den Stempel „VS“ erhalten, bei denen er wirklich sinnvoll ist.
Armin Schuster ({0})
Herr Korte, in Ihrem Antrag zur Deklassifizierung beklagen Sie, dass das Bundesministerium des Innern eine
Verwaltungsvorschrift über Verschlusssachen so verändert habe, dass keine automatische Freigabe mehr erfolge. Das ist nicht richtig. Im Jahr 2009 hat das Kabinett
Eckpunkte beschlossen, nach denen Verschlusssachen innerhalb festgelegter Zeiträume hinsichtlich ihrer Offenlegung zu prüfen sind.
Die Regelung sieht vor - jetzt komme ich einmal zum
Einzelnen -, dass bis zum Januar 2013 die Geheimakten
aus den Jahren 1949 bis 1959 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Dokumente aus der Zeit
bis 1994 sollen dann schrittweise bis 2025 freigegeben
werden, danach jährlich drei weitere Jahrgänge. Für die
Akten ab 1995 gilt eine Sperrfrist von 30 Jahren. Das ist
aus meiner Sicht gut und gangbar. Es ist natürlich nicht
die Forderung, die Sie erheben: automatische Deklassifizierungen von Verschlusssachen nach 20 Jahren.
Ein Beispiel: Vor knapp 20 Jahren hat der Antiterroreinsatz der GSG 9 in Bad Kleinen stattgefunden; Sie
denken an Grams und Hogefeld. Das war vor knapp
20 Jahren, so schnell geht das. Auch heute noch ließen
sich aus den Unterlagen, würden wir diese jetzt deklassifizieren, wertvolle Rückschlüsse auf die Einsatzverfahren von Ermittlungen und Einsatzkräften der GSG 9
ziehen.
({1})
Es kann doch nicht in unserem Interesse und auch nicht
im Interesse der inneren Sicherheit sein, dass wir so
etwas jetzt öffentlich zugänglich machen.
({2})
- Ja, bei Ihnen kann ich mir das gut vorstellen. - Insofern ist die von Ihnen beantragte automatische Deklassifizierung sicherheitsfachlich kaum nachvollziehbar,
vielleicht sogar ein bisschen weltfremd.
Unbestritten ist dagegen, dass wir die Quellen zur
Erforschung der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten sichern und zugänglich machen. In einem
intensiven Austausch mit den Kollegen von der SPD
haben wir Koalitionsabgeordnete über Monate hinweg
darum gerungen, wie die Forschung zur NS-Vergangenheit in den Behörden der Bundesrepublik und der DDR
weiter forciert werden kann.
Die Sachverständigen haben in der Anhörung Anfang
dieses Jahres empfohlen, die Anpassungsfähigkeit von
Eliten zu erforschen. Deshalb wollen wir zunächst eine
fundierte Bestandsaufnahme. Immerhin gibt und gab es
in vielen Ministerien und Behörden bereits die angesprochenen Historikerkommissionen. Das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam sollen ermitteln, wie
weit die Forschung in diesem Bereich ist und wo noch
Forschungsbedarf besteht.
Ich bin dankbar, dass wir dieses Thema im Einvernehmen mit der SPD gestaltet haben. Mit unserem
Antrag erleichtern wir künftig die Erforschung der NSVergangenheit sowie der Kontinuitäten in der DDR und
der Bundesrepublik, und wir bewahren gleichzeitig die
Forschungsfreiheit. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Antrag.
Danke schön.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Kollege hat gerade über die Frage der Deklassifizierung
gesprochen. Ich verstehe das mit den 20 Jahren; das ist
etwas pauschal. Aber Sie haben um die Ziffer II des Antrags der Linken herumgeredet. Wir werden auch Teilung der Abstimmung an diesem Punkt beantragen. Da
fordert die Linke - und dagegen kann man meines Erachtens nichts einwenden -, dass „sämtliche Unterlagen,
die mittelbar oder unmittelbar im Zusammenhang mit
den Verbrechen der NS-Vergangenheit stehen, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Erstellung sofort deklassifiziert und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt
werden sollen“.
Ich vermag nicht zu erkennen, dass es in Bezug auf
die Causa Barbie noch Vorgänge gibt, die VS-gestempelt
sein müssen und der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden können. Ich vermag auch nicht zu sehen,
wer ein öffentliches Interesse daran haben könnte, dass
die Arbeit unserer Geheimdienste vor einer öffentlichen
Diskussion geschützt wird, wenn es darum geht, dass
NS-Leute vor Entdeckung geschützt wurden oder man
Informationen über ihren Verbleib nicht nachgegangen
ist. Angesichts der Diskussion, die wir hier im Hohen
Hause über den Umgang mit Rechtsextremismus und
den Geheimdiensten haben, gibt es wirklich keinerlei
Veranlassung, sich vor die Dienste zu stellen und zu
sagen: „Das dürft ihr im stillen Kämmerlein machen, das
geht uns als Parlament nichts an.“ Da wir die Arbeit der
Geheimdienste über den Bundeshaushalt finanzieren und
auch als Parlament verantworten, kann ich nicht nachvollziehen, dass wir hier den Zugang zu diesen Vorgängen nicht haben sollen.
Deshalb rate ich Ihnen, nachher mit uns gemeinsam
dieser Ziffer in dem Antrag der Linken zuzustimmen,
damit diese Sachen ans Licht kommen. Es ist richtig:
Nach 20 Jahren kann es bei anderen Vorgängen noch
außenpolitische oder sicherheitspolitische Interessen
geben, die ich aber in diesem Kontext generell ausschließen würde. Da müssten Sie mir schon erklären, wo da
die Arbeit unserer Geheimdienste gefährdet sein soll,
wenn diese Vorgänge ans Licht kommen. Da ist allenfalls eine falsche Kameraderie gefährdet.
({0})
Zur Erwiderung Kollege Schuster.
Herr Kollege, auch wir sehen keine Gründe dafür, solche Dinge geheim zu halten. Deswegen haben wir Historikerkommissionen eingerichtet.
({0})
Deswegen haben wir gesagt, dass wir alle Akten aus der
Zeit zwischen 1949 und 1959 offenlegen.
Ich wäre Ihnen trotzdem dankbar, wenn Sie bei Ihrem
Vokabular aufpassten. Ich würde mitgehen, wenn Sie
über das Thema „Geheimdienste und Mauscheleien“,
was die NS-Zeit anbelangt, sprechen. Aber ich möchte
Sie bitten, den Begriff „Geheimdienste und Mauscheleien“ nicht im Zusammenhang mit der Bundesrepublik
Deutschland zu benutzen.
({1})
Ich habe auch als Mitglied des Untersuchungsausschusses ein gutes Gefühl, wenn ich sage: Das sind bundesdeutsche Nachrichtendienste,
({2})
bei denen vielleicht Fehler gemacht werden - diese werden übrigens auch in Ihrer Fraktion gemacht -, aber es
gibt keine vorsätzlichen Mauscheleien oder sonst irgendetwas in der Art.
({3})
Da stelle ich mich ganz klar vor die Dienste.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Thierse für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich habe den Artikel in der Süddeutschen Zeitung
gelesen, aus dem Kollege Korte schon zitiert hat. Das ist
ein wahrlich erschreckendes Beispiel für das Problem,
über das wir hier diskutieren.
Jener Carl Theodor Schütz war für die Organisation
Gehlen und dann für den Bundesnachrichtendienst tätig.
Ich will auch noch einmal zitieren, weil man angesichts
dessen wirklich fassungslos ist. Ihm wird bescheinigt, so
die Akten des BND, dass er eine „charakterlich einwandfreie, ausgereifte, sensible, temperamentvolle Persönlichkeit“ und ein „Vorbild für die Mitarbeiter“ sei.
Dabei war dieser Schütz 1944 als Hauptsturmführer an
dem berüchtigten Massaker an den Ardeatinischen
Höhlen, nahe Rom, beteiligt, also am sogenannten Geiselmord an 335 italienischen Menschen.
Nun kommt es: Bereits 1933 war er wegen Körperverletzung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt
worden. Nach einem Trinkgelage hatte er gemeinsam
mit SS-Kameraden eine Wohnung gestürmt und die vermeintlich kommunistischen Bewohner, darunter eine
Frau, brutal misshandelt. Dafür ist er verurteilt worden.
Für seine Beteiligung an Kriegsverbrechen musste sich
Schütz nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland
nicht verantworten, obwohl sie dem BND bekannt war.
Ein wahrlich erschreckendes Beispiel! Die Forschungen
der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte
des BND haben diese Fakten zutage gefördert. Wir
konnten sie vor wenigen Tagen nachlesen.
Die Karriere von Schütz ist mit Sicherheit kein Einzelfall. Sie zeigt nur besonders eindringlich, dass wir
weiter nachfragen müssen. Sie zeigt, dass wir noch lange
nicht alles über die Frühgeschichte der Bundesministerien und -behörden wissen. Sie macht deutlich, dass der
Weg in die bundesdeutsche Demokratie keineswegs so
selbstverständlich und so glatt war, wie manche heute
denken oder behaupten.
({0})
Die Tatsache allein, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder in Behörden oder Ministerien der Nachkriegszeit
eine Anstellung fanden, ist dabei wenig bemerkenswert.
Wer 1945 für eine Stunde null hält, muss sich nur fragen,
wohin jene Deutschen denn plötzlich verschwunden sein
sollten, die im Jahr zuvor noch Bürger des Dritten Reiches waren, in welcher Rolle auch immer.
Wichtiger ist es deshalb, nach der Qualität der Täterschaft, des Mitläufer- oder Denunziantentums zu fragen,
die sich in Biografien von Mitarbeitern und Beamten in
Ministerien und Behörden widerspiegelt. Es ist nach
dem Geist zu fragen, der die Arbeit in Behörden und
Ministerien der jungen Bundesrepublik und auch der frühen DDR bestimmte, nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Verwaltungspraxis. Und es ist danach zu
fragen, wie sich die Umstellung, die Transformation von
der NS-Diktatur zu westdeutscher Demokratie und zum
System der DDR mit Funktionseliten vollzog, die durch
ihre Erfahrungen und ihr Handeln im Nationalsozialismus geprägt waren.
Angesichts vielfacher personeller und auch institutioneller Kontinuitäten wird erklärlich, wie schwer es ehrliche und konsequente Aufarbeitung der Nazivergangenheit bis in die 60er-Jahre in der Bundesrepublik hatte.
Ich erinnere nur an die mühsame Aufklärungsarbeit des
hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer und an die
Anfeindungen, denen er bis zu seinem Tode ausgesetzt
war. Wie viel Verdrängung begleitete die Entwicklung
der westdeutschen Demokratie? Wie viel Verdrängung
kaschierte der staatsoffizielle, autoritäre Antifaschismus
der DDR? Kollege Korte, wenn Sie über dieses Kapitel
unserer gemeinsamen Geschichte ein einziges Wort verloren hätten,
({1})
wäre es glaubwürdiger, wie Sie Ihr Anliegen vertreten.
({2})
Herr Kollege Thierse, der Kollege Korte möchte
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich warte schon darauf.
Bitte, Herr Korte.
Herr Kollege Thierse, wenn Sie die Fragen der Linken in der Großen Anfrage zur Kenntnis genommen hätten, dann hätten Sie sich eine solche Bemerkung vielleicht verkniffen. Wir haben dort nämlich explizit - ich
betone: explizit - nach NS-Funktionseliten in Strukturen
und Behörden der DDR gefragt. Ich glaube, aus vielen
Debatten kennen Sie in etwa meine Position zu diesen
Fragen. Heute habe ich in meiner Rede einen anderen
Schwerpunkt gesetzt. Schön wäre - um das zu beantworten, Kollege Thierse -, wenn die Bundesregierung bzw.
die Koalitionsfraktionen, die wieder mit besonderem
Engagement in Verhaltensweisen des Kalten Kriegs zurückfallen, zur Kenntnis nähmen, dass in unserer Großen
Anfrage eine neunseitige Literaturliste zu ehemaligen
Nazis in der DDR zu finden ist.
Letzte Anmerkung, die ich dazu machen möchte. Es
gibt nun einmal einen qualitativen Unterschied. Bei
allem Unrecht, das es in der DDR gab, waren dort die
NS-Funktionseliten aus Reichssicherheitshauptamt, NSBürokratie und -Staatswesen nicht in den oberen und
zentralen Etagen der Verwaltung und der Regierung zu
finden. Das muss man doch bei einer solchen Debatte
zur Kenntnis nehmen. Es muss doch möglich sein, einen
solchen Unterschied darzulegen.
({0})
Herr Kollege Korte, in Bundestagsdebatten gilt das
gesprochene Wort.
({0})
Ich habe genau auf das reagiert - Sie haben hoffentlich
zugehört -, was Sie hier gesagt haben. Ich habe nicht
übersehen, dass die Große Anfrage Ihrer Fraktion auch
ein paar Fragen zu dem angesprochen Themengebiet
enthält.
({1})
Wenn man aber hier über die Geschichte der jungen
Bundesrepublik im Ton der Anklage redet - das kann ich
in emotionaler Hinsicht verstehen -, dann muss man als
ehemaliger DDR-Bürger auch ein paar Sätze über die
Geschichte der DDR und ihre Art des Antifaschismus
sagen.
({2})
- Entschuldigen Sie, das kenne ich doch. Sie werden
nicht oft erleben, dass ich Ihnen die Vergangenheit der
SED vorhalte. Aber gelegentlich, gerade wenn man sich
mit der Vergangenheit befasst, sollte sie eine selbstkritische Bemerkung wert sein. Nicht mehr und nicht weniger habe ich mit meiner kleinen Bemerkung an Sie sagen
wollen.
({3})
Mit der Beantwortung der von mir vorhin formulierten Frage, wie viel Verdrängung in beiden Teilen
Deutschlands auf höchst unterschiedliche Weise eine
Rolle gespielt hat, gewinnen wir hoffentlich neue Einsichten über das Wesen und Werden unseres Gemeinwesens. Forschung und öffentliche Diskussion sollten sich
nicht darin erschöpfen, einfach historische Fakten aufzuzählen oder gewissermaßen ein Namedropping zu betreiben. Sie sollen und können vielmehr in eine aufrichtige
gesellschaftliche Selbstverständigung über den Weg zu
unserer Demokratie münden. Ich will das noch einmal
sagen: Beides ist erklärungsbedürftig, das Weiterwirken
von Nazitätern und Schuldiggewordenen sowie der
Umstand, dass daraus eine Demokratie entstanden ist.
Beides sollte Gegenstand der Betrachtung sein. Beides
müssen wir erklären. Das ist ein selbstkritischer Umgang
mit der Geschichte und ihren Widersprüchen, aus denen
wir heute demokratisches Selbstbewusstsein gewinnen
können. Das ist der Sinn dieser Aufgabenstellung.
({4})
Diesem Ziel dient der Antrag, den meine Fraktion gemeinsam mit CDU/CSU und FDP eingebracht hat. Er ist
- das sage ich nicht aus Eitelkeit - auf meine Initiative
hin entstanden. Der erste Antrag, den ich formuliert
habe, ist anderthalb Jahre alt. Ich bin froh, dass wir nun
darüber diskutieren; denn es waren einige Hürden zu
überwinden. Es hat sehr lange gedauert, bis Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, sich
diesem Anliegen haben anschließen können.
Das Anliegen ist, eine Bestandsaufnahme in Auftrag
zu geben, die die Desiderate der Forschung, das, was
bisher nicht geleistet und aufgeklärt worden ist, ermittelt. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin,
zwei aus Bundesmitteln teilfinanzierte Institute, sollen
dieses Gutachten ausarbeiten. Unsere Kernforderung erachten CDU, CSU und FDP als richtig und wichtig. Der
gemeinsame Antrag spiegelt das wider. Die Grünen, die
sich der gemeinsamen Initiative nicht anschließen wollten, haben diese Forderung jedenfalls inhaltlich auch in
ihrem Antrag.
Die Bestandsaufnahme soll im weiteren Verfahren
nicht einen Schlussstrich ziehen, sondern der Vorbereitung eines nächsten Schrittes dienen, einer adäquaten, an
aktuellen Methoden und Fragestellungen orientierten Erforschung einzelner Ministerien und Behörden, ohne
jede Beschönigung. Dass es einer solchen Bestandsaufnahme bedarf, hat ein sehr informatives Expertengespräch im Kulturausschuss gezeigt. In Auswertung dieses Gesprächs ziehen wir mit dem Antrag eine konkrete
Schlussfolgerung.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der
Ministerien und Behörden des Bundes hat bereits - es ist
schon daran erinnert worden - in der Zeit rot-grüner Regierungsverantwortung begonnen. Joschka Fischer und
Frank-Walter Steinmeier haben dazu wesentlich beigetragen. Die Debatte über die Traditionspflege im Auswärtigen Amt und die 2010 erschienene Studie Das Amt
und die Vergangenheit: deutsche Diplomaten im Dritten
Reich und in der Bundesrepublik haben, wie auch immer
die Studie im Einzelnen bewertet werden mag, zu neuem
Nachdenken geführt. Inzwischen arbeiten Ministerien
wie das Finanz- und das Justizministerium ihre Geschichte auf. Einzelne Studien wie die über das BKA
sind bereits abgeschlossen.
So gut diese Entwicklung insgesamt ist, so bleiben
doch immer noch Defizite zu beklagen, und zwar was
den Zugang zu Aktenmaterial und die Veröffentlichung
der Forschungsergebnisse betrifft. Verstecken und Unterdrücken ist einfach nicht mehr an der Zeit. Da sollten
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und FDP, sich einen Ruck geben und sagen: Hier sollte
der öffentliche, direkte Zugang zu diesem Teil der Akten
nicht mehr behindert werden. - Es ist nicht verständlich,
dass dieser Zugang immer noch behindert wird.
({5})
Vor über einem Jahr haben wir genau deshalb schon
einen Antrag formuliert. Er ist vom 28. Juni 2011 und
trägt den Titel: „Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brüche in deutschen Ministerien und Behörden
der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich NS-Vorgängerinstitutionen untersuchen“. Mit dem heutigen Antrag
kommen wir einen konkreten Schritt weiter. Mir ist es
darum gegangen, dass wir eine Mehrheit für einen Antrag finden, der einen Fortschritt erzielt. Darum geht es.
Angesichts der Bedeutung - ich hoffe, da sind wir uns,
bei allen anderen Meinungsverschiedenheiten, einig -,
die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit
für unser Selbstverständnis hat und wohl auch mit Sicherheit weiterhin haben wird, lade ich alle Fraktionen
ein, diesem weiteren Schritt zuzustimmen. Dann geht die
Diskussion weiter, was anschließend noch zu tun ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Stefan Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal finde ich es ausgesprochen gut,
dass wir an so prominenter Stelle
({0})
über die Wurzeln der frühen Bundesrepublik und über
Fragen von personeller und inhaltlicher Kontinuität
reden.
({1})
Es ist Zeichen einer reifen und gefestigten Demokratie,
dass sie mit ihrer eigenen Vergangenheit souverän und
durchaus selbstkritisch umgehen kann. Insofern finde
ich, dass diese Form der Vergangenheitspolitik, um den
Historiker Norbert Frei zu zitieren, für einen reifen
Rechtsstaat die angemessene ist.
Ich freue mich auch über die Gemeinsamkeit mit den
Sozialdemokraten in dieser Frage. Es ist doch gut, wenn
wir die Gemeinsamkeiten in solchen Themen besonders
betonen und alle zeigen, dass es uns darum geht, uns diesen Kontinuitäten zu stellen, statt sie dazu zu nutzen, um
uns gegenseitig zu bezichtigen, dass der eine das besser
macht als der andere.
Es ist doch unstreitig, dass in der frühen Bundesrepublik eine erhebliche personelle Kontinuität bestanden
hat. Wo sollten auch all die Menschen geblieben sein,
die zwischen 1933 und 1945 in der einen oder anderen
Form mitgewirkt haben? Sie verschwanden nicht auf
einmal, sondern sie waren natürlich an gewissen Stellen
und haben die Kontinuität in der Verwaltung und auch in
den Ministerien geprägt. Das ist unstreitig.
Auch wir als Parteien haben natürlich Kontinuitäten.
Meine Partei zum Beispiel erforscht gerade, dass es in
Niedersachsen, aber auch in Nordrhein-Westfalen durchaus Ortsverbände gab, wo die Zahl an Nationalsozialisten besonders hoch war und wo es keine kritische Distanz gegeben hat. Das abzugrenzen von den Fällen, wo
sich Einzelne durchaus der Verantwortung für ihre Vergangenheit gestellt haben und sich in das Gemeinwesen
der frühen Bundesrepublik integriert haben, ist Aufgabe
historischer Forschung. Dem stellen sich Parteien, und
zwar SPD, CDU, FDP und, ich nehme an, auch die Grünen. Insofern glaube ich, wir sollten uns nicht gegenseitig Dinge vorwerfen, sondern wir sollten diese geschichtlichen Tatbestände erforschen, zur Kenntnis
nehmen und einordnen.
({2})
Herr Thierse hat schon gesagt: Er hatte einen Antrag
vorgelegt, und dann gab es eine Anhörung. Diese Anhörung hatte die Frage zum Gegenstand: Wie gehen wir
aus wissenschaftlicher Sicht mit unserer Vergangenheit
in der frühen Bundesrepublik um? Es war interessant,
dass die Sachverständigen, beispielsweise Herr Professor Möller und Herr Professor Stolleis, uns empfohlen
haben, einerseits den Aspekt, der in Herrn Kortes Rede
im Vordergrund stand, nämlich die personelle Kontinuität, zu untersuchen, und andererseits genau zu fragen:
Warum ist es der jungen Bundesrepublik gleichwohl gelungen, sich als Rechtsstaat zu etablieren? Warum hat es
dieses Gemeinwesen vermocht, trotz bestehender Kontinuitäten im Einzelfall einen modernen Rechtsstaat heutiger Prägung aufzubauen? Welche Strategien hatten die
einzelnen Beamten? Waren sie wirklich innerlich bereit,
am Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats und einer
sozialen Marktwirtschaft mitzuarbeiten, oder haben sie
inhaltlich ihre Agenda zum Teil weiterverfolgt?
Das sind Fragen, die uns interessieren und genauer
betrachtet werden müssen. Es geht nicht um das Zählen
von Fliegenbeinen nach dem Motto „Dieses Ministerium
hatte mehr als das andere“ oder „In dieser Behörde gab
es mehr als in der anderen“. Es sind diese Verständnisfragen, die etwas über unser Selbstverständnis aussagen,
und nicht die rein quantitativen Angaben.
({3})
Offen gesagt ging es mir wie Herrn Thierse. Es ist
schon bezeichnend. Sie sagen: Es gab keine personellen
Kontinuitäten.
({4})
- In höchsten Ämtern, haben Sie gesagt. Ich frage Sie:
Welche Funktion hat ein stellvertretender Chefredakteur
des Neuen Deutschland? Welche Funktion hat beispielsweise ein Generalfeldmarschall Paulus in der DDR gehabt? Natürlich gab es das, und es gab auch andere.
({5})
- Entschuldigung, dann formuliere ich es so: Es gab
auch in höchsten Positionen solche Kontinuitäten. Der
sogenannte antifaschistische Staat, der sich zugutegehalten hat, da besonders rigide gewesen zu sein, war es bei
Entschädigungen und anderen Dingen gerade nicht.
({6})
Er hat sich gerade nicht dieser Geschichte gestellt. Auch
das kann man an dieser Stelle einmal sagen.
({7})
Das macht es nicht besser. Man versteht es nur besser,
wenn man genauer hinguckt und Fragen stellt, die nicht
davon geleitet sind, den einen oder den anderen anzuklagen.
Ich finde, es ist an dieser Stelle auch notwendig, auf
ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis hinzuweisen.
Die Grünen haben einen Antrag vorgelegt, der - das
trennt uns von ihnen in einem Punkt - auf dem Ratschlag von Micha Brumlik basiert.
({8})
Brumlik hat vorgeschlagen, es muss eine Art Stabsstelle
zur staatlichen Erforschung der Geschichte der frühen
Bundesrepublik geben. Alle anderen Sachverständigen,
vom Hannah-Arendt-Institut über das Institut für Zeitgeschichte bis zum Max-Planck-Institut für europäische
Rechtsgeschichte, haben gesagt: Unser Problem ist
nicht, dass der Staat eine Art historische Auftragsforschung initiieren soll; unser Problem ist viel eher, dass
die Historiker keinen adäquaten Quellenzugang bekommen. Die Wissenschaft stellt die richtigen Fragen selbst,
so Professor Stolleis oder auch Professor Möller. Es ist
ein Unterschied, ob wir als Politiker die Fragen stellen,
die wir für interessant halten, oder ob wir Zeithistorikern
sagen: Wir ermöglichen euch, eure Fragestellungen anhand des vorhandenen Quellenmaterials zu verfolgen. Ich glaube, aus dem zweiten Ansatz folgt mehr historische Erkenntnis als aus dem Brumlik’schen Ansatz,
den ich in vielen Aspekten durchaus verstehe.
({9})
Jetzt wird uns vorgeworfen, wir deklassifizierten
nicht pauschal. Aus unserem Ansatz folgt eben, sich diejenigen Quellen zu suchen, die man haben will, die man
braucht, die man sehen will. Man stellt dann einen Antrag auf Akteneinsicht, und diesem Antrag muss im Einzelfall stattgegeben werden, wenn nicht ein überwiegendes Geheimhaltungsinteresse legitimerweise besteht. Ich
glaube, wenn wir so vorgehen, kommen wir zu guten Ergebnissen.
Mich interessiert noch die Frage: Welchen Anteil hatte
eigentlich das Bundesverfassungsgericht an dem Gelingen dieses Rechtsstaats? Es ist doch interessant, dass gerade Urteile wie das Lüth-Urteil, das KPD-Verbotsurteil,
das SRP-Verbotsurteil, die Stärkung von Grundrechten
des Einzelnen wie der Religionsfreiheit und der Meinungsfreiheit dazu beigetragen haben, dass dieser Staat
gelungen ist. Insofern ist es richtig, dass der Deutsche
Rechtshistorikertag feststellt: Wir müssen verstehen lernen, was das Bundesverfassungsgericht in den Anfangsjahren seines Bestehens geurteilt hat. - Dabei gilt es, Beratungsgeheimnisse zu schützen. Dabei gilt es, darauf zu
achten, dass lebende Personen legitime Datenschutzinteressen haben. Wir wollen in die frühen Akten hineinschauen. Auch darauf zielt unser Antrag ab.
Man kann es nicht so wie die Linken machen - zum
Teil sind wir deckungsgleich -, dass man dem Bundesverfassungsgericht als einem anderen obersten Verfassungsorgan diktiert: Ihr müsst das so und so machen. Vielmehr wollen wir das Gespräch mit dem Bundesverfassungsgericht suchen, um zu zeigen, dass wir an der
Aufarbeitung seiner Geschichte ein erhebliches Interesse
haben. Notwendig ist der Dialog zwischen den obersten
Verfassungsorganen und kein Dekret von hiesiger Seite.
({10})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Viele Ministerien - ich nenne exemplarisch das BMJ, aber auch das
Bundesministerium der Verteidigung - haben sich diesen
Fragestellungen schon sehr gut gestellt. Im BMJ wird im
Moment eine hervorragende Arbeit geleistet. Insofern
finde ich, daran sollten wir weiterarbeiten. Wir sollten
die Einigkeit der Demokraten weiter stärken, anstatt uns
hier gegenseitig Vorwürfe zu machen, wer etwas wie
und gegebenenfalls in welcher Form vertuschen oder
verkleistern will. Das ist die Vorgehensweise eines reifen
Rechtsstaates, der wir zum Glück sind. Insofern werbe
ich für mehr Gemeinsamkeit bei der Erforschung der
frühen Bundesrepublik.
Vielen Dank.
({11})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Claudia Roth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Morgen, am 9. November, jährt sich die Reichspogromnacht, die 1938 Mord, Zerstörung, Misshandlung über
die Juden brachte. Das war ein terroristisches Fanal auf
dem Weg in den Holocaust. Die Erinnerung an dieses
Datum ist nicht beliebig. In ihr steckt ein demokratischer
Auftrag, nämlich alles zu tun, damit Rechtsextremismus
in unserem Land keine Chance hat.
Was heißt das konkret für uns hier und heute? Es heißt
zum Beispiel, sich dem entgegenzustellen, was alte und
neue Nazis zum 9. November, also für morgen, planen:
Fackelzüge in Essen, wo 1938 die Alte Synagoge
brannte, oder in Wolgast, wo sie zu einer Gemeinschaftsunterkunft marschieren wollen, in der Flüchtlinge Aufnahme finden.
Es ist unsere Pflicht, hier laut „Stopp!“ zu rufen. Das
Aktionsbündnis „Vorpommern: weltoffen, demokratisch, bunt!“, das gegen diesen Aufmarsch mobilisiert,
hat die volle Unterstützung unserer Fraktion und, ich
hoffe, die volle Unterstützung aller Fraktionen hier im
Deutschen Bundestag.
({0})
Eine klare, eine entschiedene Haltung gegenüber
Rechtsextremen ist wichtig, auch um das verloren gegangene Vertrauen zurückzugewinnen, gerade das Vertrauen zu unserem demokratischen Rechtsstaat, das
schwer gelitten hat unter dem Totalversagen der Sicherheitsbehörden bei der NSU-Mordserie.
Das ist auch das Grundanliegen bei der Aufklärung
der NS-Vergangenheit - selbstverständlich in ganz
Deutschland -, über die wir heute diskutieren. Es geht
doch nicht darum, Schmutz zu werfen. Es geht doch
nicht um eine Sicherheitsgefährdung; ganz im Gegenteil.
Es geht um die demokratische Selbstvergewisserung
unserer Institutionen. Es geht auch um die Einsicht
Adornos, dass das, was verdrängt und was nicht kritisch
aufgearbeitet wird, uns wieder einholt, uns überfällt, und
zwar hinterrücks.
({1})
Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, passt
doch offensichtlich sehr gut zu einem NSU, der mordend
durch das Land zog, und zu einem braunen Schleier
- das muss man wirklich sagen - über den Sicherheitsbehörden. Wie soll ich die Blindheit und das Versagen in
der NSU-Verbrechensserie denn sonst beschreiben? Die
Aufarbeitung eines verdrängten Kapitels der Zeitgeschichte im kritischen, im aufklärerischen Geist und
im Sinne eines Erinnerns und Lernens für die Zukunft,
das ist unser Ziel im Umgang mit der NS-Vergangenheit
von Ministerien und Behörden.
Wie viel da noch zu tun ist, hat nicht zuletzt die von
Joschka Fischer in Auftrag gegebene und vor zwei Jahren veröffentlichte Studie zur NS-Vergangenheit des
Auswärtigen Amts gezeigt. Diese Studie hat die Debatte
in Gang gebracht, die wir heute weiterführen und die wir
weiterführen müssen, auch zum Beispiel über die Praxis
der Ehrwürdigkeit, auf die mein Kollege Ostendorff
mich noch einmal hingewiesen hat.
Wie nötig diese Debatte ist, das zeigt doch auch der
Fall, der von meinen Vorrednern schon benannt worden
ist, den erst am 27. Oktober 2012 die Süddeutsche Zeitung öffentlich gemacht hat, der Fall von Carl-Theodor
Schütz, der wirklich eine verbrecherische Karriere hinter
sich hat. Sein allerschwerstes Verbrechen ist die Erschießung der 335 Geiseln in den Ardeatinischen Höhlen in
der Nähe von Rom im März 1944. Er befehligte das
Exekutionskommando, und er ermordete die ersten Opfer sogar eigenhändig. Geheimdienstchef Gehlen wollte
diesen Mann nach dem Krieg unbedingt beim BND haben, und Bundeskanzler Adenauer hat dem ausdrücklich
zugestimmt.
Doch in den letzten Jahren sind leider noch andere
Fälle bekannt geworden, fast unvorstellbare Fälle, vor
allem die von Eichmann und von Barbie. Von Eichmann,
dem Holocaustorganisator, kannte der BND den Aufenthaltsort, ohne zu seiner Ergreifung beizutragen. Ist es
nicht bitter, zu erkennen, wie sehr man Simon
Wiesenthal alleingelassen hat bei seiner Suche nach
Eichmann?
({2})
Klaus Barbie, der sogenannte Schlächter von Lyon,
war in den 60er-Jahren sogar Agent des BND. In der
NS-Zeit hat er in Frankreich katholische Priester gefoltert, hat Kinder hungern lassen, hat Frauen unsäglich
misshandelt. Es ist schändlich, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass Serge und Beate Klarsfeld, die ihm jahrelang nachgespürt haben, alleingelassen worden sind und
hier in Deutschland zum Teil als Feinde behandelt worden sind.
Claudia Roth ({3})
({4})
Ich glaube, wir alle sehen, wie groß der Aufklärungsbedarf ist, wie groß er noch ist. Ich möchte Sie deshalb
wirklich herzlich bitten, dass wir das engagiert tun, dass
wir es zusammen tun, ja, dass wir es gemeinsam tun,
ohne jegliche taktische Hintergedanken, dass wir es so
engagiert tun, wie es unsere Kollegen und Kolleginnen
im NSU-Untersuchungsausschuss uns zeigen.
Deswegen - das muss ich wirklich sagen - ist es uns,
ist es mir sehr unverständlich, dass die Regierungsfraktionen in den Ausschussberatungen einen Antrag von uns
Grünen abgelehnt haben,
({5})
der die Regierung auffordert, im Falle Barbie und im
Fall Eichmann Verantwortung für die Aufklärung zu
übernehmen. Dieser Antrag steht heute noch einmal zur
Debatte.
({6})
Ich muss Ihnen sagen, liebe Kollegen und Kolleginnen und liebe Freunde und Freundinnen von der SPD:
Auch Sie haben diesen Antrag im Kulturausschuss abgelehnt.
({7})
Ich verstehe das überhaupt nicht. Ist es denn wirklich
sozialdemokratische Position, einen Antrag, der Aufklärung in Sachen Eichmann und Barbie - dass das noch
nicht geschehen ist, ist doch ein Skandal - fordert, abzulehnen oder sich dazu neutral zu verhalten, also sich zu
enthalten, wie Sie es im Innenausschuss getan haben?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der Studie zum
Auswärtigen Amt sind zahlreiche parlamentarische Initiativen gestartet worden. Wir haben einen umfassenden
Antrag zur systematischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Behörden eingereicht, der
Ihnen heute vorliegt. Er geht in entscheidenden Punkten
über den aus meiner Sicht unzureichenden Antrag der
Koalition und der SPD hinaus, der nur Minischritte
macht, ohne - das ist eine große Kontroverse - politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Mittelpunkt Ihres
Antrags steht eine „Metaforschung“, das heißt, über vorliegende Forschung soll geforscht werden. Ich glaube
aber, es können und es sollten politische Konsequenzen
benannt werden. Es kann doch nicht darum gehen, dass
man wenig aufarbeitet und viel Stillstand pflegt.
Herr Deutschmann hat im Kulturausschuss für die
FDP sogar gefordert, dass die Politik gar keine eigenen
Forschungsaufträge vergeben sollte, weil - so hat er gesagt - das eine Einmischung in die Freiheit der Wissenschaft sei.
({8})
Im Bund sollen wir nicht tun dürfen, was wir von Verbänden und Organisationen selbstverständlich verlangen und was auch viele Verbände und Organisationen
heute endlich tun, nämlich eigene Aufträge vergeben.
Der DFB oder die Deutsche Bahn vergeben Aufträge,
um zu erforschen, wie ihre NS-Vorgeschichte aussieht.
({9})
Nein, eine wirkliche Einmischung in die Freiheit der
Wissenschaft ist die Behinderung der laufenden Forschung, so wie es beim BND geschehen ist, oder wenn
man sich weigert, Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, wie das zunächst mit der Studie zum Reichsernährungsministerium geschehen ist, die noch von Renate
Künast in Auftrag gegeben worden ist.
({10})
Aus meiner Sicht falsch in Ihrem Antrag ist auch die
Begrenzung des Forschungsauftrags auf die frühe Bundesrepublik Deutschland - nach allem, was wir jetzt wissen. Nehmen wir zum Beispiel den Fall Barbie: Er reiste
ja bis 1980 unter dem Decknamen „Klaus Altmann“
wiederholt in die Bundesrepublik ein. Er baute neofaschistische Strukturen auf. Er wickelte Waffengeschäfte
ab. Er wurde offensichtlich vom Verfassungsschutz geschützt, wie die taz im Januar 2012 berichtet hat. Und es
darf kein Aktenschreddern mehr geben wie beim BND
noch in den 90er-Jahren und den 2000er-Jahren, wo Akten von Mitarbeitern mit NS-Vergangenheit vernichtet
wurden. Das ist ein Schreddern der Zeitgeschichte und
der Versuch einer Reinwaschung durch den Reißwolf.
({11})
Was uns ferner in Ihrem Antrag fehlt, ist eine Systematik beim Vorgehen. Wir wollen einen Ansprechpartner auf Bundesebene, damit wir den Flickenteppich in
der Aufarbeitung wegbekommen. Wir wollen klare Kriterien, wie mit den Forschungsergebnissen umgegangen
wird, auch für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und
für die Außendarstellung der Häuser. Schließlich brauchen wir dringend eine Koordination mit den Ländern
und Kommunen; denn die NS-Herrschaft war ja flächendeckend.
Hier liegen die politischen Antworten, um die wir uns
nicht länger drücken dürfen. Deswegen bitte ich die Koalitionsfraktionen und die SPD, dem weitergehenden
Antrag zuzustimmen.
Wenn wir der Geschichte von Behörden und Bürokratie nachgehen, dann sollten wir auch die Banalität des
Bösen nicht vergessen, die Hannah Ahrendt mit Blick
auf den Bürokraten Eichmann beschrieben hat. Diese
Banalität, diese scheinbare Alltäglichkeit des blinden
Mitmachens und des Sich-Einordnens haben Spuren hinterlassen, auch in unseren Nachkriegsinstitutionen. Es
gab keine Stunde null. Die Brüche und die Kontinuitäten
in ganz Deutschland aufzuarbeiten, das ist unsere Verantwortung als Demokraten und Demokratinnen. Lassen
Sie uns das zusammen tun!
({12})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Thierse.
Liebe Kollegin Roth, Sie haben hier etwas wahrheitswidrig behauptet. Im Kulturausschuss hat die SPDFraktion Ihren Antrag nicht abgelehnt, sondern sich der
Stimme enthalten, und zwar aus einem ganz einfachen
Grund: Wir hatten bereits einen grundlegenden Antrag
formuliert, nämlich am 28. Juni 2011; ich habe das
Datum vorhin genannt.
Im Anschluss an diesen Antrag bin ich - weil es mir
ja um eine Mehrheit geht; wir wollen etwas erreichen auf die anderen Fraktionen zugegangen und habe mit ihnen das Gespräch gesucht. Wenn man aber im Gespräch
mit den Kollegen ist, um ein Anliegen mehrheitsfähig zu
machen, kann man nicht zugleich einem anderen Antrag
zustimmen.
So hat sich der Vorgang zugetragen. Das hat nichts
mit einem politisch-moralischen Versagen der SPD zu
tun.
({0})
Wollen Sie erwidern?
Ich habe definitiv nicht von „politisch-moralischem
Versagen“ gesprochen, Herr Kollege Thierse. In Ihrem
Antrag kommt der, wie ich finde, erschütternde Skandal
um Barbie und Eichmann aber leider nicht vor. Es wäre
nicht ein Widerspruch, unserem Antrag zugestimmt zu
haben, sondern es wäre eine notwendige Ergänzung. Es
ist nicht nachvollziehbar, dass man in diesem Fall die
Regierung nicht beauftragt, eine umfassende Aufklärung
zu fordern. Das haben Sie leider nicht unterstützt. Ich
bitte darum, dass das heute endlich passiert.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Stephan Mayer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Zu Beginn meiner Ausführungen
möchte ich aus der Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der Fraktion Die Linke zitieren:
Mehr als 60 Jahre nach Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und mehr als 65 Jahre nach
dem Zusammenbruch der NS-Diktatur lässt sich
feststellen, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft generell die am besten erforschte Periode
der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist.
Setzt man diese Aussage in Zusammenhang mit den
Äußerungen der Sachverständigen in der Anhörung des
Ausschusses für Kultur und Medien am 29. Februar
2012, bei der diese deutlich die Selbstorganisation und
auch die Unabhängigkeit der Wissenschaft in den Vordergrund gestellt haben, so stellt sich für mich die Frage,
warum von Bündnis 90/Die Grünen und insbesondere
der Fraktion Die Linke heute so umfangreiche Forderungen nach staatlicher Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
erhoben werden. Denn nach Ansicht der Sachverständigen sollten vielmehr bestehendes Wissen und aktuelles
Erkenntnisinteresse zusammengeführt werden. Dies
würde die wissenschaftliche Forschungsarbeit erleichtern und zugleich dem öffentlichen Interesse an dem
Thema gerecht werden.
Ich muss daher angesichts der vorliegenden Anträge
zu der Überzeugung kommen, dass es Ihnen vorrangig
um staatlich gesteuerte und politisch instrumentalisierte
Auftragsforschung geht, geleitet von der Maxime:
Irgendetwas Skandalisierbares wird man schon finden.
({0})
Ein solches Verhalten darf in diesem Hohen Haus
keine Unterstützung finden. Bezeichnend und entlarvend
ist es zudem, dass sich die Anträge der Fraktion Die
Linke und von Bündnis 90/Die Grünen ausschließlich
auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Westdeutschland konzentrieren. Dies belegt nicht nur Ihre
historische Unkenntnis, sondern ist auch ein weiterer
Beweis dafür, dass es Ihnen nicht um eine unabhängige
und wissenschaftsorientierte Aufarbeitung der Vergangenheit geht,
({1})
sondern um eine Skandalisierung und Diffamierung einzelner Personen und Einrichtungen.
({2})
Stünden bei Ihnen wirklich die Aufklärung und Aufarbeitung der Vergangenheit im Vordergrund,
({3})
hätten Sie sich in Ihren Anträgen nicht nur auf Westdeutschland konzentriert, sondern auch die ehemalige
DDR mit einbezogen.
({4})
Denn während in Westdeutschland nach dem Zweiten
Weltkrieg Schritt für Schritt tatsächlich Vergangenheitsbewältigung betrieben wurde
({5})
und dies ein ständiger Prozess war, wurde sie in der damaligen DDR mit der „antifaschistisch-demokratischen
Stephan Mayer ({6})
Umwälzung“ durch die SED einfach für beendet erklärt.
Weitere Debatten über Schuld und Verantwortung erübrigten sich. Die DDR lehnte jegliche Haftungsverpflichtungen für die Vergangenheit ab. Der Historiker Edgar
Wolfrum schrieb hierzu einmal - ich zitiere -:
Hitler, so konnte man meinen, sei ein Westdeutscher gewesen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen, ein aufrichtiger und umfassender Umgang mit der
Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg darf sich aus meiner Sicht nicht nur auf
Westdeutschland beschränken, sondern er muss selbstverständlich auch die ehemalige DDR berücksichtigen.
({7})
Die gemeinsame Vergangenheit ist ein schwieriges Erbe
beider deutscher Staaten und des wiedervereinigten
Deutschlands.
({8})
Als solche muss sie auch problematisiert und reflektiert
werden. Daher haben wir als Regierungsfraktionen zusammen mit der SPD-Fraktion einen eigenen Antrag
hierzu erarbeitet, der genau diesen schwerwiegenden
Fehler in den Anträgen der beiden anderen Fraktionen
behebt. Gleichzeitig respektieren wir die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung in Deutschland;
diese ist durch Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz geschützt. Wir
wollen interessierten Forschern und Einrichtungen den
Zugang zu bereits erstellten Untersuchungen erleichtern
und zugleich gute wissenschaftliche Rahmenbedingungen für neue Studien schaffen. Es geht also nicht nur darum, eine Bedarfserhebung durchzuführen und festzustellen, was schon erforscht wurde, sondern durchaus
auch darum, eine Grundlage für neue Studien zu schaffen. Insbesondere wollen wir bei den beiden zeitgeschichtlichen Instituten, dem Institut für Zeitgeschichte
in München und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, eine Bestandsaufnahme in Auftrag
geben, um den aktuellen Forschungsstand und den bestehenden Forschungsbedarf zu ermitteln, was die Geschichte von Institutionen und Behörden im frühen
Nachkriegsdeutschland sowohl in der Bundesrepublik
Deutschland als auch in der ehemaligen DDR betrifft.
Wir setzen uns auch für eine wissenschaftsfreundlichere Ausgestaltung des Bundesarchivgesetzes und der
Möglichkeiten zur Akteneinsicht ein. In diesem Zusammenhang möchte ich aber betonen, dass wir die schutzwürdigen Belange von natürlichen und juristischen Personen selbstverständlich auch in Zukunft achten werden;
denn anders als der Fraktion Die Linke geht es uns nicht
um eine Skandalisierung oder Diffamierung, sondern um
eine unabhängige zeithistorische Aufarbeitung, die mit
dem Grundgesetz vereinbar ist.
Auch ich möchte kurz auf Ihre Forderung eingehen,
sämtliche Verschlusssachen nach 20 Jahren öffentlich
zugänglich zu machen. Sie begründen Ihren Antrag damit, dass „die Prinzipien des Amts- und Aktengeheimnisses in einer fortschrittlichen Demokratie keinen
Platz“ hätten. Mit dieser offensichtlich verfassungswidrigen Argumentation verlassen Sie zum wiederholten
Mal den Boden unseres Grundgesetzes.
({9})
Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht haben in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass
personenbezogene Daten ihrem Wesen nach grundsätzlich geheimhaltungsbedürftig und schutzwürdig sind.
Es frappiert mich besonders, dass die angesprochene
Position gerade von den Fraktionen vertreten wird, die
sich immer als Gralshüter des Datenschutzes in Deutschland gerieren.
({10})
Beide Gerichte haben zudem den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung anerkannt, aus dem geheim zu
haltende Tatsachen nicht mitgeteilt und offenbart werden
müssen. Dies erstreckt sich nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes nicht nur auf laufende Vorgänge, sondern auch auf abgeschlossene Vorgänge. Darüber hinaus ist es in der Rechtsprechung anerkannt,
dass Behörden Informationen, die für eine effektive Erfüllung ihrer Aufgaben unentbehrlich sind, von Dritten
in der Regel nur erhalten, wenn sie dem Informanten die
Vertraulichkeit der personenbezogenen Daten zusichern. Dies gilt insbesondere für die Arbeit der Sicherheitsbehörden in Deutschland.
Ihnen geht es offenkundig nicht um mehr Transparenz
und die Legitimation des Rechtsstaats, sondern schlicht
um die Abschaffung der Behörden, die auf entsprechende vertrauliche Informationen angewiesen sind, so
wie unsere Nachrichtendienste. Die Forderungen, die
von Ihnen erhoben werden, können deshalb meines Erachtens nicht die Unterstützung dieses Hohen Hauses
finden.
Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Kirsten
Lühmann das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Anwesende, insbesondere
die Besuchergruppe von der Heeresfliegerinstandsetzungsstaffel 100 aus meinem Wahlkreis in Celle! Wir
führen hier eine sehr interessante Debatte. Man kann sagen: Verschlusssachen sind Transparenzkiller, nicht für
immer, aber für eine bestimmte Zeit. Wir stehen nun vor
der Frage: Wie können wir dieses Problem lösen? Wir
sind der Meinung: Wir können es nicht dadurch lösen,
dass wir dem Antrag der Linken zustimmen, der einfach
eine generelle Verkürzung der Sperrfristen ohne jegliche
Ausnahme fordert.
In Ihrem Antrag steht:
Geheimnisschutz und im Geheimen operierende
staatliche Institutionen … sind klassische Mittel des
Machterhalts Einzelner in totalitären Systemen.
Das sind markige Worte; ich denke, dem können wir alle
in diesem Haus zustimmen. Aber der Umkehrschluss,
dass es in der Demokratie keine Geheimnisse geben
darf, ist so einfach wie falsch.
Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel geben. Wir Abgeordnete bekommen regelmäßig Berichte über die Situation der von uns in Auslandseinsätze entsandten Soldaten und Soldatinnen sowie Polizisten und Polizistinnen.
Wir brauchen sie für unsere Arbeit. Diese Berichte sind
Verschlusssachen. Ich halte das für richtig; denn diese
Berichte enthalten Informationen, die das Leben und die
Gesundheit unserer entsandten Soldaten und Soldatinnen
gefährden könnten, wenn sie öffentlich würden. Die
Frage ist nur: Muss denn eine solche Vorlage auch
30 Jahre nach einem Abzug aller deutschen Kräfte aus
Afghanistan immer noch eine Verschlusssache sein?
({0})
Das Fazit ist: Transparenz ist für die Demokratie
wichtig, aber es darf keine bedingungslose Transparenz
sein. Die von den Linken geforderte pauschale Verkürzung der Sperrfrist wird dem Einzelfall nicht gerecht.
Wir lehnen sie deshalb ab. Es gibt übrigens heute schon
die Möglichkeit, Sperrfristen von Akten vor Ablauf der
30 Jahre aufzuheben, und zwar dann, wenn die Gründe
für die Geheimhaltung entfallen sind. Ich finde, davon
sollten wir deutlich öfter Gebrauch machen.
Zurzeit ist es so, dass die Anfrage eines Bürgers, einer
Bürgerin nach dem Informationsfreiheitsgesetz sofort
abgelehnt wird, wenn sie sich auf eine Vorlage bezieht,
die als Verschlusssache eingestuft wurde. Ich wünsche
mir offenere und regelmäßigere Prüfungen, ob diese
Einstufung im Einzelfall noch sachgerecht ist.
Zu einem anderen Antrag der Linken. Herr Kollege
Beck, ja, das ist etwas anderes. In Bezug auf Akten zur
NS-Vergangenheit einzelner Personen haben wir ein
ganz anderes Problem. Im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist ein
zweiter Untersuchungsbericht nicht veröffentlicht worden mit dem Hinweis auf personenbezogene Daten aus
Personalakten, die geschützt werden müssen. Ich finde
das seltsam. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, also das Grundrecht, dass ich selbst entscheide, wer meine Daten bekommt oder nicht, ist ein
wichtiges Grundrecht. Aber wenn ich verstorben bin,
fehlt der Grundrechtsträger - und damit die Interessen,
die zu schützen sind. Hier muss es das Ziel sein, die Informationsfreiheit mit den Interessen Einzelner und auch
den Interessen des Staates in eine gute Balance zu bringen. Wir wollen weg vom Amtsgeheimnis und hin zu einer offenen Verwaltung. Da helfen allerdings weder erhobene Zeigefinger noch pauschale Aktionen.
Es gibt viel zu tun, sowohl was die Bestimmungen
des Informationsfreiheitsgesetzes angeht als auch in der
täglichen Verwaltungspraxis. Wir laden Sie dazu ein,
sachlich und unaufgeregt nach Lösungen zu suchen, im
Sinne des Schutzes der Einzelnen, aber vor allem im
Sinne der Informationsrechte unserer Gesellschaft.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Patrick
Kurth das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Staatsräson ist es, alle Diktaturen aufzuarbeiten und
mit Engagement historisch zu erschließen. Deshalb
wurde über dieses wichtige Thema in den Ausschüssen
und hier im Bundestag mehrfach intensiv diskutiert. Höhepunkt war die Fachanhörung im Kultur- und Medienausschuss im Februar. Nahezu übereinstimmend legten
uns die Experten zwei Erkenntnisse nahe.
Erstens: Selbstorganisation der Wissenschaft statt
staatlicher Auftragsforschung. Forschungsfragen stellt
die Wissenschaft. Forschung lebt vom wissenschaftlichen Diskurs und von ständiger akademischer Hinterfragung. Vorgelegte Ergebnisse müssen überprüfbar
bleiben. Im ersten Semester habe ich gelernt, dass sich
das intersubjektive Nachvollziehbarkeit nennt.
({0})
Sie muss gewährleistet sein. Bei staatlicher Auftragsforschung mit privilegierten Zugangsrechten für Einzelne
ist dies schwerlich gegeben.
({1})
Die zweite Erkenntnis war: Für Forschung ist Aktenzugang nötig. Dies funktioniert bei Bundesministerien,
Gerichten und Behörden unterschiedlich gut; nicht überall gibt es umfangreiche Akteneinsicht. Hier ist es Aufgabe der Politik, Forschung durch Archivzugang zu ermöglichen.
Im Antrag von FDP, Union und SPD stellen wir fest,
dass die Selbstorganisation der Wissenschaft auch bei
der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit einer staatlichen
Auftragsforschung vorzuziehen ist. Damit stärken wir
die Wissenschaftsfreiheit. Zudem revolutionieren wir
geradezu die Zugangsrechte für die Forschung. Damit
beheben wir ein Stück weit eine Unwucht, die es bisher
in Bezug auf die Aufarbeitung der deutschen Geschichte
gegeben hat.
Lassen Sie mich als Beispiel die Behörden der ehemaligen DDR nennen, deren Archive geöffnet sind. Man
Patrick Kurth ({2})
kann dort hingehen und sich die entsprechenden Unterlagen anschauen. Demgegenüber ist die historische Forschung zu bestimmten Behörden des Westens bis heute
schwieriger. Durch unseren Antrag stellen wir sicher,
dass zukünftig die Geschichte von Institutionen in Ost
und West vollumfänglich und gleichberechtigt erforscht
werden kann.
({3})
Den freiheitlichen Ansätzen von Union, FDP und
SPD stehen gewisse, ich sage einmal, etatistische Ansätze gegenüber. Keine noch so eindeutige Expertenanhörung kann manches Mal von vorher festgelegten Forderungen und Vorurteilen abbringen. Die Grünen legten
in dieser Legislaturperiode Anträge vor, zogen sie zurück und legten wieder welche vor. Wir waren erfreut
darüber; denn möglicherweise gab es einen Lernprozess.
({4})
Aber nein: Sie predigen ein staatsnahes Wissenschaftsverständnis.
({5})
- Schauen Sie in Ihren aktuellen Antrag. Dort fordern
Sie eine staatliche Koordinierung der Forschung zur NSVergangenheit in Bundesbehörden.
({6})
Seit wann ist es Aufgabe des Staates, Forschung zu koordinieren? Dafür gibt es in einer freiheitlichen Gesellschaft die Selbstorganisation der Wissenschaft.
({7})
Liebe Claudia Roth, Sie haben gerade wiederholt,
was Professor Brumlik damals sagte, nämlich, man solle
die Mitarbeiter in den Bundesbehörden und in den Institutionen noch einmal einer „demokratischen Selbstvergewisserung“ unterziehen.
({8})
- Sie haben es so gesagt; ich habe es mir aufgeschrieben. - Das ist nichts anderes als eine Gesinnungsprüfung. Ich möchte Sie fragen: Wer prüft wen nach welchen Maßstäben auf seine Gesinnung? - Das geht nicht.
({9})
Besonders problematisch ist die Vorwurfshaltung, die
man hier erkennen kann. Aus manchen Reden und aus
manchen Anträgen geht hervor, dass die Bundesrepublik
sich über Jahrzehnte rechtswidrig verhalten haben soll.
Die Linken schreiben zum Beispiel: Die Vergangenheitspolitik habe in Deutschland lange Zeit auf Beschweigen,
die Integration von NS-belasteten Personen und Tätern
und einen möglichst baldigen Schlussstrich gesetzt.
Dazu will ich drei Punkte anmerken: Erstens. Herr
Korte, Sie haben vorhin Willy Brandt und die Art, wie
man mit ihm umgegangen ist, erwähnt. Sie haben es unterlassen, im gleichen Zusammenhang über Herbert
Wehner und Kurt Schumacher zu reden, die in den 50erJahren Sozialdemokraten und Demokraten der ersten
Stunden waren. Warum haben Sie das gemacht? - Das
war kommunistische Dialektik, nichts anderes.
({10})
Sie haben es unterlassen, Theodor Heuss zu nennen. Sie
haben es unterlassen, an Konrad Adenauer zu erinnern.
({11})
Das müssen Sie tun, wenn Sie über die 50er-Jahre in der
Bundesrepublik reden.
Zweitens. Es geht nicht anders: Sie müssen auch den
Vergleich mit anderen Postdiktaturen übernehmen. Sie
müssen vergleichen, wie Aufarbeitung in anderen Ländern betrieben wurde. Ich kann Ihnen sagen: In beiden
Postdiktaturen, in der Bundesrepublik und nach der
Wende, war die Aufarbeitung im Vergleich vorbildlich.
Darum kommt niemand herum.
Drittens. Diese Vorhaltung muss ich Ihnen machen:
Sie sprechen hier von personellen Kontinuitäten. Personelle Kontinuitäten heißen auch: Gerlinde Stobrawa, IM
„Marisa“, die Abgeordnete der Linken in Brandenburg
wurde 2009 enttarnt. Renate Adolph, Abgeordnete der
Linken im Landtag, wurde Ende 2009 enttarnt. GerdRüdiger Hoffmann, ebenfalls für die Linke im Landtag,
wurde als IM „Schwalbe“ Ende 2009 enttarnt. Ich kann
Ihnen auch noch IM „Sonja“ und IM „Fritz Kaiser“ nennen. Das sind personelle Kontinuitäten, mit denen Sie
selbst nicht aufgeräumt haben. Andererseits werfen Sie
anderen Unlauteres vor. So geht es nicht.
Herzlichen Dank.
({12})
Der Kollege Korte erbittet das Wort zu einer Kurzintervention. - Bitte schön.
Kollege Kurth, man muss hier lernen, sich zu beherrschen, um angesichts dieser intellektuellen Tieffliegerei
nicht wahnsinnig zu werden.
({0})
Ich möchte drei Anmerkungen machen: Erstens. Seit
dem 3. Oktober 1990 gibt es die DDR nicht mehr. Das
möchte ich Ihnen mitgeben; das scheinen Sie nicht mitbekommen zu haben.
Zweitens. Ich bin im Westen, in Niedersachsen, geboren. Ich bin damals bewusst und überzeugt in die PDS
eingetreten.
({1})
- Ich war vorher bei den Grünen. Jeder macht einmal
Fehler. Danach bin ich aus voller Überzeugung in die
PDS eingetreten. - Ich trage persönlich für das Unrecht,
das es auch in der DDR gegeben hat, keine Verantwortung.
({2})
Als ich in die Partei eingetreten bin, war aber klar, dass
ich eine politische Verantwortung trage. Seitdem ich
Mitglied bin, ringen und streiten wir in durchaus freudiger und harter Form um die Deutung und den Umgang
mit der Geschichte. Das machen wir für uns selber,
({3})
um uns selbst zu vergewissern, und wir haben eine Lehre
daraus gezogen: nie wieder Sozialismus ohne demokratischen Rechtsstaat.
({4})
Dafür brauchen wir von Ihnen keine Nachhilfe.
Drittens will ich eines anmerken - das finde ich nämlich wirklich ungeheuerlich -: In den Reden meiner Vorredner ging es um Auschwitz, um Einsatztruppen, um
Täter im Reichssicherheitshauptamt. Egon Bahr hat vor
kurzem zusammen mit Reinhard Höppner eine richtige
Bemerkung gemacht, die auch Sie sich einmal hinter die
Ohren schreiben sollten: Bei allem Unrecht in der DDR,
über das wir hier zu Recht viel diskutieren und streiten,
geht es nicht an, dass man die Leichenberge der Nazis
mit den Aktenbergen der Stasi verwischt, wie Sie das
hier eben getan haben. Das ist abstoßend.
({5})
Herr Kollege Kurth zur Erwiderung.
„Erschossen in Moskau …“ hat die Landeszentrale
für politische Bildung in Thüringen vor drei Jahren herausgegeben. Ich kann Ihnen sagen: Wir zählen die Leichen nicht nach. Jede einzelne Leiche ist eine zu viel.
Das ist Staatsräson in diesem Lande. Ich empfehle Ihnen
auch das Buch „Stasi im Westen“. Nur weil Sie im Westen geboren wurden, waren Sie nicht gefeit vor der Stasi.
({0})
Wir prüfen zurzeit, wie stark die Staatssicherheit auch
den Westen bestimmt hat. Dabei kam heraus, dass der
Kollege Kurras, der Benno Ohnesorg erschossen hat,
einen höheren Dienstgrad bei der Stasi als bei der
Westberliner Schutzpolizei hatte. Da kommt plötzlich
heraus, dass Frau Klarsfeld, eine Ikone der 68er-Bewegung, dafür, dass sie den Bundeskanzler geohrfeigt hat,
SED-Geld bekommen hat.
({1})
Ein Stück weit kann man diese 68er-Bewegung auch
einmal hinterfragen. Man kann auch fragen, inwieweit
die 68er-Bewegung im Westen von der Stasi gesteuert
worden ist. Das ist überhaupt kein Grund, sich hier aus
der Verantwortung zu ziehen.
({2})
- Liebe Claudia Roth, hat denn einmal einer bei euch
nachgefragt, ob es richtig war, 1968 „Ho, Ho, Ho Tchi
Minh“ zu rufen und kommunistische Kampfbünde aufzumachen, während in Prag sowjetische Panzer Menschen niedergewalzt haben? Diese Frage könnt ihr euch
auch einmal stellen. Stellt euch diese Frage bitte einmal!
({3})
Herr Korte, Sie haben persönlich - das nehme ich Ihnen ab; das ist auch richtig - mit der Stasi nichts zu tun,
auch nicht mit der SED. Deswegen tragen Sie persönlich
auch keine Verantwortung. Auch ich trage für das, was
Klaus Barbie getan hat, keine persönliche Verantwortung. Das gilt für jeden in diesem Hause. Trotzdem stellen wir uns dieser Vergangenheit. Trotzdem arbeiten wir
sie auf. Trotzdem nehmen wir uns dieser Geschichte an.
({4})
Es ist ein dummes Argument, zu sagen, dass die DDR
vor 22 Jahren untergegangen ist. Damit geben Sie jedem
Rechtsextremisten in diesem Land ein schönes Argument an die Hand; denn auch 1945 ist ein Staat in die
Brüche gegangen. Das ist unlauter, und dafür sollten Sie
sich entschuldigen.
({5})
Jetzt hat der Kollege Marco Wanderwitz von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bemühe mich, ein wenig Tempo aus der Debatte zu nehmen, damit wir wieder zu unserem Antrag zurückfinden
können, dessen Titel ich zu Beginn vortragen möchte,
weil ich finde, dass er selbsterklärend ist: „Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern - Die Aufarbeitung der Geschichte
der wichtigsten staatlichen Institutionen in Bezug auf die
NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugang unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der
früheren Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen“. Das ist ein langer Titel, gleichwohl schön, weil
selbsterklärend. Das ist das, was die Fraktionen von
CDU/CSU, SPD und FDP hier heute vorlegen. Ich
meine, das ist ein guter Antrag, nicht zuletzt weil er das
direkte Ergebnis der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am 29. Februar 2012 ist.
Herr Kollege Korte, ich habe extra noch einmal ins
Protokoll geschaut, weil ich mir nicht so ganz sicher war.
Die beiden Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion, die
bei dieser Anhörung anwesend waren, beehren uns heute
leider beide nicht mit ihrer Anwesenheit.
({0})
Ich hoffe, Sie haben zumindest das Protokoll gelesen.
({1})
- Gut, dann sind zufällig beide krank. Das kann passieren.
({2})
Das ist schon Zufall; darauf muss man erst einmal kommen. - Da ich nicht ganz sicher bin, ob Sie das Protokoll
gelesen haben, möchte ich ein paar Aussagen, die uns
die Sachverständigen nahezu einhellig mit auf den Weg
gegeben haben, vortragen.
Sie haben uns gesagt, dass jetzt, da bereits unheimlich
viel Forschung zu diesem Themenkreis betrieben worden ist, das Wichtigste eine Bestandsaufnahme ist.
({3})
Professor Hütter beispielsweise, der Präsident des Hauses der Geschichte in Bonn, hat gesagt, dass es nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik unterschiedliche Intensitäten bei der Beschäftigung mit
dem Thema NS-Aufarbeitung gab. Forschung und
Wissenschaft haben sich, so Professor Hütter, sehr früh
auch mit dem Themenkreis der personellen Kontinuitäten beschäftigt. Die Breite der Bevölkerung hat sich in
der Tat erst beginnend in den 60er-Jahren intensiver mit
dieser Frage auseinandergesetzt. Die Wissenschaft hat
dies früher getan. Das ist im Übrigen ein schönes Argument dafür, zu sagen, dass man der Wissenschaft, wenn
es darum geht, wie sie forscht, möglichst viel selbst
überlassen sollte. Ich will aber ganz offen sagen: Das
spricht überhaupt nicht dagegen, dass es, wie schon in
der Vergangenheit, auch künftig punktuell weitere Forschungsaufträge, beispielsweise von Behörden oder von
uns als Deutschem Bundestag, geben kann und soll.
Wir haben dieser Tage den Festakt „25 Jahre Deutsches Historisches Museum“ in Berlin erlebt. Da sich
das Deutsche Historische Museum wie viele andere
Museen und Einrichtungen mit der Aufarbeitung und der
weiteren Vermittlung der Thematik NS-Vergangenheit
befassen, ist dies, wie ich glaube, ein Anlass, darauf hinzuweisen, dass wir an dieser Stelle eine gute und breite
Basis haben, auf der wir aufbauen können.
Alle Experten haben uns gesagt, dass neben der
Forschung und der weiteren Aufarbeitung - deswegen
setzen wir in unserem Antrag hier einen Schwerpunkt die Vermittlungs- und Bildungsarbeit ganz wichtig sind.
Völlig klar: Wir haben es immer wieder mit neuen jungen Generationen zu tun, an die wir unser Wissen darüber weitergeben müssen, was die NS-Diktatur war und
- es ist bereits mehrmals gesagt worden, dass es keine
Stunde null gab - was in den frühen Jahren der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR geschehen ist.
Im Juni dieses Jahres haben wir die sogenannte
Schroeder-Studie der FU Berlin bekommen. Sie hat uns
- leider wieder einmal - bestätigt, dass in der jüngeren
Generation erschreckend viel Unkenntnis zum Thema
„Diktatur und Demokratie“ vorherrscht. Ich glaube, es
kann uns alle nur betroffen machen, wenn wir sehen,
dass ein erheblicher Teil der jungen Leute der Meinung
ist, die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2012 sei
keine Demokratie. Es ist genauso bedrückend, dass viele
junge Leute sagen, die Zeit des Nationalsozialismus sei
keine Diktatur gewesen. Ich denke, das ist auch der
Grund, warum wir alle in diesem Hause so sehr ringen,
um bei diesem Thema weiter voranzukommen.
({4})
Erinnerungskultur ist seit vielen Jahren ein Schwerpunkt der Kulturpolitik aller Bundesregierungen, so
auch der christlich-liberalen Bundesregierung. Wir
haben im Zeitraum von 2010 bis 2012 13 NS-Gedenkstätten mit Projektfördermitteln in Höhe von 4 Millionen Euro bedacht, außerdem elf Gedenkstätten, die institutionell gefördert werden und in diesem Zeitraum
17 Millionen Euro jährlich erhalten. Das ist, wie ich
meine, gut angelegtes Geld; auch deshalb wurde die
Gedenkstättenkonzeption in der Anhörung ausdrücklich
gelobt.
Es gibt inzwischen über 65 000 wissenschaftliche
Veröffentlichungen zum Thema Nationalsozialismus,
mehr als zu jedem anderen zeithistorischen Thema. In
der Breite gibt es keinen wissenschaftlichen Nachholbedarf. Professor Stolleis vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt - Kollege
Ruppert hat schon darauf hingewiesen - sagte plakativ:
Jedes Kind weiß inzwischen, dass es personelle KontiMarco Wanderwitz
nuitäten gegeben hat. - Angesichts der Schroeder-Studie
stellt sich die Frage, ob das wirklich jedes Kind weiß.
Ich denke, er meint damit, dass es in unserer Gesellschaft beim Thema „Kontinuitäten personeller Art“ kein
grundlegendes Erkenntnisdefizit gibt.
Kollege Thierse hat schon gesagt: Mit dem Institut für
Zeitgeschichte in München und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam haben wir für die Bestandsaufnahme fachkompetente Adressaten ausgewählt. Wir haben ihnen gegenüber behutsam deutlich
gemacht, wie wir uns das vorstellen; aber wir lassen den
beiden Instituten natürlich Luft, eigene Gedanken einzubringen, den Forschungsauftrag sozusagen ein Stück
weit selbst weiterzuentwickeln.
Im Kern waren sich alle Experten einig, dass es keine
ernsthaften Forschungshemmnisse gibt. Gleichwohl geht
es uns mit unserem Antrag um forschungserleichternde
Regelungen zur Einsicht in Akten insbesondere des Bundesarchivs. Wir wollen gezielt Einzelstudien anregen,
wo Bedarf besteht.
Die entscheidende Frage ist - Kollege Thierse hat das
schon angesprochen -: Wohin wollen wir künftig? Professor Henke von der TU Dresden hat sehr plastisch ausgeführt: Nachdem wir nun schon relativ viel wissen,
stellt sich die Frage, warum wir nicht am Leichengift des
Nationalsozialismus eingegangen sind, warum trotz starker NS-Kontinuitäten - dass es Kontinuitäten gab, ist bekannt, wenn auch vielleicht nicht in jedem Einzelfall die Demokratie der Bundesrepublik - Gott sei Dank - so
gut und so schnell geglückt ist. Das ist für uns im Jahr
2012 die entscheidendere Frage. Um dies verstehen zu
können, sagte Professor Henke, darf man nicht nur die
Kontinuitäten sehen, sondern muss auch die Diskontinuitäten sehen. Manchmal entsteht in der Debatte der
Eindruck, dass in den Institutionen fast niemand unbelastet gewesen sei. Dieser Eindruck ist natürlich falsch.
In den allermeisten Institutionen war eine große Zahl
von Personen unbelastet.
Professor Goschler von der Ruhr-Universität Bochum
sieht in gleichem Sinne das offene Forschungsfeld, in
die Betroffenen hineinzuschauen. Er hat gefragt, ob es
ein Leben mit gespaltener Zunge gibt oder ob die Leute
einen neuen Code lernen und sich innerlich auf die
normativen Verhältnisse einlassen. - Ich glaube, das
beschreibt schön, was das Forschungsfeld sein sollte.
Wir haben in unserem Antrag auch auf das Thema
„NS-Belastungen in der ehemaligen DDR“ einen gewissen Wert gelegt. Schließlich war die SED - daran
möchte ich an dieser Stelle erinnern - nach dem Krieg
die erste Partei, die sich für ehemalige Parteigenossen
der NSDAP öffnete.
({5})
1954 hatte mehr als ein Viertel der SED-Mitglieder eine
NS-Vergangenheit.
({6})
Insofern wünsche ich der Linken bei der Aufarbeitung
ihrer eigenen Geschichte weiterhin viel Erfolg. Sie werden noch 2022 davon reden. Vielleicht könnten Sie das
Tempo ein wenig beschleunigen, damit man in diesem
Prozess auch einmal zu abschließenden Aussagen
kommt.
({7})
Dann müssten wir von außen uns vielleicht nicht so viel
mit Ihnen beschäftigen.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Gabriele Fograscher.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte, die wir heute führen, findet am Vortag des
9. November statt. Auf den 9. November fallen viele historische Ereignisse, die die deutsche Geschichte geprägt
haben, auch politische Wendepunkte: Am 9. November
1918 rief Philipp Scheidemann von einem Fenster dieses
Gebäudes aus die deutsche Republik aus. Am 9. November 1923 versuchten Hitler, Ludendorff und andere, die
Regierungsmacht in München an sich zu reißen. In der
Reichspogromnacht am 9. November 1938 organisierte
und lenkte das nationalsozialistische Regime Gewaltmaßnahmen gegen Jüdinnen und Juden im gesamten
Deutschen Reich. Am 9. November 1989 fiel nach einer
friedlichen Revolution die Mauer; die deutsch-deutsche
Grenze war offen.
Die historische Aufarbeitung beider Diktaturen beschäftigt uns bis heute und muss uns weiter beschäftigen. Es gibt zahlreiche Forschungsergebnisse, Gutachten
und Untersuchungen zum Umgang von Bundesministerien und -behörden mit der NS-Vergangenheit. Einige
davon sind veröffentlicht, einige - meine Kollegin
Lühmann hat darauf hingewiesen - sind nicht veröffentlicht.
Wir haben in unserem gemeinsamen Antrag formuliert:
Unabhängige Forschung und die Achtung der
grundgesetzlich garantierten Forschungsfreiheit
sind ein hohes Gut.
Dafür müssen wir gute wissenschaftliche Rahmenbedingungen schaffen und für ein forschungsfreundliches
Klima in Ministerien, Gerichten und Behörden werben.
Natürlich wollen auch wir kein Aktenschreddern
mehr, und wir wollen auch, dass Akten offengelegt werden, soweit es eigene Bestände der Bundesrepublik
Deutschland sind.
({0})
Wir wollen und wir müssen die mit Bundesmitteln geförderten zeitgeschichtlichen Institute an dieser Aufarbeitung beteiligen.
Es ist die Frage zu beantworten, wie es trotz personeller Kontinuitäten möglich war, dass sich die Bundesrepublik Deutschland zu einer stabilen Demokratie entwickeln konnte, und wir wollen uns natürlich auch mit der
frühen DDR beschäftigen.
Auf den Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom
27. Oktober 2012 ist hier schon Bezug genommen worden. Es ist wirklich erschreckend, dass ein NS-Verbrecher damals gegen starke Bedenken von Adenauer
({1})
eingestellt worden ist, weil der Geheimdienstchef
Gehlen diesen Mitarbeiter als unentbehrlich bezeichnete.
Ich glaube, es werden auch bei zukünftigen Forschungen weitere erschreckende Details aufgedeckt werden.
Aber auch das gehört dazu, um die Entwicklung unseres
Gemeinwesens zu verstehen und Lehren für die Zukunft
zu ziehen.
Es ist wichtig, dass wir mehr Erkenntnisse darüber
gewinnen, welchen Einfluss die Täter aus der NS-Zeit in
der Bundesrepublik Deutschland hatten, aber wir müssen auch weiterhin die Opfer im Blick behalten. Auch
hier gibt es immer wieder neue Erkenntnisse, wenn akribisch recherchiert wird.
Ich will ein aktuelles Beispiel nennen: Vor kurzem ist
das Buch Verfolgung und Widerstand. Das Schicksal
Münchner Sozialdemokraten in der NS-Zeit erschienen.
Ziel dieses Buchprojekts ist es, die Verfolgung der
Münchner Sozialdemokraten in ihrer ganzen Breite
und in ihren unterschiedlichen Facetten zu dokumentieren und die Erinnerung an die Betroffenen
und ihre Schicksale wieder wachzurufen.
So heißt es auf der Internetseite des herausgebenden
Volk-Verlages.
Diese historische Aufarbeitung ist und bleibt wichtig.
Sie ist aber auch deshalb wichtig, damit wir Konsequenzen und Lehren daraus ziehen können, um unsere Demokratie zu fördern und zu festigen.
({2})
Studien wie die der Friedrich-Ebert-Stiftung zum
Rechtsextremismus oder der kürzlich vorgelegte Bericht
des unabhängigen Expertengremiums Antisemitismus
führen uns immer wieder vor Augen, dass rassistische,
antisemitische Denkmuster in Deutschland noch immer
in viel zu hohem Maße existieren, ja, in der Mitte der
Gesellschaft angesiedelt sind.
Wir alle müssen uns gemeinsam bemühen, den
Kampf gegen Vorurteile, Ressentiments oder, wie
Heitmeyer das nennt, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu intensivieren. Für uns gehören dazu auch eine
Verstetigung der Finanzierung der bisherigen Modellprojekte gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus und eine Stärkung der politischen Bildung.
In den Haushaltsberatungen können Sie die Bundeszentrale für politische Bildung gerne gemeinsam mit uns
besser ausstatten.
({3})
Schließlich gehört für uns auch weiterhin dazu, die „Extremismusklausel“ abzuschaffen.
({4})
Wir müssen uns weiterhin mit unserer Geschichte
auseinandersetzen - wissenschaftlich, aber auch praktisch und pädagogisch. Neben den wenigen Zeitzeugen,
die uns authentisch über die NS-Zeit berichten können,
müssen wir Wege finden, um die Vergangenheit auch für
künftige Generationen fassbar zu machen und ein Wiedererstarken rechtsextremistischer, rassistischer und antisemitischer Tendenzen zu verhindern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich jetzt dem Kollegen Detlef Seif von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute unter Tagesordnungspunkt 4 mit mehreren
Anträgen, die sich einerseits mit der NS-Vergangenheit,
andererseits aber mit dem Umgang mit der NS-Vergangenheit bis in die Gegenwart befassen.
Wir alle wissen, dass das deutsche Volk aufgrund der
nationalsozialistischen Vergangenheit, aufgrund des
Krieges, der systematischen Verfolgung, Vertreibung
und Ermordung von Menschen eine große Schuld auf
sich geladen hat. Wir alle wissen, dass im Nachkriegsdeutschland ehemalige Nazis in Verwaltung und Industrie untergekommen sind. Es gab bei Kriegsende rund
8,5 Millionen Nazis. Geeignete Vertreter, die in die Verwaltungen, in die Industrie hätten entsandt werden könnten, waren gar nicht vorhanden.
({0})
Wir alle wissen, dass wir dieses Thema intensiv und
umfassend aufarbeiten müssen. Ich glaube, niemand in
diesem Hause bestreitet es, dass wir alle einhellig der
Meinung sind: Hier muss umfänglich Aufklärung, auch
in der Zukunft, betrieben werden.
Die Linken haben zum Thema „Umgang mit der NSVergangenheit“ eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Dazu gibt es eine zweiseitige Begründung. Wenn man die Unterpunkte hinzunimmt, wurden
90 Fragen gestellt, auch Fragen, welche wissenschaftDetlef Seif
lichen Studien mit welchen Quellen der Regierung bekannt sind. Das übersteigt, wenn man es einmal genau
betrachtet, nach unserer Geschäftsordnung den Umfang
einer Großen Anfrage bei weitem. Dennoch - bei der
Wichtigkeit dieses Themas - hat die Bundesregierung
sehr akribisch, ausführlich und sorgfältig ihre Arbeit geleistet und Ihnen auf jede Frage, soweit Datenmaterial
zugänglich war, auch geantwortet. Ich habe es noch
nicht gehört, möchte es an dieser Stelle aber einmal sagen: Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ich denke,
auch für unseren Koalitionspartner FDP, möchte ich Ihnen unseren ausdrücklichen Dank dafür aussprechen,
dass Sie so gründlich und sorgfältig gearbeitet haben.
({1})
Meine Damen und Herren, der Kollege Thierse hat
sehr eindrucksvoll auch angesprochen, Herr Korte, dass
in Ihrer Rede mit keinem Wort der Bezug zur DDR enthalten war und dass es glaubwürdiger gewesen wäre,
wenn Sie das getan hätten. Ihre Replik war: „Wir haben
das aber in der Großen Anfrage an einigen Stellen verfasst.“ Entscheidend ist aber nicht das, was man fragt,
was man sagt, sondern das, was man tut. Sie haben unter
der Drucksache 17/3748 Ihren Antrag so formuliert, dass
nur die Bundesrepublik Deutschland und ihre Behörden
betroffen sind. Also lassen Sie Ihren Worten Taten folgen.
({2})
- Nein, das haben Sie anders formuliert, Herr Korte. Lesen Sie Ihren Antrag. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie
Ihren Ausführungen Taten folgen ließen. Korrigieren Sie
Ihren Antrag 17/3748 so, dass auch Behörden der ehemaligen DDR und die Verwaltungsstruktur der DDR von
Ihrem Antrag umfasst sind!
({3})
Es muss auch anerkannt werden - das tun Sie nicht;
teilweise ist das anklagend und unterstellend -, dass die
Bundesregierung bereits aus eigenem Antrieb umfangreiche Forschungsmaßnahmen durchgeführt hat, durchführt und fördert. Ich will das nicht alles wiederholen.
Das ist in der Debatte im Einzelnen schon alles dargestellt worden.
Der Antrag der Linken zum Tagesordnungspunkt 4 b
- in Formulierungen sind Sie wirklich der Weltmeister hat die wohlklingende Bezeichnung „Demokratie durch
Transparenz stärken“. Sie fordern die Freigabe sämtlicher Verschlusssachen. Der Kollege Schuster hat das
schon im Einzelnen dargelegt. Betroffen wären auch die
Verschlusssachen, die mit „Streng geheim“ befasst sind.
({4})
Gerade bei den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden umfassen die Akten Erkenntnisse über Personal,
Arbeitsweise und auch die Arbeitsergebnisse. Bei den
Sicherheitsbehörden, die geheim arbeiten, die Geheimdienste, kommen darüber hinaus noch die Verfahren der
Agentenwerbung, nachrichtendienstliche Mittel, etwa
Observation und Legendierungen hinzu. Das würde alles
offengelegt: Al-Qaida lässt grüßen. Die organisierten
Verbrecher warten darauf, dass wir denen unsere Ermittlungsmethoden offenlegen.
({5})
Liebe Linke, vielleicht sollten Sie den Titel Ihres Antrags in „Informationsfreiheit für al-Qaida“ umformulieren. Das trifft das dann wesentlich besser.
({6})
Den Behörden muss es weiter möglich sein, Akten
unter Verschluss zu halten. Hier hat der Kollege Thierse
natürlich sehr eindrucksvoll die Fälle angesprochen, von
denen wir wissen: Es handelt sich um Schwerverbrecher,
um Kriegsverbrecher, um Menschen, die andere Menschen verfolgt und ermordet haben. - Wir alle haben ein
Interesse daran, dass die Akten offengelegt werden.
Aber man muss trotzdem die Frage stellen, ob in diesen
Akten vielleicht sicherheitsrelevante Tatsachen enthalten
sind, durch deren Bekanntwerden der Bundesrepublik
heutzutage noch ein erheblicher Nachteil zugefügt werden könnte.
Wir haben ein Kontrollgremium. Wir haben eine Bundesregierung. Das Bundeskanzleramt ist für den BND
zuständig. Meine Empfehlung und mein Vorschlag: Der
BND berichtet, warum einige Akten im Moment teilweise oder insgesamt zurückgehalten werden, und zwar
gegenüber dem Kontrollgremium. Wenn es tatsächlich
sicherheitsrelevante Gründe gibt, dann können die Akten
teilweise oder in Gänze nicht freigegeben werden. Wenn
nicht, gibt es dazu keinen Grund. Ich denke, dann wird
uns die Bundesregierung vorschlagen, dass man diesem
Vorschlag folgt und die Akten freigibt. Das wäre der
richtige Umgang. Man kann nicht sagen: Nur weil jetzt
die Namen von Kriegsverbrechern in den Akten enthalten sind, entfällt jedes Geheimhaltungsinteresse des
Staates. - Das muss man prüfen. Wenn das Ergebnis so
ist wie geschildert, dann müssen die Akten freigegeben
werden.
Nun haben die Linken nicht nur Akteneinsicht und
Transparenz für Gesellschaft, Wissenschaft und Forschung angesprochen, sondern auch Leistungen, die Verfolgten, insbesondere der KPD, verweigert werden. Sie
haben sehr eindrucksvoll dargelegt, welcher Personenkreis davon betroffen ist. Was Sie aber nicht gesagt
haben: Alle Bundesländer haben Härtefallregelungen.
Diese greifen aber nur dann, wenn der KPD-Vertreter
nicht aktiv gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gearbeitet hat. Das ist die wesentliche Voraussetzung. Nennen Sie uns bitte die Namen derjenigen, die
davon betroffen sind und deren Fall heute nicht geregelt
ist und bei denen man sagen kann: Es ist ungerecht, dass
hier keine Entschädigung geleistet wird. Ich denke, da
kann man einlenken. Aber Sie stellen das abstrakt im
Sinne eines Klassenkampfthemas dar und verschweigen,
dass dieser Personenkreis bewusst gegen die freiheitlichdemokratische Grundordnung gearbeitet hat.
Jetzt habe ich den Namen des Kollegen Thierse schon
das dritte Mal in meiner Rede genannt.
({7})
Das wirkt schon etwas übertrieben. Aber ich muss Ihnen
sagen: Ich bin Ihnen äußerst dankbar für Ihren Vorschlag, der auch in den gemeinsamen Antrag mündet, für
die Art und Weise, wie Sie das vortragen und in dieses
Verfahren einbringen. Ich denke, harte Töne können wir
bei diesem sensiblen Thema nicht gebrauchen. Der eine
oder andere hat in dieser Debatte vielleicht den falschen
Ton, vielleicht auch die falsche Modulation gewählt. Ich
denke, Sie sind auf dem richtigen Weg - dafür vielen
Dank -, dem kann ich mich vollumfänglich anschließen.
Wir müssen - das ist unser gemeinsamer Antrag - erst
eine Bestandsanalyse vornehmen. Daraus wird sich entwickeln, wie weit noch Forschungsbedarf besteht. Der
Forschungsbedarf ist dann aber kein Selbstzweck. Er ist
auch nicht nur rechtsorientiert, sondern uns geht es darum, Gefahren, politische Fehlentwicklungen aufzuzeigen, egal ob von links oder rechts. All das, was Menschenrechte beeinträchtigt, was unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung beeinträchtigen kann,
auch die Fragestellung, wie gebildete und geistig hochstehende Menschen, die wissen, was sie tun, plötzlich einer Diktatur zuarbeiten, haben uns zu interessieren.
Zum Abschluss zitiere ich Professor Horst Möller,
ehemaliger Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, der
auch bei der Anhörung dabei war und der den Forschungsauftrag zutreffend beschrieben hat:
Man muss diese Forschung zur Schärfung des demokratischen Bewusstseins betreiben. Das ist der
zentrale Umsetzungsauftrag.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/
11336. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Linken und der Grünen
und Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 4 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „NS-Vergangenheit in Bundesministerien aufklären“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9448, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/3748 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 c. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 17/11260. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des
Antrags der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP
auf Drucksache 17/11001 mit dem Titel „Wissenschaftsund Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen
verbessern - Die Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten staatlichen Institutionen im Bezug auf die NSVergangenheit durch besseren Aktenzugang unterstützen
und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der früheren
Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie
der vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Gegenstimmen der Linken und der
Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10068
mit dem Titel „NS-Vergangenheit von Bundesministerien und Behörden systematisch aufarbeiten - Bestandsaufnahme zur Forschung erstellen - Erinnerungsarbeit
koordinieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der
Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4586 mit dem Titel „Verantwortlichkeit
der Bundesregierung für den Umgang des Bundesnachrichtendienstes mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf
Eichmann“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor.
Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 4 d und damit zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Demokratie durch Transparenz stärken - Deklassifizierung
von Verschlusssachen gesetzlich regeln“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11261, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/6128 abzulehnen. Jetzt kommt aber die
Neuerung durch den Antrag der Grünen. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat nun beantragt, dass über die
Ziffer II Nr. 2 des Antrags einerseits und über den übrigen Antrag andererseits getrennt abgestimmt werden
soll.
Wir stimmen daher zunächst über die Ziffer II Nr. 2
des Antrags auf Drucksache 17/6128 ab. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Ziffer II Nr. 2 des Antrags ist abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
- Die Mehrheit ist eindeutig. Wollen Sie einen Antrag
stellen, Herr Beck?
({1})
Nach meiner Auffassung ist die Mehrheit auf dieser
Seite. - Nicht zählen, Sie müssen sagen, welcher Meinung Sie sind.
({2})
Wir gehen nach unserer Geschäftsordnung vor.
({3})
- Sie kennen die Geschäftsordnung, Herr Trittin.
Also, das Präsidium ist einstimmig der Meinung, dass
die Mehrheit auf dieser Seite des Hauses ist. Damit ist
die Sache geklärt.
({4})
Jetzt stimmen wir über den übrigen Teil des Antrags
auf Drucksache 17/6128 ab. Wer stimmt dagegen? - Wer
stimmt dafür? - Wer enthält sich? - Der übrige Teil des
Antrags ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der SPD-Fraktion bei Zustimmung der
Linken und Enthaltung der Grünen.
Tagesordnungspunkt 4 e. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Widerstand von Kommunistinnen und
Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11262, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/2201 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 4 f. Beschlussempfehlung des
Rechtsauschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfah-
rensakten des Bundesverfassungsgerichtes stärken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11383, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/4037 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Grünen bei
Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der SPD-
Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 49 a bis 49 f sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 e auf:
49 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Steuerliche Transparenz von multinationalen
Unternehmen herstellen - Country-by-Country und Project-by-Project Reporting einführen
- Drucksache 17/11075 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Willi Brase, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bedingungen bei Tiertransporten und in
Schlachtbetrieben verbessern
- Drucksache 17/11148 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({7}), Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE sowie der Abgeordneten Omid
Nouripour, Volker Beck ({8}), Marieluise Beck
({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überprüfung der Namen von Bundeswehrkasernen
- Drucksache 17/11208 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({10})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Nicole Maisch, Dorothea Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Moratorium für die Fracking-Technologie in
Deutschland
- Drucksache 17/11213 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12})
Federführung strittig
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna
Voß, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbot des Fracking in Deutschland
- Drucksache 17/11328 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14})
Federführung strittig
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, Undine Kurth
({15}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedingungen in Schlachthöfen verbessern
- Drucksache 17/11355 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({16})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bilaterale Verhandlungen aufnehmen zur unverzüglichen Stilllegung besonders gefährlicher grenznaher Atomkraftwerke in Frankreich
- Drucksache 17/11206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Swen Schulz ({18}), Willi
Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Für einen breiten Qualitätspakt in der Reform
der Lehrerbildung
- Drucksache 17/11322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({19})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Carsten Sieling, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine
Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Finanztransaktionsteuer im Rahmen einer
verstärkten Zusammenarbeit einführen
- Drucksache 17/11321 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Markus Tressel, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationalen Radverkehrsplan 2020 zum ambitionierten Aktionsplan der Radverkehrsförderung weiterentwickeln
- Drucksache 17/11357 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21})
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({22}), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Residenzpflicht abschaffen
- Drucksache 17/11356 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({23})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu
zwei Vorlagen, bei denen die Federführung strittig ist.
Tagesordnungspunkte 49 d und 49 e. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/11213
und 17/11328 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführungen sind
strittig. Die Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die
Linke wünschen jeweils die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht jeweils Federführung
beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zunächst über die Überweisungsvorschläge
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung
beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen gegen die Stimmen der Grünen
abgelehnt.
Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke
- Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen gegen die Stimmen der Grünen angenommen.
Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen.
Tagesordnungspunkte 49 a bis c und 49 f sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 e. Interfraktionell wird vorgeschlagen,
die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 50 a bis 50 l sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 50 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Übereinkommens vom
8. April 1959 zur Errichtung der Interamerikanischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/9697 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({24})
- Drucksache 17/10920 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Dr. Barbara Hendricks
Joachim Günther ({25})
Heike Hänsel
Ute Koczy
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10920, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/9697 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in der zweiten
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Linken und die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Übereinkommens vom
18. Oktober 1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/9698 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({26})
- Drucksache 17/10921 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Dr. Barbara Hendricks
Joachim Günther ({27})
Heike Hänsel
Ute Koczy
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10921, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/9698 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Übereinkommens vom
19. November 1984 zur Errichtung der Interamerikanischen Investitionsgesellschaft
- Drucksache 17/9699 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({28})
- Drucksache 17/10922 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Dr. Barbara Hendricks
Joachim Günther ({29})
Heike Hänsel
Ute Koczy
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10922, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/9699 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Linken und die Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Rahmenabkommen
vom 10. Mai 2010 zwischen der Europäischen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits
und der Republik Korea andererseits
- Drucksache 17/10757 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({30})
- Drucksache 17/11056 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Edelgard Bulmahn
Bijan Djir-Sarai
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11056, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10757 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 50 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Luftverkehrsabkommen vom 17. Dezember 2009 zwischen Kanada und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten
({31})
- Drucksache 17/10917 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({32})
- Drucksache 17/11252 Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11252, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10917 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 50 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 487 zu Petitionen
- Drucksache 17/11154 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 487 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 488 zu Petitionen
- Drucksache 17/11155 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? Sammelübersicht 488 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 489 zu Petitionen
- Drucksache 17/11156 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 489 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 490 zu Petitionen
- Drucksache 17/11157 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 490 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 491 zu Petitionen
- Drucksache 17/11158 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 491 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Sammelübersicht 492 zu Petitionen
- Drucksache 17/11159 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 492 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Linken bei Gegenstimmen
von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 50 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 493 zu Petitionen
- Drucksache 17/11160 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 493 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Nachhaltigkeitsstrategie weiterentwickeln und stärker institutionell in der EU
verankern
- Drucksache 17/11329 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen aller
Fraktionen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Jahrestag des Bekanntwerdens der NSU-Terrorzelle - Zwischenbilanz der Ermittlungspannenaufklärung und Stand des Kampfes gegen den Rechtsextremismus
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Wolfgang Wieland von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch
nach einem Jahr hat sich das Entsetzen noch nicht gelegt, und auch die Fassungslosigkeit ist noch nicht verschwunden: Da taucht eine Terrorzelle unter den Augen
der Polizei ab, bleibt 14 Jahre lang unentdeckt, begeht in
dieser Zeit neun Morde an Migranten und einen Mord an
einer Polizistin, begeht mehrere Mordversuche, zündet
zwei Bomben und begeht eine Serie von Banküberfällen
quasi vor ihrer Haustür - und nicht eine dieser Taten
wird ihr bis dahin von den Sicherheitsbehörden zugerechnet. Im Gegenteil: Ohne das Finale in Eisenach
suchte man den Ceska-Mörder immer noch im Milieu
der organisierten Kriminalität und tappte bei den anderen Spuren im Dunkeln.
Bis in den Sommer vergangenen Jahres hinein präsentierte das Bundeskriminalamt in großen Schaubildern die
Ceska-Morde als Beispiele für organisierte Kriminalität
in Deutschland - mit längst ausgeräumten, von den eigenen Beamten widerlegten Verdächtigungen gegenüber
den Opfern. Sie wurden, weil man auch die Medien entsprechend befeuerte, in ausgeklügelten Medienstrategien
so zweifach zum Opfer; ihre Familien wurden stigmatisiert. Hier hat der deutsche Staat eine schwere Schuld
auf sich geladen.
({0})
Wir können nur hoffen - bei dieser Debatte sind Vertreter des Zentralrats der Juden und von Opferinitiativen
des Türkischen Bundes anwesend; wir haben auch lange
mit Vertretern der Sinti und Roma darüber geredet -,
dass die Aufklärungsarbeit hier im Bundestag und in den
Landtagen sowie auch das, was die Justiz nun mit Anklageerhebung und mit Strafverfahren leistet, wenigstens
eine gewisse Genugtuungsfunktion für die Familien der
Opfer hat; dringend nötig ist es.
({1})
Der zurückgetretene Präsident des Bundesamtes für
Verfassungsschutz formulierte es so: Wir haben versagt.
Wir hätten es angesichts der deutschen Geschichte besser wissen müssen. - Das gilt vor allem für sein eigenes
Haus.
({2})
Dies wurde im Jahr 2003 direkt gefragt, ob es eine
„braune RAF“ in Deutschland gebe - der bayerische Innenminister Beckstein hatte diesen Begriff in die Debatte gebracht -, und es wurde sogar speziell gefragt, ob
die Untergetauchten aus Jena eine solche terroristische
Gruppierung sein könnten. Die Antwort war Nein; denn
schließlich, so hieß es, seien diese auf der Flucht, und
schließlich hätten sie, soweit ersichtlich, keine weiteren
Straftaten begangen. - Da hatten sie schon viermal gemordet und eine Bombe in Köln gelegt.
Wir haben hier ein Totalversagen leider aller Sicherheitsbehörden.
({3})
Nicht alle sind so selbstkritisch, wie es Herr Fromm war.
Der ehemalige Vizepräsident des Bundeskriminalamtes
Bernhard Falk nannte die Arbeit der Kriminalpolizei
„kriminalfachlich stümperhaft organisiert“. Das muss
man sich auf der Zunge zergehen lassen. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, außer dass diese Selbstkritik
leider singulär geblieben und an der Spitze des BKA
nicht angekommen ist. Dort meint Präsident Ziercke,
man habe erfolgreich gearbeitet; schließlich habe die
Mordserie aufgehört. - Ein Erfolg, den nur er sieht!
Zu diesem Versagen kommt nicht nur das Strukturproblem der Sicherheitsbehörden hinzu, sondern auch
das Mentalitätsproblem und das Problem der Arbeitsweise, was nicht zuletzt das Schreddern der Akten - im
Grunde bis zum heutigen Tag weit verbreitet in den Sicherheitsbehörden - zeigt. Man glaubt es nicht, dass im
Land Berlin noch Ende Juni dieses Jahres Akten geschreddert wurden.
Hier müssen Änderungen erfolgen. Hier brauchen wir
eine Zäsur. Hier brauchen wir einen Neustart bei den
Verfassungsschutzorganisationen. Wir brauchen vor allen Dingen eine grundlegende Änderung im V-MannSystem; das muss radikal auf den Prüfstand.
({4})
Es kann nicht sein, dass wir geradezu Informationsblockaden haben: in einem Landesamt von einer Abteilung zur anderen, bei den Landesämtern untereinander,
im Verhältnis von Ländern und Bund und erst recht vom
Verfassungsschutz zur Polizei. Nur ein Beispiel: Die
Bitte der BAO „Bosporus“ um Benennung eines Ansprechpartners wurde telefonisch beschieden: Stellen Sie
doch erst mal einen schriftlichen Antrag! Im Übrigen haben wir Landesämter. - Dies ist nicht nur eine fehlende
Kooperation; dies ist ein Gegeneinander, und so kann es
nicht weitergehen.
({5})
Last, but not least - meine letzte Ausführung -: Es
wäre ein Fehler, auf die Schandtaten dieses Trios lediglich mit einer Reform der Abteilung für staatliche Repression und staatliche Prävention zu antworten. So notwendig hier Mentalitätswechsel und neue Strukturen
sind: Es ist Aufgabe von uns allen, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Netzwerken der Nazis den
Boden streitig zu machen; und es ist Aufgabe des Staates, die vielfältigen Initiativen dabei vorurteilsfrei und
dauerhaft zu unterstützen.
({6})
Nicht die Polizei kann verhindern, dass rassistisches Gedankengut junge Köpfe erreicht und vergiftet; das müssen wir alle leisten, täglich und leider beinahe an jedem
Ort in unserem Land.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Wieland. - Nächster
Redner ist für die Bundesregierung Herr Bundesminister
Dr. Hans-Peter Friedrich. Bitte schön, Herr Bundesminister.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor genau zwölf Monaten ist diese Mörderbande, die zehn Morde begangen hat, die Banken überfallen hat und die Bombenanschläge verübt hat, enttarnt
worden. Der Schock sitzt tief; nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei den politisch Handelnden,
aber auch bei den Sicherheitsbehörden. Ein Schock deshalb, weil man bis zu diesem Tag, dem 4. November
2011, nicht wusste, dass es diese Rechtsterroristen gibt
({0})
- alle Experten hatten sich offenkundig geirrt und versagt -,
({1})
und weil man nicht in der Lage war, die Mörder, die
Bankräuber und die Bombenattentäter zu finden. Ich
denke, das Urteil des eben zitierten, zurückgetretenen
Präsidenten des BfV, Heinz Fromm, die Sicherheitsbehörden hätten eine Niederlage erlitten, kann man nur bekräftigen.
Meine Damen und Herren, mich hat am meisten das
Treffen mit den Angehörigen der Mordopfer berührt.
Man muss sich das einmal vorstellen: Menschen verlieren einen Sohn, einen Vater, einen Bruder und geraten
anschließend selbst in den Kreis der Verdächtigen und
werden von ihrer sozialen Umgebung distanziert behandelt nach dem Motto: Wer weiß, was wirklich dahinter
ist. Das hat diese Menschen sehr verletzt und sehr getroffen.
Unser Versprechen, dass wir diese Verbrechen aufklären, besteht weiter. Wir tun das auch; denn Polizei,
Staatsanwaltschaft und Justiz sind seit zwölf Monaten
engagiert und mit Hochdruck dabei,
({2})
all das aufzuklären, was in diesem Zusammenhang passiert ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht
haben Sie es den Agenturen entnommen: Es ist inzwischen Anklage gegen Frau Zschäpe und andere erhoben
worden. Das geschieht in einem sehr schwierigen Umfeld der Ermittlungen, weil zwei der Hauptverdächtigen
tot sind, weil Frau Zschäpe bisher offenkundig noch
nicht ausgesagt hat und weil ein Teil der Beweismittel,
die in dem Haus vorhanden waren, in dem die drei gewohnt haben, durch die Brandstiftung vernichtet wurden. Wir haben dafür gesorgt, dass in der Spitze bis zu
400 Beamte vom Bundeskriminalamt, von Landeskriminalämtern und der Polizei zusammen mit dem Generalbundesanwalt über 6 800 Asservate ausgewertet haben.
Die Verfahrensakten umfassen nach derzeitigem Stand
schätzungsweise rund 280 000 Seiten. Diese 280 000
Seiten sind Grundlage für weitere Maßnahmen und Anklageerhebungen der Justiz. Ich glaube, es ist hier der
Zeitpunkt gekommen, den Beamtinnen und Beamten der
Polizei und des Verfassungsschutzes dafür zu danken,
dass sie in den letzten zwölf Monaten diese Arbeit mit
großer Akribie und großem Erfolg gemacht haben. Die
Anklage ist erhoben worden. Daran kann man sehen, die
Aufklärung geht voran.
({3})
Meine Damen und Herren, neben der Aufklärung der
Mordfälle muss natürlich geklärt werden, wie es zu dieser kollektiven Fehleinschätzung der Sicherheitsbehörden auf allen Ebenen kommen konnte. Man wusste erstens, dass die Rechtsextremisten gewalttätig waren,
gewaltaffin, wie es in vielen Berichten heißt. Man
wusste, dass sie mit großer Verve, mit großem Fanatismus ihre hirnverbrannte Ideologie, ihre menschenverachtende Ideologie verfolgen. Deswegen ist es ein Wunder, dass man diese Gefahr so unterschätzen konnte
({4})
und offenkundig nicht damit gerechnet hat, dass es ein
Netzwerk gegeben hat, mit dem sie sich anonym vor den
Behörden verstecken konnten. An diesem Fall wird
deutlich, dass wir eine neue Entschlossenheit zur Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland brauchen. Zumindest dieser Fall muss Ausgangspunkt für die
neue Entschlossenheit sein.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der
Aufklärung des kollektiven subjektiven Versagens geht
es natürlich auch darum, dass die Strukturen, Organisationen und Kommunikationswege kritisch untersucht werden.
({6})
In diesem Zusammenhang bedanke ich mich ganz herzlich bei den Kolleginnen und Kollegen des NSU-Untersuchungsausschusses. Ich habe selbst zwei Untersuchungsausschüssen angehört und weiß, was es bedeutet,
viele Akten durchzuwühlen und sich in die Problematik
einzulesen. Ganz herzlichen Dank für die Arbeit, die Sie
dort verrichten!
Sie haben schon die Kommunikationsprobleme aufgezeigt, die zwischen den Behörden sichtbar geworden
sind; das ist, glaube ich, auf ganz gute Art und Weise gelungen. Wir haben inzwischen schon darauf reagiert, indem wir die Kommunikation zwischen den Behörden
zum Haupttätigkeitsfeld für Reformen ernannt haben.
Ich bedanke mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Bund-Länder-Kommission, die die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Landesebene untersucht. Das ist bisher ganz
ohne Öffentlichkeit geschehen; ich kann Ihnen aber zusagen, dass diese Bund-Länder-Kommission noch in diesem Jahr einen Zwischenbericht vorlegen wird.
({7})
Innerhalb des Innenministeriums und innerhalb der
Behörden wurde eine Fülle von Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich mit der Modernisierung von Abläufen,
der Modernisierung von Kommunikation und auch der
Modernisierung der Kontrolle beschäftigen. Diese Arbeitsgruppen beschäftigen sich übrigens auch mit der Frage,
Kollege Wieland, wie wir in Zukunft mit den V-Leuten
umgehen.
Einige wichtige Maßnahmen haben wir bereits umgesetzt. Bereits fünf Wochen nach Bekanntwerden der
NSU-Mordserie haben wir ein Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus eingerichtet, das auf
die Standorte Meckenheim und Köln aufgeteilt ist. In
diesem Gemeinsamen Abwehrzentrum sitzen täglich
Vertreter der Behörden von Bund und Ländern zusammen und diskutieren über die Fälle, die in den Ländern
und auf Bundesebene zur Kenntnis der Behörden gelangen.
Das halte ich für ausgesprochen wichtig. Ich glaube, dass
man heute sagen kann: Hätte es dieses Zentrum bereits
vor 10 oder 15 Jahren gegeben, wäre man heute sicher
ein Stück weiter gewesen und einer Fehleinschätzung
nicht in diesem Maße unterlegen.
({8})
Wir haben das Ganze erweitert und ergänzt, indem
wir die modernen Möglichkeiten der elektronischen
Kommunikation nutzen. Seit September dieses Jahres
existiert eine Rechtsextremismusdatei. Diese Datei ist
ein wichtiges Hilfsmittel für die Behörden, um auch auf
diesem Wege die Kommunikation zu verbessern.
Inzwischen kommt die Gefahr der Propaganda der
Rechtsextremen auch aus dem Internet. Wir haben eine
koordinierte Internetauswertung eingerichtet; das ist eine
Einheit, die sich darauf spezialisiert, Neonazis und
Rechtsextremismus im Internet zu bekämpfen. Diese
Einrichtung halte ich ebenfalls für sehr wichtig. Wir
müssen jetzt gemeinsam mit den Ländern versuchen, im
Verbund des Verfassungsschutzes auf Bundes- und auf
Landesebene voranzukommen.
({9})
Zusammen mit den Innenministern der Länder haben
wir bereits zehn allgemeine Grundsätze koordiniert und
verabschiedet. Ich habe eine Konkretisierung dieser
Maßnahmen vorgenommen, und zwar sowohl im Hinblick auf die interne Reform des Bundesamts für Verfassungsschutz als auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit im Verbund. Bei der Innenministerkonferenz im
Dezember werden wir Ihnen konkrete Ergebnisse präsentieren können.
Wichtig ist - Kollege Wieland hat darauf hingewiesen -, dass wir nicht nur im Bereich der Strafverfolgung
und im Bereich der Sicherheitsbehörden handeln, sondern dass wir uns auch darüber im Klaren sind, dass der
Kampf gegen den Rechtsextremismus die gesamte Gesellschaft betrifft.
({10})
Im präventiven Bereich muss Demokratie trainiert werden. Das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“
des Bundesinnenministeriums ist ein Programm, das die
Strukturen im gesellschaftlichen Bereich widerstandsfähig machen soll gegen rechtsextremistisches Gedankengut. Unter anderem wird ein Demokratietraining eingeübt, um die verschiedenen Organisationen gegen dieses
Gedankengut abwehrfähig machen zu können. Dieses
Programm wird weiter fortgeführt.
In diesem Zusammenhang bedanke ich mich bei den
Kollegen aus dem Haushaltsausschuss, dass sie für den
Sicherheitsbereich 25 Millionen Euro mehr zur Verfügung gestellt haben, um effektiv gegen den Rechtsextremismus kämpfen zu können.
Es geht letztlich darum, dass wir Fehler und Versäumnisse klar benennen
({11})
und Fehler und Versäumnisse beseitigen. Ich will es noch
einmal betonen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir bekämpfen den Rechtsextremismus in unserem
Land mit neuer Entschlossenheit.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Dr. Eva Högl. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Högl.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die Mordserie des
NSU war ein Anschlag auf unsere Demokratie. Deshalb,
liebe Kolleginnen und Kollegen, war es richtig, dass wir
uns hier im Deutschen Bundestag entschieden haben, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um die Versäumnisse, das Versagen und die gemachten Fehler hier
im Parlament aufzuarbeiten.
({0})
Es war eine richtige und gute Entscheidung, das zu einer
Angelegenheit des Parlaments zu machen.
({1})
Ich weiß, dass viele von uns am Anfang zu Recht
skeptisch waren, ob ausgerechnet ein Untersuchungsausschuss das richtige Gremium ist, um das aufzuarbeiten.
Aber wir haben es bis jetzt geschafft - wir arbeiten jetzt
zehn Monate zusammen -, partei- und fraktionsübergreifend sachorientiert zusammenzuarbeiten und aufzuklären. Das macht unseren Untersuchungsausschuss stark
und schafft auch Vertrauen.
({2})
Es waren sicherlich viele skeptisch - auch das wissen
wir -, ob elf Abgeordnete des Deutschen Bundestages
überhaupt etwas ans Tageslicht befördern können, ob sie
mit den vielen Akten zurande kommen. Ich glaube, wir
haben in den zehn Monaten bewiesen, dass das möglich
ist. Wir haben sehr viel ans Tageslicht befördert, wir haben viel aufgedeckt. Allerdings nichts, was uns Freude
macht; vieles erschreckt uns, macht uns fassungslos, erstaunt uns zumindest sehr oder lässt uns den Kopf schütteln.
Meine Damen und Herren, ich freue mich auch sehr,
dass unser Untersuchungsausschuss so intensiv von den
Medien und der kritischen Öffentlichkeit begleitet wird,
dass das Thema nicht nur vor einem Jahr, ganz zu Beginn der Diskussion, und vielleicht jetzt noch einmal,
zum Jahrestag, interessant war, sondern es über ein Jahr
hinweg eine kontinuierliche Berichterstattung gab und
die Veranstaltungen, auf denen wir über dieses Thema
diskutiert haben, gut besucht waren, weil sich viele Bürgerinnen und Bürger zu Recht für das interessieren, über
das wir hier miteinander diskutieren.
Wir nehmen einen Auftrag sehr ernst: Wir machen
diese Arbeit im Deutschen Bundestag für die Opfer und
ihre Angehörigen. Das ist uns eine Verpflichtung, das
nehmen wir ernst, das ist für uns ganz wichtig. Wir können kein geschehenes Unrecht wiedergutmachen; aber
wir können mit einer konsequenten, lückenlosen Aufklärung dazu beitragen, dass diese schlimmen Ereignisse,
die für die Familien erschütternd und wirklich entsetzlich sind, zumindest verarbeitet werden können.
({3})
Das ist ein wichtiges Signal aus diesem Parlament.
Meine Damen und Herren, es sind Fehler gemacht
worden. Wenn eine rechtsextreme Terrorgruppe 14 Jahre
lang untertauchen kann, wenn sie zehn Menschen hinrichten kann, wenn sie 2 Sprengstoffanschläge mit vielen Verletzten und 15 Banküberfälle begehen kann, dann
kann es nicht sein, dass keine Fehler gemacht worden
sind, dann sind in unseren Sicherheitsbehörden Fehler
gemacht worden. Das gilt für die Polizei, für den Verfassungsschutz, für die Zusammenarbeit in den Bundesländern, aber auch zwischen den Bundesländern und der
Bundesebene. Das gilt auch, meine Damen und Herren,
für Entscheidungen auf der politischen Ebene, für falsche Einschätzungen und falsche Bewertungen. Das
werden wir ans Tageslicht befördern; da bleiben wir weiter dran.
Wir müssen aus diesen Erkenntnissen die richtigen
Lehren, die richtigen Konsequenzen ziehen und umfassende Reformen bei der Polizei, beim Verfassungsschutz, bei der Ausgestaltung der Zusammenarbeit und
der Arbeitsweise unserer Sicherheitsbehörden durchführen. Wir brauchen diese Reformen. Wenn wir nur hier
und da ein bisschen an der Ausgestaltung der ZusamDr. Eva Högl
menarbeit schrauben, dann haben wir die Lehren aus
dieser rechtsextremen Mordserie nicht verstanden.
({4})
Herr Bundesminister Friedrich, da muss ich Ihnen sagen: Das, was Sie hier vorgetragen haben, ist zu wenig.
({5})
Was Sie hier in diesem Jahr gemacht haben, ist zu wenig; es ist unengagiert und fantasielos. Die Verbrechen
der rechtsextremen Terrorgruppe wurden vor einem Jahr
aufgedeckt. Man kann jetzt schon tätig werden. Die Bundeskanzlerin selbst hat für die Bundesregierung versprochen, lückenlos aufzuklären, die Aufklärung engagiert
voranzutreiben und Konsequenzen zu ziehen. Herr Bundesminister, ich muss sagen: Das, was Sie hier vorgetragen haben, genügt dem überhaupt nicht.
({6})
Herr Friedrich, auch das muss erwähnt werden: Es
war ein schwerer Fehler - ich gehe davon aus, dass Sie
das genauso sehen -, dass Sie im November 2011 nicht
sofort einen umfassenden Aktenvernichtungsstopp erlassen haben.
({7})
Es ist so unglaublich viel Vertrauen zerstört worden, zunächst einmal durch die Fehler, die bei den Sicherheitsbehörden gemacht wurden, aber ein zweites Mal durch
die Aktenvernichtung. Es war ein gravierender Fehler,
dass nicht dafür gesorgt wurde, dass kein Blatt Papier
vernichtet und keine Datei gelöscht wird.
Meine Damen und Herren, da frage ich mich auch:
Wie muss das auf die Angehörigen der Opfer wirken, die
nicht nur die Ereignisse von damals verkraften müssen,
sondern jetzt auch noch erleben müssen, dass unsere Sicherheitsbehörden nicht alles dafür tun, dass lückenlos
aufgeklärt wird? Da drängt sich schon der Eindruck auf,
dass etwas vertuscht werden soll. Wir haben kein Interesse daran, einen solchen Eindruck zu erwecken. Wir
müssen jetzt aber dafür sorgen, dass lückenlos aufgeklärt
wird.
Meine letzte Bemerkung. Mir ist ganz wichtig: Wenn
wir aufgeklärt und Reformen auf den Weg gebracht haben, dann dürfen wir auf keinen Fall den Aktendeckel
zumachen - nach dem Motto „Das war das Kapitel
rechtsextremer Terror des NSU“ -, sondern wir alle
müssen die Lehren daraus ziehen und den Rechtsextremismus konsequent bekämpfen. Herr Bundesminister,
das geht weit über das hinaus, was Sie hier vorgetragen
haben. Ich hoffe, dass wir entsprechende Mehrheiten im
Bundestag dafür bekommen, dass wir das zu unserer
Aufgabe machen und diese Herausforderung annehmen
können.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Högl. - Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Hartfrid Wolff. Bitte schön, Kollege Hartfrid Wolff.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Morde
der Zwickauer Terrorzelle sind die bislang schwerwiegendste Kette von rechtsextrem motivierten Gewaltverbrechen, die die Bundesrepublik Deutschland erlebt hat.
Sie sind der Grund für eine schwerwiegende Krise unserer
Sicherheitsorgane.
Die FDP hat von Anfang an auf eine lückenlose parlamentarische Aufklärung gedrängt. Zu viel war augenscheinlich schiefgelaufen. Über Jahre hinweg wurden
Menschen ermordet. Auch den Angehörigen wurde unermessliches Leid zugefügt. Die Behörden haben jahrelang ergebnislos ermittelt. Da muss sich niemand wundern,
dass das Ansehen unserer Sicherheitsorgane schwer belastet ist.
Ich glaube, inzwischen sind wir uns hier im Hause einig: Der Untersuchungsausschuss hat dabei die Aufklärungsarbeit erheblich vorangebracht - seriös und konsequent -, und er bewältigt erfolgreich ein großes
Arbeitspensum, gemeinsam und über Parteigrenzen hinweg. Und, meine Damen und Herren, wir müssen weitermachen. Der Untersuchungsausschuss hat vier Ermittlungsbeauftragte eingesetzt und gerade erst eine
erhebliche Fülle an zusätzlichen Akten bekommen. Wöchentlich kommen neue Fakten auf den Tisch, denen wir
nachgehen müssen. Deshalb halte ich es für richtig, dass
wir nach der Wahl weitermachen und eine Empfehlung
an den nächsten Deutschen Bundestag aussprechen, den
Untersuchungsausschuss in der kommenden Legislaturperiode - getragen von allen Fraktionen - fortzusetzen.
Wir brauchen mehr Zeit, um besser aufklären und um
fundierte Empfehlungen für die Zukunft aussprechen zu
können - zur besseren Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland und international, für wirksame
Empfehlungen zur Stärkung unserer Sicherheitsarchitektur - und um den Opferschutz voranbringen zu können.
Dass immer mehr Fehler der Behörden zutage treten,
ist erschütternd. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch auf eine lückenlose und gemeinsame politische Aufklärung dieser Fehler. Nur so ist das Vertrauen
in die Behörden mittel- und langfristig wiederherzustellen. Ich habe den Eindruck, manche Behörden haben den
Schuss immer noch nicht gehört. Warum werden in Berlin noch Akten geschreddert, nachdem die Vernichtung
Hartfrid Wolff ({0})
von Akten beim Bund bekannt geworden ist? Wir reden
von einem gravierenden Vertrauensverlust in die Fähigkeiten der Sicherheitsbehörden. Wie konnte es möglich
sein, dass die Naziterroristen 13 Jahre im Untergrund
lebten? Und: Wir reden von einem Vertrauensverlust in
rechtsstaatliche Abläufe in Behörden. Weshalb wurden
warum welche Akten gelöscht? Warum waren Beamte
und V-Leute beim Ku-Klux-Klan aktiv? Wurden Rechtsextremisten gar von Sicherheitsbeamten gedeckt? Der
Verfassungsschutz muss mit einem aktiven Sicherheitsauftrag ausgestattet und rechtsstaatlich wieder aufgerichtet werden.
({1})
Im Zuge einer grundlegenden Reform müssen wir für
rechtsstaatliche Standards in ganz Deutschland für den
Einsatz von V-Leuten, für neue Richtlinien zur Aufbewahrung und Löschung von Akten sowie für eine bessere Ausbildung der Mitarbeiter der Dienste sorgen. Vor
allem aber brauchen wir eine deutlich bessere, kontinuierliche Kontrolle. Die Dienste müssen strenger an die
Leine genommen werden.
({2})
Das Parlamentarische Kontrollgremium des Deutschen Bundestages muss erheblich gestärkt werden. Wir
brauchen jederzeit Zugang zu allen Vorgängen, volle
Akteneinsicht und einen ständigen Sonderermittler des
Kontrollgremiums, der mit seinem Stab den Abgeordneten in ihrem Auftrag zuarbeitet.
({3})
Meine Damen und Herren, auch die Länder haben nebeneinanderher gearbeitet. Es wäre unverantwortlich,
hieraus keine Konsequenzen zu ziehen. Die unverhohlene Verteidigung von Ressortegoismen und von Kompetenzen im Bund-Länder-Verhältnis muss auf den
Prüfstand. Wer nicht zusammenarbeitet, schafft Sicherheitslücken.
({4})
Es macht fast fassungslos, dass nach wie vor einzelne
Länder nicht bereit sind, sich konstruktiv an einer Reformdiskussion zu beteiligen, und lieber alte Strukturen
verteidigen, die offensichtlich versagt haben, oder gar
die transparente Aufklärung attackieren, wie beispielsweise im Fall des Landes Thüringen. Der Abbau von
Doppelstrukturen ist nötig. Das ist leider immer noch ein
Bohren dicker Bretter.
Der Bund muss hier vorangehen. Auch im Zusammenhang mit dem MAD ist zu fragen, ob seine Aufgaben nicht besser mit den Aufgaben des Bundesamtes für
Verfassungsschutz zusammengeführt werden. Gerade heute
haben wir dafür aus dem Untersuchungsausschuss die
besten Beweise bekommen. Die Zusammenarbeit zwischen MAD, Verfassungsschutz und den anderen Sicherheitsbehörden leidet deutlich.
Eine Verzahnung tut not. Nach den vergangenen
25 Jahren, in denen die Bundeswehr um drei Viertel geschrumpft wurde, brauchen wir nicht wirklich einen zusätzlichen Geheimdienst der Bundeswehr. Hier wünsche
ich mir mehr Mut zum Wohle und zur Sicherheit der
Bürgerinnen und Bürger.
Eine stärkere Kontrolle der Dienste, bundeseinheitliche
Standards, mehr Zusammenarbeit, effektivere Strukturen
und ein rechtsstaatliches Selbstverständnis können wieder
Vertrauen schaffen. Die FDP wird weiter auf lückenloser
Aufklärung bestehen und im Ausschuss konsequent und
konstruktiv mitarbeiten. Nur so kann es gelingen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen.
({5})
Vielen Dank, Kollege Wolff. - Nächste Rednerin ist
für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Petra
Pau. Bitte schön, Kollegin Petra Pau.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
4. November 2011 offenbarte sich eines der größten politischen und Sicherheitsversagen: der Nazimordskandal,
der seitdem unter dem Kürzel NSU verhandelt wird.
Zehn Morde und noch mehr Verletzte gehen auf das
Konto dieses terroristischen Nazitrios und seiner Unterstützer. Wir müssen allerdings auch berücksichtigen: Bevor sie im Jahr 2000 ihre erste Hinrichtung ausführten,
waren seit 1990 bereits 105 Menschen in der Bundesrepublik aus rassistischen, rechtsextremen Motiven umgebracht worden - erschlagen, erschossen, verbrannt, ertränkt. Auch sie müssen uns mahnen.
({0})
Latenter Rassismus wird auch heute immer wieder
befeuert. Aktuell geschehen ist dies im Land Berlin, wo
demonstrierenden Asylbewerbern in nasser Kälte Decken, Isomatten und Schirme entzogen wurden, damit
sie ab- und zusammenbrechen. Nazis frohlocken öffentlich darüber; ich schäme mich dafür.
({1})
Ich habe ein anderes Verständnis von Menschen- und
Bürgerrechten.
Der NSU-Untersuchungsausschuss sei eine seltene
Sternstunde der Demokratie. Er versuche, sachlich aufzuklären, statt politisch zu keilen. Diese Einschätzung
las ich in einem Magazin, und ich teile sie gern. Das sind
wir den Opfern und ihren Hinterbliebenen aber auch
schuldig. Umso verantwortungsloser sind Versuche, ausgerechnet uns Parlamentarier in hintergründigen Gesprächen als Sicherheitsrisiko zu brandmarken.
({2})
Was für ein Demokratieunverständnis bricht sich hier eigentlich Bahn?
Das Nazitrio wurde in den 1990er-Jahren rassistisch
sozialisiert. Dazu gehörten Pogrome in Mölln und RostockLichtenhagen, aber es war viel schlimmer. 1991 und
1992 gab es Tag für Tag rassistische Angriffe auf Unterkünfte von Migranten und Asylsuchenden. Dabei hatten
militante Rassisten viele Biedermänner an ihrer Seite.
Und auch das gab es: Auch Polizisten sahen weg, anstatt
diese Menschen zu schützen. Nazis mussten sich in ihrem Wahn regelrecht bestätigt fühlen, auch durch die
Politik. Wer diese Geschichte, diese Vorgeschichte ausblendet, hat das NSU-Desaster nicht verstanden.
({3})
Ich sage aktuell aber auch: Deshalb ist es ein Spiel
mit dem Feuer, erneut eine Asyldebatte zu entfachen,
noch dazu gegen Sinti und Roma.
({4})
Man kann doch nicht ein Denkmal für die ermordeten
Sinti und Roma einweihen und gleichzeitig lebende Sinti
und Roma zur Unperson erklären.
({5})
Schauen wir uns die Ermittlungen zur NSU-Mordserie an: Als acht Menschen mit türkischen Wurzeln und
ein Grieche ermordet wurden, suchte man die Täter unter Türken. Als in Heilbronn die Polizistin Kiesewetter
ermordet wurde, suchte man die Täter unter Sinti und
Roma, wieder mit Eifer und europaweit. Die These, man
habe vorurteilsfrei in alle Richtungen ermittelt, ist eine
pure Schutzbehauptung und stimmt einfach nicht.
({6})
Um es klar zu sagen: Ich unterstelle keinem Beamten, er
sei Rassist. Das wäre auch schlicht falsch. Aber die einseitigen Ermittlungen hatten rassistische Züge. Deshalb hat
der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, recht: Wer ernsthaft über Integration
sprechen will, muss endlich auch über Rassismus in
Deutschland reden.
({7})
Ich füge hinzu: Sonst gedeihen im Schatten dieses
Schweigens die nächsten NSU-Banden.
Aktuell wird viel über die Sicherheitsarchitektur
gesprochen. Ich tue das heute nicht. Ich möchte abschließend auf einen anderen Widerspruch verweisen:
Die Naziszene hat sich systematisch und langfristig militarisiert. Wie wir aus der V-Leute-Praxis wissen, auch
mit staatlichem Beistand. Jene aber, die sich alltäglich
gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren,
werden kurzatmig gehalten und obendrein brüskiert. Das
kann nicht gutgehen. Wir brauchen endlich eine neue
Präventionsarchitektur, ohne Extremismusklausel, aber
mit verlässlicher Förderung.
({8})
Kurzum: Es reicht nicht, ein Jahr nach dem Auffliegen
des NSU-Nazitrios zu erinnern und zu mahnen. Das ersetzt keine politischen Konsequenzen. Sie fehlen noch
immer.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Petra Pau. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Clemens Binninger. Bitte
schön, Kollege Clemens Binninger.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es war eine Niederlage für die Sicherheitsbehörden, so
Verfassungsschutzpräsident a. D. Fromm. Es war mehr.
Dass Menschen in Deutschland Angst um ihr Leben haben mussten, weil sie ausländischer Abstammung waren
oder weil sie unseren Staat als Polizistin repräsentiert haben, war eine Niederlage für unsere ganze Gesellschaft
und darf sich nicht wiederholen.
({0})
Dass bei der Untersuchung der Mordserie eines abgetauchten Trios, das zunächst nicht gefunden werden und
mehrere Jahre unentdeckt morden und rauben konnte,
Fehler passiert sind, ist offenkundig. Wer hier eine andere Ansicht vertreten würde, wäre in der Tat fehl am
Platze. Deshalb ist es gut, dass der Deutsche Bundestag
gemeinsam einen Untersuchungsausschuss eingesetzt hat.
Unsere Aufgabe ist es, alle Fragen zu stellen - alle -,
auch im Interesse der Opfer und der Familien der Opfer.
Wir stellen stellvertretend für sie die Fragen, die sie sich
selber stellen.
({1})
Warum ist es nicht gelungen, die Täter zu ermitteln,
obwohl es doch so viele Hinweise gab? Für mich gab es
viele Fehler; ich will aber keine Rangliste aufstellen. Da
war der Sprengstoffanschlag in Köln, in einer Straße, in
der nur ausländische Mitbürger leben. Er wurde genau
so begangen, wie es in einem Dossier des Verfassungsschutzes steht; die Tatbegehungsweise passt also exakt
auf ein Dossier des Nachrichtendienstes, das vier Wochen später veröffentlicht wurde. In diesem Dossier sind
auch mögliche Täter genannt. Da steht drin: Für solche
Taten könnten auch die Jenaer Bombenbastler in Betracht kommen, also Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe.
Trotzdem hat man nicht in diese Richtung ermittelt. Das
macht mich wirklich fassungslos und ratlos. Das darf
sich nicht wiederholen.
({2})
Wenn wir Kritik an den Sicherheitsbehörden üben,
müssen wir trotzdem fair bleiben. Es wurde mit hohem
Aufwand ermittelt; wohl wahr. Aber wenn man sich ansieht, wie die Zusammenarbeit zwischen Polizei und
Nachrichtendiensten ablief, muss man feststellen: Das ist
nicht hinnehmbar. Bei einer Anfrage aus den Ermittlerkreisen musste man neun Monate warten, bis dann eine
völlig unzureichende Antwort kam. Es war in Summe
ein schlechter Informationsaustausch. Dass es nicht gelingt, eine Verbindung herzustellen zwischen 14 Banküberfällen, bei denen immer zwei Männer mit Fahrrad
vom Tatort weggefahren sind, und einer Verbrechensserie, bei der ebenfalls immer zwei Männer mit Fahrrad
am Tatort gesehen wurden, ist ein Armutszeugnis für die
Analysefähigkeit.
({3})
Gleichwohl wurde mit hohem Aufwand ermittelt.
Das, glaube ich, kann niemand bestreiten. Ich würde niemandem in diesem Land unterstellen, nicht willens zu
sein, einen Mord aufzuklären. Aber wenn man den Aufwand, der für eine bestimmte Ermittlungsrichtung betrieben wurde - über Monate, gar Jahre, und das bis zuletzt -,
mit dem Aufwand vergleicht, der für Ermittlungen in
Richtung rechtsradikaler Täter betrieben wurde, dann
muss man sagen: Hier besteht ein Missverhältnis, das
sich so nicht wiederholen darf.
({4})
Ich glaube, dass der Gedanke der Opferbeauftragten
der Bundesregierung, Frau John, ein kluger ist und in unsere weiteren Überlegungen mit einfließen sollte. Wenn
es um ein Verbrechen geht, bei dem das Opfer ausländischer Herkunft ist oder der jüdischen Religion angehört
und der Täter nicht feststeht, muss es für die Behörden
eine Verpflichtung sein, nachhaltig in Richtung Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus zu ermitteln und
das auch zu dokumentieren. Wenn man keine Hinweise
hat, darf man nichts ausschließen.
({5})
Wenn dies - neben vielen technischen Dingen, die wir
hier und heute nicht erörtern müssen - eine Lehre aus
den Geschehnissen ist, dann wäre, glaube ich, viel gewonnen.
Ich will noch etwas zu einem Instrument sagen, das
Nachrichtendienste einsetzen und das viel Beachtung
findet: zu V-Leuten. Ich maße mir, gemeinsam mit den
Kollegen im Untersuchungsausschuss, an, mittlerweile
einen einigermaßen guten Einblick zu haben, wie dieses
Instrument im Bereich des Rechtsextremismus genutzt
wird; das mag in anderen Bereichen anders sein. Angesichts dessen, wie V-Leute im Bereich der Neonaziszene
für mehr als 10, 12, 14, 15 Jahre genutzt wurden und was
sie zutage gefördert haben, muss ich wirklich sagen: Der
Aufwand, den man mit dieser Methode betrieben hat,
und das Risiko, das man damit eingegangen ist, standen
in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn.
({6})
Was die Rechtsextremismusdatei angeht, richte ich
mich ohne Schärfe an die Adresse der Grünen. Ich bitte
Sie, Ihre Position zu überdenken. Man kann diese Datei,
die wir beschlossen haben, nicht ablehnen. Sie ist ein
sehr wichtiger Baustein, der dazu beiträgt, das Wissen
zusammenzuführen.
({7})
- Dann macht einen Vorschlag, lehnt sie aber nicht ab! Es sind zwar schon viele Maßnahmen auf den Weg gebracht worden. Über das Instrument der V-Leute müssen
wir allerdings noch einmal grundlegend nachdenken.
Wir alle haben die Aufgabe, alle Fragen zu stellen, die
notwendig sind, damit sich so etwas nie wiederholt. Wir
tun das im Interesse der Opfer und ihrer Familien, aber
auch im Interesse der Zivilgesellschaft in diesem Land,
die frei von Angst vor Rechtsextremisten und Neonazis
leben können muss. Niemand soll Angst um sein Leben
und seine körperliche Unversehrtheit haben, nur weil er
ausländischer Herkunft ist. Das darf sich nicht wiederholen.
({8})
Vielen Dank, Kollege Clemens Binninger. - Nächster
Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Sönke Rix. Bitte schön, Kollege Sönke Rix.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Binninger, genau da möchte ich anknüpfen.
Sebastian Edathy sagt immer, wenn er über dieses
Thema spricht: Wir haben als Staat unseren Bürgerinnen
und Bürgern, allen, die hier leben, zwei Versprechen gegeben. Das erste Versprechen: Wir wollen die rechtsstaatlichen Mittel dafür zur Verfügung stellen, dass der
Schutz von Leib und Leben gewährleistet werden kann.
Das zweite Versprechen: Wenn das nicht erfolgreich ist,
dann wollen wir so schnell wie möglich aufklären, damit
so etwas nicht weiterhin geschehen kann. Man muss an
dieser Stelle deutlich machen: Diese zwei Grundsätze
konnten wir bei der Mordserie nicht einhalten. Dafür
können wir als gewählte Vertreterinnen und Vertreter
dieses Staates nur immer wieder um Verzeihung bitten.
({0})
Bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit den
NSU-Morden gerieten über Jahre hinweg immer wieder
die Angehörigen ins Visier der Ermittler. Über Jahre hinweg wurde ihnen immer wieder gesagt: Ihr seid schuld,
teilschuld, mitschuld; ihr seid die Verdächtigen, die
Hauptverdächtigen. - Bis heute ist ein unheilbarer Schaden entstanden. Auch dafür können wir nur wieder um
Verzeihung bitten.
Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass die
Bundeskanzlerin eine Ombudsfrau berufen hat, damit
genau über diese Problematik intensiv gesprochen und
den Menschen vielleicht ein Sprachrohr gegeben werden
kann. Wir haben uns im Untersuchungsausschuss darauf
verständigt, die Angehörigen der Opfer nicht noch einmal in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Aber wir
reden alle viel mit Frau John. Die Idee der Bundesregierung, eine Ombudsstelle einzurichten, war eine gute
Idee. Die Arbeit von Frau John verdient ganz herzlichen
Dank von uns allen.
({1})
Diese Arbeit, meine Damen und Herren, könnte uns
als Beispiel dienen. Die Ombudsstelle ist entstanden für
die Angehörigen dieser zehn Opfer. Wir könnten aber
auch eine Ombudsstelle für Opfer rechter Gewalt und
die Angehörigen dieser Opfer dauerhaft einrichten.
Denn es gibt ja mehr als diese zehn Opfer: Je nachdem,
welche Berechnung man zugrunde legt, kommt man auf
weit über 140 Todesopfer durch rechte Gewalt in den
letzten Jahren. Ich glaube, wir können als Staat ein gutes
Zeichen setzen, wenn wir sagen können: Es gibt eine unabhängige Stelle, an die ihr euch wenden könnt, die euch
beraten kann, die für euch ein Sprachrohr sein kann. Wir sollten das in unsere Beratungen und in die Arbeit
im Untersuchungsausschuss auf jeden Fall mit aufnehmen. Das ist eine Idee, über die man nachdenken sollte.
Neben der notwendigen Neustrukturierung der Sicherheitsbehörden ist natürlich - das wurde schon von
mehreren angesprochen - Rassismus insgesamt ein
Thema. Wir müssen den Rassismus in unserer Gesellschaft überall bekämpfen, nicht nur in den Sicherheitsbehörden. Aber auch die Sicherheitsbehörden können
sich nicht freisprechen von Rassismus; auch dort gibt es
Menschen mit rassistischem Hintergrund. Rassismus ist
leider bis in die Mitte unserer Gesellschaft verbreitet.
Herr Friedrich, ich finde es gut, dass Sie gerade angesprochen haben, dass die Sicherheitsbehörden für die
Bekämpfung von Rechtsextremismus mehr Mittel erhalten. Ich finde es aber schade, dass nicht auch die Mittel
entsprechend erhöht werden, die zur Verfügung gestellt
werden, um den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft
zu bekämpfen: Mittel für die politische Bildung oder für
eine Stärkung der Zivilgesellschaft. Auch da würde man
sich vonseiten der Bundesregierung deutlichere Zeichen
wünschen.
({2})
Solche Zeichen hat es leider nicht gegeben. Sie haben
gerade von 25 Millionen Euro gesprochen. Wenn die
Mittel für die Programme gegen Rechtsextremismus
auch nur um die Hälfte dieser Summe aufgestockt würden, wäre das die richtige Antwort.
Abschließend habe ich noch eine Bitte, einen Appell.
Das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden ist ganz massiv erschüttert. Das gilt nicht nur für die Angehörigen
der Opfer und diejenigen, die unmittelbar damit zu tun
haben; vielmehr gilt das aufgrund der bisherigen Aufklärungsarbeit für viele Bürgerinnen und Bürger. Daher
habe ich die Bitte an die Vertreter der Behörden, der Regierung, der Exekutive, wirklich intensiv daran mitzuarbeiten, dass dieses Vertrauen wiederhergestellt werden
kann. Wir werden alle darunter zu leiden haben, wenn
- bis in die Mitte der Gesellschaft - dieses Vertrauen
nicht mehr existiert. Ich sage ausdrücklich: Wir brauchen die Sicherheitsbehörden - wenn auch nicht in dieser Form - als Partner der Bürgerinnen und Bürger. Die
Bürgerinnen und Bürger dürfen sich den Behörden gegenüber nicht als Bittsteller fühlen.
Bitte helfen Sie mit, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Wir im Untersuchungsausschuss wollen auf jeden Fall unseren Beitrag dazu leisten.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank, Kollege Sönke Rix. - Nächster Redner
für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Serkan Tören.
Bitte schön, Kollege Serkan Tören.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vor einem Jahr ist das NSU-Trio aufgeflogen. Drei
Rechtsextreme sind über Jahre unentdeckt durch
Deutschland gezogen und haben eine Blutspur hinterlassen, die ihresgleichen sucht. Dieses Trio hat Menschen
aufgrund ihrer Herkunft ermordet oder weil sie, wie im
Fall der Polizistin Kiesewetter, Teil des von ihnen so
verhassten Systems waren.
Noch immer bin ich fassungslos ob der Morde und
des Leids der Angehörigen der Mordopfer, die dieses
Trio zu verantworten hat. Wahrscheinlich werden wir nie
begreifen können, wie Menschen zu solchen Taten fähig
sein können.
Wie sieht nun die Bilanz ein Jahr nach der Entdeckung des NSU aus? Noch immer kennen wir nicht alle
Hintergründe dieser schrecklichen Mordserie. Nun stellt
sich natürlich die Frage: Was macht die Politik? Was
trägt sie zur Aufklärung der Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bei?
In noch nie dagewesener Einmütigkeit arbeiten Koalition und Opposition im Untersuchungsausschuss zusammen. Unser gemeinsames Ziel ist zum einen die Aufklärung und zum anderen die Erarbeitung von Empfehlungen
dafür, wie wir die Sicherheitsarchitektur in Deutschland
umbauen müssen. So etwas wie die Mordserie des NSUTrios darf es in Deutschland nie wieder geben. Dies sind
wir auch den Opfern schuldig.
In beinahe jeder Sitzung des Untersuchungsausschusses fördern wir neue Fehlleistungen der Sicherheitsbehörden zutage, sei es auf Ebene des Bundes oder auch
der Länder. Es erschreckt mich immer wieder, wie die
Sicherheitsbehörden gearbeitet haben. So wurde zwar
das Motiv der Ausländerfeindlichkeit bei den Ermittlungen immer wieder thematisiert, aber konsequent nachgegangen wurde diesem Motiv nie. Das war ein Fehler.
Dieser Fehler rechtfertigt aus meiner Sicht aber nicht
den oft erhobenen Vorwurf, dass die Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind seien. Mit der gleichen
Logik könnte man zum Beispiel auch den Vorwurf erheben, dass die Sicherheitsbehörden auf dem linken Auge
blind seien. Man muss sich nur die vielen unaufgeklärten
Morde der Rote-Armee-Fraktion anschauen.
Nein, die immer wieder geäußerten Vorwürfe, die Behörden seien auf dem einen oder dem anderen Auge
blind, bringen uns keinen Millimeter weiter. Wer von einem latenten Rassismus bei Sicherheitsbehörden spricht,
der spaltet die Gesellschaft. Die Idee, dass man bei Gewaltopfern mit Migrationshintergrund immer zuerst
rechte Gewalt vermuten muss, halte ich hier für nicht
zielführend.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir derartige
Morde künftig besser verhindern können, wenn Menschen mit Migrationsgeschichte einen höheren Anteil in
den Sicherheitsbehörden stellen als bislang. Sie bringen
eine besondere Sensibilität und auch einen anderen
Blickwinkel mit, die helfen können, vergleichbaren
Straftaten schneller und erfolgreicher entgegenzutreten.
Wir - auch meine Vorredner - haben bis jetzt immer
vom Versagen der Sicherheitsbehörden gesprochen.
Wenn man sich die Vergangenheit anschaut, dann erkennt man, dass auch die Medien versagt haben. Das
muss man leider auch feststellen.
({0})
Es ist seinerzeit nicht hinterfragt worden, ob die Sicherheitsbehörden richtig agieren und richtig handeln. Teilweise wurden in Überschriften sogar Wörter wie „Döner-Morde“ kreiert. Das ist ein schrecklicher Begriff, der
auch von den Medien kam. Deswegen - das muss man
leider sagen - haben in diesem Zusammenhang auch die
Medien versagt.
Mein Mitgefühl gilt heute allen Opfern und ihren Angehörigen. Wir als Politik sind in der Verantwortung, die
schrecklichen Taten aufzuklären und zu verhindern, dass
sich so etwas in Deutschland wiederholt.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Kollege Serkan Tören. - Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Hans-Christian Ströbele. Bitte schön, Kollege
Hans-Christian Ströbele.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir geht es so: Wenn
ich ein Jahr nach dem Auffliegen des Terrortrios von
Bürgerinnen und Bürgern, vor allen Dingen von Angehörigen der Opfer, gefragt werde: „Was habt ihr denn
nun herausbekommen?“, wenn die Frage gestellt wird,
zum Beispiel vorgestern in der Sendung Fakt im Fernsehen: „Wieso können die so lange morden?“, dann erwarte ich eigentlich, dass der Bundesinnenminister,
wenn er heute hier redet, wenigstens versucht, eine vorläufige Antwort und Erklärung zu geben. Allein eine
Statistik, wie viele Beamte eingesetzt sind und wie viele
Ressourcen losgetreten worden sind, kann doch nicht
ausreichen. Vielmehr sollte wenigstens der Innenminister, der für die Sicherheitsorgane im Bund zuständig ist,
einmal versuchen, eine Erklärung abzugeben, wieso es
so weit kommen konnte.
({0})
Wenn die in der Sendung anwesende Angehörige in
Anspielung auf die gerade bekannt gewordene Schredderaktion beim Verfassungsschutz in Berlin ihren Beitrag schließt mit der Frage: „Wird es wieder gelingen, zu
verbergen?“, dann kann ich nur sagen: Sie hat recht.
Deshalb erwarte ich von dem Innenminister, dass er versucht, eine Antwort darauf zu geben, wie es sein kann,
dass ein halbes Jahr nach Auffliegen des Terrortrios sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene Akten
vernichtet, geschreddert werden, die uns vielleicht Aufschluss über die Frage geben könnten: Wie konnte das
passieren? Wieso haben die Behörden so versagt?
({1})
Hier ist zutreffend darauf hingewiesen worden - diese
Überlegung hatte ich ursprünglich auch -: Es gab einfach nicht die Idee, dass Rechte damit etwas zu tun haben könnten, als die Morde passierten, einer nach dem
anderen. Man wusste relativ wenig, außer dass die
Morde alle mit derselben Waffe begangen worden sind
und dass es sich hier nicht um einfache Morde, sondern
um gezielte Hinrichtungen gehandelt hat. Inzwischen
weiß ich mehr.
Zwei Beispiele sind von den Kollegen Wieland und
Binninger erwähnt worden; ich will ein drittes hinzufügen. Wir haben gesicherte Erkenntnis darüber, dass es in
den Behörden sehr wohl ein Problembewusstsein gegeben hat, dass es auch die Idee gegeben hat, dass hier die
rechte Szene am Werk war. Und es geht noch einen
Schritt weiter: Wir wissen inzwischen, dass der Militärische Abschirmdienst, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass Landesämter für Verfassungsschutz,
dass die Polizei in Berlin sehr wohl Hinweise auf das untergetauchte Trio gehabt haben. Diese Hinweise sind
zum Teil weitergegeben worden, aber sie haben nicht
dazu geführt, dass man der Sache mit der Vehemenz
nachgegangen ist, wie man ihr hätte nachgehen müssen
angesichts einer einmaligen Mordserie in Deutschland.
({2})
Wenn wir Erklärungen dafür suchen - und die suchen
wir alle -, dann stellen wir immer wieder fest: Bei den
Behörden hat es Informationen gegeben. Die Beamten
haben sich damit beschäftigt. Warum haben sie nicht
eins und eins zusammengezählt? Wenn das Trio im Untergrund ist und sagt: „Wir brauchen Geld“, und eines
Tages kommt die Meldung: „Das Trio braucht kein Geld
mehr“, und gleichzeitig passieren im nahen Chemnitz
und im nahen Zwickau fünf Banküberfälle, die nicht anders zu erklären sind, als dass das zwei Täter gewesen
sein müssen, von denen es Videoaufnahmen gab, die
Männer zeigten, die die Statur und das äußere Aussehen
dieses Terrortrios gehabt haben - warum hat man das
nicht zusammengebracht? Was haben die Beamten vom
Bundesamt für Verfassungsschutz sich gedacht, als sie
zur Ermittlung dieser Täter in Thüringen waren? Warum
sind sie nicht darauf gekommen, dass das eine mit dem
anderen zusammengehört und zu erklären ist?
({3})
Nun die Erklärung. Ich sehe mit wenigen Ausnahmen
bei fast allen Zeugen aus den Ämtern, aus den Geheimdiensten, aus den Polizeibehörden von Bund und Ländern eine bürokratische Ignoranz sowie eine Mentalität,
eine Sichtweise, eine Einstellung des Denkens dieser
Mitarbeiter - vor allen Dingen derjenigen von den Geheimdiensten -, das nicht wahrhaben zu wollen. Für
diese war das Bewahren ihrer Geheimnisse wichtiger als
die Aufklärung einer Mordserie.
Ich gehe deshalb als Schlussfolgerung davon aus:
Diesen Beamten, diesen Mitarbeitern kann man es nicht
überlassen, in Zukunft die Grundsätze des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sicherzustellen und
die Sicherheit der Menschen in Deutschland zu garantieren.
({4})
Wir müssen hier die Konsequenzen ziehen und sagen:
Diese Beamten sind nicht die Richtigen, um jetzt aufzuklären. Diese Beamten sind auch die Falschen, die Sicherheit in Deutschland in Zukunft zu garantieren. Wir
brauchen einen vollständigen personellen Neuanfang. Es
reicht nicht, die Präsidenten oder Vizepräsidenten auszutauschen.
({5})
Abschließend: Herr Bundesinnenminister, ich hätte
von Ihnen erwartet, dass Sie entsprechend dem Beschluss des Deutschen Bundestages, der lautet: „Alle demokratischen Gruppen in Deutschland, die sich gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagieren, müssen gestärkt werden“, als ersten wichtigen Schritt in diese Richtung dem Deutschen
Bundestag heute mitgeteilt hätten: Wir heben die Extremismusklausel auf.
({6})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. HansPeter Uhl. Bitte schön, Kollege Hans-Peter Uhl.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ein Jahr nach der Aufdeckung dieser entsetzlichen Morde ziehen wir heute eine Zwischenbilanz. Es
ist kein Wunder, Herr Ströbele, dass wir zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, weil wir von unterschiedlichen Einstellungen zu den Behörden, über die
wir heute reden, geprägt sind, zumindest beim Verfassungsschutz.
Lassen Sie mich eines vorausschicken - das ist schon
mehrfach apostrophiert worden -: In zehn Jahren zehn
Morde, von Nazihand begangen, nicht aufgeklärt zu haben, ist natürlich kein Ruhmesblatt für die Sicherheitsbehörden in Deutschland. Es ist richtig, Untersuchungsausschüsse eingerichtet zu haben. Es ist richtig, das alles zu
hinterfragen.
Aber ich versetze mich in diesen Tagen auch in die
Lage von Mitarbeitern von Verfassungsschutzämtern,
Herr Ströbele, und frage mich: Geht man heute mit diesen Mitarbeitern fair um? Ich meine, zum fairen Umgang gehört auch, dass ein abgeschlossener Sachverhalt
nicht mit dem Wissen von heute beurteilt wird. In Ihrem
Fall, Herr Ströbele, war es so, dass Sie die Tatsachen,
nämlich dass zwar einige Beamte in Thüringen den
Sachverhalt so kannten, wie sie ihn kannten, aber dass
die Beamten im benachbarten Sachsen diesen Sachverhalt eben nicht so kannten, einfach in einen Topf werfen,
umrühren und fragen: Warum haben die Beamten nicht
eins und eins zusammengezählt?
({0})
Das ist kein fairer Umgang mit den Menschen.
Ich möchte auch davor warnen, dass wir unsere Beamten pauschal verdächtigen und gar in eine geistige
Nähe zu dem braunen Sumpf rücken. Dafür gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte.
({1})
- Bitte lesen Sie die Zeitungen. Dann sehen Sie, dass das
permanent gemacht wird, immer und immer wieder.
Selbst die dümmste Unterstellung von irgendeinem Journalisten wird sofort als möglicherweise wahr angesehen
und die Frage aufgeworfen, ob jetzt die ganze Behörde
von dem, was behauptet wird, geprägt ist.
Meine Damen und Herren, wir dürfen keine herabsetzende Diffamierung unserer Beamten zulassen. Wir
müssen vor allem heute eines feststellen: Ein Jahr Untersuchungsausschuss hat gezeigt, dass es keinerlei Nachweis für die Behauptung gibt, dass unsere Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind seien. Dafür gibt es
keinerlei Nachweis! Dieser Staat ist nicht auf dem rechten Auge blind. Er war es nicht und ist es nicht. Er darf
es auch niemals werden.
({2})
Frau Högl hat dem Minister vorgeworfen, dass er die
Akten zum Rechtsextremismus mit gewissen Aktivitäten
schließen wolle, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Das will keiner von uns. Wir wissen sehr wohl, dass
wir in Deutschland Verantwortung für unsere Geschichte
haben und dass wir den Kampf gegen Nazis niemals beenden dürfen.
In dieser Woche wurde das Thema Trennungsgebot
auf sehr eigentümliche Weise behandelt. So wurden im
Untersuchungsausschuss wieder einmal Beamte des Verfassungsschutzes gefragt, warum sie ihr Wissen nicht an
die ermittelnde Polizei weitergegeben haben.
({3})
Zur gleichen Zeit musste sich der Innenminister vor den
Verfassungsrichtern in Karlsruhe wegen eines Gesetzes
verteidigen, das die Zusammenführung von Informationen des Nachrichtendienstes und der Polizei in einer
Verbunddatei vorsieht und dazu dient, Verbrechern von
links und rechts sowie Islamisten das Handwerk zu legen. Wie Sie sehen, gibt es hier ein Thema, das immer zu
einem Zielkonflikt geführt hat und immer dazu führen
wird.
({4})
- Hören Sie doch bitte zu, und seien Sie nicht so aufgeregt!
Wenn Sie im Grundgesetz suchen, werden Sie keinen
Artikel finden, der das Trennungsgebot regelt. Es gibt
nur den sogenannten Polizeibrief vom April 1949 - unterschrieben von drei Generälen der Besatzungsmächte -,
in dem das steht. Aus, Ende, mehr nicht.
({5})
- Herr Trittin, man kann das auch Soldatenbrief nennen,
wenn Sie wollen. - Dieser Polizeibrief stellt die Grundlage für das Trennungsgebot dar. Ich werde Ihnen diesen
Brief geben; denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie
ihn nicht kennen.
Ich rate dem Bundesverfassungsgericht, auf diesem
Gebiet rechtsschöpferisch tätig zu werden, und zwar gerade aus diesem Anlass und in dieser Zeit. Wie viel
Trennung zwischen Nachrichtendienst und Polizei brauchen wir in unserem Staat, und wie viel Verbunddatei sowie gemeinsames Wissen und Zusammenarbeit brauchen wir? Die Beantwortung dieser Fragen ist angezeigt.
Ich möchte Ihnen dringend raten, die Polizei und den
Verfassungsschutz nicht pauschal zu diffamieren und
keinen Austausch an Haupt und Gliedern, von oben bis
unten zu fordern, Herr Ströbele. Nein, wir brauchen einen starken Verfassungsschutz und eine starke Polizei.
Das Parlament sollte über alle Parteigrenzen hinweg
zum Verfassungsschutz und zur Polizei stehen. Wir brauchen sie alle.
({6})
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Aydan Özoğuz. Bitte schön, Frau Kollegin Aydan
Özoğuz.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Uhl, bevor Sie gesprochen haben, hatte ich
den Eindruck, dass hier eigentlich große Einmütigkeit
über das herrscht, was sich in den letzten zehn Jahren in
unserem Land getan hat,
({0})
über das, was es aufzuarbeiten gilt, über die Fehler, die
gemacht wurden. Die Stärke dieses Untersuchungsausschusses besteht darin, dass wir dort wirklich zusammenarbeiten, dass wir die Fehler sehen und nicht die Augen davor verschließen. Wir sollten jetzt nicht anfangen,
alle möglichen Verteidigungstaktiken an den Tag zu legen. Das wird uns am Ende überhaupt keine Aufklärung
bringen, befürchte ich.
({1})
Ich hatte vor Ihrer Rede gedacht, dass man gar nicht
mehr so viel zu sagen braucht. Ich glaube, es tut doch
not, einige Aspekte erneut zu unterstreichen.
Wenn man sich mit Eltern und Angehörigen der Opfer
unterhält, dann merkt man doch sehr deutlich - das haben einige schon angedeutet -, was es eigentlich bedeutet und anrichtet, wenn man verdächtigt wird, wenn man
von seinem gesamten Umfeld ausgegrenzt wird, wenn es
immer wieder heißt: Da muss doch etwas dran sein,
wenn alle ermittelnden Behörden meinen, dass bei denen
etwas nicht stimmt.
Ich möchte mich deshalb dem Dank an Barbara John
anschließen, die sich weit über den Auftrag hinaus, der
ihr erteilt worden ist, für die Familien einsetzt und die es
geschafft hat, gerade die Kinder, die ihre Väter verloren
haben, zusammenzubringen. Diese hatten damit zum
ersten Mal die Gelegenheit, sich über das auszutauschen,
was über viele Jahre ihr Leben in so schrecklicher Weise
bestimmt hat.
({2})
Ich habe in der Ausschussarbeit auch gelernt, dass Angehörige von Opfern häufig in einem Verhältnis zu den
Tätern stehen. Das ist oft so, und das war mir vorher nicht
bewusst. Daher haben wir auch im Ausschuss nie gesagt,
man hätte in diese Richtung nicht ermitteln dürfen; ganz
im Gegenteil. Es ist klar, dass man in alle Richtungen ermitteln musste. Das gehört nicht nur zur Routine, sondern
auch zu dem, was wir erwarten dürfen. Der entscheidende
Punkt ist nur, dass man nicht aufgehört hat, nur in Richtung der Familien der Opfer zu ermitteln, obwohl es dafür
keine nachvollziehbaren Gründe und keine wirklichen
Hinweise mehr gab. Da sollten wir genauer hinsehen.
Es wurden Polizisten mit Migrationshintergrund als
türkische Privatdetektive getarnt, wie wir wissen, um in
einer Opferfamilie zu recherchieren, weil man glaubte
- das finde ich nun doch bemerkenswert -, dass „die
Türken“ der deutschen Polizei nicht die volle Wahrheit
sagen würden. Die Familien der Opfer wurden in den
abgelegensten Winkeln der Türkei aufgesucht, um vermeintliche Verbindungen zur Mafia, zur PKK, zur türkischen Hisbollah und wem auch immer aufzuspüren.
Aber es gab diese Hinweise nicht, es gab nichts, was
weitergeführt hätte, und trotzdem blieb der Schwerpunkt
der Ermittlungen in dieser Richtung bestehen.
Es ist bemerkenswert, dass nicht von einem Gleichgewicht bei den Untersuchungen gesprochen werden kann;
denn Ermittlungen in eine andere Richtung fehlten. Herr
Binninger, Sie haben eben zu Recht gesagt, es habe Hinweise gegeben. Aber diesen Hinweisen wurde nicht in
gleicher Weise und mit gleicher Akribie nachgegangen.
Die Medienstrategie der Polizei - das erklärt zu einem gewissen Grade den Umgang mit dem Thema in der
Öffentlichkeit - bestand darin, zu sagen, man solle die
türkischstämmigen Menschen nicht unnötig beunruhigen, um zu vermeiden, dass sie Angst davor haben, vielleicht selbst Opfer werden zu können. Man tat so, als ob
diese in einem luftleeren Raum leben würden und gar
nicht mitbekämen, was um sie herum los ist. Das kann
man nicht mehr nachvollziehen.
Nach den Morden im April 2006 gab es Demonstrationen in Kassel und Dortmund, auf denen die Demonstranten gefordert haben: Kein zehntes Opfer. - Es war
also allen bewusst, was da eigentlich los ist, aber die Ermittlungsbehörden - ich sage es jetzt so, wie ich es empfinde - blieben in ihrer eigenen Parallelwelt. Sie kümmerten sich nicht darum, was öffentlich gesagt wurde.
({3})
Ich komme zu meinem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Wir haben schon gesagt, dass man heute
und gestern nicht völlig voneinander trennen darf. Herr
Bundesinnenminister, Sie wissen, dass ich von Ihrer
Kampagne „vermisst“ nichts halte, weil ich glaube, dass
es sehr pauschalisierend ist, Gesichter von Menschen
wie mir, also von Muslimen, auf deutschen Straßen zu
plakatieren und die Frage zu stellen, ob diese möglicherweise dem Terrorismus zuneigten und deswegen plötzlich verschwunden seien.
({4})
Diese Plakate aufzuhängen, zeugt von pauschalem Denken.
Eines hat mich ebenfalls sehr betroffen gemacht. Vor
einigen Wochen gingen in meinem Büro viele Anrufe
von Anwohnern der Keupstraße in Köln ein. Damals,
nach dem Attentat, wurden die Anwohner dieser Straße
stigmatisiert; denn es wurde angenommen, dass sie etwas mit diesem Attentat zu tun haben müssten, weil die
Keupstraße in einem Ausländerviertel liegt. Genau in
dieser Straße fängt man an, solche Postkarten zu verteilen und die Leute erneut zu stigmatisieren, indem man
andeutet, dass sie irgendwie auch etwas mit Terrorismus
zu tun haben könnten. Ich finde, ein bisschen mehr Sensibilität ist das Mindeste, was man heute aus diesen Dingen ziehen kann.
({5})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Stephan
Stracke. Bitte schön, Kollege Stracke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das Oberlandesgericht München
hat heute mitgeteilt, dass gegen Zschäpe und vermutlich
andere aus dem Unterstützerkreis Anklage erhoben
wurde. Das ist der geeignete Anknüpfungspunkt für die
heutige Debatte. Es ist der richtige Zeitpunkt für die Anklageerhebung. Das ist die Antwort des Rechtsstaates
auf die Verbrechen der Terroristen, die Antwort, die Familien der Opfer zu Recht erwarten dürfen.
({0})
Es ist gut, dass der Prozess nun beginnt. Was die Angehörigen der Opfer auch erwarten dürfen, ist eine sachgerechte Auseinandersetzung darüber, warum die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund nahezu
13 Jahre unentdeckt geblieben ist.
Wer sich sachlich mit diesen Dingen beschäftigt,
muss meines Erachtens differenziert vorgehen; er muss
differenzieren in Bezug auf objektive Fehler und vermeintliche Fehler der Sicherheitsbehörden, die aber der
Rechtslage geschuldet waren, und auch in Bezug auf den
Umgang beispielsweise der Exekutive mit dem Untersuchungsausschuss dieses Hohen Hauses. Diese Differenzierung ist es, die Aufklärung gelingen lässt, um daraus
die richtigen und notwendigen Schlussfolgerungen beispielsweise im Rahmen des Abschlussberichtes zu ziehen. Wir werden dafür sorgen und genau diese rückhaltlose Aufklärung betreiben. Das ist auch der Kern der
Aufgabe des Untersuchungsausschusses. Diese Aufgabe
nehmen wir über Parteigrenzen hinweg sehr ernst.
Der Untersuchungsschuss leistet gute Arbeit, weitaus
bessere, als manch einer zu Beginn gedacht oder erwartet hätte. Über 200 Beweisbeschlüsse haben wir gefasst,
über 40 Befragungen von Sachverständigen und Zeugen
durchgeführt. Dies tun wir immer im Bewusstsein unserer Verantwortung und mit Blick auf das erschütterte
Vertrauen in die Sicherheitsbehörden. Dass diese Untersuchung in einem so kurzen Zeitraum möglich ist, ist vor
allem dem gemeinsamen Einsatz über die Parteigrenzen
hinweg zu verdanken. Mein Dank gilt dabei in besonderem Maße dem großen persönlichen Engagement der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen und des
Ausschusssekretariats sowie unserem Ermittlungsbeauftragten.
({1})
Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern in Behörden von Bund und Ländern, die
den Ermittlungsauftrag des Untersuchungsausschusses
ernst nehmen und diesen tatkräftig unterstützen. Die
zahlreichen Akten aus fast 20 Jahren für den Untersuchungsausschuss aufzubereiten, ist, gelinde gesagt, eine
Herkulesaufgabe und harte Arbeit. Gerade Bayern leistet
hier Vorbildliches. Ohne die zügige und umfängliche
Aktenzulieferung und auch Personalabordnung des Freistaats Bayern wären wir längst nicht so weit, wie wir
heute sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit unserem Auftrag sind wir im Untersuchungsausschuss noch
lange nicht fertig. Es zeichnet sich jedoch ein erstes Bild
ab. Die Sicherheitsarchitektur in Bund und Ländern ist
entgegen mancher Darstellungsversuche dem Grunde
nach nicht unfähig oder untauglich. Aber die Zusammenarbeit zwischen den Behörden muss verbessert werden. Hier besteht noch viel Optimierungspotenzial, gerade was den Informationsaustausch in der Praxis angeht
und auch was den rechtlichen Rahmen betrifft, der diese
Kooperation regelt. Der Bundesinnenminister hat auf die
erkannten Lücken und Mängel schnell und gut reagiert.
({2})
Was mögliche und weitergehende Vorschläge angeht,
so müssen diese freilich immer wieder mit dem Rechtsrahmen abgeglichen werden, und vor allem müssen auch
die grundrechtlichen Grenzen in den Blick genommen
werden. Das wird sicherlich noch Gegenstand so mancher Debatte sein. Im Hinblick auf die Möglichkeiten,
den EDV-gestützten nachrichtendienstlichen Informationsaustausch zu verbessern, bin ich gespannt, welche
Debatten hier noch geführt werden. Beispielsweise wäre
die Vorratsdatenspeicherung ein wirksames Instrument
gewesen,
({3})
das Unterstützerumfeld zum Zeitpunkt des Auffliegens
des Terrortrios zu identifizieren.
Viele Ermittlungen bezüglich der Mordserie und der
Sprengstoffanschläge waren nach heutigem Wissen nicht
zielführend. Zu dieser Erfolglosigkeit stehen auch die
polizeilichen Ermittler. Echte Fehler, die wir im Rahmen
des Untersuchungsausschusses identifizieren konnten,
wurden dabei nur wenige gemacht. Nach dem, was wir
bislang wissen, gab es beispielsweise Fehler - Kollege
Binninger hat es angesprochen - im Zusammenhang mit
der Spur in Köln, Stichwort „Sprengstoffanschlag“, und
im Zusammenhang mit der Waffenspur.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß,
im Untersuchungsausschuss liegt noch eine Menge Aufgaben vor uns; es ist noch viel zu tun. Ich versichere Ihnen, dass wir die Arbeit des Untersuchungsausschusses
weiterhin mit großem Ernst, zielstrebig und entschlossen
vorantreiben werden. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, Kollege
Armin Schuster.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir sind es den Opfern und Hinterbliebenen schuldig, konsequent die Ursachen dafür zu
erforschen, weshalb wir diese Mordserie nicht aufklären
konnten. Aus meiner Sicht gibt es, zusammenfassend gesagt, drei Fehlerquellen: individuelle Fehler, strukturelle
Fehler und Fehler im System.
Wir wollen verstehen, warum die Täter nicht gefasst
wurden und die Mordserie nicht gestoppt werden konnte.
Wenn es den oder die Schuldigen gibt, dann geht es natürlich auch um Verantwortung. Bei Hunderten von Ermittlern bundesweit, bei Abertausenden von Ermittlungsstunden können wir zwar von einer Niederlage der
Sicherheitsbehörden, was ihre bundesweite Vernetzung
angeht, sprechen. Aber zur Fairness gehört auch - ich
habe es als wohltuend empfunden, dass das fast alle so
ausgedrückt haben -, festzustellen, dass in unserer intensiven Arbeit im Ausschuss bisher kein stichhaltiger Beweis für ein ultimatives Versagen einer bestimmten Person oder einer bestimmten Organisation erbracht worden
ist. Es gibt bisher kein Beispiel dafür, dass wir mit unserem nachträglichen Wissen, also unserem Wissen von
heute, mit Sicherheit sagen können: Wäre genau das nicht
Armin Schuster ({0})
passiert, hätten wir Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe viel
früher gestoppt.
Bleibt also die Frage: Sind die Sicherheitsbehörden
auf dem rechten Auge blind? Ich bin allen Kolleginnen
und Kollegen im Ausschuss sehr dankbar, dass sie sagen
- vor allem im Ausschuss, nicht immer vor der Kamera -: Dafür gibt es keinen Beweis. - Ein Beweis wäre,
wenn sich Sicherheitsbehörden in Deutschland, die sich
bei der Annahme eines OK-Hintergrunds gravierend geirrt haben, vorsätzlich einer rechtsterroristischen Falltheorie verweigert hätten. Dann wären wir auf dem rechten
Auge blind. Doch dafür gibt es keinen Beleg - nicht einen einzigen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir hinterfragen im Ausschuss auch Fehler im System, also in der länder- und
ressortübergreifenden Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Ich frage einmal provokant: Ist Föderalismus
oder das Trennungsgebot ein K.-o.-Kriterium für einen
solchen Fall? Vorschnell könnte man zu einer solchen
falschen Bewertung kommen. Immerhin konnten wir
uns bei dieser einzigartigen Mordserie nur auf ein bundesweites Lenkungsgremium in Bayern, aber nicht auf
eine bundesweit zuständige Ermittlungsgruppe unter
einheitlicher Führung eines Landes oder des BKA mit
bundesweiter Weisungsbefugnis einigen. Das haben wir
eben nicht geschafft.
Woran es offenkundig mangelt, ist eine Routine zur
überregionalen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit.
Wie, wenn nicht durch vernetzte, hochflexible Ermittlungsgruppen über Ländergrenzen hinweg sollen wir eigentlich Bedrohungen des Terrorismus oder des Cybercrime heutzutage wirkungsvoll begegnen? Die schnelle
Schaffung des GAR - ich betone: die schnelle Schaffung
des GAR - ist für mich auch deshalb so wichtig, weil es
geradezu symbolhaft in diesem vernetzten Sinne dazu
führt, dass wir dem föderalen und nach Autarkie strebenden Alltagsbetrieb unserer Behörden Einhalt gebieten.
Dafür müssen die Länder ein bestimmtes Selbstständigkeitsbestreben zurückstellen. Ich sage ganz offen: Das
GAR und das GTAZ sind für mich ein erster guter
Schritt in eine neue Zeit, aber auf gar keinen Fall schon
die Lösung unseres Problems.
({2})
Das Trennungsgebot ist historisch von großer Bedeutung - ob es Verfassungsrang genießt, ist noch unklar;
vielleicht hören wir dazu aus Karlsruhe mehr -; in der
Praxis unserer Sicherheitsbehörden wirkt es aus meiner
Sicht offenkundig völlig überhöht. Die strikte Trennung
von Polizei und Nachrichtendiensten, wie sie sich in diesem Fall gezeigt hat, ist nicht mehr gesund. Die fehlende
Beteiligung des Bundesamtes für Verfassungsschutz an
der BAO „Bosporus“ ist für mich nur ein Beleg dafür.
Wie relevant die Erkenntnisse der Dienste waren, hätte
nur in Zusammenarbeit mit der Polizei richtig bewertet
werden können. Es ist auch wenig hilfreich - aus der
Praxis kann ich das sagen -, wenn nur eine Routineschnittstelle, fast ein Single Point of Contact, zwischen
dem polizeilichen Staatsschutz und den Verfassungsschutzämtern besteht und sonst nichts. Hier sieht man
auch, was in diesem Fall falsch gelaufen ist. Ich sehe Informationen aus der Vorfeldaufklärung, die bei den
Diensten gewonnen werden, als sehr wichtig an; bei der
Polizei kommt es nicht immer so an.
Dritter Komplex: strukturelle Defizite. Unsere Sicherheitsarchitektur ist nicht überholt. Sie ist kein Irrgarten
vieler Behörden. Sie bedarf ganz sicher aber einer Fortentwicklung. Innenminister Friedrich hat im Kampf gegen Rechtsextremismus - meine Damen und Herren, das
muss ich noch einmal geraderücken - mit seinem ZehnPunkte-Plan schnell und konsequent reagiert. Man kann
auch in Aktionismus verfallen. Jetzt lassen Sie uns erst
einmal diesen Ausschuss zu Ende bringen, den Abschlussbericht machen, und dann wird man sehen, was
man noch weiter tun kann.
({3})
Eine professionellere Vernetzung befürworte ich auf
jeden Fall. Ich möchte überregional agierende gemeinsame Ermittlungsgruppen unter einer Führung. Es verstößt auch nicht gegen das Trennungsgebot, wenn wir
die Personalfluktuation zwischen Diensten und Polizei
verstärken.
Die Liste der strukturellen Verbesserungsmöglichkeiten, auch beim Thema Akten, ließe sich beliebig verlängern. Ich will keine neue Kommission zur Sicherheitsarchitektur, aber, meine Damen und Herren - das richte ich
auch an den Minister -, innerhalb unserer Sicherheitslandschaft fehlt eine Organisation, ein Thinktank, dessen
tägliche Aufgabe darin besteht, strukturelle Fragestellungen aufzuwerfen, Schwachstellenanalysen durchzuführen, Zukunftsszenarien im Bereich der inneren Sicherheit
zu bewerten und Lösungskonzepte zu erarbeiten.
Für die Fehler gab es viele kritische Worte. Aber es
hat keinen Sinn, Sicherheitsbehörden jetzt, medial verstärkt, über Gebühr an den Pranger zu stellen. Wir wollen mit ihnen arbeiten, und sie stehen für Deutschland.
Da möchte ich um mehr Ausgewogenheit bitten. Zwei,
drei Schuldige können wir nicht präsentieren, obwohl es
für die Hinterbliebenen sehr wichtig wäre. Aber wir können durch konsequente Umsetzung der als richtig erkannten Verbesserungsvorschläge ein Vorbild werden
für den gesamtgesellschaftlichen Prozess, den am Anfang der Debatte Herr Wieland hier eingefordert hat.
Vielen Dank.
({4})
Wir sind am Ende unserer Aktuellen Stunde. Ich
möchte mich bei allen Rednerinnen und Rednern in die-
ser Aktuellen Stunde herzlich bedanken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Vizepräsident Eduard Oswald
Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 17/10748, 17/11055 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/11382 Berichterstattung:
Abgeordneter Pascal Kober
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11397 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer ({2})
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Sabine Zimmermann,
Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1:1 an Kommunen weiterreichen
- Drucksachen 17/8606, 17/11382 Berichterstattung:
Abgeordneter Pascal Kober
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir dies so beschlossen.
Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Karl Schiewerling.
Bitte schön, Kollege Karl Schiewerling.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Heute entscheiden wir in
zweiter und dritter Lesung über den Gesetzentwurf der
Bundesregierung mit dem etwas nüchternen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch“. Es geht um die Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung. Hinter diesem etwas
nüchternen Titel verbirgt sich nichts anderes als die
größte Entlastung der Kommunen in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland.
({0})
In den Jahren 2013 bis 2016 werden die Kommunen um
voraussichtlich 20 Milliarden Euro entlastet.
({1})
Der Beschluss, den wir heute fassen, hat ein gutes Stück
auch mit Ordnungsprinzipien zu tun; denn wir stärken
damit den Grundsatz der Subsidiarität.
Die Kommunen sind seit 1961, als das Bundessozialhilfegesetz geschaffen worden ist, verantwortlich für die
Durchführung des Gesetzes und auch für die Finanzierung. Aus dem Bundessozialhilfegesetz wurde 2003 die
Grundsicherung für Ältere ausgegliedert und in einen eigenen Bereich übertragen. 2003 hatte die damalige rotgrüne Bundesregierung die Annahme, man käme mit
einem Festgeldzuschuss von 409 Millionen Euro für die
Kommunen klar. Tatsächlich hat es aber einen gewaltigen Aufwuchs gegeben, eine gewaltige finanzielle Belastung, zu der weitere finanzielle Belastungen der Kommunen kamen. Deswegen ist die Entscheidung, die wir
jetzt treffen, nämlich dass wir die Kommunen im Jahr
2013 zu 75 Prozent und ab dem Jahr 2014 zu 100 Prozent von den Kosten der Grundsicherung im Alter entlasten, richtig.
({2})
Der Bund gibt den Kommunen diese Mittel im Rahmen des Instituts der Bundesauftragsverwaltung und hat
ein Interesse daran, dass die Mittel ordentlich, sachgerecht und nach klaren Vorgaben ausgegeben werden. Die
Kommunen haben damit deutlich mehr Gestaltungsspielraum. Sie erhalten damit eine Stärkung der eigenen
kommunalen Selbstverwaltung.
({3})
Meine Damen und Herren, die Grundsicherung im
Alter ist gewiss eine wichtige Hilfe des Sozialstaates,
die, wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende, vor
dem Sturz in das finanziell Bodenlose bewahrt. Die
Grundsicherung im Alter ist eine durchaus akzeptierte
Errungenschaft. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen,
dass die Grundsicherung viel bewirkt hat. Viele Menschen haben in der Vergangenheit jedoch den Weg zum
Amt gescheut, weil sie den Rückgriff auf ihre Kinder befürchteten. In der Grundsicherung im Alter ist dieses so
nun nicht mehr gegeben. Daher beantragen auch mehr
Menschen als früher die Grundsicherung im Alter. Auch
dies ist ein Grund für den Aufwuchs und ein Grund für
die Mehrausgaben, die sich dort ergeben.
Unter den Menschen, die jetzt entsprechende Anträge
stellen, sind viele Frauen, vor allem Witwen, die älter
sind und die, als sie als Mutter in der Familie tätig waren, auf Erwerbsarbeit verzichtet haben. Sie haben ihre
Kinder erzogen und ihre Angehörigen gepflegt. Sie haben im Alter ein Einkommen, das dazu führt, dass sie
auf Grundsicherung angewiesen sind. Normalerweise
müsste in der Systematik die innerfamiliäre Solidarität
greifen; denn die Familie hat davon profitiert. Aber viele
wollen und können ihren Familien, ihren Kindern dieses
nicht zumuten. Deswegen hilft an dieser Stelle der Staat.
({4})
In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist dies
eine große und wichtige Aufgabe. Deswegen ist der eigentlich bedeutsame Teil des heutigen Gesetzes, dass die
Kommunen nicht nur bis 2016 entlastet werden, sondern
auch in Zukunft. In einer immer älter werdenden Gesellschaft würden auf die Kommunen erhebliche Mehrbelastungen in noch größerem Maße zukommen. Deswegen
ist das eigentlich Besondere an diesem Gesetz, dass wir
sagen: Diese Belastungen kommen auf die Kommunen
nicht zu. Das übernimmt der Bund in seiner Verantwortung.
({5})
CDU und CSU sind und bleiben die Kommunalparteien,
({6})
weil wir die Grundprinzipien von Subsidiarität, Solidarität und Eigenverantwortung auch in diesem Bereich
schärfen und sie zur Grundlage unseres Handelns machen. Wir haben einen gut abgestimmten Gesetzentwurf
vorgelegt und bitten um Ihre Unterstützung.
({7})
Vielen Dank, Kollege Karl Schiewerling. - Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Gabriele HillerOhm. Bitte schön, Frau Kollegin Hiller-Ohm.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Minuten werden
wir hier über ein Gesetz beschließen, das Städte und Gemeinden so stark wie noch nie entlasten wird. Der Bund
wird die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung komplett übernehmen. Dafür haben
wir, die SPD, gekämpft, und dies haben wir durchgesetzt. Und das ist richtig so.
({0})
Seit Einführung der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung im Jahr 2003 hat sich die Zahl der
Betroffenen bis heute nämlich mehr als verdoppelt; inzwischen sind 850 000 Menschen darauf angewiesen. Es
geht hier um viel Geld, um etwa 4 Milliarden bis 5 Milliarden Euro jährlich. Diesen Kostenaufwuchs können
die Städte und Gemeinden nicht länger schultern, deshalb muss der Bund in die Pflicht.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP, haben die Kommunen so richtig zappeln und
fast am langen Arm verhungern lassen.
({1})
Denn versprochen war diese Entlastung schon lange.
Aber erst heute legen Sie den Gesetzentwurf endlich auf
den Tisch. Diese Bummelei kritisieren wir.
({2})
Und wer nun denkt, Ihr Gesetzentwurf wäre Ihnen
dann wenigstens in einem Guss gelungen, der irrt gewaltig. Noch gestern im Sozialausschuss wurden wir mit etlichen Änderungen konfrontiert. Ich freue mich, dass bei
dieser Herumdokterei wenigstens einige Verbesserungen
für die Länder und die Kommunen herausgesprungen
sind, die wir seit längerem gefordert haben:
Erstens. Das Abrechnungsverfahren wird zumindest
für eine Übergangszeit vereinfacht.
Zweitens. Städte und Gemeinden dürfen weiterhin auf
eigene Kosten höhere Leistungen zahlen, so wie das in
München jetzt der Fall ist. Es ist gut, dass Sie unsere
Forderungen aufgegriffen und Ihren Gesetzentwurf entsprechend geändert haben.
({3})
Bei zwei weiteren wichtigen Punkten sind Sie jedoch
stur geblieben. So können die Gelder vom Bund zukünftig nur alle drei Monate und nicht monatlich abgerufen
werden. Ein monatliches Abrufen wäre natürlich besser,
weil die Grundsicherung ja auch monatlich ausgezahlt
wird. Schade, dass Sie hier nicht über Ihren Schatten
springen konnten.
Leider fehlt auch eine Zweckbindung, sodass nicht sichergestellt ist, dass die Entlastung vollständig bei den
Kommunen ankommt. Hier hätten Sie eine Lösung finden müssen und die Kommunen nicht im Regen stehen
lassen dürfen.
({4})
Sie sehen, wir sind mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden.
Wir werden dem Gesetz aber trotzdem zustimmen. Denn
wir haben es erkämpft, und die Kostenübernahme ist
wichtig für die klammen Städte und Gemeinden.
Leider wird dieses Gesetz für die betroffenen Rentnerinnen und Rentner selbst nichts ändern. Sie werden weiterhin mit ihrer schmalen Grundsicherung auskommen
müssen. Und es werden immer mehr. Frauen sind besonders stark von Altersarmut bedroht. Das müssen wir ändern.
Damit Altersarmut gar nicht erst entsteht, brauchen
wir faire Löhne, einen gesetzlichen Mindestlohn und
gute Arbeit.
({5})
Lohndumping und prekäre Beschäftigung gehören abgeschafft. Dafür setzen wir uns ein.
Und was, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Schwarz-Gelb, tun Sie? Genau das Gegenteil. Noch in
der letzten Sitzungswoche haben Sie die Verdienstgrenze
bei den Minijobs von 400 auf 450 Euro heraufgesetzt
und damit gleichzeitig das Armutsrisiko vor allem der
Frauen erhöht. Das, meine Damen und Herren, ist ein
politisches Armutszeugnis.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Pascal Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Karl Schiewerling hat es schon für die Regierungskoalition hervorgehoben, ich möchte es wiederholen: Der
heutige Tag ist nicht nur ein hervorragender Tag für die
Kommunen in unserem Land; er ist geradezu ein historischer Tag für die Kommunen. Denn noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat es eine Entlastung für
die Kommunen vonseiten des Bundes in diesem Ausmaß
gegeben. Das ist ein wirklich gutes Signal dieser Regierung an die Kommunen. Es zeigt, dass wir die Verantwortung für die Kommunen wahrnehmen und sie mit ihren Belastungen nicht alleinlassen.
({0})
Allein in den nächsten Jahren wird die Entlastung der
Kommunen 18,5 Milliarden Euro ausmachen. Das ist
kein geringer Betrag; das ist auch für den Bund viel
Geld. Deshalb ist diese Leistung nicht gering zu schätzen. Wir sind stolz, dass wir auf der einen Seite dies leisten und auf der anderen Seite den Pfad der Haushaltskonsolidierung nicht verlassen werden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen und SPD, Sie haben die Grundsicherung im Alter in ihrer jetzigen Form im Jahr 2001 eingeführt. Für
Sie war klar, dass die Kosten bei den Kommunen bleiben
würden. Sie haben damals eine Kompensation von
600 Millionen DM vorgeschlagen. Diese Summe wurde
dann im Vermittlungsverfahren auf 800 Millionen DM
erhöht; das entspricht - auch das hat Karl Schiewerling
schon ausgeführt - etwa 409 Millionen Euro, während
die Gesamtbelastung heute bei etwa 4,8 Milliarden Euro
liegt. Das zeigt: Wären wir auf Ihrem Pfad geblieben,
dann wäre es für die Kommunen in der Zukunft immer
schwieriger geworden, diese sozialen Leistungen zu erbringen.
({2})
Deshalb ist es gut, dass diese Regierung jetzt handelt
und nach elf Jahren des Nichtstuns insbesondere von Rot
jetzt endlich etwas für die Kommunen tut.
({3})
- Nichts dergleichen, Frau Hiller-Ohm. Sie haben in den
letzten Wochen und Monaten im Gesetzgebungsverfahren niemanden zum Jagen getragen. Sie haben insbesondere versucht, den Menschen in unserem Land und den
Kommunen Angst zu machen. Sie haben immer wieder
infrage gestellt, ob die Bundesregierung zu ihrer Zusage
stehen würde. Sie haben in diesem Hause mehrfach versucht, den Menschen Sand in die Augen zu streuen, und
betont, dass diese Regierung wahrscheinlich nicht zu ihren Zusagen stehen werde. Heute zeigen wir Ihnen, dass
das richtig ist, was wir in diesem Hause immer gesagt
haben: Wir stehen zu unserer Zusage. Heute ist es so
weit: Das Gesetz wird heute verabschiedet.
({4})
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass es, weil
wir die Leistungen aufgrund der föderalen Finanzbeziehungen des Bundes zu den Ländern nicht direkt an die
Kommunen auszahlen können, in der Verantwortung der
Länder liegt, das Geld an die Kommunen weiterzureichen. Ich möchte diese Ermahnung an dieser Stelle eindringlich wiederholen. Es ist auch nicht unbegründet,
dass wir diese Ermahnung wiederholen. Ich möchte einmal einen kleinen Ausschnitt aus der Schweriner Volkszeitung vom 8. Februar dieses Jahres zitieren. Dort heißt
es:
Zwischen den neuen Großkreisen und dem Land ist
ein erster handfester Streit entbrannt: Während das
Sozialministerium Mittel des Bundes in zweistelliger Höhe für die Grundsicherung im Alter
- also Gelder für arme und ärmere Senioren einbehalten will, fordern sie die Kommunen für
sich. Allein 2012 könnte die Summe rund 20 Millionen Euro betragen, für das Jahr 2015 schätzt sie
der Landkreistag auf 77 Millionen Euro, sagte Geschäftsführer Jan Peter Schröder auf Nachfrage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, dieses Sozialministerium von Mecklenburg-Vorpommern, das die
Gelder, die den Kommunen zur Verfügung gestellt werden sollen, für sich einbehält, wird von der stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD, Manuela Schwesig,
geführt.
({5})
Es liegt in ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass
diese Handhabe ihres Ministeriums in MecklenburgVorpommern ein Ende hat, damit die Gelder den Kommunen wirklich zur Verfügung stehen und die Entlastung
wirklich bei den Kommunen ankommt.
({6})
Sie haben kritisiert, dass im Ausschuss weitere Änderungen an dem Gesetzentwurf vorgenommen worden
sind. Frau Hiller-Ohm, das hat seine guten Gründe: Wir
haben den Gesetzentwurf noch einmal im Sinne der
Kommunen verbessert. Beispielsweise werden künftig
die Kosten nicht jährlich, sondern quartalsweise abgerechnet. Das Statistische Bundesamt wird die Zusammenführung und Prüfung der Daten vornehmen.
Ihre politischen Konzepte, die Sie schon im Vorgriff
auf die Bundestagswahl hier vorstellen, bedeuten Steuererhöhungen und Belastungen für die Wirtschaft. All das
wird zu geringeren Gewerbesteuereinnahmen und zu geringeren Löhnen führen. Das ist eine falsche Politik, weil
sie die Kommunen, die Unternehmen und am Ende die
Menschen in unserem Land belastet. Das werden wir
verhindern. Mit unserer Politik haben die Kommunen
und die Menschen einen starken Partner an ihrer Seite.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Katrin Kunert. Bitte schön, Frau Kollegin Katrin Kunert.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kober, Sie wollten im Rahmen
der Gemeindefinanzreform an die Gewerbesteuer ran
und niemand anders. Sie haben sie infrage gestellt. Sich
heute als Rächer der Kommunen darzustellen, das ist
schon sehr abenteuerlich.
({0})
Wenn die Rente zum Leben nicht reicht, egal ob es
die Rente im Alter oder bei Erwerbsminderung ist, muss
Grundsicherung bezogen werden. Es ist ausdrücklich
nicht Aufgabe der Kommunen, für diese Kosten aufzukommen; dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass die kompletten Kosten
der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
vom Bund übernommen werden. Bereits in der ersten
Lesung haben wir Nachbesserungen gefordert. Wir haben Ihnen im Arbeits- und Sozialausschuss einen Änderungsantrag vorgelegt.
Erstens wollten wir, dass die Möglichkeit der örtlich
abweichenden Regelleistungen beibehalten wird. Das
heißt, die Stadt München gibt den Grundsicherungsbeziehenden 19 Euro mehr, weil die Preise in München
sehr hoch sind. Diese Möglichkeit hat die Koalition aufgegriffen, sie will aber die höheren Kosten nicht über
den Bund, sondern über die Länder finanzieren lassen.
Wir sagen: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer die
Kommunen von den Kosten entlasten will, der muss das
auch in vollem Umfang tun.
({1})
Zweitens wollten wir, dass die Menschen mit Behinderung, die bei ihren Eltern leben und dort betreut werden, ihre Unterkunftskosten unbürokratisch erhalten
können. Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts
müssen Mietverträge zwischen den Eltern und ihrem
leistungsberechtigten Kind geschlossen werden, um die
Kosten der Unterkunft zu erhalten. Eltern, die sich liebevoll um ihr Kind weit über das 18. Lebensjahr hinaus
kümmern und es betreuen, werden mit einem erheblichen bürokratischen Aufwand belastet. Zudem sind die
Eltern meist die gesetzlichen Betreuer ihrer Kinder und
müssten daher einen Vertrag mit sich selbst schließen,
was juristisch überhaupt nicht möglich ist. Es wäre also
nötig, einen Ersatzbetreuer zu bestellen. Das halten wir
für einen unhaltbaren Zustand. Bei der Umsetzung der
Behindertenrechtskonvention muss solcher Unfug ausgeschlossen sein.
({2})
In einem Änderungsantrag haben wir Ihnen dazu einen Vorschlag unterbreitet, aber leider haben Sie ihn abgelehnt, was wir sehr bedauern.
({3})
Als Nächstes frage ich Sie, wie Sie Ihr gegebenes
Versprechen, die Kommunen zu entlasten, halten wollen.
Der Bund lehnt derzeit jede Übernahme von Verantwortung ab. Sie haben aber die Möglichkeit, unserem Antrag
zuzustimmen, in dem wir fordern, dass die Entlastung
eins zu eins an die Kommunen weiterzuleiten ist; denn
eine Ermahnung reicht nicht, Herr Kober.
({4})
Wie oft ermahnen wir Sie von diesem Pult aus, dass Sie
sich gegenüber den Ländern entsprechend verhalten!
Wir sind der Meinung, dass man das gesetzlich regeln
kann.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der in den nächsten
Jahren zu erwartende Anstieg im Bereich Grundsicherung muss uns alle alarmieren. Die Anzahl der Menschen, die lange gearbeitet haben und trotzdem auf
Grundsicherung angewiesen sind, wird stark steigen. Bereits in der ersten Lesung habe ich die Frage gestellt:
Warum lassen wir, verdammt noch mal, die Menschen
nicht mit ihrer Hände Arbeit eine armutsfeste Rente erarbeiten, indem wir hier im Hause die Einführung eines
gesetzlichen Mindestlohns beschließen?
({6})
Es hilft nicht, die Verdienstgrenze bei Minijobs von
400 auf 450 Euro anzuheben. Eine Kollegin hat einmal
vorgerechnet: Man müsste 200 Jahre arbeiten, um überhaupt das Grundsicherungsniveau zu erreichen. Es gibt
auch in Zukunft keinen Weg weg von der Grundsicherung. Die Linke sagt: Wir wollen den Mindestlohn, und
wir wollen das System der Rentenversicherung endlich
sozial, solidarisch und gerecht gestalten.
({7})
Die Rente muss zum Leben reichen. Das Rentenniveau
muss angehoben werden. Wir wollen die in der Rentenanpassungsformel enthaltenen Kürzungen streichen. Wir
wollen die Rente in Ost und West endlich gleich gestalten.
({8})
Dazu gehört auch, dass wir die Rente mit 67 abschaffen
wollen.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Katrin Kunert. - Nächste
Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Britta Haßelmann. Bitte schön, Frau
Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Frau
Ministerin! Wenn wir das Gesetz gleich beschließen mit einer ziemlich großen Mehrheit des Deutschen Bundestages -, dann bewirkt dies eine wirkliche Verbesserung für die Städte und Gemeinden. Denn die Kommunen werden an einer ganz zentralen Stelle massiv
dadurch entlastet, dass die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung demnächst zu
100 Prozent vom Bund übernommen werden. Das ist aus
meiner Sicht absolut richtig, weil klar ist, dass nicht die
Kommunen die Verantwortung für Altersarmut und prekäre Beschäftigungssituationen tragen, die die Grundsicherung im Alter erst erforderlich machen, sondern der
Bund. Wir müssen gesamtgesellschaftlich die Verantwortung übernehmen.
({0})
Von daher wird auch meine Fraktion heute diesem
Gesetzentwurf zustimmen. Ich finde das gut und richtig.
Die Kommunen und die Menschen, die vor Ort Politik
machen und dort leben, sowie die dort hauptamtlich tätigen Menschen wissen, dass die Übernahme der Kosten
für die Grundsicherung im Alter durch den Bund tatsächlich eine Entlastung ist.
Ich finde es unangemessen, dass hier argumentiert
wird: Dieses Gesetz ist allein von CDU/CSU und FDP
auf den Weg gebracht worden. Nein, das ist natürlich
nicht so. Das wissen Sie auch.
({1})
Lassen Sie das doch einfach, und sagen Sie nicht ständig: Wir haben das Förmchen heute erfunden.
Die Kommunalos wissen genau, dass sie diese Leistungen des Bundes brauchen; denn die Finanzsituation
der Kommunen ist ziemlich dramatisch. Wir haben auf
der einen Seite Steuermehreinnahmen, die, gesamt betrachtet, auch bei den Kommunen auflaufen. Es gibt aber
auf der anderen Seite eine unglaubliche Entwicklung hin
zu einer Zweiklassengesellschaft bei den Kommunen.
Einerseits gibt es Steuermehreinnahmen, gleichzeitig haben wir aber immer mehr Kommunen, die sich in Haushaltsnotlagen befinden, die Notlagegesetze anwenden
und die auf Kassenkredite angewiesen sind, die sich in
Deutschland auf insgesamt über 44 Milliarden Euro belaufen. Darauf ist man in diesen Kommunen nicht stolz;
denn das bedeutet Mangelverwaltung. Wir haben es also
mit einer totalen Spaltung zu tun.
({2})
Deshalb ist die Frage der Bundesanteile gerade für diese
Kommunen so wichtig und so bedeutend.
Herr Kober, gerade die Politik der FDP hat nichts
dazu beigetragen, dass es den Städten und Gemeinden
besser geht. Ich frage nur: Wer stand bis vor kurzem hier
im Haus in der Frage der Abschaffung der Gewerbesteuer noch in der ersten Reihe? Das war Ihre Fraktion.
({3})
Frau Piltz, so etwas kann man locker fordern, wenn man
aus Düsseldorf kommt, wo man von einem großen
Speckgürtel profitiert und natürlich über ausreichende
Steuereinnahmen verfügt.
({4})
Das aber ist nicht die Realität vieler Kommunen in
Deutschland.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Blumenthal?
Gern, wenn er mich etwas fragen möchte.
Frau Kollegin, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben uns eben unterstellt, wir würden die Kommunen schwächen, indem wir ihnen die
Gewerbesteuer wegnehmen wollen. Können Sie uns bestätigen, dass der Sachstand so aussieht, dass die FDP in
einem Alternativkonzept gesagt hat, dass der Hebesatz
und Zuschlagsmöglichkeiten bei anderen Steuerarten für
die Kommunen gewährleistet sind? Können Sie bestätigen, dass das unser Alternativvorschlag war, der den
Kommunen sehr wohl eine finanzielle Grundlage geboten hat? Es gibt also eine Alternative. Sind Sie bereit,
das zur Kenntnis zu nehmen und hier richtigzustellen?
({0})
Wissen Sie, ich beschäftige mich schon ziemlich
lange mit dem Thema Kommunen. Ich habe selbst elf
Jahre lang Kommunalpolitik gemacht.
({0})
- Frau Piltz, Sie hätten sich Redezeit verschaffen können, wenn Sie etwas sagen wollen. Sie können mich
auch noch etwas fragen.
Ich weiß, dass die Kommunen vor Ort die Gewerbesteuer sehr schätzen. Genauso sind sehr viele Unternehmen bereit, Gewerbesteuer zu zahlen, weil sie wissen,
dass sie Verantwortung für ihr Gemeinwesen tragen, und
weil sie das Band zwischen Kommunen und Wirtschaft
vor Ort durch die Gewerbesteuer gesichert sehen.
({1})
Das, was Sie wollten, haben sowohl die kommunalen
Spitzenverbände als auch die grün und rot regierten Länder völlig verrissen. Auch den CDU/CSU-Kommunalos
wurde klar, dass Ihr Modell der Einkommensteuer- und
Hebesatzberechnungen dazu führt, dass der Wettbewerb
unter den Kommunen massiv zunimmt.
({2})
Kommunen wie Düsseldorf mit hohem Einkommensteueraufkommen hätten natürlich davon profitiert; das
wissen Sie alle ganz genau. Die kommunalen Spitzenverbände haben eine vernichtende Stellungnahme abgegeben. Deshalb haben wir in der Gemeindefinanzkommission gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen
und der CDU/CSU verhindert, dass dieses Projekt Realität wurde. Darüber bin ich heilfroh. Dieses Projekt ist
beerdigt, zumindest bis zum Ende dieser Legislaturperiode. Danach wird es, glaube ich, keine Rolle mehr
spielen, weil dann auch die FDP keine Rolle mehr spielen wird.
({3})
Zur Frage nach den Bundesanteilen.
Sie werden förmlich bedrängt, Frau Kollegin. Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Wenn wir hier einen Kurs in Gewerbesteuer oder
Steuerpolitik geben wollen, dann können wir das gerne
machen.
Alle weiteren möglichen Nachfrager darf ich daran
erinnern, wie lange der heutige Plenartag noch dauert.
({0})
Bitte schön, Kollege Kolb, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin Haßelmann, zwar konnten Sie die
Frage des Kollegen Blumenthal nicht beantworten,
({0})
aber vielleicht können Sie mir ja folgende Frage beantworten, da Sie sich hier als Kommunalfreundin präsentieren: Die Entlastung der Kommunen durch die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter war
Ergebnis der überfraktionellen Gespräche Anfang des
letzten Jahres im Zusammenhang mit der Hartz-Reform.
Können Sie mir erklären, warum die Kommunalfreunde
von den Grünen sich damals in einer Nacht-und-NebelAktion aus dem Konsens mit den anderen Fraktionen
verabschiedet haben und diese Regelung im Ergebnis
gar nicht mitgetragen haben? Das ist angesichts Ihres
Auftretens hier sehr erstaunlich.
({1})
Das kann ich Ihnen gerne erklären, Herr Kolb. Ich bin
froh, dass Sie im Gegensatz zu Herrn Kober gesagt haben, dass das ein Ergebnis von uns allen war.
({0})
Halten wir einmal fest: Im Vermittlungsausschuss diskutierten Bund und Länder über das Bildungs- und Teilhabepaket. Auch die Kommunen waren beteiligt. Die
Ministerin kann bestätigen, dass auch die kommunalen
Spitzenverbände befragt worden sind. Es ist doch klar,
dass auch mit den kommunalen Spitzenverbänden ausführlich über das Bildungs- und Teilhabepaket diskutiert
worden ist. Wir haben die Übernahme der Kosten für die
Grundsicherung im Alter von Anfang an begrüßt. Wären
sie Mitglied im Unterausschuss Kommunen wie Herr
Götz oder andere, dann wüssten Sie, dass wir dort über
das Thema soziale Kosten immer positiv diskutiert haben. Dann wüssten Sie, dass wir immer gesagt haben,
dass neben der Zukunft der Eingliederungshilfe insbesondere die Grundsicherung im Alter und die diesbezügliche Verantwortung des Bundes eine große Rolle spielen. Das war schon immer unsere Position.
({1})
- Sie wollten, dass ich Ihre Frage beantworte. - Die Grünen sind erst aus den Verhandlungen ausgestiegen, als
klar war,
({2})
dass Sie dieses mit Bürokratie völlig überlastete Bildungs- und Teilhabepaket konzipieren würden.
({3})
Herr Kolb, ich möchte es Ihnen gerne erklären: Es war
klar, dass ein ganz erheblicher Teil der Mittel für Verwaltungs-, für Bürokratiekosten aufgewendet wird und
nicht bei den Betroffenen ankommt.
Heute können wir feststellen, dass es viele Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes gibt. Das zeigt, dass viele unserer Gründe, über die
wir damals mit Ihnen diskutieren wollten, absolut gerechtfertigt waren.
({4})
Das belegen ganz offensichtlich auch die Berichte des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
({5})
Vielleicht darf ich noch kurz ausführen, dass der Gesetzentwurf zur Grundsicherung im Alter, um den es
jetzt hauptsächlich geht, an drei Punkten nachgebessert
worden ist. Das finde ich gut und richtig. Das erleichtert
uns die Zustimmung.
Zum einen geht es um die Frage der regionalen Regelsätze. Darüber hatten wir diskutiert, insbesondere am
Beispiel von München, wo die Regelsätze höher sind als
im übrigen Bundesgebiet.
Der zweite Punkt ist die Spitzabrechnung. Im ersten
Gesetzentwurf, auch im ersten Gesetz zur Grundsicherung im Alter, war der Vorvorjahresabzug vorgesehen.
Er wurde auch praktiziert. Das war für die Städte und
Gemeinden natürlich sehr schwierig, weil gerade die
Kosten der Grundsicherung im Alter stark schwanken.
Deshalb würden bei den Kommunen unglaublich große
Defizite auflaufen, wenn wir keine Spitzabrechnung machen würden. Ich begrüße es sehr, dass wir uns auf diese
Lösung verständigt haben.
Dritter Punkt. Wir haben im Unterausschuss Kommunen betont - das stimmt mich hoffnungsvoll -, dass wir
weiter über die monatliche Kostenerstattung diskutieren
wollen. Gerade weil die Leistungen so schwankend sind,
ist das für die Städte und Gemeinden sehr wichtig.
Es ist also im Endeffekt ein positives Ergebnis. Alle
haben dazu beigetragen. Frau Kunert, das Thema, das
Sie angesprochen haben, werden wir weiterverfolgen.
Ich glaube, es ist absolut notwendig, darüber zu sprechen
- das wurde im Unterausschuss Kommunales und auch
im Ausschuss für Arbeit und Soziales deutlich -, aber es
rechtfertigt aus grüner Sicht nicht eine Ablehnung oder
Enthaltung bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf; denn wir finden es gut, dass jetzt diese Entlastung
bei der Grundsicherung im Alter in Höhe von circa 4 bis
4,5 Milliarden Euro erfolgt. Deshalb werden wir zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Britta Haßelmann. Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Kollege
Peter Götz für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube,
man kann es nicht oft genug sagen: Heute ist ein guter
Tag für die Kommunen.
({0})
Die Bundesregierung hat zugesagt, die Kommunen
deutlich stärker als bisher finanziell zu unterstützen und
zu entlasten. Dieses Versprechen lösen wir heute ein. Die
Übernahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist ein wichtiger Schritt zum Erfüllen
dieser Zusage. Im vergangenen Jahr haben wir - das
wurde vorhin bereits erwähnt - mit dem ersten Gesetz
zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen den Bundesanteil für 2012 von 16 auf 45 Prozent angehoben.
2013 erhöhen wir den Anteil des Bundes auf 75 Prozent.
Ab 2014 übernimmt der Bund die vollen Kosten für die
Grundsicherung von den Kommunen. Allein bis 2016
bedeutet diese Kostenübernahme eine neue zusätzliche
Entlastung in einer Größenordnung von 20 Milliarden
Euro. Ich wiederhole: 20 Milliarden Euro. Dies ist unbestritten die größte Entlastung der Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dafür sollten
wir dankbar sein.
({1})
Ein Zweites kommt hinzu. Profitieren werden von
dieser besonderen Entlastung vor allem die Kommunen,
die unter ganz drängenden Finanzproblemen leiden, weil
sie strukturelle Probleme haben, weil sie besondere
Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben und vieles
andere mehr. Wir reden über Kosten der Städte, Gemeinden und Kreise - auch diese Zahl wurde vorhin schon
genannt, aber sie kann nicht oft genug wiederholt werden - in Höhe von über 4 Milliarden Euro pro Jahr. Sie
werden sich überproportional dynamisch nach oben weiterentwickeln.
Nur zur Vermeidung von Geschichtsverfälschung:
Mit der heutigen Entscheidung wird ein besonders kommunalfeindlicher Akt der früheren rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahr 2001 rückgängig gemacht und
damit endgültig beseitigt.
({2})
Liebe Kollegin Haßelmann, in der rot-grünen Regierungszeit wurden die Kassen der Städte, Gemeinden und
Landkreise systematisch geplündert.
({3})
Ich belege dies auch mit Zahlen, Herr Scheelen. Dies
führte im Jahr 2003 zu dem historischen Tiefpunkt der
Kommunalfinanzen mit einem bundesweiten Defizit von
über 8 Milliarden Euro. Dabei handelt es sich nicht um
die Folgen einer weltweiten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, sondern um die Folgen einer kommunalfeindlich gestalteten Bundespolitik. Noch nie hat eine
Bundesregierung so viel für die Kommunen getan wie
die Regierung unter Angela Merkel.
({4})
Mit der Entlastung der Kommunen bei den Sozialausgaben durch den Bund wird der Paradigmenwechsel in
der Bundespolitik für jeden sichtbar. In der nächsten
Legislaturperiode wollen wir die Kommunen bei den
Kosten der Eingliederungshilfe ebenfalls entlasten. Die
Unterstützung von Menschen mit Behinderung ist eine
gesamtgesellschaftliche und keine kommunale Aufgabe.
({5})
Bereits in diesem Jahr wird sich die Finanzsituation
vor Ort erheblich verbessern. „Fast alle Kommunen
konnten ihre Finanzsituation … verbessern“, stellt der
Deutsche Städtetag in seinem aktuellen Finanzbericht
fest. Nach Einschätzung des Bundesfinanzministeriums
wird sich dieser Haushaltsüberschuss bis 2016 kontinuierlich auf über rund 5,5 Milliarden Euro steigern. Die
gute Zukunftsperspektive ist nicht nur auf die schrittweise Umsetzung der Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission, sondern ohne Frage auch auf die gute Konjunktur zurückzuführen. Für die nächsten Jahre können
die Gemeinden damit rechnen, dass ihre Steuereinnahmen jedes Jahr um 3 Milliarden Euro wachsen. Da nicht
alle Kommunen gleichermaßen davon profitieren, ist die
milliardenschwere Entlastung bei den Sozialausgaben
besonders wichtig.
Wir danken an dieser Stelle Bundesfinanzminister
Schäuble, dass er - in einer für den Bund haushaltspolitisch sicherlich schwierigen Zeit - bereit war, diese dynamisch steigenden Kosten zu übernehmen.
({6})
Frau Haßelmann, Sie haben recht: Natürlich gibt es
arme und reiche Kommunen; das ist überhaupt keine
Frage. Nach wie vor gibt es - vor allem im Ruhrgebiet
und in Rheinland-Pfalz - Kommunen, denen es unmöglich ist, den Haushalt aus eigener Kraft auszugleichen.
({7})
- Bochum ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür: Bochum muss wie viele andere Städte im Ruhrgebiet die
laufenden Kosten mit Kassenkrediten finanzieren.
({8})
In einigen Ländern müssen die Kommunen zur
Durchsetzung ihrer berechtigten Ansprüche bedauerlicherweise immer wieder auf die Hilfe der Landesverfassungsgerichte zurückgreifen, zum Beispiel in RheinlandPfalz, wo die SPD-geführte Landesregierung vom Gericht dazu gezwungen wird, zugunsten der Kommunen
nachzubessern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein
weiteres ärgerliches Problem ansprechen, das zunehmend um sich greift: Aufgrund der sehr positiven finanziellen Entwicklung der Kommunen wachsen bei einigen Ländern Begehrlichkeiten, den Kommunen das
zusätzliche Geld, das sie vom Bund bekommen, an anderer Stelle wieder abzuziehen.
({9})
Das dürfen wir nicht zulassen.
({10})
Die Entlastung, die wir heute beschließen, muss vollständig bei den Kommunen ankommen.
({11})
- Vielen Dank für Ihren Beifall. - Die Länder dürfen
sich nicht zulasten der Kommunen bereichern. Ich
denke, in dieser Frage sind wir uns alle einig.
({12})
Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben,
ihre Heimat selbst zu gestalten. Dazu gehören Finanzautonomie und eine angemessene finanzielle Ausstattung
der Kommunen. Mit diesem Gesetz leisten wir einen
hervorragenden Beitrag für starke Städte, Gemeinden
und Landkreise. Deshalb werbe ich für eine breite Zustimmung.
Vielen Dank.
({13})
Für die SPD hat Kirsten Lühmann jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Verehrte anwesende Gäste! Ich freue mich,
heute einem Gesetz zustimmen zu können, durch das die
Kommunen entlastet werden. Allerdings musste ich bei
der Debatte wieder verwundert zur Kenntnis nehmen,
dass auch diesmal Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen
von der Koalition, die Vaterschaft für dieses Gesetz beanspruchen. Wenn wir jetzt einmal einen entsprechenden
Test machen, werden wir vielleicht feststellen, dass Sie
gar nicht die Erzeuger dieses Gesetzes sind.
({0})
Wir freuen uns trotzdem, dass Sie sich zu einer Adoption
entschlossen haben, und wollen Sie dabei tatkräftig unterstützen.
({1})
In der ersten Lesung war von der größten Entlastung
der letzten Jahrzehnte die Rede. In dieser Lesung habe
ich gelernt, es sei die größte Entlastung in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie sieht die Realität aus?
Schauen wir uns die Bilanz der schwarz-gelben Bundesregierung an, was eine Entlastung der Kommunen
angeht: Absenkung der Erstattung der Kosten der
Unterkunft: minus 400 Millionen Euro jährlich. Wachstumsbeschleunigungsgesetz: minus 1,6 Milliarden Euro
jährlich.
({2})
Änderungen bei der Unternehmensteuer: minus 800 Millionen Euro jährlich. Das summiert sich während Ihrer
Regierungszeit zu einem Minus von 11 Milliarden Euro
in den Kassen der Kommunen.
({3})
Wenn man davon die 4 Milliarden Euro, um die die
Kommunen jetzt entlastet werden sollen, abzieht, bleibt
immer noch ein Minus von 7 Milliarden Euro. Es ist unanständig, dies als größte Entlastung in der Geschichte
der Bundesrepublik zu bezeichnen.
({4})
Dabei haben Sie noch nicht einmal alle Projekte
umgesetzt, die in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Wir
haben heute schon ausgiebig darüber gesprochen, wie
die Gewerbesteuer durch alternative Modelle ersetzt
werden könnte. Die Betroffenen haben diese Alternativen einhellig abgelehnt.
Wie sieht es mit der Mutterschaft für dieses Gesetz
von der linken Hälfte dieses Hauses aus? Wir haben
schon mehrfach festgestellt, dass es Verhandlungen im
Rahmen des Bildungspaketes waren, in denen die entsprechenden Länder - für uns verhandelte Manuela
Schwesig - der Bundesregierung diese Entscheidungen
abgerungen haben. Die Entscheidung wurde deutlich abgerungen und fiel nicht freiwillig.
({5})
Hinterher haben Sie versucht, diese Einigung als
einen Erfolg der Gemeindefinanzkommission zu verkaufen. Natürlich mussten Sie das; denn sonst hat die Gemeindefinanzkommission ja nichts zustande gebracht.
({6})
Auch die jetzige Veränderung des Auszahlungsmodus
ist Ihnen nicht plötzlich eingefallen, sondern auch diese
Veränderung wurde Ihnen in den Verhandlungen mit den
Ländern zum Fiskalpakt abgetrotzt. Auch hier sind nicht
Sie die Eltern, sondern wir von der linken Seite dieses
Hauses. Das muss man einmal ganz deutlich so sagen.
({7})
Was heißt das? Wenn diese Änderung nicht gekommen wäre, wären den Kommunen aufgrund von Buchungstricks Kosten in Höhe von 500 Millionen Euro
jährlich nicht erstattet worden, obwohl Sie behaupten,
100 Prozent zu erstatten. Sie wären darauf sitzen geblieben. Im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf - das wurde
mehrfach erwähnt - wird das verändert. Es gibt jetzt eine
Dreimonatsfrist, das heißt, die Kommunen finanzieren
noch immer vor, aber nicht mehr so lange, und das finden wir gut.
({8})
In diesem Zusammenhang bedanke ich mich recht
herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit im Unterausschuss Kommunales. Wir haben mehrere Probleme,
die in einem Antrag der SPD und auch von anderen
Fraktionen angesprochen wurden, behandelt.
Wir haben über behinderte Kinder und über klebrige
Finger einiger Länder, die es möglicherweise geben
könnte, gesprochen. Mir fallen dabei auch andere ein, als
hier heute genannt wurden. Wir haben uns einvernehmlich darauf verständigt, dass wir dieses Thema noch einmal auf die Tagesordnung rufen, wenn der jetzt zu beratende Gesetzentwurf Gültigkeit hat. Das heißt, wir
werden uns in sechs Monaten wieder zusammensetzen
und schauen, was wir noch verbessern können.
Eine Verbesserung haben wir schon ausgehandelt. Sie
kommt leider nicht mehr in dieser Legislaturperiode. Ich
meine den Einstieg des Bundes in die Übernahme der
Kosten für die Eingliederungshilfe, was auch im Rahmen der Verhandlungen über den Fiskalpakt besprochen
wurde. Es geht hier immerhin um eine Belastung der
Kommunen von jährlich 14 Milliarden Euro. Wenn wir
hier in der nächsten Legislaturperiode unter einer SPDgeführten Bundesregierung
({9})
einen Schritt weiter sind, dann können wir endgültig sagen: Dies ist ein guter Tag für die Kommunen.
Danke schön.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11382, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10748 und 17/11055 in der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten, alle anderen
Fraktionen haben zugestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, der möge sich erheben. - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! - Damit ist der Gesetzentwurf
bei gleichem Stimmverhältnis wie vorher angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bundesmittel zur
Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung 1 : 1 an die Kommunen weiterreichen“.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss auf Drucksache 17/11382, diesen
Antrag auf Drucksache 17/8606 abzulehnen. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! Die Enthaltungen! - Damit ist die Beschlussempfehlung
angenommen. Die Koalitionsfraktionen haben zugestimmt, die Fraktion Die Linke war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen und SPD haben sich enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten HansUlrich Klose, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine Neubelebung und Stärkung der
transatlantischen Beziehungen
- Drucksachen 17/9728, 17/10169 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({1})
Vorgesehen ist es, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Dr. Rainer
Stinner hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Berichterstattung der letzten Monate
beiderseits des Atlantiks über die jeweilige andere Seite
anschaut, dann kommt man nur ins Staunen. Auf beiden
Seiten sieht man dasselbe Bild: Der jeweils andere ist im
Abschwung begriffen, „in decline“. Das ZEITmagazin
hat im letzten Jahr das Bild veröffentlicht: „Europe in
Decline“. Der Spiegel hat in dieser Woche das Bild veröffentlicht: „America in Decline“:
({0})
Das heißt, auf beiden Seiten des Atlantiks haben wir
offensichtlich die Anschauung, dass es dem anderen
schlecht geht und er unabwendbar vor dem kurzfristigen
Untergang steht.
Meine Damen und Herren, diese Bilder sind falsch.
Europa ist nicht „in decline“, im Abschwung, sondern
Europa ist nach wie vor, trotz aller Probleme, die wir haben und die wir gar nicht verschweigen wollen, für viele
Regionen der Welt ein Modellfall. Viele in aller Welt fragen uns ganz neidisch: „Wie habt ihr es in Europa geschafft, aus der kriegerischen Region eine Region des
Friedens, der Freiheit und des Wohlstands zu machen?“
Auch das Bild von Amerika im Abschwung, „in decline“, ist falsch. Jawohl, es gibt viele Probleme, die aber
werden in diesem Bild zusammengemixt; das betrifft
willkürlich alle Probleme, ob das die Schuldenkrise ist,
ob das Guantanamo ist oder ob das soziale Probleme
sind. All das wird zusammengebündelt, und daraus wird
dieses negative Bild zusammengesetzt.
Amerika heißt aber auch, dass nach wie vor bis zum
heutigen Tage die besten Studenten der Welt danach streben, in Amerika ausgebildet zu werden. Amerika heißt
nach wie vor, dass die amerikanischen Universitäten bei
den Rankings immer in der Spitzengruppe zu finden
sind. Amerika heißt auch, dass Technologieerfindungen,
dass ganze Industrien, wie zum Beispiel die Kommunikationsindustrie, von Amerika aus ganz prägend gestaltet werden. Von daher ist dieses Bild, dass Amerika im
Niedergang sei, völlig falsch und völlig einseitig.
({1})
Es ist also hohe Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass auch wir gerade in Deutschland vom hohen Baum
des Hochmuts herunterkommen und uns mit der Situation beschäftigen, wie sie ist, und mit den Möglichkeiten
der Kooperation mit Amerika. Insoweit ist sicherlich die
Wiederwahl Obamas ein positives Zeichen. Wir wissen,
woran wir sind. Obama hat im Gegensatz zu seinem Vorgänger ein anderes Prinzip der Kooperation und Konzentration eingeführt, das sehr gut ist, nicht vollständig und
nicht perfekt, aber immerhin. Deshalb haben wir alle
Chancen, mit Amerika zusammenzuarbeiten.
Ich halte dafür, dass aus amerikanischer Sicht, wenn
man denn dort überhaupt glaubt, Partner auf der Welt zu
brauchen - manche in Amerika glauben das ja nicht,
aber die Mehrzahl glaubt es halt -, Europa auch in Zukunft der natürliche Partner der Vereinigten Staaten sein
wird. Darauf können und darauf sollen wir aufbauen.
Ich gehe zunächst auf die bilateralen Beziehungen
ein. Hier sehe ich eine ganz große Aufgabe auf uns zukommen, eine Schwerpunktaufgabe, die große Folgen
haben könnte, nämlich die Verabschiedung eines Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union
und den Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich glaube, dass die Mächtigkeit dieses Themas noch
in weiten Teilen unterschätzt wird. Es geht nämlich bei
dem Abschluss eines Freihandelsabkommens um viel
mehr als nur darum, auf beiden Seiten des Atlantiks
wirtschaftlich neue Impulse zu setzen, die ja ohne jeden
Zweifel vorhanden wären. Es geht auch darum, gemeinsam zu zeigen, dass wir bei einem solch wichtigen
Thema zusammenarbeiten können. Überall auf der Welt
werden Freihandelsabkommen geschlossen. Das Signal,
das von einem europäisch-amerikanischen Freihandelsabkommen ausgehen würde, von einer großen wirtschaftlichen Zone, wäre sicherlich sehr prägend auch für
andere Teile dieser Welt.
({2})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus Amerika
bekommen wir deutliche Signale: „Jawohl, wir sind bereit, wir wollen ein solches Freihandelsabkommen abschließen. Aber wir werden mit Verhandlungen nicht beginnen, wenn wir nicht ganz sicher sind, dass wir diese
auch abschließen können.“ Man befürchtet also, dass
man vor Verhandlungen auf beiden Seiten in Gefahr ist,
irgendwelche unüberwindbaren Hindernisse aufzubauen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
gefällt mir Ihr diesbezüglicher Satz, dass wir dafür sorgen sollten, die fortschrittlichsten Regelungen für alles
Mögliche einzubeziehen, nicht so richtig. Erstens: Wer
definiert Fortschritt? Zweitens: Das war immer die SPD;
das ist bekannt.
({3})
Aber das hat sich weltweit vielleicht noch nicht herumgesprochen. Von daher plädiere ich dafür, in Sachen Vorbedingungen Vorsicht walten zu lassen; denn das Abkommen ist meines Erachtens sehr wichtig.
Das Niveau von bilateralen Beziehungen erhöht sich,
wenn man nicht nur über bilaterale Probleme spricht,
sondern wenn man gemeinsam auch darüber spricht, wie
man in der Welt agiert. Hier haben die Europäer und die
Amerikaner noch ein weites Feld vor sich und weitere
Möglichkeiten, die wir entsprechend nutzen sollten. Ich
bin dafür, dass wir in dem Fall der europäisch-amerikanischen Partnerschaft wirklich von einer strategischen
Partnerschaft sprechen können. Das Wort wird zum Teil
inflationär gebraucht. Hier ist es wirklich angebracht,
weil wir tatsächlich eine gemeinsame Basis haben, von
der aus wir die Welt betrachten können.
In Amerika hat es jetzt diesen „pivot“, die Hinwendung nach Asien gegeben. Die Frage ist: Bedrängt uns
das? Ich sage Nein, das bedrängt uns nicht. Das ist eine
ganz natürliche Bewegung. Zur Erinnerung: Amerika ist
immer eine pazifische Macht gewesen. Der Zweite Weltkrieg ist über den Pazifik hinweg gestartet worden. Ich
erwähne den Koreakrieg, den Vietnamkrieg. Vielfältige
amerikanische Beziehungen nach Asien sind seit Jahrzehnten vorhanden. In Asien spielt heute eben die Musik. Von daher ist das für uns meines Erachtens keinerlei
Bedrohung. Wir können damit sehr gut leben.
Die Wiederwahl von Präsident Obama gibt uns aber
auch die Möglichkeit, auf zwei Feldern voranzukommen, die uns sehr am Herzen liegen. Das erste Thema ist
der Klimaschutz, das zweite Thema ist die Abrüstung.
Meine Meinung ist, dass ein anderer Ausgang der Wahl
in Amerika es uns in beiden Fällen wesentlich schwerer
gemacht hätte, auf diesen beiden wichtigen Feldern voranzukommen. Von daher begrüßen wir es, dass wir es mit
einer Obama-2-Administration zu tun haben werden.
({4})
Ich glaube, dass wir als Europäer auch in Zukunft gut
daran tun, mit unseren amerikanischen Freunden im
Rahmen der NATO eng zusammenzuarbeiten. Es ist
auch unter veränderten politischen Rahmenbedingungen
weltweit so, dass die NATO für uns beide, sowohl für
Amerika als auch für Europa, einen Wert als Sicherheitsbündnis hat, nicht mehr und nicht weniger. Wenn unsere
Sicherheit dadurch gefördert wird, dann ist das umso
besser. Wir wollen daran weiter mitarbeiten.
Lassen Sie mich zum Schluss kurz auf die innenpolitische Situation in Amerika eingehen.
({5})
Wir erleben in Amerika eine Spaltung, wie sie größer nie
gewesen ist. Sie war schon immer da: Auch der erste
Präsident, den ich in Amerika erlebt habe, Nixon, war auf
der anderen Seite nicht gerade beliebt. Aber die jetzige
Spaltung ist größer als jemals zuvor.
Auch wenn wir jetzt nach der Wahl von beiden Seiten
versöhnliche Worte gehört haben, so bin ich nicht sicher,
ob es gelingt, die Spaltung zu überwinden; denn es ist
nicht so, wie es in Deutschland verkürzt dargestellt wird,
dass dabei nur die Republikaner durch ihre Blockade
schuld sind, sondern beide Seiten sind daran beteiligt.
Um es verkürzt auszudrücken: Wenn Sie sich Fox oder
MSNBC anschauen, dann können Sie, was das Geifern
und die Verunglimpfung des politischen Gegners angeht,
kaum Unterschiede in der Intonierung bemerken.
Vielleicht aber ist die kurzfristig größte Krise eine
Chance, um die langfristige Krankheit der Spaltung zu
überwinden. Die Krise besteht darin, dass dann, wenn
nichts passiert, am 2. Januar nächsten Jahres ein Automatismus in Form von Kürzungen und Steuererhöhungen eintritt. Wir wissen, dass weder Demokraten noch
Republikaner das wollen. Die Hoffnung ist, dass aufgrund dieser schwierigen Lage eine Kooperation möglich wird.
Ein starkes Amerika ist in unserem Interesse. Uns
verbindet die Geschichte. Uns verbindet gemeinsame
Kultur. Uns verbinden Werte wie Demokratie, Menschenrechte, die marktwirtschaftliche Ordnung und der
Rechtsstaat. Uns verbinden Interessen. Bei so viel Gemeinsamkeiten ist es nach meinem Dafürhalten nicht nur
Interessenpolitik, die uns verbindet, sondern ich sage es
zum Schluss so: Für mich persönlich ist es ein Herzensanliegen, dass wir weiterhin mit unserem amerikanischen Partner zusammenarbeiten: zum Wohle unserer
Völker und, soweit das möglich ist, zum Wohle der Welt.
Vielen Dank
({6})
Philipp Mißfelder hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Amerika hat
gewählt, und Deutschland hat in starkem Maß Anteil daran genommen. Die Begeisterung gerade vieler Deutscher über die Wiederwahl von Barack Obama zeigt,
dass sich unsere Völker sehr nahe sind. Ich kenne kein
anderes Beispiel dafür, dass Menschen so lange wach
bleiben, um mit großer Spannung eine Wahl zu verfolgen, mit den Kandidaten mitzufiebern und sich letztendlich darüber zu freuen, dass sich der Wunschkandidat
- jedenfalls der meisten Deutschen, wenn man den Umfragewerten glauben kann - durchgesetzt hat.
Rainer Stinner hat es bereits angesprochen: Es gibt
sehr viele Stereotypen, die gegenseitig bedient werden.
Einerseits erwarten die Amerikaner von uns mehr Aktivität bei der Verschuldungskrise im Euro-Raum. Gegenseitiges Unverständnis herrscht an mancher Stelle in der
Geldpolitik. Manche Amerikaner erwarten von uns, die
Probleme durch eine radikale Inflationspolitik zu lösen.
Andererseits betrachten viele Europäer das amerikanische Budget und die nach wie vor hohen Verteidigungsausgaben mit großer Skepsis. Ich glaube, die Zerrbilder,
die auf beiden Seiten entstanden sind, haben auch etwas
damit zu tun, dass aufgrund der Spaltung Amerikas, die
offensichtlich ist - das wurde bereits angesprochen -,
ständig Extrembeispiele genannt werden. Peter Hintze
und ich haben vor ein paar Wochen an der Republican
Convention teilgenommen und haben gesehen, wie zerrissen diese Partei ist und wie die Tea Party teilweise
versucht, die Richtung und den Kurs der von sehr vernünftigen Außenpolitikern geprägten republikanischen
Partei fundamental zu verändern. Das ist ein Zeichen dafür, dass es in vier Jahren unter Barack Obama nicht gelungen ist, das Land zu einigen. Nein, es ist an manchen
Stellen tiefer gespalten, als man erwartet hat. Das betrachten wir natürlich mit großer Sorge.
Vor dem Hintergrund, dass sich der Blick in der Administration Obamas mehr in Richtung Pazifik richtet
- er selbst bezeichnet sich als ersten pazifischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika -, hat die
althergebrachte Konstellation „Europa und die USA gemeinsam“ zwar keine Risse bekommen. Sie hat aber
nicht mehr die oberste Priorität. Das führt teilweise zu
einer Entfremdung. Diese muss allerdings nicht von
Dauer sein und muss uns auch nicht schaden, im Gegenteil. Ich glaube, dass die Wiederwahl von Barack Obama
in den USA die Chance bietet, die nicht behandelten
Themen aufzugreifen und für mehr Verständnis auf beiden Seiten des Atlantiks für den jeweils anderen zu werben. Die Bundeskanzlerin hat in ihren Gratulationsworten deutlich gemacht, dass Herr Obama in Deutschland
nach wie vor sehr herzlich willkommen ist. Wir freuen
uns auf Barack Obama als wiedergewählten Präsidenten.
Wir freuen uns, wenn er die Bundesrepublik Deutschland besucht.
({0})
In den Vereinigten Staaten ist die Selbstdefinition der
Rolle der USA - das konnte man gerade in der dritten
Fernsehdebatte sehen - sehr wichtig. Wenn man beide
Kandidaten im Wahlkampf verfolgte, konnte man feststellen, dass keiner davon gesprochen hat, dass Amerika
bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen, im Gegenteil. Obama hat gestern in seinen Dankesworten davon gesprochen, dass er weiß, dass die Amerikaner nach
zehn Jahren Krieg in Afghanistan und im Irak nur eines
wollen: sich um ihre Probleme kümmern und die offenen
Fragen in den USA beantworten. Sie wollen nicht durch
weitere Interventionen in der Welt die Rolle des Weltpolizisten übernehmen.
Das, was viele Europäer eingefordert haben, nämlich
dass die UNO an die Stelle der USA als Weltpolizist tritt,
wird nun in Erfüllung gehen. Leider zeigt Syrien als aktuelles Beispiel, dass die UNO keineswegs die Kompetenzen hat, entsprechende Probleme zu lösen. Zwar haben
wir 2005 die Responsibility to Protect eingeführt und
zum Schutz der Zivilbevölkerung das UNO-Statut geändert. Nichtsdestotrotz führt die Blockade im UNO-Sicherheitsrat dazu, dass die UNO an dieser Stelle eher ein Totalausfall ist und nicht als Weltpolizist eingreifen kann.
Das bezahlt gerade die Zivilbevölkerung in Syrien mit
ihrem Leben. Man kann lange darüber spekulieren, warum das der Fall ist, ob die Ursache dafür der Rückzug
der Amerikaner aus der Weltpolitik oder das verloren gegangene oder mangelnde Vertrauen zwischen der westlichen Welt und China bzw. Russland gewesen ist. Darüber kann man lange diskutieren. An all diesen Vermutungen ist etwas dran. Aber wir als mittlere Macht in
Europa können es nicht hinnehmen, dass ein Fall wie
Syrien unerledigt im UN-Sicherheitsrat liegt. Wir dürfen
nicht wegschauen, sondern wir müssen das Thema mit
großer Ernsthaftigkeit begleiten.
Ich gehe davon aus, dass gerade von den Amerikanern erwartet wird, dass wir in Zukunft mehr Verantwortung innerhalb der NATO übernehmen als weniger. Ich
bin gespannt darauf, welche Antwort unser Land und unsere Bevölkerung darauf geben werden.
({1})
Die Erwartungshaltung der USA ist auf jeden Fall klar,
was die Agenda der NATO betrifft. In Sachen Sharing
und Pooling, das heißt Fähigkeiten zusammenführen und
Lasten teilen, ist die Erwartungshaltung in Washington
ganz klar, dass wir mehr leisten müssen. Ich weiß nicht,
ob alle dazu bereit sind. Ich glaube, dass die Grundsatzdiskussion in unserem Land noch geführt werden muss,
ob wir militärisch, wirtschaftlich und auch finanzpolitisch bereit sind, einen größeren Beitrag zu leisten.
Ich bin vergangene Woche in Boston und New York
gewesen.
({2})
- Ich weiß nicht, wo Sie zuletzt waren; ich auf jeden Fall
war in der letzten Woche in den USA. - Ich habe mit
großem Interesse verfolgt, welche Debatten in den USA
geführt werden, insbesondere im geistigen Zentrum, der
Harvard University. Viele sprechen von „decline“. Rainer
Stinner hat gerade die europäischen und amerikanischen
Medien angesprochen. Ob nun Erfindungen von Amazon, neue Technologien wie Facebook oder andere Innovationen der Internetwirtschaft - alles kommt aus Amerika. Ich kann allen nur das Buch The Quest von Yergin
empfehlen, in dem Sie nachlesen können, welche großen
energiepolitischen Herausforderungen Amerika gerade
meistert. Ich glaube, dass Amerika nach wie vor das innovativste und dadurch auch wirtschaftlich erfolgreichste Land der Welt ist und es auch bleiben wird. Deshalb würde ich auch nicht von „decline“ sprechen;
Amerika ist vielmehr der wichtigste und beste Partner,
den sich Deutschland wünschen kann.
Ich komme auf meine Reise und den Besuch der Universität von Harvard zurück. Herr Kollege Klose, ich
habe dort sehr viele, zugegebenermaßen ältere Professoren getroffen, die bewundernd über Ihre Arbeit gesprochen haben. Das gilt nicht nur für Karl Kaiser, der mit
Ihnen freundschaftlich verbunden ist, sondern auch für
viele amerikanische Professoren, die dort lehren. Sie haben von Ihrer großartigen Lebensleistung und Ihrer Tätigkeit im Deutschen Bundestag gesprochen und betont,
wie sehr Sie sich für die Beziehungen unserer beiden
Staaten eingesetzt haben.
({3})
Dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich im Namen unserer
Fraktion danken. Ich möchte Ihnen auch für die kollegiale und menschlich wunderbare Zusammenarbeit über
die Parteigrenzen hinweg danken. Die Anerkennung, die
Sie in den USA genießen, muss erst einmal jemand aus
unserem Kreis und unserer Generation erwerben. Deshalb möchte ich Ihnen, auch im Namen meiner Fraktion,
meinen ganz großen Respekt bekunden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Hans-Ulrich Klose hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, es war eine sehr kluge Entscheidung der Geschäftsführer, die Debatte über den SPDAntrag zu den transatlantischen Beziehungen auf die
Zeit nach den amerikanischen Wahlen zu schieben; denn
jetzt, einen Tag danach, wissen wir jedenfalls, mit welchem Präsidenten und mit welchem Kongress wir es zu
tun haben: wie gehabt mit Barack Obama und mit einem
republikanischen Haus. Same procedure also?
Nein, meine Damen und Herren, nicht ganz. Der Präsident hat weitere vier Jahre Zeit, um zu bewirken, was
er in den ersten vier Jahren nicht bewirken konnte, vor
allem dies: die Wirtschaft wieder voranzubringen und
die zunehmende Spaltung des Landes in sehr Reiche und
sehr Arme - eine gefährdete Mittelschicht dazwischen zu überwinden. Ob ihm das gelingen wird, hängt nicht
allein von seiner Führungskraft ab; es hängt auch ab von
der Bereitschaft der republikanischen Führung, sich aus
der Umklammerung von Tea Party und Grover Norquist
zu befreien. Ich weiß nicht, wer von beiden schwieriger
ist.
Auf deren Einsicht zu hoffen, halte ich für ziemlich
verwegen. Die republikanische Führung hat aber bei dieser Wahl - hoffe ich - gelernt, dass bedingungslose Konfrontation weder dem Land dient noch der republikanischen Partei. Es geht nicht ohne Kompromissbereitschaft und ein Mindestmaß an Bipartisanship.
({0})
Es gilt schnell zu lernen, meine Damen und Herren;
denn Amerika steuert zu auf das sogenannte „fiscal
cliff“. Wenn es zum Ende dieses Jahres keine Vereinbarung zur Haushaltspolitik gibt, kommt es durch Wegfall
von Steuervergünstigungen faktisch zu Steuererhöhungen und zugleich zu kräftigen Einschnitten in den Haushalt. Die Rede ist von Einsparvolumina von circa 600 Milliarden US-Dollar - Untergrenze.
Die Folgen solcher Einschnitte für die Wirtschaft wären gravierend. Sie abzuwenden und zugleich die Weichen für mehr Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung zu stellen - darum geht es, übrigens nicht nur aus
amerikanischer Sicht. Für die ganze Welt ist es wichtig,
wie sich die amerikanische Wirtschaft entwickelt, auch
für uns. Denn noch immer ist Amerika für Europa der
wichtigste Handels- und Wirtschaftspartner - und umgekehrt. Amerikanische Investitionen sichern Arbeitsplätze in Europa. Europäische, vor allem auch deutsche
Investitionen in den USA sichern dort amerikanische Arbeitsplätze.
Deutschland ist aus amerikanischer Sicht ein wichtiger ökonomischer Partner, nicht zuletzt weil Deutschland in Amerika als Beispiel gesehen und sogar auch ein
bisschen bewundert wird, weil es uns bisher trotz massiver Konkurrenz zum Beispiel aus China gelungen ist,
unsere produktive industrielle Basis zu behalten und sogar auszubauen.
Deutschland ist deshalb ein Partner, der bei der dringend notwendigen Reindustrialisierung Amerikas helfen
kann, auch weil deutsche Firmen, die in den USA investieren, ihre Arbeitskräfte vor Ort finden und schulen. Ich
habe das vor einem Jahr in einem VW-Werk in Chattanooga gesehen und zuletzt bei Stihl in Virginia Beach.
Die Zusammenarbeit ist rundherum gut und könnte
noch besser werden, wenn es, ja wenn es endlich gelänge, das Projekt einer transatlantischen FreihandelsHans-Ulrich Klose
zone in die Tat umzusetzen. Das ist nicht einfach, weil,
wenn es um Regeln und Standards geht, es auf beiden
Seiten des Atlantiks und, zugegeben, auch innerhalb der
EU deutlich unterschiedliche Auffassungen gibt. Der
Nutzen einer transatlantischen Freihandelszone wäre
aber groß. Deshalb hat die Bundesregierung sich wiederholt für die Errichtung einer solchen Freihandelszone
ausgesprochen. Auch der Kollege Polenz hat sich kürzlich noch einmal dazu geäußert - wie ich finde, zu
Recht. Denn es liegt auch an uns, das Projekt voranzutreiben. Die Amerikaner sehen jedenfalls Deutschland
als das europäische Powerhouse. Sie erwarten, dass
Deutschland seine ökonomischen Stärken politisch-strategisch nutzt, zum Vorteil Europas und des gesamten
Westens.
Meine Damen und Herren, die Zeiten westlicher Dominanz gehen zu Ende. Der Anteil westlicher Länder an
der Weltbevölkerung nimmt ab auf bald nur noch 12 bis
13 Prozent. Die westliche Führungsmacht Amerika
steckt in einer innenpolitischen Krise, die durch die
jüngsten Wahlen nicht einfach aufgelöst worden ist. In
den USA ist - nicht nur vereinzelt - die Rede von „decline“, also Abstieg. Der Glaube, dass Demokratie und
Marktwirtschaft einander bedingen und wirtschaftlicher
Erfolg nur in einer Demokratie möglich sei, ist durch
China erschüttert.
China ist erfolgreich, aber ganz sicher keine Demokratie. Das verursacht hier und da ideologische Kopfschmerzen. Manch einer erwartet, dass die westliche
Führungsmacht von China eingeholt und sogar überholt
werden könnte. Ich teile diese Besorgnis nicht. Ich kenne
mich in der amerikanischen Geschichte ein bisschen aus
und weiß, dass Amerika es mehr als einmal geschafft
hat, Zeichen von Schwäche und Konflikten zu überwinden. Jedenfalls hat Amerika nicht nur aus meiner Sicht
die deutlich besseren Chancen, seine Führungsposition
zu erhalten.
Amerika ist ein großes Land und verfügt, anders als
China, über reichhaltige Bodenschätze, vor allem über
ausreichend Energievorräte. Amerika ist, anders als
China, in der Lage, seine wachsende Bevölkerung aus
eigener Kraft zu ernähren und produziert Nahrungsmittel
über den eigenen Bedarf hinaus für den Export. Amerika
hat in seiner Nachbarschaft keine relevanten Feinde.
Amerika ist ein attraktives Land mit hohem Innovationspotenzial; der Kollege Mißfelder hat darauf hingewiesen. Amerika ist ein Land mit freiheitlicher Verfassung,
ein freies Land, in dem jeder und jede eine Chance für
persönlichen Aufstieg hat. Nicht zuletzt deshalb ist
Amerika als Zuwanderungsland attraktiv für junge Menschen aus aller Welt. Und - um auch dies zu erwähnen -:
Amerika wird noch lange Zeit die stärkste Militärmacht
bleiben.
Ich glaube deshalb - um es noch einmal zu sagen -,
dass Amerika mit den neuen Herausforderungen fertigwerden kann. Aber es bleibt auch richtig: Amerika und
der Westen sind herausgefordert. Wir müssen uns diesen
Herausforderungen stellen.
Amerika hat das lange vor Europa erkannt. Es hat sich
nach der Zeitenwende 1989/90 strategisch neu aufgestellt, schrittweise, aber konsequent Richtung Asien und
Pazifik. „Pivot to Asia“, das war die Kurzformel der
strategischen Neuausrichtung, in deren Verlauf sich der
amerikanische Präsident selbst einen pazifischen Präsidenten nannte. „Pivot to Asia“, das klang für manche europäischen Ohren nach Abwendung von Europa, war
aber nie so gemeint und ist deshalb, um Missverständnisse zu vermeiden, inzwischen durch das Wort „rebalancing“ ersetzt worden.
Das bedeutet Herstellung einer neuen Balance zwischen andauerndem US-Engagement in Europa und verstärktem Engagement der pazifischen Macht Amerika in
Asien, also ausdrücklich nicht Abwendung von Europa,
sondern die Zusicherung, auch künftig im NATO-Rahmen in Europa engagiert zu bleiben, verbunden allerdings mit der Forderung an die Europäer, künftig mehr
zu tun, mehr Verantwortung zu übernehmen, und zwar,
Herr Kollege Mißfelder, in doppelter Hinsicht: Zum einen erwarten die Amerikaner von den Europäern einen
höheren, effektiveren Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit. Das Missverhältnis zwischen amerikanischen
NATO-Aufwendungen, circa 70 Prozent, und denen der
Europäer, zusammen nur etwa 30 Prozent, ist offensichtlich und aus amerikanischer Sicht nicht akzeptabel.
Es geht aber nicht nur um Geld und Fähigkeiten, sondern auch um strategisches Burden Sharing. Amerika
will, dass sich die Europäer um die Probleme in der europäischen Peripherie selbst kümmern. Amerika hilft,
wenn nötig, will aber nicht führen. Das war so im Fall
Libyen und wird, fürchte ich, so sein im Fall Mali. Weil
das so ist, macht es Sinn, dass sich die Europäer vorher
darüber verständigen, was sie mit welchen politischen
und/oder militärischen Mitteln in Mali oder in ähnlich
gelagerten Fällen erreichen wollen. Die Betonung, dass
es sich nur um eine Ausbildungsmission handele, trägt
allein nicht. Europa braucht mehr Gemeinsamkeit und,
wenn ich das so sagen darf, mehr Entschlossenheit, um
als europäischer Akteur in der transatlantischen Zusammenarbeit ein relevanter Partner zu bleiben oder zu werden.
({1})
Deutschland, so hört man es gelegentlich in den USA,
dürfe nicht zu einem Land der Neinsager werden; es
müsse bereit sein, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Ich weiß, meine Damen und Herren, das alles klingt eher
ein bisschen bedrohlich in den Ohren all jener, die weiterhin auf eine Politik der Zurückhaltung setzen. Diese
Politik war historisch begründet. An der Richtigkeit der
Gründe war und ist nicht zu zweifeln. Die Schlussfolgerungen müssen aber überdacht und den Realitäten der
heutigen Zeit angepasst werden. Für Europa und für
Deutschland in Europa gilt die Formel „pivot to reality“.
„Pivot to reality“ bedeutet nicht, die Prinzipien einer
wertorientierten Außen- und Sicherheitspolitik infrage
zu stellen. Die Orientierung an Werten ist konstitutiv für
das Selbstverständnis des Westens. Es ist aber eben auch
richtig, dass eine wertorientierte Außenpolitik an den oft
widrigen Realitäten nicht vorbeidiskutieren kann. Wir
müssen sie zur Kenntnis nehmen, nicht resignierend
oder zynisch, sondern in guter Weise pragmatisch.
Was, meine Damen und Herren, bedeutet das für die
praktisch-politische Arbeit der nächsten Jahre, vielleicht
Jahrzehnte?
Erstens. Die strategische Neuorientierung der US-Außenpolitik in Richtung Pazifik liegt nicht nur im amerikanischen Interesse. Auch Europa muss die geostrategischen Veränderungen in Richtung Pazifik zur Kenntnis
nehmen. Vor allem das exportorientierte Deutschland ist
an berechenbar stabilen Verhältnissen in Ostasien in besonderer Weise interessiert. Da es für die EU und einzelne Mitgliedstaaten der EU eine pazifische Machtprojektion nicht gibt, muss sie sich einmal mehr auf das
stabilisierende Potenzial der USA verlassen, insbesondere darauf, dass die USA wie auch China auf ein kooperatives Miteinander hinarbeiten und Konflikte vermeiden.
({2})
Zweitens. Deutschland hat Einfluss in den USA und
in China. Mit China verbindet uns eine, wie es heißt,
strategische Partnerschaft. Strategisch oder nicht - richtig ist, dass Deutschland aus chinesischer Sicht ein wichtiger Akteur ist, politisch und ökonomisch. Die Stimme
Deutschlands hat Gewicht in China. Das sollten wir in
Abstimmung mit unseren europäischen Partnern nutzen,
um unsere europäische Perspektive positiv zu Gehör zu
bringen - in China und darüber hinaus.
Drittens. Politisch muss es unser Ziel sein, die europäischen Lehren aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts global auszuwerten; will sagen: Der europäische
Gedanke von gemeinsamer Sicherheit und Sicherheitspartnerschaft könnte auch in anderen Weltregionen an
Bedeutung und Zustimmung gewinnen. ASEAN und
ASEAN-Staaten sind Ansprechpartner, um die wir uns
intensiv und hochrangig bemühen sollten.
Viertens. Deutschland ist ein Partner in Leadership,
zuerst und vor allem in Europa. In Europa gibt es heute
Schwierigkeiten rund um den Euro. Das eigentliche
Problem ist aber nicht der Euro, sondern das mangelnde
Bewusstsein von europäischer Zusammengehörigkeit
und Identität.
({3})
Wechselseitige Vorurteile und Ressentiments sind im
Verlauf der Euro-Krise überdeutlich zutage getreten. Es
wird schwer sein, neuerliche wechselseitige Verwundungen zu heilen.
Fünftens. Die Erfahrung eigener Unzulänglichkeit
sollte uns im Auftreten - ich betone: im Auftreten! - etwas bescheidener machen, wenn wir international agieren. Europäer, zumal wir Deutschen, haben eine Neigung zu, wenn ich das so sagen darf, missionarischen
Auftritten mit erhobenem Zeigefinger. Vor allem im
Umgang mit den neuen Akteuren in Asien wird uns das
immer wieder vorgehalten. Die Welt ist eben nicht so,
dass alle Staaten und Völker sich an gleichen universellen Werten orientieren. China zum Beispiel lehnt das
ausdrücklich und mit chinesisch-philosophischer Begründung ab. „Kommt uns bloß nicht mit Kant“, titelte
die FAZ, als sie über eine Philosophenkonferenz in
China berichtete. Gleichwohl müssen wir mit China wie
auch mit Russland oder mit Staaten der islamischen Welt
kooperieren, deren Wertvorstellungen und Verhalten in
Sachen Menschenrechte unseren europäischen Vorstellungen nicht entsprechen. Es geht nicht anders - das wissen wir -, auch wenn wir es gern anders hätten.
Zum Schluss erlauben Sie mir eine sehr persönliche
Bemerkung. Ich weiß, Dankbarkeit ist in der Politik
keine belastbare Größe. Als kindlicher Zeitzeuge der
letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre erlaube ich
mir aber bei dieser Gelegenheit ein Wort des Dankes an
die Amerikaner. Ohne sie wären wir nicht, wo wir heute
sind.
({4})
Ohne sie hätten wir weder die deutsche noch die europäische Teilung überwunden. Ich denke, wir sollten uns
hin und wieder an diese Wahrheit erinnern.
Vielen Dank.
({5})
Stefan Liebich hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Am 25. April 1945 haben sich an der Elbe bei Torgau
amerikanische und sowjetische Soldaten die Hand gereicht. Dieses historische Bild wurde gezeichnet anlässlich des gemeinsamen militärischen Sieges der AntiHitler-Koalition über das Naziregime.
Auch Deutsche in US-amerikanischer Uniform kamen damals in ihre Heimat zurück, die sie wegen Verfolgung und politischem Druck verlassen haben, weil sie
ein Leben in Freiheit und nicht in der Diktatur wollten.
Die Vereinigten Staaten von Amerika waren damals das
Land ihrer Wahl. Ich nenne hier beispielhaft Marlene
Dietrich, die vom Berliner Senat im Jahr 2003 dafür zur
Ehrenbürgerin ernannt wurde, oder auch den ehemaligen
Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages Stefan
Heym, dessen hundertsten Geburtstag wir im nächsten
Jahr feiern.
({0})
Die aktuellen transatlantischen Beziehungen begannen mit der Befreiung Deutschlands - ein guter Start,
wie ich finde. Die Anti-Hitler-Koalition ist schnell zerStefan Liebich
brochen. Deutschland wurde gespalten. Die USA haben
dem Westen unseres Landes mit dem Marshallplan eine
Perspektive heraus aus Hunger und Ruinen geboten.
Dieses Angebot wurde angenommen und war die Grundlage für das sogenannte Wirtschaftswunder. Deshalb
sind viele Menschen in unserem Lande den USA bis
heute zutiefst verbunden.
Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland
entschieden sich für eine feste Bindung an die USA.
Auch der Bundestag etablierte Strukturen enger Zusammenarbeit mit dem Kongress. Bald werden wir wieder,
wie in jedem Jahr, ein Treffen mit den Kolleginnen und
Kollegen aus Senat und Repräsentantenhaus haben. Es
wird das letzte Mal sein, dass unsere Parlamentariergruppe von Hans-Ulrich Klose angeführt wird. Sie sagten mir einmal, wie es Sie geprägt hat, dass die USA
nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg sofort junge
Leute wie Sie in ihr Land eingeladen haben. Das merkt
man. An dieser Stelle möchte ich Ihnen auch im Namen
meiner Fraktion recht herzlich für Ihre langjährige engagierte Arbeit danken.
({1})
Der Blick zurück ist wichtig. Kommende Beziehungen sind aber vor allen Dingen von den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft geprägt. Am Dienstag - es wurde hier natürlich angesprochen - haben die
Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten ihren
Präsidenten Barack Obama wiedergewählt. Viele, auch
hier bei uns im Land, hat das sehr gefreut. Wir haben
aber auch am Dienstag gesehen: Die USA sind immer
noch politisch tief gespalten. Dies ist ja nicht nur einfach
ein Klischee, sondern es ist die Wirklichkeit.
Wenn man sich die Abstimmungen angeschaut hat,
dann hat man gesehen: Es sind auf der einen Seite in
Maryland und Maine Cannabis legalisiert bzw. die Ehe
zwischen zwei Männern oder zwei Frauen gestattet worden - beides übrigens Punkte, die eine Mehrheit hier in
unserem Haus ablehnt -, auf der anderen Seite ist in Kalifornien die Todesstrafe bestätigt worden. In Florida
wurde abgelehnt, dass der Staat Krankenversicherungen
unterstützt, die Abtreibungen beinhalten. Es gab Kandidaten mit sehr seltsamen Auffassungen. Todd Akin aus
Missouri meinte, dass Schwangerschaften nach Vergewaltigungen sehr selten seien, weil der weibliche Körper
Wege habe, diese zu unterbinden, und dass deshalb Abtreibungen auch in so einem Fall nicht zulässig sein sollen. Zum Glück hat er seine Wahl verloren. Schön dagegen ist, dass mit Tammy Baldwin erstmals eine offen
lesbisch lebende Frau in den Senat gewählt wurde. Das
hat mich sehr gefreut.
({2})
Mit Barack Obama hat ein Präsident gewonnen, der
das Gefangenenlager in Guantanamo immer noch nicht
geschlossen hat, obwohl er es angekündigt hatte. Mangelnde Glaubwürdigkeit attestiert ihm daher völlig zu
Recht der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung.
Obamas Drohnenangriffe in souveränen Staaten brechen internationales Recht; die Tötung von Menschen,
die niemand verurteilt hat, können wir nicht einfach
hinnehmen. Dies ist nur die eine Seite. Er hat auch dafür
gesorgt, dass sich die USA international wieder abstimmen, in der UNO ordentlich ihre Beiträge bezahlen, er
hält den Klimawandel nicht für einen Scherz. Er setzt
sich für die Rechte von Migranten, von Lesben und
Schwulen ein. Und er wird als derjenige Präsident in die
US-Geschichte eingehen, der für den Großteil der Menschen in den Vereinigten Staaten eine Krankenversicherung organisiert hat.
Ich bin ganz ehrlich: Mir war die Entscheidung der
Bürgerinnen und Bürger in der vorletzten Nacht nicht
egal. Ich bin über die Wiederwahl von Barack Obama
trotz aller Kritik froh, da er die bessere Alternative war.
({3})
Ein Kandidat, der sagt, es sei nicht sein Job, sich um
die ärmere Hälfte der eigenen Bevölkerung zu kümmern
- Mitt Romney hat sich so geäußert -, aber die Unternehmenssteuern senken will, der außenpolitisch eher
noch im Kalten Krieg lebt, weil er Russland für eine Bedrohung hält, wäre aus meiner Sicht eine schlechtere
Wahl gewesen.
Die Welt hat sich dramatisch geändert. Klimawandel,
internationaler Terrorismus, Globalisierung - das sind
neue Herausforderungen. Aber die Antworten, die diesseits und jenseits des Atlantik gegeben werden, sind häufig immer noch die alten: Militär gegen Bedrohung und
zur Ressourcensicherung, Abbau sozialer Sicherung und
statt klarer Regeln durch den Staat freie Hand für Märkte
und Banken.
Barack Obama hat gestern in seiner Siegesrede in
Chicago von Werten gesprochen, die ein Land so voller
Unterschiede zusammenhalten sollen: Verantwortung
untereinander und künftigen Generationen gegenüber. Ich würde es Solidarität nennen. Er hat von Freiheit gesprochen und von Respekt.
Gestützt auf diese Werte können Europa, Deutschland
und die Vereinigten Staaten eine neue transatlantische
Partnerschaft begründen. Wir könnten zusammen den
Frieden in der Welt fördern, indem wir mutige Abrüstungsschritte unternehmen, zum Beispiel, indem man in
einem ersten Schritt die Atomwaffen aus Deutschland
abzieht.
({4})
Wir könnten die Armut weltweit bekämpfen, indem
Banken und Finanzmärkte mutig reguliert werden, zum
Beispiel, indem wir als ersten Schritt eine weltweite Finanztransaktionsteuer einführen. Wir könnten eine neue
internationale Sicherheitsarchitektur aufbauen, zum Beispiel, indem wir als ersten Schritt die OSZE, in der beide
Länder Mitglied sind, stärken. Wir könnten gemeinsam
im Nahen Osten eine Initiative dazu ergreifen, dass es
endlich zu einer Zwei-Staaten-Lösung kommt. Die
Aufnahme Palästinas als Vollmitglied bei den Vereinten
Nationen könnte hierfür ein erster Schritt sein.
({5})
Und wir könnten gemeinsam für die Achtung der Menschenrechte weltweit eintreten und deshalb eine Initiative ergreifen, Waffenexporte zu ächten. Der Stopp von
Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete könnte
hier ein erster Schritt sein.
({6})
Die Lösungen liegen also vor uns. Wir müssen es nur
schaffen, uns endlich von den Dogmen der Vergangenheit zu lösen.
Auch wir als Linke machen dazu in der nächsten Woche einen kleinen Schritt. Mancher denkt ja, wir Linke
seien antiamerikanisch.
({7})
Das ist falsch.
({8})
Am kommenden Dienstag nehmen unser Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi, unsere stellvertretende Fraktionsvorsitzende Cornelia Möhring und ich in New York City
an der Eröffnung des ersten US-Büros der RosaLuxemburg-Stiftung teil. Das war auch an der Zeit.
({9})
Vielen Dank.
({10})
Ruprecht Polenz hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte über die transatlantischen Beziehungen ist
im Grunde eine Debatte über unser außenpolitisches Koordinatensystem. Ich sage das deshalb, weil ich diese
Beziehungen von den etwas inflationär entstehenden
strategischen Partnerschaften unterscheiden möchte.
Die Vereinigten Staaten sind ein wesentlicher Bestandteil unseres außenpolitischen Koordinatensystems,
und zwar in dem Sinne, dass uns dieses Koordinatensystem Anhaltspunkte dafür gibt, wie wir andere Bereiche
einordnen und mit anderen außenpolitischen Themen
umgehen. In diesem Zusammenhang ist als zweite große
Koordinatenlinie die deutsch-französische Freundschaft
zu nennen, die wir im Rahmen des Weimarer Dreiecks
jetzt um die Achse nach Warschau verlängern und in die
europäische Einigung einbetten. Als dritte Koordinatenlinie - um den Rang deutlich zu machen - möchte ich
die Sonderbeziehung Deutschlands zu Israel anführen.
Das ist das außenpolitische Koordinatensystem Deutschlands.
Gute transatlantische Beziehungen sind also wichtig
für die Einordnung von Themen. Das ist in einer unübersichtlicher gewordenen Welt nicht immer einfach.
Warum aber ist es so wichtig, gute transatlantische Beziehungen zu haben, sodass wir bei anderen Themen die
Frage immer mit im Auge behalten: Welche Auswirkungen hat unser Verhalten in dieser oder jener Frage auf die
transatlantischen Beziehungen? Verbessert es sie, stärkt
es sie, oder würde es sie schwächen?
Außenpolitik heißt ja, dass wir unsere Interessen verfolgen und dass wir das von einer wertegeleiteten Basis
her tun. Nun können Werte und Interessen miteinander
in Konflikt geraten. Aber im Verhältnis zu den USA ist
es so, dass unsere Werte und unsere Interessen in sehr
hohem Maße übereinstimmen.
Sie sind nicht deckungsgleich oder identisch. Es gibt
durchaus Handelskonflikte mit den USA, es hat auch
durch den wirtschaftlichen Wettbewerb immer Situationen gegeben, in denen man bis hin zur Anrufung von
internationalen Schiedsgerichten um eine Klärung nachsuchen musste. Aber uns verbindet doch die Grundüberzeugung, dass Freihandel und Marktwirtschaft für die
Völker dieser Welt wohlfahrtsfördernd sind und dass wir
uns dafür gemeinsam einsetzen sollten.
Was die Werte angeht: Ja, es ist richtig: Wir versuchen, unsere amerikanischen Freunde davon zu überzeugen, die Todesstrafe endlich abzuschaffen. Wir haben
auch Probleme damit, zu verstehen, dass in Amerika
tatsächlich Menschen glauben, man könne ohne eine gesetzlich verpflichtende Krankenversicherung auskommen.
Aber trotzdem verbindet uns ein Freiheitsverständnis,
ein gemeinsames Verständnis der Menschenrechte, von
Rechtsstaat und Demokratie. Das ist zusätzlich zu den
historischen Erfahrungen die gemeinsame Basis, die uns
mit den Amerikanern verbindet.
Auch nach meiner Überzeugung sind die USA in der
multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts noch auf Jahrzehnte hinaus mit Abstand die Nummer eins. Sie erbringen gegenwärtig ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung
und verfügen über eine große Innovationskraft. Die Attraktivität ihrer wissenschaftlichen Einrichtungen ist
groß; 800 000 Studenten, die besten Köpfe aus aller
Welt, studieren in den USA. Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Die Amerikaner nutzen dieses Potenzial wesentlich intelligenter als wir, indem sie denen,
die nach dem Studium dort bleiben wollen, diese Möglichkeit eröffnen,
({0})
während wir, kaum hat man das Examen oder die Promotion abgeschlossen, diskret darauf hinweisen, dass
jetzt das Aufenthaltsvisum abgelaufen sei.
Amerika verfügt nach wie vor über eine große kulturelle Anziehungskraft. Nicht zu vergessen ist: Die USA
haben eine wachsende Bevölkerung. Die amerikanische
Bevölkerung wird bis 2030 um etwa 100 Millionen
Menschen wachsen; im gleichen Zeitraum wird Europa
100 Millionen Menschen verlieren. Herr Klose hat schon
betont, dass die USA auf lange Sicht auch die militärisch
stärkste Macht auf dieser Welt sind. Sie sind unser wichtigster Verbündeter, und die NATO ist die Klammer, mit
der wir unsere Sicherheit vom Bündnis mit den Amerikanern abhängig machen.
Es ist in der Debatte bereits angesprochen worden:
Die USA wenden sich dem Pazifikraum zu. Das ist auch
in unserem Interesse; denn die selbsttragenden, den Frieden stabilisierenden Strukturen, die in Europa in den
letzten 60 Jahren - denken Sie etwa an die Europäische
Union! - unter tatkräftiger Mithilfe der Amerikaner entstanden sind, fehlen in Asien völlig. Es gibt in Asien keinerlei vertrauensbildende, länderübergreifende Mechanismen oder Maßnahmen. Wir beobachten im Fernsehen, wie chinesische und japanische Schiffe vor einer
Insel fast kollidieren, und müssen wissen: Es gibt kein
rotes Telefon für Gespräche zwischen Peking und Tokio.
Das Fehlen solcher Strukturen verlangt danach, dass sich
Amerika als Ordnungsmacht diesem Raum zuwendet.
Das ist in unserem Interesse. Wir wenden uns diesem
Raum - das ist schon gesagt worden - in anderer Weise
ebenfalls zu.
Es ist hier schon darauf hingewiesen worden: Wir
müssen selber etwas dafür tun, die transatlantischen Beziehungen auch in Zukunft mit Leben zu erfüllen. Der
Gedanke einer transatlantischen Freihandelszone sollte
nicht nur auf dem Papier stehen; er muss jetzt mit Leben
erfüllt werden. Die Zeit ist reif dafür,
({1})
einen gemeinsamen Markt für über 800 Millionen Menschen zu schaffen, mit großen Wohlfahrtsgewinnen für
beide Kontinente. Gerade in der jetzigen Wirtschaftsund Finanzkrise sind solche Visionen und Perspektiven
notwendig.
Meine Damen und Herren, die transatlantischen Beziehungen, die Freundschaft zwischen Deutschland und
den USA, wollen gepflegt werden; sie müssen gelebt
werden. Unser Kollege Hans-Ulrich Klose hat das in
beispielhafter Weise über lange Jahre hinweg in vielfältigen Funktionen getan. Lieber Herr Klose, dafür möchte
auch ich mich ganz persönlich bei Ihnen bedanken. Ich
wünsche Ihnen weiterhin alles Gute.
({2})
Kerstin Müller hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa feiert mit den USA den wiedergewählten USPräsidenten. Hätten wir in Europa ihn wählen dürfen
- einige von Ihnen haben es schon gesagt -, wäre das Ergebnis wahrscheinlich fast ein sozialistisches geworden.
({0})
Überall in Deutschland und Europa haben die Menschen
mitgefiebert. Die allermeisten Umfragen ergaben, dass
90 Prozent Barack Obama die Daumen gedrückt haben.
Er hat es geschafft - und daher von mir und meiner Fraktion - Herr Liebich, ich bin da ganz offen - einen ganz
herzlichen Glückwunsch an den neu gewählten Präsidenten.
({1})
Warum elektrisiert uns diese Wahl so? Ich glaube, es
gibt zwei Gründe: Erstens. Der Typ ist einfach gut und
trotz allem irgendwie cool; das höre ich von vielen jungen Menschen. Zweitens. Die transatlantischen Beziehungen sind allen Unkenrufen zum Trotz tief in unserer
Gesellschaft und in unserer politischen Kultur verwurzelt.
Warum ist Obama nun so toll? Hat er nicht eine enttäuschende Bilanz aufzuweisen? Keine Antwort auf den
Klimawandel, anhaltende Kriege und Krisen, außer
Kontrolle geratene Finanzmärkte. Haben wir nicht alle
erwartet, er bringe das alles in Ordnung? Ja, das haben
wir erwartet. Aber wir haben dabei die Macht des amerikanischen Präsidenten überschätzt. Es wird nämlich
gerne vergessen, dass jeder Präsident stärker aussieht,
als er ist, dass er ohne den sehr mächtigen Kongress
- zumal, wenn im Repräsentantenhaus die Opposition
die Mehrheit hat - in vielen Fragen nicht alleine regieren
kann, vor allem wenn er es, wie Obama, mit einer Opposition zu tun hat, die nicht einmal den Anschein von Kooperationsbereitschaft erweckt und unter Anführung der
rechten Tea-Party-Bewegung zentrale Projekte des Präsidenten kategorisch blockiert.
Wenn wir also die überzogenen Erwartungen einmal
beiseitelassen, dann müssen wir feststellen, dass Obama
viele Erfolge vorzuweisen hat. Er hat zum Beispiel nach
der verheerenden Finanzkrise 2008 den wirtschaftlichen
Totalabsturz der USA verhindert durch ein 800 Milliarden Dollar schweres Konjunkturprogramm und zumindest den Einstieg in überfällige Regulierungen des Finanzsektors. Es war Obama, der die Bush-Ära der Antiterrorkriege beendet hat durch den Abzug aus dem Irak
und durch das absehbare Ende des Afghanistan-Einsatzes 2014. Unter ihm hat die Politik wieder die Oberhand
über das Militärische gewonnen, auch wenn wir sicherlich nicht mit allem einverstanden sind, was er gemacht
Kerstin Müller ({2})
hat. Schließlich - viele von Ihnen haben es erwähnt - hat
Obama mit seiner Gesundheitsreform den Mut bewiesen
- entgegen einiger seiner Berater, die gesagt haben: Das
wirst du nicht durchsetzen; lass die Finger davon -, eine
gesellschaftspolitische Zeitenwende einzuleiten, meines
Erachtens vergleichbar mit der Einführung des Wahlrechts für Frauen oder der Bürgerrechte für Schwarze.
Klug statt kühn hat Obama die Geschicke seines Landes vier Jahre geführt. Er ist und bleibt ein Ausnahmepräsident, auch nicht zuletzt deshalb, weil er der erste
Afroamerikaner ist, der dieses Staatsamt bekleidet. Vor
dem Hintergrund der grausamen Geschichte des Rassenhasses in den USA kann man deshalb die gesellschaftspolitische Wirkung seiner Präsidentschaft nicht hoch genug einschätzen. Sie hat Wirkung weit über die Grenzen
der USA hinaus - denken wir zum Beispiel an die Bilder
des Freudenfestes zu seiner Wiederwahl im Dorf seiner
Familie im kenianischen Kogelo.
Obama hat die Wahl gewonnen, weil er wie 2008 die
schwarze Bevölkerung zu 93 Prozent und die ethnischen
Minderheiten, etwa die Latinos, zu 71 Prozent hinter
sich versammeln konnte, weil ihn überwiegend junge
Menschen und Frauen gewählt haben. Er hat sich als erster Präsident für die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen. Er ist dafür scharf kritisiert worden, wie er mitten
im Wahlkampf dazu käme. Man hat das als großen Fehler eingeschätzt. Man muss schon sagen: Er verkörpert
ein modernes, liberales Amerika, und wir sind froh, dass
das von den Amerikanern bestätigt wurde.
({3})
Als wiedergewählter „Präsident der Hoffnung“ hat
Obama nun erfreulicherweise auch Gelegenheit, viele
seiner Projekte umzusetzen, deren Umsetzung bisher
nicht gelungen ist, zum Beispiel die Schließung von
Guantanamo. Vielleicht gibt es einen Wiedereinstieg in
die Debatte über die Verabschiedung eines Klimaschutzgesetzes, was aufgrund der Verhältnisse im Kongress
schwierig wird; es wäre aber wichtig. Vielleicht bringt er
die Reform des Einwanderungsrechtes voran. Ich meine,
wir sollten ihn bei seinen Vorhaben unterstützen, zum
Beispiel indem Europa beim Klimaschutz unter der Führung Deutschlands vorangeht, was leider von dieser
Bundesregierung nicht zu erwarten ist, aber notwendig
wäre.
({4})
Die Wahlen haben uns nicht nur wegen des spannenden Duells oder wegen unseres Lieblingskandidaten begeistert. Sie haben auch gezeigt, dass die transatlantischen Beziehungen keinesfalls ein siechendes Relikt des
Kalten Krieges sind. Das Wahlfieber hierzulande hat
deutlich gemacht, dass die Verbindungen zwischen den
USA und Europa auf allen gesellschaftlichen Ebenen
fester Bestandteil unserer politischen Kultur sind.
Herr Kollege Klose, auch ich möchte Ihnen an dieser
Stelle persönlich und für meine Fraktion für Ihren Einsatz für das transatlantische Verhältnis danken. Ich weiß
aus vielen Gesprächen in den USA, wie sehr Sie dort geachtet und respektiert werden. Das war und ist für uns
alle wichtig. Ich danke Ihnen sehr dafür. Ich bin sicher,
dass Sie hier weiter intensiv engagiert bleiben.
({5})
Ich glaube, dass ein gutes transatlantisches Verhältnis
angesichts der Herausforderungen einer multipolaren
Welt unerlässlich ist. Man könnte sagen: Obama hat ein
schwächeres Amerika in einer schier nicht zu regierenden Welt geführt - und das geht nicht ohne Partner. Herr
Stinner und Herr Mißfelder, diese Einsicht ist meines Erachtens seine größte Leistung. Es ist die Einsicht in die
Grenzen der amerikanischen Macht, die verbunden ist
mit dem Mut, diese Einsicht gegenüber den Partnern und
der Welt auch offensiv zu vertreten. Das war seine Leistung; denn die Vorgängerregierungen sind ganz anders
vorgegangen. Da hieß es: „Hoppla, wir sind wieder
wer“, und: „nicht ohne uns“, verbunden mit verheerenden Kriegen. Diese Einsicht durchgesetzt und verankert
zu haben, ist eine große Leistung. Es ist sozusagen Multilateralismus aus der Einsicht in die Notwendigkeit,
dass kein Staat der Welt, auch nicht die USA, die neuen
Herausforderungen alleine meistern kann. Das war verbunden mit einem maßvollen Auftreten und mit einem
Ton der Selbstbeschränkung, und das war wichtig.
Was heißt das für Europa? Herr Kollege Klose, ich
stimme Ihnen zu: Ich glaube, es hilft nicht, darüber zu
jammern, dass es eine Hinwendung zum pazifischen
Raum gibt. Diese Hinwendung fordert vielmehr von Europa, sich endlich zusammenzuraufen. Die neue strategische Ausrichtung ist keine Abkehr von Europa. Sie bedeutet vielmehr, dass die Europäer zum Beispiel in den
Krisenregionen in der Nachbarschaft, von Osteuropa bis
nach Afrika, noch mehr Verantwortung übernehmen,
also ein transatlantisches Burden Sharing. Mit Obama
kann eine solche Politik der gemeinsamen Verantwortung gelingen, aber nur, wenn Europa seine Probleme
gemeinsam anpackt und weitere Schritte in Richtung einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik unternimmt, um die EU endlich als ernstzunehmenden Global
Player zu etablieren.
Frau Kollegin.
Ich bin gleich fertig. - Das Beste kommt erst noch,
hat Barack Obama gesagt. Wir sollten auf dem Teppich
bleiben. Dann gibt es gute Chancen, dass wir das transatlantische Verhältnis noch verstärken können.
Danke schön.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Thomas Silberhorn das Wort.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Präsidentschaftswahlen in den USA, die nach den
Umfragen über Wochen hinweg ein Kopf-an-Kopf-Rennen waren, haben nicht nur dort, sondern in ganz Europa
und in der ganzen Welt für große Aufmerksamkeit gesorgt. Obama sorgte allerdings schon bei seinem ersten
Wahlerfolg in unserem Land und in Europa für große
Aufmerksamkeit. Das kam auch durch die Verleihung
des Friedensnobelpreises zu einem sehr frühen Zeitpunkt
seiner Regierungszeit zum Ausdruck. Es zeigt sich, dass
für viele Menschen in der Welt - auch bei uns in
Deutschland - große Hoffnungen mit dem Präsidenten
verbunden sind, der als erster Präsident afrikanische
Wurzeln hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit gestern
wissen wir, dass Präsident Barack Obama vier weitere
Jahre regieren kann. Ich gratuliere dazu, und ich freue
mich darüber, dass es ein eindeutiger Regierungsauftrag
ist. Er mag hoffentlich dazu beitragen, die Spaltung der
Gesellschaft, die nach den Umfragen in diesem Kopf-anKopf-Rennen zum Ausdruck gekommen ist, etwas zu
überwinden. Diese Wiederwahl wird es mit sich bringen,
dass wir an die gewachsenen Kontakte der letzten Jahre
anknüpfen können und dass wir die Kontinuität in den
transatlantischen Beziehungen nutzen können, um unser
Verhältnis zu vertiefen.
Die transatlantischen Beziehungen sind neben der europäischen Integration die tragende Säule unserer Außenpolitik. Das liegt nicht nur daran, dass diese Beziehungen so umfassend angelegt sind, sondern vor allem
daran, dass wir ein gemeinsames Gerüst an Werten und
Interessen verfolgen. Es gibt ein tiefes gemeinsames
Verständnis zwischen unseren amerikanischen Freunden
und uns darüber, dass Prinzipien wie Freiheit und Demokratie über den Westen hinaus Anziehungskraft besitzen.
Natürlich ist die transatlantische Zusammenarbeit darüber hinaus auch wichtig, weil es eine ganze Reihe von
drängenden globalen Herausforderungen gibt, die wir
gemeinsam angehen müssen: von der Bekämpfung des
internationalen Terrorismus, von Krankheit und Armut
über die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen
bis hin zum Klimaschutz. All das müssen wir auf die internationale Agenda setzen. Wir müssen auch den Versuch unternehmen, gemeinsame Initiativen zu starten.
Die Sicherheitspolitik wird sicher ein großer Teil unserer Zusammenarbeit bleiben. Ich glaube, es ist wichtig,
zu sehen, dass nicht nur die gemeinsame Partnerschaft
in der NATO, sondern auch die NATO als solche von
außerordentlich hoher Bedeutung für uns bleibt, nicht
nur, weil wir damit gemeinsamen Bedrohungen begegnen können, sondern auch, weil sich in diesem Bündnis
unsere gemeinsamen Werte und Grundüberzeugungen
immer wieder neu konkretisieren. Wir sollten die Zusammenarbeit im Bündnis auch deshalb ernst nehmen,
weil sich aus einer erfolgreichen Zusammenarbeit im
Bündnis eine ganze Reihe von Konsequenzen für den
Ausbau der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Europäischen Union ergeben können.
Was die vermeintliche Abwendung der USA von Europa und die Hinwendung zum Pazifik angeht, rate ich
zu einer nüchternen und sehr gelassenen Betrachtungsweise. Natürlich stellen das Bevölkerungswachstum und
das Wirtschaftswachstum in Asien für die Vereinigten
Staaten eine Herausforderung dar. Deswegen ist die Hinwendung der USA zu diesem Raum eine ganz natürliche
Konsequenz. Das ist nicht zugleich eine Abwendung
von Europa; im Gegenteil: Die amerikanische Außenministerin hat im letzten Jahr in München zu Recht betont,
dass Europa für die Vereinigten Staaten in Sicherheitsfragen der erste Ansprechpartner bleibt.
Wir sollten den Kurswechsel der Vereinigten Staaten
in der Außenpolitik vielmehr als eine eigene Aufgabe
verstehen. Wir sollten in die Rolle hineinwachsen, die
nicht nur die Amerikaner von uns erwarten, sondern die
wir auch von uns selbst erwarten. Wir sprechen in der
Europäischen Union immer gerne über den Ausbau der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Diesen Worten müssen wir jetzt Taten folgen lassen. Wir entscheiden selbst, wie wir unsere Rolle in Zukunft ausfüllen.
Lassen Sie mich noch anführen, dass wir neben den
sicherheitspolitischen Fragen in Zukunft auch die wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen Europa und
den USA in viel stärkerem Maße auf die Tagesordnung
setzen müssen. Auch auf diesem Gebiet gibt es gemeinsame Herausforderungen: von der Frage, wie man neue
Arbeitsplätze schaffen kann, über die Frage, wie man die
industrielle Produktion erhalten kann, bis hin zu Fragen,
wie wir Umwelttechnologien und Ähnliches sinnvoll
nutzen können. Ich denke, Deutschland hat diesbezüglich ein Angebot zu unterbreiten: Wir haben wie die Vereinigten Staaten eine Marktwirtschaft; aber wir haben
eine spezifische Tradition, die soziale, die ökologische
und die fiskalische Dimension unseres Wirtschaftens zu
ordnen - anders, als die Amerikaner dies tun. Ich sehe
mit Interesse, dass die Vereinigten Staaten Fragen der
sozialen Sicherung sehr streitig und heftig diskutieren,
für die wir in Deutschland seit langem Lösungen haben.
Ich verfolge mit großer Aufmerksamkeit, dass die umweltpolitischen Fragestellungen in den USA immer
ernsthafter diskutiert werden. Wir werden auch über die
fiskalischen Herausforderungen, zum Beispiel hinsichtlich der Regulierung der Finanzmärkte, gemeinsam diskutieren müssen.
Wir haben in Deutschland eine hohe gesellschaftliche
und wirtschaftliche Stabilität - mit Sicherungssystemen,
mit einem starken Mittelstand, mit Zukunftstechnologien.
Ich glaube, das ist eine gute Basis für die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Wir sind ein verlässlicher Partner und ein Partner, der mit Selbstbewusstsein
diese Beziehungen pflegt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Jetzt spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Beyer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die transatlantischen Beziehungen waren in der Vergangenheit nie
wirklich ein Selbstläufer. Zwischen Kennedy einerseits
und Adenauer andererseits herrschte seinerzeit Misstrauen, zwischen Schmidt und Carter Funkstille. Die
Welt hatte damals klarere Strukturen als heute; Freund
und Feind waren klar definiert. Das ist Teil unserer gemeinsamen transatlantischen Geschichte.
Es bedarf einer westlichen Selbstbehauptung. Europa
hat dabei zu begreifen, dass unser Einfluss nicht am Nordrand des Mittelmeeres endet, sondern am Südrand der
Sahara. Wir Deutsche scheuen uns vor geografischen
Debatten, weil da Großräumigkeit mitschwingt, gewissermaßen der Wiener Kongress. Europa und Amerika
müssen mehr kooperieren. - Das sind richtige Worte;
aber sie stammen nicht von mir. Sie stammen von einem
geschätzten Kollegen des Hauses, von Hans-Ulrich
Klose, den wir zu Recht mit der Ehrenbezeichnung
„Atlantiker“ titulieren. Damit reiht sich Hans-Ulrich
Klose in eine Reihe von großen Persönlichkeiten ein, die
sich in besonderem Maße um die transatlantischen Beziehungen verdient gemacht haben. Ich nenne einen
Namen: Gerhard Schröder. Nein, nicht der Gerhard
Schröder der SPD, sondern der CDU-Politiker. Er war
Innenminister, Außenminister und Verteidigungsminister dieser Bundesrepublik. Ich freue mich, dass ich heute
den Wahlkreis, den er damals im Deutschen Bundestag
vertreten hat, vertreten darf. Der Kollege Klose schlägt
mit seinen Worten einen ganz ähnlichen Ton an wie der
ehemalige deutsche Botschafter in den Vereinigten Staaten Wolfgang Ischinger, der vor wenigen Tagen in der
Zeitung Folgendes gesagt hat: Wir sind strategischer
Partner, wahrscheinlich der einzige wirkliche Partner der
USA. Auf wen sonst sollte man sich stützen bei internationalen Krisen und globalen Fragen, wenn nicht auf uns
Europäer? - Ja, es ist richtig, wir brauchen eine Stärkung
der transatlantischen Zusammenarbeit, und zwar mit einer gemeinsamen strategischen Politik. Das meine ich
nicht nur in Bezug auf Asien, insbesondere auf China,
sondern auch in Bezug auf die Herausforderungen in anderen Feldern. Ich nenne beispielsweise den Nahen Osten,
ich nenne Syrien, ich nenne die Fortführung der Rüstungskontrolle. Ich nenne den Iran als Politikfeld. Ich
nenne den Zugang zu Rohstoffen und eine gemeinsam
abgestimmte Afrika-Politik als Beispiele weiterer möglicher Handlungsfelder im transatlantischen Bereich.
Mit der Wiederwahl Barack Obamas als Präsident der
Vereinigten Staaten stehen die Zeichen klar auf Kontinuität. Das heißt sicherlich nicht - dies trage ich mit großer
Überzeugung vor -, dass in Washington auf eine globale
Machtverschiebung gesetzt wird, also weg vom Atlantik
hin zum Pazifik. Nein, es geht um - wir haben es schon
mehrfach gehört - eine Ausbalancierung des Verhältnisses. Es ist im beiderseitigen Interesse, im europäischen
wie im amerikanischen, hier einen Gleichklang zu finden.
Nie standen die Zeichen günstiger als heute für Europa, sich als verlässlicher Partner zu beweisen und eben
nicht nur als Verwerter amerikanischer Sicherheitsgarantien zu agieren. Es bietet sich aber auch - ich möchte sagen: vor allem - die Aussicht auf eine transatlantische
Wirtschaftsinitiative, von der wir hier schon mehrfach
gehört haben. Hierfür haben wir als Union seit längerem
mit sehr großer Intensität geworben. Wir waren es, die
im Mai dieses Jahres einen hochkarätig besetzten internationalen Kongress hier im Hause veranstaltet haben
und damit anlässlich des fünfjährigen Bestehens des
Transatlantischen Wirtschaftsrats den Diskurs mit einer
neuen Dynamik bewegt haben.
({0})
Ich freue mich, dass allen Unkenrufen zum Trotz
- ich nenne das Unwort vom angeblichen Continental
Drift - die Bemühungen für die Idee einer umfassenden
transatlantischen Wirtschaftszone Unterstützung auf allerhöchster politischer Ebene erfahren. Die Weiterentwicklung der transatlantischen Wirtschaftsintegration verspricht den Wachstums- und Jobmotor in Europa und in
den USA weiter zu befeuern.
Es gibt Probleme, insbesondere im Bereich der nichttarifären Hemmnisse und bei den unterschiedlichen
Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei Gütern, bei
Dienstleistungen, beim Handel, bei Innovationen und Investitionen. Dies verursacht jedes Jahr beidseits des Atlantiks, in Europa wie in den USA, Kosten in mehrfacher
Milliardenhöhe, die völlig unnötig sind. Die Verhandlungen zwischen der EU und Kanada über die Errichtung einer
Freihandelszone sollen bis zum Ende des Jahres erfolgreich abgeschlossen werden. Diese könnte als Blaupause
für eine transatlantische Freihandelszone dienen. Die
Schwierigkeiten, die es hier noch zu überwinden gilt,
müssen wir anpacken, damit es für eine Befeuerung des
Wachstumsmotors eine Perspektive gibt.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Die transatlantischen Beziehungen waren, wie ich eingangs erwähnte, nie wirklich ein Selbstläufer. Aber nie
war die Ausgangssituation für eine gleichwertige Partnerschaft, für eine Partnerschaft auf Augenhöhe, so
günstig wie heute. Nutzen wir sie für eine gemeinsame
globale Strategie eines geschlossenen Westens im Wandel der Welt!
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der
SPD mit dem Titel „Für eine Neubelebung und Stärkung
der transatlantischen Beziehungen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf DruckVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
sache 17/10169, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9728 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Für die Beschlussempfehlung haben die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke gestimmt, dagegen
die SPD-Fraktion; Bündnis 90/Die Grünen haben sich
enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur ({1}) auf Grundlage
der Resolution 1769 ({2}) des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und
folgender Resolutionen, zuletzt 2063 ({3})
vom 31. Juli 2012
- Drucksachen 17/11036, 17/11389 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Jan van Aken
Kerstin Müller ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11398 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat für die FDP-Fraktion der Kollege
Joachim Spatz.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind in diesem Jahr im sechsten Jahr des Hybrideinsatzes in Darfur, bei dem die Vereinten Nationen zusammen mit der Afrikanischen Union im Westen des Sudan
für Sicherheit sorgen. Die Lage ist nach wie vor fragil.
Nach wie vor müssen wir den Schutz der Zivilbevölkerung mit militärischer Präsenz garantieren. Nach
wie vor müssen wir den Zugang für humanitäre Hilfe mit
militärischer Präsenz sicherstellen. Daher beantragt die
Bundesregierung, diesen Einsatz zu verlängern.
Die Lage ist, wie ich sagte, nach wie vor fragil; die
politischen Fragen sind noch immer ungelöst. Es muss
unseren Soldatinnen und Soldaten möglich sein, zum eigenen Schutz Waffen einzusetzen. Deshalb braucht es
für diesen Einsatz ein robustes Mandat gemäß Kapitel VII der UN-Charta.
Wir beteiligen uns an diesem Einsatz mit einem relativ bescheidenen Kontingent von zurzeit zehn Soldatinnen und Soldaten und vier Polizeibeamten, ausgehend
von einer Obergrenze von 50 Soldaten und 15 Polizisten.
Man ist vor allem in Stäben unterwegs und nicht direkt
in Kampfhandlungen eingebunden. Trotzdem ist es ein
wichtiger Einsatz. Die Kompetenzen unserer Soldaten
im Hinblick auf Logistik, Ausbildung, Personal und die
Bereitstellung von Geoinformationen sind geschätzt,
wenn es darum geht, die Truppen anderer Truppensteller
entsprechend zu befähigen.
Wir sind bei diesem Einsatz auch präsent, um ein
Umfeld zu schaffen, in dem die Ergebnisse des DohaAbkommens umgesetzt werden können. Mit einzelnen
Rebellengruppen - leider nicht mit allen - gibt es bereits
Vereinbarungen. Es geht auch darum, eine Atmosphäre
zu schaffen, in der Initiativen wie die von Thabo Mbeki,
der mit anderen Rebellengruppen spricht, umgesetzt
werden können. All das braucht Zeit. Um dieses Window of Opportunity offen zu halten, ist leider militärische Präsenz notwendig.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit zwei überragende Themen ansprechen.
Das erste Thema. Neben der Notwendigkeit der militärischen Präsenz ist die nach wie vor existierende Uneinsichtigkeit der Regierung in Khartoum bezüglich eines wesentlichen Faktors zu erwähnen, dass nämlich die
Regierung in Khartoum nach wie vor nicht bereit ist, die
peripheren Regionen des Sudan, sei es Darfur, sei es
Südkordofan, sei es die Region Blauer Nil, und die Bevölkerungen, die dort leben, wirklich ehrlich an der
Macht und am Reichtum des Landes teilhaben zu lassen.
Solange diese Einsicht nicht vorhanden ist, werden
die Probleme im Grunde nicht gelöst sein. Man setzt Gewalt ein - nicht nur in Darfur -, bombardiert Dörfer,
zum Beispiel in der Region Blauer Nil, und löst Flüchtlingsbewegungen in Richtung Süden des neu gegründeten, auch fragilen Südsudan in der Größenordnung von
über 100 000 Menschen aus. Solange man eine solche
Politik macht, ist man letztendlich nicht friedensfähig.
Trotzdem setzt die Weltgemeinschaft auch hier auf Verhandlungen. Sie ist aber eben gezwungen, auch militärisch präsent zu sein.
Das zweite überwölbende Thema ist, dass wir nicht
nur im Sinne der Unterstützung der UNAMID-Mission
tätig sind, sondern unser Engagement bei dem Kofi
Annan International Peacekeeping Training Centre, das
wir in Ghana unterhalten, führt dazu, dass eben auch
Polizeibeamte aus Afrika, zum Beispiel aus Sierra
Leone, trainiert werden, um dann in Darfur eingesetzt zu
werden.
Das alles ist ein Teil unserer Unterstützung für den
Aufbau eigenständiger Friedens- und Sicherheitsstruktu24764
ren und einer eigenständigen Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Afrika.
Ich denke, es muss insgesamt unser Ziel sein, dass wir
die Afrikaner selbst Stück für Stück befähigen, in ihrer
jeweiligen Region, ob das Ostafrika oder die Region
ECOWAS ist, die ja jetzt leider an anderer Stelle Bedeutung und Berühmtheit erlangt hat, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Es muss eine Kombination entstehen:
Zwar mit unserer Hilfe, aber doch unter Beachtung der
African Ownership - es geht um das große und wichtige
Stichwort Eigenverantwortung - müssen sie in der Lage
sein, ihre eigenen Dinge zu regeln.
({0})
Das unterstützt die Bundesregierung seit Jahren. In
diesem Gesamtbild aller Herausforderungen ist diese
Mission ein Baustein. Deswegen werbe ich um die
Zustimmung dieses Hauses für eine Verlängerung der
UNAMID-Mission.
Danke schön.
({1})
Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 15. November 2007 hat der Deutsche Bundestag zum ersten
Mal die Beteiligung an der von den Vereinten Nationen
und der Afrikanischen Union gestellten Friedenstruppe
für Darfur, also im Sudan, bewilligt. Deutschland entsendet seitdem Soldaten und Polizisten in die Krisenregion im Westsudan.
Nun liegt der Antrag der Bundesregierung vor, die
Beteiligung an der Operation UNAMID bis zum 31. Dezember 2013 zu verlängern, natürlich nur, sofern ein
Mandat des UN-Sicherheitsrates vorliegt. Die SPD ist
und bleibt ein zuverlässiger außen- und verteidigungspolitischer Partner. Das gilt gegenüber der Bundesregierung, vor allem jedoch gegenüber den Truppen und
Kräften, die ihren Dienst in den verschiedenen Einsatzgebieten verrichten.
Stellvertretend für die SPD-Bundestagsfraktion
möchte ich heute den Soldatinnen und Soldaten sowie
den weiteren Beteiligten an UNAMID unseren Dank
aussprechen.
({0})
Ihre Arbeit dort ist wichtig und wird hoch geachtet. Sie
tragen dazu bei, diese krisengeschüttelte Region langfristig sicherer zu machen und eine noch größere humanitäre Katastrophe zu verhindern. Ich denke, das verdient unser aller Respekt und Dank.
Die SPD weiß um die internationale Verantwortung
Deutschlands und hat friedenbringende Einsätze stets
unterstützt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr und die
weiteren Einsatzkräfte nehmen bei UNAMID unsere
Verantwortung in der internationalen Staatengemeinschaft wahr. Sie nehmen die Verantwortung gegenüber
den Menschen in Not wahr, gegenüber den Parteien, die
den Frieden wollen, und natürlich auch gegenüber unseren Bündnispartnern. Sie agieren verantwortungsvoll,
konsequent und - ich denke, man kann dies sagen - mit
höchster Professionalität. Wir möchten, dass dies in der
Krisenregion Darfur auch im Jahr 2013 so bleibt.
Kernauftrag von UNAMID ist und bleibt der Schutz
der Zivilbevölkerung. Zusätzlich flankiert UNAMID das
humanitäre Engagement vor Ort, unterstützt und achtet
auf die Einhaltung von vertraglichen Übereinkünften,
achtet auf die Einhaltung von Menschenrechten.
UNAMID leistet auch Unterstützung für die DarfurFriedensabkommen vom Mai 2006 und Juli 2011. Die
UN und damit auch die Bundesrepublik Deutschland
sind Partner der Afrikanischen Union bei der Umsetzung
und bei der Einhaltung dieses schwierigen Prozesses.
Ziel sind ein friedliches Darfur und Frieden in Sudan.
Was tun wir ganz konkret? Zugegeben, unser eigener
Beitrag - das ist schon erwähnt worden - ist nur eine
kleine Truppe, die überwiegend in Städten tätig ist. Zum
Beispiel tragen über 200 Patrouillen im Durchschnitt
täglich zu einem besseren Sicherheitsgefühl bei. Deutsche Polizisten stehen in Ghana ihren afrikanischen
Kollegen bei der polizeilichen Ausbildung zur Seite.
Der UNAMID-Einsatzblock der Bundeswehr bestätigt, dass das deutsche Engagement in der Mission sehr
positiv aufgenommen wird, auch wenn die DarfurRegion im Westen des Sudan noch ein gutes Stück weit
weg ist vom Frieden. UNAMID zeigt Wirkung. Der Weg
ist richtig, und wir müssen ihn gemeinsam mit unseren
beteiligten Partnern weitergehen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Pläne und Ideen
entstehen immer nur in einer angstfreien Umgebung.
Der Kaufmann, der seine Waren zum Markt bringt, die
Köchin, die in der Straße ihre Speisen anbietet, oder die
Kinder, die gemeinsam spielen wollen, sie alle haben
ihre Träume, wollen arbeiten und sind voller Energie, alles in die Tat umzusetzen. Mehr Sicherheit bedeutet, die
Kraft und den positiven Willen der Menschen in Darfur
für Gutes einsetzen zu können.
Im Frieden kann man gestalten, Krieg und Angst ersticken Hoffnung und Tatendrang. Die Region Darfur
braucht den Frieden und die positive Kraft der dort lebenden Menschen dringend. Mit UNAMID wollen wir
dabei helfen, diese Kräfte und Energie freizusetzen.
Auch aus diesem Grund müssen wir weiterhin in Darfur
präsent sein.
Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede am
25. Oktober 2012 in diesem Haus bereits die schlimmen
Zahlen genannt: über 300 000 Tote zwischen 2003 und
2008, 2,5 Millionen Vertriebene und - so darf ich ergänzen - weitere 2 Millionen auf Hilfe angewiesene Menschen. Diese Zahlen sind Warnung, den Konflikt nicht
auf die leichte Schulter zu nehmen. Der Minister sagte
bei gleicher Gelegenheit:
Der Darfur-Konflikt ist eine der furchtbarsten Katastrophen des letzten Jahrzehnts.
Und:
Der Konflikt hat den Sudan weiter destabilisiert,
und er hat sich zeitweise auch auf die Nachbarländer, Tschad und die Zentralafrikanische Republik,
ausgeweitet.
Das ist ein Statement, das uns in unserer Meinung zusätzlich unterstützt, dass eine konsequente Erfüllung des
Mandats notwendig und eine gute Strategie ist.
Die Bundestagsfraktion der SPD unterstützt deshalb
das Mandat mit Dank an die Frauen und Männer in
Darfur, die dort eine hervorragende Arbeit unter oftmals
schwierigen Bedingungen leisten. Wir tun das in der
Überzeugung, dass man in der internationalen Staatengemeinschaft auf die Bundesrepublik Deutschland als verlässlichen starken Partner zählen kann. Diese Mission ist
ein ausgezeichnetes Beispiel, wie das Konzept der vernetzten Sicherheit auch in einem Einsatz unter dem Dach
der UN funktionieren und Gutes bewirken kann. Daran
wollen wir konsequent weiterarbeiten.
Vielen Dank.
({2})
Johannes Selle hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann nahtlos an
Kollegin Evers-Meyer anschließen: Der Darfur-Konflikt
gehört zu den furchtbarsten aktuellen Katastrophen.
Zwischen 2003 und 2008 verloren Hunderttausende
Menschen ihr Leben, und 2,5 Millionen Menschen wurden vertrieben. 2007 wurde das UN-Mandat für
UNAMID beschlossen. Aufgabe ist im Wesentlichen,
die Bewegungsfreiheit der Helfer zu sichern, die Bevölkerung zu schützen und ein Friedensabkommen zu begleiten.
Mit dieser Mission, die wesentlich auf den Schultern
der Afrikanischen Union ruht, konnte der Konflikt seit
2008 eingedämmt werden. Die Mission ist immer noch
mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, aber die Gewalt ist zurückgegangen. Flüchtlinge kehren teilweise
wieder in ihre Heimat zurück. Einheimische haben jetzt
ein politisches Mitspracherecht in der regionalen Verwaltung, der „Darfur Regional Authority“.
Die Basis dafür wurde im Doha-Friedensabkommen
von 2011 gelegt, leider nur mit einer Rebellengruppe,
der „Liberation and Justice Movement“. Die Rebellengruppe „Justice and Equality Movement“, die bisher als
die militärisch stärkste galt, hat sich nach dem Tod ihres
Führers Khalil Ibrahim gespalten. Teile der JEM wollen
jetzt mit der Regierung verhandeln, andere haben sich
mit der SPLM-Nord zur „Sudan Revolutionary Front“
zusammengeschlossen und wollen die Regierung in
Khartoum stürzen.
Der brüchige Zusammenschluss von Rebellenorganisationen zur „United Resistance Front“ sorgt für zusätzliche Unruhe in der Region. Die Rückzugsgebiete im
Tschad dienen immer wieder dazu, Angriffe auf die
Zivilbevölkerung zu starten. Auch UNAMID selbst ist
immer wieder das Ziel von Angriffen. Das zeigt, wie
komplex die Zusammenhänge im Sudan insgesamt sind
und dass sie als Ganzes betrachtet werden müssen.
Erschreckende Berichte erreichen uns in den letzten
Tagen. Einige deutsche Hilfsorganisationen beklagen
sich darüber, dass ihre Mitarbeiter keinerlei Reisegenehmigungen von der Zentralregierung für Projektbesuche
erhalten. Die Sicherheitslage habe sich wieder verschlechtert. Projektbesuche in Krankenstationen und
Kliniken in Norddarfur stellen ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Immer wieder flammen Kämpfe zwischen Rebellengruppen oder zwischen Rebellen und der
sudanesischen Regierung auf. UNAMID bleibt daher bis
auf weiteres als stabilisierendes Element unverzichtbar.
Die Sicherheitslage in Darfur kann sich nur durch
UNAMID verbessern.
Uns ist es ein großes Anliegen, dass die Afrikanische
Union in die Friedenssicherung einbezogen wird. Die
Afrikanische Union selbst ist sich der Verantwortung bewusst, die sie gerade in solchen Konflikten übernehmen
muss. Dazu begrüße ich insbesondere den Beitrag der
Bundesregierung für die Ausbildung afrikanischer Staaten und Polizisten im Kofi-Annan-Training-Center in
Accra.
Ich war Ende August dieses Jahres in Khartoum. Dort
traf ich zusammen mit dem Kollegen Rebmann den verantwortlichen Staatsminister der Zentralregierung für
Darfur, Ghazi al-Attabani, Chef der Regierungspartei
NCP. Unmissverständlich machten wir deutlich, dass der
Schutz der Zivilbevölkerung in Darfur in erster Linie der
sudanesischen Zentralregierung obliegt. Al-Attabani
räumte Versäumnisse ein.
Bislang hat Khartum keine größeren Investitionen in
Darfur getätigt oder nationale Entwicklungsprogramme
aufgelegt, die die Darfur-Provinz stärker an die Zentralregierung binden würden. Für die nähere Entwicklung
favorisiert der Staatsminister landwirtschaftliche Projekte und die Schaffung von lokalen Serviceeinrichtungen. Uns gegenüber jedenfalls signalisierte er Kooperationsbereitschaft in den Fragen: Was kann getan werden,
um der Krise Herr zu werden? Wie kann die rohstoffreiche Region befriedet und entwickelt werden? Man benö24766
tige für Darfur einen Strategieplan sowie Investitionen in
die Landwirtschaft. Hier sollte sich Deutschland einbringen. Deshalb ist eine deutsche Beteiligung an der Verlängerung des UNAMID-Einsatzes wichtig.
Mein Eindruck ist: Die Bevölkerung hat die gewaltsamen Machtkämpfe satt. Die Menschen sehnen sich nach
Mitsprache und Entwicklung. Ich wünsche mir, dass sich
Deutschland aktiv am Wiederaufbau in Darfur beteiligt.
Katar plant im Dezember eine Konferenz zum Wiederaufbau in Darfur. Das ist die Gelegenheit. Aber ohne Sicherheit gibt es keinen Wiederaufbau. UNAMID wurde
von den Vereinten Nationen bereits verlängert. Damit ist
diese Mission nicht gescheitert, auch wenn noch viel zu
tun bleibt.
Deutschland ist der einzig verbliebene NATO-Partner mit momentan 14 Personen. Deutschland stärkt afrikanische Peacekeeping-Fähigkeiten vor allem durch den Einsatz deutscher Soldaten und Polizisten vor Ort. „Das
Ausmaß, in dem unsere Anwesenheit wahrgenommen
wird, ist nicht nur überraschend; es zeigt uns auch, dass
das deutsche Engagement in der Mission sehr positiv
aufgenommen wird“, berichtet ein Stabshauptmann aus
Potsdam über die Mission. „Meine Aufgabe besteht im
Aufbau der Geländeanalysefähigkeit. Diese auftragsbezogene individuelle Analysekompetenz bewertet alle
räumlichen Einflussfaktoren für die operative Entscheidungsfindung und gehört zu den entscheidenden Leistungen einer geostrategischen Beratungsstelle. Diese Fähigkeit fehlt derzeit in UNAMID. In Absprache mit dem
Chief entwerfe ich mit meinen Mitarbeitern daher ein
Konzept für ein Team ‚Geländeanalyse‘, um so den operativen Bereich unterstützen zu können“, so der Stabshauptmann aus Potsdam weiter.
Ich möchte dem Stabshauptmann zusammen mit allen
Soldaten und Polizisten, die dort unter schwierigen Bedingungen ihren Dienst leisten, Dank und Anerkennung
aussprechen. Im letzten Jahr wurde dieses Mandat für
die deutsche Beteiligung an UNAMID von allen Fraktionen in großer Geschlossenheit getragen. Die Mission hat
- so meine ich - diese Geschlossenheit verdient. Ganz
sicher haben die Menschen in Darfur sowie unsere Bundeswehr- und Polizeikräfte diese Geschlossenheit verdient. Deshalb werbe ich um Ihre Zustimmung.
({0})
Kathrin Vogler hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Heute wollen Sie das Bundeswehrmandat
für die gemeinsame Mission der Afrikanischen Union
und der Vereinten Nation in Darfur, kurz UNAMID, zum
fünften Mal verlängern. Diese Mission wurde vom UNSicherheitsrat im Jahr 2007 beschlossen, um das damalige Friedensabkommen zwischen der sudanesischen
Armee und verschiedenen Rebellentruppen zu unterstützen. Inzwischen gibt es seit 2011 ein neues Friedensabkommen. Aber auch dieses hat denselben Geburtsfehler wie alle vorangegangenen; denn es bezieht nicht alle
Milizen ein, die in Darfur gegeneinander kämpfen. Die
JEM als stärkste Rebellenarmee hat es scharf kritisiert.
Auch die SLA ist nicht beteiligt. Ich sage Ihnen: UNAMID
kann keine friedenssichernde Rolle spielen, weil es
schlicht keinen Frieden in Darfur gibt, den man sichern
könnte.
({0})
Das Bomben und das Schießen geht weiter.
Das neue Abkommen birgt sogar die Gefahr neuer Eskalation und neuer Konfliktlinien, weil es die Gründung
zweier neuer Bundesstaaten vorsieht, die die Spaltung
entlang der ethnischen Grenzen vertiefen. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Das Gegenteil von gut gemacht
ist gut gemeint. - Das trifft leider auch auf UNAMID zu:
bestenfalls gut gemeint, aber ganz sicher nicht hilfreich
für den komplizierten Friedensprozess im Sudan und
zwischen den beiden sudanesischen Staaten. Deswegen
sagen wir als Linke ganz klar Nein zu dieser Mandatsverlängerung.
({1})
UNAMID ist eine der größten und teuersten UN-Militärmissionen. Sie zeitigt trotzdem keine wirklichen Erfolge. Warum? Es ist eine Mission Impossible; denn
UNAMID soll ein Friedensabkommen umsetzen, das
selbst von der Bundesregierung unumwunden als gescheitert bezeichnet wird. UNAMID soll Zivilisten
schützen. Doch die Zahl der Toten, der Verletzten und
der Vertriebenen steigt gerade jetzt, wo wir debattieren,
wieder an. Tatsächlich verteilt UNAMID Hilfsgüter.
Aber das ist definitiv keine militärische Aufgabe. Verteilen darf UNAMID übrigens nur dort, wo es die sudanesische Regierung erlaubt. Mit dem Grundsatz, dass humanitäre Hilfe neutral und unabhängig sein muss, dass sie
nach Bedürftigkeit und nicht nach Wohlverhalten gewährt wird, hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({2})
Dadurch macht sich die Mission zum Spielball der
Konfliktparteien, die die Bevölkerung für ihre militärischen Ziele in Geiselhaft nehmen. UNAMID ist noch
nicht einmal in der Lage, zu verhindern, dass unablässig
neue Waffen nach Darfur strömen. UNAMID ist einfach
ein gescheiterter Einsatz. Anstatt ihn zu verlängern, sollten Sie die deutsche Beteiligung hier und heute beenden.
({3})
Sie werden jetzt sagen: Aber man muss doch etwas
tun. - Ja, da haben Sie völlig recht. Man muss auch etwas tun. Aber irgendetwas tun heißt nicht, das Richtige
zu tun.
({4})
Richtig wäre, alles zu tun, damit die Regierungen des
Sudan, des Südsudan und des Tschad an einen Tisch
kommen und vereinbaren, dauerhaft keine Milizen in
den Nachbarländern mehr zu unterstützen.
({5})
Dafür müssten die Konflikte um Grenzen und Rohstoffe
zwischen den beiden sudanesischen Staaten endlich geklärt werden. Und wir sollten alles dafür tun, jungen
Menschen in diesen Ländern eine Perspektive zu geben;
denn wer eine Zukunft zu verteidigen hat, ist nicht mehr
so anfällig für die Anwerbeversuche von gewaltbereiten
Gruppen.
Wir sollten natürlich endlich aufhören, überall hin
Waffen zu exportieren; denn mit Waffen schafft man keinen Frieden.
({6})
Haben Sie endlich den Mut zu neuen Ideen, anstatt einen
wirklich gescheiterten Einsatz nur deshalb fortzusetzen,
weil Ihnen nichts Besseres einfällt.
Ich danke Ihnen.
({7})
Agnes Brugger hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach einem viele Jahre andauernden bewaffneten Konflikt ist
der Weg zum Frieden immer dornig und steinig. Eine
Friedensmission in einem solchen Konflikt erlebt im
Laufe ihres Einsatzes immer wieder Licht und Schatten,
auch wenn sie im Grunde den richtigen Ansatz verfolgt.
Die Situation in Darfur ist nach wie vor dramatisch. Millionen Menschen sind weiter tagtäglich mit Gewalt konfrontiert, und auch die humanitäre Lage ist katastrophal.
Im Sudan ist rund ein Fünftel der UN-Kräfte stationiert; dennoch gelingt der Schutz der Zivilbevölkerung
nur bedingt. Sicherlich, es ist schwer zu ertragen, dass
unter den Augen der UN-Friedenskräfte immer noch Gewalt und Vertreibung stattfinden. Aber man muss sich
doch die Frage stellen, wie die Situation ohne die UNAMIDMission aussehen würde.
({0})
Das Ausmaß der Gewalt wäre ohne die Blauhelme noch
wesentlich höher. Ohne UNAMID wäre auch die dringend benötigte humanitäre Hilfe in Darfur vollends unmöglich. Deshalb werden wir Grüne dieser Mission, wie
in den letzten Jahren auch, wieder zustimmen.
({1})
Eines der grundsätzlichen Probleme für UNAMID
bleibt die Regierung des Sudan. Das liegt nicht nur an
der brutalen und düsteren Geschichte der Regierungsmitglieder. Nach wie vor wendet die sudanesische Führung Gewalt gegen die eigene Bevölkerung an. Sie unterstützt auch Milizen, die mit äußerster Brutalität gegen
Zivilisten und Zivilistinnen vorgehen. Gleichzeitig
behindert sie die Arbeit von Hilfsorganisationen und
UNAMID.
Wenn man den Konflikt ganz grundsätzlich betrachtet, dann stellt man fest: Nach wie vor profitieren zu
viele Akteure im Sudan von der Ökonomie des Krieges,
die in diesem so viele Jahre andauernden Konflikt verfestigt wurde. Gleichzeitig werden Ressourcen wie Weideland und Wasser immer knapper, auch aufgrund des
Klimawandels in der Region. Hinter dieser Gewalt
- auch das muss man betrachten - stehen Fragen um
Mitbestimmungsmöglichkeiten, von kulturellen Identitäten und Konflikten um die Verteilung von Ressourcen.
Für diese Fragen muss eine politische Lösung gefunden
werden.
({2})
Das im März auf den Weg gebrachte Doha-Dokument, das mögliche Schritte für den Frieden in Darfur
aufzeigt, ist ein Hoffnungsschimmer. Aber noch ist das
Dokument nicht von allen Rebellengruppen unterzeichnet. Noch steht seine Umsetzung aus. Aber es wäre
falsch, die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft in Darfur aufzugeben. Die Menschen in Darfur tun dies auch
nicht.
Über UNAMID hinaus brauchen wir weitere Anstrengungen für den Frieden. Der fortdauernde Konflikt wird
nach wie vor auch von außen angeheizt. Am Beginn dieses Jahres hat Amnesty International ausführlich über
die nicht abreißenden Waffenlieferungen von Russland
und China an den Sudan berichtet. Die Waffen finden ihren Weg auch nach Darfur. Sie werden dort auch gegen
die Zivilbevölkerung gerichtet. Diese Waffenlieferungen
sind nicht hinnehmbar. Deshalb müssen die Sanktionen
gegen den Sudan effektiv umgesetzt werden.
({3})
Es gilt auch ganz grundsätzlich: Rüstungsexporte in
Krisenregionen sind und bleiben eine Gefahr für den
Frieden überall auf dieser Welt.
({4})
Trotzdem sind die Verhandlungen über die weltweite
Begrenzung des Waffenhandels durch den Arms Trade
Treaty im Sommer dieses Jahres leider ergebnislos verlaufen. Ich finde, wir müssen aus Konflikten wie in
Darfur auch für die Zukunft Lehren ziehen, zum Beispiel
gerade auch in Bezug auf die ungebremste Verbreitung
von Kleinwaffen, die in solchen Krisenregionen verheerende Auswirkungen hat.
Wir dürfen uns auch nichts vormachen: Der Weg zum
Frieden in Darfur wird auch weiterhin noch lang und
steinig sein. Leider stellen wir auch fest, dass dieser
Konflikt aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten ist.
Auch wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier stehen
hier in der Verantwortung, den Blick der Öffentlichkeit
auf die Situation der Menschen in Krisenregionen zu
lenken. Das sollten wir nicht nur dann tun, wenn wir
diese Mandate im Bundestag debattieren.
An dieser Stelle möchte ich den deutschen und internationalen Friedenskräften der UNAMID-Mission, den
Zivilen und den Soldatinnen und Soldaten, den Hilfsorganisationen im Land und den Menschen im Sudan, die
trotz der anhaltenden Gewalt für eine friedliche Zukunft
streiten, ganz herzlich danken.
({5})
Ich finde, ihr Engagement muss uns auch weiterhin eine
Verpflichtung sein.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Konflikt in Darfur droht schleichend in Vergessenheit zu geraten. Deswegen ist es gut, dass wir ihn in
diesem Hohen Hause immer wieder zum Thema machen. Die humanitäre Lage dort ist weiterhin verheerend.
1,7 Millionen Menschen sind dort immer noch auf Nothilfe angewiesen.
Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Monaten
vor allem im Norden von Darfur noch weiter verschlechtert. Die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung haben zugenommen. Selbst auf Angehörige von UNAMID sowie
auf Angehörige von zivilen Hilfsorganisationen werden
Attacken verübt. Allein im Oktober kamen fünf Soldaten
von UNAMID ums Leben. Ein Großteil dieser Attacken
wird Milizen zur Last gelegt, die die Regierung in Khartoum unterstützen.
Nach Angaben von UNAMID wurde trotz anderslautender Ankündigungen der Regierung bis heute niemand
wegen der Morde an den Blauhelmen der sudanesischen
Justiz vorgeführt. Das ist nicht akzeptabel, meine Damen
und Herren.
({0})
Es passt aber in das Bild, das wir auch sonst von dieser
Regierung haben. Immer wieder gibt es Schwierigkeiten: Visa werden nicht erteilt; Transportgenehmigungen
für Hilfsgüter werden oft monatelang verzögert, und
- der Kollege Selle hat es angesprochen - die Bewegungsfreiheit der Mission wird immer wieder eingeschränkt.
Angesichts dieser Situation kann man sich natürlich
fragen: Warum machen wir das überhaupt?
({1})
Die Kollegin Brugger hat die Antwort gerade gegeben:
weil ohne UNAMID die Situation noch viel dramatischer wäre. Das gilt sowohl für die humanitäre Situation
und die allgemeine Sicherheitslage als auch für den
Schutz der Zivilbevölkerung.
({2})
Dazu kommt, dass wir mit unseren Beiträgen zu
UNAMID, sei es finanziell oder personell, die Afrikanische Union dabei unterstützen, ihre Peacekeeping-Fähigkeiten weiter aufzubauen, damit sie auch selber in der
Lage ist, für Sicherheit auf ihrem Kontinent zu sorgen.
Die Afrikanische Union - auch das dürfen wir nicht vergessen - trägt die Hauptlast bei diesem Einsatz. Um einen Eindruck von der Größenordnung zu geben: Insgesamt umfasst UNAMID 21 000 uniformierte Soldaten
und Polizisten. Wir Deutschen stellen derzeit vier Polizisten und zehn Soldaten. Das ist ein symbolischer Beitrag, aber es ist wichtig, dass wir ihn leisten und die
Afrikanische Union in dieser Situation nicht alleinlassen.
({3})
Meine Damen und Herren, es ist auch nicht so, dass
es gar keine Fortschritte gäbe. Am 22. Oktober hat die
Regierung mit der Rebellengruppe Justice and Equality
Movement ein Abkommen unterzeichnet, in dem sie
sich zu dem gemeinsamen Ziel bekennen, die Gewalt in
Darfur zu beenden. Sowohl die Gruppe als auch die Regierung haben angekündigt, auf Basis des Doha-Dokumentes weitere Verhandlungen zu führen. Damit hat sich
nun bereits die zweite Rebellengruppe diesem Dokument angeschlossen.
Die Umsetzung des darin skizzierten Friedensprozesses geht nur langsam voran; aber immerhin geht sie voran. Natürlich macht es die wirtschaftliche Situation für
die Regierung in Khartoum schwierig - man muss die
Situation im Sudan insgesamt sehen -, die nötigen Ressourcen dort zu allokieren. Aber, meine Damen und Herren, die Regierung in Khartoum kann mehr tun für Darfur, und sie muss mehr tun für Darfur.
({4})
Mehr Einsatz von Khartoum wäre auch ein Signal an
die Gruppen, die sich dem Doha-Dokument noch nicht
angeschlossen haben, und es wäre auch ein Zeichen,
dass die Regierung es mit dem Friedensprozess ernst
meint.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, meine Fraktion wird diesem Mandat zustimmen. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich
bei denjenigen Soldaten und Polizisten bedanken, die
dieses Mandat für uns ausführen.
({5})
- Dieser Applaus ist sehr angebracht; denn diese Männer
und Frauen leisten eine bewundernswerte Arbeit unter
härtesten Bedingungen. Sie sind hervorragende Botschafter unseres Landes, und wir können stolz auf sie
sein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-
Hybrid-Operation in Darfur, UNAMID. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11389, den Antrag der Bundesregierung auf
Drucksache 17/11036 anzunehmen. Wir stimmen nun
über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
nen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Ab-
stimmungsurnen besetzt? - Das ist offensichtlich der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung.
Ich stelle die obligate Frage: Haben alle anwesenden
Mitglieder des Hauses abgestimmt? - Das ist offensicht-
lich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Zu-
satzpunkte 5 a und 5 b, die Tagesordnungspunkte 46 c
bis 46 e sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
ZP 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas
Oppermann, Christian Lange ({0}), Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz bei Nebeneinkünften herstellen
durch Veröffentlichungspflicht auf Euro und
Cent
- Drucksache 17/11331 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas
Oppermann, Christian Lange ({2}), Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker
Beck ({3}), Britta Haßelmann, Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Nebentätigkeiten transparent machen - Bran-
chen kennzeichnen
- Drucksache 17/11332 -
46 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({4}), Britta Haßelmann, Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmit-
glieder
- Drucksache 17/11204 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar
Enkelmann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Transparenz und Unabhängigkeit im Bundes-
tag und in der Bundesregierung
- Drucksache 17/11333 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Parteispenden von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden verbieten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({6}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Partei-Sponsoring transparenter gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({7}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Parteispenden begrenzen
- Drucksachen 17/892, 17/651, 17/1169, 17/547,
17/6566 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Dr. Stefan Ruppert
Wolfgang Wieland
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
„Karenzzeit“ für ehemalige Bundesminister
und Parlamentarische Staatssekretäre in An-
lehnung an EU-Recht einführen
- Drucksache 17/11318 -1) Ergebnis Seite 24771 C
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Über einen der Anträge der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen werden wir später namentlich
abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
({8})
- Wir wollen die Debatte fortsetzen. Deswegen bitte ich
die Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des
Hauses - CDU/CSU- und FDP-Fraktion -, die privaten
Gespräche deutlich zu reduzieren.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute fünf Anträge meiner Fraktion zum Thema
„Mehr Transparenz in der Politik“. Wir beraten heute
mit mehr öffentlicher Aufmerksamkeit als bei der ersten
Lesung einiger dieser Initiativen, weil wir die Diskussion über die Transparenz der Nebentätigkeit von Abgeordneten hatten. Leider redet dieses Hohe Haus über
Transparenz, ob das beim Parteiengesetz ist oder beim
Status der Abgeordneten, immer nur aus aktuellem
Anlass. Das ist falsch. Wir sollten hier gründlicher arbeiten. Ich hoffe, dass uns das mit der heutigen Debatte gelingt.
({0})
Transparenz ist nämlich kein Selbstzweck. Transparenz soll sicherstellen, dass nicht Interessen in illegitimer Weise auf parlamentarische und exekutive Entscheidungen Einfluss nehmen.
({1})
Dies ist für die Legitimität einer Demokratie und eines
Rechtsstaats unabdingbar. Deshalb geht es bei Transparenz der Nebentätigkeit von Abgeordneten nicht um Sozialneid, nicht um Neugier, sondern es geht darum, dass
der Bürger nachvollziehen kann, dass der Abgeordnete
nur nach bestem Wissen und Gewissen für das Allgemeinwohl und im Sinne des Wählerauftrags handelt und
nicht für subjektive wirtschaftliche Interessen seiner
Auftraggeber.
({2})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben in den letzten Wochen die Backen aufgeblasen, weil
Sie den Kanzlerkandidaten der Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands aufs Korn nehmen wollten.
({3})
Sie haben von ihm eine Transparenz gefordert, die Sie
nicht bereit sind, als Regel für alle Mitglieder des Hohen
Hauses gelten zu lassen. Das ist schäbig. Das ist Heuchelei. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({4})
Wir haben heute gemeinsam mit der SPD einen Antrag eingebracht, in dem wir Transparenz auf Heller und
Batzen oder auf Euro und Cent fordern. Das heißt, das,
was Herr Steinbrück gemacht hat, soll in Zukunft auch
für alle Mitglieder des Hauses gelten und entsprechend
vom Bundestagspräsidenten veröffentlicht werden.
({5})
Ich wüsste schon gern, was die Spitzenverdiener des
Hauses, außer Herrn Steinbrück, verdienen. Vielleicht
erscheint manches dann in einem ganz anderen Licht.
({6})
Wir hatten auch Diskussionen nach der Veröffentlichung
von Herrn Steinbrück. Diese Diskussionen sind gut, weil
sie klären sollen: Ist alles korrekt? Ist das vielleicht erstaunlich viel Geld, geht aber in Ordnung? Oder: Gibt es
Dinge, bei denen es Nachfragen gibt?
Wir wollen endlich auch durchsetzen, was wir im Jahr
2005 schon gefordert haben, dass nämlich die Berufsgeheimnisträger - die Steuerberater, die Rechtsanwälte wenigstens die Branchen ihrer Auftraggeber veröffentlichen.
({7})
Es gab den Fall des Herrn Friedrich Merz, der als Abgeordneter die Interessen der RAG wahrgenommen hat.
Dem Webauftritt des Deutschen Bundestages konnte
man seine Lobbytätigkeit als Rechtsanwalt für die RAGStiftung nicht entnehmen. Ich meine, das ist nicht richtig. So etwas müssen wir sehen, müssen wir erkennen.
Darauf haben die Wählerinnen und Wähler einen Anspruch.
({8})
Wir fordern auch, dass, wenn Mitglieder der Bundesregierung aus ihrem Amt ausscheiden, klar sein muss,
dass die Anschlussbeschäftigung eine allein berufliche
Tätigkeit ist und kein Dankeschön für Entscheidungen
im Amt und kein Einkaufen von Amtswissen durch Konzerne und Wirtschaftsverbände.
({9})
Das ist gegenwärtig nicht gewährleistet.
Die EU-Kommission hat damals eine solche Regelung nach dem Wechsel von Bangemann zu Telefónica
eingeführt.
Volker Beck ({10})
({11})
Es ist da nämlich derjenige in ein Telekommunikationsunternehmen eingetreten, der zuvor als EU-Kommissar
den Telefonmarkt in Europa reguliert hat. Solche Sachen
gehen nicht. Das muss genehmigt werden. Es kann nicht
einfach das versilbert werden, was man im Amt geleistet
hat.
({12})
Meine Damen und Herren, wir müssen auch im Parteiengesetz mehr Transparenz schaffen. Wir wollen
Spenden auf 100 000 Euro pro Jahr und pro Person begrenzen, und wir wollen, dass Sponsoringverträge öffentlich gemacht werden. Daran ist nichts Verkehrtes.
Wenn es aber als Produkt der Parteizentrale Verträge gibt
wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen mit Herrn
Rüttgers: „Rent a MP“, dann muss das vom Bundestagspräsidenten überprüft und unterbunden werden.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen!
Denn das ist eine illegitime Tätigkeit. Diese illegitimen Formen des Zusammenhangs von Geld und Politik
wollen wir beseitigen.
({0})
Da ist Transparenz die beste Remedur.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem
nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum
Antrag der Bundesregierung über die Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
UNAMID-Mission bekanntgeben: abgegebene Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 504, mit Nein haben
gestimmt 68, Enthaltungen 1. Die Beschlussempfehlung
ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 572;
davon
ja: 503
nein: 68
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({6})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Alois Karl
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Nadine Schön ({10})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Stefanie Vogelsang
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({22})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({23})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf ({24})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({25})
Hubertus Heil ({26})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({27})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({28})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({29})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({30})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({31})
Michael Roth ({32})
Marlene Rupprecht
({33})
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({34})
Bernd Scheelen
({35})
Werner Schieder ({36})
Ulla Schmidt ({37})
Carsten Schneider ({38})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({39})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({40})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({41})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Angelika Brunkhorst
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({42})
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({43})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Michael Link ({44})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Dr. Martin Neumann
({45})
Dirk Niebel
({46})
Cornelia Pieper
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Johannes Vogel
({47})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({48})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({49})
Volker Beck ({50})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({51})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({52})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({53})
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({54})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({55})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({56})
Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({57})
Nun erteile ich Bernhard Kaster für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({58})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Der Debattenbeginn und auch die Anzahl
der Anträge, die teilweise ohne Beratung im Geschäftsordnungsausschuss abgestimmt werden sollen, zeigen,
dass es heute weniger um die Sache geht als vielleicht
vielmehr um die Ablenkung von anderen Sachverhalten,
({0})
von Sachverhalten nämlich, bei denen die Transparenz
in den vergangenen Wochen beispielhaft funktioniert
hat, und zwar von Berlin bis Bochum. Die Bürger bilden
sich da ihr eigenes Urteil. So ist es ja auch gewünscht.
({1})
Wir wollen den gläsernen Abgeordneten genauso wenig wie den gläsernen Bürger. Wir brauchen aber aus guten Gründen beim Abgeordneten mehr Transparenz als
bei anderen Personen. Die Bürger sollen wissen: Steht
beim Abgeordneten das Mandat noch im Mittelpunkt?
Sie sollen wissen: Gibt es Einkünfte, die Interessen beeinflussen könnten? Hierfür brauchen wir klare Regelungen. Wir haben zwar klare Regelungen, aber wir brauchen Erweiterungen.
Lassen Sie mich sagen: Der Fall eines einzigen Kollegen, der in Stil, Art, Ausmaß und Parlamentsverständnis
aus dem Rahmen fällt, darf dabei nicht alleiniger Maßstab sein.
({2})
Ich persönlich finde es sogar ungeheuerlich, dass seitens
der SPD - und die Grünen beteiligen sich daran - wegen
der Besonderheiten eines Einzelfalles ein Zerrbild vom
ganzen Parlament gezeichnet und auch in Kauf genommen wird.
({3})
70 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages
haben neben ihrem Mandat keinerlei Nebeneinkünfte.
({4})
Es gibt eine sehr interessante und, wie ich finde, ermutigende Analyse der Parlamentszusammensetzung
nach der beruflichen Herkunft. Hiernach gibt es in unserem Parlament 15,5 Prozent Selbstständige aus den Bereichen Handwerk, Gewerbe und Landwirtschaft. Es gibt
15,9 Prozent freiberuflich Tätige, also Rechtsanwälte,
Notare, Ärzte, Apotheker und Ingenieure. Wir in der
Union begrüßen diese Zusammensetzung ausdrücklich.
({5})
All diese Kolleginnen und Kollegen, die sich dazu
entschieden haben, ihre eigene Berufs- und Lebensbiografie für vielleicht zwei oder drei Legislaturperioden zu
unterbrechen - das ist bei über 50 Prozent der Kollegen
so -, müssen doch selbstverständlich Wege finden, wie
ihr Betrieb, ihr Büro oder ihre Kanzlei für eine bestimmte Zeit noch weiterlaufen können.
Deswegen werden wir als Koalition keiner Regelung
zustimmen, die es diesen Berufsgruppen weiter erschwert oder sogar unmöglich macht, sich um ein Bundestagsmandat zu bewerben.
({6})
Zudem: Bei den Angaben über Nebeneinkünfte handelt es sich um Bruttozuflüsse; sie sind daher oft schwer
miteinander vergleichbar. Ich will an dieser Stelle auch
erwähnen, dass Zuflüsse aus vielen sogenannten Nebentätigkeiten fast nie mit dem eigentlichen Arbeits-, Personal- und Zeitaufwand gleichzusetzen sind, weil es sich
um Zuflüsse handelt, die aus Betrieben fließend gemeldet werden und die nur dank personeller Umorganisationen zustande gekommen sind.
So sieht die Wirklichkeit bei den Nebentätigkeiten
und Nebeneinkünften hier im Deutschen Bundestag aus.
Von schlimmsten dunklen Interessenvermischungen
- diese grundsätzliche Unterstellung hört man ja teilweise heraus - kann jedenfalls keine Rede sein. Darauf
dürfen wir hier im Deutschen Bundestag auch ein wenig
stolz sein.
({7})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Eine Offenlegung der Einnahmen auf Heller und Batzen, auf Euro
und Cent - das klingt ja gut. Das ist aber auch schon so.
Auf Euro und Cent müssen alle Einnahmen gemeldet
werden. Die Veröffentlichung erfolgt in Stufen, und das,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat auch gute
Gründe.
Ich zitiere am besten aus der Debatte zur Einführung
der Stufenregelung:
Wir haben dieses Stufenmodell bewusst gewählt,
um allen verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung zu tragen…
… Wir haben dabei - da bin ich sicher - insgesamt
einen angemessenen Ausgleich zwischen dem berechtigten Interesse der Öffentlichkeit auf Offenlegung von Nebentätigkeiten und dem Schutz der
individuellen Grundrechte des einzelnen Abgeordneten gefunden.
So der damalige Erste Parlamentarische Geschäftsführer
der SPD-Bundestagsfraktion.
({8})
Ein gewisser Kollege namens Volker Beck bemerkte
zum gleichen Thema:
… wir schützen die Abgeordneten sowie ihr Lebens- und Arbeitsumfeld mit der stufenweisen Veröffentlichung.
Richtig.
({9})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Aufgeregtheiten in der SPD-Fraktion bei diesem Thema mag man
verstehen. Ich persönlich finde es im Übrigen bemerkenswert und interessant, mit welchen Problemen sich
die Partei eines August Bebel oder Kurt Schumacher in
der heutigen Zeit herumschlagen muss.
({10})
Meine Damen und Herren, was die Tonlage in der
Fraktion der Grünen angeht, kann ich nur feststellen:
Das ist nicht nur Tagespopulismus; ich erkenne darin
auch eine gewisse Berufsferne, eine Ferne zur Lebenswirklichkeit und zu den Verhältnissen hier im deutschen
Parlament.
({11})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke wir
sollten bei diesem Thema wieder zur Sachlichkeit zurückfinden, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, im
Interesse der Transparenz und im Interesse des ganzen
deutschen Parlamentes, dieses Deutschen Bundestages.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Thomas Oppermann für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen heute über mehr Transparenz bei Nebeneinkünften
ab.
({0})
Das hat in der Tat eine Vorgeschichte, Herr Kaster, aber
Sie haben nur einen kleinen Teil davon erwähnt. Auf Initiative der SPD-Fraktion wurden seinerzeit, 1972, überhaupt erst Verhaltensrichtlinien für Abgeordnete des
Deutschen Bundestags eingeführt. Die nächste Stufe
kam im Jahre 2002, als die SPD, dieses Mal gemeinsam
mit den Grünen, dafür gesorgt hat, dass Nebentätigkeiten
und die Höhe der Einkünfte dem Präsidenten gemeldet
werden müssen. Die dritte Stufe kam 2005; seitdem werden die auf Euro und Cent zu meldenden Einkünfte in
drei Einkommensstufen unterteilt vom Präsidenten publiziert. Sie waren in allen drei Fällen - 1972, 2002 und
2005 - gegen diese Transparenz.
({1})
Heute gehen wir einen Schritt weiter. Es ist die Ironie
der Geschichte, Herr Kaster, dass Sie anders als bei den
drei letzten Malen dieses Mal einen aktiven Beitrag dazu
geleistet haben.
({2})
Sie haben nämlich von Peer Steinbrück die volle Transparenz gefordert: Auf Euro und Cent solle er alles auf
den Tisch legen.
({3})
Wir werden bei der Abstimmung heute sehen, ob Sie das
ehrlich gemeint haben oder ob Sie lediglich mit zweierlei Maß messen wollten, nach dem Motto: Von anderen
fordern wir Transparenz, aber selber sind wir nicht bereit, Transparenz zu schaffen. Das wäre scheinheilig.
({4})
Aber warum überhaupt Transparenz bei Abgeordneten? Transparenz soll nicht geschaffen werden, um den
Abgeordneten das Leben schwerzumachen. Vielmehr ist
Transparenz notwendig, um die Unabhängigkeit der Abgeordneten zu sichern. Wer das nicht glaubt, der mag das
in unserem Grundgesetz nachlesen. In Art. 48 steht:
({5})
Die Abgeordneten … sind Vertreter des ganzen
Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden
und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Mit anderen Worten: Damit die Abgeordneten nicht nur
Vertreter von Partikularinteressen sind, sondern Vertreter
des ganzen Volkes sein können, müssen sie frei und unabhängig sein.
Das freie Mandat steht nicht im Grundgesetz, um die
persönlichen Freiheits- und Gestaltungsspielräume individueller Abgeordneter zu erweitern. Das freie Mandat
ist eine Funktionsbedingung für die parlamentarische
Demokratie. Es wird gebraucht, damit unsere Demokratie funktionieren kann. In dieser Demokratie ist Interessenvertretung keineswegs illegitim. Es trägt sogar zum
Gelingen der Demokratie bei, wenn unterschiedliche Interessen vertreten und am Ende zum Ausgleich gebracht
werden. Legitim ist Interessenvertretung allerdings nur
dann, wenn auch der materielle Kontext transparent ist.
({6})
Finanzielle Abhängigkeiten, Interessenkollisionen
oder Interessenverflechtungen müssen erkennbar, müssen diskutierbar, müssen kritisierbar sein. Das ist aber
nur möglich, wenn Einkünfte aus Nebentätigkeiten nicht
verheimlicht, sondern auf Euro und Cent veröffentlicht
werden. Wir wollen damit dokumentieren, dass die Abgeordneten das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger
auch verdienen.
Wir haben Ihnen jetzt vorgeschlagen, vollständige
Transparenz herzustellen. Sie spüren selbst: Die Zeit dafür ist reif. Sie bewegen sich enorm. Sie schlagen plötzlich weitere Einkommensstufen bis 250 000 Euro vor.
Sie haben gemerkt: Sie sind in einer selbstgestellten
Falle, da müssen Sie wieder raus. Sie bewegen sich ja in
die richtige Richtung, aber uns geht das nicht weit genug. Das reicht noch nicht.
Es wäre heute eine gute Gelegenheit, wenn wir als
Bundestag alle gemeinsam an die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes das Signal aussendeten: Wir Abgeordneten haben nichts zu verbergen. Wir rechtfertigen
das Vertrauen, das die überwiegende Mehrheit der Menschen noch in diese Institution hat. Wir veröffentlichen
die Einkünfte auf Euro und Cent.
({7})
Wir wollen auch eine Karenzzeit für ausgeschiedene
Regierungsmitglieder einführen. Im deutschen Recht
fehlt dazu bisher jegliche Regelung; es gibt aber ein Bedürfnis für eine vernünftige Regelung. Wir wollen diese
in Anlehnung an die Regeln der Europäischen Kommission machen. Danach muss sich ein Kommissionsmitglied nach dem Ende der Dienstzeit innerhalb von
18 Monaten eine berufliche Tätigkeit nach Anhörung
von einer Ethikkommission genehmigen lassen. Das
halte ich für eine vernünftige Regelung.
({8})
Ich möchte zusammenfassen.
({9})
Sie von der Koalition haben in den letzten Wochen großen Eifer gezeigt, als es darum ging, finanzielle Transparenz vom politischen Gegner zu fordern.
({10})
Wir kommen Ihnen heute entgegen. Wir bieten Ihnen an,
das zu machen, was Sie gefordert haben. Sie müssen sich
jetzt nur noch bewegen.
({11})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie
müssen sich bei drei Sachen bewegen. Erstens. Sie verhindern seit Jahren die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung und blamieren damit die deutsche Demokratie.
({12})
Zweitens. Sie verweigern die Offenlegung und Transparenz bei Nebeneinkünften auf Euro und Cent.
({13})
Drittens. Sie blockieren die Regelung für eine angemessene Karenzzeit von ausscheidenden Regierungsmitgliedern. Ich prophezeie Ihnen: Damit werden Sie und damit
können Sie nicht durchkommen.
({14})
Ihre Antitransparenz entspricht einem Demokratieverständnis von gestern. Deshalb sage ich: Begrenzen
Sie den Schaden, und stimmen Sie heute unseren Anträgen zu!
({15})
Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was Sie hier vorführen, ist schon einigermaßen erstaunlich. Wir befinden uns seit Wochen und Monaten
gemeinsam in intensiven Beratungen, um im Konsens
eine vernünftige Lösung zur Steigerung der Transparenz
herzustellen.
Bei der vorletzten Sitzung der Rechtsstellungskommission war die SPD nicht anwesend. Deshalb konnten
wir nicht beraten.
({0})
Bei der letzten Sitzung haben die Koalitionsfraktionen
einen Vorschlag zur Erweiterung der Stufenregelung
vorgelegt, der weit über das hinausging, was Sie in
Wirklichkeit von uns erwartet hatten. Er sah nämlich
zehn Stufen bis zu 250 000 Euro und darüber vor.
({1})
Heute Morgen haben wir zusammengesessen. Alle,
die hier gesprochen haben, waren dabei. Wir haben eine
Liste von 17 schwierigen und teilweise sehr komplizierten Punkten, die noch zu klären sind und über die wir
möglichst im Konsens entscheiden wollen.
({2})
Genau in diesem Moment machen Sie hier diese Showveranstaltung. Sie wissen doch genau, dass Sie so zu keinem Ergebnis kommen.
({3})
Das ist Handeln nach dem Motto: „Haltet den Dieb!“
Wir wollen die gerade noch einmal vorführen, bevor wir
mit ihnen zusammen etwas abstimmen.
({4})
Ohne die Causa Steinbrück hätten wir die Diskussion
im Moment gar nicht. Liebe Kollegen, lieber Herr
Oppermann, wer anderen Wasser predigt, darf nicht
selbst Wein trinken. Das geht nicht. Das ist eine doppelte
Moral.
({5})
Herr Kollege Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Nein, keine Zwischenfragen.
({0})
- Herr Kollege Beck, bei jeder Sitzung der Rechtsstellungskommission muss ich mit größter Geduld Ihre Einwürfe ertragen. Erlauben Sie mir, dass ich das heute
nicht will;
({1})
denn immer, wenn wir mit der SPD auf einem konsensualen Weg sind, bringen Sie wieder Vorschläge ein, die
diesen Konsens vermeiden. Dafür sind Sie mittlerweile
bekannt.
Nein, meine Damen und Herren, wir wollen Transparenz für die Abgeordneten und deren Beziehungen und
berufliche Tätigkeiten, aber wir wollen die Tür zum Parlament für alle Berufsgruppen offen halten. Das ist das
Entscheidende.
({2})
Wir haben nicht nur ein Parlament für Beamte oder
Angestellte, sondern auch für Selbstständige und Mitglieder der freien Berufe. Diese haben schutzwürdige
Interessen Dritter. Sie können nicht ins Parlament gehen
und ihr Büro oder ihre Firma weiter betreiben, wenn
alles aufgedeckt wird. Das wissen Sie genauso gut wie
ich. Deswegen ist die Stufenregelung richtig und vernünftig, und wir werden uns hier auf ein vernünftiges Ergebnis einigen.
Herr Beck, abschließend will ich sagen: Sie reden
vom Sponsoring. Sie haben überhaupt nicht begriffen,
was Sponsoring ist. Sponsoring ist ex definitione öffentlich.
({3})
- Ja, natürlich kenne ich mich aus. Sie kennen sich auch
aus, weil Sie das auf Ihren Parteitagen genauso machen.
Das habe ich genau beobachtet. Sie machen genau das
Gleiche.
({4})
Die Firmen, die dort ausstellen, bieten ihr Firmenlogo
an, und Sie werben mit den Firmenlogos auf Ihren
Broschüren.
({5})
Lassen Sie also diese doppelte Moral.
({6})
Wir alle zusammen stehen in der Verantwortung für
dieses Parlament. Diese skandalisierenden Veranstaltungen, die Sie hier vorführen, schaden in Wirklichkeit allen und nutzen niemandem.
({7})
Ich appelliere an unsere gemeinsame Verantwortung,
den Ruf des Parlamentes hochzuhalten, das Parlament
für alle Berufsgruppen offen zu halten
({8})
und das Schwarzer-Peter-Spiel endgültig zu beenden.
Davon hat keiner einen Vorteil.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich Volker Beck das
Wort.
({0})
Das müssen Sie schon ertragen, Herr Kauder. Noch
darf in diesem Parlament auch die Opposition das Wort
ergreifen.
({0})
Noch haben wir solche Verhältnisse. Damit müssen Sie
jetzt zurechtkommen.
Sehr geehrter Herr Freiherr von Solms,
({1})
Sie haben vorhin die Causa Steinbrück angesprochen.
Weil wir drei Anträge zum Thema Parteienfinanzierung
vorliegen haben, wollte ich Sie ansprechen und fragen,
was aus der Causa Gauselmann für das Parteiengesetz
folgen soll.
({2})
Wir müssen doch sicherstellen, dass auch nicht über den
Umweg von wirtschaftlichem Handeln parteieigener Betriebe Spenden undeklariert in die Parteikassen fließen.
Wir müssen auch dafür sorgen, dass Sponsoring tatsächlich einen Vertrag über eine Werbeleistung der Partei gegenüber dem Wirtschaftsunternehmen beinhaltet und
nicht einfach eine verdeckte Spende ist, die gegenüber
dem Bundestagspräsidenten und der Öffentlichkeit noch
nicht einmal transparent gemacht werden muss.
Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Ich glaube, dafür
gibt es in Ihrer Partei gute Gründe. Die Partei, die in
letzter Zeit immer wieder Probleme mit den Parteifinanzen hatte, ist schließlich die Freie Demokratische Partei.
({3})
Volker Beck ({4})
Es gibt also einen Grund, warum man das fürchtet. Sie
gehören ja selbst zu den ehemaligen Mitarbeitern der
Gauselmann-Kompanie, wenn ich richtig informiert bin.
Sagen Sie also einmal: Wann setzen wir uns zusammen? Wann machen wir Sponsoring transparent? Wann
begrenzen wir die Möglichkeiten, durch Spenden Einfluss auf die Parteien zu nehmen? Wann wollen wir für
einen fairen Wettbewerb sorgen und intransparente
Einflussnahme auf die Politik - wie bei den Mövenpick-Spenden oder in Sachen Spielverordnung durch
Gauselmann - zu verhindern? Ich glaube, wenn wir das
nicht machen, büßt am Ende die parlamentarische Demokratie, büßt die Parteiendemokratie an Legitimität ein.
({5})
Darum mache ich mir ernsthaft Sorgen;
({6})
denn ein schwarzes Schaf im Parlament kann das ganze
Haus und die gesamte demokratische Politik in Verruf
bringen.
({7})
Herr Kollege Solms, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Ich will in aller Kürze antworten: Keine Partei stellt
ihre Fakten so öffentlich aus, wie wir das tun.
({0})
Alles wird ins Internet gestellt. Jeder kann das nachlesen. Jede Frage, jede Antwort, alles steht im Internet.
({1})
- Sie können unserem Beispiel gerne folgen. Auch die
SPD, die im Verhältnis zu uns ein riesiges Parteivermögen hat, kann das alles ins Internet stellen und verkünden.
({2})
Wir haben kein schlechtes Gewissen. Wir sind da ganz
offen.
Im Übrigen würde ich Sie bitten, Herr Beck, mich mit
dem Namen anzusprechen, mit dem ich in der Politik arbeite. Der hat sich seit vielen Jahren bewährt, und den
brauchen Sie nicht zu verändern.
({3})
Das Wort hat nun Raju Sharma für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute über den Themenkomplex „Parteienfinanzierung,
Transparenz, Lobbyismus, Nebentätigkeiten“. Dazu gibt
es insgesamt neun Anträge - das ist schon gesagt worden -:
drei von den Grünen, zwei von SPD und Grünen, drei
von der Linken und einen von der SPD. Die Einzigen,
die sich zu dem Thema überhaupt nicht geäußert haben,
die keinen eigenen Beitrag geleistet haben, sind bemerkenswerterweise die Koalitionsfraktionen von CDU/
CSU und FDP.
({0})
- Herr Kollege Grosse-Brömer, Sie haben nicht gehandelt. Deswegen hat mich auch gewundert, dass der Kollege Oppermann gesagt hat, es bewege sich etwas. Ich
sehe keine Bewegung. Ich höre nur Ankündigungen. Das
sind alles nur Sprüche. Es hat sich überhaupt nichts bewegt!
({1})
Seit Monaten blockieren FDP und Union die Umsetzung der Empfehlung der Staatengruppe gegen Korruption. Nichts ist passiert! Es wurde schon gesagt, dass
Deutschland immer noch nicht die UN-Konvention gegen Korruption ratifiziert hat. Auch da sind wir keinen
Schritt weitergekommen. Das liegt daran, dass Sie das
alles blockieren. In Wirklichkeit sind Sie die DagegenPartei. Nichts passiert! Sie blockieren alles!
({2})
Zwei Oberbegriffe kennzeichnen auch die heutige
Debatte: Transparenz und Verbote. Ich sage Ihnen an
dieser Stelle: Beides ist wichtig. Wir wollen maximale
Transparenz, und wir wollen genau das verbieten, was
der Demokratie und dem Vertrauen der Bürgerinnen und
Bürger in den Staat abträglich ist. Wir wollen maximale
Transparenz, weil die Bürgerinnen und Bürger wissen
sollen, was wie finanziert wird; denn nur dann können
sie eine mündige Entscheidung treffen.
Dazu gehört natürlich das Thema Nebentätigkeit. Alles redet hier über die Causa Steinbrück. Aber wir haben
doch auch in anderen Fraktionen genug Fälle. Nehmen
wir einmal das Beispiel des Kollegen Koschorrek, der
für die CDU/CSU im Gesundheitsausschuss sitzt. Er hat
in den Jahren 2010 und 2011 insgesamt 28 bezahlte VorRaju Sharma
träge gehalten, vor allem vor Lobbyisten der Pharmaindustrie. Auch darüber kann man doch einmal reden.
({3})
Lassen Sie uns auch über Parteienfinanzierung reden.
Auch auf diesem Gebiet brauchen wir Transparenz.
Wenn die Bürgerinnen und Bürger vorher wissen, welche Großspenden zum Beispiel die FDP von Arbeitgeberverbänden oder Konzernen erhält, dann wundert sich
hinterher niemand, welche Politik dabei herauskommt.
Das ist doch klar.
({4})
Linke Wähler haben es einfach. Bei den Linken weiß
man, woran man ist.
({5})
Wir bekommen keine Spenden von Großkonzernen.
({6})
Bei uns zieht kein Lobbyist und kein Unternehmen mit
Spendenschecks an den Strippen. Das haben wir ganz
bewusst so geregelt.
({7})
- Sie können sich gerne aufplustern, Frau Künast; ich
komme auch noch zum Thema Parteiensponsoring.
Auch dazu haben wir eine klare Position und im Gegensatz zu den Grünen eine klare Praxis.
({8})
Was die Spenden angeht, zieht bei uns niemand an
den Strippen - bei den Linken weiß man, woran man ist -,
deswegen sind wir nicht abhängig.
({9})
Transparenz ist wichtig, aber wir brauchen in diesem
Feld auch Verbote. Verbote sind sinnvoll, weil es Wertentscheidungen des Gesetzgebers sind und weil wir bestimmte Mechanismen abstellen müssen. Das kann man
ganz einfach formulieren: Wir als Linke sind dagegen,
dass es Parteispenden von Unternehmen und Konzernen
gibt, weil wir Abhängigkeiten vermeiden wollen.
({10})
Wir sind gegen ein Parteiensponsoring, weil dies nichts
anderes ist als verdeckte Parteienfinanzierung.
({11})
Wir sind natürlich auch dagegen, dass es direkte Spenden an Abgeordnete gibt. Dort wird die Grenze zur
Korruption so verwischt, dass man es nicht mehr sauber
abgrenzen kann.
Da Sie bisher alles blockiert haben und auch heute alles blockieren, kann ich mir vorstellen, wie Sie zukünftig
damit umgehen werden. Union und FDP werden alle
Initiativen blockieren. Aber wir als Linke wollen nicht
darauf warten, dass Sie irgendwann in der Opposition
sitzen und es andere Mehrheiten gibt.
({12})
Wir als Linke sind mit gutem Beispiel vorangegangen.
Wir haben alle Nebenverdienste unserer Abgeordneten
veröffentlicht und diese Angaben auf den Cent genau ins
Netz gestellt, ohne dass es dazu eine gesetzliche Verpflichtung gibt.
({13})
Das kann jede und jeder von uns machen. Dazu fordere ich uns alle auf. Jeder kann diesem Beispiel folgen.
Ich freue mich darauf, dass Sie in Ihren Wahlkreisen von
den Bürgerinnen und Bürgern darauf angesprochen werden. Diese werden irgendwann vielleicht auch fragen:
Wenn das bei Abgeordneten der Linken möglich ist, warum nicht bei dir?
Vielen Dank.
({14})
Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
ich Helmut Brandt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Sharma, dass Sie von der Industrie keine Spenden bekommen, liegt wahrscheinlich
primär daran, dass es keine volkseigenen Betriebe mehr
gibt.
({0})
Von denen wären Sie sicherlich gesponsert worden.
In der vorletzten Sitzungswoche haben wir bereits in
einer Aktuellen Stunde dem Grunde nach über das gleiche Thema debattiert. Damals hieß der Tagesordnungspunkt - das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen -: „Integrität parlamentarischer
Entscheidungen durch mehr Transparenz und klare Regeln gewährleisten - Nebentätigkeiten, Karenzzeit für
Regierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechung und
Parteiengesetz“. Mehr kann man unter einem Punkt
nicht zusammenfassen. Damit versucht man im Grunde
genommen, zu erreichen, dass das, worum es eigentlich
geht, nicht mehr offenkundig ist. Wenn die Opposition
kein anderes Thema als dieses hier wöchentlich zur De24780
batte stellen kann, dann ist es um ihre Politikfähigkeit
sehr schlecht bestellt.
({1})
- Ja, dazu komme ich gleich.
Der ganze Wust von Vorschlägen, die jetzt auf den
Markt geworfen werden, dient erkennbar nur einem einzigen Ziel - das ist eben und auch bei der Debatte in der
vorletzten Sitzungswoche deutlich geworden -: Sie wollen eigentlich ein anderes Parlament, ein Parlament aus
Beamten, Berufslosen und Gewerkschaftsfunktionären.
({2})
Sie wollen Freiberufler, Handwerker und Selbstständige
ausschließen. Eben ist richtigerweise von Bernhard
Kaster darauf hingewiesen worden, wie wichtig gerade
diese Berufsgruppen in diesem Parlament sind.
({3})
Ich bin ganz eindeutig der Auffassung, dass das ZehnStufen-Modell, das wir in der Rechtsstellungskommission eingebracht haben, ausreichend ist und transparent
macht, was jeder Einzelne mit seiner Nebentätigkeit tatsächlich verdient. Eine ausdifferenzierte Veröffentlichungspflicht in zehn Stufen ist sicherlich bestens geeignet, das Informationsbedürfnis zu befriedigen. Herr
Oppermann, Sie können das noch so oft wiederholen,
aber ich habe bisher noch kein Argument gehört, warum
eine Veröffentlichung auf Euro und Cent genau im Vergleich zu dieser Staffelung einen Mehrwert an Öffentlichkeit bringen würde. Das ist einfach nicht der Fall.
Im Übrigen ist es so, dass die SPD offensichtlich
nicht überall dieser Auffassung ist. Gestern las ich in der
Berliner Morgenpost, dass die Berliner Landespolitiker
der SPD gegen eine Verschärfung der Offenlegungspflichten für Nebeneinkünfte seien.
({4})
Sogar eine Veröffentlichungspflicht nach dem bisherigen
Drei-Stufen-Modell passt denen nicht in den Kram. Was
gilt denn nun: das, was Ihre Kollegen von der Berliner
SPD sagen, oder das, was Sie hier zum Besten geben?
({5})
Das Gleiche, Herr Beck, gilt für eine Aufschlüsselung
nach Branchen. So etwas ist strikt abzulehnen. Ich will
auch sagen, weshalb: Wenn man diese Aufforderung
ernst nimmt, kommt es - das ist Ihnen ja schon vorgeführt worden - zum offenen Rechtsbruch, und zwar immer dann, wenn ein Anwalt in einer bestimmten Region
Mandanten vertritt und aus der Branchenbezeichnung erkennbar würde, welcher Mandant gemeint ist. Wenn Sie
die Vorschriften des Strafgesetzbuches ernst nehmen,
dann müssten Sie dies auch so sehen.
Ich bin seit über 30 Jahren Anwalt. Frau Künast war
eben stolz, über eine Anwaltszulassung zu verfügen; ob
sie tätig ist, weiß ich nicht. Ich kann jedenfalls sagen:
Angenommen, jemand ist auf dem Lande in einer kleinen Anwaltspraxis tätig und vertritt Arbeitnehmer im
Kündigungsschutz, Familien in Familiensachen und andere in Unfallsachen. Was sollte er dann als Branche angeben?
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja, ich ertrage sie jetzt als Zwischenfrage; sonst muss
ich sie wie der Kollege Solms nachträglich ertragen.
Dann lieber sofort.
Nachdem Sie rechtlich umfangreich argumentiert haben, welche Bedenken Sie gegen eine Veröffentlichung
der Branche haben, frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass eine solche bereits Gegenstand des geltenden Rechts ist und vom Bundesverfassungsgericht in einem Urteil für verfassungskonform
erklärt wurde? Der Präsident macht von dieser Veröffentlichungsmöglichkeit lediglich keinen Gebrauch; sie
ist in den geltenden Verhaltensregeln aber ausdrücklich
vorgesehen.
({0})
Herr Beck, was Sie wollen, hat mit den geltenden
Verhaltensregeln nichts zu tun; das ist die Antwort auf
Ihre Frage. Wenn die von Ihnen geforderte Pflicht bestünde, dann würde die Schweigepflicht des Anwalts im
Einzelfall verletzt. Das ist nicht akzeptabel, das verstößt
gegen geltendes Recht.
({0})
Die Grünen haben auch noch andere Dinge gefordert,
unter anderem eine Karenzzeit für ehemalige Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretäre.
Ich möchte einmal daran erinnern, dass sich gerade Mitglieder der rot-grünen Regierung unter Gerhard
Schröder in dieser Weise besonders hervorgetan haben.
({1})
Ich meine, hier gilt der Satz: Wer im Glashaus sitzt, der
sollte nicht mit Steinen werfen.
({2})
Nehmen wir den von Ihnen damals gestellten Außenminister: Er war erst wenige Monate aus dem Amt, da
hat er Vorträge für Investmentbanken wie Barclays Capital oder Goldman Sachs gehalten, er hat Beraterverträge
mit RWE und OMV, mit BMW, mit Siemens und mit
Rewe.
({3})
- Es ist nicht schlecht, Herr Kollege, sondern es ist eine
Tatsache, die in offensichtlichem Widerspruch zu Ihrer
Argumentation hier steht.
({4})
Das Gleiche gilt für Herrn Schröder, den früheren
Bundeskanzler. Wir wissen noch sehr gut: Nur wenige
Wochen nachdem er aus dem Amt ausgeschieden ist,
wurde bekannt, dass er einen Posten bei der Nord Stream
AG angenommen hat,
({5})
und wir wissen auch, was er in der Folge getan hat.
Wenn man über eine solche Vergangenheit verfügt,
dann sollte man es sich gut überlegen, bevor man solche
Forderungen aufstellt.
Zum Abschluss noch ein paar Bemerkungen bezüglich der Frage der Parteispenden. Im Hinblick auf die
Linken habe ich ja schon Stellung genommen. Ich persönlich muss ganz ehrlich sagen: Ich halte eine Begrenzung von Parteispenden für nicht erforderlich. Parteispenden werden laut Parteiengesetz öffentlich gemacht.
Wir verfügen bereits über eine hinreichende Transparenz.
Wenn man sieht, dass der Wahlkampf der beiden Kandidaten in Amerika 5,6 Milliarden Dollar gekostet hat,
die aus privaten Spenden finanziert wurden, dann kann
ich nur sagen: Ich hätte gerne einmal die Debatte hier erlebt, wenn das in Deutschland auch nur annähernd der
Fall wäre.
Besten Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Zusatzpunkt 5 a: Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak-
tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/11331 mit dem Titel „Transparenz bei Neben-
einkünften herstellen durch Veröffentlichungspflicht auf
Euro und Cent“. Wir stimmen über den Antrag auf Ver-
langen der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an
den Abstimmungsurnen besetzt? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung über den An-
trag.
Die pflichtgemäße Frage: Haben alle anwesenden
Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Ich
höre keinen Protest. Dann ist das der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.
Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte Sie, dazu
Platz zu nehmen.1)
Zusatzpunkt 5 b: Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11332 mit dem Titel „Nebentätigkeiten
transparent machen - Branchen kennzeichnen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppo-
sitionsfraktionen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 46 c: Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/11204 mit dem Titel „Karenzzeit für ausgeschie-
dene Regierungsmitglieder“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen und der SPD gegen die Stimmen von Linken und
Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 46 d: Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11333
mit dem Titel „Transparenz und Unabhängigkeit im
Bundestag und in der Bundesregierung“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
- Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken
bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 46 e: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksa-
che 17/6566. Unter Buchstabe a empfiehlt der Aus-
schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/892 mit dem Titel „Parteien-
Sponsoring im Parteiengesetz regeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der Linken mit den Stimmen aller anderen
Fraktionen angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/651 mit
dem Titel „Parteispenden von Unternehmen und Wirt-
schaftsverbänden verbieten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
1) Ergebnis Seite 24783 D
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
men der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegen
die Stimmen von Linken und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1169 mit dem Titel „ParteiSponsoring transparenter gestalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen
aller anderen Fraktionen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/547 mit dem Titel „Parteispenden begrenzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11318 mit dem Titel „‚Karenzzeit‘ für ehemalige Bundesminister und Parlamentarische Staatssekretäre in Anlehnung an EURecht einführen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der
Linken gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten
Nationen geführten Friedensmission in Südsudan ({1}) auf Grundlage der Resolutionen 1996 ({2}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und 2057
({3}) vom 5. Juli 2012
- Drucksachen 17/11037, 17/11390 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Jan van Aken
Kerstin Müller ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11399 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Marina Schuster für die FDP-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
stehen heute vor der Verlängerung des deutschen Beitrags zum UNMISS-Mandat und damit des Einsatzes im
Südsudan. Es ist ein robustes Mandat. Die Personalobergrenze liegt nach wie vor bei 50 Soldatinnen und Soldaten. Derzeit sind 16 Soldatinnen und Soldaten dort eingesetzt.
UNMISS beruht auf dem ausdrücklichen Wunsch der
südsudanesischen Regierung. Es ist ein Mandat, das hier
im Hohen Haus große Unterstützung genießt; denn dabei
geht es darum, dem neuen Staat Südsudan beim Staatsaufbau zu helfen, insbesondere auch bei der Gewährleistung der Sicherheit für die Zivilbevölkerung.
Zum Auftrag von UNMISS gehört auch, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und diese Menschenrechtsverletzungen der Hohen Kommissarin für Menschenrechte zu melden und den Sicherheitsrat davon zu
unterrichten. Deswegen ist es nicht akzeptabel, dass der
Südsudan eine Mitarbeiterin von UNMISS aus dem
Land gewiesen hat. Wir fordern, dass die Mitarbeiter
von UNMISS ihrem Auftrag so nachkommen können,
wie es vereinbart ist.
({0})
Wir können uns uneingeschränkt den Äußerungen der
Leiterin von UNMISS, Frau Hilde Johnson, anschließen.
Sie war in der letzten Sitzungswoche hier in Berlin zu
Gast. Wir haben mit ihr verschiedene Gespräche geführt,
auch im Unterausschuss „Zivile Krisenprävention“. Wir
konnten uns davon überzeugen, dass sie mit viel Engagement und Herzblut an die Sache herangeht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Mandatsverlängerung ist nie „business as usual“. Es geht auch immer darum, ein Mandat einzubetten, in die politische
Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Wir haben die Entwicklungen im Sudan und im Südsudan über viele Jahre
begleitet. Wir haben hier im Deutschen Bundestag viele
Debatten dazu geführt. Keiner von uns hat gedacht, dass
sich am 9. Juli 2011 der Südsudan weitgehend friedlich
vom Sudan abspaltet. Wir hatten damals große Sorge,
dass die Lage eskalieren könnte. Die weitgehend friedliche Abspaltung hat aber auch ihren Preis, nämlich dass
die strittigen Fragen nach wie vor nicht geklärt sind.
Deutschland unterstützt deswegen die Vermittlungsversuche der Afrikanischen Union unter der Leitung von
Thabo Mbeki. Wir sind froh, dass am 27. September dieses Jahres eine neue Einigung erreicht werden konnte.
Doch auch danach läuft es schleppend. Immer noch
nicht geklärt ist der finale Status der Region Abyei. Es
gibt den Vorschlag, im Oktober nächsten Jahres ein
Referendum abzuhalten. Ebenfalls nicht geklärt ist die
tatsächliche Implementierung der Sicherheitsvereinbarungen. Nun soll sich ein technisches Team damit beschäftigen. Insofern haben wir an der Grenze immer
noch keine wirklich demilitarisierte „buffer zone“.
Ein weiterer Knackpunkt ist die tatsächliche Wiederaufnahme der Erdöllieferungen. Die Einstellung der Erdölförderung hatte große wirtschaftliche Verwerfungen
hervorgerufen; denn 98 Prozent der Staatseinnahmen des
Südsudan beruhen auf der Erdölproduktion. Fallen diese
Einnahmen weg, ist die Erfüllung von staatlichen Aufgaben, beispielsweise die Basisversorgung für die Bevölkerung sicherzustellen, fast nicht mehr möglich.
Deswegen ist es wichtig und richtig, dass sich die
Bundesregierung auch in der humanitären Hilfe engagiert, insbesondere bei der Sicherung der Ernährungsgrundlage. So hat die Bundesregierung die humanitäre
Nothilfe für den Südsudan noch einmal um 5 Millionen
Euro auf jetzt 10,5 Millionen Euro aufgestockt. Es gibt
weitere Projekte der GIZ, des UNHCR, des Roten Kreuzes und des World Food Programme, und zwar alles in
den Bereichen Gesundheit, Trinkwasserversorgung, Ernährung. Wir sind sehr dankbar, dass es ein umfassendes
Engagement der Bundesregierung gibt.
Eine weitere Aufgabe, die man auf die Zeit nach dem
CPA verschoben hat, ist die Entwaffnung. Wir wissen,
dass nach wie vor sehr viele Kleinwaffen vor Ort im
Umlauf sind. Die Entwaffnung hat bisher nicht gut funktioniert. Es ist wichtig, dass es einen neuen Impetus gibt,
damit es in diesem Bereich vorangeht.
Das Auswärtige Amt unterstützt weiterhin Projekte in
den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, juristische Ausbildung und Beratung bezüglich des Verfassungsprozesses.
Das zeigt: Das UNMISS-Mandat selbst ist in ein umfassendes Engagement eingebettet.
Wir haben uns auch in den parlamentarischen Beratungen mit zwei interfraktionellen Anträgen immer mit
der Gesamtsituation befasst. Wir hatten jeweils einen
großen interfraktionellen Antrag vor dem Referendum
und erst kürzlich im Juni dieses Jahres eingebracht. Es
ist besonders wichtig, dass wir weiterhin Unterstützung
gewähren.
({1})
Ich will aber auch die Defizite beim Namen nennen.
Wir wissen, dass die Korruption im Südsudan weit verbreitet ist. Es gibt dort keine transparente Rechenschaftslegung. Wir fordern außerdem die strikte Beachtung der
Menschenrechte. Vor allem muss die „Kultur der Straflosigkeit“ endlich ein Ende haben.
Wir wissen, dass es viele Probleme und Herausforderungen für den neuen Staat gibt. Es besteht die Gefahr,
dass der Südsudan abdriftet. Deswegen ist es wichtig,
dass das internationale Engagement erhalten bleibt, dass
das Mandat für UNMISS fortgesetzt wird. Der Schlüssel
dazu liegt natürlich vor Ort, im politischen Prozess.
UNMISS und auch UNAMID - diese Mission haben wir
vorhin verlängert - sind Bausteine. Es geht darum, die
politische Lösung voranzubringen.
Ein letztes Wort. Ich freue mich, dass wir heute zu einer früheren Tageszeit über die Verlängerung des Mandats diskutieren. Das sind wir unseren Soldatinnen und
Soldaten, aber auch den Zivilisten vor Ort schuldig. Ich
möchte an dieser Stelle den Soldatinnen und Soldaten
sowie den Polizisten und den zivilen Helfern für ihren
Einsatz vor Ort meinen Dank und meine Anerkennung
aussprechen.
Vielen Dank.
({2})
Vor der nächsten Rednerin möchte ich Ihnen das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den von
den Kollegen Thomas Oppermann und Volker Beck
sowie anderen Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Antrag mit dem Titel „Transparenz bei Nebeneinkünften herstellen durch Veröffentlichungspflicht auf Euro und Cent“: abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 271, mit Nein haben
gestimmt 303. Der Antrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 574;
davon
ja: 271
nein: 303
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({0})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({1})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Graf ({2})
Kerstin Griese
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({3})
Hubertus Heil ({4})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({5})
Frank Hofmann ({6})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({7})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({8})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({9})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({10})
Michael Roth ({11})
Marlene Rupprecht
({12})
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({13})
Bernd Scheelen
({14})
Werner Schieder ({15})
Ulla Schmidt ({16})
Carsten Schneider ({17})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({18})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({19})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({20})
Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({21})
Volker Beck ({22})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({23})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({24})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({25})
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({26})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({27})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({28})
Manfred Behrens ({29})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({30})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({31})
Dirk Fischer ({32})
Axel E. Fischer ({33})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({34})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Alois Karl
Siegfried Kauder ({35})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({36})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({37})
Nadine Schön ({38})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({39})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({40})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({41})
Anita Schäfer ({42})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({43})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({44})
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({45})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({46})
Stefanie Vogelsang
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({47})
Peter Weiß ({48})
Sabine Weiss ({49})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({50})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Angelika Brunkhorst
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({51})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({52})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Michael Link ({53})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Dr. Martin Neumann
({54})
Dirk Niebel
({55})
Cornelia Pieper
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Johannes Vogel
({56})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({57})
Ich erteile nunmehr das Wort Susanne Kastner für die
SPD-Fraktion.
({58})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
9. Juli 2011 hat der Süden des Sudans seine Unabhängigkeit erklärt. Seitdem sind 16 bewegte Monate vergangen. Vieles hat sich zum Besseren gewandelt. Aber vieles ist immer noch im Argen. Festzuhalten bleibt
allerdings, dass es noch eine Menge zu tun gibt, bis im
Südsudan stabile Verhältnisse herrschen. Zwei wichtige
Faktoren sollten wir uns dabei vor Augen führen: die bewegte Geschichte des Landes sowie die enorme Größe.
Mit einer Fläche von circa 650 000 Quadratkilometern
ist der Südsudan fast doppelt so groß wie Deutschland.
Daraus resultieren erhebliche logistische Probleme für
den Aufbau und die Stabilisierung des Landes.
Zweifelsohne konnten seit Inkrafttreten der UNResolution zahlreiche Fortschritte erzielt werden. Der
Südsudan steht aber weiterhin vor großen Herausforderungen. So ist beispielsweise die wirtschaftliche Lage
für große Teile der Bevölkerung weiterhin äußerst prekär
und angespannt. Vergleichsweise gutgestellt sind da diejenigen, die über ein wenig Land oder Vieh verfügen.
Dies gilt aber nur für einen Bruchteil der Bevölkerung.
Durch den langjährigen Bürgerkrieg und die bewaffneten Auseinandersetzungen wurden tiefe Wunden gerissen. Diese werden sicherlich nicht von heute auf morgen
zu heilen sein; das wissen wir alle.
In Anbetracht der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Ausgangssituation muss man allerdings
auch anerkennen, dass die südsudanesische Regierung
ihr Möglichstes tut, um geordnete Verhältnisse zu schaffen. Es ist jedoch offenkundig, dass das Vorhaben zum
jetzigen Zeitpunkt ohne die weitere konsequente und
umfassende Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft zum Scheitern verurteilt wäre. Es ist
daher unsere Pflicht, uns weiterhin für den Frieden im
Südsudan zu engagieren.
Im vergangenen August sind die Obleute des Verteidigungsausschusses zusammen mit mir in den Südsudan
gereist. Wir wollten uns selbst einen Überblick verschaffen über die Einsatzbedingungen unserer Soldaten vor
Ort und über die politische Lage in Dschuba. Wie Sie
sich sicherlich vorstellen können, ist die Situation alles
andere als einfach. Wir reden schließlich von einer Region, in der noch immer Grenzkonflikte vorherrschen
und in der bis an die Zähne bewaffnete Milizen agieren.
Bei dem Zusammentreffen mit der Sonderbeauftragten
für Südsudan, Hilde Johnson, bedankte sich diese ausdrücklich für den deutschen Beitrag zur UN-Mission.
Diesen Dank möchte ich gerne an unser Parlament weitergeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Soldaten
leisten im Südsudan unter schwierigsten Bedingungen
eine hervorragende Arbeit. Dafür sagen wir herzlichen
Dank, und es gilt, diese Arbeit fortzusetzen.
({0})
Die Vereinten Nationen und insbesondere die Zivilbevölkerung im Südsudan setzen große Hoffnungen auf
den Erfolg der UN-Mission und auf das weitere Engagement der Bundeswehr.
Wer wie ich die Situation vor Ort erlebt hat, der weiß,
dass wir in der Pflicht sind, das UNMISS-Mandat der
Bundeswehr zu verlängern. Neben der Unterstützung
des Staats- und Institutionsaufbaus ist die Kernaufgabe
dieser Friedensmission schließlich die Unterstützung
beim Schutz der Zivilbevölkerung. Dies ist wahrlich
keine leichte Aufgabe; denn die humanitäre Lage im
Südsudan ist nach wie vor heikel. Die desaströse wirtschaftliche Entwicklung, die internen bewaffneten Konflikte und das anhaltende Problem der Vertriebenen sind
ein schweres Erbe, dem sich die südsudanesische Regierung stellen muss. Die UN-geführte Mission ist daher
dringend erforderlich, um den fragilen Staat zu stützen
und weiter aufzubauen.
Nach meinen Gesprächen mit UN-Vertretern, Politikern und unseren Soldaten im Südsudan muss ich allerdings nachdrücklich darauf hinweisen, dass der Einsatz
nur dann gelingen kann, wenn wir auch die benötigte
Ausrüstung zur Verfügung stellen. Unsere Soldaten machen derzeit bereitwillig Abstriche bei der Unterkunft
und den Hygienebedingungen. Sie können aber nicht auf
die entsprechende Ausrüstung verzichten, um diesen
Auftrag zu erfüllen.
Zu den Herausforderungen des Einsatzes im Südsudan gehören zweifelsohne die logistisch extrem schwierigen Ausgangsbedingungen. Aufgrund der geografischen Verhältnisse ist es unabdingbar, die UN-Mission
dezentral aufzustellen. Es ist aber nun einmal so, dass
man während der achtmonatigen Regenzeit in weite
Teile des Landes nur mit einem Transporthubschrauber
gelangen kann. Seit dem Abzug der russischen Hubschrauber ist eine gravierende Fähigkeitslücke entstanden, die dringend geschlossen werden muss. Diesen
Appell der UN-Vertreter und unserer Soldaten muss ich
daher mit Nachdruck an die Adresse unseres Verteidigungsministers richten: Sorgen Sie dafür, dass die benötigten Hubschrauber vor Ort zum Einsatz kommen!
({1})
Nur so kann UNMISS eine Erfolgsgeschichte werden.
Es gäbe noch vieles über die schwierigen Verhältnisse
und Einsatzbedingungen im Südsudan zu berichten. Offenkundig ist jedoch, dass die internationale Staatengemeinschaft seit der Unabhängigkeit des Südens dort gute
Arbeit geleistet hat. Diesen Prozess gilt es fortzusetzen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir uns weiterhin an dem
Einsatz beteiligen und das UNMISS-Mandat für die
Bundeswehr um ein weiteres Jahr verlängern. Ich bitte
daher um Ihre Zustimmung zur Mandatsverlängerung,
damit der junge südsudanesische Staat gelingen kann.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Robert Hochbaum für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Free at last, endlich frei - das war am 9. Juli
2011 im Südsudan immer wieder zu hören und auf
Plakaten zu lesen. Endlich frei zu sein, bedeutete für die
Menschen, sich loszusagen von Repressalien, von
bewaffneten Reitermilizen, die Menschen öffentlich gequält und erniedrigt haben, sich loszusagen von 20 Jahren Bürgerkrieg, 20 Jahren gezielter Vertreibung, Tötung
und Ächtung.
Heute, knapp anderthalb Jahre später, musste die Freiheitseuphorie leider der Realität weichen. Viele Hoffnungen der Menschen konnten bis heute noch nicht erfüllt werden. Stattdessen liegt ein Jahr hinter dem neuen
Staat, das von einer tiefen Krise, humanitären Notlagen
und einer sehr fragilen Sicherheitslage geprägt war. Die
UN-Sondergesandte Hilde Johnson - ihr Name wurde
heute schon öfter erwähnt - bilanzierte sehr treffend und
spricht von einem „harten Start“, gar einem „schmerzvollen Jahr“ für den Südsudan.
Aber, meine Damen und Herren, können wir da wegschauen? Sollen wir - jetzt richte ich meinen Blick auf
Sie, meine Damen und Herren von der Linken - einem
erneuten Abgleiten dieses Staates in Chaos und Mord tatenlos zusehen und somit die gesamte ostafrikanische
Region in ihrer Stabilität gefährden? Sollen wir die Unabhängigkeit eines Staates, die in einer demokratischen
Volksabstimmung mit sehr großer Mehrheit von den
Menschen gewollt war, nicht anerkennen? Für uns gibt es
darauf nur eine klare Antwort: Nein, wir wollen helfen.
({0})
Bei unserem Verständnis von humanitärer Verpflichtung, bei unserem Verständnis von Politik, die hier - das
müsste jeder erkennen, zumindest derjenige, der hinschaut - ganz klar einem vernetzten Ansatz folgt, und
bei unserem Verständnis von Menschlichkeit und Menschenrechten haben wir geradezu eine Verpflichtung,
nämlich eine Verpflichtung zur Hilfe. Das ist wie so oft
eine mit Ausnahme von Ihnen - dabei schaue ich wieder
nach links - mehrheitlich getragene Meinung. Dafür
möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei der SPD
und den Grünen bedanken. Sie stellen Menschlichkeit
über parteitaktisches Verhalten.
({1})
Das finde ich gut und, wenn ich nach links schaue, auch
nachahmenswert.
Merken Sie auf der linken Seite gar nicht, dass bei Ihnen manchmal etwas nicht stimmt?
({2})
Allen hier im Saal ist klar, dass der Südsudan unsere Unterstützung braucht. Wir alle wollen Frieden und nachhaltige Friedenssicherung in dieser Region.
({3})
Sie schauen anscheinend weg und nehmen die Tatsachen
- das ist die Schlussfolgerung, wenn man Ihre Reden in
der Vergangenheit und wahrscheinlich auch heute verfolgt - einfach nicht zur Kenntnis.
({4})
Nur so lässt sich für mich Ihre Ablehnung zu UNMISS
erklären. Ich frage mich, wie Sie, wenn Sie wieder einmal dort hinfahren sollten, den Menschen dort noch in
die Augen schauen können.
Meine Damen und Herren, es bleibt natürlich unbestritten, dass die gegenwärtige Situation im Südsudan
unbefriedigend ist. Aufgrund der andauernden Konflikte
konnte sich die Regierung nicht um die grundlegenden Aufbauarbeiten des Landes bemühen. So liegen die
Herausforderungen weiter auf der Hand: fehlende Infrastruktur, mangelnde Wirtschaftskraft, ein nicht aufgebauter Sicherheitssektor und fehlendes administratives
Wissen der Verantwortlichen. Hinzu kommen die bekannte Flüchtlingsproblematik in den umkämpften Gebieten und weitere humanitäre Notlagen, die sich daraus
ergeben.
Entscheidend ist aus diesem Grund jetzt, dass die im
September mit dem Sudan unterzeichneten Abkommen
und Vereinbarungen umgesetzt werden. UNMISS wird
dabei wie bereits beim Zustandekommen der Abkommen eine zentrale Rolle der Vermittlung und Unterstützung beigemessen. Schon deshalb ist es zu begrüßen,
dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Juli
dieses Jahres die Verlängerung des Mandats beschlossen
hat. Wir sollten das aus meiner Sicht heute auch in diesem Hause mit großer Mehrheit tun.
Wenn ich von den Vereinten Nationen spreche, muss
ich schon wieder nach links schauen. Meine Damen und
Herren von den Linken, mit Ihrer Ablehnung negieren
Sie auch das UN-Mandat und stellen sich faktisch über
die UN. Sie meinen wohl, dass sich die Weltgemeinschaft mehr nach Ihnen richten sollte als nach den Vereinten Nationen.
({5})
Es tut mir leid, dass wir Ihnen den Gefallen hier und
heute nicht tun können.
Um auch gleich Ihrem Hauptvorwurf, die militärische
Komponente würde im Vordergrund stehen, den Wind
aus den Segeln zu nehmen, möchte ich auf die zahlreichen Maßnahmen und Projekte der Entwicklungshilfe
verweisen. Ernährungssicherheit, Bildung, Gesundheit,
Trinkwasserversorgung - all das sowie die finanziellen
Hilfen müssten sogar Ihnen den vernetzten politischen
Ansatz deutlich machen. Es steht übrigens alles im Mandat geschrieben. Man kann es dort nachlesen. Lesen bildet
normalerweise, zumindest im Regelfall.
({6})
Uns ist dabei eines klar: keine Entwicklung ohne Sicherheit und keine Sicherheit ohne Entwicklung.
({7})
Deshalb unterstützen wir UNMISS mit bis zu 50 Soldaten. Wie wir gehört haben, waren zuletzt 16 Stabsoffiziere vor Ort eingesetzt. An dieser Stelle möchte ich es
wie andere Redner nicht versäumen, den Soldaten, den
Polizisten, den zivilen Mitarbeitern unseren Dank und
unseren Respekt für ihre Arbeit unter diesen ganz besonders schwierigen Bedingungen vor Ort auszusprechen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend den Bogen zum Anfang schlagen. „Endlich frei“,
stand am 9. Juli 2011 auf den Plakaten. Ich wünsche mir,
dass die Euphorie der Unabhängigkeit bei den Menschen
im Südsudan wieder entflammt, dass die Menschen auf
staatliche Strukturen vertrauen, dass sie ihr Land aufbauen und friedlich entwickeln. UNMISS hilft und unterstützt dabei. Gerade vor dem Hintergrund unseres Verständnisses von demokratischer Grundordnung und der
Wahrung der Menschenrechte werden auch wir uns dieser Verantwortung stellen. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun Jan van Aken.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte nur einmal daran erinnern: Es geht hier um einen
Bundeswehreinsatz innerhalb des Südsudan.
({0})
Es ist relativ wichtig, das zu betonen, weil Sie alle heute
und in der Debatte vor zwei Wochen sehr viel über
Abyei, Südkordofan, die Grenze zum Sudan geredet haben. Das hat nur sehr bedingt mit UNMISS zu tun. Hier
geht es um einen internationalen Militäreinsatz innerhalb
des Südsudan. Ich glaube, es hilft nicht, das alles in einem Topf zu verrühren. Das verstellt manchmal den
Blick auf die Lage, Herr Hochbaum.
({1})
UNMISS war von vornherein ein Konstrukt mit völliger Schieflage. Wir hatten es mit Interessen der UNO
und Interessen der Regierung des Südsudan zu tun. Das
ließ sich nicht vereinbaren: Die UNO wollte zum Beispiel die Armee reformieren, vor allem reduzieren. Die
Regierung des Südsudan wollte vor allem die eigene
Machtposition ausbauen. Dann gab es einen Kompromiss, der extrem problematisch ist. UNMISS steht an der
Seite der Regierung des Südsudan. Die Regierung ist es,
die darüber bestimmt, wo und wann UNMISS eingreifen
darf. Das große Problem hier ist, dass die Regierung
Südsudans manchmal überhaupt kein Interesse daran
hat, dass UNMISS zuschaut: wenn nämlich die Regierung selbst oder ihre Armee, die SPLA, Verbrechen an
der Zivilbevölkerung begeht.
Sie wissen ganz genau - Frau Schuster hat es dankenswerterweise erwähnt -, dass die Regierung Südsudan die Arbeit von UNMISS massiv behindert. Vor
kurzem hat sie eine UNMISS-Mitarbeiterin ausgewiesen. Daher ist es relativ hilflos, Frau Schuster, sich hier
hinzustellen und zu sagen: Das kritisieren wir; die Regierung des Südsudan sollte es anders machen.
({2})
Trotzdem wollen Sie hier darüber entscheiden, dass
Bundeswehrsoldaten an die Seite einer menschenrechtsverletzenden Regierung gestellt werden. Das finde ich
nicht akzeptabel.
({3})
Ich möchte hier ein einziges Mal von Ihnen ein Argument dazu hören, wie Sie es verantworten können, Bundeswehrsoldaten an die Seite einer Regierung zu stellen,
die die eigene Zivilbevölkerung bedroht. Das geht nicht.
({4})
Sie wissen genauso wie ich - Herr Hochbaum, eigentlich müssten auch Sie es wissen -, dass die Regierung
gerade dabei ist, einen Einparteienstaat zu etablieren mit Korruption, mit Vetternwirtschaft, mit Unterdrückung der eigenen Bevölkerung, mit Vernachlässigung
der Bevölkerung in der Peripherie und auf dem Lande,
um nur einige Punkte zu nennen. Und dafür hat sie jahrelang Unterstützung bekommen? Ist das der Staatsaufbau,
den Sie wollen, den die UNO wollte?
Sie sollten eigentlich eingestehen, dass die bisherigen
Bemühungen gescheitert sind. Jetzt ist es unsere AufJan van Aken
gabe, zu schauen: Wo ist der Fehler? Was können wir anders machen? Da möchte ich Sie, Herr Hochbaum, einmal beim Wort nehmen. Sie haben die Frage gestellt:
Sollen wir einfach zuschauen? Meine Antwort ist: Nein.
Wir wollen helfen.
({5})
Aber wir wollen nicht so helfen, wie man es die letzten
Jahre versucht hat und womit man komplett gescheitert
ist. Wir haben dazu vor einem Jahr sehr ausführliche und
detaillierte Vorschläge gemacht - die entsprechende Vorlage hätten Sie vielleicht lesen sollen, Herr Hochbaum;
ich kann Ihnen die Drucksachennummer nennen -,
({6})
wie man den Menschen im Südsudan ganz konkret helfen kann, Gewalt zu vermeiden und den Staat wiederaufzubauen.
Ich möchte nur einen einzigen Vorschlag nennen. Da
es um den Schutz der Zivilbevölkerung, auch vor der
südsudanesischen Regierung, geht, brauchen wir ein
Frühwarnsystem.
({7})
Ich war im Südsudan und habe mir angeschaut, wie
funktionierende Frühwarnsysteme aussehen können.
Das Ganze funktioniert nicht mit internationalem Militär. Dazu braucht man Menschen vor Ort. Die Menschen, die in den Dörfern leben, die lokalen Autoritäten,
die anerkannt sind, muss man einbinden. Dann braucht
man neutrale Vermittler. So kann man einen Konflikt
vermeiden.
Was Sie machen, ist: Sie gucken in Jonglei zu, bis 800
Leute tot sind,
({8})
und dann schicken Sie einen Hubschrauber hin, um frühzuwarnen. Das reicht nicht. Wenn Sie den Menschen
helfen wollen, dann machen Sie es zivil! Mit dem Militär
funktioniert es nicht.
({9})
Ich finde es ganz zynisch - damit komme ich zum
Schluss -, dass Herr Westerwelle vor zwei Wochen an
dieser Stelle gesagt hat, seit der Unabhängigkeit habe
der Südsudan eine eigene stabile Staatlichkeit.
({10})
Das ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen im Südsudan, die immer noch hungern, die immer noch an behandelbaren Krankheiten sterben, die ohne Anklage im
Gefängnis sitzen, die gefoltert werden. An die Seite eines
solchen Regimes darf man keine Bundeswehrsoldaten
schicken. Deswegen werden wir dem UNMISS-Mandat
nicht zustimmen.
({11})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen exportieren sollte. Auch das ist ein wichtiges Thema, aber dafür habe ich keine Zeit mehr.
Danke.
({12})
Das Wort hat nun Agnes Brugger für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Ja gestimmt - das haben im Juli 2011 alle grünen Abgeordneten bei der ersten Abstimmung über UNMISS, die damals neu geschaffene UN-Mission im Südsudan. Wir
Grüne machen es uns mit einem Ja zu Auslandseinsätzen
der Bundeswehr niemals leicht und prüfen jeden Einsatz
äußerst intensiv und kritisch.
({0})
- Sie tun das nicht; den Eindruck habe ich bei der Rede
von Herrn van Aken gewonnen.
({1})
Nach wie vor halten wir UNMISS nicht nur für richtig,
sondern auch für einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung im Südsudan.
Ziel der Mission ist im Wesentlichen der Schutz
der Zivilbevölkerung, die Verbesserung der Menschenrechtslage und die Unterstützung beim Staatsaufbau. Das
sind keine einfachen Aufgaben, und der Weg zu einem
funktionierenden Staat im Südsudan wird auch noch ein
langer sein. Zentrale Voraussetzung dafür ist, dass wir
sowohl die Regierung des Sudan als auch die des Südsudan in die Pflicht nehmen, die friedliche Koexistenz
beider Staaten zu unterstützen und nicht weiter zu torpedieren.
({2})
Ende September haben sich beide Staaten auf eine
Lösung für die Verteilung der Öleinnahmen geeinigt.
Nachdem diese strittige Frage endlich geklärt zu sein
scheint, muss nun die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone an der Grenze zwischen beiden Staaten zügig
umgesetzt werden.
({3})
Dann hat eine politische Lösung für die Klärung der
noch offenen Grenzfragen eine echte Chance und haben
die dortigen Gewaltausbrüche hoffentlich schnell ein
Ende.
Wir müssen bei der Bewertung des Mandates allerdings auch immer realistisch bleiben: UNMISS kann
nicht jeden Gewaltausbruch im Land verhindern;
UNMISS hat aber die Möglichkeit, Gewalt effektiv und
schnell einzudämmen. Um das konkret zu machen: Ja, es
erreichte uns im August 2011 die traurige und erschreckende Nachricht, dass rund 600 Angehörige des Stammes der Nuer durch Angehörige der Murle getötet wurden. UNMISS reagierte auf diesen Gewaltausbruch
schnell und mit einer Mischung verschiedener präventiver Maßnahmen, solcher Maßnahmen, die auch Sie,
Herr Kollege van Aken, gerade gefordert haben.
({4})
Es gab ein Frühwarnsystem. Es gab die Ausweitung
der Präsenz der Mission. Es gab Patrouillen in Zusammenarbeit mit der südsudanesischen Armee. Es gab
Überwachung und die Unterstützung lokaler Verhandlungen.
({5})
Das hat dazu geführt, dass im Dezember auf diese Weise
Angehörige der Murle vor einer Racheaktion der Nuer
rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden konnten. Man
geht davon aus, dass dieses besonnene Handeln mehrere
Tausend Todesopfer und eine Eskalation der Gewalt verhindern konnte.
({6})
Ich finde, zu einer ehrlichen Auseinandersetzung gehört natürlich auch, dass man nicht verschweigt, dass es
auch Rückschläge und Ereignisse im Südsudan gibt, die
Anlass zur Sorge geben, so zum Beispiel die schon erwähnte Ausweisung einer UN-Mitarbeiterin, deren Aufgabe die Beobachtung der Menschenrechtslage war. Hier
ist deutliche Kritik angebracht, wenn die Regierung
Südsudans die kritische Auseinandersetzung mit eigenen
Menschenrechtsverletzungen unterbinden will.
({7})
Aber trotz der Rückschläge: Der Friedensprozess im
Südsudan ist im Gange, und UNMISS leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Allerdings kann dies nur gelingen,
wenn alle beteiligten Staaten die Mission voll und ganz
unterstützen. Ich finde, Deutschland ist hierbei viel zu
zurückhaltend.
({8})
Dafür ein Beispiel: Wir beschließen heute erneut eine
Mandatsobergrenze von nur 50 Soldatinnen und Soldaten.
Aber nicht einmal dieses kleine Kontingent wird ausgeschöpft. Bis heute waren zu keinem Zeitpunkt mehr als
17 Bundeswehrangehörige gleichzeitig im Südsudan.
Bei den Missionen der Vereinten Nationen und gerade
bei UNMISS im Besonderen finde ich diese deutsche
Zurückhaltung falsch und, ehrlich gesagt, auch beschämend.
({9})
Diese mangelnde Unterstützung wird vor allem einem
nicht gerecht: Auf meiner Reise in den Südsudan haben
mich die Menschen, die dort trotz aller Schwierigkeiten
fest an eine friedliche Zukunft für diesen jungen Staat
glauben, unheimlich beeindruckt. Ebenso beeindruckt
hat mich das Engagement von zivilen Kräften der NGOs
und von UNMISS sowie der Soldatinnen und Soldaten
dieser Mission, die dazu beitragen, dass diese Vision
Realität wird - und das unter teilweise sehr schwierigen
Bedingungen. Ihnen möchte ich auch im Namen der
Grünen-Fraktion danken; denn ohne diese Menschen
hätte der Frieden keine Chance.
Vielen Dank.
({10})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Kollege Reinhard
Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Kurz nach Ostern dieses Jahres habe ich den Südsudan
und die UNMISS-Mission besucht. Wenn man in Juba
oder in der dortigen Region ein Ministerium oder eine
Polizeistation betritt, kann man plötzlich mit Händen
greifen, was es bedeutet, wenn wir hier von fehlender
oder mangelnder staatlicher Ordnung sprechen. Es ist offensichtlich, dass sie dort aufgrund der Ausrüstung und
der Mittel, die im Moment zur Verfügung stehen, praktisch nicht in der Lage sind, ihr Volk in der Fläche zu erreichen, geschweige denn, ihm substanziell zu helfen
und die humanitäre Situation und Sicherheit zu verbessern.
Mein persönlicher Eindruck war, dass diese noch sehr
unterentwickelten staatlichen Institutionen es nicht
schaffen, in diesem Land eine staatliche Identität herzustellen. Nationale Identität entsteht immer mehr durch
die Abgrenzung gegenüber dem Norden. Ich habe mit einem Provinzgouverneur, vergleichbar einem Ministerpräsidenten bei uns, gesprochen und ihn gefragt, wie er
darüber denkt, dass der Südsudan die Ölförderung ausgesetzt hat und damit auf 90 Prozent seiner Einnahmen
verzichtet. Er hat mir gesagt: Wir haben so lange für unsere Unabhängigkeit gekämpft, dass wir jetzt lieber auf
das Geld verzichten, als dass wir uns vom Norden bestehlen lassen. Ein solcher Ansatz ist natürlich Wahnsinn. Er ist fatal und wirft den Staatsaufbau massiv zurück. Aber es keimt die Hoffnung, dass der Staat
Südsudan mittlerweile auf einem besseren Weg ist.
Der Friedensplan der Afrikanischen Union von Ende
April und der massive Druck der Vereinten Nationen haben zu einer Waffenruhe geführt und dazu, dass die beiden Länder Ende September eine ganze Reihe von Vereinbarungen geschlossen haben, unter anderem zur
Aufnahme von Wirtschaftsbeziehungen und zur WiederDr. Reinhard Brandl
aufnahme der Ölförderung. Wenn das alles eingehalten
wird, wäre das eine gute Grundlage für die Normalisierung der Beziehungen zwischen dem Sudan und dem
Südsudan. Bei der Konsolidierung des Friedens, dem
Aufbau staatlicher Strukturen und dem Schutz von Zivilisten spielt UNMISS eine zentrale Rolle.
Lieber Herr van Aken, in der letzten Sitzungswoche
war die Leiterin von UNMISS, Hilde Johnson, zu Gast
im Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“. Sie hat im Ausschuss sehr eindrucksvoll dargestellt, wie die SPLA, unterstützt von UNMISS,
im letzten Dezember während der Stammesauseinandersetzungen in Jonglei das Leben von Tausenden Zivilisten
gerettet hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Website von
UNMISS befindet sich ein ausführlicher Bericht, der
Hunderte von Seiten lang ist, in dem dargestellt worden
ist, was gut und was schlecht gelaufen ist und welches
die „lessons learned“ für die Regierung sind. Natürlich
ist nicht alles gut gelaufen, und natürlich kann man noch
etwas verbessern, aber ohne die internationale Präsenz
hätten wir diese Form der Aufarbeitung gar nicht. Wir
würden wahrscheinlich erst Wochen später erfahren,
dass überhaupt etwas passiert ist.
Meine Damen und Herren, UNMISS hat massiv dazu
beigetragen - nicht nur im Fall der Stammesauseinandersetzungen -, das Leben der Zivilisten zu schützen.
Hilde Johnson hat bei ihrem Besuch sehr deutlich gemacht, wie wertvoll sie den zwar zahlenmäßig geringen,
aber hochqualifizierten Beitrag der deutschen Soldaten
und Polizisten einschätzt. Ich kann es von meinem Besuch in Südsudan aus eigenem Erleben bestätigen: Die
Soldaten sind hochqualifiziert und hochmotiviert. Ich
möchte ihnen von dieser Stelle aus für ihren Einsatz dort
unten ganz herzlich danken.
({0})
In Südsudan halten sich jedoch nicht nur Soldaten
und Polizisten auf, wenngleich aufgrund der Mandatierung immer wieder von diesen Personengruppen hier im
Parlament die Rede ist. Ich habe dort auch zivile Mitarbeiter getroffen, zum Beispiel von der Deutschen Lepraund Tuberkulosehilfe oder von der Weltbank. Bei diesen
Menschen, die oft mehrere Jahre in Südsudan verbringen, handelt es sich um wirklich beeindruckende Persönlichkeiten, deren Kraft und Idealismus ich nur bewundern kann.
({1})
Unser Dank gilt allen, die dort unten für das Land und
für die Menschen arbeiten. Meine Fraktion wird dem
Mandat zustimmen. Ich würde mich freuen, wenn auch
dieses Mandat, ebenso wie das UNAMID-Mandat, über
das wir eben abgestimmt haben, eine breite Zustimmung
im Parlament erfahren würde.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den
Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Süd-
sudan, UNMISS. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11390, den An-
trag der Bundesregierung auf Drucksache 17/11037
anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind
alle Plätze an den Abstimmungsurnen besetzt? - Das ist
offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich die Abstim-
mung.
Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses abge-
stimmt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann schließe
ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege-
ben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-
Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Neue Struktur der Nationalen Anti Doping
Agentur schaffen
- Drucksache 17/11320 -
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,
Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Doping an Olympiastützpunkten, Bundesleis-
tungszentren und Bundesstützpunkten konse-
quent bekämpfen
- Drucksachen 17/8896, 17/10083 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Martin Gerster
Katrin Kunert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
1) Ergebnis Seite 24794 D
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Bevor wir mit der Debatte beginnen, bitte ich die lieben Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen, sofern
sie an dieser Debatte teilnehmen wollen, oder die Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute zwei Anträge, die ein gemeinsames
Ziel haben: den Kampf gegen Doping glaubwürdiger
und vor allen Dingen effektiver zu machen. Um es
gleich vorweg zu sagen: Es gibt weitaus mehr Stellschrauben als nur die beiden, die heute im Mittelpunkt
der Debatte stehen. Ich denke da nur an eine strikte AntiDoping-Gesetzgebung, die mehr ist als nur ein Feigenblatt. Aber die Diskussion über dieses Thema kommt in
absehbarer Zeit ebenfalls auf uns zu. Ich bin gespannt,
ob sich Koalition und Bundesregierung dann auch einmal mit zielführenden Vorstellungen zu Wort melden
oder weiter in Lethargie verharren.
({0})
Der Kampf gegen Doping in unserem Land weist an
den entscheidenden Stellen leider mehr Schwächen als
Stärken auf. Wie kann es beispielsweise sein, dass der
Leiter eines Olympiastützpunktes keine Ahnung hat,
welche Blutanalysen an seinem Stützpunkt durchgeführt
werden? So geschehen in Erfurt, wo im Auftrag der
Ärzte Blutanalysen durchgeführt und von ihnen auch
ausgewertet wurden, der OSP-Leiter aber leider keinen
Überblick über die durchgeführten Untersuchungen
hatte.
Schlimm genug; aber Sie können es sich denken: Es
geht noch schlimmer. Auf meine Frage an den Vorsitzenden des dortigen Trägervereins, ob man sich denn wenigstens nach den verbotenen Blutbehandlungen durch
den Arzt Andreas Franke nunmehr darum kümmere und
schaue, was mit den Blutuntersuchungen an diesem OSP
geschieht, bekam ich in einer Sitzung die Antwort, er sei
nicht gekommen, um solche Fragen zu beantworten.
({1})
Dies war ein wahrlich beeindruckendes Zeugnis echter
Nulltoleranzpolitik in Sachen Anti-Doping. Es lässt uns,
wie ich finde, fassungslos auf eines der Kompetenzzentren im deutschen Spitzensport schauen. Und was, Herr
Dr. Bergner, sagt das Bundesinnenministerium dazu, das
auch diesen Olympiastützpunkt mit hohen öffentlichen
Geldern fördert? Die Vermutung ist richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen: nichts.
({2})
Schauen wir auf ein anderes Kompetenzzentrum: die
Nationale Anti Doping Agentur. Vor genau zehn Jahren
aus der Taufe gehoben, hat sich dieses Pflänzchen aus
vielerlei Gründen nur kümmerlich weiter- und in einigen
Bereichen sogar zurückentwickelt. Gründe dafür gibt es
reichlich. Ein ganz wesentlicher Grund, wenn auch nicht
der einzige, liegt in der mangelnden finanziellen Ausstattung. Das der NADA zugrunde liegende Stiftungsmodell, liebe Kolleginnen und Kollegen, das die Stakeholder zwar mit Sitz und starker Stimme in den Gremien
verankert, aber die von ihnen zu leistenden finanziellen
Beiträge leider nicht verbindlich regelt, muss als gescheitert betrachtet werden.
({3})
Einzig der Bund ist seinen Verpflichtungen nachgekommen, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Diese Vorhaltung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, kann ich Ihnen nicht ersparen. Erst haben Sie den
Zuschuss zum Stiftungskapital in Höhe von 1 Million
Euro gestrichen, was sich im operativen Geschäft nicht
sofort bemerkbar gemacht hat, aber natürlich ein Signal
war, leider eines in die völlig falsche Richtung.
({4})
In der Koalition war es bereits ausgemachte Sache, für
2013 weitere 1 Million Euro zu streichen. Nur massiver
öffentlicher Druck und der weitgehend ergebnislose
Runde Tisch des Herrn Bundesinnenminister haben Sie
auf der Zielgeraden der Haushaltsberatungen dazu bewegt, diese Million wenigstens für 2013 wieder einzustellen.
Eines will ich gerne einräumen: Ich teile durchaus die
berechtigte Verärgerung von Innenminister Friedrich
über den weitgehenden Ausfall der anderen Stakeholder.
Lediglich die Firma Adidas hat sich mit einer nicht unerheblichen und vor allen Dingen gleichbleibenden
Summe bislang als verlässlicher Kofinanzier aus den
Reihen der Wirtschaft erwiesen. Deshalb empfehlen wir
einen Blick über den Tellerrand.
In vielen Staaten übernimmt das jeweilige Nationale
Olympische Komitee einen durchaus beachtlichen
Finanzierungsanteil für die jeweilige Anti-DopingAgentur. Swiss Olympic beispielsweise trägt mit umgerechnet 1,5 Millionen Euro jährlich zur Finanzierung der
Schweizer Anti-Doping-Agentur bei. Und der Deutsche
Olympische Sportbund als NOK Deutschlands? Gerade
einmal 400 000 Euro ist es ihm wert plus 100 000 Euro
für das Ergebnismanagement - ein Armutszeugnis verglichen mit den Zahlen aus der Schweiz oder mit den
USA, wo der jährliche Beitrag des dortigen NOK immerhin bei umgerechnet 2,6 Millionen Euro liegt. Eine
glaubwürdige Nulltoleranzpolitik - das muss sich der
DOSB sagen lassen - sieht wirklich anders aus.
({5})
Zum finanziellen Beitrag der Bundesländer ist eigentlich alles gesagt: Da kam nichts, und da kommt nichts.
({6})
- Bis auf Baden-Württemberg mit einem kleineren Beitrag; richtig, Herr Kollege Gerster.
Wann, wenn nicht nach zehn langen Jahren, wollen
wir endlich die Frage nach der Effektivität des derzeitigen Stiftungsmodells stellen? Wer sich dieser Frage
nicht stellt, nimmt billigend in Kauf, dass die NADA in
einem Jahr um diese Zeit wieder um ihre Finanzierung
bangen, wenn nicht sogar betteln muss - mit all den bekannten Problemen wie Personalabbau und Verringerung
der Kontrolle, um nur zwei Beispiele zu nennen.
An dieser Stelle darf man sich schon über die Aussagen der NADA-Vorstandsvorsitzenden wundern, die sich
kürzlich wiederholt öffentlich als Verfechterin des derzeitigen Stiftungsmodells zu erkennen gab. Tenor: Das
Stakeholder-Modell mit Bund, Ländern, Sport und Wirtschaft habe sich bewährt, es befinde sich lediglich in einer Finanzierungsschieflage.
({7})
Alle Partner müssten dazu bewegt werden, Herr
Dr. Bergner, ihren Beitrag zu leisten. Da kann ich nur sagen: Wohlan!
Ich garantiere den Verantwortlichen der NADA: Mit
dieser passiven Haltung stehen Sie in einem Jahr wieder
vor der Frage, ob man mit den zur Verfügung stehenden
Mitteln wenigstens einen Mindeststandard in der Doping-Bekämpfung einhalten kann. Mit anderen Worten:
Same procedure as every year!
({8})
Trotz des unbestreitbaren Misserfolgs des runden Tisches kommt Minister Friedrich offenkundig zu dem
Schluss, dass alles am besten so bleibt, wie es ist. Mir ist
jedenfalls kein anderer Gedankengang aus dem Hause
BMI bekannt. Gleiches gilt, wie durch entsprechende
Äußerungen bereits eindrucksvoll belegt, für die NADA und für den Deutschen Olympischen Sportbund sowieso.
Angesichts der Bedeutung einer wirklich starken NADA
für einen sinnvollen und effektiven Kampf gegen Doping hält meine Fraktion dagegen eine Diskussion über
die zukünftige Finanzierung und Struktur der NADA für
unverzichtbar.
({9})
Wir fordern daher die Bundesregierung auf, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, die zeitnah
Vorschläge für eine neue Träger- und Finanzierungsstruktur der NADA erarbeitet.
Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich nach zehn
schwierigen und teilweise quälenden Jahren dieser Diskussion zu verschließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es macht im Gegenteil viel Sinn, ergebnisoffen darüber zu diskutieren. Es gibt nichts zu verlieren, aber
sehr viel zu gewinnen,
({10})
nämlich im Idealfall eine starke, unabhängige und mutige NADA, die unbeirrt im Sinne der sauberen Sportler
ihren Weg geht.
Gerade kam eine Meldung herein: Das Urteil des
Deutschen Sportschiedsgerichts in der Causa Erfurt, das
von der NADA als richtungsweisend eingestuft worden
ist, wird selbst vom Generalsekretär der DIS so nicht bewertet. Ich bin gespannt, welche Erklärungen Vertreter
unserer NADA dafür morgen wieder liefern werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Sinne:
Helfen Sie uns, eine starke NADA hinzubekommen.
Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann können wir diesen Weg gemeinsam gehen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Christoph Bergner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Freitag, ich wundere mich ein wenig über die Rhetorik.
({0})
Es beginnt mit der Feststellung, dass die Anti-DopingGesetzgebung, die wir haben, nichts anderes als ein Feigenblatt sei. Sie wissen, dass diese Gesetzgebung jüngst
durch eine Institution, die wir im Einvernehmen festgelegt haben, einer Evaluierung unterzogen wurde. Sie
kennen das Evaluierungsergebnis; es spricht nun wirklich nicht von einem Feigenblatt.
({1})
Sie sagen, das Bundesinnenministerium habe zur
Causa Erfurt nichts gesagt. Sie wissen, dass wir Ihnen einen umfänglichen Bericht dazu vorgelegt haben. Viel
mehr will ich dazu nicht sagen. Im Zusammenhang mit
diesem Punkt scheint mir immer noch nicht hinreichend
verstanden worden zu sein, dass es hier nicht um irgendein Verdeckungsproblem ging, sondern um ein Qualifizierungsproblem im Rahmen des WADA-Codes, das den
eigentlichen Konfliktpunkt hervorgerufen hat.
Am meisten irritiert mich Ihre verspätete Geburtstagsrede zum zehnten Jahrestag der NADA. Hier ist von
quälenden Jahren die Rede und davon, dass der NADA
eigentlich nicht zu trauen sei. Ich weiß nicht, ob Sie
wirklich Anlass haben, der NADA ein solches Etikett
mitzugeben.
Meine Damen und Herren, als ich den SPD-Antrag
las, hatte ich eigentlich Ernsthafteres erwartet. Das Problem, das Sie dort ansprechen, nehmen wir durchaus
ernst. Es ist das Problem, dass wir für die Anti-DopingArbeit der NADA bisher keine hinreichende nachhaltige
Finanzierungssicherung liefern konnten.
({2})
Diese Finanzierungssicherung ist das eigentliche Problem. Ich frage mich, wie Sie es lösen wollen, wenn Sie
damit die Strukturfrage verbinden.
Vor zehn Jahren hatten Sie die Regierungsmehrheit.
In dieser Zeit hat man sich aus guten Gründen dazu entschlossen, die NADA als eine privatrechtliche Stiftung
einzuführen. Wie gesagt, dies geschah aus gutem Grund.
Man wollte eine unabhängige Institution haben,
({3})
und zwar unabhängig gegenüber dem Sport, aber auch
gegenüber dem Staat; denn natürlich sind Interessenkonflikte denkbar.
({4})
Ich kann mir sogar Zeitungskommentare dergestalt ausmalen, dass der Staat als Träger von Sportfördergruppen
und damit mit besonderen Beziehungen zu bestimmten
Athletinnen und Athleten bei einer rein staatlichen
Finanzierung und der damit verbundenen staatlichen Abhängigkeit unter Umständen einen unredlichen Einfluss
ausübt.
Ich glaube, man hat sich vor zehn Jahren aus guten
Gründen und nicht zuletzt um der Unabhängigkeit willen
für ein privatrechtliches Stiftungsmodell entschieden.
Hier deckt sich meine Aussage vollkommen mit dem,
was die Vorstandsvorsitzende Gotzmann gesagt hat.
Wenn wir über den Tellerrand schauen, dann dürfte
uns auch auffallen, dass von den führenden Sportnationen sehr viele genau dieses privatrechtliche Stiftungsmodell für ihre nationalen Anti-Doping-Agenturen verwenden. Ich will nur auf die USA hinweisen, wo sich
dieses Modell im Zusammenhang mit der Causa
Armstrong - das war eine sehr lange und sehr mühselige
Aufklärungsarbeit - als ausgesprochen erfolgreich erwiesen hat.
({5})
Worum geht es also? Es geht um die Sicherstellung
einer nachhaltigen Finanzierung. Auch in diesem Zusammenhang bitte ich um eine redliche Argumentation.
Wir haben die Mittel nicht gestrichen, sondern wir haben
uns seinerzeit, im Jahr 2007, als wir gemeinsam eine Koalition gebildet haben, gemeinsam darauf verständigt,
dass wir zusätzliche Stiftungsmittel einstellen und eine
Anschubfinanzierung für die Sportverbände zur Verfügung stellen, damit sie den zusätzlichen Anforderungen,
die mit einer vermehrten Probenahme verbunden sind,
gerecht werden können. Diese Anschubfinanzierung war
von vornherein begrenzt. Im Grunde genommen war sie
schon im laufenden Haushalt nicht mehr vorgesehen. Es
ist bedauerlich, dass wir vonseiten des Bundes aufgrund
der Tatsache, dass sich andere verweigert haben, nachliefern mussten.
({6})
Wir sollten uns auf den eigentlichen Anlass zur Besorgnis, auf den verbesserungsbedürftigen Sachverhalt,
konzentrieren. Das ist der Umstand, dass der Bund im
Rahmen des Stakeholder-Modells bisher fast ausschließlich die Finanzierungsleistung erbringt. Die Bundesregierung hat sich nachdrücklich bemüht, diesbezüglich
zu einer entsprechenden Erweiterung zu kommen. Sie
wissen, dass wir in der Sportministerkonferenz und am
runden Tisch dafür geworben haben. Ich will den Landesregierungen von Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern sowie der Otto Bock GmbH, die im
Ergebnis dieses Prozesses zusätzliche Mittel bereitgestellt haben, ausdrücklich danken.
({7})
- Ich bitte Sie, sich verantwortungsbewusst zu verhalten
und darüber nachzudenken, welche Zwischenrufe Sie
hier gerade produzieren: „Jämmerlich!“, „Unzureichend!“
({8})
Wenn Sie eine vollständig staatlich finanzierte NADA
haben wollen, dann liegt die Finanzierung im Ermessen
des jeweiligen Haushaltsgesetzgebers, und zwar ausschließlich. Sie geben mit dieser Veränderung ein wesentliches Stück der Unabhängigkeit und der sachgerechten Bearbeitung im Anti-Doping-Kampf auf; denn
es geht ja um die Durchsetzung und Überwachung sportrechtlicher Regelungen.
Deshalb bitte ich Sie ausdrücklich: Würdigen Sie die
Leistungen der NADA in den letzten zehn Jahren. Sie ist
international anerkannt. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland eine beispielgebende Nationale Anti
Doping Agentur. Sie hat international eine Vorbildfunktion. Lassen Sie uns gemeinsam dafür werben, dass diese
Institution auch in ihrer Unabhängigkeit eine angemessene Förderung durch alle Stakeholder erfährt.
({9})
Das ist die eigentliche Lösung des Problems und nicht
ein Systemwechsel in Richtung Verstaatlichung der
NADA.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten
Friedensmission in Südsudan ({0}) auf Grundlage
der Resolutionen 1996 ({1}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und 2057 ({2})
vom 5. Juli 2012“ mitteilen: abgegebene Stimmen 563.
Mit Ja haben gestimmt 496, mit Nein haben gestimmt
65, Enthaltungen 2. Die Beschlussempfehlung ist damit
angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 561;
davon
ja: 494
nein: 65
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({3})
Manfred Behrens ({4})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({5})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({6})
Dirk Fischer ({7})
Axel E. Fischer ({8})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({9})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Alois Karl
Siegfried Kauder ({10})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({11})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({12})
Nadine Schön ({13})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({14})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({15})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({16})
Anita Schäfer ({17})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({18})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({19})
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({20})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({21})
Stefanie Vogelsang
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({22})
Peter Weiß ({23})
Sabine Weiss ({24})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({25})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({26})
Edelgard Bulmahn
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Graf ({27})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({28})
Hubertus Heil ({29})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({30})
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({31})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({32})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({33})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({34})
Michael Roth ({35})
Marlene Rupprecht
({36})
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({37})
Bernd Scheelen
({38})
Werner Schieder ({39})
Ulla Schmidt ({40})
Carsten Schneider ({41})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({42})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({43})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({44})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Angelika Brunkhorst
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({45})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({46})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Michael Link ({47})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Dirk Niebel
({48})
Cornelia Pieper
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Johannes Vogel
({49})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({50})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({53})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({54})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({55})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({56})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({57})
DIE LINKE
Paul Schäfer ({58})
Nun erteile ich Kollegen Jens Petermann für die Fraktion Die Linke das Wort.
({59})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Mafiöse Strukturen und systematisches Doping im Sport
gehen Hand in Hand. Besonders exemplarisch und spektakulär ist der Fall Armstrong, der die Sportwelt in den
vergangenen Wochen und Monaten wie kaum ein anderes Ereignis erschütterte. Der Abgrund - er wurde von
vielen kundigen Beobachtern der Szene bereits seit langem vermutet - ist jetzt sichtbar. Die Tragweite ist bislang noch unklar. Sportfunktionäre, insbesondere bei der
Internationalen Radsport-Union, ringen förmlich nach
Luft. Hier geht es nicht nur um das tragische Schicksal
einer einzelnen Person. Hinter dem Skandal Armstrong
steckt ein ganzes System aus Sportärzten, Sportfunktionären, Sportlern und Geschäftsleuten.
In besonders erschreckendem Ausmaß zeigt sich, wie
mit Doping im Sport skrupellos Geschäfte gemacht werden. Die Kommerzialisierung des Sports ist eine wesentliche Ursache für ein betrügerisches Dopingsystem, das
offensichtlich im Alltag der Sportwelt einen festen Platz
hat. Das gibt uns allen, die ein Herz für den Sport haben,
zu denken. Lassen Sie uns also das zum Anlass nehmen,
um über Parteigrenzen hinweg nach Lösungen zu suchen. Ein wesentliches Moment ist die Verfolgung und
Aufklärung von Dopingdelikten. Leider - das ist hier
schon angeklungen - können wir mit der NADA, wie sie
derzeit aufgestellt ist, keinen Staat machen.
Die Aufdeckung des Falls Armstrong wäre wohl nie
gelungen, wenn die US-Anti-Doping-Agentur nicht so
einen langen, vor allem finanziellen, Atem gehabt hätte.
Herr Bergner, da haben Sie völlig recht. Bereits 2003
hatte die US-amerikanische Anti-Doping-Agentur Einnahmen von über 10 Millionen US-Dollar, übrigens
deutlich mehr als die Hälfte aus Zuwendungen des Staates. Das jährliche Gefeilsche im Sportausschuss um
1 Million Euro ist vor diesem Hintergrund wirklich lächerlich und ein Armutszeugnis.
({0})
Im Zentrum der Lösungen, nach denen wir gemeinsam suchen sollten, muss aus unserer Sicht vor allem
eine Verbesserung der Prävention stehen. Doping ist
kein alleiniges Phänomen des Spitzensports. Doping ist
leider auch im Jugend- und Breitensport weit verbreitet.
Hier geht es neben der Moral vor allem auch um die Gesundheit Tausender Menschen. Nierenschäden, Herzschwäche, Hautveränderungen und Veränderungen der
Geschlechtsmerkmale sind nur einige der Nebenwirkungen, die insbesondere auf Anabolikamissbrauch zurückzuführen sind. Bereits Jugendliche müssen über die Gefahren für Leib und Leben aufgeklärt werden. Vielversprechende Ansätze wie beispielsweise die jährlich stattfindende Regionalkonferenz „Dopingprävention“ der
Deutschen Sportjugend müssen zu einem flächendeckenden Angebot weiterentwickelt werden.
({1})
Dass diese Angebote Geld kosten, ist klar. Weitere Investitionen sind also unausweichlich. In der Pflicht steht
dabei vor allem der Bund. Die Bundesregierung schreibt
sich in ihrem letzten Sportbericht eine Vorreiterrolle zu.
Das finanzielle Engagement indes ist überschaubar und
steht in keinem Verhältnis zu den Herausforderungen,
die der Anti-Doping-Kampf mit sich bringt. Die Bundesregierung hat sich damit ein echtes Glaubwürdigkeitsproblem geschaffen.
Die Lippenbekenntnisse des Innenministeriums sind
für die Galerie und helfen nicht weiter. Besonders pikant
wird das Ganze, wenn wir zeitgleich erfahren müssen,
dass es an der Bereitschaft zur Aufarbeitung mangelt.
Aktuelles Beispiel hierfür ist ein Forschungsprojekt über
Doping in Deutschland, das 1950 vom Deutschen Olympischen Sportbund initiiert und vom Bundesinstitut für
Sportwissenschaft beauftragt und gefördert wurde, nun
aber offensichtlich nicht beendet werden kann. Das Bundesministerium des Innern und der Deutsche Olympische Sportbund schieben nun den beauftragten Wissenschaftlern den Schwarzen Peter zu. Diese hatten allerdings schon bei der Vorstellung des Zwischenberichts im
Jahre 2011 regelwidrige Einflussnahmen durch die Auftraggeber beklagt. Mit dem Mittel der Zensur soll durch
Schwärzungen Rücksicht auf prominente Namen aus
Sport und Politik genommen werden. Im Sportausschuss
wurde das Thema leider auf Mitte Januar verschoben.
Dies ist völlig unverständlich. Dies ist ein typischer Fall
für brutalstmögliche und zügige Aufklärung.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - So bekommen wir jedenfalls das Thema Doping nicht in den
Griff. Die Verantwortlichen müssen endlich ehrlich, unvoreingenommen und ohne politische Rücksichtnahme
handeln. Sonst wabert über dem deutschen Anti-DopingKampf weiterhin ein Nebelschleier der Scheinheiligkeit.
Danke.
Frau Präsidentin, ich bin jetzt fertig.
({2})
Wie schön. - Das Wort hat der Kollege Dr. Lutz
Knopek für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Antrag der SPD wird zu Recht festgestellt:
Doping gefährdet die Grundwerte des Sports und zerstört ihn somit in seiner Substanz. - Dem können wir als
Sportpolitiker alle zustimmen.
({0})
Es ist klar - Herr Petermann hat es angesprochen -, dass
der Kampf gegen Doping eine gesamtgesellschaftliche
Herausforderung ist. Der Breitensport, die Schulen, die
Familien: sie alle sind im Kampf gegen Doping gefordert.
Es heißt in dem Antrag:
Größtes Problem der NADA ist die mangelhafte finanzielle Ausstattung.
Da müssen wir uns in Erinnerung rufen, wie es zur
Gründung der NADA kam: Nachdem das IOC, als im
Zusammenhang mit der Vergabe der Olympischen Winterspiele 2002 in Salt Lake City der Verdacht der Korruption aufgekommen war, eine heftige Krise durchlebt
hatte, gab es die World Conference on Doping, es gab
die Deklaration von Lausanne, und es folgte 1999 die
Gründung der WADA und dann, drei Jahre später, der
NADA.
Herr Bergner hat ganz richtig gesagt: Es gibt gute
Gründe dafür, dass die NADA die Struktur hat, die sie
hat; denn für uns hat die Autonomie des Sports einen
ganz hohen Stellenwert. Gerade nach den Erfahrungen
mit dem Staatsdoping der DDR müsste doch eigentlich
klar sein, dass eine staatliche Anti-Doping-Agentur nicht
automatisch die Lösung aller Probleme sein muss.
({1})
Deshalb ist die NADA nach dem Stakeholder-Modell
aufgebaut, deshalb haben wir eine privatrechtliche Stiftung. Das war 2002 eine Entscheidung der rot-grünen
Koalition,
({2})
und diese Entscheidung ist grundsätzlich richtig gewesen.
Als Stiftungskapital waren ursprünglich 80 Millionen
Euro angesetzt.
({3})
Geworden sind daraus nur gut 6 Millionen Euro. Die
Länder haben eine traurige Rolle gespielt: Sie haben gerade einmal 1 Million Euro beigesteuert. Die Beteiligung
der Wirtschaft ist erst recht beschämend: Da kamen initial gerade einmal 150 000 Euro zusammen. Die Rolle
des Bundes sollte eigentlich nur aus einer Anschubfinanzierung bestehen. Aktuell kommen aber ungefähr
85 Prozent des Stiftungskapitals vom Bund. Die NADA
war also von Anfang an unterfinanziert.
Jetzt kommt ein weiteres Problem dazu: Das Stiftungskapital verzinst sich kaum. Dieser Vorwurf betrifft
Herrn Draghi und die Nullzinspolitik der EZB; wir
Sportpolitiker können nichts dagegen machen.
({4})
Grundsätzliche Überlegungen für die Zukunft sind
also sinnvoll. Fürs Erste ist die Finanzierung gesichert:
Der Bund zahlt noch einmal 1 Million Euro; vielen
Dank.
({5})
Nun sind die Länder und die Wirtschaft gefragt. Ein
Dank geht an Baden-Württemberg dafür, dass BadenWürttemberg - sicherlich durch einen grünen Impuls ({6})
- durch einen grün-roten Impuls - eine Vorreiterfunktion
eingenommen hat. Die anderen Länder müssen nachfolgen.
Aber auch die Wirtschaft muss sich wesentlich mehr
engagieren. Ich finde es klasse, wenn die Firma Adidas
und die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände vorangehen. Das ist nicht das klassische Sponsoring, bei dem man unmittelbar einen positiven Produkteffekt hat; aber es steht einer verantwortungsvollen
Sportindustrie gut zu Gesicht, sich hier mehr zu engagieren.
Ich vertraue dem, was der neue Vorsitzende des Aufsichtsrates der NADA, Professor Näder, vor einigen Monaten bei uns im Sportausschuss gesagt hat: dass er sich
als Mann aus der Wirtschaft noch einmal um Unterstützung aus der Wirtschaft kümmern wird. - Ich bin mir sicher, hier wird sich etwas tun.
Es hat in der NADA aber auch organisatorische Anlaufschwierigkeiten gegeben. Als wir gestern im Sportausschuss den Anti-Doping-Bericht 2011 diskutiert haben, haben wir darüber gesprochen. Die Implementierung der Anti-Doping-Regularien war schwierig. Es
geht um 60- bis 70-seitige Regelwerke und 57 vom
Bund geförderte Verbände. Darunter befinden sich auch
kleinere Verbände mit ehrenamtlichen Strukturen. Dies
hat einer aufwendigen persönlichen Beratung bedurft.
Mittlerweile gibt es gemeinsam mit dem DOSB Schulungen und eine E-Learning-Plattform. Es geht also voran. Dennoch ein weiterer Appell an die Länder: Die bürokratischen Hürden müssen abgebaut werden; denn
- Herr Petermann sagte es - die Prävention ist hier ganz
besonders wichtig. Präventionsveranstaltungen sind aber
Aufgabe der Länder.
Die NADA hat also einen schwierigen Start gehabt,
leistet inzwischen aber gute Arbeit.
Die SPD fordert nun die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission. Dazu kann ich nur sagen:
noch eine Kommission.
({7})
Kommen wir zum zweiten Antrag. Sie sprechen vom
Erfurter Skandal. In Ihrem Antrag heißt es:
Medienberichten zufolge soll es am Olympiastützpunkt Thüringen zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein.
Medienberichte? Was ist denn das für eine Evidenz?
Statt über Medienberichte zu reden, sollten wir lieber in
Ruhe die Untersuchungsergebnisse abwarten und dann
angemessen entscheiden.
Was war denn das überhaupt für ein Skandal? Es ging
um eine Eigenblutinfusion.
({8})
50 Milliliter Blut wurden dem Körper entnommen, danach mit UV-Licht bestrahlt und dann dem Körper wieder zugeführt.
({9})
Kein einziger der führenden Hämatologen kann sich hier
das Potenzial eines leistungssteigernden Effektes vorstellen.
({10})
Die Sache war also vielleicht formal relevant, aber hier
ist keinerlei leistungssteigernder Effekt abzusehen.
({11})
Es ist also ein Problem, dass es hier zu Quacksalberei
kommt, die man sonst nur bei Heilpraktikern erlebt.
Wie ist es eigentlich um die medizinische Qualität der
Sportmedizin an unseren Olympiastützpunkten bestellt?
Für mich ist der eigentliche Skandal: Wird so ein Humbug etwa durch Steuergelder bezahlt?
({12})
Kommen wir zu den Forderungen in Ihrem Antrag.
Das sind die üblichen Appelle, gemischt mit einer Prise
Heuchelei und leider auch mit einer sehr fragwürdigen
Forderung: Alle Sportler und Sportlerinnen, die in Stützpunkten trainieren, müssen frei von jeglichem Dopingverdacht sein. Entscheidet also der bloße Verdacht - egal
von wem erhoben, egal ob begründet? Das erinnert mich
doch etwas an die Denkweise totalitärer Systeme.
Sie sagen, für eine effektive Dopingbekämpfung sei
eine nachhaltige und ausreichende Finanzierung unabdingbar. Das ist richtig. Wir arbeiten daran. Darüber dürfen wir aber nicht vergessen, dass die NADA inzwischen
gute Arbeit leistet. Wir sollten das unterstützen und nicht
infrage stellen.
Die FDP-Fraktion lehnt daher beide Anträge ab.
({13})
Die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel hat das
Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines vorweg: Die
Debatte um die NADA-Finanzierung ist eine Farce. Wie
in jedem Jahr beschließen Sie, Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, in einer Hauruckaktion, der
NADA ein weiteres Mal 1 Million Euro zuzuschießen.
({0})
Damit beheben Sie aber das Grundproblem des AntiDoping-Kampfes nicht.
({1})
Die NADA ist chronisch unterfinanziert und kehrt auch
mit einer zusätzlichen Million nur zum Finanzierungsstand des Vorjahres zurück. Der tatsächliche Fehlbedarf
liegt bei 1,35 Millionen Euro.
Herr Knopek, Sie sagen, dass Sie auf die Otto Bock
HealthCare GmbH hoffen. Das ist ein Mittelständler im
Eichsfeld. Er soll sich jetzt dafür einsetzen, den AntiDoping-Kampf in Deutschland zu reanimieren. Man
muss wirklich sagen: Das ist ein absoluter Witz.
({2})
Warum der Hilfeschrei der NADA für den notwendigen Mittelaufwuchs erst so spät erfolgte, versteht allerdings auch niemand. Gegenfinanziert wird diese Million
übrigens aus dem Traineretat, einer Gruppe - die Trainer -,
die über die Gründung des Trainerbeirats eigentlich gestärkt und nicht geschwächt werden sollte.
Wir Grüne plädieren für Planungssicherheit und haben deshalb einen zukunftsfähigen Vorschlag vorgelegt,
der auch den Spitzensport selbst nicht verschont. Aus
Sicht der Grünen ist es unerlässlich, einen Teil der Mittel
für die Spitzensportförderung in den Anti-DopingKampf zu stecken. Wenn der Sport beweisen will, dass
er sauber ist und dass ihm die Dopingbekämpfung ein
echtes Anliegen ist, dann spricht nichts dagegen, automatisch 5 Prozent der Förderung für Dopingbekämpfung, für Prävention und für Anti-Doping-Forschung
auszugeben.
({3})
Zum Vergleich: In Frankreich sind es sogar 10 Prozent.
Die Koalition aber hat sich diesem Vorschlag verweigert. Ich sage Ihnen voraus - auch das hat Frau Freitag
eben schon erwähnt -: Wir werden in einem Jahr wieder
hier sitzen, um über die Unterfinanzierung der NADA zu
debattieren.
Mit der jetzigen Zahlung zeigt die Koalition allerdings keinen Großmut, im Gegenteil. Sie stellen doch
mit Ihrer Last-Minute-Episode nur eines unter Beweis:
Der Runde Tisch des Innenministers vom Februar ist
endgültig gescheitert. Anstatt die Länder zum Zahlen zu
bewegen, bringt der Herr Minister diese mit seinem Vorgehen gegen sich auf. Nur das grün-rot-regierte - ich
hätte auch fast rot-grün gesagt - Baden-Württemberg
zeigt Flagge
({4})
und zahlt 128 000 Euro für drei Jahre. Wo ist denn der
Beitrag des CSU-regierten Bayern? Ich frage Sie.
Allerdings hat sich auch die NADA sonst nicht mit
Ruhm bekleckert. Während in den USA das Denkmal
Armstrong durch kluge Ermittlungen, aber auch mit Unterstützung der WADA gestürzt wurde, freut sich die
NADA hier, wenn die Verfahren vom Deutschen Sportschiedsgericht folgenlos eingestellt werden.
({5})
- Ich habe nicht Äpfel mit Birnen verglichen. Wir haben hier eine NADA, und wir haben dort eine unabhängige USADA. Beide könnten das Gleiche leisten. Wir
haben hier Versagen, dort gibt es Erfolge. Das ist die
Wahrheit.
({6})
Wir halten fest: Es gibt ständig Personalwechsel bei
der NADA. Ab 2011 hätte die NADA eine Chance
für personelle Kontinuität gehabt, aber eine engagierte
kommissarische Geschäftsführerin wurde abgewatscht,
Querdenker oder investigatives Personal wurden nicht
eingestellt. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
In der Causa Erfurt ist die NADA jedes Mal einen
Schritt zu spät: zu späte Akteneinsicht, zu spätes Einleiten der Ermittlungen. Anschließend überwirft sie sich
auch noch mit der WADA.
Das wenig wirksame Kontrollsystem krankt an Ineffizienz. Obwohl seit mehreren Jahren Blutkontrollen
durch die NADA eingelagert werden und somit zur weiteren Verwendung zur Verfügung stehen, wurde immer
noch kein indirekter Nachweis durch die Sportverbände
geführt. Das ist das gängige Prinzip bei der Dopingbekämpfung in Deutschland. Man betrachtet sich selbst als
die Spitze der Bewegung beim Anti-Doping-Kampf.
Aber tatsächlich trägt man die rote Laterne.
Die Bundesregierung hat bislang kein Konzept zur
Qualitätsverbesserung vorgelegt. Sie kritisiert lieber die
WADA, anstatt vor der eigenen Haustür zu kehren. Und
mal ganz ehrlich: Wir wissen doch jetzt schon, was bei
Professor Jahn und seiner Evaluierung des Arzneimittelgesetzes rauskommen wird. In der Evaluierung wird der
Spitzensport gar nicht aufgegriffen. Wir beschäftigen
uns dort mit dem Breitensport. Das, was Sie dazu in
Auftrag gegeben haben, ist doch ein Witz; das kann man
gar nicht anders sagen.
Für mich steht fest: Die besten Dopingbekämpfer
sitzen außerhalb der NADA, wie zum Beispiel das Ehepaar Berendonk/Franke, der Präventionsexperte Gerhard
Treutlein oder auch der Sportmediziner Perikles Simon.
Daher bleibt das Fazit: Die NADA ist seit 2002 in den
Startblöcken stecken geblieben.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Klaus Riegert für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bundespräsident Gauck hat gestern bei der Verleihung
des Silbernen Lorbeerblattes überraschenderweise auch
den Kampf gegen Doping gewürdigt und ausdrücklich
der NADA für ihre gute Arbeit gedankt.
({0})
Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, das Ganze anzupacken.
({1})
Wir haben hier Einigkeit im Kampf gegen Doping,
das ist ja richtig. Aber zum SPD-Antrag zur Unzeit kann
ich nur sagen: unsolidarisch. Wir bauen auf Länder,
Wirtschaft und Sport Druck auf, ihren Verpflichtungen
nachzukommen. Wir haben vor zehn Jahren mit den
Ländern, der Wirtschaft und dem Sport ein StakeholderModell als gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Dopingbekämpfung verabredet. Bisher ist nur der Bund seinen
Verpflichtungen nachgekommen. Er hat rund 11 Millionen Euro ins Stiftungskapital gegeben und hat im Haushaltplanentwurf für 2013 2,2 Millionen Euro in Ansatz
gebracht. Hinzu kommt 1 Million Euro heute - ich hätte
beinahe gesagt: in der Nacht der langen Messer - durch
den Beschluss des Haushaltsausschusses bei der Bereinigungssitzung.
In Ihrem Antrag lese ich dann:
Doch auch die Mittel des Bundes sind von der derzeitigen Bundesregierung gekürzt worden, so dass
schon in diesem Jahr nur durch zusätzliche Mittel,
die im Rahmen der Haushaltsberatungen nachträglich eingestellt wurden, der geordnete Betrieb der
NADA für 2013 aufrecht erhalten werden kann.
({2})
Der erste Punkt: Das ist nicht korrekt, weil es immer um
eine Anschubfinanzierung ging. Es war von Beginn an
klar, dass diese Anschubfinanzierung nach vier Jahren
ausläuft.
({3})
Der zweite Punkt: Es ist für Sie als Abgeordnete
wirklich erbärmlich: Wir dringen auf das Königsrecht
des Parlaments, das Haushaltsrecht. Die Haushaltsberatungen finden im Augenblick statt. Auf unseren Antrag
hin wird 1 Million Euro zusätzlich eingestellt. Das aber
diskreditieren Sie mit Ihrem Antrag. Das, was Sie da machen, ist völlig unmöglich.
({4})
Schauen wir, was noch in Ihrem Antrag steht. Sie
schreiben:
Dies ist nicht hinnehmbar, da eine glaubwürdige
Dopingbekämpfung nur von einer starken, unabhängigen und finanziell dauerhaft auf sicheren Füßen stehenden NADA geführt werden kann.
Was ist Ihre Antwort darauf? Die Einsetzung einer Expertenkommission. Ich lache mich ja kaputt. Sie hätten
wenigstens ehrlich sein und schreiben können: Alles soll
verstaatlicht werden, der Bund soll alles zahlen, auch
wenn das zulasten des Sports im Haushalt geht. Mit der
Unabhängigkeit ist es vorbei. Die Verantwortungen sind
damit verlagert. Der Sport wird aus seiner Verantwortung entlassen. - Wenn Sie das wollen, dann sollten Sie
das auch so in den Antrag schreiben.
({5})
Liebe Frau Vorsitzende, ein Wort zur Unabhängigkeit.
Sie beklagen, die NADA habe nicht den nötigen Biss.
Wir hätten von Ihnen als neutrale Vorsitzende des Sportausschusses und auch als Mitglied des Aufsichtsrats der
NADA nicht erwartet, dass Sie der NADA in dieser
Form in den Rücken fallen. Wir erwarten, dass Sie sich
bei solchen politischen Themen etwas neutraler verhalten und vor allem auch sachgerechter äußern.
({6})
Zu Ihrem zweiten Antrag. Schon die Überschrift ist
verräterisch: „Doping an Olympiastützpunkten, Bundesleistungszentren und Bundesstützpunkten konsequent
bekämpfen“. Das wirkt so, als ob Sie davon ausgingen,
dass an unseren Zentren, die überwiegend aus Steuergeldern finanziert werden, in hohem Maße gedopt wird.
({7})
Dann vergleicht die Frau von Cramon-Taubadel den
Fall Armstrong, bei dem über Jahre nachgewiesenermaßen knallhart gedopt wurde, mit der Causa Erfurt.
Das haben Sie gerade in Ihrer Rede gemacht.
({8})
Man muss aber der Öffentlichkeit erzählen, was dort genau passiert ist. Der Kollege Knopek hat das vorgemacht.
({9})
Wir sind zwar beim Thema Heilpraktiker und der Qualität ihrer Arbeit geteilter Meinung, aber ansonsten hat er
es zutreffend geschildert: 50 Milliliter Blut wurden mit
UV-Licht bestrahlt und dann zurückinjiziert. Nur: Sieht
so knallhart verdecktes Doping in diesem Fall aus? Der
zuständige Arzt hat dieses Verfahren auf einem medizinischen Bogen vermerkt. Diese Maßnahme wurde
dann auch entsprechend abgerechnet, und zwar mit
17,50 Euro. Das in einen Zusammenhang mit konspirativem Doping zu stellen, das ist schon ziemlich weit hergeholt.
({10})
Jetzt hat das Deutsche Sportschiedsgericht hierzu eine
Entscheidung getroffen. Solange der CAS keine andere
Entscheidung getroffen hat, können Sie hier nicht behaupten, diese Maßnahme sei verboten. Das ist definitiv
erst ab dem Jahr 2012 ganz klar vom WADA-Code erfasst. Vorher kann man den Sportlern keinen Vorwurf
machen.
Deshalb lassen Sie uns wieder ein Stück weit ruhiger
diskutieren. Wir brauchen die NADA. Die NADA hat
sich zum Kompetenzzentrum für Dopingbekämpfung in
Deutschland entwickelt, ist international anerkannt, hat
den WADA-Code, entsprechende Vorgaben und Richtlinien durchgesetzt. Deswegen lassen Sie uns hier nicht so
({11})
emotional diskutieren, sondern wieder zu den Fakten zurückkehren. Sie werden Verständnis dafür haben, dass
wir beide Anträge von Ihnen ablehnen.
Danke.
({12})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11320 an den Sportausschuss vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Sportausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Doping an Olympia-
stützpunkten, Bundesleistungszentren und Bundesstütz-
punkten konsequent bekämpfen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10083, den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/8896 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage-
gen haben SPD und Grüne gestimmt. Die Fraktion Die
Linke hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 17/9874 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/11388 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Halina Wawzyniak
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer Expertenkommission zur
Sicherungsverwahrung
- Drucksachen 17/8760, 17/7843, 17/11388 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Halina Wawzyniak
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor. Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Der Kollege Christian Ahrendt hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend über die Umsetzung des Abstandsgebotes und schließen damit die Reform der Sicherungsverwahrung ab, die 2010 begonnen
hat. 2010 haben wir die Sicherungsverwahrung zuerst
durch die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung und mit dem Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung reformiert. Jetzt folgt - schon damals angelegt - das Therapieunterbringungsgesetz, mit
dem wir das Abstandsgebot rechtlich verankern. Damit
setzen wir das Gesamtkonzept um, das das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom Mai 2011
verlangt. Wir können feststellen: Mit dieser Reform haben wir erstens erreicht, dass das Recht der Sicherungsverwahrung wieder auf verfassungsmäßig festem Boden
steht, und zweitens, dass die Sicherheit für die Menschen
in Deutschland effektiver und besser geworden ist, insbesondere was den Schutz vor gefährlichen Straftätern
angeht.
({0})
Für diese Arbeit möchte ich mich bei der Justizministerin und ihrem Ministerium, aber auch bei den Kollegen
von der Koalition bedanken. Diesem schwierigen Gesetz
sind sehr umfassende, aber auch sehr konstruktive Beratungen vorausgegangen. In der gestrigen Beratung im
Rechtsausschuss hat auch die Opposition anerkannt,
dass das, was wir mit dem Abstandsgebot umsetzen, vernünftig und richtig ist und sich exakt an den Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Trotzdem gibt
es eine Restkritik, die hier nicht unerwähnt bleiben soll,
und zwar einfach deshalb, weil sie uns in der nächsten
Zeit noch beschäftigen wird. Ich möchte daher einen
kleinen Rückblick auf das wagen, was uns Probleme
beim Recht der Sicherungsverwahrung bereitet hat.
Wir haben 1998 den ersten Fehler gemacht, als die
Zehnjahresfrist abgeschafft wurde und Personen, die bereits in Sicherungsverwahrung waren, längere Zeit in Sicherungsverwahrung geblieben sind. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hat dies 2009 wegen
Verstoßes gegen das Rückwirkungsgebot im Grunde genommen kassiert. Die Folge dieser Entscheidung war,
dass wir nach 2009 Straftäter entlassen mussten, die auf
ein Leben in Freiheit nicht vorbereitet und nicht theraChristian Ahrendt
piert waren. Teilweise waren sehr umfangreiche Polizeimaßnahmen erforderlich, um die betreffenden Straftäter
zu überwachen und die Bevölkerung zu schützen.
Ein weiterer relevanter Punkt war 2004 die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach einer grausamen Straftat in Neumünster und dem aus dem
Jahr 2001 stammenden allbekannten Satz: „Wegschließen - und zwar für immer!“
Auch die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat beim Bundesverfassungsgericht auf dem
Prüfstand gestanden. Damit bin ich genau an der Schnittstelle, die uns sicherlich in den kommenden Debatten
noch beschäftigen wird, nämlich bei der Frage: Ist nach
wie vor eine nachträgliche Sicherungsverwahrung auch
unter Beachtung des Abstandsgebotes zulässig?
Wenn man heute die Pressemeldungen liest und die
Äußerungen der Landesjustizminister zur Kenntnis
nimmt, dann hat man das Gefühl, dass wir eine Debatte
im Bundesrat vor uns haben, die ich, auch wenn ich den
Antrag der SPD sehe, für durchaus gefährlich halte - gefährlich deswegen, weil wir es, wie ich eingangs gesagt
habe, geschafft haben, das Recht der Sicherungsverwahrung wieder auf einen verfassungsmäßig festen Boden
zu stellen. Wenn wir uns aber wieder auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung oder die nachträgliche
Therapieunterbringung, um den aktuellen Begriff zu verwenden, hinbewegen, dann geben wir diesem Gesetz im
Grunde genommen die Verfassungswidrigkeit schon
wieder mit auf den Weg.
({1})
Wenn wir nicht das wollen, was 2009 passiert ist, nämlich dass wir irgendwann eine Anzahl von Straftätern
entlassen müssen, dann sollten wir tunlichst davon absehen.
Ich will Ihnen die Gründe nennen, warum ich das für
den falschen Weg halte. Der erste Grund ist: Wenn man
sich die Praxis anschaut, dann stellt man fest, dass die
nachträgliche Sicherungsverwahrung im Grunde genommen zu vernachlässigen gewesen ist.
({2})
Derzeit gibt es gerade einmal 15 Fälle von 500, die davon betroffen sind.
({3})
Es sind in den Jahren seit 2004 über 115 Fälle von den
obersten Gerichten abgelehnt worden, für die nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt worden ist.
Der zweite Grund betrifft ein Problem, das mit der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu tun hat.
Um überhaupt in die Nähe einer nachträglichen Therapieunterbringung zu kommen, braucht man das Drohen
einer spezifisch konkreten Straftat. Das betrifft nicht die
ferne Zukunft, nicht einen Zeitraum von zwei, drei
Monaten, sondern es handelt sich um wenige Tage, bevor so etwas passiert. Damit ist eigentlich schon ausgeschlossen, dass Sie überhaupt eine nachträgliche Therapieunterbringung mit einem vernünftigen Rahmen in
das Gesetz bekommen. Das Bundesverfassungsgericht
hat noch eine weitere Voraussetzung formuliert: Das ist
die psychische Störung.
Alles zusammengenommen zeigt die Schwierigkeit,
dieses Rechtsgebiet zu regeln. Deswegen haben wir im
Konzept 2010 das getan, was uns als richtiger Weg vom
Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist. Das ist
der Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung;
denn damit erreichen wir mehrere Ziele. Die Gefährlichkeit des Täters wird durch seine Tat sichtbar. Sie ist
sichtbar, wenn sie abgeurteilt wird. Anhand dessen, was
der Richter zum Zeitpunkt der Urteilsabfassung weiß,
kann er entscheiden, ob vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet wird oder nicht. Dann haben wir einen Täter in der Haft, der psychologisch betreut und
kontrolliert wird, der aber auch auf ein Leben in Freiheit
vorbereitet wird und hinsichtlich seiner Gefährlichkeit
therapiert werden soll. Das ist alles das, was uns das
Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat. Damit haben
wir eine engmaschige Überwachung genau dieses Täterkreises. Wenn sich dann tatsächlich die Gefährlichkeit
herausstellt, haben wir am Ende die Möglichkeit, die
nachträgliche Sicherungsverwahrung, die im Urteil vorbehalten worden ist, ordnungsgemäß und rechtsstaatlich,
angeknüpft an die Tat, anzuordnen, um damit die Bevölkerung vernünftig zu schützen. Das ist der bessere Weg.
Deswegen sollten wir es nicht riskieren, auch in den weiteren Debatten, die uns bevorstehen, ein Gesetz, das jetzt
auf verfassungsmäßig festem Boden steht - Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss -, zu gefährden.
Insofern darf ich in Richtung der Ministerin und der
Koalition sagen: Bei diesem schweren Rechtsgebiet haben wir eines erreicht: Der Glanz ist in die Rechtspolitik
- ich sage das immer gerne - zurückgekehrt.
Herr Kollege.
Die Opposition kann Anteil an dem Glanz haben, und
zwar in dem Moment, in dem sie abstimmt.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPD ergreift das Wort der Landesminister
Thomas Kutschaty.
({0})
Thomas Kutschaty, Minister ({1}):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil
vom Mai 2011 die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur
rechtlichen Neugestaltung der Sicherungsverwahrung in
Deutschland gesetzt. Mit dem vorliegenden Gesetzent24804
Minister Thomas Kutschaty ({2})
wurf will die Bundesregierung nunmehr zur Umsetzung
des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung
Leitlinien vorgeben und damit den eigenen bundesrechtlichen Anteil am Gesamtkonzept erfüllen.
Lassen Sie es mich vorab sagen: Ein Großteil der
zweijährigen Frist, die uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat, ist leider dadurch verschwendet worden, dass sich die Bundesregierung anderthalb Jahre
lang nicht einig werden konnte, wie die neue Regelung
denn tatsächlich aussehen soll.
({3})
Es ist völlig unverständlich, dass die Bundesregierung
bei einem so bedeutenden Thema derartig leichtfertig
handelt. Bei derart wichtigen gesamtgesellschaftlichen
Aufgaben sollte der Zeitdruck möglichst minimiert werden, den die Länder nunmehr haben, weil wir noch in der
Pflicht sind, eigene Umsetzungsgesetze bzw. Landesvollzugsgesetze dazu innerhalb eines halben Jahres zu
schaffen. Dieses Thema dient nicht zur politischen
Durchsetzung von Mindermeinungen in der Bundesregierung.
({4})
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf entspricht zwar im Grundsatz unseren Vorstellungen, auch was die Frage der Regelung des Abstandsgebotes anbelangt; er ist allerdings nicht vollständig. Es
klafft in einem sehr wesentlichen Punkt eine schwerwiegende Lücke.
So ist die Bundesregierung gerade nicht der Forderung des Bundesrates und der Justizministerkonferenz
nachgekommen, auch künftig hochgefährliche psychisch
gestörte Sexual- und Gewalttäter geschlossen unterzubringen, wenn ihre besondere Gefährlichkeit erst im
Strafvollzug offenbar wird. Das betrifft zwar nur sehr
wenige - damit haben Sie recht, sehr geehrter Herr
Arendt -, aber es sind gerade hochgefährliche
Menschen.
({5})
„Die Möglichkeit, gefährliche Gewalt- und Straftäter
auch nachträglich noch unterbringen zu können, darf uns
nicht genommen werden!“ Dieser Satz fasst die Notwendigkeit, die sich abzeichnende Gesetzeslücke zu schließen, treffend zusammen. Dieser Satz stammt allerdings
nicht von mir, sondern von der stellvertretenden Vorsitzenden der CSU, meiner bayerischen Amtskollegin Frau
Dr. Beate Merk.
({6})
Auch meine Amtskollegin aus Mecklenburg-Vorpommern, Frau Uta-Maria Kuder von der CDU, sowie
sämtliche sozialdemokratischen Landesministerinnen
und -minister teilen diese Auffassung, ebenso die SPDFraktion im Deutschen Bundestag, und seien Sie doch
ehrlich, sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/
CSU-Fraktion: Sie doch im Inneren eigentlich auch. So
war es zumindest in der ersten Beratung erkennbar.
({7})
Sie sehen, meine Damen und Herren: Über Parteigrenzen hinweg haben sich Justizministerinnen und
Justizminister auf den letzten drei Justizministerkonferenzen mit deutlicher Mehrheit für die Möglichkeit der
nachträglichen Therapieunterbringung ausgesprochen.
Warum wird diese Forderung von der Bundesregierung
nicht aufgegriffen? Warum enthält dieser Gesetzentwurf
nach wie vor diese gravierende Lücke? Weil sich die
Minderheit in der Bundesregierung gegen eine vernünftige parteiübergreifende Regelung sperrt.
Das Bundesjustizministerium bzw. Sie, sehr geehrte
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, haben im Vorfeld
immer gesagt, es sei schwierig, dies zu regeln, da es
auch juristisch sehr umstritten ist. Ist also die Schwierigkeit einer Materie nunmehr ein Argument, von einer gesetzlichen Regelung Abstand zu nehmen? Hoffentlich
nicht. Denn ich will Ihnen an dieser Stelle einmal verdeutlichen, über was für Menschen wir hier sprechen,
und Ihnen damit gleichzeitig zeigen, welche direkten
Auswirkungen Bundesgesetzgebung auf unsere Arbeit
vor Ort in den Ländern hat.
Ein erster Fall: In Nordrhein-Westfalen lebt der in
Bayern verurteilte Sexualstraftäter Karl D. Er hat in einem eigens dafür hergerichteten Transporter zwei junge
Mädchen über einen langen Zeitraum in brutaler und
höchst erniedrigender Art und Weise vergewaltigt und
sexuell verstümmelt. Gutachter bescheinigen ihm eine
dissoziale Persönlichkeitsstörung und schließen daraus,
dass er ohne Therapie mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit wieder rückfällig werden wird. Während seiner Strafhaft hat er nicht nur jedes Therapieangebot, sondern jegliche Auseinandersetzung mit seiner Tat
verweigert. Karl D. ist frei. Er wird daher rund um die
Uhr von nordrhein-westfälischen Behörden überwacht.
Aufwand und Kosten dieser Maßnahme möchte ich an
dieser Stelle bewusst nicht thematisieren.
Ein weiteres Beispiel: Ein in Bayern Verurteilter hat
über ein Jahrzehnt hinweg massive sexuelle Übergriffe
auf seine Frau und seine Tochter verübt. Erst während
der Verbüßung seiner 15-jährigen Haftstrafe wurde bei
ihm eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert, nach
der dieser Täter auch für die Allgemeinheit gefährlich
ist.
Wir alle wissen, dass eine nachträgliche Therapieunterbringung glücklicherweise nur in sehr wenigen Fällen
in Betracht kommt. Schon die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist früher nur in wenigen Einzelfällen angeordnet worden. Das ist aber gerade kein Argument gegen
die Schaffung einer neuen Maßregel. Das Gegenteil ist
der Fall. Denn dieser Befund zeigt, wie sorgfältig unsere
Gerichte bislang mit einem solchen Instrument umgegangen sind und auch zukünftig umgehen werden. Aber
jeder Einzelfall, auf den die von uns vorgeschlagene Regelung abzielt, ist so gravierend, dass keine rechtliche
Minister Thomas Kutschaty ({8})
Möglichkeit ungenutzt bleiben darf, um Schutzlücken zu
schließen.
({9})
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen nunmehr diese Menschen nach Verbüßung ihrer Strafe automatisch auf freien Fuß kommen. Warum? Weil es rechtlich schwierig ist. Dieses Argument, meine Damen und
Herren, überzeugt bei solchen Straftätern nicht.
({10})
Dass die Forderung nach einer nachträglichen Therapieunterbringung auch über Parteigrenzen hinweg von
ganz vielen Justizministerinnen und -ministern erhoben
wird, sollte auch Sie im Deutschen Bundestag aufhorchen lassen. Es geht nämlich um nicht weniger als um
den größtmöglichen Schutz unserer Bürgerinnen und
Bürger vor gefährlichsten Gewalt- und Sexualstraftätern.
Hierfür muss alles gesetzgeberisch Mögliche getan
werden.
Der Bundesrat hat mit der auch von mir nachdrücklich unterstützten Einführung einer Maßregel der nachträglichen Therapieunterbringung Ihnen einen verfassungsrechtlich gangbaren Weg aufgezeigt, wie dieses
Ziel erreicht werden kann. Ich biete Ihnen auch heute
noch ausdrücklich die Unterstützung der SPD bei der
Lösung dieser rechtlichen Schwierigkeiten an. Wir
lassen Sie nicht im Regen stehen, sondern sind bereit,
Verantwortung zu tragen. Lassen Sie uns gemeinsam
diese eklatante Lücke im Gesetzentwurf schließen. Ich
appelliere daher an die Minderheit in der Bundesregierung, ihre Position zu überdenken.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Verfassung
bietet die Möglichkeit, gefährliche Straftäter auch weiterhin geschlossen unterzubringen. Diese Tür hat das
Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung aus
dem Mai 2011 ganz bewusst ein Stück offengelassen.
Wir sollten diese eklatante Sicherheitslücke nicht in
Kauf nehmen; denn, meine Damen und Herren, welche
Worte wollen Sie für die Eltern eines Kindes finden, das
Opfer einer schwersten Gewalt- oder Sexualtat eines solchen Täters geworden ist? Wie wollen Sie den Eltern erklären, dass dieser Täter trotz erkannter höchster Rückfallgefahr sehenden Auges entlassen worden ist, obwohl
die Möglichkeit bestanden hätte, ihr Kind vor ihm zu
schützen? Meine Damen und Herren, das können Sie
nicht erklären, und ich bin mir sicher: Das wollen wir
auch nicht erklären.
({11})
Die SPD will auch weiterhin eine vernünftige, verantwortungsbewusste Regelung. Sollte dies heute nicht
gelingen, werden wir dieses Ziel im Bundesrat weiterverfolgen. Deswegen noch einmal mein Appell an alle
Parteien hier im Hause: Lassen Sie uns unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden!
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Voßhoff für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Kutschaty, es ist richtig - es gibt überhaupt keinen Grund, das nicht auch hier zu sagen -, dass
die Union sich eine Regelung zur nachträglichen Therapieunterbringung gewünscht hätte. Aber wenn Sie abschließend in einer solchen Art und Weise an uns appellieren und hier eine eklatante Schutzlücke feststellen,
wenn Sie davon reden, dass ein Kind Opfer werden
kann, und davon, dass dann die Eltern entsprechend belastet sind, ist das unseriös, Herr Kutschaty;
({0})
denn Sie erwecken den Eindruck, dass dieses Gesetz in
keiner Weise den Sicherheitsanforderungen gerecht
wird, und das stimmt schlicht nicht.
({1})
Wir schließen nämlich heute ein für die Sicherheitsarchitektur unseres Landes und unserer Bürger außerordentlich wichtiges Reformvorhaben ab. Der Kollege
Ahrendt hat es gesagt. Nach der grundlegenden Reform
der Sicherungsverwahrung im Jahre 2010 beschließen
wir heute über den modernen und verfassungskonformen
Vollzug einer solchen Sicherungsverwahrung. Damit,
liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen wir überhaupt
sicher, dass die Sicherungsverwahrung über das Jahr
2013 hinaus Bestand haben kann.
Ich denke, mit wenigen Ausnahmen, insbesondere
von den Linken, sind sich die Mitglieder dieses Hohen
Hauses auch weitgehend darin einig, dass die Sicherungsverwahrung unverzichtbar und der Staat verpflichtet ist, sie im Interesse der Sicherheit unserer Bürger zu
ermöglichen, und wir tun dies heute.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit mit dem Freiheitsanspruch eines gefährlichen Täters kollidiert, der seine
Freiheitsstrafe verbüßt hat, wie dies bei der Sicherungsverwahrung der Fall ist, stößt der Rechtsstaat naturgemäß an seine Grenzen. Daran haben uns der Europäische
Gerichtshof, aber auch - wie wir wissen - das Bundesverfassungsgericht nicht nur erinnert, sondern sie haben
uns gemahnt und eine entsprechende Gesetzgebung mit
einem Urteil von uns eingefordert.
Wir haben mit der Reform 2010 als Bundesgesetzgeber die materiell-rechtlichen Regelungen der Sicherungsverwahrung geregelt und sind dabei davon ausgegangen, dass entsprechend der Föderalismusreform wir
als Bundesgesetzgeber nicht für den Maßregelvollzug
zuständig sind, sondern dass es die Länder sind.
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellten wir
dann fest, dass das Bundesverfassungsgericht dies anders sieht und uns gemeinsam in die Pflicht nimmt. Es
hat uns mit dem Urteil aufgegeben, den Vollzug der Sicherungsverwahrung neu zu gestalten.
An dieser Stelle, Herr Kutschaty, darf ich einmal sagen: Bei allen Regelungen zur Sicherungsverwahrung,
die wir in diesem Hohen Hause beschlossen haben, war
immer der Appell - übrigens aller Fraktionen -, den
Vollzug der Sicherungsverwahrung in den Ländern entsprechend auszugestalten. Dem sind die Länder in der
Vergangenheit nicht nachgekommen.
({2})
Deshalb, meine Damen und Herren, liegt von uns
heute ein Gesetzentwurf vor, der dem sogenannten Abstandsgebot Rechnung trägt, den Vollzug der Sicherungsverwahrung also deutlich vom Strafvollzug abhebt.
Herr Kutschaty, wenn Sie sagen, wir hätten uns anderthalb Jahre Zeit gelassen: Es hat in der ganzen Zeit, jedenfalls nach meinem Kenntnisstand, eine intensive Abstimmung mit den Ländern stattgefunden,
({3})
weil es darum ging, gemeinsam die Vollzugsausgestaltung zu regeln. Wenn Sie hier also so tun, als hätten wir
das hier anderthalb Jahre liegen gelassen, ist das schlicht
und ergreifend falsch, unzutreffend.
({4})
Ich sage offen, dass wir uns als Union eine Regelung
zur nachträglichen Sicherungsverwahrung gewünscht
hätten; völlig unbestritten. Dazu stehen wir auch. Wir
wissen nur, dass wir durch die Frist des Verfassungsgerichts unter zeitlichem Druck stehen, weshalb wir diese
unsere Forderung aufgegeben haben. Wir gehen aber in
keiner Weise davon aus, lieber Herr Kutschaty, dass wir
hier eine eklatante Schutzlücke haben.
({5})
Wir sehen eine Regelungslücke, aber eine eklatante Sicherheitslücke, wie Sie sie hier suggerieren wollen, können wir nicht feststellen.
Meine Damen und Herren von der SPD, so vehement,
wie Sie die nachträgliche Therapieunterbringung fordern, so vehement lehnen die Grünen sie ab. Das kommt
mir irgendwie bekannt vor.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn Sie
mit Ihrem Traumkoalitionspartner heute hätten etwas
vorlegen müssen, hätten Sie keine Regelung zur nachträglichen Therapieunterbringung vorlegen können.
({7})
Das muss der Wahrheit halber dazugesagt werden. Das
gehört zur Vollständigkeit dazu. Ich hoffe, Sie werden
nie Gelegenheit haben, das auszutesten.
({8})
Meine Damen und Herren von der SPD, neben dem,
was Herr Kutschaty gesagt hat, muss man auch die Zeitung lesen. Darin steht, dass auch die sachsen-anhaltinische Justizministerin Kolb vor einer eklatanten Schutzlücke warnt. In dem Artikel werden dann Fallzahlen
offenbar genannt - von Frau Kolb genannt; anders kann
es eigentlich nicht sein -: 22 betroffene Straftäter in
Sachsen-Anhalt sitzen in der Sicherungsverwahrung im
Gefängnis in Burg. Für weitere 17 Straftäter kommt nach
dem Haftende eine Sicherungsverwahrung infrage. - Im
Zusammenhang mit dem Artikel wird suggeriert, das
seien Fälle, die nicht regelbar seien,
({9})
weil es keine nachträgliche Therapieunterbringung gebe.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich gehe einmal
davon aus, dass das alles Altfälle sind, bei denen die Anlasstat vor dem 31. Dezember 2010 begangen worden
ist.
({10})
Wenn das so ist, dann werden diese Fälle sehr zum Leidwesen der Grünen nach wie vor nach altem Recht geregelt, auch mit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung.
({11})
Ich bin sehr dafür, dass wir offen und vernünftig über
das Thema diskutieren. Mit den Zahlen, mit dem, was
Sie zum Schluss gesagt haben, versuchen Sie aber, der
Bevölkerung zu suggerieren, hier würde die Bevölkerung gefährdet und die Sicherheit nicht in ausreichendem Maße gewährleistet.
({12})
Das ist schlicht und ergreifend nicht zutreffend.
Vielen Dank.
({13})
Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir reden erneut über die Sicherungsverwahrung, weil das in dieser Legislaturperiode von der Mehrheit des Hauses verabschiedete Gesetz vom BundesverHalina Wawzyniak
fassungsgericht in weiten Teilen für verfassungswidrig
erklärt wurde. Die Bundesregierung musste also nachsitzen
({0})
und ein neues Gesetz vorlegen, ein Gesetz, das die bundesrechtliche Umsetzung des Abstandsgebotes regelt.
Wir haben zu diesem Gesetz hier bereits geredet und
eine Anhörung im Rechtsausschuss durchgeführt.
Um es noch einmal sehr deutlich zu sagen: Bei der Sicherungsverwahrung geht es um einen präventiven Freiheitsentzug aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose für
Straftäterinnen und Straftäter, die für ihre Tat bereits eine
Freiheitsstrafe ver- und damit auch für die Tat gebüßt haben.
Die Linke - ich wiederhole das hier - lehnt das Institut der Sicherungsverwahrung ab.
({1})
Wir sagen deutlich: Jede Straftat ist eine Straftat zu viel.
Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel. Aber wir dürfen nicht
suggerieren, es gäbe ein Mittel, das verhindert, dass
überhaupt noch Straftaten begangen werden.
({2})
Das im Übrigen ist eine Weisheit, die bislang keiner infrage gestellt hat.
Wir haben mittlerweile verschiedene Arten der Sicherungsverwahrung. Dazu kommt jetzt die Therapieunterbringung. Wir schlagen uns mit dem Begriff der psychischen Störung herum. Der Sachverständige Professor
Kinzig hat darauf verwiesen, dass dieser Begriff zu unbestimmt sei, um darauf eine so schwerwiegende Sanktion zu stützen.
Ich bitte Sie alle, sich noch einmal vor Augen zu führen, wovon der Sachverständige Asprion in der Anhörung gesprochen hat. Er hat aus der Praxis berichtet, wie
es den aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen geht.
Er hat beschrieben, dass es für die Entlassenen zum Teil
nicht einmal Wohnungen gibt; sie können zum Teil keine
Konten eröffnen, geschweige denn, dass sie eine Chance
auf Arbeit oder eine Arbeitsgelegenheit haben.
({3})
Hier anzusetzen und den Auftrag auf Wiedereingliederung ernst zu nehmen, würde ein Ansatz sein, Rückfälligkeiten zu vermeiden. Und genau darum muss es uns
doch allen gehen, nämlich erneut Straftaten zu vermeiden.
({4})
Die Ablehnung des Instituts der Sicherungsverwahrung hindert uns aber nicht, den Gesetzentwurf der Bundesregierung kritisch unter die Lupe zu nehmen. Wir finden es gut, dass mit dem § 66 c eine Art Rechtsanspruch
auf individuelle und intensive Betreuung sowie eine vom
Strafvollzug getrennte Unterbringung festgeschrieben
wird. Wir wollen aber darauf hinweisen, dass die dafür
notwendigen Mittel auf gar keinen Fall dazu führen dürfen, dass die Betreuung der Strafgefangenen verschlechtert wird. Wir hätten uns gewünscht, dass für den Fall
der Unverhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung
nicht die Aussetzung der Vollstreckung auf Bewährung
die Rechtsfolge ist, sondern die Erledigung.
({5})
Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung im Jugendgerichtsgesetz vorzusehen, halten wir für falsch. Sicherungsverwahrung und Jugendgerichtsgesetz, in dessen
Mittelpunkt der Erziehungsgedanke steht, sind für uns
ein unauflösbarer Widerspruch.
({6})
Wir halten auch die in § 109 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes vorgenommene Einschränkung, dass bei „Einfachheit der Sach- und Rechtslage“ im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens den Sicherungsverwahrten nicht
zwingend von Amts wegen ein Rechtsanwalt beizuordnen ist, für problematisch. Hier sollte aus unserer Sicht
tatsächlich Waffengleichheit hergestellt und dem Sicherungsverwahrten ein Rechtsanwalt beigeordnet werden.
({7})
Schließlich bedauern wir ausdrücklich, dass eine Beschränkung der Straftaten, für die gegebenenfalls Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, nicht erfolgt
ist. Wenn die Regierung die Sicherungsverwahrung
wirklich als Ultima Ratio versteht, dann hätte sie den
Katalog der Anlasstaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte beschränken müssen. An dieser Stelle will ich darauf hinweisen, dass wir begrüßen, dass SPD und Grüne
genau dies fordern. Allerdings ist für uns nicht nachvollziehbar, warum die SPD unter Umgehung des Urteils des
EGMR eine nachträgliche Therapieunterbringung einführen will. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen sprachlos
über Ihre Rede, Herr Kutschaty, weil das nichts mehr mit
rationaler Kriminalpolitik zu tun hat, sondern mit der
Bedienung von Stammtischen.
({8})
Wir werden dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({9})
Es spricht Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir über die Sicherungsverwahrung reden, dann
reden wir über Menschen, die mehrfach schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begangen haben und bei denen festgestellt wird, dass eine ganz große Gefahr besteht, dass sie in Zukunft weitere solcher Straftaten
begehen werden. Wir müssen deswegen den ersten Satz,
wenn wir über Sicherungsverwahrung reden, den Opfern, den möglichen Opfern solcher Täter widmen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
ist Ihre generelle Ablehnung der Sicherungsverwahrung
ein Fehler, den Sie im Laufe der Zeit noch bereuen werden.
({0})
Andererseits haben sich genau diese Täter - schwerste
Gewalttäter, Sexualtäter - an das Bundesverfassungsgericht und in mehreren Fällen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt und recht bekommen. Die Entscheidungen, die aufgrund des deutschen
Rechts der Sicherungsverwahrung gegen sie ergangen
sind, sind aufgehoben worden. Der Grund dafür ist ganz
einfach: Auch diese Täter sind Menschen, und auch
diese Menschen haben Rechte. Deswegen ist es gut und
richtig, dass wir uns natürlich der Opferseite zuwenden.
Aber genauso wichtig ist es aus rechtspolitischen bzw.
menschenrechtspolitischen Gründen, dass wir uns bei
der Frage, welches Recht wir schaffen, wie wir die Regelung zur Sicherungsverwahrung gestalten, an das
Menschenrecht und die Rechtsstaatlichkeit halten, an
das, was ein Grundbestandteil unseres Landes ist. Deswegen bin ich so erstaunt und entsetzt, Herr Kutschaty,
dass Sie bei der Frage, ob man noch mehr machen soll,
von Lücken reden.
Der Kollege Ahrendt hat die Geschichte des Sicherungsverwahrungsrechts von Januar 1998 bis heute erzählt. Im Januar 1998 ist die erste Lücke geschlossen
worden. Danach - erinnern Sie sich bitte - war es die
Union, die den Deutschen Bundestag und die damalige
Regierungskoalition mit dem Aufzeigen immer weiterer
Lücken geradezu gejagt hat. Zuerst gab es eine Lücke im
Heranwachsendenstrafrecht, dann im Jugendstrafrecht,
dann bei der Frage, wie mit Tätern aus der ehemaligen
DDR umzugehen sei, usw. usf. Zum Schluss hatten wir
- das sage ich ganz selbstkritisch - ein Desaster.
Ich bin froh, dass das Bundesverfassungsgericht und
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jetzt
eine Klärung herbeigeführt haben. Ich bin dankbar - das
sage ich ganz ausdrücklich -, dass das Bundesjustizministerium jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der
beim Vollzug einen Abstand zwischen der Strafhaft und
der Haft in der Sicherungsverwahrung vorsieht.
Im Grundsatz stimmen wir dem auch zu. Wir finden
aber, dass dieser Gesetzentwurf noch etliche Schwächen
hat. Diese Schwächen haben wir in einem Änderungsantrag zusammengefasst und im Rechtsausschuss im
Einzelnen aufgeführt. Wir werden diesen Änderungsantrag heute zur Abstimmung stellen, weil wir auf dem
Boden dieses Gesetzentwurfs für dessen Verbesserung
streiten wollen.
Zum Schluss will ich noch sagen: Wenn wir den Weg
gehen würden, die nachträgliche Sicherungsverwahrung
im Kleid der nachträglichen Therapieunterbringung wieder ins Bundesgesetz hineinzuschreiben, dann würden
wir sehenden Auges die nächsten Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heraufbeschwören.
({1})
Das aber sollten wir nicht tun, und das werden wir
auch nicht tun. Herr Kollege Kutschaty, wenn Sie für die
wenigen Fälle einen Regelungsbedarf sehen - ich habe
dafür viel Verständnis -, bei denen bei Menschen in
Freiheit - nicht in Haft, sondern in Freiheit - die Gefahr
künftiger schwerer Straftaten besteht, dann sind Sie als
Land aufgerufen, eine solche Regelung auf Landesebene
herbeizuführen.
({2})
- Nein, das ist falsch, was Sie da sagen.
({3})
Sie wissen doch selbst: Was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, galt für die damalige Regelung und
nicht für eine zukünftige Regelung nach dem Therapieunterbringungsgesetz. Ich fordere Sie auf: Finden Sie
eine Regelung auf Landesebene. Schützen Sie dort Ihre
Bürgerinnen und Bürger.
({4})
Herr Montag!
Fordern Sie uns nicht auf, hier ein verfassungswidriges Gesetz zu erlassen.
Herr Kollege Montag!
Das lehnen wir ab.
({0})
Ansgar Heveling hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor einigen Wochen wurde in Großbritannien ein 59-jähriger vielfacher Sexualstraftäter verurteilt. In zwei Verfahren wurden ihm schwerste Sexualstraftaten nachgewiesen. Als Kopf eines Kinderschänderrings aus dem
Großraum Manchester war er für den Missbrauch von
30 jungen Mädchen verantwortlich und wurde zu
19 Jahren Gefängnis verurteilt.
Außerdem wurde ihm in einem separaten Verfahren
wegen des über zehn Jahre währenden vielfachen Missbrauchs eines jungen Mädchens ebenfalls der Prozess
gemacht. Dafür wurde er zusätzlich zu 22 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. 41 Jahre Gefängnis - nach menschlichem Ermessen wird dieser Täter also keinen Lebtag
mehr in Freiheit verbringen.
Diesen Fall schildere ich Ihnen nicht, um emotionale
Genugtuung zu verbreiten, die man angesichts eines
solchen Strafmaßes für diese schrecklichen Straftaten
empfinden mag. Ich schildere Ihnen diesen Fall, um aufzuzeigen, wie in Ländern, in denen es die Sicherungsverwahrung so nicht gibt, mit potenziell gefährlichen Straftätern umgegangen wird. Dort wird nicht nach der
individuellen Gefährlichkeit des Täters gefragt. Vielmehr wird dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung allein über das Strafmaß Rechnung getragen, im Übrigen
unangreifbar für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
({0})
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben bewusst
einen anderen Weg gewählt. Wir haben uns bewusst für
ein zweispuriges System entschieden: Strafe als Sanktion für individuelle Schuld und Maßnahmen, die nicht
an die Schuld anknüpfen - dazwischen wird bei uns unterschieden.
({1})
Hierzu gehört die Sicherungsverwahrung, die angesichts
der Zweispurigkeit ohne Frage kein repressives, sondern
ein präventives Instrument ist.
Ich bin der festen Überzeugung - der kurze Blick auf
den eingangs geschilderten Fall zeigt dies auch -, dass
unser bewährtes zweispuriges System viel differenzierter und damit im Einzelnen auch viel gerechter ist als andere Strafrechtssysteme, in denen die Frage der Gefährlichkeit eines Täters mit der Strafe gleichsam abgehandelt wird.
({2})
Daher lohnt es ohne Frage der gesetzgeberischen Mühen, dieses System der Strafe auf der einen Seite und der
Sicherungsverwahrung auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten. Leider haben der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht den
zweispurigen Weg zu einem immer schmaleren Grat
werden lassen. Ich hoffe aber, dass er breit genug bleiben
wird, um den Weg der Sicherungsverwahrung weiterhin
verfassungskonform beschreiten zu können. Es wäre bedauerlich, wenn wir mangels Alternativen irgendwann
auch vor der Frage stünden, die Gefährlichkeit eines Täters bei uns ebenfalls allein über die Höhe der Strafe beurteilen zu müssen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht
der Sicherungsverwahrung, den wir heute abschließend
beraten, kommen wir den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil vom Mai 2011 nach und
regeln die Sicherungsverwahrung zukünftig so, dass sich
der Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vom Vollzug der Strafhaft deutlich unterscheidet.
Damit wird die bundesrechtliche Grundlage gelegt, die
es den Ländern ermöglicht, durch entsprechende Landesgesetze die Sicherungsverwahrung entsprechend den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts weiter zu konkretisieren und im Sinne des Abstandsgebots umzusetzen. Bereits während des Gesetzgebungsverfahrens hat
es dazu eine enge Abstimmung zwischen dem Bund und
den Ländern gegeben. Das Bundesverfassungsgericht
hat dem Bund und den Ländern diese Aufgabe gemeinsam aufgetragen. Daher ist dieses Zusammenwirken ausdrücklich zu begrüßen.
Lassen Sie mich noch zu einzelnen Punkten Stellung
nehmen. Anders als es die SPD in ihrem Antrag fordert,
sehen wir keine Notwendigkeit, den Katalog der sogenannten Anlasstaten weiter einzugrenzen. Die bisherige
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt keinen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Katalogs.
Deswegen ist ein weiteres Handeln hier auch nicht erforderlich.
({3})
Auch halten wir die Regelung der sogenannten Vertrauensschutzfälle durch die Übergangsregelung in Art. 7
für sachgerecht und ausgesprochen wichtig. Ja, die Übergangsregelung führt dazu, dass über einen langen Zeitraum unterschiedliche Rechtsnormen zur Anwendung
kommen. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass die
Gerichte damit ohne große Schwierigkeiten zurechtkommen werden. Nur durch diese Übergangsregelung lässt
sich unter Beachtung der verfassungsrechtlich vorgegebenen und durch das Bundesverfassungsgericht aufgezeigten erhöhten Voraussetzungen dem Schutzanspruch
der Bevölkerung ausreichend Rechnung tragen, bis die
materiell-rechtliche Neuausrichtung der Sicherungsverwahrung, insbesondere die der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, umfassend greift.
In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend
nicht verschweigen, dass wir, die CDU/CSU, es als wünschenswert angesehen hätten, auch zukünftig - nicht nur
im Rahmen der Übergangsregelung - auf das Instrument
der nachträglichen Sicherungsverwahrung zurückgreifen
zu können. Damit wäre eine umfassende, vollständige
und für alle Eventualitäten vorgesehene Regelung der
unterschiedlichsten Fallkonstellationen möglich geblieben. Das bleibt nun in diesem Gesetz offen.
Insgesamt kommen wir mit dem zur Entscheidung anstehenden Gesetzentwurf einerseits dem Auftrag des
Bundesverfassungsgerichts nach, das Recht der Sicherungsverwahrung so zu regeln, dass ein ausreichender
Abstand zwischen Strafhaft und Sicherungsverwahrung
gewährleistet wird. Andererseits berücksichtigen wir
insbesondere durch die Übergangsregelung in Art. 7 ausdrücklich, dass dem Anspruch der Bevölkerung auf
Schutz vor gefährlichen Straftätern weiterhin Rechnung
getragen wird.
Vielen Dank.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im
Recht der Sicherungsverwahrung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11388, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/9874 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, den Sie auf Drucksache 17/11406 finden. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion und die Fraktion
Die Linke; die anderen Fraktionen haben dagegen gestimmt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen;
Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt, die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, der möge
sich bitte erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen wie in der zweiten.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11388 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8760 mit dem Titel „Neuregelung des Rechts
der Sicherungsverwahrung“. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen hat beantragt, dass über Ziffer II Nr. 2 des
Antrages einerseits und über den übrigen Antrag andererseits getrennt abgestimmt werden soll.
Wir stimmen daher zunächst über Ziffer II Nr. 2 des
Antrags auf Drucksache 17/8760 ab. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist
Ziffer II Nr. 2 des Antrags abgelehnt bei Zustimmung
durch die SPD-Fraktion; alle anderen Fraktionen waren
dagegen.
Wer stimmt für den übrigen Teil des Antrags auf
Drucksache 17/8760? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Zugestimmt haben SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen; dagegen gestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Die Linke hat sich enthalten. Der übrige
Teil des Antrags ist abgelehnt. Damit ist der Antrag insgesamt abgelehnt.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11388 empfiehlt der Rechtsausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/7843 mit dem Titel „Einsetzung einer
Expertenkommission zur Sicherungsverwahrung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU,
FDP, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Die Fraktion Die
Linke hat dagegen gestimmt; enthalten hat sich niemand.
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Die Menschenrechte in Zentralasien stärken
- Drucksachen 17/9924, 17/11287 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Marina Schuster
Volker Beck ({1})
Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen. Wenn sich jetzt bitte noch die Versammlung in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion auflösen könnte? - Ich eröffne die Aussprache und gebe das
Wort der Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal begrüße ich ausdrücklich, dass wir
heute eine Debatte über die Menschenrechtslage in Zentralasien führen. Es ist richtig und wichtig, dass dieses
Thema auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages
Öffentlichkeit bekommt.
Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass wir uns mit
dieser Region beschäftigen. Wir haben im Menschenrechtsausschuss öfter über die Situation dort diskutiert,
speziell über die Situation in Usbekistan. Wir wissen,
dass wir es dort bei der Baumwollernte mit dem Phänomen der staatlich verordneten Kinderarbeit zu tun haben.
Das war auch Anlass für den Menschenrechtsausschuss,
zu versuchen, eine Reise nach Usbekistan durchzuführen. Leider wurde kein Visum erteilt. Die Reise musste
aus technischen Gründen abgesagt werden, weil die usbekische Seite kein Interesse an der Einreise der Kolleginnen und Kollegen hatte.
Das ist sehr bedauerlich; denn wir haben eine Reihe
von Kollegen, die sich für Usbekistan engagieren. Ganz
konkret möchte ich auf das Engagement von Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ eingehen. Das ist ein
unheimlich wichtiges Programm. Meine Bitte geht an
diejenigen Kollegen hier im Haus, die noch keine Patenschaft übernommen haben, eine Patenschaft für einen
Oppositionspolitiker oder einen Menschenrechtsverteidiger in anderen Ländern zu übernehmen. Das ist etwas,
was wir ganz konkret leisten können. Wir haben hier
eine ganz wichtige Funktion.
Kollegin Graf hat die Patenschaft für den usbekischen
Menschenrechtsaktivisten und Oppositionspolitiker Akzam
Turgunov übernommen. Dadurch, dass die Reise abgesagt werden musste, konnte sie ihn wieder nicht in der
Haft besuchen. Ich glaube, es wäre wichtig, dass wir
weiterhin Druck ausüben und versuchen, eine Einreise
nach Usbekistan zu ermöglichen. Wenn der Menschenrechtsausschuss solche Reisen tätigt, dann gehört es
auch zu seiner Aufgabe, den Finger in die Wunden zu legen und solche Sachen zur Sprache zu bringen.
({0})
Auch in Bezug auf Kasachstan haben Kollegen aus
allen Fraktionen, auch Kollegen aus dem Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, Kritik
formuliert. Es ging um den Fall Bolat Atabajew. Für ihn
hat Frau von Cramon eine Patenschaft übernommen. Der
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus
Löning, hat versucht, Herrn Wladimir Koslow in der
Haft zu besuchen und mit ihm zu sprechen. Wir sind tief
enttäuscht darüber, dass es zu einer Verurteilung von
Herrn Koslow gekommen ist. Er hat sich für die streikenden Ölarbeiter eingesetzt. Das ist ein vollkommen legitimes Interesse. Daher ist das Urteil für Herrn Koslow
- sieben Jahre Gefängnis - vollkommen inakzeptabel.
({1})
Jetzt aber zum vorliegenden Antrag von SPD und
Grünen. Sie haben im Feststellungsteil Ihres Antrags
eine Reihe von Verletzungen der Menschenrechte aufgezählt. Wir haben dort eine sehr besorgniserregende Menschenrechtslage. Es gibt Folter, Misshandlungen, ein unzureichendes Justizwesen und Einschränkungen von
Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Ich denke, darüber gibt es in diesem Hohen Haus
keinen Dissens. Es gibt auch keinen Dissens bei der Einschätzung, dass Zentralasien als geostrategische Brücke
zwischen Europa, Russland und China das Potenzial einer politischen und wirtschaftlichen Drehscheibe hat.
Um jedoch ein verlässlicher Partner Europas zu werden,
sind Rechtsstaatlichkeit, verantwortliche Staatsführung
und Demokratisierung sowie die Einhaltung von Menschenrechten Voraussetzung. Dies sind ebenso Bedingungen für Stabilität und Sicherheit.
Wie schon früher festgestellt, liegt das Problem des
Antrags woanders. Ich denke, man kann die Situation in
Zentralasien nicht ohne die historische Komponente,
ohne die Einbeziehung der Sowjetvergangenheit diskutieren. Mir fehlt auch die Thematisierung von regionalen
Konflikten, von schwelenden Konflikten untereinander;
vor allem fehlt mir die Thematisierung der Verteilungskonflikte, zum Beispiel bezogen auf die Ressource
Wasser, aber auch das Thema „ethnische Minderheiten“.
Ich denke daher nicht, dass Sie mit diesem Antrag, insbesondere bezogen auf den Feststellungsteil, den Gegebenheiten vor Ort vollumfänglich gerecht werden.
Auch wird ausgeblendet, was die Bundesregierung
bereits tut. Die Bundesregierung setzt sich in den politischen Gesprächen mit den zentralasiatischen Regierungen nachdrücklich für eine Verbesserung der Menschenrechtslage ein. Wir haben im Rahmen der Europäischen
Union, im Rahmen der Zentralasienstrategie, strukturierte Menschenrechtsdialoge aufgenommen. Wir haben
eine Vielzahl von Programmen durchgeführt. Es gibt
eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion zur Situation in
Zentralasien. Die Antwort der Bundesregierung ist ziemlich klar. Darin wurden alle Projekte aufgezählt, die in
dem Bereich Rechtsstaatlichkeit/Justizwesen durchgeführt werden, auch die Programme zur Medienförderung, die das Auswärtige Amt im Rahmen der Deutschen Welle unterstützt. Aber auch in anderen Bereichen
engagiert sich die Bundesregierung, zum Beispiel für
eine Verbesserung der Haftbedingungen. Seit 2009 fördert die Bundesregierung ein Projekt der NGO Golos
Svobody zur Folterprävention. In Kasachstan hat die
Bundesregierung Projekte der OSZE zur Stärkung der
Ombudsmann-Institution unterstützt. Auch im Rahmen
des Europarates - ich sehe meinen Kollegen Christoph
Strässer, der sich im Rahmen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sehr stark engagiert - haben
wir Projekte angeboten und durchgeführt. Vieles von
dem, was Sie vorschlagen, ist also bereits Bestandteil der
Politik der Bundesregierung.
Mir fehlt auch die gesamtpolitische Einbettung. Natürlich spielen Sicherheitsüberlegungen insbesondere
seit dem Einsatz in Afghanistan eine besondere Rolle.
Wir haben organisierte Kriminalität, internationalen
Terrorismus, Drogenhandel und die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen. All das bedroht Europa und
Zentralasien gleichermaßen. Das hat die Fraktion der
SPD in ihrer Kleinen Anfrage selbst geschrieben.
Insofern greift der Antrag zu kurz. Das wird insbesondere deutlich, wenn man sich den Feststellungsteil anschaut. Ich denke, dass die Einbettung in die politische
Struktur fehlt und die Situation in Zentralasien nicht hinreichend berücksichtigt wird. Insofern können wir Ihrem
Antrag leider nicht zustimmen. Viele Ihrer Forderungen
sind aber Bestandteil unserer Politik.
Vielen Dank.
({2})
Ullrich Meßmer hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Schuster, die freundliche Nichtzustimmung
nehme ich einmal so hin.
Die Zentralasienstrategie der Europäischen Union
bildet seit 2007 den politischen Rahmen, um die Zusammenarbeit zwischen Europa und Zentralasien - wir reden
hier von den Ländern Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan - zu gestalten und
auszubauen. Es wurde schon gesagt: Es gibt viele
Gründe dafür. Es gibt sicherheitspolitische Interessen in
Europa wie die Bekämpfung von Waffen- und Drogenhandel, Terrorismus und organisierter Kriminalität. Es
gibt wirtschaftliche Gründe wie die Sicherung von Rohstoffen, Energie, aber auch die Erschließung von Märkten. Nicht zuletzt - Kollegin Schuster, Sie haben es angesprochen - macht diese Länder die Nachbarschaft zu
Afghanistan zu einem wichtigen strategischen und außenpolitischen Partner, aber - das möchte ich an dieser
Stelle deutlich machen - nicht allein mit Blick auf einen
möglichen Truppenabzug im Jahr 2014, sondern gerade
darüber hinaus. Alle Länder in dieser Region, einschließlich Afghanistan, brauchen eine langfristige
Perspektive für ihre friedliche und wirtschaftliche Entwicklung.
({0})
Hauptgrund aber - ich denke, darin sind wir uns einig ist der Einsatz für den Ausbau und die Weiterentwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für eine
verantwortliche Staatsführung und vor allen Dingen für
die Einhaltung von Menschenrechten. Aus unserer Sicht
ist genau das die Voraussetzung für Sicherheit und Stabilität, aber auch für wirtschaftliches Wachstum und die
Teilhabe der Bevölkerung, zum Beispiel an wirtschaftlicher Entwicklung oder auch an staatlichen Entscheidungen. Die Machthaber der zentralasiatischen Staaten - so
muss man den Eindruck gewinnen - fürchten offensichtlich eine Öffnung und Demokratisierung ihrer jeweiligen
Gesellschaft. Sie scheinen damit unmittelbar die Erosion
ihrer eigenen Macht zu verbinden. Diese Sicht ist gerade
mit Blick auf die Menschenrechte äußerst gefährlich, da
Sicherheit in dieser Begrifflichkeit nicht auf den einzelnen Menschen und die Wahrung seiner Rechte bezogen
wird, sondern ausschließlich auf die Machtsicherung autoritärer Herrscher oder der Eliten, die sie tragen. So laufen wir Gefahr, dass sich die autoritären Strukturen in
diesen Ländern verfestigen.
Ich erspare mir die Aufzählung der Menschenrechtsverletzungen - Frau Kollegin Schuster, ich teile, was Sie
dazu gesagt haben -, von Kinderarbeit, fehlender und
eingeschränkter Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zur Zensur. Auch über die Unterdrückung
der Opposition in diesen Ländern hören wir regelmäßig
Berichte.
Man kann feststellen: Auch fünf Jahre nach der
Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im
Rahmen der Zentralasienstrategie ist die Menschenrechtslage weiterhin problematisch. Deshalb sollte die
seit diesem Jahr stattfindende Evaluierung zum Anlass
genommen werden, der Frage nachzugehen, ob die
Beziehungen Deutschlands und der EU zu den zentralasiatischen Staaten politisch so noch tragfähig sind,
ob sie unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten kritisch hinterfragt werden sollten und möglicherweise
auch auf eine andere bzw. neue Grundlage gestellt werden sollten.
({1})
Dabei sollten wir nicht davor zurückschrecken, auch
die Wirtschaftsbeziehungen zu einzelnen Ländern kritisch zu hinterfragen. Die Unterzeichnung eines bilateralen Abkommens zwischen Deutschland und Kasachstan
über eine Partnerschaft im Rohstoff-, Industrie- und
Technologiebereich Anfang Februar 2012 nach einer
blutigen Niederschlagung eines Gewerkschaftsaufstandes in Zhanaosen im Dezember 2011 ist sicherlich einer
dieser Punkte.
({2})
Ich denke, Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen,
ohne Konsequenzen für wirtschaftliche Beziehungen in
Betracht zu ziehen, setzt einen schnell dem Vorwurf aus
- ich möchte jetzt nicht von Double Standards sprechen -,
mit zweierlei Maß zu messen.
({3})
Die zukünftige Zentralasienstrategie kann aber auch
neue Impulse für die Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern setzen. Die Umbrüche in der arabischen
Welt haben gezeigt, dass es Möglichkeiten gibt, autoritäre Systeme zu erschüttern, vor allem wenn man die
Zivilgesellschaft selber stärkt und ihre Möglichkeiten
ausbaut. Es wäre zu begrüßen, wenn der Fokus stärker
auf die Artikulations- und Teilhabemöglichkeiten der Zivilgesellschaften gerichtet wird mit dem Ziel, diese
nachhaltig zu stärken, zum Beispiel durch die Anbindung an die europäischen Informationsnetzwerke. Erste
Schritte dazu sind getan - das ist immer wieder erwähnt
worden -; aber dies könnte beschleunigt werden.
Die Freiräume, die durch den Ausbau und die Nutzung des Internets entstehen, müssen verteidigt werden.
Hier, denke ich, sind klare Worte sowohl der Bundesregierung als auch der Europäischen Union gegen Zensur
des Internets und anderer Medien dringend gefordert.
({4})
Dies ist deutlich wahrnehmbar zu verurteilen.
Natürlich - das will ich sehr deutlich sagen - unterstützen wir die Weiterentwicklung bewährter Maßnahmen und die Bemühungen zur Weiterentwicklung der
Rechtsstaatlichkeit. Es geht weiter darum, Folter zu verhindern, Haftbedingungen zu verbessern und die bestehenden Bildungs- und Austauschprogramme weiter zu
unterstützen und angemessen auszustatten. All das begrüßen wir. Das gilt auch für die Arbeit und das Wirken
der politischen Stiftungen. Mit Blick auf die Gründe für
die Ablehnung muss allerdings auch klar sein: Allein
durch Entwicklungszusammenarbeit kann die Menschenrechtslage nicht verbessert werden. Entwicklungszusammenarbeit kann ein Teil sein; aber sie kann nie
eine Gesamtlösung ersetzen, zu der wirtschaftliche Beziehungen und andere politische Maßnahmen gehören.
Eigentlich erwarten wir, dass die Evaluierung als
Chance für eine Verbesserung der Menschenrechtslage
genutzt wird. Sie ist, wie ich finde, eine echte Chance,
etwas zu verändern. Reine Rohstoffpartnerschaften, freie
Handelswege, wirtschaftliche Zusammenarbeit, all das
darf nicht den Kerngedanken und die Grundlage allen
europäischen Handelns infrage stellen. Dies ist und
bleibt die Wahrung und Förderung der Menschenrechte
und der Rechtsstaatlichkeit - in Zentralasien und überall
sonst auf der Welt.
Herzlichen Dank.
({5})
Jürgen Klimke hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die außenpolitischen Diskussionen der letzten Monate waren auch von der Rolle
der zentralasiatischen Staaten geprägt. Das hat - das ist
mehrfach gesagt worden - primär etwas mit den Rohstoffpartnerschaften zu tun, die Deutschland mit Ländern
wie der Mongolei oder Kasachstan geschlossen hat. Das
hat aber auch etwas mit Afghanistan zu tun. Usbekistan
ist ein Nachbarland von Afghanistan; es wird in diesem
Zusammenhang immer wieder thematisiert. Damit
haben wir im Zusammenhang mit Zentralasien zwei
wichtige Interessen der deutschen und der europäischen
Außenpolitik benannt: die Rohstoffpartnerschaften der
deutschen und der europäischen Industrie sowie die Stabilität nach dem Abzug aus Afghanistan. Das ist eine
geostrategische Frage, die Priorität hat.
Diese gerechtfertigten Interessen in der Region müssen meiner Meinung nach noch viel stärker unsere Aufmerksamkeit erhalten und in unsere außenpolitische
Strategie einfließen. Insofern ist es wichtig, dass wir
heute darüber debattieren.
Die Entwicklung dieser Staaten muss Teil unserer Beobachtung sein. In diesen Kontext ist auch die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung einzuordnen.
Gerade weil wir Deutschen gute Beziehungen zu dieser
Region unterhalten und daran ein großes Interesse haben, ist die Konsistenz der Menschenrechtspolitik in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.
Die Menschenrechtssituation in den Staaten Zentralasiens ist insgesamt nicht befriedigend; man könnte auch
zu Bewertungen wie „unzureichend“ oder „mangelhaft“
kommen. Fortschritte erfolgen, wenn sie erfolgen, insgesamt in zu kleinen Schritten, wobei in einigen Ländern
durchaus Fortschritte wahrnehmbar sind. Die Unterschiede sind allerdings so groß, dass hinterfragt werden
muss, ob eine gemeinsame Behandlung dieser Staaten in
einem Antrag möglich ist.
Gemeinsam ist diesen Staaten, dass sie weitgehend
autoritär regiert werden. Es gibt allerdings deutliche Unterschiede zwischen dem wirtschaftlich prosperierenden
Kasachstan einerseits und Turkmenistan oder Usbekistan andererseits, die deutlich repressiver sind und bei
denen die Probleme nicht durch eine dynamische Entwicklung der Wirtschaft abgemildert werden. Turkmenistan ist nach unserer Auffassung immer noch eines der
repressivsten Länder der Welt.
Mit Usbekistan unterhalten wir zwar eine enge Kooperation, und das Parlament hat einige Reformen zur
formellen Stärkung der Rechtsstaatlichkeit angestoßen;
die konkreten Auswirkungen auf die Menschen dürften
aber wenig spürbar sein. Wohl auch deshalb ist eine Delegation des Menschenrechtsausschusses des Deutschen
Bundestages, die sich im September vor Ort unter meiner Leitung über die Menschenrechtssituation in Usbekistan informieren wollte, nicht ins Land gelassen worden.
Insofern muss man davon ausgehen, dass es um die
Menschenrechtssituation in Usbekistan schlecht bestellt
ist. Man muss deutlich sagen: Die Ausladung unserer
Delegation widerspricht dem Umgang, den man dem
wichtigsten Partner dieses Landes in Europa gegenüber
erwarten würde. Wir sind auch ein wichtiger Geldgeber,
was Entwicklungsmittel betrifft. Ich bin erstaunt, dass
die usbekische Regierung glaubt, sich solche Signale
leisten zu können.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist ja
nicht so, dass wir Menschenrechtspolitiker auf unseren
Reisen außerhalb von Europa auf entwickelte Demokratien mit unabhängiger Justiz treffen würden, in denen die
Menschenrechte voll geachtet werden. Wir konnten aber
eben auch in problematischen Ländern unsere Möglichkeiten ausschöpfen, Besuche machen und bei aller Kritik
gelegentlich auch Fortschritte feststellen, die wir dann
auch kommunizieren. Das muss ja auch im Interesse der
Länder sein.
Berichte von Fortschritten gab es auch aus Usbekistan,
({0})
vor allem auf dem Gebiet der Kinderarbeit und der vorzeitigen Annäherung an die Internationale Arbeitsorganisation, ILO. Diese Entwicklung vor Ort überprüfen zu
lassen, wäre eigentlich auch für Usbekistan nützlich gewesen. Das Land wollte das aber nicht.
So bleibt Usbekistan wie auch Turkmenistan in menschenrechtlicher Hinsicht problematisch. In beiden Staaten werden Andersdenkende besonders unterdrückt, und
das nicht nur politisch und religiös, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Auch internationale Menschenrechtsaktivisten können in diesen Ländern eben nur
schwer arbeiten und sich dort platzieren.
Auch in Kirgistan macht die Entwicklung Sorgen;
denn hier hat es durch die Übernahme des russischen
Gesetzes über die Nichtregierungsorganisationen eine
klare Verschlechterung der Menschenrechtssituation gegeben.
Ein Thema, das im Zusammenhang mit Zentralasien
auch immer wieder eine Rolle spielt, ist die Situation
und die Rolle von sexuellen Minderheiten. Hier gibt es
in Zentralasien große Defizite. Die Bereitschaft, zum
Beispiel gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und
Transgendern die rechtliche Situation und die freie Ausübung ihrer sexuellen Orientierung voranzubringen, ist
bei den meisten Regierungen fast überhaupt nicht ausgeprägt, und wenn überhaupt, dann nur sehr gering. Deswegen ist es auch unsere Verpflichtung, diese Themen
immer wieder anzusprechen
({1})
und deutlich zu machen, dass das aus unserer Sicht eine
unbequeme Situation für eine langfristige Partnerschaft
ist.
Allerdings stellt sich auch die Frage, in welcher Form
man das tut. Nur anzuprangern, hilft kaum weiter. Es
gibt auch andere Möglichkeiten. Es gilt zum Beispiel,
von unserer Seite vielmehr das Bewusstsein für diese
Gruppen zu stärken und kleine Verbesserungen und auch
Unterstützung durch eine entsprechende Zusammenarbeit mit diesen Gruppen anzubieten.
Ich denke, dass wir alle uns über die menschenrechtlichen Probleme in Zentralasien einig sind, auch wenn
ich nochmals davor warnen will, alle Länder über einen
Kamm zu scheren. Dieses Bewusstsein hat im Handeln
der EU und der Bundesregierung bereits einen deutlichen Niederschlag gefunden;
({2})
denn die EU-Zentralasienstrategie - sie ist angesprochen
worden -, die ja auf Deutschlands Initiative zustande gekommen ist, widmet sich in weiten Teilen eben dem
Thema Menschenrechte. In diesem Rahmen setzen wir
uns für die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit vor Ort und
für die Unabhängigkeit der Justiz ein, auch indem wir
entsprechende Strukturen schaffen.
Das Instrument der EU ist der Menschenrechtsdialog
als eine wesentliche Gesamtstrategie. Diese Dialoge zielen auf konkrete praktische Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtssituation ab und unterstützen
auch ganz spezifische Projekte. Deutschland als das einzige Land innerhalb der Europäischen Union, das in den
fünf zentralasiatischen Ländern auch Botschaften unterhält und damit deutlich macht, wie wichtig die Länder
aus unserer Sicht sind, ist in diesen Punkten ganz besonders engagiert.
({3})
Zudem ist Deutschland im Rahmen der EU der größte
bilaterale Geber. Das müssen wir auch immer deutlich
machen. Andererseits genießen wir in Zentralasien auch
den Ruf, dass wir ein ehrlicher Makler und Partner sind.
({4})
Insofern werden die im Antrag der Grünen aufgeführten Punkte von der Bundesregierung permanent durchgeführt. Es ist nicht nötig, hier durch einen eigenen Antrag Aktionen zu fordern, die eben ohnehin politisches
Handeln sind und ständig auf der politischen Agenda
stehen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt.
({5})
Meine Damen und Herren, ein Element unserer Menschenrechtspolitik kommt im Antrag hingegen überhaupt nicht vor. Deswegen muss ich es hier ansprechen.
Es geht um die Verknüpfung von Menschenrechten und
Entwicklungszusammenarbeit, die gerade im neuen
Menschenrechtskonzept des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung festgehalten ist und auch für die bilaterale Kooperation mit
diesen Ländern sehr wichtig ist.
({6})
Dieses Konzept stellt eine ganz neue Qualität dar, auch
weil es für alle Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit verbindlich ist. In deren Monitoring
und Evaluierung werden jetzt erstmals Menschenrechte
mit einbezogen. Beschwerde- und Sanktionsmechanismen
werden geschaffen. Fast noch wichtiger ist, dass ein Kriterienkatalog erarbeitet worden ist, mit dem die Regierungsführung und die Menschenrechtssituation in den
Partnerländern bewertet werden.
({7})
Grundlage sind die Umsetzung der Menschenrechtskonventionen in nationales Recht, die Schaffung entsprechender Institutionen und Verfahren sowie die Ergebnisse der Umsetzung zentraler Menschenrechte. Die
Ergebnisse der Bewertungen sind dann auch Grundlage
für die Art und Ausgestaltung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, also Antwort auf die Frage: Wie
viel Gelder bekommen diese Länder? Wenn sie sich von
„bad“ nach „good“ entwickeln, dann gibt es einfach
mehr. So einfach ist es, aber so richtig ist es auch. Das
bedeutet, dass wir uns bei schlechten Ergebnissen oder
bei Verschlechterung bestimmter Formen der Entwicklungszusammenarbeit auch die grundsätzliche Frage
stellen müssen, ob Entwicklungszusammenarbeit mit
diesen Ländern noch sinnvoll und gut ist.
Meine Damen und Herren, mit Druck und Belehrung
kommen wir in Zentralasien nicht weiter, wie auf der
Welt überhaupt nur selten. Wir müssen die Situation vor
Ort in ein Verhältnis zu den regionalen und zu den historischen Kontexten setzen. Ein Teil der autoritären Tendenzen ist auch der Situation geschuldet, dass diese
Staaten aus der autoritären Sowjetunion stammen und
immer noch ein starker russischer Einfluss bemerkbar
ist. Die Angst vor einer destabilisierenden Situation auch
durch den Islamismus führt weiterhin dazu, dass man gerade die Religionsfreiheit einschränkt - das ist ein ganz
wichtiger Punkt für uns - und man die Kontrolle nur ungern aus der Hand gibt.
Der beste Weg ist aus meiner Sicht, unser Engagement zu erhöhen; denn wir werden mittelfristig auch
eine nachhaltigere Menschenrechtspolitik in Zentralasien erreichen und durchsetzen müssen. Faire Zusammenarbeit und Ehrlichkeit sind Tugenden, die die Regierungen dort verstehen; denn sie befinden sich in einem
jungen Prozess auch der Entwicklung im Kaukasus und
in Zentralasien und sozusagen in einem schweren Übergang in echte Demokratieländer. Aus diesem Grunde
sollten wir klar in der Analyse der Probleme sein, um die
demokratische und wirtschaftliche Entwicklung und die
Zusammenarbeit mit diesen Ländern in den nächsten
Jahren zu verbessern.
Dazu gehört im Übrigen auch - das möchte ich noch
als letzten Punkt anführen - die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik, die bei der Zentralasienstrategie eine
wichtige Rolle spielt, weil damit die Zivilgesellschaft
unterstützt wird, weil wir hier zu einer offenen, teilweise
manchmal auch problemlosen Kommunikation kommen
können. Ich sage es noch einmal: Die auswärtige Kulturund Bildungspolitik mit all den Angeboten, ob das
Goethe-Institute oder ob das Austauschprogramme sind,
sind ein unschätzbarer Wert in dieser Zusammenarbeit.
Also, meine Damen und Herren: Der Kaukasus und
Zentralasien sind Schlüsselregionen für Deutschland.
Das gilt nicht nur für die Rohstoffsicherung, sondern
auch für den Zugang nach Ost- und Südasien. Geostrategisch sind diese Länder für die Zukunft, für unsere Zukunft und die Zukunft der EU, ein ganz wichtiger Bereich. Deswegen müssen sie weiterhin im Fokus bleiben,
sie müssen von uns weiterhin unterstützt werden, aber
auch mit einer Zurückhaltung und mit einer wirklichen
Überprüfung unserer Arbeit und Kooperation.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Katrin Werner das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Den Menschenrechten in Zentralasien wurde
lange Zeit zu wenig Beachtung geschenkt. Wir sollten
immer als Erstes und zu jedem Land über die Menschenrechte reden und darüber, wie wir diese stärken können.
Erst dann kann es um die wirtschaftlichen Interessen gehen.
({0})
Aber auf der Homepage des Auswärtigen Amts steht:
Die Länder Zentralasiens gewinnen zunehmend
strategische Bedeutung.
Dann heißt es weiter:
Im wirtschaftlichen Bereich wird die Region immer
wichtiger für die Rohstoff- und Energiesicherheit
Deutschlands und der EU. Auch für die Entwicklung einer transkontinentalen Transport-Infrastruktur, die Europa, Russland und Asien miteinander
verbindet, gewinnt Zentralasien zunehmend eine
Schlüsselstellung.
Für Sie also zählt zuerst: Die Region ist reich an Rohstoffen, wie Erdöl, Erdgas, Uran und Seltenen Erden.
Russland, die USA und China konkurrieren seit geraumer Zeit erbittert um den Zugang zu diesen Rohstoffen
und um die Kontrolle der Transportwege, und auch die
EU mischt mit.
Weiter liest man auf der Homepage des Auswärtigen
Amts:
Daneben ist die Region wegen ihrer Nachbarschaft
zu Afghanistan von herausragender Bedeutung.
({1})
Genau darum geht es. Der Flughafen Termez in Usbekistan dient der Bundeswehr von Anfang an als Drehscheibe für den Transport von Material und Soldaten
nach Afghanistan. Dafür zahlt Deutschland circa 20 Millionen Euro pro Jahr.
({2})
An der Zentralasienstrategie zeigt sich, wie sich die
EU die Entwicklung ihrer Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern vorstellt. An der Ausarbeitung
dieser Strategie hat die ehemalige schwarz-rote Bundesregierung 2007 maßgeblich mitgewirkt. Mit dem heutigen Antrag fordern SPD und Grüne richtige und wichtige Punkte, aber sie halten weiter an der EUZentralasienstrategie fest. Es stehen weiter die wirtschaftlichen Interessen an erster Stelle.
Dabei ist die Situation bei den bürgerlichen und politischen Menschenrechten in Zentralasien dramatisch.
Hier geht es vor allem um Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit. In all diesen Ländern
herrschen mehr oder weniger autoritäre Regime, die demokratische Grundrechte systematisch verletzen.
Auch bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten bestehen zum großen Teil Defizite.
Beispielsweise werden in Usbekistan Kinder vom Staat
verpflichtet, in der Baumwollindustrie zu arbeiten. Die
Linke sagt: Ausbeuterische Kinderarbeit ist ein Skandal
und gehört endgültig abgeschafft!
({3})
Diese Punkte werden in ihrem Antrag kritisch und
richtig beschrieben.
({4})
Entscheidend ist aber, was in Ihrem Antrag fehlt.
({5})
Hinzu kommt, dass Sie völlig inkonsequent bleiben,
was die realen Umsetzungsmöglichkeiten Ihrer Forderungen angeht. Die EU-Zentralasienstrategie ist primär
auf wirtschaftliche Ziele ausgerichtet. Es geht um Freihandel und Privatisierung von Wirtschaftsressourcen in
diesen Ländern. Menschenrechte spielen nur eine Nebenrolle. Dies zeigt sich beispielsweise auch daran, wie
ungeniert die Bundesregierung den diktatorischen Präsidenten Kasachstans hofiert hat,
({6})
um Anfang des Jahres eine Rohstoffpartnerschaft mit
Kasachstan abzuschließen, und das trotz der bekannten
Missstände in Kasachstan.
Wenn SPD und Grüne ihre eigenen Anträge ernst nehmen würden, müssten sie fordern, dass die EU-Zentralasienstrategie vor allem um menschenrechtsbezogene
Ziele erweitert wird. Ohne eine andere Gewichtung und
inhaltliche Änderung der Zentralasienstrategie lassen
sich ihre Forderungen nicht umsetzen.
({7})
Den rot-grünen Antrag lehnt die Linke ab.
Vielen Dank.
({8})
Jetzt spricht Viola von Cramon für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich
in der Tat meinen SPD-Kolleginnen und -Kollegen für
die Initiative zu diesem Antrag ganz herzlich danken. Es
war eine ausgesprochen angenehme Kooperation.
({0})
Ich bin erfreut, dass wir gemeinsam ein durchaus kritisches Resümee der EU-Zentralasienstrategie ziehen
können. Diese hat im Bereich Demokratie und Menschenrechte - ich glaube, Frau Werner, das haben wir explizit so beschrieben - nicht zu relevanten Fortschritten
in den fünf zentralasiatischen Ländern beitragen können. Bei der Neujustierung der Strategie haben die EUStaaten im Sommer jetzt ausgerechnet die sicherheitspolitische Kooperation mit den zentralasiatischen Staaten stärker ins Zentrum gestellt. Das geschieht natürlich
- das haben einige vor mir erwähnt - vor dem Hintergrund des ISAF-Abzugs.
Es ist symptomatisch für die westliche Politik gegenüber Zentralasien: Im Rahmen des Antiterrorkampfes
und der Sicherung der nördlichen Abzugsrouten sind
Menschenrechte und Demokratie in Zentralasien leider
absolut nachrangig.
({1})
Hinzu kommen massive Interessen an Rohstoffen aus
Turkmenistan und Kasachstan. Das ist leider der Hintergrund, vor dem wir hier über Menschenrechte in Zentralasien diskutieren.
Wir hören menschenrechtliche Bekenntnisse aus den
Regierungsfraktionen, aber sie klingen hohl. Nichts verdeutlicht die Doppelmoral der Bundesregierung in Bezug auf die Menschenrechte in Zentralasien besser als
die hier schon erwähnte bilaterale Rohstoffpartnerschaft
mit Kasachstan und die Sicherheitskooperation mit Usbekistan.
Zu Kasachstan. Im Februar hat die Bundeskanzlerin
dem kasachischen Präsidenten Nasarbajew hier in Berlin
den großen Hof gemacht. Der Grund? Die deutsche
Wirtschaft will privilegierten Zugang zu den Seltenen
Erden und anderen Rohstoffen haben.
Den Besuch Nasarbajews und den Abschluss der bilateralen Rohstoffpartnerschaft halte ich aus vier Gründen
für ein politisches Fiasko: erstens der Zeitpunkt - keine
zwei Monate nach dem Massaker an den streikenden Ölarbeitern und keinen Monat nach den pseudodemokratischen Parlamentswahlen im Januar, das war absolut
schamlos -;
({2})
zweitens der bilaterale Charakter - damit unterläuft die
Bundesregierung eine kohärente europäische Menschenrechtspolitik und multilaterale Governance-Strukturen
im Rohstoffsektor -; drittens das fehlende Engagement
bei Substitution und Recycling zum Beispiel von Seltenen Erden - denn nur deswegen gerät unsere Wirtschaft
in die Abhängigkeit von zweifelhaften Regimen wie
dem kasachischen - und viertens der Inhalt des Abkommens zur Rohstoffpartnerschaft. Im Abkommen fehlen
Verweise auf maßgebliche internationale Abkommen
des Menschenrechtsschutzes, der Arbeitsrechte, der Bürgerbeteiligung und der Transparenz. Wir haben mit dem
Entwurf eines Abkommens für eine alternative Rohstoffpartnerschaft gezeigt: Es geht eben auch anders, wenn
man wertegeleitete Politik ernst nimmt.
({3})
Es überrascht mich aber nicht, dass die Bundesregierung die Forderung der Menschenrechtskommissarin der
Vereinten Nationen, Pillay, nach einer internationalen
Untersuchungskommission noch nicht einmal unterstützt. Man will es sich auf Teufel komm raus mit dem
Autokraten Nasarbajew nicht verderben. In Einzelfällen,
ja, da setzt man sich für einen prominenten politischen
Gefangenen wie den Theaterregisseur Bolat Atabajew
ein. Das freut mich. Aber ich denke nicht, dass das ausreicht.
({4})
Zweites Beispiel, Usbekistan. Hier sieht die Menschenrechtslage noch düsterer aus als in Kasachstan; die
Details sind uns bekannt. Doch ist und bleibt Usbekistan
ein zentraler Partner der NATO-Staaten in Bezug auf Afghanistan. Deutschland spielt mit einem Geheimvertrag
über die Nutzung des Flughafens Termez eine besondere
Rolle.
({5})
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage unsererseits hat
sich die Bundesregierung zu den Konsequenzen aus der
katastrophalen Menschenrechtslage für die sicherheitspolitische Kooperation im Mai ignorant gezeigt und ist
auf diese Frage gar nicht eingegangen - ich zitiere -:
Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Usbekistan konzentriert sich wesentlich auf die Unterstützung der Operationsführung der Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan
({6}) und in diesem Zusammenhang die Nutzung
des Flughafens Termez.
That’s it. Wie soll man das anders verstehen, als dass
Menschenrechte einfach keine Rolle für Art und Ausmaß der sicherheitspolitischen Kooperation spielen?
({7})
Dazu passt, dass Usbekistan, Herr Klimke, weiterhin
vorrangiges Kooperationsland, ein sogenanntes A-Land,
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bleibt.
Aber die UKW-Frequenz für die Deutsche Welle, die
dringend notwendig wäre, wird eingestellt. Das ist eine
Katastrophe.
({8})
Obwohl die Bundesregierung immer wieder vorgibt,
sich für die Abschaffung der Kinderzwangsarbeit bei der
Baumwollernte einzusetzen, hört man hinter den Kulissen, dass sie ein konsequenteres Engagement in der ILO
zu diesem Thema ausbremst.
Frau Kollegin!
Ich bin fertig.
({0})
- Ich bin fertig mit meiner Rede.
Das ist leider die traurige Realität der Menschenrechtspolitik unserer Bundesregierung in Zentralasien. Ich könnte noch viel hinzufügen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die
Menschenrechte in Zentralasien stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11287, den Antrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9924
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen und die Linke angenommen. SPD
und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einrichtung einer Markttransparenzstelle
für den Großhandel mit Strom und Gas
- Drucksachen 17/10060, 17/10253 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 17/11386 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD vor.
Interfraktionell wurde vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
nehmen wir das so zur Kenntnis.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11386, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen
17/10060 und 17/10253 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Diejenigen die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, bitte ich um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen.
Die Fraktion Die Linke war dagegen. SPD und Bündnis 90/
Die Grünen haben sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
zuvor angenommen. Ich lasse über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11401
abstimmen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag?
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringende Fraktion, enthalten haben sich Linke
und Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP waren
dagegen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
- Drucksachen 17/2419, 17/8622 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Carsten Schneider ({2})
Florian Toncar
Steffen Bockhahn
Katja Dörner
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und teile Ihnen mit, dass
Frau Vogelsang und Herr Danckert ihre Reden zu Pro-
tokoll geben.1)
({3})
Ich gebe das Wort der Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt: Keine
andere Stadt, und gewiss nicht Bonn, will Berlin, der
Hauptstadt der Deutschen, ihren historischen und geistigen Rang und ihre Zukunftsaufgaben für alle Deutschen
streitig machen. - Die Behauptung in dem Antrag der
Fraktion Die Linke, Berlins Rolle als Bundeshauptstadt
werde durch den zweiten Dienstsitz von Ministerien in
Bonn geschwächt, ist - das zeigt auch die jüngere Geschichte in Berlin - schlicht haltlos.
In der politischen und gesellschaftlichen Realität ist
es längst unstrittig - deshalb reden wir auch hier und
nicht in Bonn -, dass Berlin die Funktion als Bundeshauptstadt voll erfüllt. Das ist im In- und Ausland anerkannt. Auch wenn man die Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger anschaut, sieht man es; denn wichtige
Demonstrationen finden hier statt und nicht in Bonn.
Zudem darf bei der Diskussion nicht vergessen werden, dass damals die Zustimmung zu dem Berlin-BonnGesetz an die Bedingung geknüpft war, dass Bonn zum
Teil Dienstsitz von Ministerien bleibt. Eine Änderung
des Gesetzes wäre somit ein nachträglicher Wegfall der
Geschäftsgrundlage, und für die FDP-Bundestagsfraktion gilt immer noch: Pacta sunt servanda, Verträge müssen eingehalten werden.
({0})
Nur weil einem 20 Jahre später etwas anderes einfällt,
kann man das nicht ändern. Eines sage ich Ihnen sehr
klar - ich habe damals in Bonn studiert und habe es erlebt -: Berlin hätte nie eine Mehrheit bekommen, wenn
dieses Gesetz nicht auf den Weg gebracht worden wäre.
Das muss man der Ehrlichkeit halber sagen.
({1})
Eines bewegt mich als überzeugte Föderalistin ohnehin, nämlich die Tatsache, dass wir in Deutschland mit
dem Umzug eine Art Rutschbahneffekt erleben. Wir
bauen ein neues Bundespolizeipräsidium. Wo wird es
gebaut? In Potsdam. Die Abteilung 6 des Verfassungsschutzes zieht wohin? Nach Berlin. Der BND zieht zum
überwiegenden Teil wohin? Nach Berlin. Manchmal
frage ich mich im Nachhinein, wie dieses Land jahrzehntelang ohne moderne Technologie funktioniert hat.
Man hat mit diesen Häusern offenbar über Kilometer
hinweg kommunizieren können. Irgendwie habe ich die
Entwicklung wohl verschlafen. Deutschland kann offenbar auch mit gut verteilten Institutionen leben.
({2})
Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Wir sind ein föderalistischer Staat, wir sind kein zentralistischer Staat.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wieder einen zentralistischen Staat wollen, so sage
ich Ihnen: Wir sind schon in Berlin. - Das sollte als Erfahrung für Sie reichen.
Man kann natürlich vieles noch verbessern, zum Beispiel die Konferenztechnologie. Man kann sich auch in
dem einen oder anderen Ausschuss morgens überlegen,
wie man damit umgeht, wenn Beamtinnen und Beamte
aus Bonn anreisen. Es ist alles schon viel besser geworden.
In Ihrem Antrag erwähnen Sie übrigens die Umzugskosten mit keinem Wort. Sie tun so, als ob sich der Umzug von selbst bezahlen würde. Wenn Sie die Beamtinnen und Beamten hier unterbringen wollten, müssten Sie
Neubauten errichten. Wer sich wie ich mit dem Bau des
Polizeipräsidiums und des Innenministeriums beschäftigt hat, der weiß, dass ein Neubau nicht für 1 Euro zu
haben ist. Der ist vielmehr richtig teuer.
({3})
Da wir uns vorgenommen haben, zu sparen, ist das,
glaube ich, auch ein Beitrag zu einem strukturell ausge-
glichenen Haushalt. Auch deshalb ist es für uns selbst-
verständlich, dass wir einem Antrag, der eine geschätzte 1) Anlage 3
Amortisationszeit von 200 bis 500 Jahren hat, nicht zustimmen können. Wenn Sie so weit denken, herzlichen
Glückwunsch! Wir denken an die schwarze Null im Jahr
2014.
({4})
Vor allen Dingen ist es interessant, dass ausgerechnet
die Linke - wo Sie sich hier immer so sozial gerieren sich um konkrete Vorschläge zu den sozialen Betroffenheiten herumdrückt. Über die berechtigten Anliegen der
Betroffenen - das sind nicht nur topbezahlte Beamtinnen
und Beamten, sondern vor allen Dingen auch Menschen
im mittleren oder vielleicht sogar einfachen Dienst schweigen Sie sich einfach aus. Dazu fällt Ihnen eigentlich nur ein, dass das Ganze durch die Mitbestimmung
- die sowieso gesetzlich vorgeschrieben ist - geregelt
werden soll.
Wenn Ihnen nicht mehr zur sozialen Betroffenheit
von Tausenden von Beamten, die von Bonn nach Berlin
umziehen sollen, einfällt, dann weiß ich nicht, wo Ihr soziales Gewissen geblieben ist.
({5})
Eines weiß ich aber: dass jeder, der heute Ihrem Antrag
nicht zustimmt, ein soziales Gewissen hat und sich an
rechtsstaatliche Verbindlichkeiten hält.
({6})
Wenn Sie das nicht können, ist Ihnen nicht zu helfen.
Wir haben eine andere Auffassung.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erteile ich jetzt dem Kollegen Roland Claus
für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Meiner Vorrednerin will ich in einem Punkt ausdrücklich zustimmen: Dass wir weiter denken als die
FDP, stimmt in der Tat.
({0})
Aber dass die FDP gerade bei diesem Antrag ihr soziales
Gewissen entdeckt, ist etwas kurios.
Worüber reden wir hier? Wir reden über eine seit
13 Jahre zweigeteilte Bundesregierung. Sie haben richtig
gehört. Fast die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesregierung arbeitet nach wie vor am
Standort Bonn. Da geht es nicht um Bundesämter und
nachgeordnete Behörden, sondern um eine unmittelbare
Regierungstätigkeit. Zu jeder Zeit unserer Beratungen
führt das dazu, dass konkret 170 Angestellte des Bundes
oder Bundesbeamte sich in der Luft befinden - zwischen
Bonn und Berlin oder Berlin und Bonn. Zurzeit sind es
ausdrücklich einige mehr, weil wir in den Haushaltsberatungen stecken.
({1})
Was tut die Bundesregierung und die sie tragende Koalition in dieser Zeit? Sie tut nichts oder eher das Gegenteil: Sie verfestigt diese Teilung, beispielsweise mit der
Absicht, eine zentrale Bundesbehörde für die gesamte
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes in Bonn
zu installieren.
({2})
Uns wird gelegentlich vorgehalten, dass wir diesen
Antrag alle Jahre wieder stellten. Das ist auch nicht
falsch, aber ich weiß, dass Sie dieses „alle Jahre wieder“
nicht als Kompliment meinen. Deshalb sagen wir Ihnen
ganz deutlich: Solange Sie sich nicht oder in diesem
Schneckentempo bewegen, mit dem Sie jetzt unterwegs
sind, werden Sie mit diesem Antrag auch künftig zu tun
haben.
({3})
Was schlägt Ihnen nun die Linke vor? Die Linke sagt:
Wir wollen einen schrittweisen Komplettumzug der
Bundesregierung nach Berlin, und wir wollen trotzdem
den Erhalt einer bundesweiten Verteilung von Bundesämtern und Bundesbehörden. Unser Hauptargument
heißt: Geteilt regieren heißt schlecht regieren. Man
merkt dieser Regierung an allen Ecken und Enden an,
dass dies auch zutrifft.
({4})
Ich will Ihnen auch eines klarmachen, weil mir immer
wieder entgegengehalten wird, wir seien jetzt im Zeitalter von Computern und Telefonkonferenzen, was ich natürlich alles begrüße und nicht abstreite.
({5})
Aber Sie werden auch die Erfahrung gemacht haben:
Wirklich wichtige Entscheidungen in Regierung, Politik
und Fraktionen fallen immer noch dadurch, dass Menschen zusammenkommen, sich die Sachlage erklären
und etwas gemeinsam verabreden.
Die Bundesregierung hat uns den jährlichen Teilungskostenbericht vorgelegt. Er enthält wie immer natürlich
nur einen Teil der Wahrheit.
Die ganze entgangene Arbeitszeit gehört auch zur
Wahrheit; das geschieht beispielsweise dadurch, dass
Beamte des Bundes, die Sie als Abgeordnete hierher zu
uns zur Beratung einladen,
({6})
quasi umsonst hierher gefahren sind, wenn sich eine Tagesordnung verändert und dann eine Debatte stattfindet.
Auch diese Wahrheit sparen Sie aus.
({7})
Dazu kommt, dass es bundesweit viele junge kreative
Leute gibt, die sich vorstellen können, ihre berufliche
Entwicklung in einem Bundesministerium stattfinden zu
lassen. Diese jungen Leute - das kann ich Ihnen wirklich
sagen; das können uns auch alle mit Personalfragen Beschäftigten sagen - haben natürlich in erster Linie ein Interesse, nach Berlin zu kommen. Sie wollen nicht nach
Bonn. Auch das muss gesagt werden.
({8})
Nun haben wir den Antrag im Haushaltsausschuss beraten. CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen haben unseren Antrag abgelehnt. Die SPD hat sich der
Stimme enthalten. Das ist für uns wirklich ein beachtenswerter Schritt; dass sie sich hier bewegt hat, wollen
wir auch anerkennen.
({9})
- Die SPD hat sich in dem federführenden Ausschuss,
Herr Kollege Kelber, ausdrücklich enthalten. Das können auch Sie nachlesen.
Zu dem Einwand, man müsse geschlossene Verträge
einhalten, kann ich Ihnen nur sagen: Alles, was der Bundesstadt Bonn - bitte schön, auch zu Recht - versprochen wurde, wurde spätestens bis 2003/2004 eingehalten. Man kann heute mit Fug und Recht sagen: Keinem
Bonner wird es schlechter gehen.
({10})
Das Berlin-Bonn-Gesetz hatte seine Zeit, getreu dem
Bibelwort: Ein Jegliches hat seine Zeit. - In der Bibel
steht aber nicht: Ein Jegliches hat seine Ewigkeit. Deshalb gehört auch jetzt das Berlin-Bonn-Gesetz aufgehoben.
Beim Stichwort „Ewigkeit“ darf ich Sie an die Redezeit erinnern.
Herr Präsident, ich komme dem gerne nach. - Auf zur
Wiedervereinigung der Bundesregierung in Berlin!
({0})
Vielen Dank, Kollege Roland Claus. - Die Kollegin
Katja Dörner hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Beendigungsgesetz zum Berlin-BonnGesetz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8622, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2419 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Gegenprobe! - Die Linksfraktion.
({0})
Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten.
({1})
- Das kann der Herr Kelber selber sagen, wenn es so ist.
Hier ist es nicht gesehen worden.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes
zur Verordnung ({2}) Nr. 648/2012 über OTCDerivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister ({3})
- Drucksache 17/11289 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ralph Brinkhaus.
({5})
Ich darf bei der Gelegenheit darauf hinweisen, dass
man um diese Uhrzeit einen hohen Zeitanteil nicht immer ausschöpfen muss.
Bitte schön!
Das war jetzt aber gemein, Herr Präsident. - Nein, das
werde ich auch nicht machen.
Ich habe „muss“ gesagt.
({0})
Der verehrte Herr Präsident hat ja gerade den sperri-
gen Titel dieses Gesetzes vorgelesen. Man mag sich
wirklich fragen: Was machen wir hier? Ausführungsge-
setz zur Verordnung über OTC-Derivate - ist es wirklich
wichtig, dass wir zu dieser späten Stunde darüber noch
diskutieren? Ich sage Ja. Ich sage ganz ausdrücklich Ja; 1) Anlage 3
denn dieses Regulierungswerk ist wieder einmal ein sehr
epochales Regulierungswerk, das wir hier zusammen
mit unseren europäischen Kollegen auf den Weg bringen.
Ich nenne Ihnen nur einmal eine Zahl. Das Nominalvolumen der ausstehenden Derivate, das weltweit über
die Finanzmärkte wabert, beträgt nach seriösen Schätzungen zwischen 600 Billionen und 1 000 Billionen USDollar. Das muss man sich einmal vorstellen!
Das wirklich Beunruhigende an der ganzen Sache ist,
dass diese Märkte größtenteils nur wenig bis gar nicht
reguliert sind. Hier soll Abhilfe geschaffen werden mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf, den wir heute in erster
Lesung behandeln.
Was sind überhaupt Derivate, meine Damen und Herren? Sind Derivate eigentlich etwas Schlimmes? Nein,
Derivate sind ganz normale Termingeschäfte, und diese
werden in der Realwirtschaft auch gebraucht. Um ein
einfaches Beispiel zu geben: Ein Maschinenbauer schließt
am 1. Juli eines Jahres einen Vertrag, nach dem er zum
1. Dezember zu einem bestimmten Preis in US-Dollar
eine Maschine liefert. Er stellt während der Zeit, wo er
die Maschine baut, fest, dass der US-Dollar im Wert verfällt und er am Ende des Tages viel weniger für seine
Maschine bekommt, als er ursprünglich gedacht hat. Um
so etwas zu vermeiden, sichert man sich mit einem Devisensicherungsgeschäft ab. Das hört sich durchaus nützlich an. Es gibt ja auch Zinssicherungsgeschäfte und Warensicherungsgeschäfte. Die Realwirtschaft braucht diese
Geschäfte.
Nichtsdestotrotz sind wir - ich glaube, das gilt für alle
Fraktionen hier im Hause - sehr beunruhigt. Warum sind
wir beunruhigt? Einmal aufgrund des hohen Volumens
dieser Geschäfte mit Derivaten - 600 bis 800 Billionen
US-Dollar - und zum anderen deshalb, weil wir festgestellt haben, dass das Volumen dieser Geschäfte viel
schneller gewachsen ist als das Bruttosozialprodukt in
der Welt. Man lernt daraus, dass es anscheinend so ist,
dass sich diese Geschäfte vom realwirtschaftlichen Bezug abgekoppelt haben. Findige Finanzmanager, findige
Investmentbanker haben entdeckt, dass man für Geschäfte mit Derivaten, mit denen sich ein Gewinn, ein
Ertrag erzielen lässt, den besagten Maschinenbauer
überhaupt nicht braucht. Man kann untereinander handeln. So hat sich die ganze Sache unglaublich aufgebläht.
Wir wissen eigentlich auch gar nicht, was auf diesen
Derivatemärkten so abgeht. Wir haben das festgestellt,
als wir 2010 die Griechenland-Krise gehabt haben. Da
wurde gesagt: Mit Credit Default Swaps wird gegen
Griechenland gezockt. Wir hätten gern empirische Daten
gehabt. Wir hätten gern gewusst: Wer zockt gegen Griechenland, in welcher Höhe, mit welchen Verträgen? Wir
wussten es nicht. Deswegen, meine Damen und Herren,
konnte die Aufsicht auch nicht eingreifen. Deswegen
sind wir sehr daran interessiert, dass dort Transparenz
entsteht.
Wir haben eine weitere beunruhigende Feststellung
gemacht, nämlich dass diese Produkte immer komplexer
werden. Wir hatten im Finanzausschuss eine Anhörung
zu Spread Ladder Swaps. Das ist so kompliziert, dass
mir selbst der Vorstand der Deutschen Bank nicht so
richtig erklären konnte, was er an Kommunen und mittelständische Unternehmen verkauft hat. Das hat zu einem erheblichen Schaden geführt: bei Kommunen, bei
mittelständischen Unternehmen. Solche Geschäfte sind
im Übrigen auch heute noch gerichtsanhängig.
Wenn ich das einmal zusammenfasse: einerseits riesengroße Volumina, die durch die Welt gehen, wenig
Transparenz, Abkopplung von realwirtschaftlichen Prozessen und andererseits Produkte, die so komplex sind,
dass sie wahrscheinlich nur noch der mathematisch vorgebildete Fachmann versteht. Das ist, glaube ich, Anlass
genug, zu regulieren. Insofern erfüllen wir heute zusammen mit unseren europäischen Kollegen das Versprechen, das wir im Koalitionsvertrag gegeben haben, dass
kein Finanzprodukt, kein Finanzmarkt und kein Akteur
unreguliert bleibt. Deswegen wird hier heute das Ausführungsgesetz zur EMIR-Verordnung auf den Weg gebracht.
Was beinhaltet die EMIR-Verordnung, meine Damen
und Herren? Die EMIR-Verordnung regelt erstens, dass
diese Derivate zukünftig, wenn sie standardisiert sind,
über zentrale Plattformen abgewickelt werden. Das
schafft Transparenz. Das schafft Sicherheit. Das schafft
eine bessere Abwicklung. Das ist wichtig.
Zweitens wird geregelt, dass es da, wo es nicht möglich ist, diese Derivate über zentrale Plattformen abzuwickeln, ein besseres Risikomanagement gibt und dass alle
diese Geschäfte transparent gemacht werden, indem sie
in Register eingetragen werden.
Das müssen wir jetzt hier in Deutschland eigentlich
gar nicht direkt umsetzen, weil es sich um eine EU-Verordnung handelt, die gleich deutsches Recht ist, aber wir
müssen einige Sachen auf den Weg bringen, damit diese
Verordnung hier in Deutschland auch ordentlich wirken
kann.
Als Erstes müssen wir - wie es immer so ist - festlegen, welche Behörde in Deutschland für die EMIR-Verordnung zuständig ist.
Wir müssen als Zweites einige konkurrierende gesetzliche Regelungen im KWG ändern, die mit der EMIRVerordnung nicht zusammenpassen.
Wir müssen drittens - das ist auch ganz wichtig - hier
in Deutschland Bußgeldtatbestände festlegen.
Wir müssen viertens einige Folgeänderungen vornehmen: im Versicherungsaufsichtsgesetz, im Investmentgesetz und - das ist ganz wichtig; das wird uns noch beschäftigen - im Insolvenzrecht. Das ist das, was wir hier
machen müssen. Das werden wir machen.
Wenn Sie sich das alles einmal anschauen, dann merken Sie, dass als Grundalgorithmus hinter dieser Verordnung steht: Risiko minimieren und Risiko transparent
machen. Das ist genau das, was wir in der christlich-liberalen Koalition in mittlerweile weit über 15 Gesetzen auf
den Weg gebracht haben: Ich nenne die Gesetze zur
Neuordnung der Vergütungsstrukturen, zur Neuordnung
des Ratingwesens, zum Verbot der Leerverkäufe, die
Umsetzung der Kapitaladäquanzrichtlinie, die Regelung
von Verbriefungen von Großkrediten,
({0})
darüber hinaus noch das Bankenrestrukturierungsgesetz, das Anlegerschutzgesetz, das Finanzanlagenvermittlergesetz, die Neuordnung der deutschen Finanzaufsicht, die Integration der deutschen Finanzaufsicht an die
europäische Finanzaufsicht, die Eigenkapital- und Liquiditätsregeln, die wir im Zuge von Basel III auf den Weg
bringen, Solvency II, mit dem wir das Versicherungswesen sicherer machen, die Regulierung der alternativen
Investmentfonds. Überall geht es darum, Risiko zu minimieren und vor allem Risiken transparent zu machen,
damit eine Aufsicht vernünftig eingreifen kann.
({1})
Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Umsetzung der
EMIR-Verordnung; denn der 600 bis 800 Billionen Dollar große Derivatemarkt muss, wie gesagt, dringend
schärfer reguliert werden. Das werden wir heute machen.
Jetzt könnte ich sagen: Alles ist toll gelaufen. Wir
sind mit der Regulierung fast fertig, nichts kann mehr
passieren. Aber auch hier ist es so, dass wir alle, die wir
hier sitzen, in Demut sagen: Nein, wir wissen nicht, woher die nächste Finanzkrise kommt. Wir wissen auch
nicht, ob wir durch all diese Regulierungen die nächste
Finanzkrise verhindern können. Aber wir machen sie ein
wenig unwahrscheinlicher. Das ist wichtig. Vielleicht
gibt es den einen oder anderen Politiker in diesem Land,
den einen oder anderen Kanzlerkandidaten der einen
oder anderen Partei,
({2})
der hin und wieder behauptet, er könne die Finanzmärkte
sicherer machen. Wir sagen das jedoch nicht; denn wir
haben noch ganz viel Arbeit vor der Brust.
Über die Regulierung der Derivatemärkte und über
die Regulierung der alternativen Investmentfonds hinaus
müssen wir noch einige dicke Eisen anpacken. Dazu gehört beispielsweise der große Bereich der Schattenbanken. Das wird eine der wesentlichen zentralen Aufgaben
der nächsten Jahre sein. Wir müssen uns endlich der
Too-big-to-fail-Problematik lösungsorientiert annehmen.
Die SPD schlägt eine Art Trennbankensystem vor. Das
überzeugt uns nicht ganz. Vielleicht müssen wir an dieser Stelle auch über mehr Eigenkapital nachdenken. Ich
glaube, wir sind uns aber darin einig, dass wir es nicht
akzeptieren können, dass es auf den Finanzmärkten
Marktteilnehmer gibt, die so groß sind, dass sie bei einer
Insolvenz den ganzen Markt zerstören. Das dem nicht so
ist, ist nicht von uns, dem Gesetzgeber, nachzuweisen,
sondern die jeweilige Bank steht in der Pflicht, das nachzuweisen. Das könnte sich die ein oder andere sehr
große deutsche Bank einfach einmal hinter die Ohren
schreiben.
({3})
Meine Damen und Herren, um dem Wunsch des Präsidenten nach kürzerer Redezeit gerecht zu werden,
kürze ich meine Rede ab: EMIR wird jetzt in das parlamentarische Verfahren hineingehen. Wir werden noch
im November eine Anhörung zu diesem Thema haben.
Die zweite und dritte Lesung dieses Gesetzes wird noch
im Dezember dieses Jahres stattfinden. Dann werden wir
am Ende des Jahres sagen können, dass wir die Finanzmärkte wieder einmal ein wenig sicherer und besser gemacht haben. Ich glaube, das ist die Mühe wert.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus. Sie haben in
der Tat Ihre Redezeit abgekürzt, aber dafür haben Sie
schneller gesprochen.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist Kollege
Dr. Carsten Sieling für die Sozialdemokraten.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Vorredner hat zu Beginn seiner Rede schon deutlich gemacht, welche Dimension die Derivate haben. Er
hat die Zahl von 600 Billionen Dollar, mehr als das
Zehnfache des Weltbruttoinlandsprodukts, genannt. Das
sind in der Tat gewaltige und bedeutende Zahlen. Diese
Zahlen zeigen, dass das Kernproblem noch nicht gelöst
ist. Das ist nämlich die Entkoppelung der spekulativen
Aktivitäten von der Realwirtschaft, also den erwirtschafteten Produkten und Dienstleistungen. Darin sind wir
uns einig. Ich höre dieses Argument aus den Reihen der
Koalition, vor allem aus den Reihen der CDU/CSU, in
neuer Schärfe. Seit einigen Wochen erleben wir ja hier
finanzmarktkritische Beiträge der gleichen Art, wie es
heute der Fall ist. Von daher gehört das vielleicht zu der
neuen Melodie ein Jahr vor der Bundestagswahl.
({0})
Herr Kollege, Sie dürfen aber bei Ihren Argumenten
einen weiteren Punkt nicht vergessen. Nachdem dieses
Missverhältnis zum Ausbruch der Finanzkrise vor fünf
Jahren geführt hat, hat der G-20-Gipfel von Pittsburgh
im Jahr 2009, vor drei Jahren, dieses Problem thematisiert. Sie stellen sich hier hin und gestehen für die Regierung quasi ein, dass Sie seitdem nichts gemacht haben.
({1})
Das ist doch das Wesentliche: dass Sie eben nichts gemacht haben. Sie können jetzt nicht mit Klagen über die
schlechten Verhältnisse kommen, wenn Sie als Bundesregierung gleichzeitig drei Jahre Stillstand zu verantworten haben. So geht es nicht.
({2})
Das ist das eigentliche Problem bei dieser Vorlage.
({3})
Jetzt werden Sie sagen: Das musste doch auf der europäischen Ebene gemacht werden.
({4})
- Sogar international, wunderbar. Die klugen Kollegen
von der FDP weisen darauf hin, dass das Ganze sogar international gemacht werden müsste.
({5})
Dazu will ich Ihnen an dieser Stelle deutlich sagen: Viele
von Ihnen hier im Plenum waren, wie ich selber auch,
vor wenigen Wochen bei der IWF-Jahrestagung und der
Weltbanktagung in Japan. Von der dortigen Finanzaufsicht ist uns erklärt worden, dass Japan die Regulierung
der Derivate schon umgesetzt hat und das Ganze zum
Ende des Jahres ins Werk gesetzt wird. Da stellt sich die
Frage, warum das die deutsche Bundesregierung nicht
konnte.
({6})
Jetzt wird wieder das Argument kommen: Das lag ja
an der EU, und wir mussten das im EU-Rahmen machen.
Dazu sage ich nur: Es gibt in diesem Zusammenhang
auch noch andere Themen. Ich nenne nur die Leerverkäufe, bei denen Sie sich hier immer hinstellen und sehr
stolz sagen: Das haben wir vorauseilend gemacht. Die
Frage steht also im Raum: Warum machen Sie das in
diesem gefährlichen Bereich nicht auch? Warum haben
Sie das Problem liegen gelassen?
({7})
- Ihre Erregung spricht Bände. Sie sind erwischt an dieser Stelle. Das ist keine gute Botschaft für die Stabilität
der Finanzmärkte.
({8})
Wenn Sie hier behaupten, dass man mit dieser Verordnung Versprechen - Sie haben es mit diesem großen
Wort bezeichnet - erfüllt, dann darf ich doch darauf hinweisen, dass es sich hier um ein Ausführungsgesetz handelt. Bei den vor uns liegenden Beratungen, insbesondere im Rahmen der Anhörungen, wird man sich deshalb
noch vielen Einzelfragen zuwenden müssen. In diesem
Ausführungsgesetz soll nun erst die Grundlage dafür geschaffen werden, dass geregelt werden kann, wie überhaupt die Erfassung dieser over the counter, also über
der Ladentheke - ich sage immer: eigentlich unter der
Ladentheke - stattfindenden Geschäfte auf vernünftigen
Börsenplattformen erfolgen soll. Das ist aber noch lange
keine Regelung.
({9})
- Kollege Schindler, Japan gehört nicht zur EU. Gut,
dass Sie diese Erkenntnis dem Hohen Hause mitteilen.
Japan gehört aber zur G 20; und die G 20 hat entsprechende Verabredungen im Jahr 2009 getroffen. Die einen
haben sich daran gehalten, die anderen eben nicht. Das
ist die Kritik, und sie bleibt richtigerweise bestehen.
Ich verweise an dieser Stelle nur darauf, dass wir
überhaupt noch keine Antwort haben - ich kenne auch
noch keine Position der Bundesregierung dazu -, welche
Derivate eigentlich reguliert werden sollen und welche
im nicht standardisierten Bereich verbleiben werden.
Die wesentliche Musik wird noch kommen, nämlich die
Entscheidung darüber, was letztlich auf die Plattformen
gezogen werden soll und wie diese Plattformen am Ende
organisiert werden. Der Inhalt fehlt ganz einfach. Wir
sprechen über ein Ausführungsgesetz, ein Formalgesetz,
in dem eigentlich relativ wenig Musik - das wissen Sie
auch, auch wenn Sie versucht haben, das hier anders darzustellen - drinsteckt.
({10})
Deshalb ist es notwendig, dass wir jetzt über die inhaltlichen Ziele reden.
({11})
Dazu hätte ich gerne ein bisschen mehr gehört, aber wir
stehen ja noch am Anfang der Beratungen. Es wird allerdings deutlich, dass die schöne Rede darüber, was alles
an Finanzmarktregulierungen geleistet worden sei, leider
nicht mehr ist als eine schöne Rede.
({12})
Auch an dieser wichtigen Stelle zeigt sich, dass Sie
ziemlich hinter dem herhinken, was in Pittsburgh vereinbart wurde. Pittsburgh war übrigens der letzte G-20-Gipfel - da können Sie reden, wie Sie wollen -, an dem Peer
Steinbrück als zuständiger Finanzminister teilgenommen
hat.
({13})
Dort hat man diese Vereinbarungen bereits getroffen,
und erst jetzt kommen Sie mit Fakten. Das ist ziemlich
müde.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Vielen Dank, Kollege Dr. Carsten Sieling. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Björn
Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Geschätzter Kollege Sieling! Die Regulierung der
Ratingagenturen, die Regulierung der Kreditverbriefun24824
gen, das Leerverkaufsverbot, das wir übrigens auf nationaler Ebene umgesetzt haben, die Regulierung von Vergütungen und Boni, das Bankenrestrukturierungsgesetz,
das wir im Übrigen national umgesetzt haben und das
auf EU-Ebene zum Vorbild wurde, die Bankenabgabe,
OGAW, die Finanzvermittlerrichtlinie - ich könnte noch
Zigtausende Dinge aufzählen, die diese Bundesregierung umgesetzt hat.
({0})
- Okay, Tausende nicht ganz; „Dutzende“ würde es sicherlich am ehesten treffen.
({1})
Ich könnte also Dutzende Dinge aufzählen, die wir hier
in diesem Hohen Haus beschlossen und mit denen wir
Lehren aus der Finanzkrise gezogen haben. Bei den entsprechenden Abstimmungen haben Sie sich im Übrigen
entweder enthalten oder haben dagegen gestimmt.
({2})
Nahezu alle Probleme der Finanzkrise sind von dieser
Bundesregierung angepackt worden.
Heute haben wir die Regulierung der Derivate im
Zuge der Umsetzung der EMIR-Richtlinie auf der Tagesordnung. Ein Derivat ist im Grunde genommen ein
klassisches Unimogprodukt; es ist nicht genau zuzuordnen. Wenn der Winter kommt, kennen wir alle den Unimog als ein schönes orangefarbenes kommunales Fahrzeug mit einem Räumschild vorne und finden ihn gut.
Den gleichen Unimog gibt es aber auch in Olivgrün mit
komischen Gerätschaften hinten darauf. Wenn er durch
Krisengebiete fährt, finden wir ihn möglicherweise nicht
so gut. Genau so verhält es sich mit einem Derivat: Es ist
in der Realwirtschaft tagtäglich zigtausendfach im Einsatz und leistet gute Dienste. Es ist für unsere Unternehmen im internationalen Handel ein Instrument der Risikosteuerung.
Der Derivatemarkt hat jedoch zwei Seiten. Auf der einen Seite, im Bereich der Realwirtschaft, haben wir die
„guten“ Unternehmen, die den Markt nutzen, um Risiken zu steuern. Auf der anderen Seite haben wir einen
Investor, der in ein bestimmtes Risiko investiert. Den
nennt man dann Spekulant. Sein Handeln auf dem Derivatemarkt ist aber notwendig, damit Arbeitsplätze erhalten werden.
({3})
Bei dem Ganzen ist aber problematisch, dass man
nicht genau weiß, wer wo welche Risiken trägt und wie
viele es überhaupt sind. Das heißt, es besteht eine gewisse Intransparenz, eine Unsicherheit. Da setzt die
EMIR-Richtlinie mit drei Maßnahmen an:
Die erste Maßnahme ist die Bündelung der OTC-Geschäfte, der sogenannten Over-the-Counter-Geschäfte,
die nicht an regulären Börsenplätzen abgehalten werden,
bei den CCPs, den zentralen Gegenparteien, soweit dies
möglich ist; denn diese Geschäfte - das liegt in der Natur der Sache - sind sehr individuell, je nachdem, welches Bedürfnis bei den Unternehmen vorherrscht.
Die zweite Maßnahme ist eine Transparenzoffensive
- das ist ganz wichtig -, die eine Eintragung in ein zentrales Transaktionsregister vorsieht, damit man weiß,
wer gerade was macht. Das dient dazu, das Misstrauen
zu mindern.
Die dritte Maßnahme dient der Absicherung des Ausfallrisikos durch eine weitere Hinterlegung von Sicherheiten.
Das alles sind grundsätzlich richtige Maßnahmen, die
natürlich nicht ganz unproblematisch sind. Wenn wir
beispielsweise alles auf zentrale Gegenparteien verlagern, dann stellen diese aufgrund der Kumulation der Risiken wiederum ein Risiko dar. Man muss dann aus meiner Sicht durchaus darüber nachdenken, ob das wirklich
systemstabilisierend ist.
Man muss auch den Aufwand der Realwirtschaft im
Auge haben. Es nützt nichts, wenn die Erhöhung der
Kosten der Risikosteuerung dazu führt, dass die Realwirtschaft in andere Märkte abwandert, die vielleicht
nicht mit der Sorgfalt regulieren, wie wir das hier in
Deutschland tun.
Insgesamt müssen wir auch beachten, dass es hier bestimmte Regelungen gibt - Stichwort „Nachteilsausgleich bei Insolvenzen“; jetzt wird es schon sehr technisch -, die möglicherweise auch nicht geeignet sind, um
insgesamt die Stabilität herzustellen, die wir brauchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind
aber erst am Anfang der Beratungen. Wir werden eine
Anhörung durchführen und einen Erkenntnisgewinn haben. Am Ende wird es, wie bei allen vorhin genannten
Vorhaben bzw. schon umgesetzten Maßnahmen im Bereich der Finanzmarktregulierung, auch hier wieder eine
sehr sorgfältig erarbeitete gute Lösung geben, wie wir
das von dieser Bundesregierung, die im Bereich der Finanzmarktregulierung nun wirklich führend ist, gewohnt
sind. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. - Die Kollegen
Dr. Axel Troost für die Linke und Dr. Gerhard Schick
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geben ihre
Reden zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11289 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 4
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für einen wirksamen Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in der Europäischen Union und in Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Dr. Frithjof Schmidt, Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen
- Drucksachen 17/10786, 17/10638, 17/11131 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({2})
Ulla Jelpke
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Redner lie-
gen dem Präsidium vor, sodass wir gleich zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Innenausschus-
ses auf Drucksache 17/11131 kommen.1)
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10786. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind Bündnis
90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10638. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes
({3})
- Drucksachen 17/10745, 17/10798 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksachen 17/11335, 17/11416 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Richard Pitterle
Dr. Gerhard Schick
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Die
Liste der Redner liegt hier vor. - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden, Widerspruch erhebt sich nicht. So kom-
men wir zur Abstimmung.2)
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/11335 und 17/11416,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10745 und 17/10798 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Das
sind die drei Oppositionsfraktionen. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Niemand. Enthaltungen? - Das sind wieder die drei Oppositionsfraktionen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes
- Drucksachen 17/10744, 17/10797 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5})
- Drucksache 17/11387 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lisa Paus
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11400 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({7})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({8})
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
1) Anlage 5 2) Anlage 6
Vizepräsident Eduard Oswald
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sie
sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich
nicht. Die Namen der Redner liegen auch hier vor,1) so-
dass wir gleich zur Abstimmung kommen können.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11387, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10744
und 17/10797 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? -
Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshal-
ber: Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? -
Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshal-
ber: Enthaltungen? - Es ist niemand aufgestanden. Infol-
gedessen ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/11402. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Das sind die Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Vor-
sichtshalber: Enthaltungen? - Keine. Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/11403. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? - Das sind die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Gegen-
probe? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die So-
zialdemokraten. Enthaltungen? - Niemand. Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
Zapf, Fritz Rudolf Körper, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Keine Modernisierung der US-Nuklearwaffen
in Europa und Deutschland - Abrüstungschancen nicht ungenutzt verstreichen lassen
- Drucksache 17/11323 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Verteidigungsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abzug statt Modernisierung der US-Atomwaffen in Deutschland
- Drucksache 17/11225 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist dies so beschlossen. Die
Redner sind auch schon bereit. Erste Rednerin für die
Fraktion der Sozialdemokraten: unsere Kollegin Uta
Zapf. Bitte schön, Frau Kollegin Zapf.
({11})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obama hat die
Präsidentschaftswahlen gewonnen. Alle, die auf weitere
Abrüstung hoffen, haben natürlich erleichtert aufgeatmet.
Herr Minister Westerwelle hat gesagt, es gebe neue Im-
pulse in der Abrüstung und es müsse ein „energischer
weiterer Schritt“ gemacht werden. Das ist sehr schön.
Seine Forderung wird auch von Herrn Leibrecht, dem
Koordinator für die transatlantischen Beziehungen, auf-
gegriffen. Er sieht eine Chance dafür, dass Obama in sei-
ner zweiten Amtszeit im Bereich der Abrüstung mutige
Schritte gehen könnte. Beide werfen die Frage auf - und
das ist wichtig -, was mit den in Europa stationierten
Atomwaffen geschehen soll.
Wenn man mich fragt, ist die Antwort ziemlich leicht:
Sie sollen weg - wenigstens die, die in Büchel stationiert
sind. Unserer Regierung sage ich: Machen Sie einen mu-
tigen Schritt! Dieses Hohe Haus hat bereits 2010 partei-
übergreifend beschlossen - ich zitiere, wenn auch nicht
ganz wörtlich -, dass im Zuge der Ausarbeitung eines
neuen strategischen Konzeptes der NATO sich die Bun-
desregierung im Bündnis sowie gegenüber den amerika-
nischen Verbündeten dafür einsetzen solle, dass die in
Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen wer-
den.
Nichts dergleichen ist geschehen. Das neue Strategi-
sche Konzept bestätigt den alten Mix aus konventionel-
len und Nuklearwaffen als die richtige und nötige Struk-
tur für die NATO. Damit nicht genug: Es wird darüber
hinaus festgeschrieben, dass die Verbündeten, bei denen
Nuklearwaffen stationiert sind, also auch wir Deutschen,
sich verpflichten, alle Komponenten der NATO-Ab-
schreckung - dazu gehören auch die B61-Bomben und
die Carrier, also die Tornado-Flugzeuge - sicher und
funktionsfähig zu halten, solange die NATO eine Nukle-
arallianz ist.
Das bedeutet, dass Deutschland zur Modernisierung
der B61 beitragen muss, indem es die Tornados moder-
nisiert. Es wird Zeit, dass die Regierung aufhört, sich zu
winden und auf Allianzzwänge zu berufen, wenn ein
Abzug der strategischen Waffen auf der Tagesordnung
steht, und gleichzeitig in der Öffentlichkeit hohe Ziele
zu propagieren, die nicht einzuhalten sind. Ich glaube,
wir müssen jetzt unbedingt handeln. Die Regierung
muss ihre Stimme erheben, wenn in den USA über die
Modernisierung der B61 verhandelt wird. Das sind die 1) Anlage 7
Bomben, die in Büchel lagern. Die Regierung muss Protest erheben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese geplante Modernisierung würde eine höchst kostspielige
Modernisierung des Trägersystems Tornado erfordern.
Es wäre nicht, wie immer beschönigend gesagt wird, nur
eine Lebensdauerverlängerung.
Das Thema B61 gehört auf den Tisch der NATO.
Nicht nur Deutschland ist betroffen, sondern auch die
Niederlande, Belgien, Italien und die Türkei. Wollen und
müssen alle diese NATO-Partner viel Geld in die Modernisierung der Trägersysteme stecken? Die USA haben
angekündigt, dass die NATO-Partner konsultiert werden.
Das bietet die Chance, sich dagegen zu verwehren. Diese
Regierung muss dann bitte deutlich und klar erklären,
dass sie gegen eine Stationierung der modernisierten
B61 in Deutschland ist.
Bei dieser Modernisierung geht es nicht nur darum,
die Bomben sicherer zu machen, wie uns erzählt wird.
Auch die strategischen Qualitäten werden verändert.
Reichweite, Präzision, Zielgenauigkeit und Durchschlagskraft werden modernisiert. Eine neue Qualität und neue
Fähigkeiten werden damit erreicht. Das ist eine neue
Bombe und damit eine strategische Nuklearwaffe und
keine substrategische mehr. Das widerspricht der Absicht, die Bedeutung von Nuklearwaffen zu verringern
und Abrüstung zu fördern. Nicht nur im Koalitionsvertrag steht, dass man Abrüstung fördern will, sondern
auch die USA haben diese Absicht erklärt - Obama ist
vor seiner ersten Wahl mit diesem Thema viel in der
Welt unterwegs gewesen -, und alle Unterzeichner des
Nichtverbreitungsvertrages - das sind insgesamt immerhin 190 Staaten - haben 2010 im Rahmen des Aktionsplanes des Nichtverbreitungsvertrages beschlossen, in
ihren Strategien und Doktrinen die Rolle der Nuklearwaffen zu verringern und alles zu tun, um Abrüstung zu
fördern.
Eine solche neue Waffe wie die modernisierte B61
gibt Russland allerdings keinen Anreiz, über taktische
Nuklearwaffen und deren Abrüstung zu verhandeln. Wie
soll ein Angebot von mehr Transparenz angesichts
von Modernisierungsplänen Vertrauen bilden? Vielmehr
steht zu befürchten, dass Russland seine eigenen Nuklearwaffen modernisiert, wie angekündigt bzw. angedroht. Wenn sich die NATO bei ihrer Argumentation, die
US-Waffen in Europa zu behalten, auf die weit höhere
Anzahl taktischer Nuklearwaffen der Russischen Föderation beruft, vergisst sie, dass Russland die hohe konventionelle Überlegenheit der NATO durch Nuklearwaffen kompensieren will. Wenn wir Fortschritte bei der
nuklearen Abrüstung wollen, wenn wir eine Welt ohne
Atomwaffen anstreben, müssen wir dringend zu neuer
konventioneller Abrüstung kommen.
Im Konzept des Prompt Global Strike werden auf fatale Weise konventionelle und nukleare Komponenten
vermischt, um mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln schnell überall in der Welt zuschlagen zu können.
Missile Defense, Raketenabwehr, soll möglichst für Unverletzlichkeit sorgen. Beides zusammen ist eine Strategie, die Konfrontation signalisiert und den Willen zur
Überlegenheit zeigt.
Was wir aber brauchen, ist gemeinsame Sicherheit in
Europa, aber nicht nur in Europa. Ohne sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Russland werden wir nicht zu
neuen Abrüstungsschritten kommen. Der NATO-Russland-Rat, aber auch alle anderen politischen Ebenen wie
EU und OSZE müssen genutzt werden, um die konventionelle Rüstungskontrolle, die durch den Absturz des
KSE-Vertrages zum Erliegen gekommen ist, wiederzubeleben. Wir brauchen wieder Verifikation und Vertrauensbildung, wir brauchen den Aufbau einer europäischen
Sicherheitsgemeinschaft, wie sie im Rahmen der OSZE
diskutiert wird, aber wir brauchen weiß Gott keine modernisierten Nuklearwaffen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Zapf. - Der angekündigte
nächste Redner, Dr. Wadephul, hat seine Rede zu Proto-
koll1) gegeben, sodass ich nun unsere Kollegin Frau Inge
Höger für die Fraktion Die Linke bitte, ans Pult zu kommen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland ist
gegen Atombomben. Über 80 Prozent sagen dies in Umfragen. Selbst im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb
wurde ein Abzug der Atomwaffen in Aussicht gestellt.
Angesichts des verheerenden Zerstörungspotenzials von
Atombomben war dies erfreulich. Leider hat sich diese
Passage des Koalitionsvertrages inzwischen als Luftnummer entpuppt.
Die Bundesregierung scheint die Abrüstung im eigenen Land nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil: Sie hat
dazu beigetragen, dass Atombomben auf absehbare Zeit
in Deutschland stationiert bleiben. Diese Regierung hat
wiederholt zugestimmt, dass Atomwaffen ein zentraler
Teil der Kriegs- und Abschreckungsstrategie der NATO
bleiben, zuletzt beim NATO-Gipfel in Chicago. Atomare
Abrüstung geht anders.
Die Bundesregierung - Frau Zapf hat schon darauf
hingewiesen - unterstützt die Modernisierung der USAtomwaffen in Deutschland. Bei genauerer Betrachtung
handelt es sich um mehr als um eine oberflächliche Modernisierung. Es geht um die Stationierung weitgehend
neuer atomarer Waffensysteme.
({0})
Zur Mitwirkung an genau dieser Neustationierung hat
sich die Regierung am Rande des NATO-Gipfels im
Frühjahr verpflichtet.
1) Anlage 8
Zu diesem Aufrüstungsprojekt gehört auch die Modernisierung der Tornados, von denen aus deutsche Piloten die US-Atomwaffen abwerfen können. Allein die Umrüstung und Lebenszeitverlängerung der Tornados wird
die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler etwa 250 Millionen Euro kosten. Das gesamte atomare Modernisierungsprojekt kostet circa 10 Milliarden Euro. An diesen
Kosten wird sich Deutschland voraussichtlich beteiligen.
Hier wird wieder einmal Politik gegen den Willen und
auf Kosten der Bevölkerung gemacht.
Die geplante neue Generation von Atomwaffen eröffnet völlig neue Einsatzoptionen. Die bisher frei fallenden Bomben sollen zu lenkfähigen, angeblich intelligenten Waffen werden. Diese können dann effektiver und
zielgerichteter als bisher eingesetzt werden. Wahrscheinlich werden dadurch neue Einsatzmöglichkeiten geschaffen, wie etwa ein Angriff auf befestigte unterirdische
Ziele. Durch die Neuerungen wird die Hemmschwelle
für einen Einsatz der Atomwaffen gesenkt und ein
Atomkrieg wahrscheinlicher.
Die bisherige Politik der atomaren Abschreckung war
schon mehr als fahrlässig. Durch die Umsetzung der
Modernisierungspläne wird ein tatsächlicher Einsatz
noch wahrscheinlicher. Wer so mit dem Feuer spielt,
handelt völlig unverantwortlich.
({1})
Dieser fatalen Entwicklung müssen wir uns entschlossen
entgegenstellen.
Ganz nebenbei wird der Öffentlichkeit vorgegaukelt,
dass die Gefährdung für die Anwohnerinnen und Anwohner der Stationierungsorte durch die neuen, angeblich sicheren Waffen verringert wird. Erst einmal gilt:
Nur Abrüstung macht die Welt sicherer. Aber auch auf
der technischen Ebene stimmen die Beschwichtigungen
nicht. Die größte Gefährdung für die Umgebung eines
Atomwaffenstützpunktes geht von Feuerunfällen aus.
Einen feuerresistenten Kern werden die Atombomben
auch nach der Modernisierung nicht haben.
Die Gefahren, die durch die Stationierung und den
Einsatz von Atombomben ausgehen, können nur durch
weltweite Abrüstung beendet werden. Die Bundesregierung muss gegenüber den USA und innerhalb der NATO
allen Modernisierungsplänen entschlossen entgegentreten. Sie darf dabei nicht vor einem Veto oder der Kündigung des Stationierungsvertrages zurückschrecken. Alle
Atombomben müssen endlich aus Deutschland abgezogen und verschrottet werden.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Höger. - Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Christoph
Schnurr.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP-Fraktion wird die beiden vorliegenden Anträge ablehnen. Anders als von der SPD und von den
Linken dargestellt, sind wir selbstverständlich kein
Stück von unserem Ziel eines Abzuges der in Deutschland gelagerten Atomwaffen abgerückt, und wir setzen
uns auch weiterhin offensiv dafür ein.
({0})
Es ist nicht zuletzt der Bundesregierung und Außenminister Westerwelle zu verdanken, dass sich die NATO
heute zum Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt bekennt,
({1})
dass sie negative Sicherheitsgarantien ausspricht und
dass es jetzt einen Abrüstungsausschuss gibt. Das Bündnis hat sich außerdem dafür ausgesprochen, in einem
ersten Schritt Verhandlungen mit Russland über mehr
Transparenz bei den substrategischen Atomwaffen aufzunehmen. Richtig ist, dass wir uns im neuen Strategischen Konzept der NATO und im Abschreckungs- und
Verteidigungsdispositiv sehr viel deutlichere Formulierungen gewünscht hätten. Richtig ist vor allem, dass wir
unser Ziel noch nicht erreicht haben. Richtig ist aber
auch, dass wir mehr erreicht haben als alle Koalitionen
vor uns.
({2})
Bei Joschka Fischer und Frank-Walter Steinmeier gab es
das Thema „Abzug der Atomwaffen“ gar nicht. Erst
Guido Westerwelle und diese Bundesregierung haben
das Thema auf die internationale Agenda gebracht.
({3})
Liebe Kollegen, wenn wir heute über Ihre Anträge debattieren, müssen wir uns zunächst verständigen, um
was es eigentlich geht. Die Amerikaner sprechen von einem Life Extension Program, also von einem Lebensverlängerungsprogramm für die Atomwaffen des Modells B61. Die Sozialdemokraten nennen es
Modernisierung, genauso die Linke; sie nimmt das aber
mit dem Hinweis, dass es sich gar nicht um eine Modernisierung handelt, gleich wieder zurück und spricht lieber von einer Neustationierung. Hinter diesen Begriffen
stehen natürlich ganz verschiedene Interpretationen. Sie
betonen vor allem, dass neue Fähigkeiten geschaffen
werden.
({4})
- Sie sagen, es werden neue Fähigkeiten geschaffen.
Dem will ich grundsätzlich gar nicht widersprechen.
({5})
Das ändert aber nichts daran, dass es auch für eine in ihren Fähigkeiten veränderte Bombe und die europäischen
Trägersysteme nach wie vor keine Einsatzszenarien gibt;
ich jedenfalls sehe keine Panzerarmeen auf uns zurollen.
Deshalb ist es falsch, wenn die Linke behauptet Frau Höger, Sie haben das gerade noch einmal so dargestellt -, der Einsatz von Atomwaffen würde wahrscheinlicher. Es bleibt dabei: Die Atomwaffen, über die einige
unserer Partner verfügen, sind Waffen mit einem ausschließlich politischen Symbolwert.
({6})
Auch an anderer Stelle verheddern Sie sich in Widersprüchen: Einerseits fordern Sie, die Bundesregierung
solle im NATO-Rat gegen das amerikanische Programm
stimmen, andererseits behaupten Sie, die Bundesregierung hätte sich mit den Plänen der USA schon ausdrücklich einverstanden erklärt und sich gleich auch noch verpflichtet, den Tornado umzurüsten. Dabei vergessen Sie
aber, dass der Haushalt immer noch vom Parlament beschlossen wird. Angeblich wissen Sie auch darüber Bescheid, wie viel eine Umrüstung kosten würde.
Keine Frage - um das hier noch einmal ganz deutlich
zu sagen -: Von mir aus könnten die USA jederzeit auf
das Programm verzichten.
({7})
Auch ich befürchte, dass dadurch der Abzug und die Reduzierung der Zahl der Atomwaffen erschwert werden.
Die Entscheidung über eine Verlängerung der Lebensdauer bzw. Modernisierung ist aber eine nationale Entscheidung der Vereinigten Staaten, eine Entscheidung,
bei der das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, und
zwar aus mindestens drei Gründen:
Erstens laufen die Kosten bereits jetzt aus dem Ruder.
Aus ehemals geschätzten Kosten von 4 Milliarden Dollar sind mittlerweile 10 Milliarden Dollar geworden. Angesichts der Haushaltslage in den Vereinigten Staaten ist
das für die Gegner des LEP sicher kein ganz schlechtes
Argument. Wir kennen das ja aus Deutschland: Nicht alles, was entwickelt wird, wird dann auch beschafft.
Zweitens hängt das Programm maßgeblich von der
weiteren Entwicklung der innenpolitischen Situation ab.
({8})
Drittens spielt die politische Großwetterlage eine entscheidende Rolle, insbesondere die Entwicklung der Nuklearstrategie der USA und die Beziehungen zu Russland. Präsident Obama hat bereits vor längerem
angekündigt, nach seiner Wiederwahl mit Russland verhandeln zu wollen und dabei auch die substrategischen
Atomwaffen einzubeziehen. Heute ist noch nicht absehbar, wie diese Verhandlungen ausgehen werden und ob
die USA danach noch ein Interesse an der Modernisierung der in Europa lagernden Waffen haben werden.
Auch wir sollten uns aber immer wieder ins Gedächtnis rufen, was eigentlich unsere sicherheitspolitischen
Interessen sind. Der Abzug der Atomwaffen ist nämlich
kein Selbstzweck. Es geht darum, mehr Sicherheit zu
schaffen - für uns und unsere Partner. Dafür müssen wir
in Staaten außerhalb der NATO Vertrauen aufbauen und
unsere Glaubwürdigkeit im Hinblick auf weltweite Abrüstung stärken.
Wir brauchen aber auch ein stabiles transatlantisches
Bündnis. Wir müssen die Sorgen der anderen ernst nehmen und die Lasten innerhalb der Gemeinschaft fair teilen.
Darum geht es, und darum halten wir an unserem Ziel
fest, gemeinsam mit unseren Partnern den Abzug der
Atomwaffen aus Deutschland und Europa zu beschließen.
Vielen Dank.
({9})
Wir haben zu danken. - Nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin
Frau Agnes Brugger. Bitte schön, Frau Kollegin Agnes
Brugger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor drei
Jahren hat Schwarz-Gelb sich im Koalitionsvertrag das
Ziel gesetzt, den Abzug der in Deutschland stationierten
US-Atomwaffen in Angriff zu nehmen. Der Deutsche
Bundestag unterstützte dieses Ziel mit großer Mehrheit:
Er sprach sich in einem interfraktionellen Antrag klar für
ein atomwaffenfreies Deutschland aus.
Auch international waren bei der nuklearen Abrüstung Fortschritte zu beobachten. Die Vision einer atomwaffenfreien Welt war in aller Munde. Eigentlich also
beste Voraussetzungen dafür, die Gunst der Stunde zu
nutzen und die in Deutschland verbliebenen Relikte aus
dem Kalten Krieg endlich loszuwerden.
Doch Schwarz-Gelb wäre nicht Schwarz-Gelb, wenn
sie es nicht schaffen würden, durch Zwist, Zank und
Zoff historische Chancen für eine zukunftsorientierte
Politik verstreichen zu lassen. Wenn Außenminister und
Verteidigungsminister in einer so wichtigen außenpolitischen Frage gegeneinander arbeiten und die Regierungskoalition so gespalten ist und am liebsten alles auf die
lange Merkel-Bank schiebt: Wie soll es da eigentlich gelingen, andere Staaten in der NATO davon zu überzeugen, dass die Zeit reif ist für eine neue Strategie, die auf
Atomwaffen in Deutschland verzichtet?
({0})
Gestern, gleich nach dem Sieg Obamas bei den Präsidentschaftswahlen, bekräftigte Außenminister Westerwelle
die Forderung nach neuen Impulsen bei der Abrüstung.
Ich begrüße es wirklich ausdrücklich, dass der Außenminister dieses Thema auf der Agenda hält. Doch daran,
ob er sich damit durchsetzen kann, habe ich noch meine
Zweifel.
({1})
Da Minister de Maizière in den Verteidigungspolitischen Richtlinien dieser schwarz-gelben Bundesregierung die Bedeutung der nuklearen Abschreckung noch
einmal unterstreicht, frage ich mich schon, wie glaubwürdig Außenminister Westerwelle
({2})
eigentlich weltweit für eine atomwaffenfreie Welt und
nukleare Abrüstung werben kann.
({3})
Die Antwort bekamen wir auf dem letzten NATOGipfel im Mai dieses Jahres präsentiert: Die NATO will,
solange es Atomwaffen gibt, eine nukleare Allianz bleiben. Ein Abzug der US-Atomwaffen ist nicht mehr in
Sicht. Im Gegenteil: Die USA wollen die in Deutschland
stationierten Waffen mit Milliarden modernisieren, damit sie bis 2050 einsetzbar sind. Modernisierung und damit Verbleib statt Abzug: Das ist die faule Frucht, die
diese Bundesregierung mit ihrer zwiespältigen Abrüstungspolitik geerntet hat.
({4})
Deutschlands Beteiligung - das muss man sich,
glaube ich, auch immer klarmachen - geht weit über die
bloße Duldung der Stationierung dieser menschenverachtenden Waffen auf deutschem Boden hinaus. Die
Bundeswehr selbst stellt Tornados und Soldatinnen und
Soldaten für einen möglichen Atomwaffeneinsatz zur
Verfügung.
Man muss sich auch klarmachen: Modernisierung der
Atombomben bedeutet zugleich auch Modernisierung
der Trägermittel. In Zeiten knapper Kassen bürdet
Schwarz-Gelb den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern
damit Millionensummen für eine ebenso gefährliche wie
überholte Militärdoktrin auf. Stellvertretend für unsere
grüne Fraktion kann ich Ihnen schon jetzt sagen: Diesen
sicherheitspolitischen Irrsinn machen wir definitiv nicht
mit.
({5})
Wir sparen uns lieber die nukleare Teilhabe, als für das
abrüstungspolitische Fiasko von Schwarz-Gelb Millionen von Euro in die Hand zu nehmen.
Aus den Reihen der CDU ist immer wieder zu hören,
die nukleare Teilhabe sichere uns den Einfluss in der
NATO, den wir für eine starke Abrüstungspolitik
bräuchten. Wie groß ihr abrüstungspolitischer Einfluss
in der NATO ist, hat die Bundesregierung auf dem letzten NATO-Gipfel in Chicago gezeigt. Dessen Abschlusserklärung ist eine abrüstungspolitische Bankrotterklärung.
Ich frage mich schon auch, welchen Einfluss die Bundesregierung den Atomwaffen in Deutschland angeblich
zu verdanken hat und geltend machen will, wenn sie
nicht einmal über die konkreten Modernisierungspläne
bezüglich der Waffen, die im eigenen Land liegen, informiert wird.
({6})
Den Beleg für diese Ahnungslosigkeit habe ich auch
schwarz auf weiß als Antwort auf meine schriftliche
Frage zu diesen Plänen. Der Kenntnisstand der Bundesregierung über die konkreten Modernisierungspläne liegt
offensichtlich sogar hinter dem zurück - so legt es die
Antwort nahe -, was man aus der Lektüre von US-Publikationen erfahren kann und von offizieller Seite schon
bestätigt wurde. Das finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich
peinlich.
({7})
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, ich wollte meine Rede eigentlich mit den Worten
beenden: Ersparen Sie uns das Gerede von Ihrem vermeintlichen Einfluss, den Sie mit der nuklearen Teilhabe
sichern wollen! - Da die Reden der CDU/CSU aber zu
Protokoll gegeben sind, schließe ich meine Rede mit: Ersparen Sie uns die Fortsetzung der nuklearen Teilhabe!
Denn ich bin fest davon überzeugt: Nur damit wäre dem
abrüstungspolitischen Einfluss Deutschlands ein großer
Dienst erwiesen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Der nächste Redner, Kollege
Dr. Wolfgang Götzer von der Fraktion der CDU/CSU,
kann nicht darauf reagieren, weil er seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben hat1), sodass wir am Ende der Aussprache sind.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11323 und 17/11225 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden; Widerspruch erhebt sich
nicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich komme zurück auf den Tagesordnungspunkt 14,
zu dem ich noch etwas bekannt geben möchte. Es gab
dazu eine Abstimmung über das Thema „Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz“. Noch einmal zu dem
Votum der SPD: Es lautet Ja zur Beschlussempfehlung. Das ist nun auch festgehalten.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll
1) Anlage 8
Vizepräsident Eduard Oswald
vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen
über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren
- Drucksache 17/10916 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({1})
- Drucksache 17/11392 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Marlene Rupprecht ({2})
Miriam Gruß
Diana Golze
Ekin Deligöz
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben1). -
Sie sind damit einverstanden, sodass wir jetzt zur Ab-
stimmung kommen.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11392, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 17/10916 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, sich zu erheben. - Das sind alle Fraktionen. Vorsichts-
halber noch die Gegenprobe. Wer stimmt dagegen? -
Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetz-
entwurf ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Konsequenzen aus der Havarie der MSC
Flaminia ziehen - EU-Notfallpläne und Gefahrgutkontrollen im Seeverkehr überprüfen
- Drucksache 17/10819 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Europäisches Notfall- und Havariemanagement wirksam und verbindlich weiterentwickeln
- Drucksache 17/11324 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. - Widerspruch erhebt
sich nicht.
Der Unfall der „MSC Flaminia“ hatte bereits in den
Beratungen der Arbeitsgruppen und Ausschüsse einen
vordringlichen Stellenwert, und über ihn wurde dement-
sprechend auch viel diskutiert. Glücklicherweise ereilen
uns Unfälle wie dieser nicht regelmäßig. Sie müssen
aber vor allem aus diesem Grund vernünftig erörtert
und ausgewertet werden.
Während in diesem Zusammenhang das Notfallma-
nagement von einigen kritisiert und angezweifelt wurde,
komme ich persönlich zu dem Schluss, dass Deutschland
sein Können in dieser Krisensituation unter Beweis ge-
stellt hat. Ich bin froh und erleichtert, dass dieser Unfall
keinen schlimmeren Ausgang nahm, und kann den Ver-
antwortlichen und Beteiligten in diesem Sinne nur ein
großes Lob aussprechen.
Gleichzeitig zeigen konkrete Unfälle und Gefahren-
situationen auf, ob alles wie zuvor geplant eingehalten
und realisiert werden kann und ob im Falle des Falles
tatsächlich alles so abläuft, wie man es sich einst
dachte. Sicher ist eine Seenot, eine Havarie, immer ein
individueller Vorgang, der dementsprechend auch unter
Berücksichtigung der speziellen Faktoren und Gegeben-
heiten gesteuert und beurteilt werden muss. Allerdings
gibt es vor allem in unserem Land ausreichend recht-
liche Rahmenbedingungen, die für solche Situationen
konzipiert wurden. So war es im speziellen Fall auch
möglich, dass Deutschland seiner flaggenrechtlichen
Verantwortung, unter Berücksichtigung von maritimen
Umweltbelangen, vollumfänglich nachkommen konnte.
Nichtsdestotrotz spielen vor allem in internationalen
Gewässern zusätzliche Parameter eine Rolle. So spricht
die SPD in ihrem Antrag zu Recht einige wünschens-
werte Änderungsbedarfe hinsichtlich des Managements
der Notliegeplätze und Nothäfen an. Auch ich sehe ein
wochenlanges Umhergetreibe der „MSC Flaminia“ auf
hoher See kritisch. Aber ich möchte keinen deutschen
oder anderen europäischen Hafen zwingen, ein auf See
havariertes Schiff aufzunehmen, bevor überhaupt er-
sichtlich ist, welche Gefahren noch zu erwarten sind,
oder wenn gar von vornherein klar ist, dass der Hafen
mit der Aufnahme überfordert wäre und noch schlimme-
res Unheil drohen könnte. Wir alle wissen, dass das
Schiff trotz Experteneinschätzungen, nach denen es
keine Brandherde mehr geben dürfte, auch im JadeWe-
serPort nochmals Feuerwehreinsätze ausgelöst hatte.
Die Ausweisung eines geeigneten Notliegeplatzes ist
eine national zu entscheidende Frage und obliegt den je-
weiligen Behörden. Da Notliegeplätze, „sheltered areas“,
keine Liegeplätze am Kai sein müssen, sondern ebenso
individuell zu ermittelnde Orte, wie etwa Flussmündun-
gen, Buchten oder anderes sein können, halte ich eine
nationale Einschätzung auch weiterhin für sinnvoll. Ei-1) Anlage 9
nem uneingeschränktem Recht, wie es die SPD-Fraktion
hier fordert, stehe ich deshalb kritisch gegenüber.
Es stellt sich die Frage, wie wir in solchen Notfällen
bestenfalls vorgehen. Im Falle der „MSC Flaminia“
sprechen wir sehr wahrscheinlich eine europäische Antwort an. Schließlich ereignete sich der Unfall nicht etwa
auf dem Rhein, sondern im Nordatlantik. Hier müssen
viele internationale Kräfte zusammenspielen, um eine
reibungsfreie Lösung im Notfall herbeizuführen. Während die Kollegen von der SPD und der Linken offenbar
wieder einmal wissen, was es bestenfalls zu tun gilt,
halte ich es für äußerst sinnvoll, zunächst die Ergebnisse
der noch laufenden Sicherheitsuntersuchung abzuwarten.
Die Tatsache, dass der Schleppverband am 9. September 2012 im JadeWeserPort einlaufen konnte, ohne
große Umweltverschmutzungen oder Schädigungen auf
See verursacht zu haben, ist ein glücklicher Umstand,
den wir vielen positiven Bedingungen zu verdanken haben. Die umweltgerechte Reinigung des Schiffes kann
bisweilen noch ein paar Wochen andauern und wird
nach Abschluss ebenso aufgearbeitet werden müssen
wie der komplette Havarie- und Rettungsvorgang.
Derzeit prüft die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchungen, BSU, in Hamburg auf Grundlage der europäischen Richtline 2009/18/EG den Fall der „MSC Flaminia“ bis ins kleinste Detail. Diese Untersuchungsstelle
ist unabhängig und weisungsfrei. Den noch ausstehenden Ergebnissen sollte daher auch keine Lösung vorangehen. Nach Abschluss der Untersuchungen wird der
Ergebnisbericht einschließlich Sicherheitsempfehlungen
veröffentlicht. Dieses Verfahren soll sicherstellen, dass
der maritime Sektor sich eigenständig mit den zu lösenden Problemen auseinandersetzen kann, um geeignete
Maßnahmen zur Vorbeugung weiterer Unglücksfälle
treffen zu können. Dabei muss natürlich auch geklärt
werden, welche Maßnahmen in der Zeit zwischen dem
Unfall am 14. Juli 2012 und dem Tag des formellen Antrags an Deutschland zur Hilfestellung hätten getroffen
werden können. Ebenso wird gegenwärtig die Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten sowie die Rolle
der Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, EMSA, ins Visier genommen.
Ich warne vor vorzeitigen Anträgen und Empfehlungen. Ich glaube nicht, dass die Genossen von SPD und
Linken mit auf See waren und nun dazu befähigt sind,
eine intensive Vorabeinschätzung inklusive Lösungsansätzen präzisieren zu können. Das sollten wir, bitte
schön, der verantwortlichen Behörde überlassen. Sonst
könnten wir die Gewaltenteilung ja gleich als hinfällig
betrachten. Ich glaube auch nicht, dass Schuldzuweisungen und voreilige Schlüsse hier sachdienlich sind. Bisher haben wir aus gravierenden Schiffsunfällen immer
gelernt und bereits vieles verbessert.
Auch wenn die besagten Sicherheitsempfehlungen
keinen zwingenden Charakter haben, bin ich gern bereit,
mich auf Grundlage konkreter Ergebnisse über weitergehende Maßnahmen oder über die Ausbesserung bestehender Regelungen zu unterhalten. Nichts anderes streben meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion in dieser Sache an. Der Bericht ist also entscheidend für das weitere Prozedere und
sollte die Grundlage für jede weitere Antragslage sein.
Die Anträge der SPD-Bundestagsfraktion und der Bundestagsfraktion Die Linke sind dementsprechend abzulehnen.
Großartige Triumphe und tragische Unfälle liegen
manchmal sehr eng beieinander. Die Einweihung des
JadeWeserPorts in Wilhelmshaven am 21. September
war nicht nur für meinen Wahlkreis, nicht nur für Niedersachsen, sondern für ganz Deutschland ein großer
Tag. Ingenieurleistung und politische Entschlossenheit
haben unserem Land ein einzigartiges Tor zur Welt beschert; Deutschlands einzigen Tiefwasserhafen.
Schon zwölf Tage vor der offiziellen Eröffnung des
JadeWeserPorts war die „MSC Flaminia“ in den Hafen
geschleppt worden. Am 14. Juli 2012 war es während einer Fahrt von Charleston nach Antwerpen auf dem Containerfrachter zu einem Brand im Laderaum 4 gekommen. Bei den anschließenden Versuchen, das Feuer zu
löschen, kam es zu einer weiteren Explosion. Das Unglück ereignete sich zwischen Kanada und Großbritannien - rund 1 000 Seemeilen vom Festland entfernt.
Ich möchte an dieser Stelle des Ersten Offiziers, der
bei diesem schrecklichen Unfall sein Leben verlor, und
des Seemanns, der seit der Katastrophe vermisst wird,
gedenken.
Wegen der an Bord befindlichen Gefahrgutcontainer
erhielt der Schleppzug mit der „MSC Flaminia“ keine
Genehmigung, in Irland, Großbritannien, Frankreich
oder Spanien ein wettergeschütztes küstennahes Gebiet
oder einen Nothafen anzulaufen.
Aber auch bei uns gab es verantwortungslose Äußerungen. Von berufsmäßigen Angstmachern wurde der
havarierte Containerfrachter als „Wrack“ oder gar
„Giftschiff“ bezeichnet. Ein SPD-Politiker fühlte sich
sogar dazu bemüßigt, davor zu warnen, dass das Wattenmeer zu einer „Müllkippe für havarierte Frachter“
verkommt. Diese Kräfte stellen sich nicht der Verantwortung, sondern versuchen, in einem schmutzigen, verabscheuungswürdigen Spiel mit den Sorgen der Bevölkerung politisches Kapital aus diesem tragischen Unfall
zu schlagen. Das ist nicht mehr zu unterbieten!
Diesen Kräften fehlt jedes Gefühl für Verantwortung.
Sie ignorieren nicht nur, dass das Schiff unter deutscher
Flagge fährt und Deutschland daher auch Verantwortung übernehmen muss. Nein, man gaukelt den Menschen auch vor, das schwer beschädigte Schiff sei auf
See besser aufgehoben. Dabei steigt das Risiko einer
Umweltkatastrophe mit jedem Tag auf See.
Profis haben die „MSC Flaminia“ dann doch sicher
in den JadeWeserPort geschleppt. Das Havariekommando in Cuxhaven und die anderen beteiligten Behörden haben bislang eine hervorragende Arbeit geleistet.
Das Schiff ist in Wilhelmshaven in besten Händen. Mittlerweile wurden alle Container, in denen Glutnester
schwelten, von Bord gebracht. Das Havariekommando
Zu Protokoll gegebene Reden
wird daher schon in dieser Woche die Einsatzleitung abgeben. Mein Dank geht nach Cuxhaven für die großartige Koordination der Bergung des Havaristen!
Heute liegen uns zwei Anträge der Opposition vor, die
Konsequenzen aus der Havarie der „Flaminia“ anmahnen. Die Forderung nach einer Überarbeitung der EUNothafenpläne kann ich nur unterstützen. In der Tat ist
es nicht hinnehmbar, dass ein Schiff auf hoher See verbleiben muss, weil kein nahegelegener Küstenstaat Verantwortung übernehmen möchte. Europa basiert auf Solidarität. Das muss auch für havarierte Schiffe gelten.
Unser Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer
ist längst tätig geworden. Auf europäischer Ebene hat
Deutschland bereits eine Diskussion über das Nothafenkonzept angestoßen. Die Koalition kann und wird es
nicht hinnehmen, dass sich Staaten mit geeigneten Nothäfen aus der Verantwortung stehlen können.
Sobald die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung
den Unfallhergang vollständig ausgewertet hat, muss
das Thema auch auf der Ebene der Internationalen Maritimen Organisation angesprochen werden. Beschädigte Schiffe müssen schnell geborgen werden - egal vor
wessen Küste sie sich befinden!
Es ist gut, zu wissen, dass die Opposition uns dabei
unterstützt - auch wenn sie mit diesem Anliegen offene
Türen einrennt. Etwas anders sieht es bei einer anderen
Forderung der beiden Anträge aus. Die deutliche Ausweitung von Meldepflichten für Gefahrgüter sehe ich
skeptisch.
Schon heute gelten strenge Sicherheitsbestimmungen.
Diese regeln nicht nur die Verpackung von Gefahrgut,
sondern auch, wie die Container mit Gefahrgut an Bord
verstaut werden. Sicherheitsabstände zwischen solchen
Containern sind ebenso vorgeschrieben wie die klare
Kennzeichnung der Container selbst. Anhand von Ladungslisten und Stauplänen lässt sich nachvollziehen,
wie viele Gefahrgutcontainer an Bord sind und wo sich
diese befinden. Die Vorschriften sind also eindeutig.
Werden Schiffsunglücke durch noch mehr Regeln verhindert? Nein. Finden Havaristen dadurch schneller einen
Notliegeplatz? Bedauerlicherweise auch nicht.
Ich möchte jedoch nicht ausschließen, dass wir es mit
einem Vollzugsdefizit zu tun haben. Der Verband der
Deutschen Reeder geht davon aus, dass es insbesondere
in Asien häufig zu Falschdeklarationen kommt. Die Reeder und Schiffsbesatzungen selbst können nicht sicherstellen, dass die Container korrekt gekennzeichnet sind.
Die Kontrollen müssen durch Zollbehörden in den Häfen
vor Ort erfolgen. In Deutschland selbst sehe ich hier
derzeit keinen Handlungsbedarf.
Natürlich wird Deutschland weiter auf eine konsequente Beachtung der geltenden Regeln auf internationaler Ebene drängen. Aber machen wir uns nichts vor:
Unser Fokus muss darauf liegen, havarierte Schiffe
schnell zu bergen. Havaristen gehören nicht auf hohe
See, sondern in sichere Häfen.
Ich denke, wir sind daher gut beraten, zunächst den
Bericht der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung abzuwarten. Die dortigen Experten werden die Ursachen
und Begleitumstände der „Flaminia“-Havarie bis ins
letzte Detail durchleuchten. Die Koalition wird dann die
erforderlichen Konsequenzen sofort ziehen. Blinden Aktionismus - wie diese Anträge - lehnen wir aber ab.
Das Risiko fährt mit. Das zeigt der Fall des im
Nordatlantik verunglückten Containerfrachters „MSC
Flaminia“. Der wachsende Schiffsverkehr in Nord- und
Ostsee bedeutet auch ein steigendes Gefahrenpotenzial
für Meere und Küsten, und mit der Dynamik des Containerverkehrs rücken die Transportrisiken beim Seeversand von Gefahrgut stärker in den Blick.
Auf Seeschiffen, die gefährliche Ladung befördern,
stellen Feuer, Leckagen und Schiffsunfälle ein besonderes Risiko dar und stellen Reederei und Besatzung vor
große Herausforderungen. Das rasche Aufsuchen eines
Notliegeplatzes kann wesentlich zum Erfolg des Unfallmanagements beitragen.
Doch im Falle der unter deutscher Flagge fahrenden
„MSC Flaminia“ war lange Zeit kein rettender Hafen in
Sicht. Erst nach wochenlanger Irrfahrt durch den Nordatlantik und einem heftigen Streit unter den Anrainerstaaten wurde schließlich die Bundesrepublik Deutschland als Flaggenstaat aktiv, und das verunglückte Schiff
konnte unter Koordination des Havariekommandos von
Schleppern durch den Ärmelkanal über das zum Weltnaturerbe zählende Wattenmeer zum JadeWeserPort gebracht werden; im Tiefwasserhafen wurden jetzt die beschädigten Container und das mit Giftstoffen belastete
restliche Löschwasser entsorgt. Die Arbeiten an dem
Schiff werden aber noch Wochen andauern, wie das Havariekommando erst gestern mitgeteilt hat.
Trotz aller Anstrengungen, die Sicherheit im Seeverkehr
zu verbessern, zeigt das Beispiel der „MSC Flaminia“: Es
besteht Handlungsbedarf. Wir brauchen mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in künftigen Krisensituationen. Zu prüfen sind zum einen die bestehenden Notfallkonzepte auf EU-Ebene, zum anderen die aktuellen
Sicherheitsvorkehrungen für den Gefahrguttransport.
Notwendig sind praxistaugliche Vereinbarungen für
Seenot-Fälle.
Seit Jahren fordern Experten die Bereitstellung von
sicheren Häfen oder Notliegeplätzen, in denen havarierte Schiffe Zuflucht finden können. Die Erfahrung
bisheriger Havarien hat gezeigt, dass bei rechtzeitiger
Zuweisung eines Notliegeplatzes die Folgen für die Umwelt und damit auch die finanziellen Folgeschäden weitaus weniger gravierend gewesen wären. Denn das Anlanden in einem sicheren Hafen erlaubt es, effektivere
Hilfe zu organisieren, als dies auf See möglich wäre.
Erste Versuche zur Regelung internationaler Sorgfalts- und Verfahrenspflichten bei der Zuweisung solcher
Notliegeplätze wurden als Reaktion auf die Havarie des
Frachters „Pallas“ 1998 und den Unfall der Tanker
„Erika“ und „Prestige“ in den Jahren 1999 und 2002
unternommen. Mit drei Gesetzgebungspaketen hat die
EU seither dafür gesorgt, dass die Sicherheitsstandards
Zu Protokoll gegebene Reden
im europäischen Seeverkehr erheblich erhöht worden
sind. Nach der Havarie der „MSC Flaminia“ stellt sich
jedoch die Frage, ob dies ausreichend war.
Die EU-Bestimmungen schreiben den Mitgliedstaaten
zwar Notfallpläne und das Vorgehen in einer Krisensituation vor. Das uneingeschränkte Recht, einen Nothafen
anlaufen zu dürfen, ist jedoch weder in internationalen
Übereinkommen noch im EU-Recht oder in nationalen
Regelungen niedergelegt. Gemäß den EU-Richtlinien
und den Vorgaben der International Maritime Organization hat der betreffende Mitgliedstaat, zu dessen Notliegeplatz ein havariertes Schiff Zugang erbittet, eine umfassende Interessenabwägung zu treffen. Der Zugang
darf nur verwehrt werden, wenn die Gefahren durch ein
Einlaufen des Unglücksschiffes größer wären als bei einem Verbleib auf See.
Gleichwohl sehen die EU-Vorgaben keine ausdrückliche Ausweisung von Notliegeplätzen vor; diese obliegt
einer Einzelfallentscheidung der jeweiligen nationalen
Behörde. Unkalkulierbare Risiken und ein Containerterminal im Industriegebiet: Mit diesem Argument hat denn
auch beispielsweise Frankreich die Aufnahme des
Frachters im Hafen von Le Havre abgelehnt. Die Benennung eines Nothafens hilft aber nur dann, wenn dieser
im Notfall auch tatsächlich angelaufen werden kann.
Die Abweisung eines havarierten Schiffes durch Anrainerstaaten beruht häufig auf fehlenden Informationen, mangelnder Kooperation der betroffenen Staaten
und einem schlechten Krisenmanagement. Wir als SPDBundestagsfraktion fordern daher, die Regeln für die
Verbringung havarierter Schiffe in geeignete Nothäfen
und Notliegeplätze zu überprüfen. Dies betrifft insbesondere die Kriterien für die Festlegung des auszuweisenden Nothafens bzw. dessen Beschaffenheit und Ausrüstung mit Sicherheitsvorkehrungen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die
Partnerländer über ausreichende Informationen über
die sicheren Häfen verfügen. Dazu sollte das gemeinschaftliche Überwachungs- und Informationssystem für
den Schiffsverkehr fortentwickelt werden, wobei die nationalstaatlichen Kompetenzen zu berücksichtigen sind.
Es muss sichergestellt sein, dass Schiffe in Not die
nächstgelegenen und am besten geeigneten Nothäfen
oder Notliegeplätze schnellstmöglich anlaufen können.
Die Bergung der „MSC Flaminia“ wird nach aktueller Einschätzung bis zum Jahresende dauern. Das Schiff
hatte mehr als 2 800 Container geladen, davon enthielten rund 150 Gefahrgut. Der Anteil der Gefahrgüter am
gesamten Güteraufkommen im Seeverkehr beträgt nach
Schätzung von Experten rund 30 Prozent; bei den Containerlinienverkehren sind es demnach zwischen 15 und
20 Prozent. Die International Maritime Organization,
IMO, hat auf den wachsenden Trend zur Containerisierung reagiert und die international geltenden Vorschriften kontinuierlich angepasst. Sie regeln verbindlich, wie
der Transport von Gefahrgut auf Containerschiffen zu
erfolgen hat. So sind denn auch keine Unfälle bekannt,
die auf fehlende Vorschriften zurückzuführen wären.
Das Problem ist vielmehr die Nichtbeachtung bzw.
die falsche Anwendung der Bestimmungen. Immer wieder wird Gefahrgut, ob nun aus Unwissen oder absichtlich, von den Versendern falsch oder unzureichend deklariert und dann verschifft. Ein Großteil von Unfällen
und Vorkommnissen mit Ladung jeglicher Art ist auf die
falsche Deklaration der Waren zurückzuführen - eine
Problematik, die insbesondere Gefahrguttransporte aus
Asien betrifft.
Notwendig sind verlässliche Informationen über Vorfälle mit gefährlichen Gütern und ein Höchstmaß an
Transparenz, um die Risiken beim Transport verpackter
gefährlicher Güter zu minimieren. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dazu eine Reihe von Vorschlägen auf
den Tisch gelegt.
Sinnvoll ist aus unserer Sicht eine Meldepflicht für
nicht ausreichend oder falsch deklariertes Gefahrgut
und eine zentrale Datenbank, um den Informationszugang und -austausch zwischen den nationalen Behörden
zu erleichtern. Denkbar sind auch gemeinsame Kontrollen der Seefracht durch die für Gefahrgut zuständigen
nationalen Behörden und die Zollverwaltungen. Zu diskutieren ist darüber hinaus, ob nach dem Vorbild des
Luftverkehrs ein neuer Status „bekannter Versender“
einzuführen ist, um eine sichere Lieferkette auf See zu
gewährleisten.
Bei der Erstellung der sogenannten schwarzen Listen
von Schiffen, die im Zuge der Hafenstaatkontrolle durch
Sicherheitsmängel aufgefallen sind, sollten künftig auch
unzuverlässige Versender berücksichtigt werden. Dies
sind konkrete Vorschläge, die an bestehende Vorschriften anknüpfen und diese fortentwickeln.
Wir brauchen möglichst einheitliche und weltweit anerkannte Standards für den Gütertransport auf See und
das Notfallmanagement, damit wir sagen können: mit
Sicherheit kein Risiko.
Als ich Mitte Juli des Jahres von dem Brand auf einem deutschen Containerschiff mitten auf dem Atlantik
zum ersten Mal hörte, habe ich mir zunächst nicht viel
dabei gedacht. Na ja, dachte ich, so etwas passiert leider mal; aber sicherlich wird die Besatzung den Brand
bald gelöscht haben, und dann wird das Schiff seine
Reise in einen sicheren Hafen fortsetzen, um sich dort einer Unfalluntersuchung zu unterziehen.
Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, dass
diese Meldung der Auftakt zu einer wochenlangen Odyssee ist, an dessen Ende das letzte Glutnest erst Ende Oktober dieses Jahres gelöscht werden konnte - und das
Ganze auch noch in einem Hafen, dem neuen JadeWeserPort, der zum Zeitpunkt der Verbringung der „MSC
Flaminia“ noch nicht einmal in Betrieb war. Das wirkt
manchmal wie ein Stück aus dem Tollhaus und hat auch
mich fassungslos gemacht. Vielleicht könnte man sich
sogar darüber amüsieren, wenn nicht zwei Menschen
bei der Katastrophe zu Tode gekommen wären, einer
nach wie vor vermisst wäre und die Fahrt nach Wilhelmshaven nicht durch das sensible Ökosystem WattenZu Protokoll gegebene Reden
meer geführt hätte, mit allen damit verbundenen Umweltrisiken.
Ich teile durchaus die Intention, die hinter Ihren Anträgen steckt, nämlich dass sich alle Beteiligten einmal
Gedanken darüber machen müssen, wie ein solches kollektives Durcheinander fast aller europäischen Partner
in Zukunft unterbunden werden kann. Dass Ihre Anträge
hierfür eine große Hilfe sind, will ich dann allerdings
doch infrage stellen.
Aus meiner Sicht geht es jetzt um zweierlei Sachen:
Erstens steht die eigentliche Unfalluntersuchung im
Mittelpunkt. Es muss herausgefunden werden, was die
Ursachen der Katastrophe auf der „MSC Flaminia“ waren, um anschließend Konsequenzen für mehr Sicherheit
an Bord ziehen zu können. Hierzu werden wir aber in
Ruhe die weiteren Untersuchungen, die die BSU bereits
aufgenommen hat, abwarten und dann die Ergebnisse
auswerten müssen.
Zweitens muss uns aber auch die Frage beschäftigen,
warum es so lange gedauert hat, bis sich ein sicherer
Notfallhafen gefunden hat, in den die „MSC Flaminia“
verbracht werden konnte. Hier sind durch verschiedene
EU-Richtlinien - 2002/59/EG und 2009/17/EG - die Mitgliedsländer dazu angehalten, entsprechende Notfallpläne zu entwickeln. An diesem Unglück ist aber deutlich
geworden, dass dieses offenkundig noch nicht so reibungslos läuft, wie es laufen müsste. In diesem Punkt liefert der Antrag der SPD durchaus gute Ansätze.
Aus meiner persönlichen Sicht sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein havariertes oder in diesem Falle brennendes Schiff ohne bürokratischen Aufwand sofort den nächstgelegenen Hafen anlaufen kann,
um Hilfe in Anspruch zu nehmen. Für diese Selbstverständlichkeit bedarf es eigentlich keiner zusätzlichen
Regelungen, sondern nur der Anwendung der auf See im
Rahmen der International Convention for the Safety of
Life at Sea, SOLAS, gültigen Regeln.
Die Forderung von Linken und Grünen nach dem
Aufbau einer gemeinsamen Küstenwache, verbunden
mit der Abgabe nationaler Kompetenzen an die EMSA,
teile ich nicht. Wichtiger ist mir, die Bestrebungen einer
nationalen Küstenwache mit der Integration der am maritimen Geschehen beteiligten Ministerien und Länderkompetenzen voranzubringen.
Ich freue mich, wenn es uns gelingt, im Rahmen der
parlamentarischen Beratungen weitere Erkenntnisse zu
gewinnen und vielleicht auch die eine oder andere konstruktive Idee für eine Verbesserung des Notfallmanagements zu entwickeln.
In den letzten Wochen und Monaten hat uns die Odyssee der „MSC Flaminia“ stark beschäftigt. Es geht um
ein Containerschiff unter deutscher Flagge, auf dem es
am 14. Juli mitten auf dem Atlantik aus noch immer unbekannten Gründen zu einem Brand und zu heftigen Explosionen kam, bei denen mehrere Menschen starben
und weitere schwer verletzt wurden. Unter der Ladung
befanden sich über 150 teils hochgefährliche Gefahrgutcontainer. Obwohl wenige Tage später bereits Notschlepper vor Ort waren und den Containerfrachter in
Schlepp nahmen, begann eine wochenlange Irrfahrt
über den Nordostatlantik. Nach Angabe der Reederei
und des Bergungsunternehmens erhielten sie über einen
Monat keine Genehmigung für das Einlaufen in einen
europäischen Nothafen. Als sie sich schließlich an
Deutschland als Flaggenstaat wendeten, dauerte es
nochmal drei Wochen, bis die „MSC Flaminia“ letztlich
in den JadeWeserPort geschleppt werden konnte. Wir
können und dürfen es nicht akzeptieren, dass ein Havarist fast zwei Monate auf den Weltmeeren umherirrt, bis
er letztlich einen sicheren Hafen anlaufen kann, weil
sich keiner zuständig fühlt.
Nach der Übertragung der Gesamteinsatzleitung an
das Havariekommando wurde das weitere Notfallmanagement den Berichten zufolge sehr professionell
weitergeführt. Nachdem nun „die heißen Container“
entladen und der Einsatz heute Morgen beendet worden
waren, möchten wir uns an dieser Stelle ausdrücklich
bei dem Leiter, Herrn Monsees, und seinem Team für die
geleistete Arbeit bedanken.
Doch sind noch viele Fragen offen. Warum hat
Deutschland zum Beispiel als zuständiger Flaggenstaat
erst nach über einem Monat auf Anruf reagiert und nicht
eigeninitiativ durch frühzeitige diplomatische Bemühungen eine schnelle Lösung erwirkt? Hätte Deutschland
anders reagiert, wenn die „MSC Flaminia“ nicht unter
deutscher Flagge gefahren wäre? Warum ist vier Monate nach der Havarie die Brandursache eigentlich immer noch ungeklärt, trotz intensivster Untersuchungen?
Unsere Sicherheitsstandards im Seeverkehr wurden
leider immer erst nach großen Katastrophen weiterentwickelt. Die großen Havarien der „Pallas“ 1998, der
„Erika“ 1999 und der „Prestige“ 2002 waren die Auslöser für eine entsprechende EU-Gesetzgebung. 2003
und 2004 sind die Vorschriften der Erika-I+II-Pakete in
Kraft getreten, in dem verschärfte Rechtsvorschriften
vereinbart und unter anderem die Europäische Agentur
für die Sicherheit des Seeverkehrs, EMSA, gegründet
wurde. Bei uns wurde in diesem Zuge das Havariekommando eingerichtet. Das dritte Erika-Paket wurde
schließlich bis 2009 verhandelt. Danach sollte unter anderem für die Aufnahme von Schiffen in Seenot an Notliegeplätzen die Unabhängigkeit der Entscheidungen
garantiert werden. Doch bis heute gibt es kein uneingeschränktes Recht zum Anlauf in einen Notliegeplatz für
havarierte Schiffe; denn es gibt eine gravierende Regelungslücke. Nach geltendem Recht hat der Staat, zu dessen Notliegeplatz das havarierte Schiff Zugang erbittet,
eine Abwägung zwischen den Gefahren durch ein Einlaufen des Havaristen in den Hafen und dem Verbleib
des Schiffes auf See zu treffen. Nur wenn das Risiko eines Einlaufens größer ist, darf der Zugang zu einem
Notliegeplatz verwehrt werden. Grundsätzlich dürfen
Umweltrisiken aber nicht durch Abweisung eines Schiffes in ein anderes Gebiet verlagert werden.
Nach Aussage des Reeders verweigerten zum Beispiel
Spanien, Frankreich, Großbritannien und Irland der
Zu Protokoll gegebene Reden
„MSC Flaminia“ einen solchen Notliegeplatz. Die europäischen Vereinbarungen gelten auch nur innerhalb der
Hoheitsgewässer der EU-Mitgliedstaaten. Doch die Havarie hat sich nun mal auf dem freien Ozean ereignet.
Nach den bisherigen Unglücken hat man sich auf die
Folgen von Chemie- und Ölunfällen vor der Küste konzentriert, dabei aber nicht über den Teller- oder Küstenrand der Hoheitsgewässer hinaus auf den Ozean geschaut.
Wir haben Ihnen dazu einen Antrag vorgelegt, der im
September fast wortgleich als Drucksache 16/5187 von
SPD, Linke und Grünen im Landtag Niedersachsen eingebracht wurde. In dieser Frage sollten wir fraktionsübergreifend zusammenarbeiten. Dem SPD-Antrag werden wir zwar zustimmen, jedoch gehen unsere
Vorschläge wesentlich weiter: Wir fordern nicht nur die
Aufklärung der Umstände, sondern ein verbindliches
und wirksames Schiffssicherheitskonzept inklusive Nothafenkonzept im EU-Recht und im internationalen
Recht. Während wir eine konkrete Eingriffskompetenz
der EU bei größeren Schiffshavarien fordern und dazu
die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, EMSA, zu einer koordinierenden, gemeinsamen
Küstenwache weiterentwickeln wollen, sollen nach dem
SPD-Antrag die Zuständigkeiten und Richtlinien bewahrt und nur richtig angewendet, die Rolle der EMSA
lediglich geprüft werden. Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, da waren Sie in Niedersachsen
schon einmal weiter, und daran wollen wir Sie mit unserem vorgelegten Antrag erinnern.
Eine gemeinsame Küstenwache ist ja auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP zumindest
auf nationaler Ebene vereinbart worden. Doch diese
Pläne sind im letzten Sommer an Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ressorts gescheitert. Damit bleibt ein
Wirrwarr von verschiedenen Landes- und Bundesbehörden, die sich um die Sicherheit vor unseren Küsten kümmern. Wir denken hier nicht national, sondern gleich europäisch und wollen daher die EMSA zu einer solchen
gemeinsamen Küstenwache weiterentwickeln, wobei
hierbei natürlich das Havariekommando eingebunden
werden soll.
Diese europäische Küstenwache soll sich allein auf
die Verhinderung von Schiffshavarien und entsprechende
Notfallkonzepte konzentrieren. Die bisherige Verknüpfung mit der Einrichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems sowie der Europäischen Agentur
für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, Frontex, lehnen wir ausdrücklich ab. Diese Probleme können nur durch Bekämpfung der Migrationsursachen und nicht der Migranten gelöst werden.
Wir fordern Sie auf, heute mit unserem Antrag einer
wirksamen und verbindlichen Weiterentwicklung des europäischen Notfall- und Havariemanagement zuzustimmen. Wir brauchen europäische Regelungen, die verbindliche und schnelle Lösungen einer Havarie
gewährleisten können, damit sich ein solcher Vorfall mit
einer solchen monatelangen Hängepartie nicht wiederholen darf. Wir fordern die Bundesregierung auf, in der
EU umgehend ein neues Erika-IV-Paket mit einem verbindlichen europäischen Seesicherheitssystem einzubringen.
Im Juli dieses Jahres ist der Containerfrachter „MSC
Flaminia“ im Atlantik, circa 1 800 Kilometer bzw.
1 000 Seemeilen vor der europäischen Küste, havariert.
Nach Explosionen und Feuer an Bord gab es Tote, mehrere Verletzte und anschließend monatelange Kompetenzstreitigkeiten europäischer Behörden. Die Bergung
des Schiffes entwickelte sich zu einer Odyssee entlang
der europäischen Küsten. Niemand wollte das Schiff in
seinen Hafen lassen, bis es schließlich in Wilhelmshaven
geborgen werden konnte.
Enormes Risiko ging von dem sehr schweren Seeunfall aus. Gefahr bestand während bzw. nach dem Unfall
nicht nur für die Besatzung, sondern auch für die Meeresumwelt. Zu jeder Zeit ging vom an Bord befindlichen
Schweröl und von der Ladung auch eine Bedrohung für
den Fischbestand aus. Die Ladung an Bord enthielt auch
151 deklarierte Gefahrgüter, von denen einige wohl
auch als Brandbeschleuniger gewirkt haben. Aufgrund
der großen Gefahren, die von dem Wrack ausgingen,
hieß es daher längere Zeit in Überschriften der deutschen Presse: „Giftige Irrfahrt der brennenden ,MSC
Flaminia‘“, „Zeit Online“ vom 31. August 2012, und
„Reederei schweigt zu ‚Flaminia‘-Gefahrstoffen“,
„Spiegel Online“ vom 10. September 2012.
Die Havarie hat gezeigt, dass sowohl die Nothafenregelung der EU als auch die Kompetenzen der Europäischen Maritimen Sicherheitsagentur EMSA deutlich
nachgebessert werden müssen. Ich finde es sehr schade,
dass es immer erst einen schweren Seeunfall geben
muss, bevor gesetzliche Regelungen angepasst werden.
Ich habe noch zu sehr das Bild vor Augen von verschmutzten Stränden, ölverklebten Meerestieren und
Strandvögeln in Nordspanien und Südwestfrankreich in
den Jahren 2000 und 2002. Verantwortlich dafür waren
die verheerenden Seeunfälle der beiden Öltanker
„Erika“ und „Prestige“.
Die EU hat daraufhin zwar relativ schnell Handlungsbereitschaft gezeigt, in der europäischen maritimen Sicherheit nachzubessern. Zu viel lag im Argen und
zu sehr waren die Kompetenzen zerstreut, sodass ein rasches Eingreifen nicht gewährleistet war. Daher kamen
auf EU-Ebene insgesamt drei Gesetzespakete - Erika I,
II und III - zustande, und die Europäische Maritime Sicherheitsagentur EMSA wurde aus der Taufe gehoben.
Seither müssen Öltanker zwei Außenwände haben. Dass
die relativ zügig umgesetzten Regelwerke jedoch an verschiedenen Punkten nicht konsequent umgesetzt worden
sind, zeigt sich jetzt wieder anhand der Havarie der
„MSC Flaminia“.
Das derzeitige europäische Nothafenkonzept, so
wichtig es ist, verpflichtet die Staaten der Europäischen
Union derzeit leider weder zu Koordination noch zu Kooperation. Dadurch ist es leider so, dass schwer havarierte Schiffe von verschiedenen EU-Mitgliedstaaten abgewiesen werden können, selbst wenn sie dringend Hilfe
benötigten und geborgen werden müssten. Dies hat das
Zu Protokoll gegebene Reden
Containerschiff „MSC Flaminia“ im Juli bzw. August
2012 leidvoll erfahren müssen. Das Nothafenkonzept hat
versagt.
Daher muss nach unserer Auffassung dringend eine
Anpassung der einschlägigen EU-Richtlinie erfolgen.
Außerdem muss die Europäische Maritime Sicherheitsagentur EMSA dringend weitere operative Befugnisse
bekommen: Notliegeplätze für havarierte Schiffe müssen
von ihr europaweit zugewiesen werden können, um die
Gefahr, die von einem verunfallten Schiff ausgeht,
schnellstmöglich zu bannen. Meist ist in einem Hafen
bzw. in Hafennähe die Gefahr, die von einem solchen
Schiff ausgeht, leichter zu bannen als auf hoher See. Auf
hoher See wirken durch Wind und Wellen starke Kräfte
auf das Schiff ein. Dadurch können das Schiff weiter destabilisiert und das Gefahrenpotenzial unnötig erhöht
werden.
Dass Deutschland nach Anfrage des Frachters „MSC
Flaminia“ Hilfe zugesagt hat, ist vor allem dem Havariekommando des Bundes und der Küstenländer zu verdanken. Das Schiff fuhr unter deutscher Flagge; daher
war Deutschland die letzte Rettung. Nicht auszudenken,
wie lange die Odyssee des Wracks noch gedauert hätte,
wäre es unter der Flagge eines außereuropäischen Staates unterwegs gewesen.
Hier liegt ein Schwachpunkt im ergänzend eingebrachten Antrag der Linken, in dem Sie gleich eine europäische Küstenwache fordern. Das schaffen wir ja nicht
mal in Deutschland aufgrund unserer zersplitterten Zuständigkeiten. In Europa sind die Zuständigkeiten in den
einzelnen Mitgliedstaaten noch viel komplexer über die
einzelnen Mitgliedstaaten verteilt. Viel effektiver ist aus
unserer Sicht, der bestehenden Europäischen Maritimen
Sicherheitsagentur EMSA nach und nach mehr Kompetenzen zu übertragen. Dies ist trotz verschiedener Gesetzespakete seit rund zehn Jahren versäumt worden.
Der Antrag der SPD geht unserer Auffassung nach
nicht weit genug. Es geht Ihnen nur darum, Sachverhalte
und Änderungen an bestehenden Richtlinien „zu prüfen“. Hätte die Prüfung zum Ergebnis, alles solle bleiben wie bisher, würden Sie dann auch das mittragen?
Dies wäre fahrlässig, sowohl für die Besatzungen auf
den Schiffen und für die Meeresumwelt als auch für die
europäische Küste.
Die Havarie des Motorschiffs „MSC Flaminia“ fordert zum Handeln auf. Die Bundesregierung muss nun
auf europäischer Ebene tätig werden und versuchen, Änderungen herbeizuführen. Es bleiben dabei zunächst die
Ergebnisse der noch andauernden Seeunfalluntersuchungen abzuwarten. Dann müssen die richtigen
Schlüsse gezogen werden, wie es zukünftig in Europa mit
der Sicherheit auf den Meeren weitergehen soll. Hier
sind die EU-Mitgliedstaaten am Zuge, also auch die
deutsche Bundesregierung. Bisher war von der schwarzgelben Regierung im Bereich der maritimen Politik wenig zu erwarten. Aber ich lasse mich gerne überraschen
und freue mich über konstruktive Vorschläge.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10819 und 17/11324 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
- Sie sind alle damit einverstanden; Widerspruch erhebt
sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Begleitung der Verordnung ({0}) Nr. 260/
2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für
Überweisungen und Lastschriften in Euro und
zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 924/
2009 ({2})
- Drucksachen 17/10038, 17/10251 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
- Drucksache 17/11395 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Dr. Gerhard Schick
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben1).
Die Reden liegen hier auch vor. - Alle sind damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht.
Wir kommen infolgedessen zur Abstimmung.
({4})
- Wollten Sie, Kollege Rehberg, ans Mikrofon gehen?
({5})
- Okay.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/11395, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf den Drucksachen 17/10038 und 17/10251 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitions-
fraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Fraktion der SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? -
Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Sozialdemo-
1) Anlage 10
Vizepräsident Eduard Oswald
kraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf
ist angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11407. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Das ist die
Fraktion Die Linke. Gegenprobe! - Koalitionsfraktionen
und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert,
Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbindliches Mitwirkungsrecht für Kommunen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen
und Verordnungen sowie im Gesetzgebungsverfahren
- Drucksachen 17/1142, 17/4726 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Gisela Piltz
Frank Tempel
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. - Alle sind damit einverstanden, sodass wir zur Abstimmung kommen.
Der heute zur Debatte stehende Antrag der Fraktion
Die Linke fordert großspurig die Einführung verbindlicher Mitwirkungsrechte für die Kommunen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen und Verordnungen sowie
im Gesetzgebungsverfahren.
Wo leben denn die Antragsteller? Die Forderungen
sind doch längstens von der christlich-liberalen Koalition umgesetzt.
Die erfolgte Stärkung der Mitwirkungsrechte der
Kommunen bei der Bundesgesetzgebung reiht sich ein in
eine umfassende Richtungsänderung der Bundespolitik
für die kommunale Ebene. Dieser Paradigmenwechsel
wurde von CDU und CSU seit 2005 Schritt für Schritt
zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung forciert.
Bereits die unionsgeführte Große Koalition hat mit
der Föderalismusreform I für die existenziellen Belange
der Kommunen Rechnung getragen. Damit wurde eine
direkte Aufgabenzuweisung an die Kommunen in Bundesgesetzen sowohl bei der Landesverwaltung der Bundesgesetze als auch bei der Bundesauftragsverwaltung
ausgeschlossen.
Der Weg neuer Aufgabenübertragungen auf Gemeinden und Gemeindeverbände führt nur über die Länder.
Da die in den jeweiligen Landesverfassungen verankerten Konnexitätsregelungen uneingeschränkt greifen, ist
Aufgabenübertragung auf die Kommunen ohne entsprechende Finanzierung seitdem ausgeschlossen.
In der in dieser Legislaturperiode eingesetzten Gemeindefinanzkommission wurden - gemeinsam mit den
kommunalen Spitzenverbänden - konkrete Handlungsempfehlungen zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung vorgelegt. Diese schließen eine verstärkte Beteiligung der Kommunen an der Gesetzgebung des
Bundes bzw. der Rechtsetzung der EU ebenso ein wie die
Flexibilisierung von Standards bzw. den Abbau von Bürokratie in allen Bereichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, vielleicht sollten Sie die seit Mai 2012 geltende
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gründlich lesen. Sie werden dann feststellen, dass wir auf
Initiative der christlich-liberalen Koalition bereits vor
Monaten verbindliche Mitwirkungsrechte für die Kommunen und eine privilegierte Anhörung der kommunalen
Spitzenverbände beschlossen haben.
§ 69 Abs. 5 Satz 1 GO-BT wurde von einer Soll- in
eine Istvorschrift geändert. Den kommunalen Spitzenverbänden muss seitdem Gelegenheit zur Stellungnahme
gegeben werden, wenn ein Ausschuss federführend Gesetzentwürfe berät, durch die deren wesentliche Belange
berührt werden. Daneben wurde in § 70 Abs. 4 ({0})
GO-BT geregelt, dass den kommunalen Spitzenverbänden Gelegenheit zur Teilnahme an einer öffentlichen Anhörung zu entsprechenden Gesetzentwürfen zu geben ist.
Hierbei soll eine Anrechnung der Vertreter der kommunalen Spitzenverbände nach § 70 Abs. 2 Satz 2 GO-BT
auf die jeweiligen Fraktionskontingente unterbleiben.
Mit dieser Privilegierung der kommunalen Spitzenverbände in seiner Geschäftsordnung folgte der Deutsche Bundestag entsprechenden Änderungen in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien
({1}). Dort regelte die unionsgeführte Bundesregierung bereits im vergangenen Jahr die Beteiligung der
kommunalen Spitzenverbände an Rechtsetzungsvorhaben umfassend neu, und zwar ebenfalls zugunsten der
Kommunen.
Neben dieser GGO-Privilegierung wird den kommunalen Spitzenverbänden im Zusammenhang mit EURechtsetzungsvorhaben außerdem der Zugang zur zentralen ZEUS-Datenbank ({2}) des EU-Ratssekretariats beim Auswärtigen Amt
angeboten. Der Server, der der Bundesregierung zur
Verfügung steht, enthält alle für die EU-Ratsarbeitsgruppen relevanten Dokumente und wird kontinuierlich
von Brüssel aus ergänzt und gepflegt.
Bundesregierung und Bundestag sind damit den
Empfehlungen der Arbeitsgruppe „Rechtsetzung“ aus
der Gemeindefinanzkommission gefolgt. Diese Kommission wurde vor dem Hintergrund des gemeinsamen Ziels
der christlich-liberalen Koalition gebildet, um sich für
leistungsfähige Städte, Gemeinden und Kreise einzusetzen.
Das wichtigste Ergebnis der Kommission war jedoch,
dass der Bund die kommunalen Haushalte durch die Reduzierung der kommunalen Sozialausgaben entlastet.
Die heute Vormittag in zweiter und dritter Lesung im
Deutschen Bundestag beschlossene Übernahme der
Nettoausgaben der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung durch den Bund entlastet die Kommunen allein im Zeitraum 2012 bis 2016 um rund
20 Milliarden Euro. Dies stärkt die kommunale Selbstverwaltung mehr als irgendwelche zusätzlich von der
Fraktion Die Linke geforderten Formalitäten bei der
Bundesgesetzgebung.
Die realen Ergebnisse unserer Politik stärken die
Kommunen - und zwar auf Dauer. Das wird für die
Städte, Gemeinden und Landkreise immer konkreter
spürbar. Nach Angaben des Deutschen Städtetags konnten fast alle Kommunen ihre Finanzsituation weiter verbessern. Bereits im laufenden Jahr 2012 rechnen die
Kommunen mit einem Überschuss von 2,3 Milliarden
Euro. Im Finanzplanungszeitraum bis einschließlich
2016 kann dieser Überschuss nach Einschätzung des
Bundesfinanzministeriums kontinuierlich auf rund
5,5 Milliarden Euro gesteigert werden.
Verantwortlich für die Gesundung der Kommunalfinanzen ist in erster Linie unsere auf Wachstum ausgerichtete Politik. Nach der aktuellen Steuerschätzung von
letzter Woche können die Gemeinden bis ins Jahr 2017
damit rechnen, dass ihre Steuereinnahmen jedes Jahr
um rund 3 Milliarden Euro anwachsen.
In letzter Zeit verweisen die kommunalen Spitzenverbände völlig zu Recht verstärkt auf die besondere
Verantwortung der Länder. Schließlich weisen die Kommunalfinanzen nach wie vor enorme regionale Unterschiede auf, denen der Bund gar nicht entgegenwirken
kann. In manchen Bundesländern geht die Schere zwischen armen und reichen Kommunen immer weiter auseinander.
Die Rechtslage ist klar: Die Länder sind für ihre
Kommunen und den kommunalen Finanzausgleich verantwortlich. Leider müssen die Kommunen zur Durchsetzung ihrer Ansprüche immer wieder auf die Hilfe der
Landesverfassungsgerichte zurückgreifen, wie zum Beispiel zuletzt in Rheinland-Pfalz.
Vor diesem Hintergrund hoffe ich, dass die kommunalfreundliche Politik beispielgebend für das Verhalten
der Länder gegenüber ihren Kommunen ist.
Ich fasse zusammen: CDU und CSU haben die kommunalfeindliche Politik der rot-grünen Bundesregierung
beendet und kämpfen seit 2005 in Regierungsverantwortung erfolgreich für die Stärkung der kommunalen
Selbstverwaltung. Sinkende Sozialausgaben durch die
Kostenübernahme vom Bund und gleichzeitig höhere
Einnahmen bei den Anteilen an der Einkommensteuer
und Gewerbesteuer ermöglichen den Kommunen, zu investieren und ihre kommunalen Aufgaben zu erfüllen. Es
liegt im ureigenen Interesse der Städte, Gemeinden und
Landkreise, dass sich dieser neue Politikstil noch lange
fortentwickeln kann.
Viele Gesetze, die auf Bundesebene beschlossen werden, haben Auswirkungen auf die Kommunen. Wir halten es deshalb für wichtig, dass die Kommunen an den
Entscheidungsprozessen auf Bundesebene beteiligt werden.
In Städten, Gemeinden und Landkreisen erhält Politik
für die Menschen ein konkretes Gesicht: Hier wirken
sich Entscheidungen direkt auf ihre Lebenssituation aus.
Die Erfahrungen, die die Menschen vor Ort machen,
entscheiden über Akzeptanz unserer Politik oder Politikverdrossenheit.
Die Städte, Kreise und Gemeinden schaffen die Infrastruktur, die für unsere wirtschaftliche Entwicklung und
die Lebensqualität der Menschen existenziell ist. Kommunen organisieren die Kinderbetreuung, sorgen für Sicherheit, sanieren Schulen, beseitigen Abwasser, zahlen
Sozialhilfe, bieten einen öffentlichen Personennahverkehr an, stehen Menschen mit Behinderung und Pflegebedürftigen zur Seite, fördern Kultur und stärken mit Investitionen das örtliche Handwerk.
Kurzum: Die Kommunen erfüllen einen umfassenden
Fürsorgeauftrag. Deshalb sind die Stärkung unserer
Städte, Gemeinden und Kreise und die Lösung ihrer Probleme für uns ein Kernanliegen.
In der Vergangenheit haben Bund und Länder den
Kommunen eine Vielzahl Aufgaben übertragen, ohne ihnen immer die dafür angemessene Finanzausstattung zu
geben. Zugleich erhöhte sich infolge der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen. Seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich die kommunalen
Sozialausgaben fast verdoppelt, erreichen inzwischen
ein Niveau von gut 45 Milliarden Euro jährlich und
wachsen dynamisch weiter.
Wenn aber den Kommunen die Mittel fehlen, ihren
Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherung nachzukommen, dann wird ihre Schlüsselrolle für unser Gemeinwesen grundsätzlich infrage
gestellt. Es ist daher wichtig, auch bei Gesetzen, die auf
Bundesebene beschlossen werden, Auswirkungen auf die
kommunale Ebene stärker als bisher zu berücksichtigen.
Zwar sind die Kommunen als Teil der Länder im Bundesrat bereits indirekt beteiligt, es ist aber sinnvoll, ihre
Perspektive auch im Bundestag von vorneherein stärker
in politische Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen.
Dafür haben wir uns mit Nachdruck eingesetzt, zum
Beispiel indem wir die Bildung des Unterausschusses
Kommunales forciert haben. Die Regierungskoalition
hat dabei keine rühmliche Rolle gespielt.
Ende 2009 gab es einen Beschluss aller Fraktionen,
diesen Ausschuss einzusetzen. Im Februar und März
2010 hatten SPD, Grüne und Linke ihre Mitglieder für
den Unterausschuss benannt, CDU/CSU und FDP nicht.
Im Mai beschloss der Innenausschuss offiziell seine Einsetzung und wählte den Vorsitzenden. Die Benennung
der Mitglieder der FDP erfolgte einen Monat später, die
der CDU/CSU drei Monate später. Im September konnte
das erste gemeinsame Obleutegespräch des Ausschusses
stattfinden, in dem beschlossen wurde, eine Geschäftsordnung festzulegen. Diese notwendige Voraussetzung
Zu Protokoll gegebene Reden
für unsere Arbeit wurde wiederum von den Koalitionen
CDU/CSU und FDP hinausgezögert.
Im November 2011 konnte dann endlich die erste Sitzung des Unterausschusses Kommunales stattfinden.
Knapp ein Jahr lang hatten die Regierungsfraktionen
die Einsetzung des Ausschusses verschleppt.
Im Folgenden wurde die Blockade auf andere Ebenen
verlagert. Der Rahmenbeschluss zu den Kompetenzen
des Unterausschusses wurde so eingeschränkt wie nur
irgend möglich verfasst. Die Zuweisung von Themen an
den Unterausschuss wird immer wieder von CDU/CSU
und FDP abgelehnt - trotz eindeutigen kommunalen Bezugs. Letztes Beispiel: das Betreuungsgeld. So werden
die Belange der Kommunen mit Füßen getreten.
Der nächste Kraftakt betraf die Regelung, wie die
kommunalen Spitzenverbände zu relevanten Gesetzentwürfen im Bundestag angehört werden. Nach den Beschlüssen der Gemeindefinanzkommission sollten die
kommunalen Spitzenverbände bei öffentlichen Anhörungen im Bundestag privilegiert werden beziehungsweise
das „Recht des ersten Wortes“ erhalten.
Im Folgenden unterbreitete der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestages einen Vorschlag, der ohne
großes Aufheben in den Kleinstgremien der Obleuterunden versenkt werden sollte. Erst die Intervention der
Kommunalpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion holte
den Antrag wieder aus der Versenkung und leitete ein
geordnetes Verfahren ein. Im Ergebnis haben wir einen
überfraktionellen Beschluss gefasst, das Mitspracherecht der Kommunen auf Bundesebene zu verbessern. Im
April 2012 wurde die Geschäftsordnung des Bundestages so geändert, dass zu allen relevanten Gesetzentwürfen Stellungnahmen der Kommunalverbände eingeholt
werden müssen.
Die Forderung nach einem eigenen Kommunalmitwirkungsgesetz auf Bundesebene halten wir verfassungsrechtlich für problematisch. Mit den eben genannten Instrumenten haben wir die Mitwirkungsmöglichkeiten der
Kommunen bereits erheblich verbessert und müssen diesen Weg auch nicht gehen.
Bei der ganzen Diskussion über Mitwirkungsmöglichkeiten sollten wir aber eines im Blick behalten:
Wichtig ist, dass die Kommunen eine ausreichende
finanzielle Ausstattung bekommen. Die Steuereinnahmen dieses Jahr sind zwar gut, aber die Kommunen
schieben einen Schuldenberg von etwa 50 Milliarden
Euro vor sich her. Die Sozialausgaben steigen weiter,
und die Schere zwischen armen und reichen Kommunen
wird breiter. Darüber sollten wir reden in der nächsten
Debatte.
Entscheidungen, die wir hier im Bundestag treffen,
stehen nicht im luftleeren Raum. Sie haben vielfältige
Auswirkungen, auch und gerade auf die Kommunen.
Das gilt besonders für die Bereiche Sozial- und Steuergesetzgebung. Als Gebietskörperschaften der Länder ist
den Kommunen ein direktes Recht auf Mitwirkung an
der Gesetzgebung verwehrt. Sie müssen ihre Belange
über die Länder im Bundesrat vertreten lassen - auch
gegenüber dem Bund und Europa. Dennoch ist eine Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände an der Bundesgesetzgebung explizit politisch gewollt und für mich
und die gesamte FDP-Fraktion selbstverständlich.
Nach dem Antrag der Linken soll die Bundesregierung aufgefordert werden, „zur Sicherstellung der Mitwirkungsrechte ein Kommunalmitwirkungsgesetz in den
Deutschen Bundestag einzubringen“. Diese Formulierung ist derartig undifferenziert, dass man sich fragt,
welche gesetzlichen Maßnahmen Ihnen, liebe Kollegen
der Linken, hier genau vorschweben. Diese Antwort
bleiben Sie schuldig. Sie haben diesen Antrag in der
letzten Legislaturperiode ja schon einmal eingebracht fast wortgleich. Der Antrag ist Schnee von gestern. Auch
damals waren Sie zu konkreten Aussagen nicht fähig.
Wenn Sie schon einen Schaufensterantrag einbringen,
sollten Sie wenigstens auch ein bisschen Inhalt in die
Auslage legen. Ihren Antrag lehnen wir ab, nicht weil
wir gegen eine Mitwirkung der Kommunen am Gesetzgebungsverfahren wären, sondern weil der Antrag
schlicht und ergreifend zu schlecht ist.
Sie fordern in Ihrem Antrag dazu auf, dass Bundesregierung und Bundestag Kommunen verbindliche Mitwirkungsrechte bei der Beratung von Gesetzentwürfen
geben. Diese Forderungen sind überholt. Hier haben
wir bereits gehandelt: Wir haben die Geschäftsordnung
des Bundestages so geändert, dass den kommunalen
Spitzenverbänden im federführenden Ausschuss eine
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden muss,
wenn dort kommunal relevante Gesetzentwürfe beraten
werden. Das gilt im Übrigen auch für nichtöffentliche
Ausschusssitzungen.
In öffentlichen Anhörungen müssen die kommunalen
Spitzenverbände ebenfalls gehört werden, wenn ihre Belange betroffen sind. Alle anderen Sachverständigen
werden in solchen Anhörungen von den Fraktionen benannt. Die Anzahl an Experten, die eine Fraktion benennen darf, richtet sich dabei nach der Fraktionsstärke.
Bei den kommunalen Spitzenverbänden findet solch eine
Anrechnung auf Fraktionskontingente nun nicht mehr
statt. Bisher sind die Vertreter der Kommunen behandelt
worden wie Lobbyisten. Wir haben das geändert. Wir beteiligen die Kommunen angemessen am Gesetzgebungsprozess. Das sage ich sehr deutlich als kommunalpolitische Sprecherin meiner Fraktion, der FDP. Es freut
mich, dass die Bundesregierung das genauso sieht und
die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien ebenfalls geändert hat, um den kommunalen Spitzenverbänden mehr Mitwirkungsrechte zu geben.
Genauso selbstverständlich war es für uns, die Kommunen beim Umsetzungsgesetz zum Fiskalvertrag, das
wir aktuell im Bundestag beraten, einzubeziehen. Der
Stabilitätsrat, der die Einhaltung der Schuldenbremse
und die Haushalte von Bund und Ländern überwacht,
wird einen Beirat erhalten, in dem auch die kommunalen
Spitzenverbände vertreten sein werden. Die Schuldenbremse im Fiskalvertrag umfasst auch die Kommunen.
Die Kommunen sind von Sanierungsprogrammen des
Stabilitätsrates potenziell mit betroffen. Deshalb ist
Zu Protokoll gegebene Reden
diese Beteiligung vernünftig und notwendig. Gut, dass
wir im Umsetzungsgesetz übrigens auch festschreiben,
dass die Länder für die Umsetzung der Schuldenbremse
im Bereich der Kommunen verantwortlich zeichnen!
Für mich ist ganz klar: Dort, wo Gesetzentwürfe und
politische Maßnahmen die Interessen der Kommunen
berühren, müssen die kommunalen Spitzenverbände so
in die Gremien eingebunden werden, dass sie dort ihre
Meinung einbringen können. Die Belange der Städte
und Gemeinden sind bei FDP und Union in guten Händen. Deshalb brauchen die Kommunen auch nicht aufgewärmte Anträge der Linken, sondern die kommunalfreundliche Politik der Regierungskoalition.
Nach langwierigen Beratungen, mitunter schwierigen Verhandlungen und auf Druck der Linken hat sich
der Bundestag am 26. April 2012 einstimmig dafür ausgesprochen, den Gemeinden und Gemeindeverbänden
bei Vorlagen, von denen „wesentliche Belange von Gemeinden und Gemeindeverbänden berührt werden“, ein
obligatorisches Recht auf Stellungnahme einzuräumen.
Kommunale Spitzenverbände müssen nun bei allen Anträgen, die seitens der Fraktionen in den Bundestag eingebracht werden, gehört werden. Es kann sich niemand
mehr darum herum mogeln, wie es in der Vergangenheit
oft der Fall war.
Ein Manko dieser Regelung ist indes, dass sie nicht
für Vorlagen - zum Beispiel Gesetzentwürfe - der Bundesregierung gilt. Unserer Forderung, dass dies auch
ausnahmslos für Regierungsvorlagen gelten muss, stellten sich die Fraktionen von CDU/CSU und FDP entgegen. Die Linke hat dem trotzdem zugestimmt, weil es ein
Schritt in die richtige Richtung ist. Allerdings ist die
Linke der Auffassung, dass wir unbedingt den nächsten
Schritt gehen müssen. Daher halten wir auch an den anderen Forderungen in unserem Antrag fest. Wir wollen
ein Kommunalmitwirkungsgesetz.
Die Kommunen brauchen ein verbindliches Mitwirkungsrecht, damit sie ihre Beteiligung notfalls auch einklagen können. Dafür bedarf es einer gesetzlichen Regelung, die sicherstellt, dass Kommunen in allen Phasen
der Entscheidung über ein Gesetzesvorhaben des Bundes beteiligt werden. Es reicht nicht aus, dass kommunale Spitzenverbände nur am Anfang eines Gesetzgebungsverfahren gehört werden. In die dann folgende
Debatte, in der es in der Regel zu Änderungen der Gesetzentwürfe kommt, müssen die kommunalen Spitzenverbände ebenso einbezogen werden. Daher brauchen
wir hier ein geordnetes Verfahren, einen Konsultationsmechanismus, ähnlich wie er in Österreich bereits seit
Mitte der 90er-Jahre erfolgreich angewandt wird. Es
kann und darf nicht im Ermessen einzelner Ministerien
oder Personen liegen, darüber zu befinden, wann und in
welchem Maße Kommunen an Gesetzesvorhaben, die
kommunale Belange berühren, beteiligt werden.
Wir wollen sicherstellen, dass die Kommunen frühzeitig beteiligt werden. Frühzeitig heißt für uns, die kommunalen Spitzenverbände müssen zum frühestmöglichen
Zeitpunkt einbezogen werden, und sie müssen Zeit haben, Vorlagen für Gesetzesvorhaben mit ihren Mitgliedskommunen zu diskutieren. Dies gewährleitstet, dass im
Vorfeld die möglichen Auswirkungen durch die Kommunen selbst bewertet werden können. Nur so kann offengelegt werden, welche finanziellen Folgen einzelne
Gesetzesvorhaben für Kommunen und welche Auswirkungen sie auf das Leben in den Städten, Landkreisen
und Gemeinden haben. Und eine einseitige Lastenverschiebung auf die Kommunen kann verhindert werden.
Auch die Formulierung in Gesetzesvorlagen: „mögliche
finanzielle Auswirkungen sind nicht bezifferbar“, wie
zum Beispiel bei der Änderung des Gesetzes zum Vormundschafts- und Betreuungsrecht, würde der Vergangenheit angehören. Die Umsetzung des genannten Gesetzes führt zu einer Verdopplung des Personalbedarfs
in den Jugendämtern. Die Kosten hierfür müssen die
Kommunen tragen.
Auch heute ist es noch gang und gäbe, dass kommunale Spitzenverbände kurzfristig aufgefordert werden,
zu Gesetzesentwürfen Stellung zu nehmen. Ein Beispiel
hierfür war der Referentenentwurf eines Gesetzes zur
Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, der kurzfristig und mitten in den Osterferien den
kommunalen Spitzenverbänden zur Abstimmung zugesandt wurde.
Mit dieser Praxis muss Schluss sein. Im Übrigen ist es
schon bemerkenswert, wenn immer häufiger externe Unternehmen an Gesetzen mitwirken, aber kommunale
Spitzenverbände - wenn es um Belange der Kommunen
geht - um eine Mitwirkung ringen müssen. Allein im
Jahr 2009 wurden 16 Gesetze verkündet, an denen externe Unternehmen mitgewirkt haben. Im Zeitraum von
1990 bis 1999 war es gerade mal ein Gesetz. Insgesamt
wendeten die Ministerien über 4 Millionen Euro für die
Mithilfe an Gesetzen durch externe Berater auf.
Während also externen Unternehmen und Beratern
alle Türen offenstehen, wenn es um die Erarbeitung von
Gesetzentwürfen geht, stehen die Kommunen vor einer
fast verschlossenen Tür. Sie werden nur unzureichend an
der Gesetzgebung beteiligt, und das vor dem Hintergrund, dass 80 Prozent der Bundesgesetze Kommunen
ausführen müssen.
Eine Änderung dieses Zustandes erreichen wir nur,
wenn kommunale Spitzenverbände ein gesetzlich verankertes Mitwirkungsrecht erhalten. Bei allen Fortschritten, die es hier in der jüngsten Vergangenheit gegeben
hat, halten wir an dieser Forderung fest und stehen
damit auch an der Seite der Kommunen. Im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Rechtsetzung“ der Gemeindefinanzkommission ist vermerkt: „Die kommunalen
Spitzenverbände halten an der Auffassung fest, dass eine
Verankerung von Beteiligungsrechten in der Rechtsetzung im Kontext des Art. 28 Abs. 2 GG der Stellung der
Kommunen im föderalen Staatsgefüge angemessener
wäre als deren Berücksichtigung auf Geschäftsordnungsebene.“
Die Linke ist der Auffassung, dass durch ein verbindliches Mitwirkungsrecht der kommunalen Spitzenverbände Gesetze an Qualität gewinnen, weil die konkreten
Erfahrungen aus der Praxis der Umsetzung der Gesetze
Zu Protokoll gegebene Reden
berücksichtigt werden können. Wir hätten nicht nur bessere Gesetze, wir könnten uns auch eine Vielzahl von
Korrekturen und Änderungen im Nachhinein ersparen.
Ich bitte sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag.
Der Bund spart bei der Arbeitsmarktpolitik, die Länder versuchen den Fiskalpakt einzuhalten, der dringend
notwendige Kitaausbau ist überfällig, aber nicht ausfinanziert. Diejenigen, die vor Ort Politik machen, müssen letztendlich die Umsetzung und die finanziellen Lasten schultern. Für Bürgermeister oder Landräte wird die
Redensart, den Letzten beißen die Hunde, schnell zum
Alltag.
Woran liegt das? Auf den ersten Blick genießen die
Kommunen einen hohen verfassungsrechtlichen Schutz.
Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes hält fest:
„Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein,
alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im
Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der
Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen
Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.“
Die Gemeinden haben das Recht, eigene Regeln zu
verantworten, sich selbst zu verwalten und ihnen stehen
Einnahmen aus eigenen Steuern zu. Das hört sich doch
gut an. Leider ist die Realität vor Ort eine andere. Wie
viel sind solche Rechte wert, wenn andere Gebietskörperschaften der kommunalen Familie Pflichtaufgaben
aufzwingen und bisherige Einnahmen absenken können? Anhörungs- und Mitwirkungsrechte der Kommunen bei solchen Entscheidungsfindungen sind gesetzlich
nicht vorgesehen.
Ergebnis: Nach der Meinung der Kommunen kräht
kein Hahn. Dass es auch anders geht, zeigt die Rolle der
Länder bei wichtigen Entscheidungen. Die Anhörungsund Zustimmungsrechte der Länder im Bundesrat zwingen den Bund zu Kompromissen.
Niemand fordert heute eine vergleichbare Machtposition für die Kommunen. Allerdings ist eine Aufwertung
der bisherigen kommunalen Teilhabe zwingend notwendig. Die mangelnde Mitwirkung hat sogar die erfolglose
Gemeindefinanzkommission entdeckt. So hält die Arbeitsgruppe „Rechtssetzung“ fest: Die kommunalen Spitzenverbände sollen möglichst zeitlich vor Interessenvertretungen an Rechtsetzungsvorhaben beteiligt werden.
Auch soll die Möglichkeit einer Kostenfolgenabschätzung von Bundesgesetzen für Kommunen geprüft werden.
Spätestens die beiden Aussagen müssen doch auch
den letzten Zweifler von einer besseren Einbindung der
Kommunen überzeugen. Es spricht doch Bände:
Die kommunalen Spitzenverbände werden bisher genau wie Interessenverbände behandelt.
Erstens. Bund und Länder können Steuerrechts- oder
Sozialrechtsänderungen beschließen, ohne irgendeine
Information über finanzielle Auswirkungen für die Kommunen zu besitzen.
Zweitens. Der vorliegende Antrag der Linksfraktion
zielt auf diese Schwachstellen ab. Die Forderung nach
verbindlichen Mitwirkungsrechten für Kommunen sind
notwendig. Die Festschreibung von solchen Rechten ist
dabei der richtige Weg. Darauf haben auch wir Grüne
im Rahmen der Debatte der Gemeindefinanzkommission
gedrängt. Wir müssen einfach den Status quo überwinden: Die Beteiligung der Kommunen darf nicht mehr im
Ermessen des Gesetzgebers liegen, sondern muss durch
ein gesetzlich garantiertes Mitwirkungsrecht ersetzt
werden. Außerdem überlässt der Antrag die genaue Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte der Bundesregierung.
Deshalb stimmen wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, diesem Antrag zu.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4726, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1142 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005
- Drucksache 17/10041 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/11363 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Manuel Höferlin
Dr. Konstantin von Notz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir haben heute einen Gesetzentwurf vor uns liegen,
bei dem ich eigentlich davon ausgegangen bin, dass dieser ohne größere Diskussionen sogar interfraktionell
verabschiedet werden könnte. So kann man sich täuschen. Selbst die Verlängerung eines zunächst nüchtern
klingenden Gesetzes, wie die des Mikrozensus, scheint
die Opposition in Unruhe zu versetzen und für strittige
Abstimmungen zu sorgen.
Warum brauchen wir dieses Gesetz? Es gibt einen
schönen Satz: „Politik beginnt mit der Betrachtung der
Realität.“ Genau darum geht es beim Mikrozensus. Um
die Betrachtung der Realität. Diese soll nun mit einem
bestehenden und dem Grunde nach bewährten Gesetz
nicht bis Ende dieses Jahres, sondern bis 2016 fortgesetzt werden. Angesichts der politischen und rechtlichen
Probleme, mit denen seit den 1980er-Jahren die Volkszählung in Deutschland zu kämpfen hatte, ist der Mikrozensus mittlerweile zur zentralen Informationsquelle für
die Erstellung öffentlicher Statistiken geworden.
Im Gegensatz zu einer Volkszählung werden beim
Mikrozensus nur nach bestimmten Zufallskriterien ausgewählte Haushalte beteiligt. Die Anzahl der Haushalte
wird so gewählt, dass die Repräsentativität der Ergebnisse statistisch gesichert ist. Der Mikrozensus dient
dazu, die im Rahmen von umfassenden Volkszählungen
erhobenen Daten in überschaubaren Zeitabständen mit
klar definiertem organisatorischem Aufwand zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.
Für die Praxis bedeutet das, dass für vier weitere
Jahre wie bisher auch jährlich 800 000 Bürgerinnen und
Bürger zu Auskünften auf Fragen verpflichtet werden,
wobei jede Befragung ungefähr eine halbe Stunde dauert. Zudem werden weitere 200 000 Bürgerinnen und
Bürger zur Beantwortung weiterer Fragen verpflichtet,
deren Beantwortung nur rund 15 Minuten dauert. Es
handelt sich insgesamt also um nur 1 Prozent unserer
Bevölkerung, der Gewinn durch die Befragung ist aber
gewaltig. Die Ergebnisse des Mikrozensus betreffen
aber uns alle, ganz besonders jedoch uns in der Politik
Tätigen. Für unsere politischen und wirtschaftlichen
Planungen, ebenso für die wissenschaftliche Forschung,
brauchen wir verlässliche Daten, nicht nur darüber, wie
viele Menschen in Deutschland in welchen Städten und
Gemeinden leben, sondern ebenso darüber, beispielsweise welche Bildungsabschlüsse diese Menschen haben oder welchen Beruf sie ausüben, ob sie davon leben
können, in welchen Verhältnissen sie wohnen.
Für mich, in meiner Funktion als Integrationsbeauftragter der Unionsfraktion besonders interessant ist der
Abschnitt „Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsdauer“.
Für eine passgenaue Integrationspolitik ist es von entscheidender Bedeutung, genau zu wissen, wer bei uns
lebt, woher die Menschen kommen und ob Sie die deutsche Staatsangehörigkeit bereits angenommen haben.
Für jedes Projekt, für jede Regelförderung werden
Mittel aus dem Haushalt aufgrund dieser Zensusdaten
errechnet.
Unser Mikrozensus ist mit seinen Ergebnissen darüber hinaus europapolitisch mittlerweile eigentlich
zwingend. Inhaltlich ist er verknüpft mit der Arbeitskräftestichprobenerhebung der EU. Die entsprechende
Verordnung der EU (VO ({0}) Nr. 577/98 des Rates vom
9. März 1998 zur Durchführung einer Stichprobenerhebung über Arbeitskräfte in der Gemeinschaft ({1})) sieht Lieferverpflichtungen für Deutschland vor, die ohne den Mikrozensus nicht mehr erfüllt
werden können.
Dieses Gesetz gilt es heute zu verlängern, um 2016,
also später als im Mikrozensus 2005 ursprünglich vorgesehen, ein modernisiertes Gesetz zu verabschieden.
Die Gründe dafür liefert die ebenso einfache wie einleuchtende Begründung des Gesetzentwurfs, der nichts
hinzuzufügen ist: Die Ergebnisse des Zensus 2011 sind
für eine sinnvolle Justierung des Mikrozensus entscheidend. Diese werden allerdings erst voraussichtlich im
Jahr 2014 vorliegen. Die Volkszählungsdaten bilden den
Auswahl- und Hochrechnungsrahmen des Mikrozensus,
der, um künftig noch genauer und zielgerichteter eingesetzt zu werden, nach der Auswertung der Ergebnisse
des Zensus 2011 angepasst werden muss.
Darüber hinaus soll künftig alle zehn Jahre ein europäischer Zensus stattfinden. Hier gilt es für uns zuvor
noch zu klären, welche Daten künftig durch diesen Zensus abgedeckt werden und welche Daten dann noch unser eigenes Instrument des Mikrozensus beisteuern soll
und kann.
Zum Dritten laufen derzeit im Statistischen Bundesamt konzeptionelle Überlegungen zur Weiterentwicklung des Systems der Haushaltsstatistiken. Auch diese
Ergebnisse werden für den Mikrozensus zu berücksichtigen sein.
Wir würden - auch dies beschreibt die Begründung
des Gesetzentwurfes -, sollte der Mikrozensus nicht vor
Ablauf dieses Jahres verlängert werden, in den rechtlichen und am Ende auch tatsächlichen Stand von 1957
zurückfallen. Das Ergebnis wäre: Wir würden keine
Daten über die Bevölkerungsstruktur, wirtschaftliche
und soziale Lage der Bevölkerung, über Familien und
Haushalte, Erwerbstätigkeit, Arbeitssuche, Ausbildung,
Wohnverhältnisse erhalten, nach denen wir unsere Politik mit ausrichten können, und wir können auch keine
Daten mehr den Parlamenten in Bund, Ländern und Europa zur Verfügung stellen.
Nicht nur viele gute Gründe sprechen für ein einstweiliges Beibehalten des Mikrozensus 2005, auch gibt es
keine ernsthaft in Betracht zu ziehende Alternative. Deshalb empfehle ich auch der Opposition, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Der Mikrozensus wird seit 1957 als Haushaltsstichprobe über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt
durchgeführt. Seine Hauptaufgabe ist es, umfassende,
aktuelle und zuverlässige Daten über die Bevölkerung
bereitzustellen. Dabei geht es um die Bevölkerungsstruktur, die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung, Familien und Haushalte, Erwerbstätigkeit, Arbeitssuche, Ausbildung und Wohnverhältnisse.
Diese Daten sind eine wichtige Grundlage für Entscheidungen der Parlamente, Regierungen und Verwaltungen in Bund und Ländern. Auch für Wissenschaft und
Forschung, Wirtschaft und andere politische und gesellschaftliche Institutionen sind sie eine wichtige Informationsquelle.
Jedes Jahr werden 800 000 Bürgerinnen und Bürger
befragt, also 1 Prozent der Bevölkerung. Die Befragten
müssen dafür jeweils etwa eine halbe Stunde Zeit aufwenden. Grundsätzlich besteht für diese Erhebungen
Auskunftspflicht. Allerdings sind einige Merkmale von
Zu Protokoll gegebene Reden
der Pflicht ausgenommen: So sind zum Beispiel Auskünfte über Wohn- und Lebensgemeinschaft oder vermögenswirksame Leistungen freiwillig.
Die Mikrozensusdaten erlauben es, Veränderungen
der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse schnell
festzustellen und auch längerfristige Entwicklungen zu
untersuchen. Für politische Entscheidungen sind solche
Daten eine unverzichtbare Grundlage. Nehmen wir das
Beispiel demografischer Wandel: Die niedrige Geburtenrate und zunehmende Kinderlosigkeit rücken immer
mehr in den Fokus öffentlicher und politischer Debatten. Wie genau wird sich unsere Bevölkerungsstruktur
verändern? Wie können wir mit dem demografischen
Wandel umgehen?
Um diese Fragen zu beantworten, brauchen wir Daten, die unter anderem durch den Mikrozensus erhoben
werden. Wesentliche Kriterien für Berechnungen zur
künftigen Entwicklung der Bevölkerung sind zum Beispiel Veränderungen des Anteils der Frauen mit bzw.
ohne Kinder und die Gesamtzahl der Kinder einer Frau.
Ohne solche Angaben lassen sich keine sinnvollen
Planungen zum Beispiel zur langfristigen Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme machen. In Verbindung
mit weiteren Angaben wie Ausbildung und Erwerbstätigkeit können wir Ansatzpunkte für familienpolitische
Maßnahmen erkennen - oder die Wirkung von Maßnahmen etwa zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Aufgrund dieser Argumente sind wir uns einig, dass
eine Weiterführung des Mikrozensusgesetzes notwendig
ist. Wir verlängern das Gesetz heute um vier Jahre bis
2016. Die befristete Verlängerung hat ihren Sinn darin,
dass in regelmäßigen Abständen überprüft werden soll,
ob die Datenerhebung ergänzt oder verändert werden
soll.
Bei der letzten Verlängerung wurde zum Beispiel eingeführt, dass nicht nur die aktuelle Staatsangehörigkeit
der Befragten erfasst wird, sondern auch die vorherige,
sofern vorhanden. Dadurch wurde es möglich, die Bevölkerungsstruktur und Integration von Migranten und
Migrantinnen genauer zu beschreiben. Vorher tauchte
der Migrationshintergrund dieser Menschen in der Statistik nicht mehr auf. Nunmehr kann die Gruppe der Eingebürgerten separat ausgewiesen werden. Da über die
Einbürgerung eine formale Integration erfolgt, lässt
dies Rückschlüsse auf die Integrationsbereitschaft dieser Bürger und Bürgerinnen zu. Ein weiterer Befund der
Forschung in diesem Bereich ist, dass Eingebürgerte
günstigere sozioökonomische Merkmale aufweisen. Hier
fallen also positive Beispiele der Integration auf, die
vorher so nicht sichtbar waren.
Insofern werden wir das Mikrozensusgesetz auch in
vier Jahren wieder auf den Prüfstand stellen. Bis dahin
muss die Arbeit des Statistischen Bundesamtes auf einer
gesetzlichen Grundlage weiter gewährleistet werden.
Das tun wir heute mit Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das 2005
verabschiedete Mikrozensusgesetz verlängert. Die Laufzeit endet dieses Jahr und wird nun auf 2016 ausgeweitet. Und ich freue mich, dass wir zum ersten Mal seit langem wieder die Zeit finden, dieses wichtige Thema zu
debattieren; denn auch ein Mikrozensusfortschreibungsgesetz wirft Fragen auf. Wird der Datenschutz ausreichend berücksichtigt? Ist die Auskunftspflicht das richtige Mittel, um die Daten für den Mikrozensus zu
erheben? Ist eine solche Befragung überhaupt zeitgemäß?
Um Sie nicht allzu sehr auf die Folter zu spannen:
Die Antwort auf all diese Fragen lautet „Ja!“. Die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern hatten bereits in den vergangenen Jahren keine Einwände gegen
das Gesetz geäußert. So viel Einmütigkeit ist - gerade
bei einem so sensiblen Thema - selten und erfreulich.
Auch halte ich die Auskunftspflicht im Rahmen des
Mikrozensus für gerechtfertigt. Die Befragung ist eine
der wichtigsten in Deutschland und liefert zentrales Datenmaterial über Haushalte und Familiensituationen.
Für die Planung der Sozialpolitik und für die Dokumentation des demografischen Wandels ist sie unerlässlich.
Die Daten, die mit dem Mikrozensus erhoben werden
sind, daher auch ungemein wichtig.
Und damit habe ich auch schon die halbe Antwort auf
die dritte Frage gegeben: Selbstverständlich ist der Mikrozensus zeitgemäß, da das erhobene Datenmaterial
für wichtige Planungen bereitliegen muss und die
Grundlage für die Zukunftsplanungen darstellt.
Sehr geehrtes Präsidium, sehr geehrte Damen und
Herren, mit dem Mikrozensusgesetz haben wir in den
letzten sieben Jahren sehr gut wichtige Informationen
gewinnen können, und - abgesehen von einigen wenigen
Korrekturen im Jahr 2007 - es gab keinen Anlass, dieses
Gesetz einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen.
Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Mit dem hier heute zur Abstimmung stehenden
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 soll die erneute Verlängerung des Mikrozensus um weitere vier Jahre beschlossen werden.
Das Gesetz aus dem Jahre 2005, das die Durchführung des Mikrozensus bis zum Jahre 2012 vorgesehen
hatte, wurde bewusst befristet, „um regelmäßig das
Erhebungsverfahren prüfen und die Merkmale an den
aktuellen Informationsbedarf anpassen zu können“. Von
einer Prüfung des Erhebungsverfahrens und dessen
Ergebnissen ist allerdings bislang nichts bekannt geworden. Auf diesen Punkt komme ich später noch einmal
zurück.
Die heute zur Abstimmung stehende Änderung besteht zwar lediglich in der Ersetzung der Jahreszahlen
„2012“ durch „2016“ - weitere Änderungen sind diesmal nicht vorgesehen -, hat aber durchaus weitreichende Auswirkungen. So heißt es im Erläuterungsteil
des Gesetzes:
Zu Protokoll gegebene Reden
„Wie bisher werden daher jährlich 800 000 Bürgerinnen und Bürger zu Auskünften auf Fragen verpflichtet, deren Beantwortung je Fall rund eine halbe Stunde
dauert. Zudem werden jeweils 200 000 Bürgerinnen und
Bürger zu Auskünften auf weitere Fragen verpflichtet,
deren Beantwortung rund 15 Minuten dauert.“
Das klingt offenbar in Ihren Ohren relativ harmlos,
ist es unseres Erachtens aber nicht. Denn wenn man sich
der Beantwortung der Fragen verweigert, wird man mit
Zwangsgeldern von bis zu 5 000 Euro bzw. Beugehaft
bestraft.
Meine Fraktion hatte bereits das Ausgangsgesetz abgelehnt, weil seine Notwendigkeit nach unserer Meinung
und der Auffassung vieler Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler nicht konkret nachgewiesen, der Umfang der
Datenabfrage ausufernd und teilweise unverständlich
bis diskriminierend gewesen ist. Letzteres - beispielsweise die Abfrage der Geburtenfolge bei Frauen oder
Religionsgemeinschaften - ist zwar freiwillig anzugeben, die Abfrage wird dadurch aber nicht plausibler.
Kritisch beurteilen wir auch, dass der Bürgerinitiative „Arbeitskreis Zensus“ im Rahmen ihres Engagements zur letzten Volkszählung, dem „Zensus 2011“, offenbar eine Reihe von Berichten über unwürdige
Befragungspraktiken im Rahmen des Mikrozensus zugetragen wurden und dies zumindest keine öffentlich wahrnehmbare Diskussion, geschweige denn eine Änderung
der kritisierten Praxis, zur Folge hatte. Der Arbeitskreis
warnte in seiner Stellungnahme vom Sommer 2012
ebenfalls vor einem „bürokratischen Automatismus der
alle vier Jahre stattfindenden Verlängerung der Gesetzesgrundlage“.
Richtig ist, dass von einer unabhängigen und gründlichen Überprüfung der Erhebungsverfahren und Merkmale sowie ihrer entsprechenden Anpassung bislang
nichts bekannt geworden ist. Dies ist schon extrem verwunderlich. Denn es hätten sich ja durchaus Möglichkeiten ergeben können, auf bestimmte Daten zu verzichten oder die Verfahren zu vereinfachen.
Immerhin werden beim 59 Seiten langen Fragebogen
des derzeitigen Mikrozensus 200 Fragen und zahlreiche
detaillierte persönliche Angaben zwangsweise abgefragt. Aus bürgerrechtlicher Sicht wäre also eine Überprüfung des Erhebungsverfahren insbesondere hinsichtlich seiner Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit,
selbst wenn es durch die Befristung nicht eh vorgesehen
wäre, unbedingt angebracht. Aber wie gesagt, von einer
Überprüfung war und ist keine Rede bei Ihnen.
So scheinen diese Fortsetzung der Zwangserhebung
und das Bekenntnis zu einer Überprüfung für die Bundesregierung reine Formalitäten zu sein - ein Verfahren,
das den tatsächlichen Belastungen nicht gerecht wird.
Denn es geht dabei nicht um die von der Regierung und
dem Normenkontrollrat penibel ausgerechnete zeitliche
Belastung für jede Bürgerin und jeden Bürger, sondern
um die Belastung durch massive Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht. Darüber hinaus ist
auch die Kostenverteilung - der Bund trägt mit
2 105 070 Euro gerade einmal ein Zehntel der Kosten
der Länder in Höhe von 21 610 193 Euro - nicht so ganz
einleuchtend ohne einen Nachweis der Nützlichkeit.
Die Befristung hätte für alternative Überlegungen
und Verfahren zur Bedarfsplanung genutzt werden können - daran bestand und besteht offensichtlich aufseiten
der Bundesregierung keinerlei Interesse.
Oder warum wurden keine Ergebnisse von Überprüfungen der Verfahren und des Datenumfanges im Parlament ausführlich diskutiert? Auch ist nicht bekannt, ob
und wenn ja welche Änderungen in dem neuaufgelegten
Fragebogen für die Jahre bis 2016 vorgenommen wurden und welche Veränderungen des Hochrechnungsrahmens sich nach dem Zensus 2011 ergeben haben und
inwiefern der Mikrozensus daran gegebenenfalls angepasst wurde. Wir wissen ebenfalls nicht, welche Überlegungen im Statistischen Bundesamt zur Weiterentwicklung des Systems der Haushaltsstatistiken angestellt
werden.
Allein schon aufgrund dieser mehr als unbefriedigenden Informationslage könnten wir diesem Anschlussgesetz nicht zustimmen. Solange kein klarer und verständlicher Nachweis über Sinn, Nützlichkeit und
Verhältnismäßigkeit der Befragungen vorgelegt worden
ist, muss der Mikrozensus ausgesetzt werden. Wir erwarten außerdem, dass den Vorwürfen der Bürgerrechtler
über einen unwürdigen Umgang der Statistikämter mit
den Befragten nachgegangen wird und es, sollten sich
die Berichte bestätigen, auch zu entsprechenden Konsequenzen kommt.
Ein Staat, der auf unwillige Bürgerinnen und Bürger
bei solchen Fragen mit der Androhung von Verwaltungszwang reagiert, bekommt vielleicht irgendwann irgendwelche Auskünfte - beliebter werden solche Maßnahmen dadurch aber nicht, und auch die Verlässlichkeit
erzwungener Auskünfte bleibt zweifelhaft.
Meine Fraktion wird daher dem Gesetz heute hier
nicht zustimmen.
Die Angaben des Mikrozensus versorgen uns mit so
segensreichen Erkenntnissen wie zum Beispiel, dass in
Hamburg jede 20. Wohnung leer steht, dass fast die
Hälfte der Informatikerinnen und Informatiker im klassischen Familienalter kinderlos sind oder die wirklich
triste Aussicht, wonach die Bundesrepublik Deutschland
die weltweit niedrigste Geburtenrate von nur acht Kindern auf 1 000 Einwohner aufweist.
Die neuesten Erkenntnisse des jährlich erscheinenden Statistischen Jahrbuches, das vergangenen Monat
vorgestellt wurde und uns Deutschen aktuell bescheinigt, nach Japan die zweitälteste Gesellschaft der Welt
zu sein, stammen aus dem Mikrozensus.
Gerade weil der präventive, der vorsorgende und
auch auf Nachhaltigkeit und komplexe Steuerungskonzepte setzende Staat nur effektiv sein kann, wenn er über
laufend aktuelle Zahlen zur Bevölkerung verfügt, gewinnt das Statistikwesen an Bedeutung. Wer wie die
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren
auf der Grundlage von Demografieberichten mit den
Folgen schrumpfender Erwerbsbevölkerung, der zunehmenden Alterung und dem Kinderschwund zu rechnen
hat, kann auf die Statistik nicht verzichten. Darüber haben wir bereits im vergangenen Jahr hinlänglich im
Rahmen der Debatte um den Zensus 2011 diskutieren
können.
Der Mikrozensus stellt die Grundlage unserer Erkenntnisse dar; er ist gewissermaßen der kleine Bruder
der bei uns nur selten erfolgenden großen Zensen. Alljährlich sind eine beachtliche Anzahl von circa einer
Million Bundesbürgern mit den umfänglichen Fragenkatalogen der Statistikbehörden konfrontiert, denen sie
nicht ausweichen können. Denn die Teilnahme an den
Interviews oder auch wahlweise Ausfüllung der Fragebögen ist bußgeldbewehrt.
Die oft besonders weit das Privatleben berührenden
Fragen etwa nach dem Einkommen, nach den familiären
Verhältnissen oder der Ausbildung stellen ohne Zweifel
- völlig unabhängig von ihrer konkreten Weiterverarbeitung - aufgrund der Zwangslage der Auskunftspflicht einen schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz dar.
Genau diese Konflikte haben die Volkszählungsproteste der 1980er-Jahre ausgelöst. Viele Grüne haben
diese Bewegung mitgetragen, und sie zählt sicherlich als
bürgerrechtliches Großereignis bis heute zu einer der
Wurzeln des grünen Selbstverständnisses. Im Kern geht
es dabei um die Sicherung der informationellen Selbstbestimmung des Einzelnen. Selber wissen und so weit als
möglich auch mit entscheiden zu können, wer was wann
über einen erfährt und was dann mit diesem Wissen gemacht werden darf, das zählt heute zum Kern des Datenschutzes, so wie ihn auch die grüne Partei gemeinsam
mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Gruppen erstritten hat.
Dank des tatsächlich wegweisenden Volkszählungsurteils von 1983 wurden genaue Vorgaben gemacht, die
den Gesetzgeber bis heute beschäftigen und binden. Das
Mikrozensusgesetz basiert auf diesen Vorgaben. Es dient
dazu, diese Vorgaben zum Schutz der Bürgerinnen und
Bürger gegen eine überbordende staatliche Datenerhebung, und sei sie auch nur zu statistischen Zwecken, sicherzustellen.
Die Aufsichtsbehörden für den Datenschutz in den
Ländern berichten alljährlich von Bürgerinnen und Bürgern, die sich mit Beschwerden auch gegen den Mikrozensus an sie wenden. Das derzeit in Kraft befindliche,
wie seine Vorgänger zeitlich befristete Mikrozensusgesetz von 2005 enthält zwar nicht mehr sämtliche
Einzelfragen im Gesetz selbst, sondern enthält Fragenkomplexe, die dann im späteren Verordnungswege konkretisiert werden dürfen. Gleichwohl besteht an dieser
Verfahrensweise trotz der teilweisen Zurücknahme des
strikten Gesetzesvorbehalts ein berechtigtes Interesse
der Flexibilisierung, um eben möglichst aktuelle, besonders zielgerichtete Fragenkomplexe entwerfen zu können.
Die Bundesregierung hat sich mit dem vorgelegten
Gesetzentwurf entschieden, das bisherige Mikrozensusgesetz um weitere vier Jahre zu verlängern. Sie räumt in
der Begründung durchaus ein, dass sich das Statistikwesen im Umbruch befindet. Denn die Ergebnisse des Zensus 2011 werden für 2014 erwartet und könnten und sollten auch Auswirkungen auf den Mikrozensus haben.
Außerdem werden entsprechende Vollzensusverfahren gemäß EU-Verordnung zukünftig alle zehn Jahre erfolgen. Man könnte vor diesem Hintergrund theoretisch
deshalb wohl auch den Verzicht auf den Mikrozensus bis
zur weiteren Klärung oder eine kürzere, eine grundrechtsschonendere Befristung um lediglich zwei Jahre
ins Auge fassen. Der Preis wäre dann allerdings wohl
die Lückenhaftigkeit der Statistik für diese Zeiträume.
Zu bedenken bleibt zudem, dass sich die Fragebögen des
Zensus 2011 und die Fragebögen des Mikrozensus keinesfalls umfänglich überschneiden, sondern durchaus
unterschiedlich angelegt sind.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die Radikalkritik bezüglich des Mikrozensus eingehen. Ohne Zweifel
muss auch das Mikrozensusverfahren im Fokus des Datenschutzes bleiben. Grundlegende Schutzprinzipien
müssen gewahrt und willkürliche Ausdehnungen und Erweiterungen der Fragen verhindert werden.
Doch muss angesichts des hohen Verrechtlichungsgrades, der wirklich sehr dichten Begleitung des gesamten Prozesses durch die Aufsichtsbehörden und den nur
wenigen konkreten Beschwerdefällen trotz der bereits
seit vielen Jahren stattfindenden Befragungen festgestellt werden, dass bei diesem Thema aktuell nicht die
Front der rechtspolitischen Auseinandersetzung verläuft. Wir haben wahrlich andere Großbaustellen zu
bewältigen, wie schon der ebenfalls für diese Sitzungwoche aufgezeigte Debattenpunkt zur EU-Datenschutzreform zeigt. Wir sollten deshalb in unserem Einsatz für
die Bürgerrechte auch klare Prioritäten zu setzen. Das
Mikrozensusverfahren zählt zu den weitgehend geregelten und ganz überwiegend zufriedenstellend verlaufenden Datenerhebungen unseres Staates, das insoweit
auch Vorbild sein kann für andere Bereiche. Diese Erkenntnis sollte uns gleichwohl nicht davon abhalten, in
der Auswertung der Ergebnisse des Zensus 2011 kritisch
nachzufragen, auf welche Weise die Anzahl der Betroffenen und der Umfang der Fragen weiter reduziert werden
kann, damit das Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung weiter reduziert werden kann.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11363, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10041 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten,
Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf
ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 sowie Zusatzpunkt 7 auf:
25 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Tom
Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Soziale und ökologische Offenlegungspflichten
für Unternehmen regeln
- Drucksachen 17/9567, 17/11229 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Serkan Tören
Volker Beck ({2})
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Karin Roth ({3}), Elvira
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Transparenz für soziale und ökologische Unternehmensverantwortung herstellen - Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von
Arbeits- und Umweltbedingungen auf europäischer Ebene einführen
- Drucksache 17/11319 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Die Reden werden zu Protokoll genommen. - Alle
sind einverstanden.
Manchmal hat man das Gefühl, dass man als Verbraucher sowieso nichts ausrichten kann, wenn einem
etwas nicht passt, zum Beispiel wenn einem nicht gefällt,
mit welchen zum Teil zweifelhaften Methoden große,
meist global agierende Konzerne ihre Waren produzieren und verkaufen.
Einerseits gibt es die Verbraucher, die sich über die
als ungerecht empfundenen Produktionsmethoden in
Entwicklungsländern ärgern, durch welche die Umwelt
geschädigt oder Mitarbeiter ausgebeutet werden. Meistens nehmen sie die Missstände jedoch hin. Sie zucken
mit den Schultern und sagen sich: „So ist das eben. Daran kann man nichts ändern!“
Gleichzeitig gibt es aber auch die Verbraucher, die
ihre geballte Verbrauchermacht einsetzen und Macht
auf große Konzerne und manchmal sogar ganze Länder
ausüben - wenn sie sich zusammentun und den Mut haben, offen gegen das zu protestieren, was ihnen missfällt.
Verbraucherproteste und -boykotte, meist unterstützt
durch das Engagement politischer Aktionsgruppen, haben schon häufiger dazu geführt, dass Unternehmen ihre
Produktionsmethoden überdacht und geändert haben.
Diese Verbrauchermacht muss gestärkt werden, besonders auch im Rahmen der sozial-ökologischen Standards. Ich bezweifle jedoch, ob diese Verbrauchermacht
durch staatlichen Zwang gestärkt werden kann.
Meistens binden verpflichtende Berichtssysteme Ressourcen, die die Unternehmen für eine bessere CSR einsetzen könnten. Die Opposition fordert dies in ihrem Antrag. Mir ist der Gedanke jedoch nicht konsequent zu
Ende gedacht, daher schlage ich im Rahmen der Aufgaben der Bundesregierung eher folgendes Vorgehen vor:
Erstens. Die Menschenrechte müssen in den Formulierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in einem eigenen Kapitel behandelt werden. Es ist zu diskutieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares
Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie
möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens ausgeweitet werden können.
Zweitens. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche
Sanktionsmechanismen für deutsche Unternehmen aussehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich
halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen mit nicht nachhaltigem Wirtschaften von staatlichen Förderinstrumenten für eine Zeit lang ausgeschlossen werden.
Drittens. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die
Zuständigkeiten über die OECD-Leitsätze im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich
von dem Referat trennen, das auch gleichzeitig für die
Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit
dort entstehenden Interessenskonflikte dürfen nicht sein
und untergraben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die
Bundesregierung die Leitlinien umsetzen will.
Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an
dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschutzes
für Geschädigte gegenüber den internationalen Unternehmen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang
kommen die Instrumente der deutschen Entwicklungspolitik und die Arbeit der deutschen Stiftungen im Ausland
ins Spiel. Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt
Rechtsberatung als einen Schwerpunkt der gemeinsamen Entwicklungspolitik mit unseren Partnerländern in
Regierungsverhandlungen verankern muss.
Grund ist, dass oftmals deutsche Unternehmen, selbst
wenn sie es wollten, keine Handhabe haben, Sozialstan24848
dards in den produzierenden Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssysteme vor Ort kein Arbeitsrecht
kennen. Daher wäre es auch nicht gerecht, dass deutsche und internationale Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationalen Gerichten angeklagt werden können. Es muss auch in der Selbstverantwortung
der Partnerländer liegen, ein Arbeitsrecht zu schaffen,
das es den Arbeitern vor Ort ermöglicht, Recht erst mal
im eigenen Land zu erhalten.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO,
die Arbeitsorganisation der UN, in die Pflicht nehmen,
endlich ihre internationalen Ansätze nachhaltiger und
rechtlich einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden die
zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnormen
in den Partnerländern nicht ernst genommen, da die
rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffassung,
dass wir auch hier einen neuen internationalen Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen finden
müssen.
Abschließend ist somit zu sagen, dass wir alle die
Chancen in Fragen der Unternehmensverantwortung
erkennen müssen. Wir müssen internationale Verträge
neu justieren und der Wirtschaft vor Augen führen, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR erhalten.
Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lauten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstandards zwischen importierenden deutschen und internationalen Unternehmen geben darf.
Die Bundesregierung nimmt sich dieser Maxime an,
es ist der moralische Anspruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu folgen.
Das Thema „Menschenrechte und Unternehmensverantwortung“ ist in den letzten Jahren zu Recht in den
Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Bereits 2011 wurden
mit der Revision der OECD-Leitsätze und der Annahme
der Guiding Principles von Ruggie, dem VN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Wirtschaft,
durch den VN-Menschenrechtsrat wichtige Signale für
mehr Unternehmensverantwortung gesendet. Des Weiteren steckten die Erklärung der ILO über multinationale
Unternehmen und Sozialpolitik, der Global Compact
der Vereinten Nationen und der VN-Sozialpakt einen
Rahmen für menschenrechtskonformes unternehmerisches Handeln ab. Daneben existieren eine Reihe freiwilliger Initiativen der Wirtschaft zur Einhaltung von
Menschen- und Arbeitnehmerrechten zur nachhaltigen
Entwicklung und zur Beachtung von Umweltfaktoren.
Sie werden mit dem Begriff Corporate Social Responsibility, oder kurz: CSR, zusammengefasst.
CSR beinhaltet nur freiwillige Maßnahmen bzw.
Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Sie werden von
Betrieb zu Betrieb unterschiedlich oder gar nicht angewandt. CSR wird nicht überprüft; auch Sanktionen sind
nicht vorgesehen.
Sie können verbindliche Standards höchstens ergänzen oder den Weg hin zu verbindlichen Standards vorzeichnen. Verbindliche Standards und Normen sind zum
Beispiel gewerkschaftlich erstrittene tarifliche Vereinbarungen und Arbeitnehmerrechte, die nicht nur den
Betrieb binden, sondern für jeden einzelnen Betriebsangehörigen gelten und einklagbar sind. So schützen sie
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer
Bezahlung, ihres Rechts auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Urlaub, Absicherung usw. und vor Diskriminierung.
Es gibt aber noch weitere Gründe, die für verbindliche soziale und ökologische Offenlegungspflichten von
Unternehmen sprechen. Ökologische und soziale Auswirkungen unternehmerischen Handelns berühren nämlich fast immer auch den Bereich der Menschenrechte.
Wenn Ureinwohnern beispielsweise durch sogenanntes
Landgrabbing ihre Lebensgrundlage entzogen wird,
verletzt dies ihre Menschenrechte sogar in existenziellem Sinne.
Ebenso können die Rodung von Wäldern, die Verseuchung ganzer Fluss-Systeme durch Industrie oder fehlende Nachhaltigkeit ganze Bevölkerungsgruppen ihrer
Menschenrechte berauben. Schlechte Entlohnung, fehlende Gesundheitsfürsorge und gesundheitsgefährdende
Arbeitsbedingungen verletzen Menschenrechte sogar in
erheblichem Umfang.
Wir begrüßen daher die im Antrag geforderten sozialen und ökologischen Offenlegungspflichten für Unternehmen. Neben der Offenlegungspflicht für finanzwirtschaftliche Daten wird die gesetzliche Pflicht für die
Offenlegung der sozialen und ökologischen Produktionsbedingungen die Transparenz unternehmerischen
Handelns in erheblichem Umfang erhöhen, besonders
wenn, wie im Antrag gefordert und soweit möglich, auch
die Lieferkette mit einbezogen wird. Gerade Verbraucherinnen und Verbraucher haben das Recht, zu erfahren, unter welchen Bedingungen Waren hergestellt wurden. Es ist sicherlich vernünftig, dabei den Kapazitäten
kleiner und mittlerer Unternehmen Rechnung zu tragen.
Wichtig ist - das hat der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Menschenrechte und Wirtschaft,
Ruggie, immer wieder zu Recht betont -, dass neben die
verbindlichen Pflichten vor allem Sanktionsmöglichkeiten und ein ausgeprägter Schutz der Opfer treten müssen. Von Menschenrechtsverletzungen betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen einen
wirksamen Rechtsweg beschreiten können, der ihnen
nebst einer Anerkennung des erlittenen Unrechts auch
Hilfe und Wiedergutmachung gewährt.
Längst haben viele Unternehmen erkannt: Transparenz über Produktionsbedingungen auch entlang der
Wertschöpfungskette zahlt sich aus. Gute Unternehmensführung und Nachhaltigkeit sind absatzfördernd,
da kritische Verbraucherinnen und Verbraucher zunehmend solche Informationen nachfragen und zur Grundlage ihrer Kaufentscheidung machen. Verbindliche
Offenlegungspflichten würden ihre Position und ihren
Einfluss weiter stärken.
Unternehmen, die ihre Offenlegungspflichten verletzen und damit womöglich Menschenrechtsverletzungen
decken oder vertuschen wollen, müssen auch mit SankZu Protokoll gegebene Reden
tionen im Falle nachgewiesener Menschenrechtsverletzungen belegt werden können.
Die vorliegenden Anträge verfolgen einen sinnvollen
Weg, den wir seitens der SPD begrüßen und unterstützen
werden.
Ich freue mich, dass wir heute gemeinsam über die
gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen debattieren - vor allem über die Vorschläge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, nach welchen
Regeln diese von der Wirtschaft wahrgenommen werden
soll. Ich halte die Debatte in unserem Hause für dringend notwendig und hätte mir eine lebhafte Diskussion
darüber gewünscht - statt einer Rede für das Protokoll.
Ich hoffe, wir haben an anderer Stelle dazu noch Gelegenheit.
Die Frage der unternehmerischen Verantwortung ist
eine ganz grundlegende, entscheidende Frage. Im Kern
geht es darum: Soll die Wirtschaft für die Menschen da
sein, oder ist es etwa umgekehrt der Fall?
Wenn ich immer wieder Berichte lese, wie Menschen
rund um die Welt ausgebeutet werden oder sogar betriebsbedingt verunglücken, wie Gewerkschaftsrechte
mit Füßen getreten werden und wie vielerorts die Umweltzerstörung voranschreitet, habe ich erhebliche Zweifel daran, dass die Wirtschaft den Menschen dient. Das
betrifft auch europäische und deutsche Konzerne, in deren Lieferketten bereits schlimme Fälle bekannt geworden sind.
Wenn in Pakistan eine ganze Fabrik abbrennt und
250 Menschen darin verbrennen, die auch für den deutschen Textildiscounter KiK produziert haben, ist das
mehr als erschütternd. Offensichtlich wurden dort keinerlei Arbeitsschutzmaßnahmen für die Beschäftigten
getroffen. Es gab keine Notausgänge, und die Fenster
waren vergittert. Das ist nicht hinnehmbar! Es muss im
Interesse jedes Unternehmens sein, solche Missstände in
der eigenen Produktions- bzw. Zulieferkette zu verhindern. Mehr noch: Es muss in der Verantwortung der Unternehmen liegen, sorgfältig zu prüfen, unter welchen
sozialen und ökologischen Bedingungen ihre Produkte
hergestellt werden.
Die im Juni 2011 verabschiedeten UN-Leitprinzipien
für Wirtschaft und Menschenrechte legen Unternehmen
diese Sorgfaltspflicht auf, die über die eigenen Unternehmensaktivitäten hinausgeht und Geschäftspartner und
andere Akteure in der Wertschöpfungskette einbezieht.
Als SPD-Fraktion begrüßen wir die - vor fast genau einem Jahr veröffentlichte - neue EU-Strategie für die
soziale Verantwortung der Unternehmen. Die EU-Kommission bekennt sich damit zum ersten Mal zu verpflichtenden Vorschriften zur Förderung der Transparenz und
erwartet insbesondere von großen Unternehmen, eine risikobasierte Sorgfaltsprüfung bis in die Lieferketten vorzunehmen.
Transparenz ist das entscheidende Stichwort: Den
Verbraucherinnen und Verbrauchern hilft es doch nicht,
wenn sie von einigen Unternehmen in Hochglanzbroschüren lesen, was Gutes auf den Weg gebracht wurde.
Denn erstens wissen die interessierten Konsumenten
damit noch nicht, ob es an anderer Stelle der Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens soziale oder ökologische
Probleme gibt, die natürlich nicht in einem freiwilligen
CSR-Bericht des Unternehmens auftauchen würden.
Zweitens können die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen Vergleich zu anderen Unternehmen vornehmen. Wichtig wäre zu wissen, wie sich alle bekannten
Firmen einer bestimmten Branche, wie zum Beispiel
Sportartikelhersteller, verhalten.
Drittens kann es ohne klare Regeln für Transparenz
auch zur Irreführung der Kunden kommen: So hatte Lidl
2010 mit einem Versprechen geworben, faire Arbeitsbedingungen bei Textilzulieferern in Bangladesch zu garantieren. Erst aufgrund einer Klage der Verbraucherzentrale Hamburg infolge einer Untersuchung der
Arbeitsbedingungen vor Ort musste Lidl seine Werbung
kleinlaut zurückziehen.
Fehlende Transparenz ist auch für die vorbildlichen
Unternehmen ein Problem, wenn sie durch Lohndumping und schlechte Arbeitsbedingungen in anderen Unternehmen von diesen preislich unterboten werden können. Der Preis ist doch heute für potenzielle Kunden die
einzige überprüfbare vergleichbare Größe.
Das wollen, das müssen wir ändern! Von der Bundesregierung haben wir hier - wie so oft - leider nichts zu
erwarten, vor allem nichts Gutes. Schwarz-Gelb gefällt
sich in der Rolle als größter Bremsklotz auf EU-Ebene
für die aktuellen Pläne der Kommission, für echte Transparenz und verbindliche Unternehmensverantwortung
zu sorgen. Wir wollen der lahmen Bundesregierung mit
unserem Antrag Beine machen, damit wir hier in
Deutschland und Europa endlich vorankommen.
Wir fordern, dass Unternehmen verpflichtet werden,
Informationen zu sozialen und ökologischen Aspekten
ihrer Geschäftstätigkeit vorzulegen, und zwar nach einheitlichen Standards, wahrheitsgemäß und vollständig und auch im Rahmen ihrer Verantwortung für die Wertschöpfungs- und Lieferkette. Es muss öffentlich werden,
wo Niedriglöhne gezahlt werden, wie viele Arbeitsunfälle passieren, wie Kinderarbeit verhindert wird, ob Betriebsräte vorhanden sind. Genauso liegt es im öffentlichen Interesse, Angaben zum Flächenverbrauch von
Agrarbetrieben oder die Menge abgebauter Rohstoffe zu
erhalten.
Wir flankieren diese Offenlegungspflichten mit einem
Verbandsklagerecht. Denn bei Verstößen gegen die
wahrheitsgemäße und pflichtgemäß vollständige Offenlegung müssen Verbraucherverbände oder auch Gewerkschaften die Möglichkeit haben, dagegen vorzugehen. Wichtig ist, dass die Unternehmensinformationen
geprüft und im Anschluss veröffentlicht werden. Dies
soll durch unabhängige Prüfgesellschaften - ähnlich
wie Wirtschaftsprüfer heute, aber mit Know-how im sozialen und ökologischen Bereich - erfolgen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Ziel muss, darauf aufbauend, ein Auditierungsund Zertifizierungssystem sein, mit einheitlichen Standards und europaweit gültig. Dann können Verbraucherinnen und Verbraucher besser vergleichen und sich für
faire und nachhaltige Produkte entscheiden.
Klar ist auch: Kleine und mittlere Unternehmen dürfen wir nicht überfordern. Sie sollen in einer ersten
Phase ausgenommen sein und später angemessen in die
Offenlegung von Informationen einbezogen werden, gerade wenn es sich um risikoreiche Branchen wie Textilunternehmen handelt.
Ich freue mich, dass die Grünen sich ebenfalls für die
geforderte Transparenz aussprechen. Auch wenn in ihrem Antrag viele Prüfaufträge enthalten sind, schließen
wir uns diesem gerne an. Wir brauchen Transparenz mit
vergleichbaren und verbindlich einzufordernden Informationen. Nur so ist ein fairer Wettbewerb um nachhaltige Handels- und Produktionsbedingungen möglich,
und nur so dient die Wirtschaft tatsächlich den Menschen.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen fordert die Bundesregierung auf, strenge Offenlegungspflichten zu sozialen und ökologischen Aspekten
der Geschäftstätigkeit von Unternehmen in Zukunft gesetzlich festzuschreiben. Im Falle eines Verstoßes soll
über mögliche Sanktionsmechanismen nachgedacht
werden. Die Bundesregierung wird außerdem erneut
dazu aufgerufen, sich auch weltweit verstärkt für umfassende Offenlegungspflichten einzusetzen.
Die Forderungen der Grünen sind nicht neu. Ganz im
Gegenteil: Ähnliche Sachverhalte haben wir bereits
mehrfach debattiert und sie mit guten Gründen stets abgelehnt. Diese guten Gründe ignorieren die Grünen allerdings vollständig. Ihr Antrag blendet zudem sämtliche Fortschritte aus, die bislang auf internationaler
Ebene errungen wurden. Aber der Reihe nach.
Der inhaltliche Kern des Antrags - die soziale und
ökologische Verantwortung von Unternehmen zu stärken - ist ein zentrales Anliegen der FDP. Über den Weg
dorthin lässt sich jedoch streiten.Der große Sprung in
unbekanntes Terrain, wie ihn die Grünen vorsehen, birgt
die Gefahr, zurückrudern zu müssen. Ein Ansatz auf freiwilliger Basis, wie ihn die Liberalen vertreten, stellt hingegen sicher, dass der Prozess kontinuierlichen Fortschritts nicht ins Stocken gerät. Vor allem zeigt das
Vorhaben der Grünen ein mangelndes Verständnis für
die Entwicklung unserer heutigen Wirtschaftstrukturen.
Das Hauptproblem liegt dabei in der Definition von Verantwortung und Pflichten von Unternehmen, die in unserem Land tätig sind und waren. Jahrzehntelang wurden
Pflichten gegenüber anderen Akteuren als den jeweiligen Anteilseignern nämlich kaum eingefordert.
Seitdem haben sich Unternehmen jedoch zunehmend
zu verantwortungsbewussten Partnern des Staates und
der Gesellschaft entwickelt. Sie haben aus eigener
Initiative heraus ein verstärktes Bewusstsein für die weitergefassten sozialen und ökologischen Auswirkungen
ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten geschaffen. Die Übernahme von ökologischer und sozialer Verantwortung
entwickelt sich zunehmend zum Wettbewerbsvorteil. Änderungen in Bezug auf die Offenlegungs- und Kontrollpflichten eines Unternehmens, wie sie von den Grünen
gefordert werden, würden daher höchstens einen enormen bürokratischen und finanziellen Mehraufwand darstellen. Vor allem in Anbetracht der starken Wirtschaftsleistung mittelständischer Unternehmen und ihres
bereits großen freiwilligen Engagements im Bereich sozialer und ökologischer Verantwortung, ist es fraglich,
ob sich eine zusätzliche gesetzliche Regelung nicht eher
kontraproduktiv auf die bereits erzielten Fortschritte
auswirkt und eine zu hohe Belastung darstellt. Unternehmen brauchen flexible Regelungen, um soziale und
ökologische Verantwortung nachhaltig als einen Teil ihrer Unternehmenskultur und -identität zu etablieren.
Solche Regelungen müssen in erster Linie auf supranationaler Ebene verfolgt werden, um Wettbewerbsnachteile und Standortverlagerungen ins Ausland zu verhindern.
Dass dieser Prozess bereits an Fahrt aufgenommen
hat, zeigt sich an der zunehmenden Akzeptanz internationaler Initiativen für stärkere soziale und ökologische
Pflichten seitens der Unternehmen. Konkret meine ich
damit die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, den Runden Tisch Verhaltenskodizes, die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschrechte der Vereinten
Nationen, die Modernisierungsrichtlinie der EU sowie
die Reform der Transparenzrichtlinie auf europäischer
Ebene. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Unternehmen diesen Vorschriften angeschlossen und sich
freiwillig zu verantwortlicherem Handeln verpflichtet,
das oftmals sogar über eine reine Offenlegungsverpflichtung hinausgeht. Wir sollten uns also eher dafür
einsetzen, die bereits vorhandenen freiwilligen Initiativen zu stärken, als uns unbedacht in gesetzliche Experimente zu stürzen. Das spart nicht nur Zeit und Geld,
sondern bringt uns dem eigentlichen Ziel, soziale und
ökologisch nachhaltige Unternehmensstrukturen zu
stärken, entscheidend näher.
Freiwilligkeit ist und bleibt die bessere Alternative
um das gesellschaftliche Umdenken zu unterstützen und
zugleich die Wettbewerbsfähigkeit und Existenz von Unternehmen zu sichern. Nur so kann kontinuierlicher
Fortschritt sichergestellt werden, besonders im Bereich
der Menschenrechte ist das der einzig vernünftige Weg.
Den Antrag der Grünen lehnen wir deshalb ab.
Die Forderung, durch Transparenz Öffentlichkeit und
damit demokratische Kontrolle von Aktivitäten transnational arbeitender Unternehmen zu schaffen, ist richtig.
Die Fraktion Die Linke unterstützt deshalb den Antrag,
fordert aber gleichzeitig die Einführung von verbindlichen und konkreten Mindeststandards für international
arbeitende Konzerne. Unverbindliche Selbstverpflichtungen der Unternehmen, Transparenzrichtlinien und
unverbindliche internationale Abkommen werden die
sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen nicht
verbessern. Deshalb hätten wir uns gewünscht, dass in
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Antrag auch verbindliche und vor allem individuell
einklagbare Mindeststandards für Unternehmen gefordert werden. Wir werden den Antrag trotzdem unterstützen, da Transparenz eine wichtige Voraussetzung für
Gegenwehr und Protest ist.
Die Liberalisierung des internationalen Handels, der
in den letzten 25 Jahren von allen Bundesregierungen
unterstützt wurde, hat zu immer mehr Macht der internationalen Konzerne geführt. Viele der großen, börsennotierten transnationalen Konzerne haben Jahresumsätze,
die das Bruttoinlandsprodukt mittelgroßer Staaten deutlich übersteigen. So hat zum Beispiel Wal Mart als umsatzstärkstes Unternehmen der Welt einen Jahresumsatz
von fast 410 Milliarden Dollar und beschäftigt etwa
2,1 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Royal Dutch Shell und Exxon Mobil erwirtschaften
beide fast 290 Milliarden Dollar pro Jahr. Das größte
deutsche Unternehmen, die Volkswagen AG, hat einen
Jahresumsatz von fast 150 Milliarden Dollar. Nur 21 der
wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt haben ein größeres Bruttoinlandsprodukt als Wal Mart. Länder wie
Norwegen, Schweden, Venezuela oder Österreich haben
ein geringeres Bruttoinlandsprodukt als diese Unternehmensgiganten. Es ist notwendig, diese zunehmende
Macht der großen Konzerne zu kontrollieren und über
ihre Aktivitäten größtmögliche Öffentlichkeit herzustellen.
Seit vielen Jahrzehnten versuchen entwicklungspolitische und menschenrechtliche Initiativen und
Organisationen durch Kampagnen diese Öffentlichkeit
herzustellen. Alle Kampagnen fordern ebenfalls eine
verbindliche Veröffentlichungspflicht der Unternehmen
über die sozialen, menschenrechtlichen und ökologischen Auswirkungen ihres unternehmerischen Handelns.
Beispiel: Clean-Clothes-Kampagne. Die „Kampagne
Saubere Kleidung“ engagiert sich seit vielen Jahren für
die Einhaltung von ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen Mindeststandards in den Unternehmen
der Bekleidungsindustrie. Mit Aktionen zu KiK, Aldi,
Lidl und der Sport- und Outdoor-Branche haben sie Informationen über die Hersteller und Handelsunternehmen aus diesen Bereichen gesammelt und öffentlich gemacht. Es ist der „Kampagne Saubere Kleidung“ zu
verdanken, dass große Unternehmen wie Puma und Adidas einen Teil ihrer Verbindungen mit Zulieferern öffentlich machen und erste innerbetriebliche Zertifizierungen
aufgebaut haben. Die Kampagne betont, dass die Herstellung von Öffentlichkeit ein zentraler Baustein für die
Veränderung der Unternehmenspolitik ist. Nur wenn die
Kundinnen und Kunden die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen der Zulieferer, die Einschränkung von
Menschenrechten und die katastrophalen ökologischen
und arbeitsrechtlichen Standards der Unternehmen kennen, können sie Druck auf die Konzerne, zum Beispiel
durch Kaufverzicht, ausüben.
Beispiel: Bankenkampagne. Die Kampagne „Bankwechsel jetzt!“ klärt über die Geschäfte von Großbanken auf. Sie stellt Öffentlichkeit über die Finanzierung
von Atomanlagen, Finanzierung von Rüstungsproduktion, Landgrabbing und über die Spekulation mit Nahrungsmitteln her.
Banken und Versicherungen sind im großen Stil an
Landgrabbing beteiligt. In Deutschland werden über
30 verschiedene Fonds angeboten, die direkt oder über
Firmenbeteiligungen Landgrabbing unterstützen und
eine Geldanlage in Landflächen unterstützen. Die Fonds
hatten im Jahr 2010 ein Gesamtvolumen von mehr als
5,2 Milliarden Euro. FIAN weist in einer Studie darauf
hin, dass allein die Fondgesellschaft der Deutschen
Bank DWS etwa 300 Millionen Euro in Unternehmen investiert hat, die mehr als 3 Millionen Hektar Ackerland
in Südamerika, Afrika und Südostasien kontrollieren.
Damit wird Land den Menschen in den betroffenen Ländern entzogen, das dann nicht mehr der Produktion von
Nahrungsmitteln für den eigenen Bedarf zur Verfügung
steht.
Beispiel: Rüstungsexport. Die „Aktion Aufschrei Stoppt den Waffenhandel!“ weist darauf hin, dass jede
Minute ein Mensch an den Folgen einer Gewehrkugel,
einer Handgranate oder einer Landmine stirbt. Allein
durch Gewehre und Pistolen der Waffenschmiede
Heckler & Koch haben in den letzten 60 Jahren mehr als
eine Million Menschen ihr Leben verloren.
Ziel der Kampagne ist, Alternativen zur Rüstungsproduktion durchzusetzen. Die Aktion klärt über Rüstungsaktivitäten großer Unternehmen wie Daimler AG, Siemens oder Deutsche Bank auf. Die Kampagne fordert
„eine grundsätzliche Veröffentlichungspflicht aller geplanten und tatsächlich durchgeführten Exporte von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern durchzusetzen, um öffentliche Diskussionen und parlamentarische
Entscheidungen überhaupt zu ermöglichen“.
Beispiel: Landgrabbing. Verbände wie FIAN,
INKOTA, urgewald, NaturFreunde und GRAIN decken
international die Folgen von Landgrabbing auf. In vielen Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas werden
riesige Landflächen an internationale Investoren verkauft und Menschen von ihrem zum Teil seit Jahrhunderten genutzten Land vertrieben. Durch verbindliche Register sollen alle internationalen Akteure bekannt
gemacht werden, Verträge veröffentlicht und soziale und
ökologische Folgen der Landdeals öffentlich werden.
Transparenz und Öffentlichkeit sind auch für sie wichtige Grundlagen, um in Europa oder den betroffenen
Ländern Investitionen verhindern oder zumindest kritisch begleiten zu können.
Beispiel: Lidl-Kampagne von Verdi. Am 10. Dezember 2004, dem Tag der Internationalen Menschenrechte,
veröffentlichte die Gewerkschaft Verdi das „SchwarzBuch Lidl“, das auf gravierende soziale und arbeitsrechtliche Defizite bei dem Discounter hinwies. Mit einer Öffentlichkeitskampagne wurde der Discounter gezwungen, sich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen
und zum Teil Veränderungen herbeizuführen. Auch Verdi
hat betont, dass Öffentlichkeit und Information Grundvoraussetzungen für gesellschaftlichen Druck sind.
Beispiel: „Handel gegen den Frieden“. Die kürzlich
veröffentliche Publikation von europäischen kirchlichen
Zu Protokoll gegebene Reden
Hilfswerken und Menschenrechtsorganisationen „Handel gegen den Frieden: Wie Europa zur Erhaltung
illegaler israelischer Siedlungen beiträgt“ prangert
europäische Firmen an, die gegen internationales Völkerrecht verstoßen, indem sie Produkte aus illegalen israelischen Siedlungen nicht als solche kennzeichnen.
Stattdessen werden sie mit dem Label „Made in Israel“
versehen. Damit unterstützen Firmen wie zum Beispiel
Heidelberg Cement oder Veolia die völkerrechtswidrigen und menschenrechtsverletzenden Praktiken im Rahmen der fortgesetzten Besatzung palästinensischer Gebiete.
Eine der Hauptforderungen der kirchlichen Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen ist die Kennzeichnungspflicht von Produkten, die in den illegalen
Siedlungen gefertigt wurden. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 25. Februar 2010 entschieden, dass das Vorgehen der Zollbehörden, Waren aus
den Siedlungen die Präferenzbehandlung zu verweigern,
rechtmäßig ist und dass die in den völkerrechtswidrigen
Siedlungen produzierten Waren keinen Anspruch auf
EU-Zollvergünstigungen haben.
Die britische Regierung hat bereits 2009 Richtlinien
zur Kennzeichnung eingeführt; die dänische Regierung
kündigte im Mai 2012 ähnliche Richtlinien an. Da sich
Firmen zunehmend zu internationalen Rahmenbedingungen der Corporate Social Responsibility, CSR, bekennen, haben sich etliche Firmen, wie zum Beispiel die
Deutsche Bahn, aus den besetzten Gebieten zurückgezogen.
Diese Beispiele zeigen auf, dass verbindliche soziale
und ökologische Offenlegungspflichten für Unternehmen einen wichtigen Beitrag für gesellschaftlichen
Druck und die Arbeit von Gewerkschaften, NGOs und
Betroffenen darstellen. Deshalb unterstützt die Fraktion
Die Linke ausdrücklich die Forderung nach einer gesetzlichen Verpflichtung der Unternehmen, die sozialen,
menschenrechtlichen und ökologischen Auswirkungen
ihres unternehmerischen Handelns offenzulegen.
Transnationale Unternehmen haben mitunter ganz
konkreten Einfluss auf Menschenrechtsverletzungen,
nehmen an diesen teil oder profitieren von ihnen. Dies
betrifft auch Unternehmen, die in Deutschland und der
EU ihren Sitz haben oder hier einen Großteil ihres Umsatzes erwirtschaften. Es ist seit jeher eines der Kernanliegen grüner Politik, diese Verletzungen der Menschenrechte sowie der ökologischen und sozialen Standards zu
beenden.
Wir Grüne haben an die Bundesregierung eine Kleine
Anfrage zu den Arbeitsbedingungen in Indien gerichtet.
Die Antwort mit der Drucksachennummer 17/11222 ist
frustrierend. Es geht in der Anfrage in erster Linie um
das sogenannte Sumangali-System. In der tamilischen
Sprache beschreibt das Wort Sumangali eine glückliche
Braut oder eine Braut, die Wohlstand bringt. Um Wohlstand geht es tatsächlich, aber gewiss nicht um den der
Bräute. Es geht um ein Geschäft, das in Spinnereien im
Süden Indiens beginnt und von den dortigen Textilfabriken bis in deutsche Kleidergeschäfte führt.
Beim Sumangali-System im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu geht es letztlich um die Versklavung
junger Frauen. Eltern geben die Mädchen in die Obhut
von Textilfabriken, in denen sie dann ihre eigene Mitgift
verdienen müssen. Drei Jahre lang werden die Mädchen
„ausgebildet“; sie werden aber tatsächlich wie Gefangene gehalten und ausgebeutet. In der Regel bekommen
sie monatlich nur ein Taschengeld von etwa 20 Euro.
Wird der Bonus von 500 bis 800 Euro nach Ablauf des
Vertrags überhaupt gezahlt, wandert er direkt in die Taschen der Familie des Bräutigams. Laut Terre des
Hommes gehört das Sumangali-System zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Der Bundesregierung ist
dieses Problem bewusst. Das gibt sie in der Antwort auf
unsere Anfrage zu. Möglichkeiten, die Produkte der
Sklavenarbeit von deutschen Ladentischen zu verbannen, sieht sie aber praktisch nicht. Denn wörtlich antwortet sie: „Es besteht keine rechtliche Verpflichtung
der deutschen Unternehmen ihre Bezugsquellen anzugeben.“ Ihr lägen daher keine Informationen darüber vor,
welche deutschen Unternehmen unter solchen Umständen produzieren lassen und in Deutschland verkaufen.
Schwarz-Gelb setzt bei Fragen der Offenlegung und
Transparenz bei unternehmerischem Handeln einzig und
allein auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Auch in dieser
Debatte werden Union und FDP wieder einmal darauf
verweisen, dass Freiwilligkeit der einzig richtige Weg
sei. Ich sage ganz deutlich: Spätestens mit dieser Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zu
den Sumangali-Mädchen in Indien hat sich Ihr Dogma
der Freiwilligkeit bis auf die Knochen blamiert. Wenn
nicht einmal die schlimmsten Auswüchse unternehmerischer Tätigkeit im Ausland bekannt gemacht werden
können, dann brauchen wir dringend gesetzliche Regelungen. Die Bundesregierung sieht nichts, hört nichts
und weiß nichts. Nicht einmal das, was Journalisten recherchiert haben. Aber Schwarz-Gelb will offenbar
nichts an diesem Zustand ändern. Wir fordern daher in
unserem hier vorliegenden Antrag die Bundesregierung
auf, Unternehmen gesetzlich zu verpflichten, Informationen zu menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Aspekten ihrer Geschäftstätigkeit zu veröffentlichen.
Auf Ebene der Vereinten Nationen und auch in der
EU hat man längst eingesehen, dass es ohne rechtliche
Verpflichtung nicht geht. Im Jahr 2011 wurden sowohl
die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte
der Vereinten Nationen als auch die neue EU-Strategie
für die soziale Verantwortung der Unternehmen verabschiedet. Damit wurde der langjährige internationale
Streit darüber beendet, ob die weltweite Einhaltung
grundlegender Menschenrechtskriterien durch Unternehmen freiwillig erfolgen oder verbindlich gemacht
werden soll. Beide Vorlagen drängen auf eine Kombination von verbindlichen Regelungen und freiwilligen
Maßnahmen und erkennen an, dass negative soziale und
ökologische Auswirkungen von Unternehmenshandeln
nicht allein auf freiwilliger Basis verhindert werden
können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
Warum die Bundesregierung wider besseres Wissen
dennoch weiterhin dem reinen Prinzip der Freiwilligkeit
anhängt, ist mir schleierhaft. Kleine und mittlere deut-
sche Unternehmen schützt sie dadurch nicht. Denn die
meisten dieser Unternehmen haben überhaupt kein Inte-
resse daran, die deutschen Verbraucher zu täuschen.
Geschützt werden dadurch nur riesige Konzerne wie
H & M, Lidl, KiK oder Metro. Sie verstecken sich hinter
wohlklingenden Strategien zur Corporate Social Res-
ponsibility, kümmern sich aber zum Teil nicht einen Deut
um die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen in den Zu-
lieferbetrieben.
Diese und andere deutsche und europäische Unter-
nehmen verkauften und verkaufen in Deutschland Wa-
ren, die unter teilweise gravierenden Verletzungen der
menschenrechtlichen, ökologischen und sozialen Stan-
dards produziert wurden. Dazu gehören Fälle von Kin-
derarbeit, Fälle, in denen die Löhne unter der absoluten
Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar liegen, und Fälle, in
denen die Arbeiterinnen und Arbeiter aufgrund der Ar-
beitsbedingungen sterben oder schwer erkranken.
Die Textilindustrie sticht dabei heraus; dort ist die Si-
tuation besonders miserabel. Bei einer furchtbaren Feu-
erkatstrophe in einer pakistanischen Textilfabrik starben
im September 2012 mehr als 250 Menschen, weil die
Fenster vergittert und die Türen verriegelt waren, damit
niemand den Arbeitsplatz verlässt. Auch das deutsche
Unternehmen KiK ließ dort produzieren. Die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher erfahren von diesen Miss-
ständen zu wenig. Nur wenn ein besonders drastischer
Skandal aufgedeckt oder eine besonders bekannte
Marke betroffen ist, dringt dies in breite Bevölkerungs-
gruppen durch.
Doch fehlende Offenlegungspflichten belasten auch
jene Firmen, die sich nichts zu Schulden kommen lassen.
Auch im Interesse gleicher Wettbewerbsbedingungen ist
eine gesetzliche Offenlegungspflicht daher notwendig.
Denn die vorbildlichen Unternehmen leiden darunter,
wenn sie im Wettbewerb mit Konkurrenten stehen, die
Lohndumping, Zwangs- und Kinderarbeit sowie die Dis-
kriminierung von Frauen tolerieren. Mehr Transparenz
in der Geschäftstätigkeit nützt daher nicht nur den Men-
schen in den Betrieben. Sie nützt auch den Betrieben sel-
ber und damit der deutschen und europäischen Wirt-
schaft. Zwar sind Berichtspflichten natürlich eine
zusätzliche Aufgabe, die Unternehmen erfüllen müssen.
Doch selbstverständlich wollen wir die Offenlegungs-
pflicht so ausgestalten, dass den Kapazitäten von klei-
nen und mittelständischen Unternehmen ausreichend
Rechnung getragen wird. Die Kosten sind nicht hoch,
und der Verwaltungsaufwand ist nicht groß. Die relevan-
ten Daten werden von der überwiegenden Anzahl der
Unternehmen bereits jetzt erhoben. Es ist auch im Inte-
resse der Betriebe, eine klare Übersicht über menschen-
rechtliche, ökologische und sozialpolitische Bedingun-
gen ihrer Geschäftstätigkeit zu haben.
Multinationale Unternehmen können einen erhebli-
chen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung leisten, wenn
Handel und Investitionen verantwortungsbewusst auch
auf menschenrechtliche, soziale und ökologische Ziele
ausgerichtet sind. Einige, wahrscheinlich sogar die
meisten Unternehmen in Deutschland und Europa tun
dies freiwillig. Die wenigen schwarzen Schafe aber müs-
sen gesetzlich dazu verpflichtet werden, ihre Zuliefer-
und Produktionsketten offenzulegen. Denn wer irrefüh-
rendes Marketing, sogenanntes Greenwashing, verhin-
dern möchte, braucht einheitliche und überprüfbare In-
dikatoren. Diese sind über eine Vielzahl freiwilliger
Kodizes nicht zu erreichen. Das geht nur über klare ge-
setzliche Regelungen. Hier hat die Politik nicht nur eine
Regelungskompetenz, hier hat sie sogar die Pflicht,
menschen- und völkerrechtlichen Standards zur Geltung
zu verhelfen.
In den USA werden durch die Cardin-Lugar-Bestim-
mung des Dodd-Frank-Act von 2010 Öl-, Gas- und
Bergbauunternehmen verpflichtet, ihre projektbezoge-
nen Zahlungen zu veröffentlichen. Das ist zwar nur ein
kleiner Ausschnitt aller Unternehmen, aber immerhin
ein Anfang. In Europa wurden im Oktober 2011 die Re-
formen der Transparenzrichtlinie zur Aufnahme börsen-
notierter Unternehmen und der Rechnungslegungsricht-
line zur Aufnahme großer nicht börsennotierter
Unternehmen veröffentlicht. Dies wurde auch als euro-
päischer Dodd-Frank-Akt bezeichnet. Europäische Un-
ternehmen, die in der Mineralgewinnung und der Forst-
wirtschaft tätig sind, sollen demnach Zahlungen
offenlegen, die sie an Regierungen für den Zugang und
Abbau von Erdöl, Erdgas, anderen Bodenschätzen und
Wald zahlen.
Während sich EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich
und Großbritannien auf europäischer Ebene für eine
verpflichtende Offenlegung im Rohstoffsektor eingesetzt
haben, blockiert die Bundesregierung nach wie vor
diese Entwicklung. Es ist schon erstaunlich, dass die
USA uns auf diesem Gebiet einen Schritt voraus sind. Es
ist ja positiv, dass etwa das Bundesministerium für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung dem gro-
ßen Komplex Wirtschaft und Menschenrechte mittler-
weile etwas mehr Aufmerksamkeit schenkt; auf der
großen Veranstaltung vor zwei Wochen anlässlich des
ersten Geburtstages des Menschenrechtskonzepts im
BMZ stand dieses Thema im Fokus. Dass die Bundesre-
gierung aber weiterhin alle rechtlichen Verpflichtungen
in diesem Bereich ablehnt, lässt ihr Engagement inkon-
sequent und leider auch etwas unglaubwürdig erschei-
nen.
Es darf einfach nicht sein, dass Waren in Deutschland
gehandelt werden, die unter menschenverachtenden Be-
dingungen wie etwa im Sumangali-System produziert
wurden. Es darf auch nicht sein, dass die hiesige Öffent-
lichkeit noch nicht einmal die Chance hat, dies zu be-
merken. Derzeit werden Verbraucherinnen und Verbrau-
cher, die bewusst handeln wollen, in ihren Handlungs-
möglichkeiten und im Wunsch, sich ethisch vernünftig zu
verhalten, eingeschränkt; denn sie können einfach nicht
in Erfahrung bringen, was woher stammt und wie es
produziert wurde. Ich fordere die Bundesregierung da-
her eindringlich dazu auf, Unternehmen gesetzlich zu
verpflichten, Informationen zu menschenrechtlichen, so-
zialen und ökologischen Aspekten ihrer Geschäftstätig-
keit zu veröffentlichen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11229, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9567 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfrak-
tionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 17/11319 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP wünschen die Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also
die Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? - Das sind Bündnis 90/Die Grünen und
Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Ko-
alitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Enthaltun-
gen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP abstimmen,
also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Sozia-
les. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? -
Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt
dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/10957 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 17/11393 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dorothea Steiner, Jerzy Montag, Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen nach der EGRichtlinie 2003/35/EG ({1})
- Drucksache 17/7888 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
- Drucksache 17/8876 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. - Sie sind damit einverstanden.
Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass
das deutsche Recht derzeit hinter den Anforderungen zurückbleibt, wenn es um die gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten der deutschen Umweltverbände geht. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung räumen wir diese Bedenken aus und billigen den Umweltverbänden wesentlich mehr Klagerechte zu. Bislang
konnten Umweltverbände nur Verstöße gegen Umweltvorschriften geltend machen, die dem Schutz subjektivöffentlicher Rechte dienen. Nun können sie die Verletzung aller umweltrechtlichen Vorschriften rügen.
Den Grünen gehen diese klaren Vorstellungen nicht
weit genug. Wenn es nach ihrem Willen geht, sollen sogar Stiftungen Klageinstrumente an die Hand bekommen. Wir als Regierungskoalition lehnen dies ab.
Um welche Entscheidungen geht es konkret, und welche Entscheidungen können angefochten werden? Es
geht beispielsweise um Genehmigungsentscheidungen
bei Infrastruktur- und Energieprojekten, die einer
Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfen. Der Energieleitungsausbau, der in den kommenden Jahren erforderlich wird, ist davon erheblich betroffen. Es geht um
Offshoreanlagen auf hoher See, deren Bau eine Umweltverträglichkeitsprüfung erfordert. Es geht um Speicherprojekte und vieles mehr. In diesen Fällen kann künftig
beispielsweise eine behördliche Entscheidung auf die
Zielsetzung der FFH-Richtlinie hin gerichtlich überprüft werden. Die Verletzung der Umweltvorschriften
über die Artenvielfalt kann gerichtlich angefochten werden.
Wir wollen bei diesen Projekten den bestmöglichen
Schutz unserer Umwelt, und wir verstehen die Umweltverbände als Interessenschützer unserer Umwelt. Daher
ist es im Grundsatz richtig, dass die gerichtliche
Kontrolle effektiv und umfassend ist. Dies schreibt im
Übrigen auch die Aarhus-Konvention vor, deren Vertragspartei Deutschland ist.
Bereits heute werden zahlreiche Großprojekte gerichtlich angefochten. Dies kann zu erheblichen Verzögerungen führen, die mitunter mit hohen Kosten verbunden sind. Die Industrie und auch die Energiewirtschaft
fürchten durch die Erweiterung der Verbandsklage weitere Verfahrensverzögerungen bei wichtigen Infrastruktur- und Energieprojekten. Dies kann Investitionsunsicherheit bedeuten. Diese wollen wir ausdrücklich nicht.
Deutschland ist Industrieland, und wir wollen, dass
Deutschland Industrieland bleibt. Wir wollen, dass weiterhin wichtige Infrastrukturvorhaben der Wirtschaft in
Deutschland entstehen und Investitionsentscheidungen
am Standort Deutschland getroffen werden. Wir wollen - und das ist Konsens in diesem Hohen Haus -, dass
der Umbau unserer Energieversorgung gelingt.
Wir stehen damit vor dem Erfordernis, den europarechtlichen Anforderungen zu genügen, die ökologischen Notwendigkeiten zu berücksichtigen und gleichzeitig die Bedenken etwa aus dem Bereich der
Wirtschaft - nicht nur vor dem Hintergrund des Umbaus
der Energieversorgung - ernst zu nehmen. Dieses Zieldreieck bringt der vorliegende Gesetzentwurf in Ausgleich.
Wir setzen die europäischen Vorgaben in deutsches
Recht um. Zugleich werden flankierende Maßnahmen
eingeführt, die zu effizienten Verfahren führen sollen.
Insbesondere soll Verzögerungen vorgebeugt werden.
Klagen müssen etwa ausreichend begründet und bestimmte Fristen eingehalten werden. Der behördliche
Beurteilungsspielraum bekommt ein stärkeres Gewicht.
Zugleich werden die Anforderungen an die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen erhöht.
Diese Regelungen werden künftig bei Rechtsbehelfen
auf dem Gebiet des Umweltrechts auch für Individualkläger gelten. Nur so erfüllen wir die europarechtlichen
Anforderungen.
Die Regelungen sollen in der konkreten Ausgestaltung dazu beitragen, dass sich die Rahmenbedingungen
bei Vorhaben, wie zum Beispiel Infrastrukturprojekten
im Energie- oder im Verkehrsbereich, nicht so verändern, dass sich diese kaum noch durchsetzen lassen.
In der Anhörung des Umweltausschusses mit Sachverständigen wurde deutlich, dass diese flankierenden
Maßnahmen europarechtskonform und wichtig sind. Es
wurde sogar geäußert, dass man hätte weiter gehen können. Die flankierenden Maßnahmen sind eine Teilantwort auf die Befürchtung, dass die erweiterten Klagemöglichkeiten zu mehr Investitionsunsicherheit führen.
Ich kann an dieser Stelle daher nur an die Opposition
und den Bundesrat appellieren, diese flankierenden
Maßnahmen zu unterstützen. Im Übrigen greifen wir in
drei unserer Änderungsanträge Anliegen des Bundesrates auf.
Wir werden sehr genau beobachten, wie sich die
neuen gesetzlichen Regelungen in der Praxis auswirken
werden. Wir werden insbesondere beobachten, ob es zu
einer Häufung von Klagen kommt und inwiefern die Gerichte ausreichend ausgestattet sind.
Vor dem Hintergrund der erweiterten Klagebefugnisse müssen wir uns außerdem die Frage stellen: Wie
können wir es schaffen, dass es erst gar nicht zur Klage
kommt? Wie schaffen wir es, sowohl neue Energieleitungsnetze zu bauen als auch die Bürger- und Umweltinteressen zu wahren?
Eine generelle Antwort auf die Sorge, dass es am
Ende der Entscheidungsprozesse zu mehr Klagen und
Verzögerungen kommen könnte, muss heißen: Wir müssen künftig bei wichtigen Infrastrukturprojekten am
Anfang des Entscheidungsprozesses die Betroffenen
stärker einbinden und für Transparenz sorgen. Die
Planungen von Großvorhaben müssen offengelegt, die
Alternativen abgewogen werden, und schlussendlich
muss entschieden werden. Diese Entscheidungen sollten
dann auch Bestand haben.
Ich sage nicht, dass diese Entscheidungen dann
grundsätzlich nicht mehr angefochten werden. Durch
die frühzeitige Einbindung und eine erhöhte Transparenz verringern wir aber die Wahrscheinlichkeit, dass es
überhaupt zu Klagen kommt. Wir können damit auch das
Vertrauen in unsere demokratischen Entscheidungsprozesse und -ergebnisse stärken.
Ich möchte an dieser Stelle eine Aussage Heiner
Geißlers anführen, der als Schlichter beim gefährdeten
Großprojekt Stuttgart 21 hervorragende Arbeit geleistet
hat. Heiner Geißler hat gesagt: „Man kann doch nicht
dauernd in Entweder-Oder-Kategorien denken, sondern
es gibt auch das Denken Sowohl-Als-Auch.“ So ist es.
Durch eine transparente Einbindung der Öffentlichkeit am Anfang des Entscheidungsprozesses ergeben
sich nicht zuletzt neue Möglichkeiten, Kompromisse auszuloten. Wir wollen die Akzeptanz von sinnvollen Vorhaben steigern und eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung
schaffen. Wir wollen, dass die Umwelt geschützt wird
und Deutschland Industrieland bleibt.
Ich kann nur für Ihre Zustimmung zum UmweltRechtsbehelfsgesetz und für diesen Weg werben.
Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
und anderer umweltrechtlicher Vorschriften wird - darüber bin ich sehr betrübt - wohl nicht nur kein Fortschritt in der Beteiligungskultur in der Bundesrepublik
Deutschland erzielt werden. Es wird mit Ihrer Novelle
sogar zu einem Rückschritt bei der Einbeziehung von
Stakeholdern vor Ort kommen. Schlimmer noch: Es wird
zu weitreichenden Eingriffen in geltende Rechtsdogmatiken kommen, die Sie hier und heute in ihren langfristigen Auswirkungen gar nicht erfassen können. In der
Summe wird der unendlichen Geschichte der Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof wegen der unzureichenden Umsetzung völker- und europarechtlicher Vorgaben bei der
Beteiligung von Umweltverbänden und natürlichen Personen an Planungs- und Genehmigungsverfahren einfach ein weiteres Kapitel hinzugefügt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Anhörung im Umweltausschuss hat sehr deutlich
gezeigt, dass es bei den anwesenden Experten und bei
den Berufsverbänden der Verwaltungsrichter und Anwälte massive Bedenken wegen der Einschränkung der
Beteiligungsrechte der anerkannten Umweltverbände
sowie von Einzelpersonen gibt.
Der Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb ist geprägt von
einem tiefen Misstrauen der Wirtschaft und des Wirtschaftsministeriums gegenüber dem Einbringen von
Sachverstand in die Planungs- und Genehmigungsverfahren durch die Verbände. Mit der sechswöchigen Klagebegründungsfrist und der Präklusionsregelung werden
die Hürden für die Verbände unnötig hoch gehängt; zu
der behaupteten Verfahrensverkürzung führt dies nicht.
Darüber hinaus werden durch die Modifizierung der
Verwaltungsgerichtsordnung die Einschränkung und
Verschärfung des gerichtlichen Prüfmaßstabes zugunsten des Vorhabens bezweckt. Besonders problematisch
ist die Regelung hinsichtlich des einstweiligen Rechtsschutzes, wonach dieser nur noch bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Vorhabens gewährt werden soll. Eine Interessenabwägung der Vollzugsfolgen
scheint dagegen überhaupt nicht mehr gewollt zu sein.
Diese Regelungen werden sogar auf den Rechtsschutz
von Individualklägern ausgedehnt. Das ist im Hinblick
auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19
Abs. 4 des Grundgesetzes sehr bedenklich. Selbst in der
Sitzung des Umweltausschusses haben die Berichterstatter der Koalition durch ihre Wortbeiträge dokumentiert, dass sie kein Interesse an einer tiefergehenden
Auseinandersetzung mit dieser rechtlich komplexen Materie besitzen. „Augen zu und durch“ ist die Devise.
Diese Haltung möchte ich an einem Beispiel illustrieren. Frühere Entwürfe der Novelle zum Umweltrechtsbehelfsgesetz sahen Regelungen zu Umweltverträglichkeitsprüfungen beispielsweise im Bereich des Fracking
vor. Obwohl - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - bereits zwei Ihrer Umweltminister über
mehrere Jahre durch die Lande ziehen und versprechen,
gesetzliche Regelungen zum Umgang mit Fracking vorzulegen, wurden die einschlägigen Passagen aus dem
Entwurf herausgestrichen. „Augen zu und durch“, wir
lassen die Unternehmen einfach mal machen und denjenigen, die sich mit ihrem Sachverstand gegen mögliche
Vorhaben aussprechen könnten, verpassen wir einen
Maulkorb!
Die Wirtschaftsverbände und das Wirtschaftsministerium verkennen bei ihrem Kampf gegen die Verbände,
dass gerade die Organisationen vor Ort über große Datenmengen zu Fauna und Flora des von einer Planung
betroffenen Gebiets verfügen, die betroffenen Habitate
sehr gut kennen und daher auch besser geeignete alternative Standorte oder umweltverträglichere Lösungsmöglichkeiten aufzeigen können. Sie können damit einen
konstruktiven Beitrag zur Realisierung eines Projektes
leisten. Ausgrenzung der Verbände statt Kooperation mit
ihnen ist die Maxime der Bundesregierung - eine Vorgehensweise, die nicht von Erfolg gekrönt sein wird: nicht
nur, weil dieses Denken und Handeln überhaupt nicht
dem Sinn und den Buchstaben der Aarhus-Konvention,
den Richtlinien zur Öffentlichkeitsbeteiligung und zum
Zugang zu Gerichten entsprechen, sondern auch, weil
im Jahre 2012 nach den Erfahrungen mit Stuttgart 21
und anderen Großprojekten einfach ein anderer Umgang mit den betroffenen Bürgern und Bürgerinnen und
den Umweltverbänden dringend erforderlich ist. Die
Bundesregierung wird aus Schaden nicht klug, sondern
versucht einfach weiter, Störenfriede möglichst schnell
mundtot zu machen. Dass sich aufgrund einer solchen
Vorgehensweise erst recht Widerstand regen wird und
sich Bürgerinitiativen vor Ort umso stärker engagieren
werden, je öfter man ihnen mit Missachtung begegnet,
scheint in die Überlegungen von Schwarz und Gelb keinen Eingang gefunden zu haben.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns zum Ziel
gesetzt, die Planungs- und Genehmigungsverfahren zu
öffnen und sie den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts
anzupassen. Das dazu erarbeitete Papier, das Bürger
und Verbände bei der Vorhabenplanung auf Augenhöhe
von Anfang an einbezieht, ihre Anliegen ernst nimmt und
das ganze Verfahren transparent und nachvollziehbar
macht, wurde mit großer Zustimmung breit diskutiert.
Durch eine frühzeitige, gleichberechtigte Einbeziehung
aller Stakeholder werden Verfahrensfehler minimiert,
die Verfahren mit geringerer Wahrscheinlichkeit beklagt
und damit insgesamt verkürzt. Man sollte auch erwähnen: Damit wird es insgesamt sehr viel billiger für den
Vorhabenträger. Dieser neue Ansatz bedeutet einen Paradigmenwechsel: weg vom Planen hinter verschlossenen Türen, hin zu einem transparenten, auf Dialog ausgerichteten Verfahren.
Solange die Bundesregierung nicht begreift, dass sich
Bauprojekte nur mit den Bürgerinnen und Bürgern und
den Verbänden und nicht gegen sie realisieren lassen,
und solange sie diese nur als Störfaktor betrachtet und
sie mit gesetzlichen Einschränkungen ihrer Beteiligung
überzieht, werden große Infrastrukturprojekte wie die
Energiewende nur schwerlich zu realisieren sein. Außerdem wird sich die Bundesregierung wohl noch öfter auf
der Anklagebank des EuGH wiederfinden.
Kernpunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die
Umsetzung des sogenannten Trianel-Urteils des EuGH
vom 12. Mai 2011. Darin hat der EuGH die umweltrechtliche Verbandsklage nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz als europarechtswidrig beurteilt, da anerkannte Umweltverbände nur solche Verstöße gegen
Umweltvorschriften geltend machen können, die dem
Schutz Dritter dienen.
Der EuGH hat dies damit begründet, dass nach
Art. 10 a der UVP-Richtlinie, mit dem die Europäische
Union Vorschriften der UNECE Aarhus-Konvention
über den Gerichtszugang in Umweltangelegenheiten
umgesetzt hat, Umweltverbände die Möglichkeit erhalten müssen, die Verletzung aller für die Zulassung von
Vorhaben maßgeblichen Umweltvorschriften gerichtlich
geltend zu machen, die auf dem Unionsrecht basieren.
Anerkannten Umweltverbänden ist danach in Umweltangelegenheiten ein weiterer Zugang zu den Gerichten
Zu Protokoll gegebene Reden
zu gewähren. Es bedarf somit einer Anpassung des deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorgaben.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht eine
Aufhebung dieser Einschränkung vor. Danach können
Umweltvereinigungen künftig Verletzungen aller umweltrechtlichen Vorschriften rügen, auch die Beachtung
eines vorsorgenden Umweltschutzes beispielsweise im
Bereich der Luftreinhaltung und des Artenschutzes. Dies
bedeutet eine deutliche Ausweitung der bisherigen umweltrechtlichen Verbandsklage.
Die Herausforderung bei der Novellierung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes besteht darin, einen Ausgleich zwischen der europarechtlich gebotenen Ausweitung der Verbandsklage und der Umsetzung bzw.
Verfahrensbeschleunigung von dringend notwendigen
Infrastrukturprojekten zu schaffen. Denn es ist zu befürchten, dass durch die Ausweitung der Verbandsklage
die Genehmigungsdauer für Projekte noch weiter zunimmt und auch die Kosten für diese weiter steigen.
Hierdurch könnte für Deutschland ein erheblicher Wettbewerbsnachteil entstehen. Diese Interessen will der
vorliegende Gesetzentwurf gleichermaßen berücksichtigen. Insbesondere soll verhindert werden, dass das Instrument der Verbandsklage in der Praxis zu sachlich
ungerechtfertigten Verzögerungen von Vorhaben instrumentalisiert wird.
Als Ausgleich für die europarechtlich notwendige Erweiterung der umweltrechtlichen Verbandsklage sollen
daher künftig bei Rechtsbehelfen auf dem Gebiet des
Umweltrechts bestimmte verwaltungsprozessuale Regelungen, § 4 a UmwRG, gelten. Diese sollen aus europarechtlichen Gründen nicht nur bei Verbandsklagen, sondern auch bei Individualklagen zur Anwendung
kommen. Diese Maßnahmen sind auch der Knackpunkt
der Differenzen mit der Opposition.
Hierbei handelt es sich zum einen um die Einführung
einer sechswöchigen Klagebegründungsfrist; diese ist
notwendig. Die Umsetzung des Trianel-Urteils wird unbestritten zu einer Ausweitung der Klagerechte anerkannter Umweltvereinigungen führen. Diese können mit
der Novellierung auch vorsorgenden Umweltschutz einfordern, beispielsweise in Bezug auf Luftreinhaltung und
Artenschutz. Diese Ausweitung ist europarechtlich geboten und richtig. Jedoch brauchen wir bestimmte ausgleichende Regelungen. Schon jetzt dauern Planungsund Genehmigungsverfahren in Deutschland zu lange.
Das können wir uns spätestens vor dem Hintergrund der
Umsetzung der Energiewende nicht leisten.
Dabei ist die Einführung einer sechswöchigen Klagebegründungsfrist weder europarechtswidrig noch Sonderrecht außerhalb der Verwaltungsgerichtsordnung,
wie die Opposition behauptet. Denn es gibt diese Klagebegründungsfrist seit Jahren unbeanstandet in vielen
Fachplanungsgesetzen, beispielsweise im Allgemeinen
Eisenbahngesetz und im Bundesfernstraßengesetz. Außerdem ist in dem vorliegenden Gesetzentwurf sogar
eine Möglichkeit zur Verlängerung der Frist durch das
Gericht vorgesehen.
Als weitere verwaltungsprozessuale Regelung wird
der gerichtliche Prüfungsmaßstab gemäß § 80 Abs. 5
VwGO modifiziert, wonach Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Maßnahme bei einer summarischen Prüfung „ernstliche“ sein müssen. Es ist wichtig
und richtig, dass eine solche Modifizierung des Prüfungsmaßstabes im Eilverfahren erfolgt, um rechtssichere und schnelle Entscheidungen herbeizuführen, die
zu Planungs- und Investitionssicherheit für alle Beteiligten führen, auch für den Fall, dass ein Vorhaben nicht
verwirklicht werden kann.
Das beste Beispiel, dass dies mit dem geltenden Prüfungsmaßstab nicht gelingt, ist der Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Oktober zur Elbvertiefung. Hier wurde nach Maßgabe des alten Prüfungsmaßstabes der Ausbau der Elbvertiefung mit drei
Sätzen Begründung abgelehnt. Dies kann aufgrund der
großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung eines solchen Vorhabens nicht richtig sein. Hier
geht es um Planungs- und Investitionssicherheit für
beide Seiten. Es kann weder im Interesse von Investoren
und Planern noch im Interesse der Bürger und der Umweltverbände sein, dass keine ordentliche Interessenabwägung vorgenommen wird und der Ausgang eines solchen Vorhabens offen bleibt und möglicherweise um
mehrere Jahre verzögert wird.
Die Verbandsklage bezieht sich auf nahezu alle industrierelevanten Entscheidungen, wenn mit ihr behördliche Entscheidungen bei UVP-pflichtigen Vorhaben,
Genehmigungen für Anlagen nach einem förmlichen
immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren,
wasserrechtliche Erlaubnisse und Planfeststellungsbeschlüsse für Deponien angegriffen werden können. Dies
zeigt die große praktische Relevanz und Bedeutung dieses Gesetzentwurfs, insbesondere vor dem Hintergrund
der Herausforderungen im Rahmen der Energiewende.
Als liberale Partei wollen wir in Deutschland Vorhaben
verwirklichen und nicht ausbremsen.
Durch die in dem Gesetzentwurf der Grünen auf
Drucksache 17/7888 geforderten Änderungen, die deutlich über die europarechtlichen Anforderungen hinausgehen, würden die Klagemöglichkeiten erheblich ausgeweitet, wodurch Deutschland ein wesentlicher
Wettbewerbsnachteil entstehen würde. Wir wollen Arbeitsplätze in Deutschland halten und neue schaffen.
Dazu benötigen wir Vorhabenträger, die weiterhin in
den Standort Deutschland investieren. Was wir nicht
brauchen, sind Forderungen wie die der Grünen, die
den Wirtschaftsstandort Deutschland und damit Arbeitsplätze gefährden.
Das bedeutet nicht, dass wir die demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürger beschneiden wollen. Die Herausforderungen der Energiewende beispielsweise wollen wir nicht gegen die Bevölkerung, sondern mit ihr
bewältigen. Die bestehenden Klagemöglichkeiten haben
sich dazu als ausreichend und angemessen erwiesen.
Eine über die Vorgaben des EuGH hinausgehende Erweiterung der Klagemöglichkeiten ist nicht erforderlich.
Ziel muss es sein, ein ausgewogenes Maß an demokratischen Mitwirkungsrechten der Bürger auf der einen
Zu Protokoll gegebene Reden
Seite und die Umsetzbarkeit von notwendigen Vorhaben
wie den Netzausbau und den Bau von Speicherkraftwerken auf der anderen Seite zu gewährleisten. Das bestehende Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz leistet hierzu einen
wichtigen Beitrag und ist im Folgenden an die europarechtlichen Vorgaben anzupassen. Diesen Anforderungen wird der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung gerecht.
Ein Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, das, wie von den
Grünen gefordert, die Klagemöglichkeiten noch weiter
ausdehnt, blockiert den dringend notwendigen Netzausbau und damit die Energiewende und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Man kann nicht auf der einen
Seite sagen: „Wir wollen keine Atomkraftwerke“ und
auf der anderen Seite den Ausbau der Trassen, den wir
für den Anschluss und die Leitung des Stroms aus erneuerbaren Energien brauchen, blockieren. Den realitätsfernen und schlechten Gesetzentwurf der Grünen lehnen
wir daher ab; denn wir wollen beides: Umweltschutz
und die Realisierung von Vorhaben.
Was ist das für ein schlechter Gesetzentwurf, den wir
heute hier besprechen, am liebsten würde ich sagen: besprechen müssen? Wäre es nach meiner Fraktion und
nach den beiden anderen Oppositionsfraktionen gegangen, hätte es ohne grundlegende Überarbeitung der Gesetzesnovelle keine dritte Lesung gegeben.
Worum geht es? Es geht um mehr Bürgerrechte in
Umweltfragen, um das Recht auf vollständige Informationen über die Einhaltung von Umweltvorschriften bis
hin zu Klagemöglichkeiten gegen die Beeinträchtigung
der Umwelt auch für kommende Generationen. Die europäischen Länder haben das mit einer Vereinbarung,
der Aarhus-Konvention, 2001 im Völkerrecht verankert.
Erst fünf Jahre später hat der Bundestag dazu ein Gesetz
mit dem sperrigen Namen Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz
verabschiedet. Der eigentliche Sinn des Gesetzes bestand darin, dass Bürgerinnen und Bürger ohne Einschränkungen Verwaltungsentscheidungen, das heißt
die Genehmigung von Großvorhaben mit erheblichen
Umweltauswirkungen, gerichtlich überprüfen lassen
können.
So sollte es sein; so stand es aber nicht im Gesetz. Die
Klage der Umweltverbände beim Europäischen Gerichtshof folgte, und das Urteil fiel eindeutig aus, wenn
auch erst im Mai 2011. Bei dem Spiel auf Zeit ging der
Punkt an die Bunderegierung. Aber nun muss nachgebessert werden!
Schlechtes Timing, denn gerade jetzt will der Bundeswirtschaftsminister eben einmal für eine ungewisse Zeit
das Naturschutzrecht außer Kraft setzen; es gehe
schließlich um Wirtschaftswachstum. Das wirkt, Kolleginnen und Kollegen, populistisch und auch wenig
kompetent. Außerdem ist die Angst des Bundeswirtschaftsministers vor einer Klagewelle und der daraus
resultierenden Zeitverzögerung für Großvorhaben völlig
unbegründet. Die Zahl von Klagen gegen Umweltbeeinträchtigungen nimmt ab und ist mit weniger als 1 Prozent bei den anhängigen Verwaltungsrechtsverfahren
verschwindend gering. Die Erfolgsrate liegt allerdings
mit rund 40 Prozent über dem Durchschnitt.
Trotzdem, was tut die Bundesregierung? Sie ignoriert
komplett das Urteil des Europäischen Gerichtshofs und
schränkt die Bürgerrechte im Gesetzentwurf noch zusätzlich ein, statt sie zu erweitern. Sie verstößt somit
nicht nur wiederholt gegen europäisches Recht, nein, sie
entlarvt auch ihre tatsächliche Haltung zu den Bürgerrechten. Beteiligung der Zivilgesellschaft an Gestaltung
und Verantwortung, Transparenz und Akzeptanz, das alles meint diese Regierung nicht ernst. Es sind und bleiben leere Worthülsen.
Wiederum wird, wie schon 2006, EU-Recht nicht korrekt umgesetzt. Vor dem Europäischen Gerichtshof ist
der Gesetzentwurf von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Bundesrat hat Mitte September die Novelle
zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor allem wegen der
Beschränkung der Klagemöglichkeiten abgelehnt. Bei
der Nachhaltigkeitsprüfung ist sie ebenfalls durchgefallen. Die Sachverständigen haben in einer öffentlichen
Anhörung am 22. Oktober dieses Jahres mehrheitlich
auf die Defizite und den unsicheren Rechtsstatus hingewiesen.
Alle Hinweise der Experten, Vorschläge aus den Reihen der Opposition, alles umsonst; nichts findet sich in
der Novelle wieder. Diese Bundesregierung ist beratungsresistent. Geändert wurden einige Formalien,
nicht aber die inhaltlichen Mängel. Das ist nicht einfach
schlechtes Handwerk, das hat Methode, und ich nenne
es Arroganz der Macht. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Vor eineinhalb Jahren stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass das deutsche Umweltklagerecht die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger übermäßig einschränkt und gegen Europa- und Völkerrecht verstößt.
Die Bundesregierung hat das Urteil lange ignoriert. Wir
Grüne haben bereits vor einem Jahr einen Gesetzentwurf vorgelegt, der diesen europarechtswidrigen Zustand korrigiert. Und auf unseren Druck hin hat dann im
September auch die Regierung endlich einen Gesetzentwurf vorgelegt. Über beide entscheiden wir heute
abschließend.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist leider
noch immer äußerst fragwürdig, trotz all der Diskussionen, die wir in den vergangenen Wochen und Monaten
hatten. Ich frage mich, warum wir diese Diskussionen
überhaupt geführt haben, wenn sämtliche kritische Anmerkungen von verschiedenen Expertinnen und Experten so komplett von den Fraktionen der CDU/CSU und
FDP ignoriert werden. Sämtliche Warnungen davor,
dass auch dieses Gesetz wieder vom Europäischen Gerichtshof einkassiert werden wird, weil es offensichtlich
europarechtswidrig ist, schlagen sie in den Wind.
CDU/CSU und FDP können und wollen bis heute
nicht akzeptieren, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofes auch Deutschland dazu zwingt, bei Vorhaben
mit Umweltauswirkungen verbesserte Klagerechte für
Umweltverbände festzuschreiben. Auf den ersten Blick
Zu Protokoll gegebene Reden
wird zwar in dem Gesetzentwurf versucht, das TrianelUrteil umzusetzen und die Klagemöglichkeiten für Verbände zu erweitern, aber durch die Hintertür werden die
Klagerechte gleichzeitig massiv beschränkt. Im neu eingefügten und sowohl in der Anhörung als auch im Ausschuss heiß diskutieren § 4 a wird die Begründungsfrist
für Klagen stark verkürzt und der Rechtsschutz der Klägerinnen und Kläger eingeschränkt. Dies gilt nicht nur
für Umweltverbände, sondern auch für Individualkläger,
also für jeden einzelnen Bürger. Mit dem § 4 a höhlt die
Bundesregierung gemeinsam mit den Regierungsfraktion in einmaliger Weise die Verwaltungsgerichtsordnung aus. Die großen Richter- und Anwaltsverbände haben das umfassend kritisiert, aber Sie, liebe CDU/CSU
und FDP, ignorieren es.
Wollen oder können Sie nicht verstehen, dass Sie hier
ein extrem problematisches höchstwahrscheinlich
rechtswidriges Gesetz beschließen wollen? Auch in der
Ausschussanhörung wurde dieses Problem umfassend
diskutiert. Haben Sie wirklich so schlecht zugehört? Bei
der Debatte gestern im Ausschuss hat Kollege Gebhart
betont, die Sachverständigen hätten deutlich gemacht,
dass der Gesetzentwurf europarechtskonform sei. Da
habe ich mich gefragt, lesen Sie vielleicht mal das Protokoll der Anhörung, Herr Gebhart! Oder warten Sie ab,
bis der EuGH erneut entscheidet. Wir würden uns diese
peinliche erneute Gerichtsniederlage jedoch gerne ersparen. Dies ginge recht einfach, nämlich wenn wir
heute den Gesetzentwurf beschließen. Dieser setzt als
einziger das EuGH-Urteil um und stärkt im notwendigen
Maße die Klagerechte von Umweltverbänden und Bürgerinnen und Bürgern. Auf unnötige und stark umstrittene flankierende Maßnahmen jedweder Art verzichten
wir gerne, denn wir haben keine Angst vor einer Klageflut und vor kritischen Bürgerinnen und Bürgern.
Meine Damen und Herren aus den Reihen der Koalitionsfraktionen, bitte erklären Sie uns doch endlich mal,
warum Sie solche Angst vor den Umweltverbänden und
den Bürgerinnen und Bürgern haben. Die Praxis zeigt,
dass umfassende Beteiligungs- und auch spätere Klagerechte für Umweltverbände und Bürgerinnen und Bürger dazu beitragen, dass sorgsamer geplant wird, dass
alle umweltrechtlichen Vorschriften eingehalten werden
und die Akzeptanz der Projekte steigt. Nur schlecht geplante Projekte, bei denen, absichtlich oder fahrlässig,
bestehende Rechtsvorschriften ignoriert werden, müssen
erweiterte Klagemöglichkeiten fürchten.
Nicht nur das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz ist eine
Katastrophe, nein, ganz en passant regelt die Bundesregierung unter dem Zusatz „anderer umweltrechtlicher
Vorschriften“ auch noch einige andere Dinge in diesem
Gesetzentwurf. Vieles davon war im Regierungsentwurf
vertretbar und nicht kritikwürdig. Leider muss man sagen „war“; denn mit ihren Änderungsanträgen haben
CDU/CSU und FDP erneut eine Umsetzung von europäischem Recht in Deutschland verhindert. Sie lehnen
die vom Kabinett beschlossene Übernahme der Definition von Hochwasser aus der Wasserrahmenrichtlinie
ab und, noch viel schlimmer, Sie streichen die vorgeschlagene Umsetzung von Art. 9 der Wasserrahmenrichtlinie in deutsches Recht. Als Begründung führen Sie
weiteren Klärungsbedarf an. Ja wie lange wollen Sie
denn noch diskutieren? Die Wasserrahmenrichtlinie ist
nicht erst seit gestern in Kraft. Sie zementieren den gegenwärtigen Zustand der unvollständigen Umsetzung
der Wasserrahmenrichtlinie in Deutschland - ein weiteres Thema, das den Europäischen Gerichtshof bereits
beschäftigt. Ich frage mich inzwischen, ob das Gesetz,
das Sie heute hier beschließen wollen, eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den EuGH sein soll.
Auch in Bezug auf die Regelungen zur Umweltverträglichkeitsprüfung waren in einem der früheren Entwürfe aus dem Umweltministerium sehr begrüßenswerte
Vorschläge enthalten, gerade mit Blick auf die hochumstrittene Fracking-Technologie. Gemeinsam mit der
SPD haben wir hier einen wichtigen Änderungsantrag
im Sinne der ursprünglichen Vorschläge eingebracht.
Wir wollten sicherstellen, dass schon bei der Aufsuchung und Erkundung von Lagerstätten von unkonventionellem Erdgas eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung stattfindet. Dies sollte mit Blick auf die hohen Risiken der Fracking-Technologie, die mittlerweile
glücklicherweise alle Fraktionen des Bundestages anerkennen, eine Selbstverständlichkeit sein. Aber Sie lehnen den Antrag ab, Sie hätten hier noch Beratungsbedarf. Wie lange, bitte, wollen Sie denn noch beraten und
klären? Wollen Sie nun, dass die Fracking-Technologie,
wenn sie in Deutschland überhaupt zum Einsatz kommt,
dann wenigstens unter höchstem Umweltstandard angewendet wird? Oder wollen Sie einfach weitermachen wie
bisher und die Umweltrisiken beim Fracking ausblenden? Sie müssen sich endlich entscheiden, Sie dürfen
nicht immer wieder Abstimmungsbedarf vorschieben.
Dieser Gesetzentwurf ist eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Er schwächt die Beteiligungsmöglichkeiten
der Bürgerinnen und Bürger, er unterminiert wichtige
bestehende Umweltschutzvorgaben, und er provoziert
mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Europäischen Gerichtshof. Der grüne Gesetzentwurf hingegen
regelt klar, was zu regeln ist, nämlich die Umsetzung des
Trianel-Urteils, nicht mehr und nicht weniger.
Tagesordnungspunkt 26 a: Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11393,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/10957 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die
drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Das sind die drei Oppositionsfraktionen. - Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 26 b: Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8876,
den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/7888 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Das sind die Oppositionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Wie Sie wissen, entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Koch, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ausbau des Truppenübungsplatzes Altmark
sofort stoppen - Colbitz-Letzlinger Heide zivil
nutzen
- Drucksachen 17/10684, 17/11334 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Hardt
Joachim Spatz
Paul Schäfer ({1})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Sind Sie damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht.
Der Antrag der Linken zur Schließung des Truppenübungsplatzes Altmark ist wie üblich stark an Ideologie,
aber schwach an Fakten.
Worum geht es? Die Colbitz-Letzlinger Heide wird
seit fast 80 Jahren als Truppenübungsplatz genutzt. Seit
dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus den neuen
Bundesländern auch durch die Bundeswehr. Mit über
23 000 Hektar Fläche gehört er zu den größten in
Deutschland und bietet ausgedehnte Möglichkeiten für
das Training auf Verbandsebene.
Seit dem Jahr 2000 ist hier das Gefechtsübungszentrum Heer in Betrieb, kurz GÜZ, eine der modernsten
militärischen Übungseinrichtungen der Welt. Deutsche
und verbündete Soldaten trainieren hier Krisenreaktions- und Stabilisierungseinsätze - nicht im scharfen
Schuss, sondern mit Simulationsausrüstung.
Für eine den Gefahren von Einsätzen wie etwa in Afghanistan angemessene Ausbildung ist das GÜZ unverzichtbar. Als Parlamentarier, die unseren Soldaten den
Auftrag für solche Einsätze erteilen, um zu unser aller
Sicherheit beizutragen, muss uns das besonders bewusst
sein.
Dafür müssen die Übungsanlagen aber auch stets den
aktuellen und zu erwartenden Herausforderungen der
Einsatzrealität angepasst bleiben. Dazu gehört, dass
sich Kriseneinsätze künftig immer wahrscheinlicher
auch auf urbanes Gebiet erstrecken werden. Das ist
nachvollziehbar, weil die Urbanisierung der Welt immer
weiter zunimmt.
Bereits heute lebt über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Nach Prognosen der UNO werden es
2030 über 60 Prozent und 2050 sogar 70 Prozent sein.
Wir sehen diese Entwicklung nicht nur an der Abwanderung junger Leute aus den ländlichen Räumen Deutschlands, sondern auch und gerade an der Landflucht in
Entwicklungsländern.
Wer etwa die im Umbruch befindliche arabische Welt
bereist, kennt die dortigen rapide wachsenden, zunehmend unübersehbaren Ballungszentren. Die Menschen
suchen dort vielfach Zuflucht vor Armut und Konflikten
im Land - sie bringen aber auch Konflikte mit, die dann
auf engstem Raum erneut ausbrechen können.
Für Terroristen und Guerillakämpfer sind Millionenstädte ebenso geeignete Kampf- und Rückzugsräume wie
anderes unübersichtliches Terrain. Hier können sie
schnell mit großen Opferzahlen aus dem Hinterhalt zuschlagen und sich dann wieder unter die Bevölkerung
mischen. Denn sie wissen, dass Sicherheitskräfte in Demokratien unbeteiligte Opfer durch den Einsatz schwerer Waffen in besiedeltem Gebiet zu vermeiden versuchen.
Um dieser Herausforderung zu begegnen, um gerade
auch um solche Situationen bei möglichen künftigen
Einsätzen in urbanem Gebiet zu verhindern und unsere
Soldaten entsprechend vorzubereiten, ist auf dem Truppenübungsplatz Altmark die Errichtung einer sogenannten Übungsstadt geplant. Das ist im Prinzip nichts
Neues, denn Soldaten wurden schon immer auch für den
Kampf im bebauten Gelände ausgebildet - etwa im
Übungsdorf „Bonnland“ in Hammelburg oder den ehemaligen NVA-Ortskampfanlagen in Lehnin.
Damals ging man aber davon aus, dass umkämpfte
Orte weitgehend von Zivilbevölkerung verlassen sein
würden. Dass man vielleicht einmal Kämpfe zwischen
verfeindeten Gruppen in einer dicht bevölkerten Megastadt beenden müsse, stellte man sich nicht vor. Die
geplante Anlage auf dem Übungsplatz Altmark wird das
Training auch für solche Extremsituationen
ermöglichen - und das natürlich ebenfalls mit der modernen Simulatortechnik, ohne den Einsatz scharfer Munition. Nicht nachvollziehbar ist daher, wie die Linke daraus in ihrem Antrag ableitet, dass nunmehr Städte zu
Angriffszielen würden. Es geht vielmehr gerade darum,
Konflikte auch in Städten beenden zu können, ohne
große Verluste in der Zivilbevölkerung zu verursachen.
Nicht nachvollziehbar ist auch die Behauptung, dass
der Bau im Widerspruch zum erklärten Willen einer
Mehrheit der Anwohnerinnen und Anwohner stehe. Ja,
es gibt eine örtliche Bürgerinitiative einiger Friedensaktivisten. Die hat wohl jeder der Kollegen hier im Haus
mit Bundeswehrstandorten im Wahlkreis. Das macht
aber noch keinen Mehrheitswillen. Genauso wenig wie
ein paar Berufsprotestierer, die in der Gorleben-freien
Zeit aus dem Wendland einpendeln, um ein paar GeAnita Schäfer ({0})
bäude und Fahrzeuge auf dem Übungsplatz rosa anzusprühen.
Nicht nachvollziehbar ist ferner das Klagen über nicht
geschaffene zivile Arbeitsplätze, obwohl die 1 200 fest
auf dem Übungsplatz beschäftigten Soldaten und Zivilangestellten einen erheblichen Wirtschaftsfaktor für
die Region darstellen. Die Gemeinde Letzlingen stellt
sogar in ihrem Internetauftritt fest, dass die Arbeitslosigkeit dort aufgrund der Bundeswehr weit unter dem
Landesdurchschnitt in Sachsen-Anhalt liegt.
Die Landesregierung wusste schon, warum sie in den
90er-Jahren an diesem handfesten Vorteil festhielt und
die Pläne für eine zivile Nutzung mit unsicheren Vorhersagen neuer Arbeitsplätze nicht weiter verfolgte.
Nicht nachvollziehbar ist schließlich, warum der Ausbau des Übungsplatzes durch den Bund eine „enorme
finanzielle Belastung der kommunalen Haushalte“ darstellen soll. Als jemand, der gerade aktuell ein militärisches Großbauprojekt am Rande des Wahlkreises hat,
weiß ich schon, was das an baurechtlichen und Verkehrsplanungen bedeutet. Wie Sie allerdings den Kommunen in der Altmark die in Ihrem Antrag genannten
100 Millionen Euro aufbürden wollen, erschließt sich
mir nicht. Die bauen die neue Anlage nämlich nicht.
Zusammengefasst: Die Menschen in der Altmark, die
Natur und die Arbeitsplätze kümmern Sie nicht. Sie pflegen nur wieder Ihr parteipolitisches Alleinstellungsmerkmal der Ablehnung alles Militärischen. Wir dagegen wollen nicht nur die Wirtschaft der Region, sondern
auch unsere Soldaten unterstützen, indem wir ihnen die
bestmögliche Vorbereitung für ihre Einsätze ermöglichen. Sie werden daher nachvollziehen können, dass wir
diesen Antrag ablehnen.
Hier geht es mal wieder um einen Antrag der Linken,
die am liebsten alles, was auch nur im Entferntesten mit
Militär zu tun hat, aus dieser Welt - oder zumindest aus
Deutschland - verbannen möchte. Eigentlich ein edler
und schöner Ansatz, aber ähnlich weit von der Realität
entfernt wie die gesamte Politik der Linken.
Diesmal steht der Truppenübungsplatz Altmark in der
Colbitz-Letzlinger Heide auf der Abschussliste. Ihnen
geht es dabei gar nicht um das schöne Gebiet in Sachsen-Anhalt, sondern um Ihre Politik, mit der Sie sich als
Weltretter und Gutmenschen präsentieren möchten.
Würde es Ihnen nämlich um die Colbitz-Letzlinger
Heide gehen, würden Sie sehr schnell erkennen, dass militärische Nutzung und Umwelt sich keinesfalls ausschließen, sondern sich sogar aufs Beste ergänzen können. Außerdem hilft die zukünftige Ausbildung auf dem
Truppenübungsplatz Altmark den Soldaten, dem humanitären Völkerrecht gerecht zu werden, indem sie gerade
dafür trainiert werden, zivile Schäden zu vermeiden. Auf
diese Punkte lohnt es sich, näher einzugehen.
Deshalb zum ersten Punkt, zum Umweltaspekt. Schon
in ihrer Grundsatzweisung „Bundeswehr und Umweltschutz“ macht die Bundeswehr deutlich, ich zitiere -:
Umweltschutz ist Bestandteil aller Planungen und
Handlungen der Bundeswehr in Erfüllung ihres Auftrags. Er ist Teil der Führungsverantwortung. Die Aufgaben der Bundeswehr sind unter geringstmöglicher Belastung von Mensch und Umwelt zu erfüllen, ihre
Wahrnehmung soll das Gebot der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigen.
Dass dieses keine leeren Worthülsen sind, sondern
gelebte Realität, machen viele Beispiele deutlich. Gerade Truppenübungsplätze bieten durch ihre Abgeschiedenheit und Unzugänglichkeit vielfältige Rückzugsräume und Regenerationsflächen für gefährdete Tierund Pflanzenarten. Ein Beispiel ist der Wolf. So wurde
1998 auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz erstmals
in Deutschland seit knapp 100 Jahren wieder ein
Wolfspaar gesichtet, das ein Rudel gegründet hat. Seitdem ist der Bestand des Wolfes kontinuierlich gestiegen
und das Verbreitungsgebiet hat sich stetig vergrößert.
Das hat dazu geführt, dass sich der Wolf in diesem
Jahr nun auch nachweislich in Westdeutschland angesiedelt hat. Und wo? Sie werden es ahnen. Auf einem
Truppenübungsplatz, und zwar auf dem Truppenübungsplatz Munster in Niedersachsen. Dies hat vor allem der
Naturschutzbund Deutschland freudig begrüßt. Und der
Naturschutzbund Deutschland ist einer militaristischen
oder bundeswehrnahen Politik nun wirklich völlig unverdächtig.
Dass Truppenübungsplätze wertvolle Natur- und Tierreservate sind, zeigt auch das Europäische Verbundsystem
von wertvollen Naturschutzflächen - die Natura 2000. Gut
die Hälfte der in Deutschland zu schützenden Naturflächen entfällt auf Truppenübungsplätze.
Also, das Umweltargument zieht nicht. Aber auch andere Argumente ziehen nicht. Was Sie gegen eine Investition von 100 Millionen Euro in einer strukturschwachen Region haben, kann ich nicht nachvollziehen. Sie
glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie einen Investor finden würden, der auch nur ein Zehntel dieser Summe dort
investieren würde. Aber, ach ja, Entschuldigung, „Investor“ ist für Sie ja ein Schimpfwort. Sie würden aber auch
kein Kollektiv oder keine Kolchose finden, die das tun
würde.
Aber auch beim genannten anderen Thema ist Ihr Antrag nicht stichhaltig. Ich weiß ja, dass einige wenige
von Ihnen nicht dem naiven Irrglauben anhängen, dass
„kein Militär“ automatisch auch „kein Krieg“ bedeutet.
Einige von Ihnen sind so weit realistisch, dass sie wissen: Jedes Land hat eine Armee zu tragen, wenn nicht
die eigene, dann eine fremde.
Und es ist in unserem Interesse, dass Soldaten, die ihren Beitrag zum Frieden in Deutschland und der Welt
leisten, gut ausgebildet sind. Es ist schließlich eine der
Hauptherausforderungen der Asymmetrischen Bedrohung, dass Terroristen und Aufständische gefasst werden, und dies am besten ohne Kollateralschäden. Es ist
ja direkt im Sinne des humanitären Völkerrechts, dass
Terroristen und Aufständische festgenommen und nicht
bombardiert werden. Hierfür werden Soldaten auf dem
Truppenübungsplatz Altmark ausgebildet werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Also, Sie sehen, mit diesem Antrag versuchen Sie nur,
mit Gewalt Ihre Anti-Haltung zur Bundeswehr auf einen
Truppenübungsplatz in Sachsen-Anhalt zu pressen. Das
gelingt Ihnen nicht. Weder Ihr Grundanliegen noch Ihre
Argumente sind nachvollziehbar. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag, den Antrag der Fraktion Die Linke, ab.
Die aktuellen außen- und sicherheitspolitischen
Herausforderungen und Bedrohungen sind so vielfältig
wie noch nie. Die Bundesrepublik Deutschland muss daher ein breites Fähigkeitsspektrum vorhalten. Nach den
Verteidigungspolitischen Richtlinien, VPR, aus dem
Jahr 2011 gehören unter anderem „internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ zu den Aufgaben
der Bundeswehr, weswegen sich auch die zivile und militärische Ausbildung an diesem Aufgabenspektrum
orientiert und auch künftig orientieren muss.
Der dem Heeresamt direkt unterstellte Truppenübungsplatz in der Altmark ist das wichtigste Ausbildungszentrum der deutschen Landstreitkräfte. Wie die
Kollegen von der Linken richtig in ihrem Antrag festgestellt haben, soll dieser Übungsplatz des Heeres zum
größten europäischen Gefechtsübungszentrum ausgebaut werden. Dies steht im Einklang mit unserem Anspruch, als Teil der Europäischen Union auch anderen
Staaten die Möglichkeit zu geben, sicherheitspolitische
Kernkompetenzen und militärische Fähigkeiten gemeinsam zu trainieren; denn nur im Bündnis mit anderen EUund NATO-Mitgliedstaaten kann Deutschland seinen
Bürgerinnen und Bürgern Stabilität und Schutz gewähren sowie glaubwürdig für Frieden und Sicherheit in der
Welt eintreten.
Die Ausbildung in der Bundeswehr kann durch den
Ausbau des Truppenübungsplatzes praxisnäher als bisher erfolgen, und ich stimme Ihnen zu, dass sie damit zu
einer noch effektiveren Armee, auch im Einsatz, wird.
Dies ist richtig und notwendig. Als Mitglieder des Deutschen Bundestages müssen wir für die bestmögliche
Ausbildung unserer Soldatinnen und Soldaten Sorge tragen. Es darf nicht der Fall sein, dass wir die Bundeswehr in teilweise sehr gefährliche Auslandseinsätze entsenden, aber an der Einsatzvorbereitung sparen. Eine
realitätsgetreue Darstellung möglichst vieler verschiedener Einsatzszenarien ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen zügigen und erfolgreichen Einsatz unser
Streitkräfte. Schließlich ist eine sehr gute Ausbildung
immer auch der beste Schutz für unsere Soldatinnen und
Soldaten. Insbesondere modernen, computergestützten
Ausbildungsmitteln wie Simulatoren kommt eine ständig
wachsende Bedeutung zu, aber auch in Echtzeit im Gelände muss die Einsatzlage simuliert werden.
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, die Behauptung in Ihrem Antrag, dass bisher lediglich circa 150 Arbeitsplätze für Menschen aus der
Region gestellt werden und dies vorwiegend im Niedriglohnsektor, ist schlichtweg falsch. Die über 250 beschäftigten zivilen Mitarbeiter erhalten einen Stundenlohn
von über 10 Euro. Die darüber hinaus von Ihnen angeführte Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes, nach
der durch eine zivile und touristische Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide etwa 2 600 Arbeitsplätze für Menschen aus der Region geschaffen werden könnten, entstammt dem vorigen Jahrtausend, genauer gesagt dem
Jahr 1995, und ist somit bereits 17 Jahre alt.
Die Bundeswehr und der geplante Ausbau des Truppenübungsplatzes führen auch, wie Sie behaupten, nicht
zu einer verstärkten Bedrohung von seltenen, vom Aussterben bedrohten Tierarten. So gibt es und wird es auch
weiterhin Geländebereiche geben, die von der Nutzung
durch die Bundeswehr ausgenommen worden sind. Ganz
im Gegenteil: Die Bundeswehr garantiert umfangreiche
Forst-, Naturschutz-, Wasserschutz- und Renaturierungsmaßnahmen, sodass die militärische Nutzung des
Truppenübungsplatzes stets im Einklang mit der Bewahrung und Pflege der einzigartigen Heidelandschaft
steht. Auch wurde das Gefechtsübungszentrum zwischen
1994 und 2008 durch die Bundeswehr und zivile Munitionsräumfirmen entmunitioniert, wobei sich die entstandenen Kosten auf circa 367 Millionen Euro beliefen.
2011 wurde zudem mit einer aufwendigen Altlastenentsorgung im Südteil des Truppenübungsplatzes begonnen.
Der begonnene Ausbau muss fortgesetzt werden. Die
Region kann die Investitionen gut gebrauchen, und die
ablehnende Haltung der Mehrheit der Bevölkerung
- die Linke behauptet,dass es diese gibt - ist nicht festzustellen. Diese Behauptung soll wohl nur eher für
Wahlkampfauftritte genutzt werden. Das wird mit uns
nicht geschehen.
Meine Kolleginnen und Kollegen der SPD im Verteidigungsausschuss befürworten den bereits begonnenen
Ausbau des Truppenübungsplatzes Altmark und lehnen
damit den Antrag der Fraktion Die Linke auf einen sofortigen Ausbaustopp ab.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Antrag der Fraktion Die Linke ablehnen. Zur Begründung würde ich gerne auf einige wenige
Punkte des Antrags näher eingehen, anhand derer verdeutlicht werden kann, warum eine Zustimmung für eine
seriöse Regierungsfraktion schlicht unmöglich ist.
Die Antragsteller erheben auf der vorliegenden
Drucksache einmal mehr eine plakative Forderung, die
den unrühmlichen Versuch darstellt, sich bei den
Anwohnern vor Ort als Fürsprecher zu gerieren.
Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich außerdem
wieder, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der
Linken über verantwortungsvolle Sicherheitspolitik
nicht möglich ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt an reißerischen Formulierungen wie „Kriegseinsätze“ oder „Angriffsziele“, die, obwohl es sich um einen Truppenübungsplatz der Bundeswehr handelt, den gesamten
Antrag durchziehen.
Verantwortungsvolle Sicherheitspolitik und Fürsorge
für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sieht
sicher anders aus. Die Angehörigen unserer Bundeswehr müssen, auch in Deutschland, die Möglichkeit
haben, sich auf ihre gefährlichen Auslandseinsätze vorZu Protokoll gegebene Reden
zubereiten. Dazu leistet der Truppenübungsplatz Altmark einen wichtigen Beitrag. Wer seriöse Sicherheitspolitik betreiben möchte, muss dafür Sorge tragen, dass
die Soldatinnen und Soldaten, die unter Einsatz ihres
Lebens für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland eintreten, auch ausreichende Möglichkeiten zum
Üben haben. Dies gilt vor allem in Zeiten der Transformation der Bundeswehr zu einer „Armee im Einsatz“.
Das Gelände des Truppenübungsplatzes Altmark
wird durch das Heer als Gefechtsübungszentrum genutzt
und ist die zentrale Ausbildungseinrichtung zur Einsatzausbildung von Verbänden und Einheiten aller Art.
Der Aufbau des Gefechtsübungszentrums konnte im
Jahr 2006 abgeschlossen werden und wird seither mit
der heutigen Ausbildungskapazität betrieben. Auch nach
der Stationierungsentscheidung vom 26. Oktober 2011
wird das Gefechtsübungszentrum eine der zentralen
Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr für das „Bestehen im Einsatz“ bleiben. Mit dem Umbau des „Urbanen Ballungsraumes Schnöggersburg“ wird eine weitere
qualitative Verbesserung der bestehenden Ausbildungseinrichtung erzielt.
Wer im Gegensatz zu den Antragstellern verantwortliche Sicherheitspolitik betreiben will, ist darauf angewiesen, sich an gegebenen Realitäten und Bedrohungsszenarien zu orientieren. Die Ausgestaltung der
Übungsszenarien in Altmark ist ausgerichtet an den
nationalen verteidigungspolitischen Grundlagen- und
Bündnisdokumenten, ergänzt um Erfahrungen aus den
laufenden Einsätzen und den Erkenntnissen aus den Einsätzen in asymmetrischen Konfliktsituationen.
Da die Übungen als „Live-Simulation“ stattfinden,
können alle Handlungen der Übungsteilnehmer durch
die Systemtechnik überwacht und in der Zentrale des
Übungszentrums nahezu in Echtzeit aufgezeichnet und
ausgewertet werden. Dies stellt eine weitere wesentliche
Verbesserung der Übungsmöglichkeiten unserer Truppe
dar und dient damit einer verbesserten Vorbereitung unserer Soldatinnen und Soldaten für den Auslandseinsatz.
Anders als von den Antragstellern behauptet, bietet
der Ausbau des Truppenübungsplatzes auch für die Bevölkerung vor Ort einen nicht zu unterschätzenden
Mehrwert. In den Jahren von 1991 bis 2010 beliefen sich
die Gesamtausgaben für Unterhalt, Baumaßnahmen etc.
auf circa 430 Millionen Euro. Diese wurden aus dem
Einzelplan 14 des Bundeshaushaltes der Bauverwaltung
des Landes Sachsen-Anhalt zur Verfügung gestellt und
flossen von dort überwiegend in die regionale Wirtschaft
zurück.
Auch die von den Linken erhobene Forderung, der
Betrieb des Truppenübungsplatzes Altmark müsse auch
aus umweltpolitischen Aspekten sofort gestoppt werden,
ist nicht nachvollziehbar. Aktuell wird auf dem Truppenübungsplatz Altmark eine vollständige naturschutzfachliche Kartierung - Biotopkartierung sowie eine Lebensraumtypen- und Artenerfassung - durchgeführt. Diese
beinhaltet auch die Aspekte von Natura-2000-Bereichen, wie die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinien oder die
Vogelschutzrichtlinien. Die Kartierungen werden Ende
2013 abgeschlossen sein. Die Gesamtmaßnahme wurde
auch mit den zuständigen Landesbehörden einvernehmlich abgestimmt. Die Vorwürfe der Linken zielen also
auch an dieser Stelle ins Leere.
Am 2. November wurde - von der Öffentlichkeit und
der Presse fast unbemerkt - mit dem ersten Spatenstich
der Grundstein für den Ausbau des Truppenübungsplatzes Altmark in der Colbitz-Letzlinger Heide zum
größten europäischen Gefechtsübungszentrum gelegt.
Hier soll nun im Laufe der nächsten zwölf Jahre eine
komplette Geisterstadt mit Infrastruktur zur Simulation
von Kampf- und Kriegseinsätzen für die Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr und anderer europäischer
Streitkräfte entstehen. Die Gesamtkosten für den Ausbau
sollen sich auf rund 100 Millionen Euro belaufen.
Ich halte das gesamte Projekt für grundlegend falsch
und möchte auch gern begründen, warum:
Der Ausbau bedeutet eine enorme finanzielle Belastung der kommunalen Haushalte, die sich gerade das
Bundesland Sachsen-Anhalt nicht leisten kann. Hier
werden allerorts Schwimmhallen, Schulen und Freizeiteinrichtungen geschlossen, weil für deren Finanzierung
und Erhalt kein Geld da ist. Hier können Straßen nicht
saniert werden, weil die Haushalte nicht ausgeglichen
werden können. Da scheitert es schon an kleinsten Summen. Und Sie wollen jetzt 100 Millionen zum Kriegspielen ausgeben? Das kann man doch keinem vernünftigen
Menschen erklären. Das ist doch vollkommen inakzeptabel. Und das gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass der
Bau und Erhalt des Truppenübungsplatzes in den letzten
Jahren schon weit über 600 Millionen Euro verschlungen hat und es ja auch zukünftig nicht bei den reinen
Baukosten bleiben wird.
Darüber hinaus ist die Bestimmung des Truppenübungsplatzes eine vollkommen falsche. Hier sollen
Häuserkämpfe und Kampfeinsätze in urbanen Zentren
unter der Anwesenheit von Zivilistinnen und Zivilisten
geübt werden. Soll das wirklich die zukünftige Ausrichtung der Bundeswehr sein? Noch vor einiger Zeit gab es
überfraktionelle Unterstützung dafür, diese Art der
Kriegführung zu ächten. Und nun? Nun ist diese Art der
Kriegführung offenbar breiter Konsens für die Bundeswehr. Und über die Folgen, die das sowohl für die Zivilistinnen und Zivilisten als auch für die Soldatinnen und
Soldaten haben wird, scheint keiner nachzudenken. Ich
kann es nicht nachvollziehen, zumal damit auch dem
Einsatz der Bundeswehr im Inneren Tür und Tor geöffnet
wird. Die Linke lehnt dies strikt und entschieden ab und
fordert die Bundesregierung auf, diese Entscheidung
noch einmal gründlich zu überdenken.
Auch unter umweltpolitischen Aspekten ist das gesamte Projekt eine einzige Katastrophe. Die ColbitzLetzlinger Heide ist die größte nicht landwirtschaftlich
genutzte Landfläche Mitteleuropas. Hier gibt es seltene
Biotope und zahlreiche vom Aussterben bedrohte Tierund Pflanzenarten, welche durch den Bau der Geisterstadt „Schnöggersburg“ massiv bedroht wären. Das
Zu Protokoll gegebene Reden
kann man doch auch nicht einfach ignorieren, nur um
stur die eigenen Interessen zu verfolgen.
Hinzu kommt noch, dass der Großteil der Anwohnerinnen und Anwohner keineswegs mit dem Ausbau einverstanden ist. Es gab und gibt zahlreiche öffentliche
Proteste, unter anderen auch von Bürgerinitiativen, welche sich für eine ausschließlich zivile Nutzung der Heide
einsetzen. Die Linke unterstützt dies.
Anstatt an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger vorbei dieses sowohl friedenspolitisch als auch
haushalterisch und umweltpolitisch unsinnige und äußerst bedenkliche Projekt um jeden Preis voranzutreiben, sollte die Bundesregierung lieber darauf setzen,
den Ausbau des Gefechtsübungszentrums sofort zu stoppen und unverzüglich ein Konzept für die zukünftige zivile Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide vorzulegen.
Dabei müsste natürlich die vollständige Beseitigung von
sämtlichen Munitions- und Kampfmitteln auf diesem Gebiet an zentraler Stelle stehen, und es muss sichergestellt
werden, dass die kommunale Gestaltungshoheit gewahrt
bleibt und die Bürgerinnen und Bürger an den Entscheidungen zur Zukunft der Colbitz-Letzlinger Heide direkt
beteiligt werden.
Ich kann daher abschließend nur noch einmal an den
Verstand aller Entscheidungsträger appellieren: Stoppen Sie dieses Projekt, und zwar unverzüglich!
Wer sich zur internationalen Schutzverantwortung
und Krisenprävention bekennt, der anerkennt auch, dass
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nicht unvorbereitet in Krisengebiete entsandt werden können. Es ist
eine gute und professionelle Ausbildung nötig. Daher ist
es auch folgerichtig, dass die Bundeswehr auf ihren
Standorten bestmögliche Ausbildungsvoraussetzungen
schafft.
Die Fraktion der Linken stellt mit ihrem Antrag zur
zivilen Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide Forderungen auf, denen wir in Teilen zwar zustimmen können,
insgesamt wird der Antrag aber der Geschichte und der
heutigen Situation der Colbitz-Letzlinger Heide nicht
gerecht. Wir lehnen ihn deshalb ab.
Lassen Sie uns einen Blick in die Vergangenheit werfen. 1997 wurde unter Federführung der rot-grünen
Landesregierung in einem schwierigen und mühseligen
Verfahren ein mit allen Beteiligten abgestimmter
Kompromiss zur Zukunft der Colbitz-Letzlinger Heide
gefunden. Ich war als damalige Landesvorsitzende von
Bündnis 90/Die Grünen an dieser Kompromissbildung
persönlich beteiligt. Der sogenannte Heide-Kompromiss
sah vor, dass der südliche Teil der Colbitz-Letzlinger
Heide bis 2006 aus der militärischen Nutzung genommen und in eine zivile Nutzung überführt werden sollte.
Geplant war die Einrichtung eines Naturparks als
Grundlage einer touristischen Nutzung der Heide.
1998 wurde die rot-grüne Landesregierung durch
eine durch die damalige PDS tolerierte SPD-Alleinregierung abgelöst und diese 2002 durch eine schwarzgelbe Koalitionsregierung. Beide Konstellationen waren
für die Umsetzung des Heide-Kompromisses denkbar
ungünstig. Rot-Rot hat es in vier Jahren nicht vermocht,
einen Naturpark Colbitz-Letzlinger Heide einzurichten.
Das machte es Schwarz-Gelb leicht, den Heidekompromiss in ihrer Amtszeit vollends aufzulösen.
Sie von der Linken sehen also, dass Sie und Ihre Partei in Sachsen-Anhalt nicht gänzlich unbeteiligt an der
Situation sind, die Sie heute beklagen. Umso unglaubwürdiger ist es, dass Sie jetzt, wo der Spatenstich für die
Übungsstadt Schnöggersburg bereits erfolgt ist, mit
Ihrem Antrag um die Ecke kommen und Vorschläge unterbreiten, die beim besten Willen nicht umsetzbar sind.
Es bleiben bei uns große Zweifel, ob Sie wirklich an
einer Problemlösung interessiert sind oder ob es Ihnen
nicht eher darum geht, auf billigen Stimmenfang zu gehen. Konstruktiv ist Ihr Vorgehen jedenfalls nicht.
Leider. Sie hatten Ihre Chance, die zivile Nutzung der
Colbitz-Letzlinger Heide zu sichern, Sie haben sie nicht
genutzt.
Die Truppenübungsplätze der Bundeswehr gehören
oftmals zu den wertvollsten deutschen Naturschutzflächen. Sie sind für den Biotop- und Artenschutz in den
einzelnen Regionen von großer Bedeutung. Ihr Wert
ergibt sich aus den fehlenden direkten Eingriffen des
Menschen in die Landschaft. So gibt es oft eben keine
Bodenversiegelung, keinen Umbruch für die Landwirtschaft und damit keinen Dünger- oder Pestizideinsatz.
Dadurch konnten sich die Landschaften natürlich entwickeln und weisen heute einen großen Reichtum an Pflanzen und Tieren auf.
Viele Truppenübungsplätz sind heute sogar eine neue
Heimat für den Wolf, der als geschützte Art für den Erfolg einer guten Naturschutzpolitik steht. Auch in der
Colbitz-Letzlinger Heide. Dieses Potenzial der Truppenübungsplätze ist seit langem bekannt, und oft gab es hier
auch eine gute Kooperation zwischen Naturschutz und
Bundeswehr.
Mit dem Bau von Schnöggersburg wird diese Kooperation aufgekündigt. Mitten in Sachsen-Anhalts größtem
zusammenhängenden Fauna-Flora-Habitat-Gebiet baut
Schwarz-Gelb eine Geisterstadt und versiegelt wertvolle
Flächen. Bundesregierung und sachsen-anhaltische
Landesregierung verbauen damit - im wahrsten Sinne
des Wortes - jeglicher nachhaltigen regionalen Entwicklung den Weg zugunsten einiger weniger ziviler Arbeitsplätze.
Die Linke spricht davon, dass die Mehrheit der
Anwohnerinnen und Anwohner gegen dieses Projekt sei.
Als Anwohnerin wäre ich es definitiv. Die Fakten sprechen aber eine andere Sprache: Keine der betroffenen
Gemeinden hat dem Vorhaben widersprochen. Es wäre
mir anders lieber, aber wir sollten hier bei der Wahrheit
bleiben.
Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es der Akzeptanz gutgetan hätte, wenn das Bundesverteidigungsministerium sich frühzeitig um eine Einbindung der Öffentlichkeit bemüht hätte. Einer Parlamentsarmee wie
der Bundeswehr steht es gut zu Gesicht, wenn sie die
Zu Protokoll gegebene Reden
Undine Kurth ({0})
Menschen vor Ort frühzeitig beteiligt. Die Einhaltung
allein formaljuristischer Vorgaben ist nicht immer ausreichend. Das sollten wir alle inzwischen gelernt haben.
Wir Grünen unterstützen alle Initiativen, die das zivile Entwicklungspotenzial der Heide nutzen wollen. Wir
fordern nach wie vor, dass der Südteil für den Naturschutz reserviert und endlich für den Tourismus und
damit für die wirtschaftlich nachhaltigste Entwicklung
erschlossen wird. Wir müssen aber von den Verhältnissen ausgehen, die wir - auch in Hinterlassenschaft linker Regierungsbeteiligung in Sachsen-Anhalt - vorfinden. Mit schönen, aber unrealistischen Forderungen
kommt die Colbitz-Letzlinger Heide nicht voran.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11334, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/10684 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen
- Drucksache 17/10486 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 17/11394 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Dr. Lutz Knopek
Dorothea Steiner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Sind alle damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt die
Richtlinie 2010/75/EU über Industrieemissionen, die
IE-RL oder auch IED, Industrial Emissions Directive,
ohne Systembrüche in das bewährte Anlagenrecht des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes sachgerecht um. Die
Richtlinie stellt das zentrale europäische Regelwerk für
die Zulassung und den Betrieb von Industrieanlagen und
damit für die Luftreinhaltung dar. Die Umsetzung der
Richtlinie in deutsches Recht ist eines der wichtigsten
und umfangreichsten umweltpolitischen Vorhaben dieser Legislaturperiode.
Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist von der Umsetzung dieser Richtlinie in besonderer Weise betroffen.
Schließlich stehen von den europaweit durch die Richtlinie erfassten circa 52 000 Anlagen rund 9 000 Anlagen
in Deutschland. Es handelt sich zum Beispiel um Kraftwerke, Stahlwerke, Anlagen zum Gießen und Walzen von
Metallen, Anlagen der Automobilindustrie, industrielle
Chemieanlagen, Mineralölraffinerien und anderes.
Die IE-RL stellt kein grundlegend neues EU-Recht
dar, sondern ist eine Fortentwicklung des schon seit der
sogenannten IVU-RL, der Richtlinie zur integrierten
Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, bestehenden europäischen Anlagenrechts. Das
Konzept der IVU-Richtlinie, welches die Verminderung
und Vermeidung von Verschmutzung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie die Erreichung einer hohen
Energieeffizienz integriert betrachtet, wurde beibehalten.
Zur formalen Umsetzung der Richtlinie wurden drei
Regelungspakete erarbeitet, von denen wir heute das
Artikelgesetz beraten. In diesem werden die Regelungen
der Industrieemissionsrichtlinie durch Änderungen insbesondere im Bundes-Immissionsschutzgesetz, im Wasserhaushaltsgesetz sowie im Kreislaufwirtschaftsgesetz
umgesetzt.
Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte haben wir in
Deutschland ein im internationalen Vergleich sehr hohes
Umweltschutzniveau erreicht. Um dieses hohe Umweltschutzniveau sicherzustellen, haben wir ein umfangreiches Regelungswerk, das der Zulassung und dem Betrieb
genehmigungsbedürftiger Anlagen zugrunde zu legen
ist: das Bundes-Immissionsschutzgesetz, BImSchG, sowie das dazugehörige untergesetzliche Regelwerk, insbesondere Rechtsverordnungen. Dort sind zum Beispiel
die technischen Anforderungen an eine Anlage definiert
und spezifische Emissionsgrenzwerte vorgeschrieben.
Auch werden die Durchführung von Emissionsmessungen verlangt und entsprechende Abnahmen und regelmäßige Überprüfungen auferlegt.
Die Industrieemissionsrichtlinie legt dabei eine höhere Verbindlichkeit der Maßnahmen zur Verbesserung
der Luftqualität und der Emissionsstandards auf EUEbene fest; das begrüße ich gerade im Interesse des
Schutzes der Gesundheit ausdrücklich. Diese äußern
sich insbesondere in strengen Genehmigungs- und
Grenzwertanforderungen, der Aufwertung der Merkblätter zu besten verfügbaren Techniken, der BVT-Merkblätter, sowie in erweiterten Berichts- und Überwachungspflichten für Betreiber und Behörden. Die Umsetzung
der IE-RL in nationales Recht muss bis zum 7. Januar
2013 erfolgen.
Der Kernbereich der IE-RL betrifft die verbindliche
Anwendung der sogenannten BVT-Schlussfolgerungen
bei der Festlegung von Emissionsbegrenzungsanforderungen durch die Mitgliedstaaten. Die BVT-Schlussfolgerungen beschreiben das Vorsorgeniveau, das nach
dem Maßstab der besten verfügbaren Techniken eingehalten werden soll. Bei diesem sogenannten BVT-Maßstab handelt es sich allerdings angesichts mancher
„Weichmacher“ eher um eine typisch englische verbale
Übertreibung. Dahinter fällt jedenfalls der im deutschen
Immissionsschutzrecht maßgebliche unprätentiöse Be24866
griff des Standes der Technik, der im Gesetzentwurf beibehalten wird, in keiner Weise zurück.
Die von der Fraktion Bündnis90/Die Grünen dargelegten Befürchtungen sind jedenfalls unbegründet: Die
in ihrem Entschließungsantrag im Umweltausschuss
vorgetragene Prämisse, BVT-Merkblätter der Europäischen Union könnten gegenüber dem innerstaatlichen
untergesetzlichen Regelwerk höherrangig sein und dadurch zu einer Abschwächung der Luftreinhaltung in
Deutschland führen, wenn hier strengere Anforderungen
gelten, trifft nicht zu. Die EU-Anforderungen aus den
BVT-Merkblättern gelten in den Mitgliedstaaten und damit auch in Deutschland nicht unmittelbar und können
daher zu keiner Abschwächung schärferer innerstaatlicher Standards führen. Für den umgekehrten, im Entschließungsantrag nicht angesprochenen Fall, dass
BVT-Merkblätter strengere Anforderungen als das innerstaatliche Recht vorsehen sollten, gibt es einen bewährten nationalen Anpassungsprozess, an dem festgehalten wird.
Mit der Verpflichtung, neue europäische Emissionsstandards - BVT-Schlussfolgerungen - innerhalb von
vier Jahren auch bei bestehenden Anlagen einzuhalten,
enthält die IE-RL im Vergleich zur IVU-RL eine gewisse
Verschärfung. Die vom Bundesrat empfohlene Einführung einer Jahresfrist zur untergesetzlichen Umsetzung
auf Bundesebene ist hilfreich. Für den Vollzug in den
Ländern und auch für die Anlagenbetreiber wird so ausreichend Zeit vorgehalten, um sich auf die neuen technischen Anforderungen durch Anpassungen der Genehmigungen und der Überwachung einerseits sowie durch
technische Anpassung und gegebenenfalls den Umbau
der betroffenen Anlagen andererseits einzustellen. Für
Anlagen, die nach Erlass neuer BVT-Schlussfolgerungen
neu genehmigt werden, sind die europäischen Emissionsstandards hingegen unverzüglich im untergesetzlichen Regelwerk umzusetzen und in Genehmigungsverfahren anzuwenden. Die vierjährige Umsetzungsfrist aus
Art. 21 Abs. 3 IE-RL gilt hier nicht.
Sowohl aus Umweltsicht als auch aus Sicht des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist es positiv, dass die Verbindlichkeit der BVT-Schlussfolgerungen in Europa vorgesehen wird. Dass dadurch europaweit ein insgesamt
höheres Umweltschutzniveau gewährleistet wird, kann
ich aus Sicht der Umwelt nur begrüßen. Einheitliche
Rahmenbedingungen innerhalb der EU stärken aber
auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie,
da dann gleiche „Spielregeln“ für alle europäischen Anlagen gelten. Deshalb ist es richtig, dass die Umsetzung
der IE-RL eins zu eins geschieht, also keine Sonderbelastungen für die Unternehmen in Deutschland draufgesattelt werden. Das haben CDU, CSU und FDP zu Beginn der Legislaturperiode so vereinbart, und das wird
auch hier bei der IE-RL eingehalten.
Diese Eins-zu-eins-Umsetzung darf aber nicht als Vehikel zum Abbau von Umweltstandards im bestehenden
nationalen Recht benutzt werden. Das ist auch nicht der
Fall. Beispielsweise ist die in Art. 15 Abs. 4 der IE-RL
enthaltene starke Relativierung der Vorsorgeanforderungen aufgrund möglicher Ausnahmen wegen des geografischen Standorts und lokaler Umweltbedingungen
zu Recht nicht in deutsches Recht übernommen worden.
Das hätte einen fundamentalen Paradigmenwechsel und
einen nicht vertretbaren umweltpolitischen Rückschritt
bedeutet.
Ein wichtiges Element der Richtlinie ist die neue
Pflicht, den Ausgangszustand von Boden und Grundwasser im Hinblick auf die spätere Stilllegung der Anlagen zu dokumentieren. Hierfür muss künftig im Rahmen
des Anlagengenehmigungsverfahrens ein sogenannter
Ausgangszustandsbericht erstellt werden. Ja, die Erstellung dieses Ausgangszustandsberichts ist für die Unternehmen eine neue, nicht immer kostengünstige Auflage.
Auch sind in Deutschland im Bundes-Bodenschutzgesetz
bereits die Sanierungspflichten vollumfänglich geregelt.
Die Sanierung des Bodens nach einer Anlagenstilllegung sollte jedoch in Europa einheitlich geregelt werden, sodass nun auch in Deutschland ein Ausgangszustandsbericht unumgänglich ist.
Der Erkenntnisgewinn im Hinblick auf den Verschmutzungsgrad des Bodens, der mit dem Ausgangszustandsbericht erreicht wird, kann dann in der Praxis
eine Sanierungspflicht nach Bundes-Bodenschutzgesetz
auslösen. Dies ist aber gleichzeitig auch ein Erkenntnisgewinn für die Unternehmen und eine Möglichkeit, frühzeitig Vorsorge zu treffen. Was wir als Koalitionsfraktionen im Gesetzgebungsverfahren hier im Deutschen
Bundestag jedoch ausgeschlossen haben, ist die Möglichkeit, dass im Fall vorhandener funktionierender
Schutzvorrichtungen, zum Beispiel vorhandener dichter
Bodenwannen, diese für die Erstellung des Ausgangszustandsberichts zur Bodenuntersuchung durchbohrt werden müssen. Denn die Möglichkeit einer Verschmutzung
des Bodens oder des Grundwassers besteht nicht, wenn
aufgrund der tatsächlichen Umstände ein Eintrag ausgeschlossen werden kann. Diese Regelung entspricht
auch den Ergebnissen der Sachverständigenanhörung.
Im Übrigen kann die Dokumentation des Ausgangszustands auch im Interesse der betroffenen Unternehmen
sein. Denn sie müssen bei Stilllegung der Anlagen im
Rahmen der Pflicht zur Rückführung zwar den Ausgangszustand wiederherstellen, aber auch nicht mehr.
Bei den Beratungen im Parlament haben wir in der
Koalition eine Reihe von Wünschen, die die Länder über
den Bundesrat vorgetragen haben, berücksichtigt. Nicht
übernehmen konnten wir allerdings die von den Ländern
vorgeschlagene Formulierung zur möglichen Beauftragung privater Dritter. In der Begründung des Bundesrates war sogar zu lesen, dass eine „Beleihung“ angestrebt sei. Um es klar zu sagen: Eine Verlagerung der
hoheitlichen Aufgaben der Aufsichtsbehörden auf Private ist mit uns nicht zu machen. Was allerdings auch in
Zukunft möglich sein muss - dafür haben wir die nötige
klarstellende Formulierung gefunden -, ist, dass die Behörden bei Durchführung der erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen Verwaltungshelfer einschalten können. Die
Verantwortung der Vollzugsbehörden bleibt aber vollumfänglich erhalten.
Im Rahmen der Beratungen zur Umsetzung der IE-RL
haben wir uns entschlossen, die Mitwirkungsrechte des
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundestages und die Beteiligung beim Erlass von
Rechtsverordnung nach dem BImSchG zu verbessern.
Standen bisher drei Sitzungswochen zur Beratung zur
Verfügung, werden es künftig vier Wochen sein. Damit ist
einerseits eine zügige Verabschiedung von Verordnungen, die oft europäisches Recht umsetzen, gewährleistet.
Andererseits ist es sinnvoll - das zeigen die bisherigen
Erfahrungen -, wenn dem Bundestag für eine vertiefte
Beratung mehr als drei Sitzungswochen zur Verfügung
stehen. Insofern stellt die Verlängerung der Beteiligungsfrist auf vier Sitzungswochen einen vernünftigen
Ausgleich zwischen diesen Interessen dar.
Mein Fazit ist: Die Umsetzung der Richtlinie für Industrieemissionen in deutsches Recht ist in dieser Legislaturperiode eines der ambitioniertesten Gesetzgebungsvorhaben im Umweltrecht. Alles in allem wahrt
der Gesetzentwurf materiell in der Kontinuität des bisherigen Immissionsschutzrechts die vernünftige Balance
zwischen fortschrittlicher Umweltvorsorge einerseits
und notwendiger Sicherung des Industriestandorts
Deutschland andererseits. Bestehende Ungleichheiten
in Europa hinsichtlich der Umweltstandards werden
ausgeglichen und gleiche Wettbewerbsbedingungen hergestellt. Der Koalitionsvereinbarung einer Eins-zu-einsUmsetzung von EU-Vorgaben ohne eine Absenkung nationaler Umweltstandards wurde Rechnung getragen,
und mit den im Umweltausschuss angenommenen Änderungsanträgen der Koalitionsfraktionen werden die Anliegen der Bundesländer zu einem großen Teil aufgegriffen.
Ich will ja zugestehen, dass die Umsetzung der Industrieemissionsrichtlinie, IED, ein Kraftakt ist. Dass es
schwierig ist, verschiedene Gesetze und Verordnungen
unter einen Hut zu bekommen und damit die IED-Richtlinie umzusetzen, ebenfalls. Aber gerade weil dies so ein
umfangreiches Regelungswerk ist, ist es umso bedauerlicher, dass die Bundesregierung mit der Umsetzung der
IED-Richtlinie in die deutsche Gesetzgebung keine substanzielle Verbesserung für uns in Deutschland erreicht.
So wäre es zum Beispiel unerlässlich, zumindest konkrete Anforderungen an die Verbesserung der Energieeffizienz festzuschreiben. Sie lassen die Chance ungenutzt,
obwohl die Richtlinie solche Regelungsmöglichkeiten
nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich vorsieht.
Es ist bereits jetzt nicht einfach, Außenstehenden zu
vermitteln, was die IED genau ist und was wir mit der
Umsetzung alles regeln. Dass die IED eine der wichtigsten Richtlinien zur Genehmigung und Überwachung von
Industrieanlagen ist und damit auch unsere hohen deutschen Umweltstandards nach Europa quasi „exportiert“, ist außerhalb der betroffenen Industrien leider
selten bekannt.
Dass die bisher ungenutzten Energieeinsparpotenziale
nicht als Anreiz zur weiteren Verbesserung der Standards mit aufgenommen wurden, ist nicht nachvollziehbar. Denn die frühzeitige Entwicklung und Anwendung
fortschrittlicher Anlagentechnik in Deutschland hat
nicht nur für ein hohes Umweltschutzniveau gesorgt,
sondern dadurch der Allgemeinheit ein höheres Maß an
Gesundheitsschutz und der deutschen Wirtschaft einen
Wettbewerbsvorsprung gebracht.
Ein Kollege der Regierungsfraktionen bezeichnete in
der Ausschussberatung das deutsche Immissionsschutzrecht im Ganzen sogar als „Erfolgsstory“. Zu Recht, aus
meiner Sicht. Aber warum ist es das? Weil die Stellschrauben von der Politik so genutzt wurden, dass es
Anreize gab, stets besser zu sein als die Konkurrenz. Warum will ausgerechnet eine konservativ-liberale Regierung dieses Prinzip nun ändern? Die „Erfolgsstory“ bekommt mit der IED-Umsetzung ein lahmes Ende! Denn
ganz klar: Die Industrie braucht unsere politische Unterstützung, um besser zu werden. Der vorliegende Entwurf schafft diese Anreize in Deutschland leider nicht.
Nun bin ich bei dieser schwarz-gelben Regierung ja
schon froh, dass sie wenigstens so vernünftig war, in der
Umsetzung der IED die Festlegung von Emissionsgrenzwerten weitgehend den Werten der bisherigen BVTMerkblätter entsprechen zu lassen, und eine Abschwächung von Grenzwerten weitestgehend vermieden wird.
Darüber hinaus passiert aber leider zu wenig.
Die Energieeffizienz ist ein Schlüssel für den Erfolg
der Energiewende, das müsste sich doch auch in den
Reihen der Regierungskoalition inzwischen herumgesprochen haben. Aber obwohl die Effizienzpflicht bereits
festgeschrieben ist, hat dies in der Umsetzung der IED
Richtlinie hier keinerlei Konsequenzen.
Warum nutzt die Regierung an dieser Stelle nicht die
einmalige Chance, Genehmigungsbehörden die Möglichkeit an die Hand zu geben, Effizienzanforderungen
an energieerzeugende und energieverbrauchende Anlagen zu stellen? Schließlich bleiben bisher Anlagen vielfach wegen schwacher Anreize, fehlender Information
oder auch wegen falsch eingeschätzter Einsparpotenziale hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Mit der vorliegenden weitestgehenden Eins-zu-einsUmsetzung der IED-Richtlinie vergibt die schwarzgelbe Regierung die große Chance, gerade im Zusammenhang mit der Energiewende, eigene Effizienzstandards zu definieren, zumal laut Experteneinschätzungen
Deutschland die in der EU-Effizienzrichtlinie festgeschriebenen Ziele nach bisherigem Stand verfehlen
wird. Effizienzanforderungen hätten über die Umsetzung
der IED in nationale Rechtsprechung Einzug halten können, um die von der EU geforderten 1,5 Prozent an
Energieeinsparungen zu erreichen. An anderer Stelle
werden wir mit Sicherheit nachholen müssen, was hier
verpasst wurde, schließlich bleiben nur noch knapp 18
Monate, um Maßnahmen zum Energiesparen vorzulegen.
Wir erkennen die Schwierigkeiten, die es bei der Umsetzung der IED in deutsche Gesetzgebung gibt, an. Es
entschuldigt aber nicht, dass der Entwurf hinter seinen
Möglichkeiten zurückbleibt. Deshalb werden wir diesem
nicht zustimmen und enthalten uns der Stimme.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nachdem wir in der letzten Sitzungswoche die Verordnung zur Umsetzung der europäischen Richtlinie
über Industrieemissionen verabschiedet haben, beraten
wir heute über den entsprechenden Gesetzentwurf.
In diesem Zusammenhang möchte ich einmal das
Bundesumweltministerium loben. Auch unsere Fraktion
ist frühzeitig über die Pläne zur Umsetzung der Emissionsrichtlinie informiert worden. Leider ist dieses Vorgehen die große Ausnahme, nicht nur in der Umweltpolitik, sondern im gesamten Regierungshandeln.
Insgesamt ist die Umsetzung der europäischen Industrieemissionsrichtlinie in deutsches Recht gut gelungen.
Dies liegt zum Teil auch daran, dass neue europäische
Vorgaben in Deutschland bereits vorher Gesetz waren
oder zum Beispiel neue Grenzwerte in der Praxis bereits
eingehalten werden. Sowohl in der Verordnung als auch
in dem Gesetzentwurf wurden keine schwerwiegenden
Fehlentscheidungen gemacht. Trotzdem hat unserer
Meinung nach die Bundesregierung die Chance vertan,
mehr für Umwelt- und Gesundheitsschutz zu tun. Wir
sind der Auffassung, dass die Umsetzung der Konzeption nicht vollständig den Ansprüchen genügt, da es in
Deutschland durch anspruchsvolle Genehmigungsauflagen, zum Beispiel bei Abfallverbrennungsanlagen,
bereits zu erheblich niedrigeren Betriebswerten kommt,
als im Verordnungsentwurf vorgeschrieben werden soll.
Folglich wird dadurch die Chance vergeben, den
Umwelt- und Gesundheitsschutz in Deutschland den
Möglichkeiten entsprechend voranzubringen.
Ein Beispiel hierfür ist die Festlegung der Quecksilbergrenzwerte. Das Umweltbundesamt hat einen niedrigeren Grenzwert von 3 Mikrogramm für Quecksilber
vorgeschlagen, und dies sollten wir umsetzen. Auch die
Grenzwerte für die Freisetzung von Feinstaub, sowohl
für Kohlekraftwerke als auch für die Abfallverbrennungsanlagen, sind unserer Ansicht nach zu hoch.
Insbesondere bei Abfallverbrennungsanlagen liegen die
Betriebswerte für die Staubemission schon heute deutlich unter den geltenden und geplanten neuen Grenzwerten.
Keine deutsche Abfallverbrennungsanlage wird mit
Staubemissionen, Tagesmittelwert, oberhalb von 3 Milligramm Staub pro Kubikmeter betrieben. Rund zwei Drittel der Anlagen liegen sogar unter 1 Milligramm Staub
pro Kubikmeter. Somit wird die in der Verordnung vorgesehene Absenkung des Grenzwertes von 10 auf 5 Milligramm pro Kubikmeter keinerlei senkende Auswirkung
auf die aktuellen Staubemissionen aus Abfallverbrennungsanlagen haben.
Niedrigere Grenzwerte sind möglich und bedeuten
keinen Wettbewerbsnachteil. Wir würden damit vor allem die Hintergrundbelastung senken und somit Bürgerinnen und Bürger in hochbelasteten Gebieten helfen.
Allerdings gibt es auch einen Bereich, der meiner
Meinung nach viel zu lasch geregelt wird.
Für Abfallmitverbrennungsanlagen gelten zum größten Teil Ausnahmen bei den Grenzwerten, oder anders
ausgedrückt: Zementwerke und Kraftwerke dürfen bei
der Mitverbrennung von Abfällen höhere Grenzwerte erreichen. Dies ist nicht gerechtfertigt, sie stehen nicht im
internationalen Wettbewerb.
Vor allem aber ist es ökologisch nicht vertretbar. In
den letzten zehn Jahren hat sich die Emissionsbilanz der
Abfallwirtschaft verschlechtert, weil immer mehr Abfall
als Ersatzbrennstoff unterhalb vereinfachter Emissionsgrenzwerte verfeuert wird.
Dies ist ein entscheidender Punkt: Die Emissionswerte, die Luftqualität um diese Abfallmitverbrennungsanlagen hat sich verschlechtert, nicht nur bei Feinstaub,
auch bei anderen Emissionen, besonders bei Quecksilber.
Viele Menschen haben gerade bei der Abfallverbrennung für strenge Grenzwerte gekämpft. Die kommunalen
Entsorger haben Millionen Euro in die Verbesserung der
Müllverbrennungsanlagen gesteckt. Kommunale Müllverbrennungsanlagen gehören inzwischen zu den „besten“ Anlagen in Deutschland. Mutwillig wird dieses mit
den Ausnahmeregelungen unterlaufen. Außerdem entsteht
ein Ökodumping zulasten von Kommunen, Umwelt- und
Gesundheitsschutz. Weil die Mitverbrennungsanlagen geringere Auflagen haben, können sie niedrigere Preise
nehmen. Infolge dieses Ökodumpings müssen gut ausgebaute, technisch anspruchsvolle Müllverbrennungsanlagen, vor allem kommunale, nicht kostendeckende Preise
zahlen. Dies lehnen wir ab. Zugunsten von Umwelt,
Luftreinhaltung und einem fairen Wettbewerb müssen
die gleichen niedrigen Grenzwerte für die Verbrennung
von Abfall gelten.
Mit der EU-Industrieemissionsrichtlinie, die bis zum
7. Januar 2013 europaweit in nationales Recht umgesetzt werden muss, gehen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen weiteren Schritt in Richtung einer
Harmonisierung von Umweltstandards und Genehmigungsanforderungen für industrielle Anlagen. Aus deutscher Sicht ist dies unbedingt zu begrüßen, da somit zukünftig endlich europaweite Mindeststandards gelten
und nationalem Umweltdumping ein effektiver Riegel
vorgeschoben wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
und die Änderungsanträge der Koalition setzen die Vorgaben der Industrieemissionsrichtlinie weitestgehend im
Maßstab eins zu eins in deutsches Recht um. Abstriche
von einer Eins-zu-eins-Umsetzung werden dort gemacht,
wo die Richtlinie weniger anspruchsvolle Umweltstandards vorsieht als die bestehende nationale Gesetzgebung. Einen Standardabbau in Deutschland wird es definitiv nicht geben.
Die Abweichungsklausel des Art. 15 der IED haben
wir ebenfalls nur eingeschränkt umgesetzt. Eine vollständige Umsetzung, also die Erweiterung der möglichen Ausnahmen auf lokale und geografische Faktoren,
hätte zwar nicht zwangsläufig einen Standardabbau in
Deutschland bedeutet. Jedoch ist dieser immissionsseitige Ansatz nur schwer mit dem emissionsseitigen Ansatz
des bewährten deutschen Konzeptes des Standes der
Zu Protokoll gegebene Reden
Technik in Einklang zu bringen. Wir haben uns deshalb
dafür entschieden, die bestehende Systematik des deutschen Immissionsschutzrechtes unverändert beizubehalten.
Mit Blick auf die zu erwartende weitere Europäisierung des Umweltrechts sollten jedoch frühzeitig Überlegungen angestellt werden, ob dieser Weg auch zukünftig
zielführend ist. Der Gedanke des integrierten Umweltschutzes ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch, und
Deutschland - so eine jüngere Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung - läuft
durch seine starre Grenzwertfixierung Gefahr, hier den
Anschluss an technologische Entwicklungen zu verlieren.
Die größte Herausforderung dieses Gesetzgebungsverfahrens besteht sicherlich darin, angemessene Regelungen für die Umsetzung der Richtlinienanforderungen
bezüglich des Bodenzustandsausgangsberichts zu finden.
Ich darf daran erinnern, dass wir diesen in Deutschland
unisono immer abgelehnt haben, da er aufgrund des bestehenden deutschen Bodenrechts schlicht überflüssig
ist und auch nur schwer mit unseren nationalen Regelungen in Einklang zu bringen ist.
Die jetzt im Gesetzentwurf und im Änderungsantrag
der Koalition gefundene Regelung wird hoffentlich dafür sorgen, dass die europarechtlichen Anforderungen
mit so wenig bürokratischem Aufwand wie möglich erfüllt werden können. Ich appelliere hier an die Vernunft
der Länder, die neuen Kompetenzen nicht für andere
Zwecke zu zweckentfremden. Das regelmäßige Anbohren dichter Bodenwannen, wie es von einigen Seiten ja
bereits propagiert wird, wird diesem Anspruch jedenfalls nicht gerecht. Da sollten die Vollzugsbehörden
doch noch einmal in sich gehen und genau überlegen, ob
es nicht zweckdienlichere Ansätze gibt.
Zum Schluss noch einen Satz zur Kritik der SPD und
der Grünen, dass der Gesetzentwurf keine Ermächtigung zur Auferlegung von Energieeffizienzvorgaben
enthält. Eine solche Regelung ist aus unserer Sicht aufgrund des Emissionshandels schlicht überflüssig. Die
Unternehmen selbst haben dadurch bereits den größten
Anreiz zu rationaler Energiebewirtschaftung. Eine gesetzliche Regelung würde zudem nur Kosten verursachen,
ohne auch nur ein Gramm CO2 einzusparen.
Was ist wichtiger? Kosten für die Industrie zu vermeiden oder die Menschen unseres Landes vor schädlichen
Nebenprodukten der industriellen Produktion zu schützen? Wenn ich den Ausführungen der Koalition folge, ist
die Antwort einfach: Zugunsten der Profite verzichtet sie
auf den bestmöglichen Schutz von Mensch und Natur.
Nachfolgend werde ich etliche Mängel des Gesetzentwurfs zur Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen ansprechen und zeigen, wie die Linke Mensch
und Natur vor Schäden bewahren würde.
Es ist sicher gut, dass in diesem Entwurf das Prinzip
der besten verfügbaren Technik angewendet wird. Leider ist aber eine Überwachung der Umsetzung kaum
möglich, weil immer mehr Aufgaben an die unteren
Naturschutz- und Umweltbehörden delegiert werden
würden. Diese Behörden wurden von Ihnen aufgrund der
finanziellen Situation verkleinert und sollen jetzt immer
mehr Aufgaben lösen, womit sie personell überfordert
sind. Wenn die Umweltrichtlinien nicht kontrolliert
werden und man nicht damit rechnen muss, bestraft zu
werden, dann halten sich viele auch nicht daran. Das ist
wie mit dem Tempolimit: Nur wenn Autofahrer Radarfallen befürchten müssen, halten sie sich an das vorgeschriebene Tempo.
Auch die Aktualisierung der Merkblätter zur besten
verfügbaren Technik könnte besser organisiert werden.
Der Prozess ist zu langwierig. Bis die Aktualisierung einer verfügbaren Technik erfolgt, gibt es oft schon eine
neue und bessere Lösung. An dieser Stelle könnten wir
mit ambitionierteren Vorgaben viel mehr für die Gesundheit erreichen. Die Folgekosten von Umweltemissionen trägt schließlich die gesamte Gesellschaft und
nicht das jeweilige Unternehmen. Die Eins-zu-einsUmsetzung der EU-Vorgabe ist in vielen Bereichen gegenüber den bundesdeutschen Maßstäben der TA Luft
ein Rückschritt. Das bedeutet mehr Erkrankungen durch
Luftschadstoffe. Die Linke lehnt diese Verschlechterung
ab.
Beim Bodenschutz haben Sie Definitionen gewählt,
die einer Interpretation viel Raum lassen. Die Begriffe
sind nirgends definiert. Demzufolge laufen die Vorgaben
nach diesem Gesetz ins Leere. Man kann nicht juristisch
durchsetzen, was nicht definiert ist. Gehen Sie absichtlich so vor, um Firmen Schlupflöcher zu öffnen - so wie
Sie umfangreiche Ausnahmen zulassen, um die Pflicht
zur Prüfung auf schädliche Stoffe im Boden auszuhebeln? Sowohl die Bestimmungen des Gesetzes als auch
die Pflichtprüfungen müssen eindeutig und damit durchsetzbar sein.
Hinsichtlich der Informations- und Veröffentlichungspflichten stellte ich im Ausschuss mehrfach die
Frage, ob Unterlagen bei einem Antrag zum Bau von
umweltgefährdenden Anlagen nur dann veröffentlicht
werden müssten, wenn sie in elektronischer Form vorlägen. Wie verhält es sich dann mit Unterlagen, die in
schriftlicher Form eingereicht werden? Die Antwort
„Dies wird in einer zukünftigen Verwaltungsvorschrift
geregelt“ beruhigt mich nicht wirklich. Bleibt nur die
Frage: Wann wird diese Verwaltungsvorschrift wirksam? Bis dahin können Firmen die Veröffentlichung umweltrelevanter Anträge verhindern, indem sie diese einfach nur auf Papier einreichen.
Wahrscheinlich kommt die Vorschrift aber doch.
Damit die Firmen dann vor unbequemen Nachfragen
von Anwohnern und Nachbarn geschützt werden, haben
Union und FDP in ihrem Änderungsantrag klargestellt,
dass eine Veröffentlichung nicht stattfinden dürfe, soweit
Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse von Firmen betroffen seien. Diese Formulierung ist sehr dehnbar. Da kann
man gleich festlegen: Daten von Unternehmen brauchen
nicht veröffentlicht zu werden. Das wäre wenigstens
ehrlich. Die Linke ist gegen das Ausschalten der öffentlichen Kontrollmöglichkeiten. Wir wollen die Pflicht zur
Zu Protokoll gegebene Reden
Information. Schon dieser Grund reicht, den Antrag
abzulehnen.
Weiterhin legen Sie fest, dass die Behörde sofort nach
Eingang der Unterlagen den Eingang bestätigen muss
und dass jeder Antrag automatisch als genehmigt gilt,
wenn nach Ablauf eines Monats keine Behördenantwort
vorliegt. Die personelle Ausstattung der betreffenden
Behörden haben Sie verschlechtert, wie ich schon ausführte. Die Aufgaben werden dagegen ständig umfangreicher. Wenn dann ein Unternehmen kurz vor Jahresende oder kurz vor den Sommerferien Unterlagen
einreicht, ist die Behörde aufgrund von Personalmangel
und Urlaubszeiten nicht mehr der Lage, rechtzeitig den
Antrag zu bearbeiten.
Über den Trick „Arbeitsüberlastung und kurze
Fristen“ verhindern Sie gründliche Prüfungen und ermöglichen der Industrie, über einen weiteren Weg
Kosten für den Umweltschutz zu vermeiden. Die Linke
fordert ausreichend Personal und realistische Bearbeitungszeiten. Damit werden Folgekosten zum Beispiel
aus unnötigen Krebs- und Atemwegserkrankungen mit
all dem Leid für die Betroffenen und den Belastungen
fürs Gesundheitswesen vermieden.
Damit inhaltliche Fehler der Behörden, ausgelöst
durch Arbeitsüberlastung, Personalmangel und kurze
Fristen, nicht zu einer Blockade der Vorhaben der Industrie wegen Klagen vor einem Verwaltungsgericht
führen, schränken Sie dann noch das Klagerecht für
Umweltverbände massiv ein. Sie setzen kurze Einspruchsfristen und beschränken das Klagerecht auf formale Fehler. Gegen inhaltliche Fehler soll man nicht
klagen dürfen. Das ist eine eklatante Verletzung des
Rechtsstaates, aber für die Koalition offenbar ein notwendiger Schritt, damit die Industrie ungestört Profite
zulasten der Gesundheit einfahren kann.
Betroffene und Umweltverbände müssen die Möglichkeit der Überprüfung von behördlichen Fehlern haben.
Die Behörden müssen in die Lage versetzt werden, nach
Gesetz zu entscheiden, und das Gesetz selbst muss stimmen. Das würde die Linke umsetzen.
Ihr Gesetz ist mangelhaft, die Umsetzung des
schlechten Gesetzes erschweren Sie zusätzlich, und Korrekturen durch Gerichte verhindern Sie. Die Linke lehnt
dies ab und fordert Sie auf, das Gesetz zu korrigieren.
Eines der wichtigsten umweltpolitischen Vorhaben
der Europäischen Union der letzten Jahre ist die Richtlinie über Industrieemissionen, die nun in deutsches
Recht umgesetzt wird. Bereits im Oktober haben wir hier
im Bundestag den ersten Teil dieser Umsetzung diskutiert. Die entsprechende Verordnung aber war in Sachen
Umweltschutz und Luftreinhaltung ein Reinfall. Leider
setzt sich genau dies auch beim jetzt vorgelegten Gesetzentwurf fort.
Einer der Kernpunkte der Richtlinie ist die Stärkung
der Energieeffizienz, die in Art. 11 als eine Grundpflicht
für die Betreiber festgeschrieben wird. Darüber hinaus
wird es den Mitgliedstaaten aber zusätzlich freigestellt,
für die dem Emissionshandel unterliegenden Anlagen
weitere Energieeffizienzanforderungen zu stellen. Die
Chance, die Erhöhung der Energieeffizienz hier umfassend als Grundpflicht aller Anlagenbetreiber festzuschreiben, nutzt die Bundesregierung hier in voller Absicht nicht. Dabei ist die Stärkung der Energieeffizienz
doch integraler Bestandteil der geplanten Energiewende. Nur wenn es gelingt, in diesem Bereich Fortschritte zu erreichen, kann die Energiewende gelingen.
Oder sieht die Bundesregierung dies anders? Dazu aber
bedarf es eines funktionierenden Instrumentariums zur
Zielerreichung. Hier haben Sie die Möglichkeiten, die
die Umsetzung der Industrieemissionsrichtlinie bietet,
insbesondere die Möglichkeit, das Anlagenrecht weiterzuentwickeln, ohne Not vergeben.
Auch versäumen Sie es, eindeutig zu klären, welchen
Stellenwert zukünftig die deutsche TA Luft haben wird im
Vergleich zu den Anforderungen der neu eingeführten
europäischen BVT-Merkblätter. Diese sollen nämlich
den aktuellen Stand der bestverfügbaren Technik festschreiben und setzen damit die europaweiten Standards.
Es ist nicht klar, welches Instrument rechtlich höherrangig ist und was gilt, wenn in einzelnen Bereichen in
beiden Dokumenten verschiedene Standards festgeschrieben sind. Wir möchten hier Klärung und fordern,
dass die TA Luft rechtlich mit den BVT-Merkblättern zumindest gleichgestellt wird. Es kann nicht sein, dass am
Ende schon bestehende hohe Standards der TA Luft nicht
mehr angewendet werden müssen, weil in den BVTMerkblättern niedrigere Standards verankert sind, die
dann aber als höherrangig in der rechtlichen Abwägung
angesehen werden.
Der Bundesrat hat den Gesetzentwurf sehr kritisch
betrachtet und einige sehr gute Änderungsvorschläge
verabschiedet. Von denen finden sich zwar einige in den
Änderungsanträgen von der CDU/CSU-Fraktion und
der FDP-Fraktion, die gestern im Ausschuss eine
Mehrheit gefunden haben, wieder, aber leider nicht alle
wichtigen. Beispielsweise ignorieren Sie den Bundesratsvorschlag zur Wiedereinführung von Betriebstagebüchern und zur Übermittlung von Jahresberichten im
Abfallbereich, dessen Umsetzung eine effektive Stoffstromverfolgung sowie die angemessene Überwachung
und ordnungsgemäße Entsorgung der Abfälle sicherstellen würde. Ebenfalls enttäuschend ist Ihre Weigerung,
den sogenannten abfallrechtlichen Wertausgleich einzuführen. Dieser hatte bei den Beratungen zum Kreislaufwirtschaftsgesetz eine breite Mehrheit im Bundesrat
bekommen. Damit wären analoge Haftungsrechte zum
Bodenschutz- und Wasserrecht im Kreislaufwirtschaftsrecht verankert. Von einer Gewichtung zugunsten der
Umweltanforderungen kann bei diesem Gesetz keine
Rede sein.
Mit fadenscheinigen Argumenten nehmen Sie hier
eine minimale Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Richtlinie vor und ignorieren sämtliche Möglichkeiten zur Stärkung des Umweltschutzes und zum Vorantreiben der Energiewende, die die Richtlinie bietet. Dies
lässt uns erneut daran zweifeln, wie ernsthaft Bundesregierung und Koalitionsfraktionen Umweltschutz und
Energiewende betreiben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11394,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/10486 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Fraktion der SPD. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Fraktion der SPD. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Sven-Christian Kindler,
Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anbindung deutscher Seehäfen verbessern Alternativen zur Y-Trasse vorantreiben
- Drucksache 17/11352 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der Hauptgrund für die Ausbaustrecke/Neubaustrecke, ABS/NBS, Hamburg/Bremen-Hannover, die allgemein als Y-Trasse bezeichnet wird, ist die hohe Belastung
der bestehenden Hauptstrecke Hamburg-LüneburgUelzen-Celle-Hannover/Lehrte. Durch eine teilweise
Entmischung von Hochgeschwindigkeits- und Nah-/Güterverkehr soll eine höhere Kapazität für den Güterverkehr und eine verbesserte Pünktlichkeit erreicht werden.
Und dies ist dringend notwendig.
Es wird prognostiziert, dass der Personenverkehr auf
der Schiene von 2004 bis 2025 um 25,6 Prozent und der
Güterverkehr um 65 Prozent steigen werden. Wenn Güter transportiert werden sollen, brauchen wir auch die
entsprechenden Schienen. Eine gute Anbindung unserer
Häfen an das Hinterland ist sinnvoll und notwendig.
Deshalb werden derzeit umfangreiche Trassen geprüft,
um eine möglichst effiziente Lösung zu finden.
Wie ist der derzeitige Sachstand?
Die Bedeutung der Y-Trasse für das Zielnetz 2025
wird durch die Aufnahme der Strecke in den Entwurf des
Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 als weiteres
wichtiges Vorhaben in der Kategorie D verdeutlicht.
Die ABS/NBS Hamburg/Bremen-Hannover ist im
Vordringlichen Bedarf des Bedarfsplans für die Bundesschienenwege enthalten. Das Projekt dient der Verbesserung der verkehrs- und strukturpolitisch notwendigen
Hinterlandanbindungen der deutschen Seehäfen.
Zur Beschleunigung der Planung finanziert die
Bundesregierung mit 19 Millionen Euro einen Teil der
Planungskosten bis einschließlich Leistungsphase 3 der
Honorarordnung für Architekten und Ingenieure vor. Ein
Planungsstopp ist nicht vorgesehen.
Zur Y-Trasse gibt es eine raumordnerisch festgelegte
Trasse, deren Gültigkeit bis 2016 verlängert wurde. Ein
Planfeststellungsverfahren für diese Trasse ist derzeit
nicht in Vorbereitung.
Im Zuge der Bedarfsplanüberprüfung des Bundes im
Jahr 2010 wurden die Planungsparameter für die raumordnerisch festgelegte Y-Trasse angepasst: Güterverkehr auch tagsüber, Höchstgeschwindigkeit 250 Kilometer pro Stunde. Auf dieser Basis werden die notwendigen
Baumaßnahmen und die Kostenkalkulation überarbeitet.
In der Bedarfsplanüberprüfung beauftragte der Bund
die Prüfung von Alternativen: Ausbau der Bestandsstrecken und die Y-Trasse nur für den Güterverkehr in veränderter Trassierung. Eine abschließende Festlegung
auf eine dieser Streckenführungen erfolgte nicht.
Infolge der derzeit laufenden Vorplanung wird - ausgehend von den Planfällen 9a ({0}) und 45 ({1})
der Bedarfsplanüberprüfung 2010 - gegebenenfalls die
verkehrliche Untersuchung von noch nicht gesamtwirtschaftlich bewerteten Alternativen durch den Bund initiiert, für die erforderlichenfalls neue bzw. modifizierte
Planfälle geschaffen werden. Die Durchbindung nach
Lehrte zur Entlastung des Knotens Hannover wird hierbei mit untersucht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
auch für die Koalition ist die Anbindung der Häfen an
das Hinterland von großer Bedeutung. Aber lassen Sie
uns die begonnenen Untersuchungen abwarten und
dann auf der Grundlage fundierter Ergebnisse die notwendigen Entscheidungen treffen. Wenn ich berücksichtige, dass Überlegungen für eine Neubaustrecke
zwischen Hamburg und Hannover bereits aus dem Jahr
1962 bekannt sind, sollten Sie diese Wartezeit akzeptieren können und gemeinsam mit uns auf der Basis der
Prüfungsergebnisse den Ausbau des Schienennetzes
forcieren.
Ich bin dankbar für den vorliegenden Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen. Denn hier wird deutlich, dass
wir eine Einschätzung teilen: Die Hafenhinterlandanbindungen in Deutschland sind ein sehr wichtiges
Thema und verdienen politische Priorität.
Logistik, das ist nicht irgendein Gewerbe, sondern
die drittgrößte Branche in Deutschland. Im letzten Jahr
waren hier über 2,6 Millionen Menschen beschäftigt,
und es wurde ein Umsatz von über 220 Milliarden Euro
erreicht. Ohne unsere leistungsstarke Logistik wären wir
nicht Exportvizeweltmeister, und daher hat die Logistik24872
branche für die CDU/CSU einen sehr großen Stellenwert.
Für eine starke Logistik braucht es starke Häfen und
eine starke Anbindung. Ich denke, wir sind mit Bündnis 90/Die Grünen ebenfalls einer Auffassung, dass die
Anbindung unserer Häfen primär über die Schiene erfolgen soll. Doch was mich sehr verwundert, ist die Fokussierung auf die norddeutschen Seehäfen.
Genauso bedeutend für unser Land sind die großen
Seehäfen im Westen: Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam. Diese werden vor allem über die Binnenhäfen in
Nordrhein-Westfalen angebunden, Duisburg ist der
größte Binnenhafen der Welt. Auch hier braucht es eine
bessere Hinterlandanbindung. Aus diesem Grund stellen
wir im Investitionsrahmenplan, IRP, 2011 bis 2015 für
die sogenannte Betuwe-Linie beispielsweise insgesamt
805,7 Millionen Euro bereit, und auch der „Eiserne
Rhein“ muss kommen.
Auch die Anbindung der deutschen Seehäfen muss
verbessert werden. Schon heute sind die vorhandenen
Eisenbahnstrecken in dem Dreieck Hamburg-BremenHannover bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit
oder sogar darüber hinaus ausgelastet. Hier besteht
dringender Handlungsbedarf. Aber welcher?
Im Bundesverkehrswegeplan 2003 war die Y-Trasse
als Hochgeschwindigkeitsstrecke für Tempo 300 und den
Schienenpersonenfernverkehr ausgelegt. Die Steigerung
der Leistungsfähigkeit der Hafenhinterlandanbindung
für den Güterverkehr wäre also ausschließlich dadurch
zustande gekommen, dass auf den vorhandenen Strecken
die Verlagerung des Schienenpersonenfernverkehrs auf
die Y-Trasse Kapazitäten frei geworden wären.
Die Bedarfsplanüberprüfung vom November 2010
hat die Entscheidung für die Y-Trasse grundsätzlich bestätigt, aber auch die Notwendigkeit von Anpassungen
im Interesse einer nachhaltigen Optimierung deutlich
gemacht. Die Neukonzeption sieht eine Begrenzung der
Höchstgeschwindigkeit auf der Neubaustrecke auf 250 km/h
und auf der Ausbaustrecke auf 160 km/h vor. Außerdem
soll die Y-Trasse für den Güterverkehr geöffnet und bis
nach Lehrte verlängert werden. Dadurch sinken die Betriebskosten deutlich, während der Schienengüterverkehrsanteil - und damit der gesamtwirtschaftliche Nutzen - signifikant steigt.
Uns liegt daran, die Bürger frühzeitig in einem transparenten und offenen Verfahren in die Planung mit einzubeziehen und ihre Belange so weit wie möglich zu berücksichtigen. Dies hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung, Enak Ferlemann, sowohl hier in Berlin als auch vor Ort immer wieder versichert. Wir stehen
zu einem fairen und offenen Dialog!
Und zwar nicht nur bei der Y-Trasse, das kann ich an
zwei aktuellen Beispielen verdeutlichen: Vor wenigen
Tagen erst hat Bundesminister Dr. Ramsauer das
„Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung“ in der endgültigen Fassung öffentlich vorgestellt. Dieses soll den
Akteuren bei der Planung von großen Infrastrukturvorhaben einen „Werkzeugkasten“ an die Hand geben, wie
es der Minister genannt hat. In dem Handbuch sind verschiedene Anregungen zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung enthalten, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen. Dadurch sollen die Bürger deutlich früher und umfassender in die Vorhabenplanung
eingebunden werden. Bei Erhalt und Ausbau unserer
Verkehrsnetze brauchen wir die Akzeptanz der Gesellschaft.
Das zweite Beispiel: der Bundesverkehrswegeplan
2015. Noch in dieser Legislaturperiode wird von der
christlich-liberalen Bundesregierung hierfür die Grundkonzeption erstellt. Erstmalig wird die Öffentlichkeit dabei beteiligt. Schon im Sommer dieses Jahres hat der
Bundesminister ein Konzept vorgestellt, wie diese Beteiligung konkret in die Aufstellung der neuen Bundesverkehrswegeplanung eingebunden werden soll. Die Bürger erhalten die Möglichkeit, sich frühzeitig zu informieren und ihren Standpunkt in einem intensiven Dialog
auch selbst einzubringen und dadurch Entscheidungen
mit zu beeinflussen. Das ist vorbildliches Handeln im Interesse von mehr Transparenz und Akzeptanz.
In diesem Sinne wurden bei der Überprüfung des Bedarfsplans für die Bundesschienenwege selbstverständlich auch Alternativen zur Y-Trasse geprüft. Die Deutsche Bahn AG untersucht deshalb den Ausbau der
Bestandsstrecken Lüneburg-Uelzen-Celle und Langwedel-Wunstorf mit einer Machbarkeitsstudie für einen
wirtschaftlichen und verkehrlichen Vergleich mit der
Y-Trasse und ihrer Verlängerung nach Lehrte. Die Ergebnisse werden voraussichtlich im ersten Quartal des
nächsten Jahres vorliegen.
Diesen Untersuchungen sehen wir selbstverständlich
offen und unvoreingenommen entgegen. Bis dahin können und wollen wir aber die Planungen der Y-Trasse
nicht - wie von Ihnen vorgeschlagen - auf Eis legen. Im
Gegenteil. Die Bedeutung der Y-Trasse für das Zielnetz
2025 zeigt sich an der Aufnahme der Strecke in den Entwurf des Investitionsplans 2011 bis 2015 als weiteres
wichtiges Vorhaben in der Kategorie D. Die Y-Trasse ist
im vordringlichen Bedarf des Bedarfsplans für die Bundesschienenwege enthalten. Die Bundesregierung finanziert einen Teil der Planungskosten vor.
Zweifelsfrei ist die Y-Trasse ein Großprojekt. Großprojekte führen heutzutage leider in weiten Teilen der
Bevölkerung nicht zu Vorfreude und Euphorie, sondern
lösen regelmäßig Pawlow’sche Reflexe aus. Technikwahn und Großmannssucht werden dann gern unterstellt, etwas kleiner und billiger - und nach Möglichkeit
auch woanders - ginge es doch auch. Diese Reflexe verstellen den Blick auf die Realität.
Lassen Sie mich mit einigen Vorurteilen aufräumen:
Der Ausbau einer vorhandenen Strecke ist nicht zwangsläufig billiger als eine Neubaustrecke. Der Bau des dritten Gleises auf der Strecke zwischen Stelle und Lüneburg
kostet rund 285 Millionen Euro. Der viergleisige Ausbau
zwischen Lüneburg und Celle würde rund 2,4 Milliarden
Euro kosten. Das ist auch nicht billig.
Einfacher ist das ebenfalls nicht: Durch den Ausbau
wird die Kapazität der betroffenen Strecken erheblich
Zu Protokoll gegebene Reden
eingeschränkt. Im obigen Beispiel fuhren die ICE zeitweise 17 Minuten länger, der Metronom wurde manchmal durch Busse ersetzt. Ich frage sie: Ist das wirklich
besser als ein Neubau?
Ich gebe ja gern zu, dass der Ausbau einer Bestandsstrecke auf den ersten Blick verlockend einfach klingt.
Haben Sie schon daran gedacht, welche Schwierigkeiten
es gibt, wenn in einem Ort eine Bestandsstrecke um zwei
weitere Gleise erweitert werden soll?
Ein weiteres beliebtes Argument von Gegnern des
Vorhabens ist, dass das Großprojekt sowieso viel zu spät
fertig würde, um noch irgendeinen Nutzen zu entfalten.
Richtig daran ist nur eines: Jeder Tag Verzögerung verbessert nichts, sondern sorgt nur für Probleme.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch auf eine aktuelle Entwicklung eingehen, die zeigt, welche Wichtigkeit die Bundesregierung dem Ausbau von Hafenhinterlandanbindungen einräumt. 2013 wird der Bund sich
erstmals an den Kosten für die Ertüchtigung nichtbundeseigener Eisenbahnen für den Güterverkehr beteiligen. Das Land Niedersachsen hat für 2013 in seinem
Haushalt entsprechende Mittel für die Cofinanzierung
eingeplant. Damit können dann die EVB-Strecke
Bremerhaven-Bremervörde-Rotenburg/Wümme und die
OHE-Strecken zwischen Winsen/Lüneburg und Celle
ausgebaut werden. Dadurch wird mit verhältnismäßig
wenig Geld schnell bis zur Realisierung der großen Lösung eine merkliche Entlastung geschaffen.
Deutschland ist ein Industriestandort. Eine starke
Logistik gehört eindeutig zu unseren Zukunftsoptionen,
die wir nutzen müssen. Dies gilt umso mehr für die Entwicklung und Sicherung guter Arbeitsplätze mit tarifgebundenen Löhnen und betrieblicher Mitbestimmung.
Um eine zukunftsfähige Mobilität zu gestalten, müssen
wir uns den Herausforderungen hinsichtlich der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Verkehrssystems, des
demografischen Wandels, des Umwelt- und Klimaschutzes, der stark wachsenden Güterverkehre und des effizienten Einsatzes geringer finanzieller Mittel stellen.
Prognostiziert wird eine Steigerung der Güterverkehrsleistung von 637 Milliarden Tonnenkilometer auf
936 Milliarden Tonnenkilometer bis 2025. Für die
Straße wird von einem Zuwachs von mehr als 50 Prozent
durch Lkw-Verkehre ausgegangen. Das ist weder durch
die vorhandene Straßeninfrastruktur realistisch zu stemmen, noch den Bürgerinnen und Bürgern zuzumuten.
Ebenso wenig ist es mit unseren umweltpolitischen Zielen vereinbar. Deshalb muss eine Verlagerung auf die
Schiene verfolgt werden. Gleichzeitig sieht die Finanzplanung der schwarz-gelben Bundesregierung keine
ausreichende Finanzierung für eine bedarfsgerechte
Verkehrsinfrastruktur vor. Eine Verbesserung der Hafenhinterlandanbindung ist jedoch dringend geboten.
Hierzu müssen wir die richtigen Weichen jetzt stellen.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, wollen verstärkt
Verkehre auf umweltfreundlichere Verkehrsträger verlagern. Dies ist auch Bestandteil unserer Konzepte im
Rahmen unseres Infrastrukturkonsenses. Natürlich bestehen aus unserer Sicht Kapazitätsengpässe insbesondere im Bereich der Schieneninfrastruktur. Eine Erhöhung des Schienenverkehrsanteils wird daher in den
kommenden Jahren nur mit massiven Investitionen in die
Infrastruktur umgesetzt werden können. Um quantifizierte Verlagerungsziele zu erreichen, ist es also notwendig, die nötigen Finanzmittel für den Ausbau der Infrastruktur sicherzustellen. Wir fordern daher, zusätzlich
2 Milliarden Euro für den Verkehrsetat vorzusehen.
Gleichzeitig ist Verkehrspolitik nicht nur Finanzpolitik. Niemand darf dem Verkehrswachstum einfach hinterherbauen. Wir müssen aus ökonomischen und auch
ökologischen Gründen den Anspruch haben, durch
effiziente Organisation von Verkehren und durch eine integrierte Verkehrs- und Siedlungspolitik die bestehende
Infrastruktur besser zu nutzen. Hier sind Anreize gefragt, damit vermeidbare Verkehre vermieden und
verbleibende Verkehre umweltfreundlich abgewickelt
werden können.
Für eine verlässliche, ökonomische, ökologisch sinnvolle und stete Güterabwicklung der Häfen kommt dem
kombinierten Verkehr in der Hinterlandanbindung eine
Schlüsselrolle zu. Neben der Verbesserung des Verkehrsanteils an der Schiene sollte hier unbedingt das Potenzial der Binnenschifffahrt besser genutzt werden.
Wir schlagen ein Reformkonzept vor, um die Verkehrsnetze von morgen zu planen. Wir streben eine Bundesverkehrsnetzplanung an, die den Reformstau überwindet und einen neuen Aufbruch in der Verkehrspolitik
ermöglicht. Wir brauchen mehr Geld für die Infrastruktur, aber mehr Geld allein wird nicht genügen. Es muss
effizient und mit den richtigen Prioritäten eingesetzt
werden. Wir müssen aus Engpass- und Schwachstellenanalysen den Neu- und Ausbaubedarf entwickeln. Nur
solche Projekte dürfen in das Zielnetz aufgenommen
werden, deren Notwendigkeit zur Beseitigung überregional bedeutsamer Engpässe erforderlich sind und einen
hohen volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Dazu gehören ohne Zweifel Hafenhinterlandanbindungen.
Infrastrukturprojekte müssen allerdings transparent
und unter Mitwirkung der Öffentlichkeit ermittelt und
politisch festgelegt werden. Eine große Rolle für die
Akzeptanz der zunehmenden Güterverkehre wird die Reduzierung des Lärms an den Strecken haben. Hier gilt es
in erster Linie, aktiven Lärmschutz umzusetzen. Die
Umrüstung der Güterwagen muss forciert werden. Entsprechende andere Maßnahmen wie Lärmschutzwände
gilt es umzusetzen. Eine weitere Voraussetzung für eine
notwendige Lärmreduzierung ist die politische Entscheidung, den Schienenbonus abzuschaffen.
Die Planungen und die zeitnahe Realisierung der
Hafenhinterlandanbindung müssen auf jeden Fall
durchgeführt werden. Die Y-Trasse ist ein wichtiger
Baustein zur Verbesserung der Nord-Süd-Güterverkehre. Bahnchef Grube wird im Oktober dieses Jahres
mit den Worten zitiert: „Wir müssen grundsätzlich über
die Y-Trasse nachdenken. Im ersten Quartal 2013 soll
ein neuer Vorschlag vorgelegt werden.“ Wichtig ist letztendlich eine optimale Lösung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Ausfinanzierung der Projekte durch die Bundesregierung auf der Grundlage des Bundesverkehrswegeplanes ist aber zurzeit mehr als kritikwürdig. Es reicht
nicht aus, wenn Parlamentarische Staatssekretäre in jedem Bundesland alle Projekte für umsetzbar erklären
und die Mittel eigentlich nur nach Bayern fließen. Die
Bundesregierung muss endlich die richtigen Prioritäten
setzen, gemeinsam mit den Ländern und den Bürgerinnen und Bürgern, für die Realisierung wichtiger Infrastrukturprojekte.
Die Bedeutung der maritimen Wirtschaft in Deutschland kann kaum überschätzt werden.
Mit mehr als 380 000 Beschäftigten und einem Umsatzvolumen von über 50 Milliarden Euro ist die maritime Wirtschaft von zentraler Bedeutung für den Wohlstand in unserem Land. Rund ein Viertel des deutschen
Außenhandels wird über die deutschen Seehäfen abgewickelt. Und wie wir alle gerne beschwören, lebt die
deutsche Wirtschaft vom Export, woraus man durchaus
eine maritime Abhängigkeit Deutschlands ableiten kann.
Die christlich-liberale Koalition hat in dieser Legislaturperiode die Weichen für die maritime Wirtschaft in
die richtige Richtung gestellt. Wir haben beim Maritimen Bündnis Wort gehalten und den Finanzbeitrag an
die Seeschifffahrt auf 58 Millionen Euro erhöht, die damit für die Förderung von Beschäftigung und Ausbildung in der Seeschifffahrt zur Verfügung stehen. Wir haben für die dringend benötigte Sanierung der Schleuse
am Nord-Ostsee-Kanal in Brunsbüttel gesorgt und den
Neubau der fünften Schleusenkammer auf den Weg gebracht. Und auch die Sicherheit der Seewege konnten
wir verbessern. Mit dem erweiterten Atalanta-Mandat,
forcierter Entwicklungszusammenarbeit und der Ermöglichung des Einsatzes privater Sicherheitsdienstleister
auf deutschen Schiffen sind wir bei der Pirateriebekämpfung auf klarem Kurs.
Der Ausbau unserer Häfen hat für uns höchste Priorität. Sie sind Deutschlands Tor zur Welt. Ihre Anbindung an internationale Seewege und das Hinterland
durch Schiene, Straße und Wasserstraße sichert die
nachhaltige Entwicklung unserer maritimen Wirtschaft
und damit Arbeitsplätze. Eine gute Anbindung der Seehäfen ist dementsprechend unerlässliche Voraussetzung
für zukünftiges Wirtschaftswachstum.
Diese Ausgangslage gilt es zu betrachten, wenn wir
heute über die Y-Trasse sprechen. Die Y-Trasse ist also
kein niedersächsisches Projekt, sie ist kein Bremer Projekt, und sie ist ebenso kein Hamburger Projekt. Sie ist
noch nicht einmal ein norddeutsches Projekt. Die Y-Trasse
ist von gesamtdeutscher Bedeutung! Alle exportorientierten Wirtschaftszweige Deutschlands sind auf eine
funktionierende Verkehrsinfrastruktur angewiesen, und
deshalb möchte ich meine Argumente zur Ablehnung des
heute eingebrachten Antrags keineswegs nur als Hamburger Abgeordneter vorbringen.
Uns allen muss klar sein, dass die Anbindung nicht
für verkehrspolitische Experimente missbraucht werden
darf. Verlässlichkeit ist oberstes Gebot.
Die Grünen scheinen hingegen mit dem vorliegenden
Antrag wieder einmal ihr Fähnlein in den Wind halten
zu wollen. Schon bei der Fahrrinnenanpassung der Elbe
hatten die Grünen zunächst den Umweltverbänden öffentlich ihre Unterstützung zugesagt, dann aber während ihrer Regierungszeit in Hamburg die Fahrrinnenanpassung auf den Weg gebracht. Statt jedenfalls die
Elbe in den Zustand vor dem Elbehochwasser in 2002
versetzt zu haben, feiern sie jetzt die Klage der Naturschutzverbände.
Es ist sehr bedauerlich, dass durch den Eilantrag von
NABU und BUND die dringend notwendige Elbeanpassung voraussichtlich um Jahre verzögert wird. Das Seeschiff ist das umweltfreundlichste Verkehrsmittel. NABU
und BUND und ihre grünen Partner in den Parlamenten
Norddeutschlands haben ihren eigenen Interessen also
ein fulminantes Eigentor beschert. Sowohl in Hamburg
als auch in Bremen - hier sogar in Regierungsverantwortung - gefährden die Grünen moderne Wasserstraßen.
Konsistente Infrastrukturpolitik sieht anders aus.
Wir hingegen setzen auf ein schlüssiges Konzept zur
Stärkung des maritimen Standorts Deutschland und stehen sowohl zur Elbvertiefung als auch zur Y-Trasse.
Ohne die Fahrrinnenanpassungen wird die maritime
Wirtschaft in Deutschland im europäischen Wettbewerb
an Bedeutung verlieren. Das gefährdet unmittelbar
Arbeitsplätze im norddeutschen Raum und schadet der
Exportnation Deutschland insgesamt.
Für uns Liberale gehört zur Verbesserung der Hinterlandanbindung der Seehäfen auch eine Stärkung der
Binnenschifffahrt. Natürlich kann eine Stärkung der
Binnenschifffahrt die Probleme der Hinterlandanbindung nicht alleine lösen. Eine Steigerung des Anteils am
Modal Split von derzeit 2 auf 5 Prozent wäre jedoch
schon ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Statt weiterer blumiger Prosa wie in dem vorliegenden Antrag fordere ich konkretes Handeln der Grünen
zum Beispiel an der Weser. So bleiben sie aber den Beweis moderner, substanzieller Infrastrukturpolitik schuldig.
Herr Verkehrsminister, sie haben jüngst erklärt, die
Verbesserung der Hafenhinterlandanbindung stehe ganz
oben auf Ihrer Prioritätenliste. Auch Sie haben offensichtlich erkannt, dass die Steigerung des Güterumschlags in den deutschen Häfen letztlich von der Schiene
aufgefangen werden muss und dass dringender Bedarf
besteht, in die Bahninfrastruktur zu investieren. In diesem Punkt sind wir uns ausnahmsweise einig. Dass Sie
immer noch der Meinung sind, mit einem Großprojekt
wie der Y-Trasse die Kapazitätsengpässe auf der
Schiene beheben zu können, kann bei der Linksfraktion
jedoch nur Kopfschütteln hervorrufen.
Wir reden hier über ein Projekt, das längst seinen
Rückhalt verloren hat - wenn es diesen jemals gegeben
hat. Die Deutsche Bahn stellt die Trasse mittlerweile
grundlegend infrage, die Verkehrsverbände haben sich
eindeutig gegen das Projekt ausgesprochen, und bei den
Menschen in Niedersachsen stieß sie nie auf Gegenliebe. Warum ist dem so? Ich kann es Ihnen sagen: Das
Projekt Y-Trasse löst keines der akuten verkehrspolitischen Probleme, sondern steht einem sachgerechten und
vor allem umgehenden Ausbau der Bahninfrastruktur im
Wege. Selbst für einen Laien ist unmittelbar erkennbar,
dass eine auf Hochgeschwindigkeitsverkehr ausgelegte
Trasse wohl kaum Kapazitäten für die Aufnahme von
Güterverkehren vorhalten kann. Diese für Sie unliebsame Wahrheit wurde gleich durch mehrere verkehrswissenschaftliche Analysen bestätigt. Wer also behauptet, dass auf einer Hochgeschwindigkeitstrasse auch
riesige Gütermengen transportiert werden können, betreibt schlicht Etikettenschwindel.
Der Klarheit in Bezug auf den verkehrstechnischen
Nutzen der Y-Trasse steht eine völlige Ungewissheit bezüglich der zu erwartenden Kosten gegenüber. Die im
Bundesverkehrswegeplan von 2003 errechneten Kosten
von 1,3 Milliarden Euro sind nicht mal ein grober Richtwert. Eine Trasse, die sowohl Personenfernverkehr als
auch Güterverkehre aufnehmen kann, kostet mindestens
das Dreifache. Das Umweltbundesamt hat hierfür bereits 2010 knapp 4 Milliarden Euro veranschlagt. Dies
können Sie nicht wegdiskutieren.
Völlig unklar ist auch, wann die Y-Trasse denn ans
Netz gehen und den von Ihnen unterstellten Kapazitätseffekt entfalten könnte. Genau genommen liegt nicht einmal eine landesplanerische Feststellung vor, da hier
eine reine Personenverkehrsverbindung projektiert
wurde. Bis alle Planungsebenen durchlaufen sind und
vor allem Geld aus dem bis 2020 ausgelasteten Investitionsetat bereitsteht, könnten noch Jahrzehnte ins Land
gehen. Die schienenseitige Hinterlandanbindung der
Seehäfen muss jedoch sofort verbessert werden; denn
durch die Eröffnung des JadeWeserPorts wird der Druck
auf die ohnehin schon ausgelasteten Schienenverbindungen zukünftig beträchtlich steigen.
Die Y-Trasse ist ein verkehrspolitisches Fossil, das
Milliarden verschlingt und zudem in absehbarer Zeit
nicht zu realisieren ist. Dies wird auch im Antrag der
Grünen völlig zu Recht angemahnt. Die Linke unterstützt
daher den Vorstoß, Alternativplanungen zur Y-Trasse unter umfassender Bürgerbeteiligung voranzutreiben. Die
Linke-Landtagsfraktion in Niedersachsen hat bereits im
November 2008 eine Studie mit einem umfangreichen
Gegenkonzept zur Bewältigung des Seehafenhinterlandverkehrs vorgestellt. Wir fordern seit Jahren, dass durch
die Ertüchtigung des Bestandsnetzes und den gezielten
Ausbau der Knotenbahnhöfe das Schienenverkehrsnetz
schrittweise dem Bedarf angepasst wird. Diese Herangehensweise ist viel flexibler, zeitsparender und nicht zuletzt weit weniger kostenintensiv, als mit aller Macht an
einem Alles-oder-nichts-Projekt wie der Y-Trasse festzuhalten. Der Antrag der Grünen geht auch in dieser Hinsicht genau in die richtige Richtung und findet unsere
volle Unterstützung.
In einem Punkt sind wir jedoch entschiedener als
die Grünen: Wir wollen die weiteren Planungen für die
Y-Trasse nicht nur ruhen lassen, sondern ein für alle
Mal beenden. Die im Planungsprozess für dieses Großprojekt gebundenen Mittel müssen sofort freigesetzt
werden. Es wurden viel zu lange personelle wie finanzielle Planungskapazitäten für dieses antiquierte Projekt
gebunden. Nur ein konsequenter Schnitt kann den Weg
für eine schnelle Planung und Umsetzung der notwendigen Infrastrukturmaßnahmen freimachen. Um den Herausforderungen eines wachsenden Güterverkehrsaufkommens gerecht zu werden, muss Verkehrsinfrastruktur
endlich integriert geplant werden. Ohne schlüssiges Gesamtkonzept, welches effektive Einzelmaßnahmen bündelt, ist der Kollaps der norddeutschen Schienenwege
vorprogrammiert.
Herr Verkehrsminister, es liegt in Ihren Händen, diesen Kollaps noch abzuwenden. Dabei möchte ich Ihnen
eines mit auf den Weg geben: Als die Y-Trasse geplant
wurde, gab es noch zwei deutsche Staaten, die durch den
Eisernen Vorhang getrennt wurden. Es an der Zeit, sich
von diesem Projekt zu verabschieden und verkehrspolitisch im vereinigten Deutschland anzukommen!
Der Hafenhinterlandverkehr wächst in Norddeutsch-
land seit Jahren kontinuierlich an. Um diesen wachsen-
den Güterverkehr auf die Schiene zu bringen, brauchen
wir endlich realistische und vernünftige Konzepte. Dabei
ist es ein offenes Geheimnis, dass eine erhebliche Lücke
zwischen geplanten Projekten der Verkehrsinfrastruktur
und den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln des
Bundes besteht: Das zeigt sich am deutlichsten beim
Blick auf den aktuellen Bundesverkehrswegeplan. Über
80 Prozent der bis 2015 geplanten und bereits als prio-
ritär eingestuften Neubauprojekte bei Straße und
Schiene sind nicht finanziert! Für den Straßenbereich
sind 6,3 Milliarden Euro Bundesmittel vorgesehen, ge-
plant sind aber Projekte mit einem Gesamtvolumen von
33 Milliarden Euro. Das gleiche Bild haben wir bei der
Schiene. Hier stehen offenen Projekte mit geplanten Ge-
samtkosten von rund 38 Milliarden Euro gerade einmal
rund 4,5 Milliarden Euro real zur Verfügung stehenden
Mitteln gegenüber. Angesichts dieser Lücke zwischen
Planung und verfügbaren Geldern muss doch auch dem
Letzten klar sein: Wir haben es hier beim Bundesver-
kehrswegeplan nicht mit einer vermeintlichen Unter-
finanzierung des Infrastrukturplanung zu tun, sondern
mit einer hemmungslosen Überbuchung!
Ursache dieser Überfrachtung ist eine Projektaus-
wahl und Priorisierung durch ein intransparentes Zu-
sammenspiel aus regional- und landespolitischen Inte-
ressen, zu niedrig angesetzten Baukosten und unrealis-
tischen Verkehrsprognosen. Einmal aufgenommene Pro-
jekte werden über Jahrzehnte weiter mitgeschleppt, eine
kritisch und ergebnisoffene Prüfung findet nicht statt! So
wird stoisch an uralten Prestigeprojekten festgehalten,
obwohl sich die Rahmenbedingungen völlig geändert
haben. Dieses Weiter-so grenzt in vielen Fällen wirklich
an Realitätsverleugnung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich beschreibe das deswegen so ausführlich, weil all
dies heute am hier debattierten Projekt der Y-Trasse ge-
radezu exemplarisch nachzuvollziehen ist. Die Ur-
sprünge des Projektes Y-Trasse liegen in den späten
80er-Jahren: Helmut Kohl ist in der Mitte seiner Kanz-
lerschaft, Georg Bush senior ist Präsident der USA, und
der ICE-Hype in Deutschland ist groß. 1992 wird dann
die Y-Trasse als Personenfernverkehrsstrecke in den
Verkehrswegeplan aufgenommen und soll als Hochge-
schwindigkeitstrecke rund 13 Minuten Fahrtzeit zwi-
schen Hamburg und Hannover und rund 8 Minuten zwi-
schen Bremen und Hannover einsparen. Geplante
Gesamtkosten für diesen Zeitgewinn: 2,5 Milliarden
Deutsche Mark, umgerechnet 1,28 Milliarden Euro.
20 Jahre später findet sich das Projekt immer noch in
den Planungsunterlagen des Bundes. Es soll nun für die
Lösung der Engpässe im Hafenhinterlandverkehr her-
halten. Im Bundesverkehrswegeplan ist der veran-
schlagte Gesamtkostenansatz für diese Lösung rund
1,5 Milliarden Euro, im Wesentlichen eine einfache
Fortschreibung des uralten Kostensatzes von 1992.
Nach aktuellen Kostenschätzungen von unabhängigen
Verkehrsexpertinnen und -experten würden die Gesamt-
kosten deutlich höher bei mindestens 4 Milliarden Euro
liegen.
Gleichzeitig weisen verkehrswissenschaftliche Ein-
richtungen und Verbände vehement darauf hin, dass die
Y-Trasse trotz dieser exorbitanten Kosten zur Lösung
der Engpässe im Hafenhinterlandverkehr konzeptionell
schlicht und einfach ungeeignet sei. Die als Hochge-
schwindigkeitsstrecke geplante Strecke kann - auch
wenn dies auf Biegen und Brechen behauptet wird - den
dringend notwendigen Umfang an Kapazitätsgewinnen
für den Güterverkehr nicht bereitstellen. Hinzukommt,
dass das Y eine klassische Alles-oder-nichts-Planung
ist. Nutzbar wäre die Strecke erst bei vollständiger Fer-
tigstellung, also frühestens in den 2020er-Jahren und
käme damit für den vorher anwachsenden Bedarf viel zu
spät. Zu einem entsprechend vernichtenden Urteil
kommt auch das Umweltbundesamt in seiner Studie
„Schienennetz 2025/2030; Ausbaukonzeption für einen
leistungsfähigen Schienengüterverkehr in Deutsch-
land“. Ich zitiere: „Das Y ist der sichere Weg, den Vor-
und Nachlauf der norddeutschen Seehäfen zu verstop-
fen. Umso unverständlicher ist das Plädoyer der Hafen-
wirtschaft, der Kammern und der Landesregierungen
zugunsten dieses Großprojektes.“
Alternativen für eine zeitgemäße und effektive Seeha-
fenhinterlandanbindung liegen auf dem Tisch und dür-
fen durch Schwarz-Gelb in Niedersachsen und im Bund
nicht länger durch ein fortwährendes Klammern an das
90er-Jahre-Relikt Y-Trasse beiseite geschoben und ge-
zielt ignoriert werden. Der zweigleisige Ausbau der
Strecke Rotenburg-Verden muss abgesichert werden, die
Strecke Hamburg-Lüneburg-Celle ausgebaut sowie die
Amerika-Linie Bremen-Soltau-Uelzen-Stendal weiter
ertüchtigt werden. Bei all diesen Vorhaben müssen die
Anliegen der Bürgerinnen und Bürger vor Ort ernst ge-
nommen werden und durch eine echte, offene und faire
Bürgerbeteiligung umgesetzt werden. Das heißt insbe-
sondere, dass ein besonderes Augenmerk auf die umfas-
sende Umsetzung des Lärmschutzes im Bereich der Aus-
baustrecken gelegt wird.
Auch wenn es die Herren McAllister und Bode in Nie-
dersachsen nicht gerne hören: Die Fakten sprechen eine
nur zu deutliche Sprache: Die Y-Trasse ist veraltet, zu
teuer und kommt zu spät. Deswegen geht inzwischen so-
gar Bahnchef Grube auf Distanz zur Y-Trasse. Es ist Zeit
für eine finanzpolitisch realistische und zukunftsorien-
tierte Planung von Verkehrsinfrastruktur. Schwarz-Gelb
muss sowohl hier in Berlin als auch in Niedersachsen
endlich die Zeichen der Zeit erkennen. Wir Grüne wollen
mit überzeugenden Konzepten für den Hafenhinterland-
verkehr die Güter auf die Schiene bringen. Die unsin-
nige und teure Y-Trasse brauchen wir dafür nicht.
Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/11352. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sa-
che. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen
Überweisung, und zwar zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss, den
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und den Aus-
schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst
über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich
frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überwei-
sung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Frak-
tion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? -
Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthal-
tungen? - Keine. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf
Drucksache 17/11352 nicht ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 30 a und 30 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Flaggenrechtsgesetzes und der Schiffsregisterordnung
- Drucksache 17/10772 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/11307 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Kammer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Johannes
Vizepräsident Eduard Oswald
Kahrs, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort Deutschland sichern
- Drucksachen 17/10097, 17/11307 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Kammer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Kollege Enak Ferlemann
für die Bundesregierung. Bitte schön, Herr Staatssekretär Enak Ferlemann.
({2})
Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir, wenn
auch zu vorgerückter Stunde, heute doch noch ein bisschen über internationale Seeschifffahrtspolitik sprechen
wollen; diese ist in der Tat eine einzigartige Erfolgsgeschichte der Bundesregierung. Sie ist gekennzeichnet
durch die Stichworte Tonnagesteuer, Lohnkostenzuschüsse, Lohnsteuereinbehalt und Ausbildungsplatzförderung. Wir haben in den letzten Jahren das Maritime
Bündnis, das sehr positive Auswirkungen hatte, weiterentwickelt, insbesondere was die Ausbildung und die
Beschäftigung in Deutschland angeht.
({0})
Kaum ein Seeschifffahrtsstandort hat sich so dynamisch
entwickelt wie der deutsche. Das spricht dafür, dass wir
die richtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gesetzt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkt haben.
Angesichts der aktuellen Herausforderungen, die wir
haben - Stichworte dazu sind: Schiffsfinanzierung, Tonnagekapazitäten, Frachtraten, Entwicklung des seemännischen Personals auf See und an Land -, befindet sich
die Seeschifffahrt im wahrsten Sinne des Wortes in einem sehr schwierigen Fahrwasser. Vor diesem Hintergrund dürfen wir uns auf dem Erreichten nicht ausruhen;
wir müssen vielmehr den Schifffahrtsstandort Deutschland weiter fit für die Zukunft machen.
Ich begrüße sehr, dass der Haushaltsausschuss, insbesondere auf Anregung meines Kollegen und Freundes
Eckhardt Rehberg, die Finanzbeiträge für die Seeschifffahrt im Haushaltsjahr 2012 von 28,7 Millionen Euro
auf 57,8 Millionen Euro erhöht hat und diesen Betrag
auch für das Haushaltsjahr 2013 in den Haushaltsberatungen wieder so vorsieht.
({1})
Kombiniert ist das Ganze mit dem Versprechen des Verbandes Deutscher Reeder, auch einen Eigenbeitrag von
rund 30 Millionen Euro jährlich zu erbringen. Ich
glaube, das ist ein einmaliger Vorgang in Deutschland.
Wir werden nur gemeinsam dieses Bündnis vertrauensvoll fortsetzen können.
Deswegen bleibt es unverändert bei den Zielen der
Bundesregierung: Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit
des Schifffahrts- und Reedereistandorts Deutschland
verbessern, eine international wettbewerbsfähige, qualitativ hochwertige und leistungsstarke Handelsflotte sowie sichere und zukunftsfähige Arbeitsplätze im maritimen Bereich in Deutschland haben, an Bord wie an
Land. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden zielgerichtet Maßnahmen in Angriff genommen, um diese
Ziele zu erreichen.
Wer zukünftig ausflaggt, muss die dadurch entstehenden Nachteile für den Standort Deutschland ausgleichen.
({2})
Dieser Ausgleich besteht in erster Linie in der Aufrechterhaltung der Schiffe als Ausbildungsplatz, auch wenn
sie ausgeflaggt sind. Ausnahmsweise darf ein Ablösebetrag gezahlt werden. Dieser Ablösebetrag geht zweckgebunden an einen Fonds, den der Verband Deutscher Reeder als private Einrichtung verwaltet. Zweck dieser
Einrichtung ist es, die nautische und technische Ausbildung, Qualifizierung und Fortbildung von Besatzungsmitgliedern zu fördern, die auf in inländischen Schiffsregistern eingetragenen Seeschiffen beschäftigt sind.
Lieber Uwe Beckmeyer, ich hoffe, dass du uns wenigstens heute einmal - du bist ja oft unterwegs als jemand, der die Regierung anklagt,
({3})
leider wenig erfolgreich - lobst und sagst: Das habt ihr
richtig gut gemacht. - Du hättest uns doch nie zugetraut,
so etwas hinzubekommen.
({4})
- Lieber Kollege aus Hessen, du weißt doch gar nicht,
wie ein Seeschiff aussieht. Nun sei hier nicht so laut.
({5})
Ich darf mich sehr herzlich bei dem maritimen Koordinator, meinem Freund Staatssekretär Hans-Joachim Otto,
für die exzellente Zusammenarbeit auch in diesem Bereich bedanken. Insbesondere gilt mein Dank Eckhardt
Rehberg, der der Initiator dieser Sache war. Ich glaube,
mit Blick auf die maritime Konferenz, die am 8./9. April
nächsten Jahres in Kiel stattfinden wird, kann man sagen: Wir haben ein tragfähiges Fundament geschaffen,
um den maritimen Standort Deutschland und das maritime Fachwissen in Deutschland zu stärken.
Ich würde mich sehr freuen, wenn der vorliegende
Gesetzentwurf heute eine breite Mehrheit in diesem Parlament bekommen würde; denn er trägt deutlich zu einer
nachhaltigen Stärkung des maritimen Standorts Deutschland bei. Das ist ein guter Tag für den deutschen Seeschifffahrtsstandort.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Kollege Enak Ferlemann. - Nächster Redner für die
Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Uwe
Beckmeyer. Bitte schön, Kollege Uwe Beckmeyer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es darum geht, zu zeigen, wie Propaganda
entsteht, dann ist das das beste Beispiel: Erst erklärt man
ein hervorragendes Programm, das andere entwickelt
haben, und vor allen Dingen dessen Erfolge zu seinen eigenen. Gleichzeitig organisiert man mit dem Finanzminister und dem Fachminister, der nicht richtig aufpasst, dass die Mittel für das Programm, das bisher gut
und auch auskömmlich ausgestattet war, auf die Hälfte
gekürzt werden. Dann sagt die eigene Fraktion, überrascht über das, was die Regierung macht: So geht es
aber nicht; wir müssen vielleicht doch wieder ein bisschen aufstocken.
Bei der Aufstellung des nächsten Haushaltes, also des
Haushaltes für das Jahr 2013, erlebt man dann, dass die
Regierung wieder die alte Summe einsetzt. Man fragt
sich: Was ist das für ein Hin und Her?
({0})
Haben Sie in der Regierung eigentlich eine eigene Meinung zu diesem Thema, oder müssen Sie immer korrigiert werden? Sie erarbeiten einen Gesetzentwurf, der so
schlecht ist, dass er innerhalb von vier Wochen erneut
korrigiert werden muss. Man hat nämlich plötzlich festgestellt, dass man vielleicht zu viel Geld einsammelt
bzw. mehr, als man eigentlich einsammeln wollte.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, man merkt:
Das ist ein Schlingerkurs par excellence.
Wichtig und gut ist, dass wir seit 2001 in Deutschland
ein Maritimes Bündnis haben, das gut funktioniert und
über die ganzen Jahre hinweg sehr tragfähig war. Dass es
in den letzten vier Jahren für die deutsche Reederschaft
ökonomisch schwieriger geworden ist, weiß sicherlich
jeder, der sich ernsthaft mit dieser Materie auseinandersetzt. Gleichwohl ist das kein Grund dafür, dass die
schwarz-gelbe Koalition an das bisher bewährte Bündnis
die Axt anlegt, indem die Bundesrepublik Deutschland
als Vertragspartner dieses Bündnis erst einmal aufkündigt und dann sagt: Nun müsst aber auch ihr Privaten
euer Scherflein dazu beitragen.
Dass es vielleicht gerechtfertigt ist, dass sie auch etwas tun müssen, will ich gar nicht in Abrede stellen.
Gleichwohl kann man angesichts der Politik, die dazu
geführt hat, nur sagen: Liebe Freunde, haltet euch doch
einmal selbst den Spiegel vor: Was habt ihr denn mit diesem Bündnis angestellt? Ihr habt es erst einmal infrage
gestellt, und ich finde, das ist nicht gut. Ein selbst verursachtes Haushaltsloch war zunächst einmal die Ursache
dafür, dass das ganze Bündnis ins Wanken kam.
Was das Zurückholen der Reeder in die Verantwortung betrifft, werden wir sehen, wie es klappt. Ich frage
mich, ob am Ende das sich noch nicht bewährte Gesetz,
das im Übrigen erst 2013 - wie man hört, erst zur Maritimen Konferenz, wahrscheinlich als große Propagandashow - seine Wirkung entfalten soll, tatsächlich so tragfähig ist, wie Sie es zurzeit angeben. Ich will hoffen,
dass Ihnen ein Konstrukt gelungen ist, das am Ende des
Tages nicht vor dem nächsten Verwaltungsgericht in der
Bundesrepublik Deutschland aus den Angeln gehoben
wird, was man nicht ausschließen kann, weil es diverse
Reeder gibt, die nicht im VDR organisiert sind und die
möglicherweise diese Verabredungen für sich nicht
akzeptieren. Insofern meine ich, dass das, was auf uns
zukommt, noch seine Bewährungsprobe zu bestehen hat.
Die Fondslösung habe ich noch nicht geprüft. Ich
habe auf informellem Weg eine Information bekommen,
dass es jetzt beim VDR eine Fondslösung in irgendeiner
Form geben soll. Sie bauen einen Gesetzentwurf auf einer solchen Lösung auf, die aber als Basis eines Gesetzes nirgendwo in die Gremien des Deutschen Bundestages eingebracht worden ist. Auch das ist ein Novum, zu
dem ich nur sagen kann: Man kann zwar noch dazulernen, wie man hier Politik macht, aber die Basis, auf der
Sie diese Politik betreiben, ist ausgesprochen schwach
und nicht tragfähig.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden
sehen, ob die massiven handwerklichen Fehler, die Sie
bisher begangen haben, sich nicht möglicherweise fortsetzen. Uns geht es um die Qualifizierung und Weiterbildung von nautischem Personal, das wir dringend brauchen, weil der Nachwuchsbedarf auch für die deutsche
Reederschaft in der Zukunft beträchtlich ist. Die Frage
ist: Was passiert eigentlich nach 2018? Wird es da weitere Ausflaggungen geben? Ist dafür eine scheunentorgroße Möglichkeit gegeben? Ich denke, auch hier müssen Sie Antworten liefern. Ich habe die Sorge, dass
innerhalb des Gesetzentwurfs noch Koordinaten verschoben werden, die möglicherweise für uns an der
Küste bei der Frage von Ausbildung und Beschäftigung
eine Gefahr darstellen.
„Freifahrtschein für weitere Ausflaggungen“ ist ein
weiteres Stichwort. Auch hier, meine ich, muss man aufpassen. Sie haben einen Gesetzentwurf formuliert, der
diesen Freifahrtschein am Ende des Tages durchaus
möglich erscheinen lässt und ihn nicht grundsätzlich
ausschließt. Das ist meines Erachtens schlecht für den
maritimen Standort und auch für die Ausbildung und
Beschäftigung in Deutschland.
Unser Ziel als Sozialdemokraten ist eindeutig, zum
Maritimen Bündnis zurückzukehren. Die BundesregieUwe Beckmeyer
rung und die Sozialpartner müssen dringend gemeinschaftlich Ziele verabreden, um mehr Handelsschiffe
unter deutsche Flagge zu bringen.
Wenn uns ein Vertreter der Christlich Demokratischen
Union im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nach der Anhörung weismachen will, dass all die
Fachleute, die da vorgetragen haben, den Gesetzentwurf
der Koalition gut finden, dann muss ich sagen: Er war
nicht dabei. Wenn man sich die entsprechenden Ausführungen der Fachleute dort noch einmal vergegenwärtigt,
dann wird klar: Es waren mindestens drei von vier nicht
der Meinung, dass das ein gelungener Gesetzentwurf ist.
Insofern bleiben wir bei unserer Position. Wir brauchen
ein Maritimes Bündnis.
({3})
Wir brauchen aber etwas Besseres als das, was Sie
hier leider Gottes verschlimmbessert haben. Diese Verschlimmbesserungspolitik betreiben Sie zurzeit im Bereich der maritimen Industrie am laufenden Band. Das
ist etwas, was uns an der Küste sehr umtreibt und von
dem wir nur sagen können: Das gehört zu einer Reihe
von Fehlleistungen, die Sie in den letzten Jahren produziert haben. Das ist auch ein Grund dafür, dass diese
Koalition am Ende dieser Legislaturperiode ihren Freifahrtschein für das Regieren in Deutschland abgeben
muss.
Herzlichen Dank.
({4})
Das war unser Kollege Uwe Beckmeyer. - Nächster
Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär HansJoachim Otto für die Bundesregierung. Bitte schön, Kollege Hans-Joachim Otto.
({0})
Lieber Kollege Beckmeyer, eine konstruktive, souveräne Opposition ist in der Lage, auch einer Vorlage der
Bundesregierung zuzustimmen, wenn das im gemeinsamen Interesse geboten ist.
({0})
Das, was Sie geboten haben, ist keine souveräne Opposition, sondern eine ganz kleinliche Mäkelei.
({1})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, dies ist
ein guter Tag für den Seeschifffahrtsstandort Deutschland. Wir senden ein wichtiges Signal in einer aktuell
sehr angespannten Situation. Mit diesem Gesetzentwurf,
den wir heute beschließen, stärken wir das Maritime
Bündnis und stellen es auf eine neue, solide Grundlage.
Dass wir heute mit dem Flaggenrechtsänderungsgesetz das Maritime Bündnis auf eine neue Grundlage stellen können, ist vielen zu verdanken. Ich danke ausdrücklich den beteiligten Verbänden, allen voran dem VDR
und Verdi, für die große Kooperationsbereitschaft. Ich
danke aber ebenso den maritimen Berichterstattern der
Koalition dafür, dass sie immer ein offenes Ohr für die
wichtigen Anliegen der maritimen Wirtschaft haben.
Auch ich nenne an erster Stelle den Kollegen Eckhardt
Rehberg, der eine hervorragende Arbeit geleistet hat,
aber auch die Kollegen Claudia Winterstein,
Bartholomäus Kalb und Torsten Staffeldt. Vielen Dank
für Ihr, für euer Engagement für den Schifffahrtsstandort
Deutschland.
Meine Kolleginnen und Kollegen, so gut das alles ist:
Wir dürfen an dieser Stelle nicht stehen bleiben. Die
Bundesregierung bekennt sich nach wie vor zur Tonnagesteuer. Für die Wettbewerbsfähigkeit des Seeverkehrsstandortes Deutschland steht damit - zusammen mit der
neuen Schifffahrtsförderung - ein besonders leistungsfähiges Instrumentarium zur Verfügung. Mit diesem Engagement der Bundesregierung für den Standort Deutschland erwarten wir nun aber auch von den deutschen
Reedern, die gegebenen Zusagen, sich stärker zur deutschen Flagge zu bekennen, einzulösen.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({2})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Für die Fraktion
Die Linke spricht unser Kollege Herbert Behrens. Bitte
schön, Kollege Herbert Behrens.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenden wir uns einmal dem eigentlichen Thema zu. Wir
haben hier Lobreden gehört über das, was in Form dieses
Gesetzentwurfs auf den Tisch gelegt worden ist. Wenn
wir einmal wirklich ernsthaft darauf schauen und uns die
Entwicklung dieses Gesetzentwurfs vor Augen führen,
müssen wir zu einem anderen Ergebnis kommen. Das,
was heute vorliegt, ist wirklich - der Begriff wurde
schon genannt - eine Verschlimmbesserung dessen, was
Sie ursprünglich vorgesehen hatten.
Es sollte darum gehen, wieder Schifffahrtsförderung,
Ausbildung und Beschäftigung möglich zu machen.
Aber hier zeigt sich: Mit dem, was jetzt auf dem Tisch
liegt, wird genau das Gegenteil erreicht. Was hier vorgelegt wurde, wird keine Stärkung des Schifffahrtsstandorts Deutschland bewirken, sondern wird dazu beitragen,
dass weniger Schiffe unter deutscher Flagge fahren, als
das jemals der Fall war. Es wird wahrscheinlich auch
nicht die Zahl erreicht werden können, die mit dem
Maritimen Bündnis ursprünglich vorgesehen war.
600 Schiffe sollten es sein. Das hatten die Reeder zugesagt, als das Maritime Bündnis einst das Licht der Welt
erblickte. Wir haben diese Zahl kaum je erreicht. Die aktuelle Zahl lautet: 366 Schiffe. Das ist weit entfernt von
dem, was sein sollte.
Nachdem es einige Irritationen gegeben hatte, hat die
Bundesregierung jetzt angekündigt, die Zuschüsse wieder fließen zu lassen. Gleichzeitig haben sich die Reeder
verpflichtet, zusätzliches Geld lockerzumachen; die Gebühren für Ausflaggungsmaßnahmen werden erhöht.
Das soll in die Stärkung des Schifffahrtsstandorts
Deutschland fließen.
Was macht die Bundesregierung? Anstatt das, was die
Reeder zugesagt haben, produktiv aufzunehmen und die
Reeder ein Stück weit wieder verpflichtend in das ganze
Verfahren einzubinden, wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, der schon zu Beginn keine Qualität hatte und im
weiteren Verlauf der Beratungen noch weiter verschlechtert worden ist.
Die Regierungskoalition besserte nach - in Anführungszeichen -; während ursprünglich vorgesehen war,
2018 mit der Ausflaggung Schluss zu machen, ist im
Änderungsantrag der Regierungskoalition, der im Ausschuss vorgelegt worden ist, davon nicht mehr die Rede,
angeblich aus Wettbewerbsgründen. Stattdessen soll
2016 überprüft werden, wie sich das insgesamt entwickelt hat. Ich meine, aufgrund der Erfahrung mit dem
Maritimen Bündnis und mit der Zuverlässigkeit des
Bündnispartners Reeder können wir schon heute abschätzen, welche Entwicklung das nehmen wird.
In dem Gesetzentwurf wird zudem die Bedingung gestrichen, dass nur in wirtschaftlicher Not ausgeflaggt
werden darf. Damit wird eine Praxis legalisiert, die uns
das Problem, mit dem wir es heute zu tun haben, eigentlich erst beschert hat. Um das besser verkaufen zu können, hat die Koalition zur Bedingung gemacht, dass auf
jedem auszuflaggenden Schiff eine Ausbildungsstelle
geschaffen werden muss, von der sich die Reeder allerdings freikaufen können - zu einem Betrag zwischen
20 000 und 30 000 Euro. Damit sollten die Ausbildungsund Lohnkosten subventioniert werden. Aber nun hat die
Regierungskoalition auch das korrigiert. Dieser Betrag
wurde um 90 Prozent reduziert. Jetzt ist davon die Rede,
dass man sich von dieser Verpflichtung mit 2 000 Euro
freikaufen kann.
({0})
Es wäre für Sie, Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, ausreichend Gelegenheit gewesen, das wirklich
offensiv aufzunehmen, Verbesserungsvorschläge zu
machen und Forderungen aufzustellen, um das, was hier
durchgesetzt werden soll, unmöglich zu machen. Sie
bleiben mit Ihrem Antrag allerdings weit dahinter zurück. Es hätte wirklich eine Alternative dazu geben können.
Der Weg, den Sie mit Ihrem Antrag beschreiten
wollen, ist grundsätzlich richtig. Die sozialen Aspekte
werden anders gewichtet als im Regierungsvorschlag.
Darum werden wir dem Antrag zustimmen.
Aber insgesamt bleibt es dabei: Wir fordern die Bundesregierung auf, die Ausflaggungspraxis konsequent zu
stoppen. Dazu gehört mehr als der vorliegende untaugliche Versuch.
({1})
Vielen Dank, Kollege Behrens. - Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Dr. Valerie
Wilms. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Wilms.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Und, da noch Besucher da sind: Liebe
Herren, die Sie zu dieser späten Stunde noch ausgeharrt
haben! Worum geht es heute? Es geht um das Flaggenrecht. In der Fraktion wurde ich gefragt: Was ist das?
Geht es darum, wie wir die Flagge vor dem Parlament
hissen dürfen? Nein, darum geht es nicht. Es geht um die
Seeschifffahrt und um die maritime Branche. Gerade die
maritime Branche geht derzeit durch eine selbstgeschaffene Blase; denn es geht ihr nicht besonders gut. Mitten
in dieser Krise wird über die Zukunft des Maritimen
Bündnisses verhandelt. Das war ursprünglich dazu gedacht, möglichst viele Schiffe unter deutscher Flagge
fahren zu lassen, um damit Arbeitsplätze an Bord zu sichern. Für dieses Versprechen der Reeder gab es die
Quasi-Flat-Tax, genannt Tonnagesteuer, mit der kräftig
Steuern gespart werden konnten. Das sind bisher insgesamt knapp 5 Milliarden Euro. Diesen Betrag muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Was wurde aus diesen Vereinbarungen? Die Reeder
hielten ihre Zusagen zur Einflaggung nicht ein, und die
Politik hatte es schlicht und ergreifend versäumt, für diesen Fall Konsequenzen festzulegen.
Jetzt soll es eine neue Vereinbarung geben. Leider hat
die Koalition aus den Fehlern von damals nichts gelernt.
Dieses Mal geht es um die Ausbildung von Schiffspersonal. Wir alle wollen gut ausgebildete Seeleute. Da gibt es
aktuell riesige Probleme. Das kam bei der Anhörung
deutlich heraus. Ausgebildete Seeleute, die wir für viel
Geld durch unsere Ausbildungslehrgänge an Land
schicken, können ihre Patente nicht ausfahren, weil es
keine Arbeitsplätze auf deutschen Schiffen gibt. Kollege
Behrens hat es deutlich gesagt: Es gibt noch etwa
366 Schiffe unter deutscher Flagge.
Die jetzt im Gesetzentwurf vorgesehene Konstruktion
könnte grundsätzlich funktionieren. Wer ausflaggt und
ein Schiff unter Billigflagge betreiben will, bezahlt dafür
eine deutlich höhere Gebühr. Im Gegenzug verpflichtet
sich der Reeder zur Ausbildung. Man kauft sich also aus
der deutschen Flagge heraus.
Es gibt aber einen entscheidenden Haken; denn die
ganze Vereinbarung haben Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, während der Ausschussberatungen völlig verwässert - zum Nachteil der Ausbildung und zum Nachteil des Bundes. Diese Koalition hat sich das einfach so
gefallen lassen. Fehlt Ihnen hier der Mumm, oder warum
handeln Sie so zum Nachteil der Seeleute?
({0})
Was bitte soll eine Kopplung der Ausbildung an die
Schiffsgröße? Jetzt soll mit einem Mal auf kleineren
Schiffen weniger ausgebildet werden. Sie und ich wissen
doch, dass es kaum Unterschiede zwischen großen und
kleineren Schiffen gibt. Man braucht fast die gleiche
Zahl an Seeleuten. Es wird doch gerade auf große
Schiffe gesetzt, weil man hier mit genauso vielen Leuten
deutlich mehr transportieren kann.
Mit der späten Änderung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, haben Sie dafür gesorgt, dass
rund zwei Drittel weniger Ausbildungsplätze für Seeleute zur Verfügung stehen. Diese Änderung haben Sie
einfach so gemacht, ohne irgendetwas dafür herauszuholen. Da kann man den Reedern nur gratulieren. Sie von
der Koalition frage ich: Wie gut vertreten Sie eigentlich
die Interessen unseres Landes?
({1})
Das frage ich gerade Sie, Herr Staffeldt, von der FDP. Zu
diesem Land gehören nicht nur die Reeder, sondern alle
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Aber es kommt noch besser: Beim letzten Mal gab es
keine Konsequenzen, als die Reeder einfach weniger
Schiffe unter deutsche Flagge gebracht haben, als sie es
versprochen hatten. Deswegen wurde diesmal eine zeitliche Begrenzung ins Gesetz geschrieben. Bis 2018
sollte die Vereinbarung gelten. Dann sollte geprüft werden. Wenn das Ganze funktioniert, sollte verlängert werden. Das ist im Grundsatz vernünftig.
Aber was ist daraus geworden? Auf Wunsch der Reeder wurde diese Befristung einfach gestrichen. Sie haben
eine neue Dauersubvention daraus gemacht. Es ärgert
mich maßlos, dass Sie damit die Kontrolle durch uns,
nämlich durch das Parlament, aus der Hand gegeben haben. Auch das ist ohne jegliches Zugeständnis seitens
der Reeder geschehen. Auch da kann ich den Reedern
nur zu ihrem Geschick gratulieren. Aber dieser Koalition
werfe ich vor, dass sie selbst ein vom Grundsatz her
gutes Gesetz schlecht gemacht hat. Sie vertreten unsere
Interessen maßlos schlecht. Es wird Zeit, dass diese
Wahlperiode zu Ende geht
({2})
und damit auch die schwarz-gelbe Koalition.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Wilms. - Nächster
Redner ist der heute schon öfters gelobte Kollege
Eckhardt Rehberg für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte
schön, Kollege Eckhardt Rehberg.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich glaube, es ist ein guter Tag für die deutsche
Seeschifffahrt. Nachdem mir so viel gedankt worden ist,
möchte ich sagen: Es war mehr als ein Jahr lang das
Bohren dicker Bretter; das ist wohl war. Es ist auch
keine ganz einfache Materie gewesen. Deswegen
möchte ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die diesen Prozess konstruktiv begleitet haben.
Meine Damen und Herren von der Opposition, der
Gesetzentwurf, der heute beraten wird, ist in hundertprozentiger Übereinstimmung mit den Sozialpartnern, mit
Verdi und dem VDR, vereinbart und umgesetzt worden.
Es handelt sich um eine echte Modernisierung, eine
Neubelebung, eine Innovation im Maritimen Bündnis,
die wir hier vorgenommen haben.
({0})
Ich frage mich ganz besorgt, Kollege Beckmeyer, was
man dagegen haben kann, dass wir seit 1999 - damals
insbesondere auf Initiative von Dirk Fischer - mit der
Einführung der Tonnagesteuer, die eine europaweit harmonisierte Steuer ist, 1 Milliarde Euro Steuerersparnis
für die deutschen Reeder verzeichnen konnten. Damit
konnte der Schifffahrtsstandort Deutschland wettbewerbsfähig bleiben.
Das hatte zur Folge, dass sich die Zahl der Schiffe,
die von Deutschland aus bereedert werden, in zehn Jahren verdoppelt hat. Das hatte auch zur Folge, dass über
6 000 hochkarätige und hochqualifizierte Arbeitsplätze
an Land, nicht nur auf See, entstanden sind. Deswegen
war die Einführung der Tonnagesteuer ein mehr als erfolgreiches Instrument für den Schifffahrtsstandort
Deutschland.
({1})
Ich habe bereits gesagt, dass wir in Verabredung mit
VDR und Verdi gehandelt haben. Wir als Bund stellen
57,8 Millionen Euro für Lohnkostenzuschüsse zur Verfügung. Die Reeder leisten einen Beitrag von 30 Millionen Euro; so lautete die ursprüngliche Verabredung. Wir
sind letztendlich zu dem Ergebnis von 57,8 Millionen
Euro gekommen; darüber werden wir morgen früh, gegen 5 Uhr, im Haushaltsausschuss entschieden haben.
Wir haben die Gebühren auf 10 Millionen Euro erhöht.
Herr Kollege Beckmeyer, wie konnten Sie es über
sieben Jahre lang zulassen, dass für Ausflaggungen nicht
einmal 1 Million Euro veranschlagt wurde, wo man doch
einen Nutzen von 1 Milliarde Euro verzeichnet?
({2})
Das, was Sie über ein Jahrzehnt versäumt haben, haben
wir in diesem Jahr nachgeholt.
({3})
Wir mussten Ihre verkorkste Politik korrigieren.
Nun werden die Ausbildung und das Ausfahren der
Patente von Verdi selbst über eine Stiftung mit Vorstand,
Kuratorium und Beirat gesteuert. Das heißt, auf der einen Seite gibt der Staat etwas und verlangt auf der anderen Seite eine Leistung von der Privatwirtschaft. Ich
denke, das ist soziale Marktwirtschaft, wie sie gelebt
wird und gelebt werden sollte.
({4})
Wir erwarten natürlich auch etwas von den Reedern.
Frau Wilms, da haben Sie recht - Sie haben es nicht zum
ersten Mal gesagt, ich auch nicht -: Nicht die Bundesregierung hat das Maritime Bündnis aufgekündigt. Seit
Bestehen des Maritimen Bündnisses gab es keinen einzigen Zeitpunkt, in dem die Reeder über die volle Zeitachse hinweg ihre Zusage hinsichtlich des Fahrens unter
deutscher Flagge eingehalten haben.
({5})
Wir waren sehr konziliant mit den Reedern.
Deswegen ist es auch an dieser Stelle geraten, zu sagen: Der Staat gibt etwas, aber auch von den Reedern
wird etwas abverlangt, nämlich eine Gebühr und eine
Primärverpflichtung zur Ausbildung. Hier wird beklagt,
dass wir den Ablösebeitrag nach der Größe der Schiffe
gestaffelt haben, damit wir auf einen Betrag von rund
20 Millionen Euro kommen. Auch nach der Schiffsbesetzungsverordnung muss ein kleines Schiff einen
deutschen Kapitän haben, bei großen Schiffen muss es
sieben Besatzungsmitglieder mit deutscher oder europäischer Nationalität geben. Dass wir dann auch die Ausbildung nach der Leistungsfähigkeit der Schiffe staffeln, ist
doch ganz normal.
({6})
Herr Kollege Beckmeyer, wenn Sie sagen, das Ganze
sei immer auskömmlich finanziert gewesen, dann muss
ich Ihnen sagen: Nein, auch hier mussten wir Ihren
Murks beseitigen,
({7})
nämlich dass die Lohnkostenzuschüsse für die deutsche
Seeschifffahrt drastisch unterfinanziert waren. Dass wir
in jedem Jahr eigentlich nicht 60 Millionen Euro gebraucht hätten, sondern 80 Millionen bis 90 Millionen
Euro, ist erst im Jahr 2011 zutage getreten, als wir die
Nachfinanzierung der Jahre 2009 und 2010 mit einer
überplanmäßigen Ausgabe von knapp 30 Millionen Euro
nachfinanzieren mussten. Das heißt, den Murks von
Tiefensee, von Rot-Grün mussten wir in der schwarzgelben Koalition beseitigen. Das sind die Tatsachen.
({8})
Herr Kollege Beckmeyer, Sie sprechen von „grandiosen
Fehlleistungen“. Ich darf Sie hier zitieren. Sie haben für
die SPD gesagt: Unser Ziel ist es, zum Maritimen Bündnis zurückzukehren.
Kollege Behrens hat die Zahl genannt: Am 30. September dieses Jahres fuhren 366 Schiffe unter deutscher
Flagge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hätten
367 Schiffe sein können: Die SPD hat als Partei
({9})
- da kann man sowieso fragen, warum eine Partei so etwas macht - einen Kreuzfahrer gechartert. Die SPD
chartert einen Kreuzfahrer, stellt sich dann hierhin und
beklagt, dass nicht genug Schiffe unter deutscher Flagge
fahren; aber dieser Kreuzfahrer fuhr unter der Flagge
von Madeira, Portugal.
({10})
So viel, meine Damen und Herren, zu Ihrem Tun.
Anspruch und Wirklichkeit liegen bei Ihnen weit auseinander. Sie predigen hier Wasser und trinken selber Wein.
({11})
- Getroffene Hund bellen.
An dieser Stelle muss man eines wissen: Dieses
Schiff fuhr mit einem Blue Certificate der Internationalen Transportarbeiter-Föderation. Das sind die minimalsten Standards, die es auf dieser Welt gibt. Diese Standards sind nicht ansatzweise mit den Sozial- und
Arbeitsstandards auf Schiffen unter deutscher Flagge zu
vergleichen.
Lieber Kollege Beckmeyer, Sie haben dann noch im
Verkehrsausschuss gesagt, dass Sie Frau Hendricks darauf hingewiesen hätten, dass man das nicht tun solle,
dass das nicht sehr klug sei. Dazu muss ich sagen: Sie
sollten demütig sein und diesem Gesetz, das mit Verdi
und dem VDR vereinbart wurde, hier und heute einfach
zustimmen.
({12})
Dann würden Sie eine gute Tat für den Schifffahrtsstandort vollbringen.
Herzlichen Dank.
({13})
Vielen Dank, Kollege Eckhardt Rehberg. - Letzter
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Torsten Staffeldt. Bitte schön, Kollege Torsten Staffeldt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Seeleute, die jetzt auf der 8-12-Wache sind, ich
begrüße Sie recht herzlich zu unserer Debatte. Glücklicherweise führen wir diese Debatte heute Abend an dieser Stelle. Ich weiß, dass ich mir damit nicht nur Freunde
gemacht habe; aber nichtsdestotrotz halte ich es für sehr
wichtig, dass wir diese Debatte hier im Deutschen Bundestag führen, weil sie letztendlich dazu dient, die Sea
Blindness, die in Deutschland leider an vielen Stellen
vorhanden ist, ein wenig zu überwinden.
({0})
Es ist eben nicht ausreichend, in Sonntagsreden zu sagen: Seefahrt und Schifffahrt sind uns wichtig. Es ist
wichtig, dass wir darüber auch hier im Deutschen Bundestag debattieren und klarmachen, was die unterschiedlichen Standpunkte der Parteien sind. Ich finde, die
Standpunkte der Opposition sind nicht besonders positiv.
Die Standpunkte der Regierungskoalition sind jedoch
sehr positiv. Mit dieser Debatte wird die Sea Blindness
ein wenig überwunden. Ich freue mich, dass wir sie
heute Abend hier führen.
({1})
Zu den Inhalten ist eigentlich alles gesagt worden. Ich
möchte nur auf einige Punkte eingehen, die mir persönlich sehr wichtig sind, insbesondere auf den Punkt des
Ausfahrens der Patente. Lieber Kollege Beckmeyer, in
der letzten Verkehrsausschusssitzung haben Sie sogar
gesagt, dass es richtig ist, was wir machen, und dass Sie
es gut finden.
({2})
Ich kann Ihnen als Lotsen der SPD-Fraktion im Hinblick
auf die Ausgestaltung des Fondsmodells nur den
Ratschlag geben, sich doch einmal beim ehemaligen
SPD-Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium
schlauzumachen. Er kann Ihnen ganz genau sagen, wie
das Fondsmodell ausgestaltet ist, wer darüber gefördert
wird und dass darüber auch die von der Kollegin Wilms
angesprochenen jungen Patentinhaber gefördert werden.
Das ist, wie Sie wissen, ein Punkt, der mir persönlich
sehr wichtig ist. Denn es reicht eben nicht aus, die
Ausbildung zu fördern. Wir müssen auch dafür sorgen,
dass die Menschen, die den langen Weg der Ausbildung
gegangen sind und als Inhaber eines nautischen oder
technischen Patents an Bord gehen, die Chance haben,
mit den seit 20 oder 30 Jahren aktiven Besatzungsmitgliedern aus anderen Ländern zu konkurrieren, die niedrigere Löhnen beziehen. Das ist ein wesentlicher und
wichtiger Punkt.
Wie gesagt, der ehemalige SPD-Staatssekretär, der
jetzt Geschäftsführer des VDR ist, kann Ihnen sicherlich
dazu Auskunft geben. Ich gebe Ihnen gerne die Telefonnummer, sodass Sie hier kein dummes Zeug erzählen
müssen, lieber Kollege Beckmeyer.
Es wurde schon mehrfach gesagt: Es ist eine Erfolgsgeschichte. Das ist ein guter Tag für die Seeschifffahrt.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
({3})
Ich freue mich über das, was wir erreicht haben. Es war
ein langer, harter und schwieriger Weg. Kollege Rehberg
und andere haben daran gearbeitet. Insbesondere der
Maritime Koordinator hat nie aufgegeben, das gesetzte
Ziel und eine vernünftige Regelung zu erreichen. Ich
freue mich, dass wir eine Regelung hinbekommen haben, die eine gewisse Parität zwischen staatlichem Denken und Handeln sowie privatwirtschaftlichem Handeln
gewährleistet, eine Regelung also, die dazu führt, dass
die Reeder beteiligt werden.
({4})
Da ich einer der wesentlichen Betreiber der heutigen
abendlichen Debatte
({5})
bin, lade ich meine Kolleginnen und Kollegen zum Abschluss meiner Rede als kleine Kompensation herzlich
auf ein Getränk in die PG ein.
({6})
Ich bedanke mich herzlich für diese Debatte. Ich halte
sie für sinnvoll. Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend und den Seeleuten eine gute Wache.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11307, den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/
CSU und FDP auf Drucksache 17/10772 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktion
der Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11307, den
Antrag der SPD auf Drucksache 17/10097 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind alle
drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Vizepräsident Eduard Oswald
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kommunen von den Kosten für bauliche Maßnahmen an Kreuzungen von Eisenbahnen und
Straßen befreien
- Drucksache 17/10820 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. - Sie sind einverstanden.
Vor dem Hintergrund der hohen Haushaltsbelastungen der zunehmend finanzschwachen Kommunen fordern die Linken eine Novellierung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes ({0}), um zukünftig Kommunen bei
Baumaßnahmen im Kreuzungsbereich von Eisenbahnen
und kommunalen Straßen von einer Mitfinanzierung
freizustellen. Sucht man in dem einseitigen Antrag eine
Aussage darüber, wer statt der Kommunen die Kosten
übernehmen soll, wird man nicht fündig. Darüber
schweigen sich die Linken aus.
Die Fraktionen der PDS/Die Linke haben bereits in
den Jahren 1997, 1999, 2002, 2006 und 2007 ähnliche
Initiativen zur finanziellen Entlastung der Kommunen
bei Bau- und Erhaltungsmaßnahmen an Eisenbahnkreuzungen erfolglos eingebracht. Heute erleben wir einen
erneuten Versuch.
Wie ist die Rechtslage? Da Bahnübergänge sowohl
Straße als auch Schiene berühren, sind sie Gemeinschaftsaufgabe. Soll eine technische Sicherung, beispielsweise eine Schranken- oder Halbschrankenanlage, eingebaut oder der Bahnübergang etwa durch ein
Brücken- oder Tunnelbauwerk ersetzt werden, müssen
Bahn, Bund und Straßenbaulastträger - also der Eigentümer der Straße und damit die Kommune - dieses vereinbaren.
Im Zusammenhang mit der Neuordnung des Eisenbahnwesens wurde unter anderem der § 19 des Eisenbahnkreuzungsgesetzes, EKrG, neu gefasst und dahin
gehend geändert, dass die bislang gemäß § 19 Abs. 1
Satz 3 EKrG bestehende Sondererhaltungslast der DB
für Straßenüberführungen entfiel. Damit waren ab dem
1. Januar 1994 in den alten Bundesländern alle Straßenüberführungen im Zuge von öffentlichen Straßen und
Wegen in die Erhaltungslast der Straßenbaulastträger
übergegangen. Ich möchte darauf hinweisen, dass mit
dem Wegfall der oben genannten Regelung eine Rechtsvereinheitlichung eintrat, da in den neuen Bundesländern die Erhaltungspflicht für Straßenüberführungen
schon immer bei den Straßenbaulastträgern lag.
Die Kosten für Maßnahmen an Straßenüberführungen, die durch die Ertüchtigung von Schienenwegen
erforderlich werden, sind - sofern der Straßenbaulastträger keine Änderung verlangt - nach den Regelungen des EKrG ausschließlich vom Schienenbaulastträger zu tragen. Wegen der gesetzlichen Duldungspflicht
nach § 4 EKrG, die eine wesentliche Grundlage des Gemeinschaftsverhältnisses im Kreuzungsbereich darstellt,
kann der Straßenbaulastträger solche Maßnahmen nicht
verhindern. Daher ist nicht ersichtlich, inwieweit die
prekäre Haushaltssituation einiger Kommunen zur Behinderung notwendiger Investitionen in die Schienenwege führen sollte.
Soweit der Gesetzentwurf zum Ziel hat, dem Bund die
finanziellen Lasten für die im Rahmen der kommunalen
Baulast anfallenden Aufgaben aufzuerlegen, bestehen in
Bezug auf die Grundsätze der Finanzverfassung erhebliche Bedenken. Denn nach Art. 104 a Abs. 1 Grundgesetz
haben Bund und Länder und auf deren Seite auch die
Kommunen gesondert die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergebenden Ausgaben zu tragen. Bei der
Beteiligung verschiedener Baulastträger an Verkehrswegekreuzungen gebietet diese Verfassungsnorm, dass
jeder diejenigen Kosten trägt, die dem Anteil seiner
Verpflichtung zur Aufgabenwahrnehmung entsprechen.
Erfolgen Baumaßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit an Bahnübergängen, dient dies grundsätzlich
gleichermaßen bei den Baulastträgern zur Erfüllung
ihrer Aufgaben. Die derzeitige gesetzliche Regelung in
§ 13 Abs. 1 EKrG trägt diesem Grundsatz Rechnung. An
dieser sachgerechten und klaren Regelung ist somit festzuhalten.
Die Freistellung der Gemeinden von ihren originären
Aufgaben als Straßenbaulastträger widerspräche auch
der Zielsetzung der Föderalismusreform, die politischen
Verantwortlichkeiten von Bund und Ländern klarer zuzuordnen und die Effizienz der Aufgabenerfüllung zu
steigern. Mit den grundgesetzlichen Änderungen im
Zuge der Föderalismusreform ist auch die Bund-Länder-Mischfinanzierung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, GVFG, entflochten worden.
Als Ausgleich für die bisher in die - auch für EKrGMaßnahmen aufgelegten - GVFG-Landesprogramme
fließenden Bundesfinanzhilfen erhalten die Länder seit
dem 1. Januar 2007 bis Ende 2019 Bundesmittel in
Höhe von 1 335,5 Millionen Euro.
Der Antrag der Linken ist nicht zielführend und deshalb abzulehnen.
Die Linke fordert, die Kommunen von den Kosten für
bauliche Maßnahmen an Kreuzungen von Eisenbahnen
und Straßen zu befreien. Provokant will ich an dieser
Stelle fragen: Wieso - um Himmels willen - sollten wir
das tun? Wo ist hierfür die rechtliche Grundlage? Kann
und darf es genügen, zur Durchsetzung dieser populistischen Forderung ein chronisches Finanzierungsdefizit
der Kommunen anzuführen, für das laut der LinkenKollegen obendrein der böse Bund mit seinen gemeinen
Gesetzen der Hauptverursacher sein soll? Ich sage
Nein!
Die Verfasser dieses Antrags verkennen hierbei die
einfachsten und bewährtesten gesetzlichen Prinzipien,
wie zum Beispiel die Gebote der Subsidiarität und der
Äquivalenz, das hohe Gut der kommunalen SelbstverVolkmar Vogel ({0})
waltung, aus dem sich jedoch nicht nur Rechte, sondern
eben auch Pflichten - und zwar inklusive etwaiger Finanzierungsrisiken - ergeben, oder die hier entscheidende Grundlage, das EKrG, also das Eisenbahnkreuzungsgesetz.
Dieses Bundesgesetz regelt bereits seit 1963 die
Handhabung, den Bau und die Finanzierung von Kreuzungen an Bahnen und Straßen. Werden also bestehende
Bahnübergänge geschlossen, verändert oder Überführungen neu gebaut, regelt dieses zuletzt 1971 geänderte
Gesetz bzw. die 2006 aktualisierte, entsprechende
Verordnung über die Kosten von Maßnahmen nach dem
Eisenbahnkreuzungsgesetz klipp und klar die Finanzierung.
So gilt bei der Anlage einer neuen Kreuzung das
Verursacherprinzip. Das heißt: Derjenige, der den neu
hinzukommenden Verkehrsweg baut, bezahlt auch die
Kreuzung. Oder anders: Die Musik zahlt, wer sie
bestellt. Werden zwei unterschiedliche Verkehrswege angelegt, werden die Kosten auch halbiert. Das ist nachvollziehbar und mehr als gerecht.
Wenn an höhengleichen Bahnübergängen Baumaßnahmen durchgeführt werden - wir stellen uns vor, ein
Bahnübergang muss wegen eines Brückenbaus beseitigt
werden oder ein Bahnübergang wird durch Signale gesichert - ,werden die Kosten zwischen den Baulastträgern
gedrittelt; sprich: Es kommen also die Deutsche Bahn
Netz AG, der Bund oder das jeweilige Land und die entsprechende Kommune zu je einem Drittel für die Kosten
auf.
Wenn man bedenkt, was die Linken in diesem Antrag
herunterzuspielen versuchen, nämlich dass diese
Drittel-Kosten zulasten der Gemeinde grundsätzlich
nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz förderfähig sind und dass die Länder vom Bund zusätzlich mit
Kompensationszahlungen ausgestattet werden, offenbart sich, wie absurd und ungerechtfertigt eine Befreiung von den ohnehin bereits maßgeblich vom Bund kofinanzierten gedrittelten Kosten ist.
Dieser Antrag der Linken ist auch vor dem Hintergrund, dass die Verhandlungen mit den Ländern über
eine neue, anschließende Festlegung der Entflechtungsmittel nach 2013 noch andauern, nicht akzeptabel.
Am selben Tag, an dem dieser Antrag amtlich wurde,
nämlich am 24. Oktober 2012, hat der Haushaltsausschuss des Bundes übrigens beschlossen, einen neuen
Titel zur anteiligen Finanzierung von Investitionen in
die Schienenwege der öffentlichen, nicht bundeseigenen
Bahnen in Höhe von 25 Millionen Euro ins Leben zu rufen. Auch hier hilft der Bund erneut, die Kommunen zu
entlasten. Aber das ignorieren die Linken-Abgeordneten. Lieber stellen sie Bahnübergänge, Kommunen und
damit sich selbst in den Blickpunkt der Öffentlichkeit.
Dabei vergessen sie allerdings zu sagen, wer für diese
populistische und durch und durch undienliche kommunale Kostenbefreiung aufkommen soll. Ich sage nur: Wer
die Musik bestellt, muss auch dafür bezahlen. Wir
wollen, dass das so bleibt. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Mit dem Antrag „Kommunen von den Kosten für bauliche Maßnahmen an Kreuzungen von Eisenbahnen und
Straßen befreien“ greift die Fraktion Die Linke ein
wichtiges Thema auf: die Finanzierung der Infrastruktur.
Positiv ist dabei hervorzuheben, dass mit diesem Antrag auf die schwierige Haushaltslage vieler Kommunen
eingegangen wird. Alle Kolleginnen und Kollegen können aus ihren Wahlkreisen berichten, mit welchen finanziellen Nöten gerade auf kommunaler Ebene gekämpft
werden muss.
Dennoch ist aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion der Antrag viel zu kurz gegriffen. Nicht nur die
Kommunen haben mit angespannten Haushaltslagen zu
kämpfen - auch der Bund und die Länder müssen den
Gürtel enger schnallen. Aus diesem Grund ist die Verteilung der Kosten und Lasten auf mehrere Schultern richtig. Denn es ist ein Prinzip unseres Gemeinwesens, dass
die Lasten von mehreren getragen werden.
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass es mir in
der Diskussion um die Befreiung der Kommunen von
Kosten für bauliche Maßnahmen an Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen nicht um das „Wer-hat-denSchwarzen-Peter“-Spiel geht. Auch will ich das Ansinnen der Fraktion Die Linke nicht herunterspielen. Vielmehr geht es mir darum, dass nun endlich eine
Gesamtstrategie für die Finanzierung und den bedarfsgerechten Ausbau von Infrastruktur in Deutschland angegangen werden muss.
Wir brauchen in diesem Land eine Infrastrukturplanung aus einem Guss, das heißt Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam für ein Ziel: Deutschland muss weiterhin seine ökonomische und ökologische Vorreiterrolle
in Wirtschaft und Technologie behaupten können; dazu
braucht es einen bedarfsgerechten Ausbau der Infrastruktur.
Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2013
und der Koalitionsgipfel am Wochenende haben deutlich
gezeigt: Die Bundesregierung hat keine Ideen, keine
Konzepte, und unter dem bedarfsgerechten Ausbau von
Infrastruktur versteht sie den Ausbau für eine bestimmte
Klientel, um im nächsten Jahr wiedergewählt zu werden.
Gerade bei der Konzeption des neuen Bundesverkehrswegeplanes, der Ende 2015 verabschiedet werden
soll, fordere ich die Bundesregierung auf, sich an ihre
eigens aufgestellten Maßstäbe zu halten: Neutralität bei
der Bewertung und bedarfsgerechter Ausbau sowie Erhalt der bestehenden Infrastruktur.
Wenn von einem Ausbau der Infrastruktur aus einem
Guss gesprochen wird, dann müssen dabei die Herausforderungen der Zukunft angegangen werden - und das
ist das Anwachsen des Personen- und Güterverkehrs.
Durch individualisierte Lebensplanung, aber auch
durch die steigenden Anforderungen an die persönliche
Mobilität im Berufsleben ist mit einer Zunahme von
7,1 Prozent im motorisierten Individualverkehr bis ins
Jahr 2025 zu rechnen. Im Straßengüterverkehr soll die
Steigerung des Transportaufkommens 55 Prozent und im
Zu Protokoll gegebene Reden
Schienengüterverkehr die Steigerung der Verkehrsleistung 65 Prozent im gleichen Zeitraum betragen.
Die zwei Leuchtturmprojekte der Bundesregierung,
der Test des Gigaliners und die Liberalisierung des Busfernverkehrs, sind dabei bestimmt nicht die richtigen
Antworten auf die Fragen der Zukunft.
Als Bahnbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion
ist für mich eines klar: Nur durch den Ausbau der bestehenden Schieneninfrastruktur werden wir die verkehrlichen Herausforderungen der Zukunft bewältigen können. Ziel muss es sein, mehr Verkehr auf die Schiene zu
bringen. Dazu braucht es eine rasche Beseitigung der
Verkehrsengpässe und eine Steigerung der Kapazitäten
im Netz.
Für die SPD-Bundestagsfraktion steht fest: Verkehr
darf nicht krank machen. Gemeinsames Ziel von Bund,
Ländern und Gemeinden muss es sein, den Verkehrslärm
bis 2020 zu halbieren. Im Bereich der Schiene kann
durch die Umrüstung der 600 000 Güterwagen, die in
ganz Europa unterwegs sind, auf sogenannte Flüsterbremsen ein wesentlicher Beitrag geleistet werden. Hier
ist die Bundesregierung in der Pflicht, dies auf europäischer Ebene durchzusetzten. Es reicht nicht aus, nur die
180 000 umzurüstenden Güterwagen in Deutschland mit
Flüsterbremsen auszustatten.
Die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern bei
Planungsprozessen sowie die Gleichbehandlung des
ländlichen Raumes und Boomregionen ist bei der Konzeption einer Verkehrsinfrastruktur aus einem Guss eine
Selbstverständlichkeit. Genauso gilt es, bauliche Projekte vonseiten des Bundes anzupacken, die ansonsten
den in den nächsten Jahren einen wahren FinanzTsunami in den öffentlichen Kassen bewirken könnten:
Ich spreche von den Renovierungskosten für baufällige
Bahnbrücken im Milliardenbereich. Die aktuelle Investitionsplanung im Verkehrsbereich gibt keine Antworten
auf die Fragen zu den anstehenden Kosten.
Beispielhaft lassen sich die 23 Eisenbahnbrücken im
fränkischen Pegnitztal auf der Strecke Nürnberg-Marktredwitz anführen. Hier fallen nach Angaben der DB AG
Gesamtkosten von 100 Millionen Euro an. Zwar sind
diese laut Bahnprojektplanung gesichert - aber was ist
mit den anderen Brücken? Wir sprechen von 9 000 der
insgesamt 25 000 Brücken, die über 100 Jahre alt sind.
Aus diesem Grund fordere ich ein Sofortprogramm zur
Brückeninstandhaltung.
Bund, Länder und Gemeinden müssen gemeinsam für
den bedarfsgerechten Ausbau der Infrastruktur einstehen. Es gilt, eine Verkehrsplanung aus einem Guss zu
realisieren. Die SPD-Bundestagsfraktion hat mit ihrem
„Projekt Zukunft“ die richtigen Antworten auf die Fragen der Zukunft und mit dem darin enthaltenden Konzept für eine moderne Infrastruktur auch die richtigen
Weichen gestellt - für Bund, Länder und Kommunen. Als
SPD-Bundestagsfraktion enthalten wir uns daher bei
dem Antrag „Kommunen von den Kosten für bauliche
Maßnahmen an Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen befreien“ der Fraktion Die Linke, weil dieser kein
Gesamtkonzept für eine bedarfsgerechte Infrastrukturplanung darstellt.
Der Antrag der Fraktion Die Linke „Kommunen von
den Kosten für bauliche Maßnahmen an Kreuzungen
von Eisenbahnen und Straßen befreien“ greift ein tatsächlich existierendes Problem auf, zieht jedoch die falschen Schlussfolgerungen. Worum geht es?
Nach heutiger Rechtslage greift bei der Beseitigung
von höhengleichen Bahnübergängen die Finanzierungsvorschrift nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz. Danach
zahlen, soweit es sich um Eisenbahnen des Bundes handelt, der Bund und die beteiligten Baulastträger der Verkehrswege Schiene und Straße jeweils ein Drittel der
kreuzungsbedingten Kosten. Die Absicht dieser Finanzierungsregelung war und ist, diejenigen an den Kosten
zu beteiligen, die Kreuzungsmaßnahmen initiieren können. Genau das verkennt der Antrag der Fraktion Die
Linke. Es ist grundsätzlich richtig, auch die Kommunen
an den bei Kreuzungsmaßnahmen entstehenden Kosten
zu beteiligen, da diese Maßnahmen häufig vonseiten der
Städte und Gemeinden initiiert werden. In der Regel
geht es dabei um die Beseitigung von Kreuzungen oder
den Bau von Überführungen oder Schrankenanlagen.
Würden die Kommunen, wie im Antrag verlangt, generell von der Pflicht befreit, sich mit einem Drittel an den
Kosten für Kreuzungsmaßnahmen zu beteiligen, würde
ein falscher Anreiz und Regelungsmechanismus entstehen. Die Kommunen wären beteiligt an dem Verfahren
mit vollen Rechten und könnten auf teure Kreuzungsmaßnahmen, wie etwa den Bau von Über- oder Unterführungen, pochen. An den Kosten beteiligen müssten
sie sich aber nicht. Welche Folgen sich daraus für das
zukünftige Verhalten von Kommunen ergeben würden,
kann man sich leicht vorstellen.
Richtig allerdings ist, dass bei großen Ausbauvorhaben an Bundesschienenwegen für einzelne Kommunen
das Problem entstehen kann, sich an der Beseitigung
von zahlreichen Bahnübergängen nach Maßgabe des Eisenbahnkreuzungsgesetzes zu beteiligen und dann der
von der Kommune zu stemmende Finanzierungsanteil zu
hoch ist. Das spielt vor allem dann eine Rolle, wenn die
Ausbaumaßnahme an der Schienenstrecke darauf ausgerichtet ist, die zulässigen Geschwindigkeiten so zu erhöhen, dass höhengleiche Bahnübergänge nicht mehr
zulässig sind. Hier müssen wir in der Tat schauen, welche Lösungen für solche Konstellationen zukünftig infrage kommen. Dazu aber, wie gesagt, muss man nicht
das Kind mit dem Bade ausschütten, wie man so schön
sagt. In diesem Sinne werden wir uns an den weiteren
Beratungen des Antrags beteiligen.
Dort, wo sich Schiene und Straße begegnen, ist besondere Vorsicht geboten. Aus diesem Grund enthalten
die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung und andere
Gesetze ein ganzes Bündel an Vorschriften, die genau
regeln, wie Schranken, Licht- und Signalanlagen oder
auch Überführungsbauwerke, also Brücken, an den Stellen beschaffen sein müssen, an denen sich Schiene und
Zu Protokoll gegebene Reden
Straße begegnen. Betrachtet man die Besonderheiten
der Bahn als Verkehrsmittel, zum Beispiel die langen
Bremswege und die Bewegung großer Massen, dann
kommt man schnell zu dem Schluss, dass die Fülle der
eben erwähnten Vorschriften notwendig ist, um ein sicheres Nebeneinander von Straße und Schiene zu ermöglichen.
Als Nächstes stellt sich jedoch unweigerlich die
Frage, wer diese notwendigen Maßnahmen der Verkehrssicherheit eigentlich finanziert. Nach der derzeitigen Regelung des § 13 Eisenbahnkreuzungsgesetz soll
bei jeder Kreuzungsmaßnahme zwischen Schiene und
Straße ein Drittel der Kosten von dem Träger der Straßenbaulast getragen werden. Dieser Träger der Straßenbaulast ist in den meisten Fällen die Kommune.
Bei der Regelung im Eisenbahnkreuzungsgesetz handelt es sich um einen von vielen Fällen, in denen die Gesetzgebung des Bundes eine Aufgabe definiert, die auf
kommunaler Ebene finanzielle Belastungen auslöst. Die
Kommunen sind dabei weder an der Gesetzgebung beteiligt, noch kümmert sich der Bund um eine ausreichende Finanzierung der Aufgabe.
Die Aufgabe nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz
trifft Kommunen, die sich immer noch in einer höchst angespannten finanziellen Lage befinden. Es ist zwar davon auszugehen, dass die Kommunalfinanzen im Jahre
2012 insgesamt erstmals nach langer Zeit wieder im Plus
liegen. Dies ist jedoch im Wesentlichen auf Zuwächse bei
den Gewerbesteuereinnahmen zurückzuführen. Es ist daher zu befürchten, dass diese Bilanz bei der zu erwartenden Abkühlung der Konjunktur wieder deutlich negativer ausfällt. Betrachtet man die gegenwärtigen Zahlen
etwas genauer, stellt man fest, dass von dem gegenwärtigen Einnahmeüberschuss keineswegs alle Kommunen
profitieren. Es verfestigt sich vielmehr der Trend, wonach die finanzielle Schere innerhalb der kommunalen
Familie immer weiter auseinandergeht. Ein Großteil der
Kommunen muss sich schon seit Jahren mit einem Defizit
herumschlagen.
Nun soll es an dieser Stelle nicht um die Frage gehen,
ob die öffentlichen Haushalte im Allgemeinen und die
kommunalen Haushalte im Besonderen eher unter einem
Einnahmeproblem oder unter einem Ausgabenproblem
leiden. Vielmehr soll es um eine konkrete gesetzliche Regelung gehen, die auf Bundesebene beschlossen wurde
und auf kommunaler Ebene immer wieder zu enormen finanziellen Belastungen führt.
Die finanzielle Beteiligung der Kommunen an Kreuzungsmaßnahmen mag in früheren Zeiten anders zu bewerten gewesen sein, die Regelung steht in dieser Form
immerhin seit 1963 im Gesetz. Die damalige Deutsche
Bundesbahn hatte als Staatsbahn noch den Anspruch,
möglichst viele Orte mit dem Bahnnetz zu verbinden, sodass die Kommunen in der Regel nicht nur die Lasten
der Finanzierung der Eisenbahnkreuzungen, sondern
auch den Nutzen eines eigenen Bahnhofs mit entsprechendem Anschluss an das Bahnnetz hatten. Die Bahn
ist allerdings mittlerweile eine privatrechtlich organisierte Aktiengesellschaft und agiert entsprechend. Sie
konzentriert sich auf wirtschaftlich lukrative Verbindungen und ist immer weniger in der Fläche präsent. In vielen Regionen müssen sich Städte und Gemeinden mit reduzierten Verbindungen begnügen oder werden gar
nicht mehr angefahren. Häufig handelt es sich dabei um
strukturschwache Gebiete, die mit Wegfall der Bahnverbindung einen zusätzlichen Standortnachteil hinnehmen
müssen. Nicht umsonst hat sich der ehemalige Verkehrsminister meines Landes zu dem Hinweis berufen gefühlt,
der Landesname sei Sachsen-Anhalt und nicht SachsenDurchfahrt.
Bei von Kreuzungsmaßnahmen zwischen Straße und
Schiene konkret betroffenen Kommunen übersteigen die
finanziellen Aufwendungen für die Maßnahme in vielen
Fällen das Haushaltsbudget. Die Kosten für Signal- und
Sicherungsanlagen bzw. Überführungsbauwerke sind
oftmals erheblich. In der Folge können Strecken mangels Verkehrssicherheit nicht freigegeben werden, weil
notwendige Reaktivierungen oder Ertüchtigungen der
Schienenwege von den Kommunen abgelehnt wurden.
Besonders gravierend ist jedoch, dass die Kommune
keinen Einfluss auf die Art und Weise der Ausführung
der baulichen Maßnahmen an Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen hat. Sie muss das, was Bund und
Bahn vorgeben, einfach hinnehmen und dann noch mit
finanzieren. Wichtige kommunale Interessen bleiben bei
den Baumaßnahmen zudem außen vor. So ist es zum Beispiel nicht möglich, dass in die Planungen der betreffenden Baumaßnahmen noch anzulegende Radwege Eingang finden.
Es wird höchste Eisenbahn, dass die Kommunen von
den Kosten für bauliche Maßnahmen an Kreuzungen
von Eisenbahnen und Straßen befreit werden. Dies liegt
nicht nur im Interesse der Kommunalfinanzen, sondern
dient auch den Sicherheitsinteressen der Nutzerinnen
und Nutzer sowohl der Straße als auch der Schiene.
Die Fraktion Die Linke stellt in ihrem Antrag richtig
fest, dass es dort, wo die Kommunen Träger der Straßenbaulast sind, an einigen Stellen Probleme gibt, wenn es
darum geht, Bahnübergänge zu beseitigen bzw. zu ersetzen. Die Kommunen sind teilweise nicht in der Lage, ihren
Anteil, - der ein Drittel der Gesamtkosten beträgt, aufzubringen. Das Ergebnis: Die sogenannte Kreuzungsvereinbarung mit Bund und Bahn kommt nicht bzw. erheblich verspätet zustande. Das kann im schlimmsten
Fall dazu führen, dass sich Ausbauprojekte bei der
Schiene verzögern.
Ganz aktuell ist diese Problematik beispielsweise bei
der Ausbaustrecke Berlin-Dresden. Zumindest gibt die
Deutsche Bahn AG als Grund für den erneut verschobenen Fertigstellungstermin eines Teilabschnitts der
Verbindung zwischen Spree und Elbe die zähen Verhandlungen mit den Kommunen beim Ersatz von Bahnübergängen durch Bau von Unter- und Überführungen an.
Wir sind allerdings der Ansicht, dass Sie es sich mit
Ihrem Antrag zu einfach machen. Der Bund soll es also
- mal wieder - richten. Kann das die Lösung bei der
Kostenbeteiligung der Kommunen bei BahnübergangsZu Protokoll gegebene Reden
ersatzmaßnahmen sein? Ist das unsere Antwort auf das
chronische Finanzproblem der Kommunen? Entspricht
es dem Subsidiaritätsprinzip, dass bei originären Kommunalaufgaben - und um eine solche handelt es sich bei
den Pflichten, die sich aus der Straßenbaulast ergeben einfach der Bund einspringt? Wir meinen, dass kann
nicht die Lösung sein. Wer die Finanzprobleme der
Kommunen nachhaltig, also dauerhaft, lösen will, der
muss nicht die Kompetenzen des Bundes ausweiten, sondern die Finanzkraft der Kommunen stärken.
Die Probleme, die wir bei Bahnübergangsersatzmaßnahmen sehen, sind doch nur ein Beispiel - quasi die
Spitze des Eisbergs - für die Finanzprobleme der Kommunen. Sie können in weiteren Politikfeldern gleichlautende Anträge stellen und haben am Ende das Problem
der klammen Kommunalkassen immer noch nicht gelöst.
Wir brauchen daher eine umfassende Reform der Gemeindefinanzen. Deshalb muss Schluss sein mit der
Steuersenkungspolitik, die zulasten öffentlicher Güter
im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge geht. Die
Einnahmen aus der Gewerbesteuer müssen verstetigt
und ökologisch ausgerichtet werden. Nur wenn wir die
Kraft aufbringen, diese Reformen anzugehen, kann die
Finanzkraft der Kommunen gestärkt werden, sodass sie
wieder in der Lage sind, ihre originären Aufgaben auch
wahrzunehmen. Dazu gehört nun einmal auch die Unterhaltung von Kommunalstraßen und die Beteiligung
an entsprechenden Bahnübergangsersatzmaßnahmen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10820 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind alle damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung ({0})
Nr. 1259/2010 und zur Änderung anderer Vorschriften des Internationalen Privatrechts
- Drucksache 17/11049 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/11384 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Burkhard Lischka
Raju Sharma
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. - Widerspruch erhebt
sich nicht.
Wir beraten heute abschließend über das Gesetz zur
Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung ({0}) Nr. 1259/2010 und zur
Änderung anderer Vorschriften des internationalen Privatrechts.
Die Europäische Union hat am 20. Dezember 2010
die Verordnung des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes
anzuwendenden Rechts ({1}) verabschiedet. Diese regelt, welches Recht auf die Ehescheidung und die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes
in Fällen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener
Staaten aufweisen, anzuwenden ist, und gilt seit dem
21. Juni 2012 in Deutschland und 13 weiteren an der
verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten der EU.
Durch die Rom-III-Verordnung wird das in den Mitgliedstaaten noch unterschiedlich ausgestaltete internationale Privatrecht vereinheitlicht. Das materielle
Scheidungs- und Trennungsrecht wird von der Verordnung jedoch nicht berührt. Der Rechtsakt findet auch
keine Anwendung auf die Ungültigerklärung einer Ehe
und die Feststellung ihres Nichtbestehens.
Bisher regelte das EGBGB, welches Recht auf die
Scheidung von Ehegatten unterschiedlicher Nationalität
anzuwenden ist. Für ab dem 21. Juni 2012 eingereichte
Ehescheidungsanträge gelten die deutschen Regelungen
nach dem EGBGB jedoch nicht weiter. An ihre Stelle treten die Bestimmungen der Rom-III-Verordnung.
Eine Anpassung des bislang geltenden nationalen
Rechts an die Verordnung ist daher dringend erforderlich und soll nunmehr durch den hier vorgelegten
Gesetzentwurf erfolgen. Dieser enthält die zur Durchführung der Rom-III-Verordnung erforderlichen Bestimmungen.
Mit der Verordnung soll vor allem die Privatautonomie der Ehegatten gestärkt werden. Diese haben gemäß
Art. 5 der Rom-III-Verordnung ab sofort die Möglichkeit, das anzuwendende Recht durch Rechtswahl selbst
zu bestimmen. Die von den Eheleuten gewählte Rechtsordnung muss dabei über ihren gewöhnlichen Aufenthalt, ihre Staatsangehörigkeit oder den Gerichtsort eine
enge Verbindung zu ihrer Lebensführung aufweisen.
Sofern die Ehegatten dieses Wahlrecht nicht ausgeübt
haben, wird das anzuwendende Recht nach objektiven
Kriterien bestimmt ({2}). Maßgeblich sind auch hier insbesondere der Lebensmittelpunkt der Eheleute, ihr letzter gewöhnlicher Aufenthalt
oder ihre Staatsangehörigkeit. Sowohl bei der Ausübung
der Rechtswahl als auch bei der Bestimmung nach
objektiven Kriterien kommt das Recht aus Drittstaaten
als anzuwendendes Recht in Betracht. Dabei sieht die
Rom-III-Verordnung jedoch eine Kontrolle vor: Sollte
das eigentlich anzuwendende ausländische Recht gegen
wesentliche rechtliche Grundprinzipien im Gerichtsstaat verstoßen, kann seine Anwendung ganz oder zum
Teil unterbleiben ({3}).
Art. 5 III der Verordnung sieht als Regelfall vor, dass
eine Rechtswahlvereinbarung spätestens bei Anrufung
des Gerichts geschlossen wird. Hiervon können die teilnehmenden Mitgliedstaaten jedoch abweichend anordnen, dass das anzuwendende Recht auch noch im Laufe
des Gerichtsverfahrens gewählt werden kann. Von
dieser Möglichkeit haben wir durch die Regelung in
Art. 46 d II EGBGB Gebrauch gemacht, um zu erreichen, dass die Rechtswahl noch bis zum Schluss der
mündlichen Verhandlung im ersten Rechtszug möglich
ist. Dies halten wir für erforderlich, da den Ehegatten in
vielen Fällen erst nach Anrufung des Gerichts bewusst
wird, welches Recht - mangels Rechtswahl - nach Art. 8
der Rom-III-Verordnung anwendbar ist. Darüber hinaus
kann sich auch noch aus anderen Gründen im Verfahren
herausstellen, dass es vorteilhafter wäre, das Recht eines anderen Mitgliedstaates zu wählen, so zum Beispiel,
wenn die Ehegatten nach einer anderen Rechtsordnung
schneller geschieden werden könnten.
Für die Wahl der Rechtsordnung ist nach Art. 7
Rom-III-Verordnung zumindest die Schriftform erforderlich; zugleich wird den EU-Mitgliedstaaten jedoch die
Möglichkeit gegeben, eine strengere Form vorzusehen.
Von dieser Möglichkeit haben wir zum Schutz des
„schwächeren“ Ehegatten bei der Umsetzung in deutsches Recht ebenfalls Gebrauch gemacht. Deshalb muss
gemäß Art. 46 d I EGBGB die Rechtswahlvereinbarung
notariell beurkundet werden, wenn mindestens einer der
Ehegatten im Zeitpunkt der Rechtswahl seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.
Wir halten diese Regelung für erforderlich, da vor
dem Hintergrund der Komplexität der Auswirkungen einer Rechtswahl für den Fall der Scheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes gewährleistet sein
muss, dass eine qualifizierte Beratung in Vorbereitung
der Rechtswahlvereinbarung erfolgt. Darüber hinaus
wird die Notwendigkeit der notariellen Beurkundung
auch dazu führen, dass sich die Parteien in vielen Fällen
im Vorfeld anwaltlich beraten lassen.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der durch die Verordnung nun geregelt wird, ist der Umstand, dass es bei
binationalen Ehen häufig zu einem Wettlauf der Ehegatten bei Einreichung des Scheidungsantrages bei dem
Familiengericht im In- oder Ausland kam, um das für sie
jeweils günstig erscheinende Scheidungsrecht zur Anwendung zu bringen. Mit dem nun vorliegenden System,
das für die Frage des richtigen Scheidungsstatuts in
Art. 8 Rom-III-Verordnung nicht mehr auf die Staatsangehörigkeiten der Ehegatten abstellt, sondern vorrangig
auf den Aufenthaltsort der Ehegatten, wird dieser Wettlauf uninteressant.
Hinsichtlich des Versorgungsausgleichs ist anzumerken, dass dieser dem Scheidungsstatut zugeordnet wird.
Aufgrund der materiell rechtlichen Besonderheiten des
Versorgungsausgleichs wird dabei die zulässige Bedingung gestellt, dass er von Amts wegen nur durchzuführen ist, wenn deutsches Recht anzuwenden ist und er in
einem der Staaten, denen die Eheleute beim Eintritt der
Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags angehören, bekannt ist. Darüber hinaus kann er auf Antrag eines Ehegatten durchgeführt werden, soweit Anwartschaften bereits bestehen und die Durchführung der Billigkeit
entspricht.
Die Rom-III-Verordnung ist nicht isoliert zu sehen,
sondern immer im Zusammenhang mit der Verordnung
({4}) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit,
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche
Verantwortung.
Beide Rechtsakte zusammen verwirklichen den bisher
in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen
bewährten Integrationsansatz, der mindestens drei
Elemente umfasst, nämlich: Bestimmung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte im erfassten Rechtsgebiet; Erleichterung der Anerkennung und Vollstreckung;
Harmonisierung des internationalen Privatrechts/Kollisionsrechts.
Abschließend ist noch zu erwähnen, dass der Gesetzentwurf durch die Einführung des Art. 48 EGBGB auch
die Rechtsgrundlage zur Wahl eines im EU-Ausland erworbenen und dort eingetragenen Namens schafft.
Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass
wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen guten
Weg gefunden haben, das Zusammenwirken der Verordnung ({5}) Nr. 1259/2010 mit den nationalen Regelungen im Bereich des internationalen Privatrechts zu regeln. Ich hoffe daher heute auf breite Zustimmung.
Die Regelungen, über die wir heute abstimmen, sind
ein großer Fortschritt - in mehrfacher Hinsicht. Formal
passen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf unser
geltendes Recht zwar „lediglich“ an die bereits geltenden Bestimmungen der EU-Verordnung an, die seit dem
21. Juni 2012 in Kraft ist und Bestimmungen über das
auf die Ehescheidung anzuwendende Recht festlegt.
Seine tatsächlichen Auswirkungen sind aber in dreierlei Richtung ein großer Erfolg:
Erstens schaffen die Regelungen Rechtssicherheit und
beenden damit den in der Praxis unzufriedenstellenden
Zustand, dass es bisher keine einheitlichen Regeln für die
Bestimmung des anwendbaren Scheidungsrechts gab,
wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt zugrunde
liegt.
Die Folge war ein zersplittertes Scheidungsrecht, das
in vielen Fällen zu Nachteilen für einzelne Partnerinnen
oder Partner führte. Und selbst einvernehmliche Trennungen konnten zur Qual werden, weil den Paaren verwehrt war, das anzuwendende Scheidungsrecht selbst zu
wählen.
Damit ist jetzt Schluss. Nach den neuen Regelungen
können die Paare grundsätzlich selbstbestimmt wählen,
nach welchem nationalen Scheidungsrecht sie geschieden werden möchten. Wenn sie das nicht tun, gibt es
klare gesetzliche Bestimmungen: Dann ist grundsätzlich
das am gewöhnlichen Aufenthalt der Betroffenen geltende Recht anzuwenden, und im Zweifel kommt das
Zu Protokoll gegebene Reden
Recht des Staates zur Anwendung, in dem die Scheidung
eingereicht wurde.
Diese Rechtsklarheit ist eine große Erleichterung für
die Betroffenen, denen es vorher oftmals schwerer gemacht wurde in einer regelmäßig ohnehin schwierigen
Lebenssituation.
Zweitens wird durch die Regelungen verhindert, dass
ein Ehepartner oder eine Ehepartnerin ein für ihn bzw.
sie günstiges Scheidungsrecht einseitig zur Anwendung
bringen kann. Damit soll der schwächere Teil vor unfairer Benachteiligung in Scheidungsverfahren geschützt
werden. Bisher war es möglich, dass ein Ehepartner
bzw. eine Ehepartnerin die Folgen einer Scheidung insofern beeinflussen konnte, als dass er das für ihn günstige
Scheidungsrecht zur Anwendung brachte. Notwendig
dafür war in manchen Fällen lediglich, dass er oder sie
die Reise- und Anwaltskosten aufbrachte und die Scheidung in dem Mitgliedstaat beantragte, dessen Scheidungsrecht ihm oder ihr die meisten Rosinen versprach.
Das war bisher in sieben Mitgliedstaaten möglich, die
grundsätzlich ihr Landesrecht anwendeten, völlig legal.
Ich begrüße ausdrücklich, dass dem mit den neuen
Regeln ein Riegel vorgeschoben wurde. Denn auch wenn
der Gesetzentwurf richtigerweise geschlechtsneutral
formuliert ist, zeigt die Praxis doch, dass in der Regel
Frauen die schwächeren Parts im Sinne dieser Regelung
sind.
Natürlich kann auch nach den neuen Regelungen das
nationale Recht vereinbart werden, das positive Scheidungsfolgen für die Betroffenen gewährt. Es ist aber
ausgeschlossen, dass dies ohne Wissen des Partners
oder der Partnerin geschieht. Da die Betroffenen bei der
Wahl des anwendbaren Rechts zwingend über die Tragweite ihrer Entscheidung informiert werden müssen
- der vorliegende Gesetzentwurf sieht für Deutschland
eine notarielle Beurkundung vor - werden einseitige
Spielchen zulasten des schwächeren Partners bzw. der
schwächeren Partnerin verhindert.
Drittens - und das freut mich als Europapolitikerin
besonders - sind die Regelungen, über die wir heute abstimmen, Ausdruck eines zusammenwachsenden Europas und besonders deshalb zu begrüßen. Mehr noch: Sie
sind vor diesem Hintergrund längst überfällig.
EU-Bürgerinnen und Bürger sind zunehmend mobiler. Infolgedessen gibt es mehr Ehen mit internationalem
und daher grenzüberschreitendem Hintergrund. Das ist
zu begrüßen, das ist das Ergebnis erfolgreicher Europapolitik. Diesen Tatsachen dürfen aber keine rechtlichen
Hindernisse entgegenstehen bzw. müssen bestehende
Hindernisse beseitigt und den tatsächlichen Gegebenheiten angepasst werden. Genau das machen wir heute,
wenn wir den vorgelegten Gesetzentwurf verabschieden.
Die Regelungen sind ein anschauliches Beispiel für
die Ausgestaltung der europäischen Bürgerrechte, anhand derer der Mehrwert der Europäischen Union im
praktischen Leben erkennbar wird.
Es gibt natürlich noch viel mehr dieser Beispiele, und
ich möchte bei dieser Gelegenheit abschließend auf eine
aktuelle Initiative der EU-Kommission verweisen, die
die Bürgerinnen und Bürger auf ihre Rechte als Unionsbürger hinweisen möchte. Seit Ende September finden
Bürgerdialoge in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union statt, bei denen Bürgerinnen und Bürger
mit EU-Politikerinnen und -Politikern ins Gespräch
kommen können und über ihre Erfahrungen und Ansichten zur Europäischen Union diskutieren können. Diese
Bürgerdialoge stehen bereits im Zeichen des EU-Jahresmottos für 2013, das zum „Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger“ ausgerufen wurde.
Die Verabschiedung der heutigen Bestimmungen
passt zu diesem Motto und wird konkreten Mehrwert für
die betroffenen Bürgerinnen und Bürger haben.
In den letzten Wochen und Monaten wurde die öffentliche Debatte von den Spekulationen um die Zukunft des
Euro und den damit verbundenen möglichen Konsequenzen für die Zukunft der Europäischen Union
bestimmt. Den Euro gibt es noch immer, und auch sonst
ist es ein gutes und wichtiges Signal, dass die Arbeit an
einem immer enger zusammenwachsenden Europa fortgeführt wird.
Ein gutes Beispiel ist hierfür der Gesetzentwurf der
Bundesregierung, den wir heute behandeln. Er hat folgenden Hintergrund:
Gemäß Art. 81 AEUV müssen Maßnahmen zum
Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug vom
Rat einstimmig beschlossen werden. Ein im Jahr 2006
vorgelegter Verordnungsvorschlag, mit dem die internationale Zuständigkeit von Gerichten in Scheidungsverfahren und Verfahren, die die Trennung ohne Auflösung
des Ehebandes sowie die Ungültigkeit der Ehe betreffen,
fand im Rat nicht die nötige Unterstützung aller Mitgliedstaaten. Daraufhin wurde von 14 Mitgliedstaaten,
zu denen auch Deutschland gehört, im Rahmen der sogenannten ROM-III-Verordnung eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und
Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts beschlossen.
Mit der Verordnung sind die zum Teil beträchtlichen
Unterschiede, die in den Rechtsordnungen der einzelnen
Mitgliedstaaten zum Scheidungsrecht, gerade beim
Kollisionsrecht, bestanden, überwunden worden. Diese
Unterschiede bedeuteten für Paare, die aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten stammen, eine große Rechtsunsicherheit. Innerhalb der beteiligten Mitgliedstaaten gilt
nun aber ein klarer Rechtsrahmen für das anzuwendende Recht in Scheidungs- und Trennungssachen.
Art. 5 der ROM-III-Verordnung bestimmt, nach welchen Kriterien die Ehegatten das auf die Ehescheidung
oder die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendende Recht wählen können. Haben die Eheleute
keine entsprechende Rechtswahl getroffen, regelt Art. 8
der Verordnung, welches Recht anzuwenden ist. Dadurch wird insgesamt ein Wettlauf zu den Gerichten verhindert, bei dem ein Ehegatte alles daransetzt, die
Scheidung zuerst einzureichen, um sicherzugehen, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
sich das Verfahren nach einer Rechtsordnung richtet, die
vor allem seine Interessen schützt.
Die ROM-III-Verordnung berührt das materielle
Scheidungs- und Trennungsrecht der Mitgliedstaaten
nicht. Sie gilt für die teilnehmenden Staaten seit dem
21. Juni 2012. Sie ist unmittelbar anzuwenden und verdrängt in ihrem Anwendungsbereich das bislang geltende Recht, welches daher angepasst werden muss.
Diese Anpassung wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgenommen. Dabei sind folgende Punkte hervorzuheben:
Erstens. In Art. 17 Abs. 1 EGBGB-Entwurf wird geregelt, dass sich vermögensrechtliche Scheidungsfolgen,
die nicht von nach Art. 3 EGBGB vorrangig anzuwendenden Regelungen erfasst werden, dem Recht des nach
der ROM-III-Verordnung anzuwendenden Rechts unterliegen.
Zweitens. Führt die Konstellation im Einzelfall dazu,
dass eine Scheidung im Ausland nach deutschem Recht
vorgenommen wird, bleibt es dabei, dass eine Ehe nur
von einem Richter geschieden werden kann. Privatscheidungen bleiben damit nach deutschem Recht ausgeschlossen.
Drittens. Art. 17 Abs. 3 EGBGB-Entwurf regelt, nach
welchem Recht Fragen des Versorgungsausgleichs zu
klären sind. Grundsätzlich richtet sich dies nach dem
Statut, dem nach der ROM-III-Verordnung auch die
Scheidung unterliegt. Der Versorgungsausgleich ist
aber nur dann durchzuführen, wenn auf die Scheidung
deutsches Recht anzuwenden ist und das Recht eines der
Staaten, denen die Ehegatten im Zeitpunkt des Eintritts
der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags angehören, den Versorgungsausgleich kennt.
Viertens. Grundsätzlich müssen die Parteien ihre
Rechtswahlvereinbarung nach Art. 5 Abs. 2 ROM-IIIVerordnung spätestens zum Zeitpunkt der Anrufung des
Gerichts geschlossen haben. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 der
ROM-III-Verordnung räumt den Mitgliedstaaten die
Möglichkeit ein, dass die Rechtswahl auch noch im
Laufe des Verfahrens vorgenommen werden kann. Die
Bundesrepublik Deutschland macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Dies ist im Interesse der Eheleute, die somit die Möglichkeit haben, auf Entwicklungen im Laufe
des Verfahrens zu reagieren.
Fünftens. Art. 48 EGBGB-E wird eine Anpassung
hinsichtlich des Namensrechts vorgenommen. Danach
kann eine Person, deren Name deutschem Recht unterliegt, durch eine Erklärung gegenüber dem zuständigem
Standesamt bestimmen, dass sie anstelle des nach deutschem Recht zu bildenden Namens einen Namen führen
will, den sie im EU-Ausland erworben hat. Damit reagiert der deutsche Gesetzgeber auf ein Urteil des
EuGH vom 14.Oktober 2008.
Die ROM-III-Verordnung ist ein weiterer Mosaikstein
im Gesamtbild eines immer enger zusammenwachsenden Europas. Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf sorgen wir dafür, dass dieser Stein auch seine
Funktion erfüllt, indem wir das deutsche Recht an die
Verordnung anpassen.
Die FDP-Bundestagsfraktion bekennt sich klar zur
Europäischen Union und wird dem Gesetzentwurf daher
zustimmen.
Die Bundesregierung versucht mit diesem Gesetzentwurf, die Verordnung der Europäischen Union Nr. 1259/
2010 zur Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung
ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts
umzusetzen. Das wiederum geht auf die Rom-III-Verordnung der Europäischen Union zurück, die festlegt, welches Recht bei Ehescheidung und Trennung anzuwenden
ist. Die Verordnung soll durch Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch umgesetzt
werden.
Das heißt übersetzt, dass in jedem Mitgliedstaat, der
an der Verordnung beteiligt ist, das für Scheidungssachen zuständige Gericht auf die Scheidung und Trennung das einheitliche Recht eines Mitgliedstaates
anwenden soll. Damit soll das vorteilsbezogene Nutznießen nebeneinanderstehender Zuständigkeiten verschiedener Staaten unterbunden werden. Glücklicherweise
bleibt aber das materielle Familienrecht unberührt.
Meine Fraktion und ich betrachten diese Initiative
mit kritischen Augen. Die Europäische Union hat sich
beim Erlass der Rom-III-Verordnung, welche den Regelungsbedarf ausgelöst hat, auf Art. 81 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union gestützt. Danach kann der Rat nach Anhörung des
Europäischen Parlaments auf dem Gebiet des Familienrechts mit grenzüberschreitendem Bezug Maßnahmen
erlassen. Höchst fraglich bleibt dabei aber, ob das Familienrecht als höchstpersönliches Rechtsgebiet für das
Funktionieren des Binnenmarktes der Europäischen
Union überhaupt eine wesentliche Rolle spielt und damit
in die Pflicht genommen werden kann. Meines Erachtens ist das nicht erforderlich. Aber nachdem die Verordnung mit der Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten ist, muss nun das nationale Recht
entsprechend angepasst werden.
Die Europäische Union besteht derzeit aus 27 Mitgliedstaaten. Bei den Verhandlungen zur Verabschiedung dieser Verordnung traten in der Arbeitsgruppe des
Rates Probleme auf. Aufgrund unüberwindbarer Schwierigkeiten konnte die auf dem Gebiet des Familienrechts
erforderliche Einstimmigkeit für die Verabschiedung
dieses Rechtsaktes nicht erreicht werden. Es gab Mitgliedstaaten, die nicht akzeptieren wollten, dass ihre Gerichte durch die Verordnung gezwungen werden sollten,
je nach Sachlage auch fremdes Recht anzuwenden. Daraufhin beschlossen lediglich 14 Mitgliedstaaten, eine
Verordnung zur verstärkten Zusammenarbeit auf diesem
Gebiet zu erlassen, die nur für die beteiligten Mitgliedstaaten gilt. Demnach bleiben nach Adam Riese 13 Mitgliedstaaten, also fast die Hälfte der Mitglieder, die das
nicht mitmachen; das stellt natürlich die Sinnhaftigkeit
des gesamten Unterfangens infrage.
Demzufolge gilt die Rom-III-Verordnung nur für
14 Mitgliedstaaten. Für diese besteht nun gesetzgeberiZu Protokoll gegebene Reden
scher Handlungsbedarf. Die Rom-III-Verordnung soll
unmittelbar gelten, indem die Verordnung in das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch aufgenommen werden soll. Daneben wird auch der Versorgungsausgleich für geschiedene Ehen mit Auslandsbezug der
Rom-III-Verordnung unterworfen, wonach sich die Ehegatten das für ihre Scheidung zuständige nationale
Recht selbst wählen dürfen. Damit stärkt man schon die
Privatautonomie. Doch ein kleiner Haken bleibt auch
bei dieser neuen Freiheit: Es wird teurer. Aus Gründen
der Rechtssicherheit müssen in der Bundesrepublik
Deutschland Rechtswahlvereinbarungen notariell beurkundet werden. Deshalb müssen die scheidungswilligen
Ehepaare mit Auslandsbezug bei der Wahl des deutschen Familienrechts entsprechend dem Geschäftswert
ihrer Ehe Notarkosten zahlen. Das ist zwar ein erheblicher Nachteil, gleichzeitig aber auch eine hervorragende Einnahmequelle für Notare. Das Treffen einer
Rechtswahlvereinbarung ist kein Zwang, sondern freiwillig - wenigstens etwas Positives zum Schluss.
In unserer globalisierten Welt ist es eine Selbstverständlichkeit geworden, dass Ehepaare einen kleinen
oder größeren Teil ihres gemeinsamen Lebens im Ausland verbringen. Gleichzeitig steigt die Zahl binationaler Ehen. So gehörten in Deutschland im Jahr 2010 bei
jeder achten Eheschließung die Ehegatten unterschiedlichen Nationalitäten an.
Solange die Ehe stabil ist, stellen sich Ehepartner selten die Frage, welches Recht auf ihre Ehe Anwendung
findet. Bricht die Ehe aber auseinander, stellt sich diese
Frage sehr deutlich; denn die kann erhebliche Auswirkungen, beispielsweise auf Unterhaltsfragen oder Vermögensausgleich, haben.
Die europäische Verordnung zur Durchführung einer
Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die
Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts verfolgt das Ziel, innerhalb der Europäischen Union einheitliche Regelungen
für das Recht zu treffen, das auf Ehescheidungen anzuwenden ist. Die Verordnung will Bürgerinnen und Bürgern in Bezug auf Rechtssicherheit, Berechenbarkeit
und Flexibilität sachgerechte Lösungen garantieren.
Auch soll sie verhindern, dass ein Ehepartner alles daran setzt, die Scheidung zeitlich als Erster bei Gericht
einzureichen, um sicherzustellen, dass sich das Verfahren nach einer Rechtsordnung richtet, die seine Interessen besser schützt.
Künftig sollen Ehegatten, deren Leben vom Recht
verschiedener Staaten geprägt wird, das Recht wählen
dürfen, das für die Scheidung ihrer Ehe Anwendung findet. Nach dem Umsetzungsgesetz, um das es heute geht,
soll die Rechtswahl jederzeit vor oder nach der Eheschließung möglich sein. Spätestens erfolgen muss sie
bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung im ersten
Rechtszug des Scheidungsverfahrens. Für die Rechtswahl sieht das Umsetzungsgesetz die notarielle Beurkundung vor.
Es ist richtig, zumindest auf der Ebene der Europäischen Union für mehr Harmonisierung in internationalen Scheidungsverfahren zu sorgen. Mit der Verordnung
erreichen wir nicht nur eine rechtliche Harmonisierung,
mit der Einführung der Rechtswahl stärken wir auch die
Privatautonomie der Ehepaare. Und was geschieht,
wenn das Ehepaar keine Rechtswahl getroffen hat?
Dann trifft die Verordnung klare Regelungen über das
anzuwendende Recht.
Die wichtigste Änderung gegenüber den bisher in
Deutschland geltenden Regelungen ist, dass nicht mehr
primär an die gemeinsame Staatsangehörigkeit der Eheleute angeknüpft wird, sondern an das gewöhnliche Aufenthaltsland der Eheleute zum Zeitpunkt der Stellung
des Scheidungsantrags. Das führt dazu, dass sich die
Ehescheidung bei einem im Ausland lebenden deutschen
Paar nicht mehr, wie bisher, nach deutschem Recht richtet, sondern nach dem Recht seines Aufenthaltslandes.
Dies kann zu unbefriedigenden Ergebnissen vor
allem im Bereich des Versorgungsausgleichs führen. Der
Versorgungsausgleich, also der Ausgleich der Anwartschaften auf Altersversorgung, die während der Ehe
begründet worden sind, nimmt nach deutschem Recht
einen hohen Stellenwert ein. Er ist für den Ehegatten,
der während der Ehe keine oder nur eine geringe Altersvorsorge begründet hat, von zentraler Bedeutung. Damit
sichert sich dieser Ehegatte eine eigenständige Altersversorgung.
Wird eine Ehe nach deutschem Recht geschieden,
wird der Versorgungsausgleich grundsätzlich durchgeführt. Wird eine Ehe nach ausländischem Recht
geschieden, erfolgt die Durchführung des Versorgungsausgleichs nur auf entsprechenden Antrag und auch nur
noch nach Billigkeitsgesichtspunkten, ist also nicht obligatorisch. Das ist angesichts der Bedeutung des Versorgungsausgleichs ein Wertungswiderspruch, der noch geklärt werden muss. Wir Grünen werden uns deshalb bei
der Abstimmung über das Umsetzungsgesetz enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11384, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/11049 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die
Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Niemand. Enthaltungen? - Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Enthaltungen? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung
im Zivilprozess
- Drucksache 17/10490 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/11385 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Sonja Steffen
Jens Petermann
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Sind alle damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Mit dem Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess erleichtert die christlichliberale Koalition den Bürgern die Orientierung im
gerichtlichen Instanzenzug. Wir verbessern den Rechtsschutz des Einzelnen bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und stärken damit das Vertrauen der Menschen in
die Justiz und den Rechtsstaat insgesamt. Deswegen ist
das ein gutes Gesetz.
Was ist der Hintergrund? Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im Jahr 1995 festgestellt, dass eine
Rechtsmittelbelehrung zum damaligen Zeitpunkt zwar
verfassungsrechtlich noch nicht zwingend eingeführt
werden muss. Anders könne dies aber wegen der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie sein, wenn es
unzumutbare Schwierigkeiten bei der Beschreitung des
Rechtsweges gebe, die über eine Rechtsmittelbelehrung
ausgeglichen werden könnten. Auch die anderen Verfahrensordnungen, die eine solche Belehrung vorsehen,
müsse man dabei im Blick behalten.
Vor dem Hintergrund dieser Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes hat schließlich der Bundesgerichtshof im Jahr 2009 in bestimmten Fällen beim
Zwangsversteigerungsverfahren die Notwendigkeit einer Rechtsmittelbelehrung unmittelbar aus der Verfassung hergeleitet. Schließlich hat der Bundesrat dieses
Anliegen aufgegriffen. Die Justizministerkonferenz hat
im Jahr 2010 einstimmig beschlossen, dass Rechtsbehelfsbelehrungen im Zivilprozess eingeführt werden sollen.
Was ist nun genauer Inhalt des Gesetzes? Mit Inkrafttreten des Gesetzes müssen Zivilgerichte die Bürger bei
allen anfechtbaren gerichtlichen Entscheidungen über
die Form, die Frist und das zuständige Gericht für den
Rechtsbehelf unterrichten. Die Rechtsuchenden haben
es damit zukünftig leichter, zu entscheiden, ob und in
welcher Zeit sie einen Rechtsbehelf einlegen wollen.
Damit stärken wir die Bürgerfreundlichkeit der Justiz.
Zugleich werden damit unzulässige Rechtsbehelfe vermieden, die entweder gar nicht statthaft oder schon verfristet sind. Das entlastet die Gerichte und trägt somit
dazu bei, dass mehr Zeit für andere Verfahren zur Verfügung steht. Diese Pflicht zur Belehrung soll kein zahnloser Tiger bleiben. Wird die Belehrung verabsäumt
oder ist sie fehlerhaft, so wird dies bei einem Wiedereinsetzungsantrag berücksichtigt.
Mit der Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im
Zivilprozess durch den neuen § 232 Zivilprozessordnung
schließen wir zudem die Lücke zwischen den einzelnen
Verfahrensordnungen. Denn in anderen Prozessordnungen - etwa im Verwaltungsverfahren - ist eine Rechtsbehelfsbelehrung schon lange vorgeschrieben. Wir erreichen also auch einen gewissen Gleichlauf der
Verfahrensordnungen und stärken damit die Einheit der
Rechtsordnung.
Eine Rechtsbehelfsbelehrung soll jedoch nur in solchen zivilgerichtlichen Verfahren notwendig sein, in
denen nicht eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt
vorgeschrieben ist. Ist die anwaltliche Vertretung obligatorisch, kann und soll der Rechtsanwalt als Organ der
Rechtspflege seinen Mandanten darüber aufklären und
beraten, welche Rechtsbehelfe im konkreten Fall statthaft und sinnvoll sind. Hier bedarf es einer gerichtlichen
Belehrungspflicht nicht. Auf diese Weise vermeiden wir
bei den Gerichten unnötigen bürokratischen Aufwand.
Eine Ausnahme von dieser Regel machen wir aber in
den Fällen, in denen es sich zwar um einen Anwaltsprozess handelt, in denen aber aufgrund der konkreten
Verfahrenssituation eine anwaltliche Vertretung nicht
sichergestellt ist. Das ist etwa bei Versäumnisurteilen
und bei Beschlüssen im einstweiligen Rechtsschutz der
Fall. Auch hier muss belehrt werden, damit dem Rechtsuchenden keine Rechte verlustig gehen. Aus dem gleichen Grund muss auch in Entscheidungen, die mit Wirkung für Zeugen oder Sachverständige ergehen, belehrt
werden. Auch diese Personen sollen über ihre Rechte
aufgeklärt werden.
Schließlich regeln wir mit dem Gesetzentwurf auch
noch andere Themen. Herausgreifen möchte ich die Änderung des § 145 Abs. 1 ZPO. Nach dieser Vorschrift
kann ein Gericht mehrere in einem Prozess erhobene
Ansprüche trennen und gesondert über diese verhandeln. Wir stellen mit der Änderung klar - wie es weitestgehend auch der bisherigen Gerichtspraxis entsprach -,
dass dies zukünftig nur angeordnet werden darf, wenn
dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist. Sachliche Gründe sind insbesondere die Vermeidung einer verzögerten Erledigung einzelner abtrennbarer Teile des
Rechtsstreits, die Förderung der Übersichtlichkeit des
Prozessstoffes sowie die Ermöglichung einer Teilaussetzung. Damit wird zum Wohle der Kläger und Beklagten
ausgeschlossen, dass Verfahren aus sachfremden und insofern missbräuchlichen Gründen getrennt werden.
Abschließend möchte ich festhalten, dass die christlich-liberale Koalition mit dem Gesetz zur Einführung
einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess ein Stück
mehr Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und vor allem
Bürgerfreundlichkeit schafft. Ganz offenbar sehen auch
die Oppositionsfraktionen, dass wir hier einen guten
Gesetzentwurf vorlegen; denn im Rechtsausschuss haben alle Fraktionen unserem Vorschlag zugestimmt.
Diese Einsicht würde ich mir manchmal auch bei den
vielen anderen guten Gesetzen wünschen, die wir als
christlich-liberale Koalition vorlegen. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Wir behandeln heute in zweiter/dritter Lesung den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung
im Zivilprozess. Das Gesetz regelt nun auch die dauerhafte Beibehaltung des derzeit geltenden modifizierten
zweistufigen Überschuldungsbegriffes und die damit
verbundenen Änderungen im Finanzmarktstabilisierungsgesetz in Bezug auf § 19 Absatz 2 Insolvenzordnung.
Bis zum 17. Oktober 2008 galt der mit der Insolvenzordnung eingeführte Überschuldungsbegriff, wonach
juristische Personen verpflichtet waren, mithilfe der
sogenannten Überschuldungbilanz sicherzustellen, dass
keine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne vorlag. Sofern von der Fortführung des Unternehmens auszugehen war, wurden Vermögen und Schulden zu Fortführungswerten bewertet. Entscheidende Bedeutung
hatte somit ein rechnerisches Überschuldungselement.
Bekanntlich muss bei Überschuldung binnen drei Wochen der Insolvenzantrag gestellt werden. Diese starre
Regelung konnte zur Folge haben, dass Unternehmen
aufgrund einer Momentaufnahme einen Insolvenzantrag
stellen mussten, auch wenn sich eine positive Änderung
der Vermögenslage in näherer Zukunft abzeichnete.
Als Reaktion auf die Finanz- und Bankenkrise haben
wir die absolute Bedeutung der rechnerischen Überschuldung aufgegeben. Die Krise hat insbesondere bei
Aktien und Immobilien zu erheblichen Wertverlusten und
damit bei Unternehmen zu einer bilanziellen Überschuldung geführt. Konnten diese Verluste nicht durch sonstige Aktiva ausgeglichen werden, so wären die Organe
dieser Unternehmen verpflichtet gewesen, innerhalb von
drei Wochen nach Eintritt dieser rechnerischen Überschuldung trotz etwaiger positiver Fortführungsprognose einen Insolvenzantrag zu stellen.
Es gilt daher durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz wieder der vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung
durch den Bundesgerichtshof vertretene modifizierte
zweistufige Überschuldungsbegriff; dies allerdings befristet bis zum 31. Dezember 2013. Danach schließt bereits eine positive Fortführungsprognose stets eine insolvenzrechtliche Überschuldung aus. Erst bei negativer
Prognose ist eine Überschuldungsbilanz aufzustellen.
Entscheidende Bedeutung hat somit ein rechtliches
Überschuldungselement in Form einer Zahlungsfähigkeitsprüfung.
§ 19 Absatz 2 der Insolvenzordnung wurde in seiner
derzeit geltenden Fassung lediglich als vorübergehende
Lösung für die Zeit der Finanzkrise eingeführt. Zunächst
war beabsichtigt, dass ab dem 1. Januar 2011 der mit
der Insolvenzordnung eingeführte Überschuldungsbegriff wieder in Kraft treten sollte. Mit dem Gesetz zur
Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom
7. Dezember 2011 wurde die Gültigkeit der Übergangsbestimmung bis zum 31. Dezember 2013 verlängert.
Die Auswirkungen dieser Regelung sind evaluiert
worden durch eine von der Bundesregierung in Auftrag
gegebene rechtsstaatliche Untersuchung. Darin kommen Professor Bitter und Professor Hommerich zu dem
Ergebnis, dass die in der Finanzkrise getroffene Entscheidung, den Überschuldungsbegriff zu ändern, richtig war. Die volkswirtschaftlichen Vorteile überwiegen
die Nachteile dem Gutachten zufolge klar.
Bei einer Rückkehr zum mit der Insolvenzordnung
eingeführten Überschuldungsbegriff befürchten die Gutachter, dass an sich lebensfähige Unternehmen, bei denen die überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass
sie weiter erfolgreich am Markt operieren können, in ein
Insolvenzverfahren gedrängt würden. Zu Recht weisen
die Gutachter auf die Vorwirkung der nach bisheriger
Rechtslage weitreichenden Rechtsänderung zum 1. Januar 2014 hin. Wenn absehbar ist, dass ein Unternehmen Anfang 2014 aufgrund des dann wieder geltenden
„alten“ Überschuldungsbegriffs Insolvenzantrag stellen
müsste, hat es schon Ende 2012 keine positive Fortführungsprognose mehr. Folge wäre bereits jetzt eine Insolvenzantragspflicht; das zeigt, dass bereits heute dringender Handlungsbedarf besteht.
Festzuhalten ist, dass sehr viel für eine dauerhafte
Beibehaltung des aktuell geltenden Überschuldungsbegriffs spricht. Konjunkturelle Schwankungen und damit
verbundene bilanzielle Bewertungen allein dürfen nicht
zur negativen Fortführungsprognose eines Unternehmens führen, das auch in Zukunft erfolgreich am Markt
tätig sein kann.
Der mit der Insolvenzordnung eingeführte Überschuldungsbegriff wird wegen der erforderlichen bilanziellen Überschuldungsfeststellung von vielen Praktikern weitgehend für unpraktikabel gehalten. Nahezu
kein Unternehmen kann einer Überschuldungsprüfung
zu Liquidationswerten standhalten. Bereits im Gründungsstadium wären die meisten deutschen Unternehmen rechnerisch überschuldet.
Ausweislich des genannten Gutachtens steht der dauerhaften Beibehaltung des modifizierten zweistufigen
Überschuldungsbegriffs auch nicht die Funktion als
Auslöser einer Insolvenzantragspflicht entgegen. Insbesondere die straf- und zivilrechtlichen Sanktionen bei Insolvenzverschleppung zeitigen in Überschuldungsfällen
keine große Wirkung, oder sie werden durch andere Tatbestände aufgefangen. Die zivilrechtliche Haftung wegen Insolvenzverschleppung beispielsweise wird ganz
überwiegend auf Zahlungsunfähigkeit und nicht auf
Überschuldung gestützt.
Dagegen hat sich § 19 Absatz 2 InsO in der derzeit
geltenden Fassung in der Praxis bewährt. Die vorgesehene Entfristung trägt dem Rechnung und bringt für die
betroffenen Unternehmen die im Rechts- und WirtZu Protokoll gegebene Reden
schaftsverkehr dringend gebotene Rechts- und Planungssicherheit.
Die Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess ist längst überfällig. In der freiwilligen Gerichtsbarkeit und im familiengerichtlichen Verfahren
gibt es die Pflicht zur Rechtsbehelfsbelehrung bereits
seit 2009, wenn auch beschränkt auf bestimmte Entscheidungen. In § 232 ZPO soll sie nun für alle anfechtbaren „gerichtlichen“ Entscheidungen gelten. Diese
Ausweitung halte ich im Sinne einer bürgerfreundlichen
Justiz für sinnvoll.
Ziel des Gesetzentwurfes ist es, die Orientierung im
gerichtlichen Instanzenzug zu erleichtern und unzulässige Rechtsmittel zu vermeiden. Ich denke, dass wir mit
Einführung dieser Gesetzesänderung diesem Ziel deutlich näher kommen.
Die Pflicht zur Rechtsbehelfsbelehrung soll bei allen
anfechtbaren Entscheidungen des Gerichts bestehen.
Der Bundesrat wünscht hier eine Einschränkung auf
„befristet“ anfechtbare Entscheidungen. Ich schließe
mich der Entscheidung der Bundesregierung an, diese
Einschränkung abzulehnen. Um drohende Zwangsmaßnamen rechtzeitig abzuwehren, ist auch die Belehrung
über den Widerspruch im einstweiligen Rechtsschutz nötig.
Eher noch hätte man vielleicht noch weiter gehen und
die Rechtsmittelbelehrungspflicht auf sämtliche Entscheidungen ausweiten können, unabhängig von der Anfechtbarkeit. Denn für den rechtsunkundigen Bürger
dürfte schwer erkennbar sein, ob eine Rechtsmittelbelehrung fehlerhaft unterblieben ist oder hier kein
Rechtsmittel möglich ist. Wichtig ist jedoch aus meiner
Sicht vor allem, dass die Bürgerinnen und Bürger über
die Rechtsmittel, die ihnen zur Wahrung ihrer Rechte
tatsächlich zur Verfügung stehen, aufgeklärt werden.
Grundsätzlich wird die Pflicht zur Rechtsbehelfsbelehrung auf Verfahren ohne Anwaltszwang beschränkt
sein. Begründet wird dies mit einem geringeren Schutzbedürfnis der Rechtsanwälte. Hiervon gibt es Ausnahmen, wenn die Beratung durch den Anwalt nicht sichergestellt ist, beispielsweise bei Versäumnisurteilen. Im
Kostenrecht ist hingegen eine einheitliche Rechtsbehelfsbelehrungspflicht vorgesehen.
Ein Kritikpunkt der Verbände an dem Gesetzentwurf
ist die vermeintlich einseitige Haftungsverschärfung für
Rechtsanwälte. Denn die Rechtsfolge einer fehlerhaften
oder fehlenden Rechtsmittelbelehrung - die gesetzliche
Vermutung der unverschuldeten Fristversäumnis, und
damit die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand,
§ 233 ZPO - sei bei vorhandener Kenntnis ausgeschlossen.
Bei diesem Punkt habe ich als Rechtsanwältin natürlich auch genau hingesehen. Denn in der Praxis wird im
normalen Büroablauf die vom Gericht mit der Rechtsbehelfsbelehrung genannte Frist in den Fristenkalender
eingetragen und nicht noch kritisch überprüft. Allerdings hat hier die Bundesregierung auf die Sorgen der
Rechtsanwälte reagiert und eine entsprechende Aussage
in der Begründung zum Gesetzentwurf getroffen. Demnach dürfe auch ein Rechtsanwalt grundsätzlich auf die
ihm genannten Fristen vertrauen und auch bei Vertretung durch einen Anwalt sei Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Rechtsmittel innerhalb der mitgeteilten, falschen Frist einlegt würde. Ich halte dies für eine
sachgerechte Lösung, die nicht die Rechtsanwälte einseitig belastet.
Im Ergebnis halte ich den Gesetzentwurf zwar nicht
für perfekt, aber doch für gelungen; denn er sorgt durch
zusätzliche Information für eine verbesserte Situation
der Bürgerinnen und Bürger.
Mit diesem Omnibusgesetz schaffen wir nicht nur
Rechtsklarheit in Bezug auf Rechtsmittelbelehrungen im
Zivilprozess. Wir passen die Pfändungsfreigrenzen an
und kümmern uns um den Überschuldungsbegriff.
Während in den übrigen Verfahrensordnungen Belehrungen über die Rechtsbehelfe gegen die Entscheidungen der Gerichte bereits vorgeschrieben sind, ist dies im
Zivilprozess einschließlich des Zwangsvollstreckungsverfahrens nicht vorgeschrieben. Das Gesetz führt nun
eine Rechtsbehelfsbelehrungspflicht in allen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten ein, in denen die anwaltliche
Vertretung nicht obligatorisch ist. Diejenigen Rechtsbehelfe, über die zu belehren ist, werden ausdrücklich
aufgezählt. Die unterbliebene oder fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung wird nun bei einem Wiedereinsetzungsantrag berücksichtigt.
Die Rechtsbehelfsbelehrung soll den Bürgerinnen
und Bürgern die Orientierung im gerichtlichen Instanzenzug erleichtern und soll unzulässige Rechtsmittel
vermeiden. Auf diese Weise soll der Rechtsschutz des
Einzelnen im gesamten Zivilprozess verbessert werden.
Denn das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung erschwert den Bürgerinnen und Bürgern die Orientierung
im gerichtlichen Instanzenzug und erhöht die Gefahr unzulässiger Rechtsbehelfe, weil sich Form, Frist und zuständiges Gericht für den Rechtsbehelf nicht aus der
Entscheidung entnehmen lassen.
Im Rahmen des Änderungsantrages der Koalitionsfraktionen wird das Gesetz um weitere notwendig
gewordene Regelungen ergänzt.
Die Neufassung von § 145 Abs. 1 ZPO soll verdeutlichen, dass eine Trennung der Verfahren - wie bereits in
der höchstrichterlichen Rechtsprechung verankert - nur
zulässig ist, wenn dafür sachliche Gründe bestehen.
Sachliche Gründe können insbesondere die Vermeidung
einer verzögerten Erledigung einzelner abtrennbarer
Teile des Rechtsstreits, die Förderung der Übersichtlichkeit des Prozessstoffes sowie die Ermöglichung einer
Teilaussetzung sein.
Zudem erhöhen wir die Höhe der pfändungsfreien
Beträge für den Pfändungsschutz der Altersvorsorge
Selbstständiger in § 851c Abs. 2 ZPO, der an die veränderten Berechnungswerte angepasst wird. Das pfändungsfreie Deckungskapital wird nun, da die Berech24896
nungswerte einer ständigen Veränderung unterliegen,
überprüft und angepasst. Der Berechnung des
Deckungskapitals wurden die maßgeblichen Berechnungswerte wie Sterbetafel, Garantiezins, aktuelle Pfändungstabelle, übliche Abschluss-, Inkasso- und Verwaltungskosten zugrunde gelegt.
Schließlich wird der derzeit geltende Überschuldungsbegriff in § 19 Abs. 2 InsO mit diesem Gesetz entfristet. § 19 Abs. 2 InsO wurde in seiner derzeit geltenden Fassung lediglich als vorübergehende Lösung für
die Zeit der Finanzkrise eingeführt. Durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ({0}) wurde im Oktober
2008 der Überschuldungsbegriff des § 19 Abs. 2 InsO
zeitlich befristet bis Ende 2010 geändert. Zunächst war
beabsichtigt, dass ab dem 1. Januar 2011 der frühere
Überschuldungsbegriff wieder in Kraft treten sollte.
Durch das Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von
Unternehmen wurde die Befristung im August 2009 bis
Ende 2013 verlängert.
Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung im
Zusammenhang mit der Verabschiedung des Gesetzes
zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen im
August 2009 gebeten, „die Anwendung des weiter geltenden Überschuldungsbegriffs zu beobachten, mit
Fachkreisen und den Landesjustizverwaltungen zu diskutieren und dem Deutschen Bundestag Mitte der nächsten Legislaturperiode über die gemachten Erfahrungen
zu berichten“, um über die Notwendigkeit einer weiteren
Verlängerung oder einer Rückkehr zum früheren Überschuldungsbegriff entscheiden zu können. In der daraufhin von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen
rechtstatsächlichen Untersuchung kommen die Professoren Bitter und Hommerich zu dem Ergebnis, dass die
in der Finanzkrise getroffene Entscheidung, den
Überschuldungsbegriff zu ändern, richtig war. Die
volkswirtschaftlichen Vorteile hätten die Nachteile klar
überwogen. Bei einer Rückkehr zum alten Überschuldungsbegriff befürchten die Gutachter, dass lebensfähige Unternehmen in ein Insolvenzverfahren gedrängt
würden, da die Inkraftsetzung des alten Überschuldungsbegriffs bereits im Jahre 2012 Vorwirkungen
zeige. Vermögenswerte betroffener Unternehmen müssten in den Jahresabschlüssen nicht mehr zu Fortführungswerten, sondern zu Liquidationswerten angesetzt
werden. Auf zahlreiche mittelständische Unternehmen
läuft dieses Problem zum 31. Dezember 2013 zu. Unternehmen, die bis zu diesem Zeitpunkt eine bestehende
Deckungslücke nicht geschlossen haben, wären ab 1. Januar 2014 in einer Insolvenzantragspflicht.
Daher ist dringender Handlungsbedarf gegeben. In
ihrer abschließenden Empfehlung stellen die Gutachter
zudem fest, dass viel für eine Entfristung des aktuell geltenden Überschuldungsbegriffs spreche. Der alte Überschuldungsbegriff werde in der Praxis weitgehend für
unpraktikabel gehalten. Die relative Mehrheit der befragten Experten befürwortete eine dauerhafte Beibehaltung des derzeit geltenden Überschuldungsbegriffs.
§ 19 Abs. 2 InsO hat sich in der derzeit geltenden
Fassung in der Praxis bewährt. Die vorgesehene Entfristung trägt dem Rechnung und bringt für die betroffenen Unternehmen die im Rechts- und Wirtschaftsverkehr
dringend gebotene Rechtssicherheit.
Ich begrüße sehr, dass die Bundesregierung den Bürgerinnen und Bürgern die Orientierung im Instanzenzug
des Zivilprozesses - einschließlich der Zwangsvollstreckung - erleichtern möchte. Das ist ein Schritt in Richtung bürgerfreundliche Justiz und bringt für die
Rechtsunkundigen etwas mehr Durchblick im Gesetzesdschungel.
Für Entscheidungen im Zivilprozess sind derzeit
Rechtsbehelfsbelehrungen nicht vorgeschrieben. Dennoch kann man Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelbelehrungen, anders als im Gesetzentwurf behauptet, durchaus als verfassungsrechtlich geboten ansehen. Dies folgt
aus Art. 19 Abs. 4 und aus Art. 20 Abs. 1 GG. Rechtsstaatsprinzip und Justizgewährleistungsanspruch garantieren die Rechtswegklarheit und damit auch die
Rechtsmittelklarheit. Eine Rechtsbehelfsbelehrung
vermindert die Gefahr unzulässiger Rechtsbehelfe, weil
sich Form, Frist und zuständiges Gericht für den
Rechtsbehelf nicht aus der Entscheidung selbst entnehmen lassen, sondern mühevoll aus dem Gesetz abgeleitet
werden müssen, was fehlerträchtig ist. Damit kann sich
die neue Bürgerfreundlichkeit auch justizentlastend auswirken.
In einem neuen § 232 ZPO wird die Rechtsbehelfsbelehrung geregelt, wonach jede anfechtbare gerichtliche
Entscheidung eine Belehrung über das statthafte Rechtsmittel, das zuständige Gericht und über die Form und
Frist enthalten muss. Ausgenommen sind Verfahren mit
Anwaltszwang, also grundsätzlich alle zivilrechtlichen
Angelegenheiten ab Landgerichtszuständigkeit. Ob eine
Einschränkung auf Verfahren ohne Anwaltszwang bzw.
Anwaltsbeteiligung sinnvoll ist, kann man infrage stellen. Natürlich sollte ein Anwalt und damit die anwaltlich
vertretene Partei immer wissen, wie und innerhalb welcher Frist sie sich gegen Entscheidungen verteidigen
kann. Allerdings folgt aus der Differenzierung anwaltlich vertreten und nicht anwaltlich vertreten ein administrativer Aufwand für die Geschäftsstellen der Gerichte, ohne dass dem ein Nutzen gegenübersteht. Es
schadet nicht - weder der Partei noch dem Anwalt - von
dem Gericht über das nach dessen Sicht zulässige
Rechtsmittel bzw. den Rechtsbehelf informiert zu werden. Es sind keine Nachteile oder Bedenken ersichtlich,
die gegen eine solche Information auch bei anwaltlicher
Vertretung sprechen. Es würde mithin Gerichten und
sonstigen berufenen Stellen die Arbeit erleichtern, wenn
sie stets ihre Entscheidungen damit versehen müssten; in
anderen Verfahrensordnungen ist eine derartige
Einschränkung auch nicht üblich. Effiziente und weitsichtige Gesetzgebungspraxis muss sich daran messen
lassen.
Sollte nun das Gericht bei einer Entscheidung, die es
an einen nicht anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten zustellt, die Rechtsmittel- und Rechtsbehelfsbelehrung vergessen oder fehlerhaft ausstellen, so führt dies
bei Versäumung der Rechtsmittelfrist zu einem WiederZu Protokoll gegebene Reden
einsetzunganspruch in den vorherigen Stand, und der
Verfahrensbeteiligte wird so gestellt, als hätte er die
Frist nicht versäumt. Nach diesem Schema werden eine
Reihe weiterer Vorschriften unter anderem im Justizvergütungs- und Justizentschädigungsgesetz, im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, Gerichtskosten- und Gerichtsvollzieherkostengesetz etc. ergänzt.
Dennoch kann ich dem BMJ ein paar kritische Worte
nicht ersparen. Nicht nur ich warte immer noch auf den
Tag, an dem das Bundesjustizministerium zu einem mängelfreien Gesetzentwurf beglückwünscht werden kann.
Am heutigen Tag ist das leider nicht möglich; denn der
Entwurf enthält weitere Änderungen, die mit dieser
Thematik nichts zu tun haben. Art. 4 des Gesetzentwurfes - Änderung des Rechtspflegergesetzes - setzt augenscheinlich einen deutsch-österreichischen Konkursvertrag um. Art. 5 ändert die Zulässigkeitsregelungen für
Vorlagen an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes; dort soll das Verfahren effektiviert werden, indem vor Vorlage abzuklären ist, ob der
Senat, von dessen Rechtsprechung abgewichen werden
soll, überhaupt daran festhalten will. Art. 6 - Änderung
des FamFG - ändert auch Normen im Bereich der
Zwangsmaßnahmen wie der gewaltsamen Öffnung der
Wohnung zur Vorführung zur Untersuchung in Betreuungssachen.
Frau Justizministerin, erklären Sie mir einmal, was
die Einführung der Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess mit gewaltsamem Öffnen von Wohnungen zu tun
hat? Wenigstens versuchen Sie nicht diese Regelungen,
die Zwangsmaßnahmen erlauben, hinterrücks auszuweiten. Das Argument, mit dem Huckepackverfahren erspare man sich lauter Einzelinitiativen, ist im Hinblick
auf das Transparenzgebot parlamentarischer Verfahren
bedenklich. Deshalb appelliere ich erneut an Sie, Frau
Ministerin, dass in Zukunft bitte je Gesetzentwurf nur
diejenigen Änderungen oder Regelungen enthalten sind,
die thematisch, sachlich und fachlich korrespondieren.
Auch wenn Sie mit dem Gesetzentwurf sachfremde
Rechtsmaterie wieder still und leise heimlich nebenbei
mitregeln wollen, stimmen wir Ihrem Gesetzentwurf zu.
Er setzt ein rechtsstaatliches Gebot um, das bereits in
vielen Verfahrensordnungen enthalten ist. Die Länder
haben auf der 81. Konferenz der Justizministerinnen und
Justizminister am 23. und 24. Juni 2010 einstimmig beschlossen, dass Rechtsbehelfsbelehrungen in Verfahren,
in denen eine anwaltliche Vertretung nicht vorgeschrieben ist und bei denen die Entscheidungen nur befristet
anfechtbar sind, eingeführt werden sollen. Das ist nun
begrüßenswerterweise geschehen, auch wenn Sie dazu
gut zwei Jahre Zeit benötigt haben.
„Die Qualität der Gesetze wird immer schlechter.“
Das sage nicht ich. Das sagt der Deutsche Anwaltverein.
Wenn ein Verband von Juristinnen und Juristen der
Gesetzgebung ein derart mangelhaftes Zeugnis erteilt,
dann müssen wir uns nicht darüber wundern, dass Bürgerinnen und Bürger die für sie gemachten Gesetze nicht
mehr verstehen. Und da gibt es ein ganz praktisches
Problem: Bürgerinnen und Bürger, die keine anwaltliche
Vertretung in Anspruch nehmen, schreiben ihre Klage
selbst. Sie reichen diese bei Gericht ein. Sie verhandeln
vor Gericht. Sie nehmen das Urteil entgegen. Und
dann? Was also geschieht nach einer gerichtlichen Entscheidung? Ohne Anwalt oder Anwältin stehen Rechtsuchende nun vor erheblichen Fragen und haben keine
Antwort: Kann ich gegen die Gerichtsentscheidung vorgehen? Wie kann ich mich wehren? Wo muss ich Rechtsbehelfe einlegen? Habe ich Fristen zu beachten? Die
Folge ist: Bei den Zivilgerichten gehen viele unzulässige
oder verfristete Rechtsbehelfe ein. Bürgerinnen und
Bürger, die sich gegen eine Gerichtsentscheidung wehren wollen, scheitern. Sie können ihr Recht nicht ausüben, da sie über dieses Recht nicht ausreichend informiert sind.
In verschiedenen Gerichtsverfahren sind bereits Belehrungen über Rechtsbehelfe vorgesehen. Dies ist zum
Beispiel für Prozesse nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit der Fall. Diese Gerichtsverfahren sind bei den Zivilgerichten angesiedelt. Dort
aber, wo die Zivilprozessordnung gilt, besteht bisher
noch keine Verpflichtung zur Rechtsbehelfsbelehrung.
Heute beschließen wir hier im Bundestag das Gesetz
zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess. Richterinnen und Richter sollen zukünftig Prozessbeteiligte, die keinen Anwalt haben, darüber unterrichten,
wie, wo und wie lange sie gegen eine Gerichtsentscheidung vorgehen können. Mit diesem Gesetz schließen wir
eine große Schutzlücke im Zivilprozessrecht. Mit der
Rechtsbehelfsbelehrung wird es künftig für Bürgerinnen
und Bürger einfacher, sich im Verfahrensdschungel bei
Gericht zurechtzufinden. Das Gesetz ist ein Schritt hin
zu besserem Rechtsschutz. Allerdings sollten wir in der
Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes evaluieren, ob der
Schutz, der durch die Rechtsbehelfsbelehrung statuiert
wird, ausreicht. Bisher hat keine Evaluierung der entsprechenden Regelung im Gesetz über das Verfahren in
Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit stattgefunden, und das, obwohl
diese bereits vor einigen Jahren in Kraft getreten ist.
Wir sollten überprüfen, ob sich die Neuregelungen in
der Praxis als sinnvoll erweisen. Sollte die Zahl der
unzulässigen Rechtsbehelfe trotz der Belehrung nicht
abnehmen, so müssen wir über weitere Reformen nachdenken. So könnte es beispielsweise sinnvoll sein, die
Beteiligten eines Rechtsstreites auch zu informieren,
wenn kein Rechtsbehelf gegen die Gerichtsentscheidung
statthaft ist. Ebenso könnte die Festlegung einer bestimmten Belehrungsform den Rechtsschutz fördern.
Das Recht muss die Bedürfnisse jeder und jedes Einzelnen berücksichtigen. Damit sie aber ihre Rechte
wahrnehmen können, müssen sie diese kennen. Unsere
Aufgabe als Abgeordnete ist es, sicherzustellen, dass
Bürgerinnen und Bürger vollen Rechtsschutz erhalten
können - auch ohne Anwältin oder Anwalt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11385, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10490 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind alle Mitglieder des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Tagesordnungspunkt 34:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/6/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März
2012 zur Änderung der Richtlinie 78/660/
EWG des Rates über den Jahresabschluss von
Gesellschaften bestimmter Rechtsformen hinsichtlich Kleinstbetrieben ({0})
- Drucksachen 17/11292, 17/11353 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. - Niemand widerspricht.
Die Reduzierung von entbehrlichen Verwaltungslasten für die Wirtschaft ist seit Jahren ein vorrangiges Ziel
der Bundesregierung im Rahmen der Umsetzung des
Programms Bürokratieabbau. So konnten Einzelkaufleute bereits mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, BilMoG, aus dem Jahr 2009 von der Pflicht zur
Aufstellung von Jahresabschlüssen befreit werden.
Das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2012/6/EU
des Europäischen Parlaments und des Rates vom
14. März 2012 zur Änderung der Richtlinie 78/660/
EWG des Rates über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen hinsichtlich Kleinstbetrieben ({0}) sieht nun auch für
Kleinstkapitalunternehmen Erleichterungen im Bereich
Rechnungslegungs- und Offenbarungsvorschriften vor
und nimmt ihnen bürokratische Lasten bei der Erstellung von Bilanzen ab.
Standen entsprechenden nationalen Regelungen bislang europarechtliche Vorgaben entgegen, konnte die
christlich-liberale Bundesregierung mit ihren guten
Argumenten im März dieses Jahres erfolgreich für einen
Kompromiss, der die Entlastung möglich macht, auf EUEbene werben.
Allein in Deutschland sind rund 500 000 kleine Kapitalgesellschaften mit geringen Umsätzen und kleinen
Vermögenswerten aufgrund ihrer entsprechend geringen
Größe typischerweise nicht grenzüberschreitend tätig.
Für genau diese wird eine strikte Rechnungslegung nach
den Vorgaben der Richtlinie 78/660/EWG jedoch als Belastung empfunden. Dabei konzentriert sich das Interesse derjenigen, die Jahresabschlüsse nutzen, in der
Regel auf die Nachfrage weniger Kennzahlen.
Von den vorgesehenen Befreiungen werden Kleinstkapitalgesellschaften profitieren. Als Unterform der
kleinen Kapitalgesellschaften sind das solche Unternehmen, die an zwei aufeinanderfolgenden Abschlussstichtagen mindestens zwei der folgenden drei Schwellenwerte unterschreiten: 350 000 Euro Bilanzsumme nach
Abzug eines auf der Aktivseite ausgewiesenen Fehlbetrags, 700 000 Euro Umsatzerlöse in den zwölf Monaten
vor dem Abschlussstichtag und/oder durchschnittliche
Anzahl der Mitarbeiter während des Geschäftsjahres
nicht über zehn. Der Status als Kleinstkapitalunternehmen wird dabei erst nach zwei Jahren verwirkt, so ein
Unternehmen zwei der drei oben genannten Schwellenwerte überschreitet.
Die neue Richtlinie räumt den Kleinstunternehmen
zum Einzelabschluss besondere Wahlrechte als Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Rechnungslegung von Kapitalgesellschaften ein. So sind Ausnahmen von der grundsätzlichen Verpflichtung zum Ausweis
von aktiven und passiven Rechnungsabgrenzungsposten
möglich, dürfen Kleinstunternehmen auf den umfangreichen Anhang zur Bilanz verzichten sowie die Aufgliederung von Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung verkürzen.
Zudem sieht das MicroBilG eine Einschränkung hinsichtlich der Veröffentlichungspflicht vor. Nicht mehr
zwingend erforderlich ist die Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen von Kleinstunternehmen gegenüber der breiten Öffentlichkeit, wie dies durch Veröffentlichung im Bundesanzeiger aktuell verpflichtend ist.
Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass es ausreicht,
wenn Kleinstunternehmen ihre Jahresabschlüsse nur
mehr an ein Register übersenden, aus dem sie nur auf
Nachfrage zur Information an Dritte herausgegeben
werden.
Die Richtlinie wird zügig umgesetzt, damit den
Kleinstkapitalgesellschaften die auf EU-Ebene vereinbarten Erleichterungen möglichst schnell zugutekommen
können. Die Neuregelung soll für alle Geschäftsjahre
gelten, deren Abschlussstichtag nach dem 31. Dezember
2012 liegt.
Die Bundesregierung hat mit dem MicroBilG den
Spielraum der Richtlinie bestmöglich ausgeschöpft. Die
Befreiung der Kleinstkapitalunternehmen von einigen
genau bezeichneten Anforderungen stellt eine maßvolle
Abschwächung der Vorgaben für die Rechnungslegung
dar, ohne dabei die berechtigten Informationsinteressen
von Gläubigern über Gebühr auszuhebeln. Von den
durch das MicroBilG getroffenen Erleichterungen werden rund 500 000 deutsche Unternehmen profitieren.
Im weiteren parlamentarischen Verfahren sind
- Stichwort Flexibilität beim Ordnungsgeld - für eine
Verletzung von Publizitätspflichten noch einige kleinere
Punkte zu beleuchten.
Der Normenkontrollrat hat der Bundesregierung erst
kürzlich in seinem Jahresbericht bescheinigt, dass der
Bürokratieabbau in Deutschland trotz weiterhin bestehendem Handlungsbedarf bereits gut vorangekommen
ist. Die schnelle Umsetzung der EU-Micro-Richtlinie
2012/6/EU ist ein weiteres positives Signal, das die
christlich-liberale Bundesregierung aussendet.
Wer sich an das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz
aus dem letzten Jahr der Großen Koalition und seine segensreichen Verbesserungen für Einzelkaufleute erinnert,
muss angesichts des nun vorgelegten Gesetzentwurfs zur
Änderung des Bilanzrechts für kleinste Kapitalgesellschaften herb enttäuscht sein. Denn es bleibt alles beim
Alten: Die Bilanzrechtsänderung für Kleinstbetriebe
könnte auch unter der Überschrift „Mikroskopische Hilfen für Mikro-Unternehmen“ stehen. Tritt das Gesetz in
dieser Form in Kraft, dann sind im Ergebnis die Erleichterungen beschämend dürftig.
Das Bundesjustizministerium hatte die ursprünglich
angestrebten Maßnahmen zu einer Vereinfachung und
Lockerung der Rechnungslegung im Rahmen der EUMicro-Richtlinie 2012/6/EU zu einem „wichtigen Anliegen“ erklärt, aber in den entscheidenden Fragen hat
sich die Bundesregierung in Brüssel nicht durchsetzen
können. Weder ist von einer Vereinfachung bei der Rechnungslegung auszugehen, weil die ursprünglich gute
Idee einer Befreiung von der Bilanzierungspflicht für
Kleinstkapitalgesellschaften in Europa nicht durchzusetzen war, noch wird eine Reduzierung der bürokratischen und finanziellen Belastung der Unternehmen in
auch nur nennenswerter Größenordnung spürbar.
Nach ihren gescheiterten Verhandlungen mit den europäischen Partnern blieb als kleinster gemeinsamer Nenner eine Regelung übrig, die wir nun als Gesetzentwurf
vorgelegt bekommen: Firmen unterhalb der Schwelle
von zwei der drei Merkmale 350 000 Euro Bilanzsumme,
700 000 Euro Umsatz oder zehn Arbeitnehmer können
künftig auf die Erstellung eines Anhangs zur Bilanz verzichten ({0}), wenn sie bestimmte Angaben
unter der Bilanz machen - dazu gehört die Darstellung
der Haftungsverhältnisse, Angaben zu Vorschüssen und
Krediten an Mitglieder der Geschäftsführung oder der
Aufsichtsorgane, sowie Angaben zu eigenen Aktien. Die
Bilanz muss mit einer geringeren Gliederungstiefe aufgestellt werden, § 266 Abs. 1 HGB-E ({1}),
das Gleiche gilt für die Gewinn- und Verlustrechnung
({2}).
Die gesamten 36 Millionen Euro Ersparnis, die Sie
im Gesetzentwurf zugunsten der Kleinstkapitalgesellschaften beziffern, resultieren aus dem simplen Umstand, dass diese Unternehmen künftig ihre Bilanz beim
Bundesanzeiger nicht mehr veröffentlichen müssen - es
genügt, wenn sie sie dort hinterlegen. Im Falle der Hinterlegung können Dritte künftig auf Antrag kostenpflichtig
eine Kopie der Bilanz erhalten, die Veröffentlichungskosten in der Größenordnung von 60, 70 Euro im Jahr
bleiben den Kleinstfirmen erspart.
Aber Pflicht bleibt Pflicht: Die Bilanz ist auch weiterhin dem Bundesanzeiger zu übersenden, und zwar
fristgerecht und ordnungsgeldbewehrt. Ein Bürokratieabbau und eine Entlastung der Betroffenen sind hier jedenfalls nicht zu erkennen, mit denen man die geringere
Transparenz im Geschäftsverkehr, die Einführung von
Sonderregelungen im HGB und in der Unternehmensregisterverordnung und den vergrößerten Überwachungsaufwand vielleicht hätte begründen können.
Schließlich sollen selbst diese geringen Entlastungen
auf kleine Genossenschaften keine Anwendung finden.
Mögliche Erleichterungen - so die Begründung - sollen
gesondert geprüft werden. Hier sehen wir unbedingten
Änderungsbedarf, eine Anwendung der Micro-Richtlinie
auch auf genossenschaftlich organisierte Unternehmen
halten wir für geboten.
Dass bereits die Verabschiedung im Europäischen
Rat erst nach zähem Ringen erfolgte, weil die Widerstände aus einigen europäischen Ländern selbst in dieser
minimalinvasiven Endfassung noch spürbar waren, ist
bedauerlich. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen,
aber mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass wir mit dem
mangelnden Durchsetzungsvermögen der Bundesregierung in Brüssel außerordentlich unzufrieden sind.
Heute beraten wir über Erleichterungen für ganz
kleine Kapitalgesellschaften, also solche, die höchstens
700 000 Euro ({0})Umsatz erwirtschaften, maximal
350 000 Euro Bilanzsumme aufweisen oder zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchschnittlich beschäftigt haben - zwei der drei Kriterien dürfen nicht
überschritten sein. Davon werden fast ausschließlich
GmbHs Gebrauch machen können, kaum AGs.
Die Bundesregierung führt damit den mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, BilMoG, eingeschlagenen Weg fort und räumt kleinen Unternehmen weitere
Erleichterungen bei ihrer Rechnungslegung ein. Doch
soll das, was mit dem BilMoG begonnen wurde, wirklich
weitergeführt werden?
Die Bundesregierung gibt sich wirtschaftsfreundlich:
Die Kleinstkapitalgesellschaften, wie sie genannt werden, sollen bei der Aufstellung und Veröffentlichung ihres Jahresabschlusses von Kosten entlastet werden. Sie
können zukünftig vereinfachte Bilanzen sowie kürzere
Gewinn- und Verlustrechnungen erstellen und brauchen
keinen Anhang anzufertigen.
Als ich den Gesetzentwurf vorliegen hatte, war meine
erste Frage: Brauchen wir dieses Gesetz? Die zugrundeliegende Richtlinie der EU verlangt nicht zwingend
die Umsetzung in deutsches Recht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundesregierung spricht von Kostenersparnissen
und Bürokratieabbau. Das klingt für die Öffentlichkeit
immer gut. Wer wollte schon dagegen sein?
Für den Wirtschaftspraktiker sieht das Bild jedoch
ganz anders aus. Er weiß, dass die Kreditinstitute Unterlagen für ihre Kreditentscheidungen benötigen; ich erinnere hier an § 18 KWG. Er weiß, dass das Finanzamt neben den Steuererklärungen eine Steuerbilanz sehen will
und die Taxonomie der Euro-Bilanz gut gefüllt sein soll.
In beiden Fällen liefert der HGB-Jahresabschluss die
Grundlagen.
Somit sind die vorgesehenen Erleichterunge bei der
Aufstellung des Jahresabschlusses vernachlässigbar,
wenn man etwas weiter denkt.
Blieben also lediglich potenzielle Einsparungen bei
den Kosten für die Veröffentlichung des Jahresabschlusses. Doch diese sind für kleine Unternehmen schon
heute gering.
Aus der Sicht der Wirtschaft werden sich die Erleichterungen für die Kleinstkapitalgesellschaften also in einer sehr überschaubaren Größenordnung bewegen. Solange die Finanzverwaltung die Vereinfachungen und
Verkürzungen nicht akzeptiert, wird es keine nennenswerten Entlastungen für die Kleinstkapitalgesellschaften geben. Und das kann die Finanzverwaltung wegen
der Euro-Bilanz nicht machen.
Ich möchte abschließend noch an das Ziel erinnern,
das mit der Pflicht zur Aufstellung des Jahresabschlusses verbunden ist, nämlich dass der Kaufmann sich einen Überblick über seinen Betrieb machen soll. Ich zitiere § 242 HGB:
Erster Absatz: „Der Kaufmann hat zu Beginn seines
Handelsgewerbes und für den Schluß eines jeden Geschäftsjahrs einen das Verhältnis seines Vermögens und
seiner Schulden darstellenden Abschluß… aufzustellen.“
Zweiter Absatz: „Er hat für den Schluß eines jeden
Geschäftsjahrs eine Gegenüberstellung der Aufwendungen und Erträge des Geschäftsjahrs - Gewinn- und Verlustrechnung - aufzustellen.“
Diese Vorschriften wurden eingeführt, weil sich früher viele Kaufleute keine Übersicht über ihre Geschäfte
verschafften und dadurch in Insolvenz gerieten. Doch
das, was früher galt, gilt auch heute. Auch der Kleinstunternehmer braucht einen Überblick über seine Geschäfte, sein Vermögen und vor allem seinen Erfolg, also
eine Antwort auf die Frage: Lohnt sich seine unternehmerische Tätigkeit für ihn?
Die Linke ist für die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen und für Bürokratieabbau, doch sie
sieht auch, dass die kleinen Unternehmen geschützt werden müssen - manchmal auch vor sich selbst, wie wir bei
dem Ansturm zahlreicher Kleinunternehmer auf die britische Rechtsform Limited gesehen hatten, die viele wegen leichter Gründung, keines Mindestkapitals und beschränkter Haftung wählten, ohne zu erkennen, welche
Folgepflichten mit dieser Rechtsform verbunden waren.
Da sind viele bitter aufgewacht.
Großes wird versprochen: Mit dem Gesetzentwurf
will die Bundesregierung Kleinstkapitalgesellschaften
von den strengen Veröffentlichungspflichten im Hinblick
auf den Jahresabschluss entlasten - Stichwort „Bürokratieabbau“. Aber wie so oft stehen hinter dem großen
Versprechen von CDU/CSU und FDP nur Marginalitäten. Schön hat es der Verein Deutscher Ingenieure im
August auf den Punkt gebracht: „Das „Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzänderungsgesetz“ wird weniger
Entlastung bringen, als es sein monströser Name vermuten lässt.“
Momentan sind die Pflichten zur Rechnungslegung
und Offenlegung für Kapital- und Personenhandelsgesellschaften sehr umfassend. Derzeit muss die Vorjahresbilanz mit Anhang verpflichtend jährlich im Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Unternehmen, die der
Offenlegung nicht oder nicht fristgerecht nachkommen,
drohen hohe Ordnungsgelder ab 2 500 Euro aufwärts.
Besonders für sehr kleine Gesellschaften kann das eine
enorm hohe Belastung bedeuten.
Nun legt der Gesetzentwurf die neue Kategorie der
Kleinstkapitalgesellschaft fest. Das sind Unternehmen,
die zwei der drei folgenden Merkmale an zwei aufeinander folgenden Abschlussstichtagen nicht überschreiten:
Umsatzerlöse bis 700 000 Euro, Bilanzsumme bis
350 000 Euro und durchschnittlich zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zur Offenlegung müssen
diese Kleinstkapitalgesellschaften zwar auch künftig ihren Jahresabschluss elektronisch beim Bundesanzeiger
einreichen. Sie können sich aber aussuchen, ob sie ihn
im Bundesanzeiger bekannt machen lassen oder ob sie
ihn lediglich zur dauerhaften Hinterlegung beim Unternehmensregister einreichen. So oder so: Die Unterlagen
müssen dann aber trotzdem rechtzeitig elektronisch beim
Bundesanzeiger eingereicht werden. Viel Entlastung
kann dadurch also nicht erwartet werden.
Wirkungsvoller ist da eher, dass Kleinstkapitalgesellschaften keinen Anhang zur Bilanz mehr erstellen müssen. Dafür müssen unter der Bilanz ein paar mehr zusätzliche Angaben gemacht werden, so zum Beispiel die
Darstellung der Haftungsverhältnisse.
Schließlich wurde die Darstellungstiefe für Kleinstkapitalgesellschaften hinsichtlich des Jahresabschlusses
geändert, das heißt: Es kann ein vereinfachtes Gliederungsschema angewendet werden.
So weit, so gut. Das eigentliche Problem bleibt davon
aber völlig unberührt: die unangemessen hohen Ordnungsgelder, die zu entrichten sind, wenn die Rechnungsunterlagen nicht spätestens 12 Monate nach
Abschluss des Geschäftsjahres beim Bundesanzeiger
elektronisch eingereicht wurden und die sechswöchige
Androhungsfrist im Ordnungsgeldverfahren abgelaufen
ist.
Jetzt werfen wir noch einmal einen Blick auf gerade
die kleinen Unternehmen, denen eigentlich geholfen
werden sollte: Für sie ist der buchhalterische Aufwand
bei der Erstellung des Jahresabschlusses schwerer zu
Zu Protokoll gegebene Reden
erfüllen als für mittlere und große Unternehmen. In den
Ordnungsverfahren der Jahre 2009 und 2010 wurden
laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von
uns Grünen 97 Prozent der Ordnungsgeldverfahren
gegen kleine Unternehmen eingeleitet. Das ist eine happige Zahl und zeigt ja ganz deutlich, dass gerade kleine
Unternehmen Schwierigkeiten mit der starren derzeitigen Regelung haben. Von einzelnen Unternehmen habe
ich auch erfahren, dass die nicht pünktlich veröffentlichen konnten, weil wesentliche Verfahrensinformationen gefehlt haben und das Bundesamt für Justiz auf Fragen nicht reagiert hat. Statt Antworten flatterten den
Betroffenen dann gelbe Briefe mit bereits eingeleiteten
Ordnungsgeldverfahren ins Haus.
Nun zur Höhe des Ordnungsgeldes: Mindestens
2 500 Euro sind für kleine Unternehmen ein harter
Schlag - bis hin zur Existenzbedrohung. Die Bundesregierung hätte am Ordnungsgeldverfahren durchaus Änderungen vornehmen können. Die EU-Richtlinie gibt
hier keine verpflichtenden Details vor. Doch SchwarzGelb hat es verpasst, spürbare Entlastung bei der Höhe
der Ordnungsgelder umzusetzen. Nicht einmal eine Anpassung der Ordnungsgelder an die Unternehmensgrößen wurde vorgenommen. Dabei ist doch vollkommen
klar, dass ein kleiner Handwerksbetrieb von 2 500 Euro
unverhältnismäßig schwerer getroffen wird als ein
Großkonzern.
Jetzt kommt noch dazu, dass es in kleinen Unternehmen ab und zu vorkommt, dass nur eine Person für die
Rechnungslegung und Buchhaltung verantwortlich ist.
Nicht immer gibt es Vertretungskräfte. Wir reden hier
immerhin von Kleinstunternehmen, die vielleicht eine
Handvoll Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben.
Wenn nun der Geschäftsführer bzw. die Geschäftsführerin krank wird, kann sich die Einreichung der Bilanz
drastisch verzögern. Mir ist auch ein Fall bekannt, in
dem durch einen Brand sämtliche Unterlagen zerstört
wurden. Ob die Unternehmer es in dem Fall gewollt hätten oder nicht: Der Jahresabschluss konnte so faktisch
nicht erstellt werden. Für solche und ähnliche Fälle
müsste das Bundesjustizministerium mehr Flexibilität
beweisen und nicht gleich nach starr bürokratischer Art
mit Ordnungsgeldern drohen.
Würde die Bundesregierung die Besonderheiten von
Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften wirklich verstehen und hätte sie es mit der Unterstützung ernst gemeint,
hätten viel wirksamere Änderungen angegangen werden
können. So aber bleibt das „Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzänderungsgesetz“ nicht mehr als ein zahnloser Tiger; viel Lärm um fast nichts.
Bürokratieabbau und Deregulierung sind zentrale
Leitlinien der Arbeit dieser Bundesregierung. Mit dem
zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf wird ein weiteres Element des Bürokratieabbaus hinzugefügt.
Nachdem wir bereits in der letzten Sitzungswoche
- von vielen vielleicht nicht bemerkt - mit dem Jahressteuergesetz auch die handelsrechtlichen Aufbewahrungsfristen für Unterlagen der Rechnungslegung erheblich
reduziert haben, wird der Weg des Bürokratieabbaus mit
dem vorliegenden Gesetz weiter fortgesetzt. Es geht um
die Entlastung der Kleinstkapitalgesellschaften von Vorgaben der Rechnungslegung. Erfasst werden damit vor
allem Kleinst-GmbHs mit wenigen Mitarbeitern und geringem Geschäftsumfang.
Während allerdings bei den erwähnten handelsrechtlichen Aufbewahrungsfristen keinerlei EU-rechtliche
Vorgaben existieren, ist eine Entlastung im Bereich des
Bilanzrechts nur durch die Änderung der bestehenden
EU-Richtlinien möglich. Die Bundesregierung hatte
deshalb in der Vergangenheit die Initiative der Kommission, Kleinstunternehmen von entsprechenden EU-Vorgaben zu entlasten, immer unterstützt. Der nach langen
und strittigen Verhandlungen gefundene Kompromiss
hat sich zwar von dem ursprünglichen Vorschlag erheblich entfernt - aber auch hier gilt: Lieber diese Entlastung als gar keine Entlastung.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung entlastet
circa 500 000 Unternehmen. Das erreichen wir, indem
wir die EU-rechtlichen Schwellenwerte für die Anerkennung als Kleinstkapitalgesellschaften voll ausschöpfen.
Bei den allermeisten dieser Unternehmen wird der
Gesetzentwurf schon Auswirkungen auf die Rechnungslegung für das Jahr 2012 haben. Das Bilanzgeschäftsjahr vieler Unternehmen endet zum Ende des Jahres;
und genau zu diesem Zeitpunkt soll nach dem Vorschlag
der Bundesregierung die Neuregelung bereits greifen.
Die Unternehmen können dann beispielsweise erleichterte Gestaltungsformen in der Bilanz und der Gewinnund Verlustrechnung nutzen.
Zudem entfällt die Pflicht zur Erstellung eines Anhangs zur Bilanz völlig - eine häufige Fehlerquelle gerade bei Kleinstunternehmen in der Vergangenheit. Die
Unternehmen müssen nur einen eng begrenzten Katalog
von Informationen unter der Bilanz aufnehmen, falls
diese überhaupt einschlägig sind.
Schließlich können die Kleinstunternehmen die allgemeine Veröffentlichungspflicht im frei zugänglichen
Bundesanzeiger dadurch ersetzen, dass sie die Rechnungslegungsunterlagen beim Betreiber des Bundesanzeigers hinterlegen. Sie sind dann dort für Dritte nur im
gebührenpflichtigen Einzelabruf erhältlich.
Der Gesetzentwurf nutzt damit im Kern alle Optionen,
die das EU-Recht seit kurzem gewährt.
Die Bundesregierung will auch bewusst mit der Umsetzung nicht auf den Abschluss der derzeit laufenden
Beratungen zur umfassenden Reform der EU-Bilanzrichtlinien warten. Vielmehr sollen die Entlastungen so
schnell wie möglich an die Unternehmen weitergegeben
werden.
Lassen Sie uns deshalb den Gesetzentwurf jetzt zügig
beraten, damit die Kleinstkapitalgesellschaften möglichst rasch Rechtssicherheit erhalten und die neuen Optionen nutzen können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11292 und 17/11353 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/11317 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Alle sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11317 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das sehe ich nicht. Dann haben wir gemeinsam die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schlichtung im Luftverkehr
- Drucksache 17/11210 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. - Alle sind damit einverstanden.
Schlichtungsstellen sind in allen Branchen, in denen
sie eingerichtet werden konnten, Erfolgsgeschichten.
Deshalb hat es sich die christlich-liberale Koalition zum
Anliegen gemacht, auch im Luftverkehr die Schlichtung
zu etablieren. Künftig kann sich nun auch jeder Fluggast
bei Problemen an eine Schlichtungsstelle wenden, egal
ob es um Überbuchung, Annullierung, Verspätung oder
Schäden am Gepäck geht.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
sieht eine zweigleisige Schlichtungsstruktur im Luftver-
kehr vor: eine privatrechtlich organisierte Schlichtung
sowie eine bei einer Bundesbehörde einzurichtende be-
hördliche Schlichtung für die wenigen ausländischen
Airlines, die sich bislang noch nicht freiwillig beteiligen
wollen. Die Mehrzahl der Branche aber verhält sich
sehr vernünftig.
Für die Schlichtung soll dabei eine Bagatellgrenze
von 10 Euro gelten. Die vorherige Geltendmachung des
Anspruchs gegenüber dem Luftfahrtunternehmen soll
Voraussetzung für die Anrufung der Schlichtungsstelle
sein. Der Gesetzentwurf sieht zudem die Möglichkeit
vor, künftig eine maximal 20 Euro hohe Schlichtungsge-
bühr vor Einleitung des Schlichtungsverfahrens beim
Fluggast zu erheben, die im Falle eines begründeten An-
spruchs vom Luftfahrtunternehmen dann zu erstatten ist.
Im Rahmen einer Evaluierung wird nach zwei Jahren
überprüft, wie hoch die Erfolgsquote bei der Anrufung
der Schlichtungsstelle ist. Besteht die überwiegende
Zahl der geltend gemachten Ansprüche nicht, könnte
eine solche Gebühr dann von der Schlichtungsstelle ein-
geführt werden. Bis dahin gilt jedenfalls zunächst ein-
mal Schlichtung ohne „Eintrittsgebühr“ für jedermann.
Die Zusage zur Teilnahme der im Bundesverband der
Deutschen Luftverkehrswirtschaft e.V., BDL, zusammen-
geschlossenen deutschen Luftfahrtunternehmen und der
im Board of Airline Representatives in Germany e.V.,
BARIG, organisierten ausländischen Luftfahrtunterneh-
men an einer privatrechtlichen Schlichtungsstelle lässt
auf eine erfolgreiche Schlichtung im Flugverkehr hoffen.
Eine Schlichtung unter einem Dach wäre die Ideal-
lösung gewesen; das will ich offen sagen. Die söp, die
bestehende Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per-
sonenverkehr e.V., funktioniert; sie leistet gute Arbeit.
Dennoch müssen die wirtschaftlichen Bedingungen für
alle Beteiligten stimmen. Den Fluggesellschaften ist die
söp zu teuer, ein gemeinsamer Nenner war trotz vieler
Gespräche nicht zu erreichen. Die Kostenstruktur der
söp, Stichwort „Fallpauschale“, wäre aus Sicht der Air-
lines ein Nachteil im harten internationalen Wettbewerb.
Das Wesen einer Schlichtungsstelle liegt aber gerade
in der freiwilligen Teilnahme. Gesetzlicher Zwang ist
nicht zielführend, da niemand gesetzlich gezwungen
werden kann, Schlichtersprüche abschließend zu akzep-
tieren. Gemäß dem Justizgewährleistungsanspruch kann
der Rechtsweg nicht abgeschnitten werden. Eine
Schlichtungsstelle ist aber nur dann effektiv, wenn sie
von einer breiten Akzeptanz der jeweiligen Branche ge-
tragen wird, sprich: wenn der Schlichtungsspruch auch
akzeptiert wird. Nur dann ist den Verbrauchern wirklich
geholfen; nur dann werden Gerichte entlastet. Im Übri-
gen gilt auch: Je höher die Fallpauschale, desto mehr
zahlen diejenigen, die keine Beschwerden haben; auch
für diese Kunden würden die Tickets teurer. Wichtig ist,
dass die Fluggesellschaften nun weit mehrheitlich einer
brancheninternen Schlichtung zugestimmt haben. Alle
Verkehrsträger beteiligen sich damit in Zukunft an einer
Schlichtungsstelle.
Der Gesetzentwurf enthält auch die notwendige Auf-
fanglösung für die eigentlichen Problemkinder, Airlines
wie Easyjet und Ryanair, die sich hartnäckig nicht frei-
willig beteiligen. Gleichwohl bleibt hier am Ende des
Tages „nur“ der Weg zum Gericht, wenn diese Airlines
ein behördliches Schlichtungsergebnis nicht akzeptie-1) Anlage 11
ren. Das müssen die Fluggäste vor Augen haben, wenn
sie Tickets kaufen.
Das sogenannte Y-Modell ist eine gute Lösung. Die
Verbraucher haben ein digitales Schlichtungseingangsportal mit zwei Ausgängen. Sie können sich entweder
unmittelbar zur söp oder zur Schlichtungsstelle der Airlines durchklicken. Fälle mit Bezug zu EasyJet und
Ryanair werden von der Schlichtungsstelle der Airlines
dann automatisch an die behördliche Schlichtungsstelle
weitergegeben, die Betroffenen darüber informiert.
Im weiteren parlamentarischen Verfahren bleibt zu
prüfen, ob, wie vorgesehen, eine Begrenzung der Ansprüche von Passagieren auf 5 000 Euro sinnvoll ist.
Auch bei höheren Streitwerten kann die Schlichtung zielführend sein. Darüber hinaus sollte bezüglich einer etwaigen zukünftigen Eintrittsgebühr klargestellt werden,
wie unzulässige Anrufungen der Schlichtungsstelle bei
der Berechnung der Misserfolgsquote einzubeziehen
sind. Es spricht zudem einiges dafür, die für die Beschwerdebearbeitung vorgesehene Regulierungsfrist
von 30 auf 60 Tage zu verdoppeln. 30 Tage dürften wohl
zu eng bemessen sein, um Schnelligkeit und gebotene
Sorgfalt bei der Bearbeitung ins Verhältnis zu setzen.
Die söp geht von einer Frist von drei Monaten aus.
„Der Weg ist das Ziel“ - so wird Konfuzius gern und
oft zitiert. Bei Reisen ist der Weg einfach der Weg. Und
der ist mehr oder weniger beschwerlich. Und wenn dann
noch Unannehmlichkeiten hinzukommen, wie Annullierungen, Verspätungen oder Gepäckschäden, bleibt der
Weg in schlechter Erinnerung.
Nun liegt uns der Gesetzentwurf zur Schlichtung im
Luftverkehr vor. Verbraucherfreundlich kann sich der
Fluggast nun bei Problemen rund um seinen Flug an die
Schlichtungsstelle wenden.
Schlichtung ist ein sinnvolles Instrument der Streitbeilegung und hat sich in den letzten Jahren in vielen
Branchen bewährt. Denken Sie an die Schlichtungsstellen im Versicherungs- und Bankenbereich oder auch die
„Reiseschiedsstelle“ für online gebuchte Reisen.
Auch von Fluggästen werden Verbraucheransprüche
in größerer Zahl und mit ähnlichen Sachverhalten geltend gemacht. Sie sind meist einfach zu beurteilen und
haben eher einen geringen Streitwert. Deshalb sind sie
für die außergerichtliche Schlichtung geeignet.
Im Koalitionsvertrag hat die christlich-liberale Koalition vereinbart, eine unabhängige, verkehrsübergreifende
Schlichtungsstelle gesetzlich zu verankern. Die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e. V.,
söp, hat sich zu einer wichtigen Anlaufstelle für Fahrgäste entwickelt. Ich stimme meinem Kollegen Marco
Wanderwitz zu: Ich hätte auch lieber eine verkehrsübergreifende Schlichtungsstelle unter einem Dach gehabt.
Leider konnten sich söp und Fluggesellschaften nicht einigen; Stichwort Fallpauschale. Ich denke aber, dass
wir mit diesem Gesetzentwurf eine gute Lösung gefunden haben.
Die deutschen Luftfahrtunternehmen, die im Bundesverband der Luftverkehrswirtschaft, BDL, organisiert
sind, und die ausländischen, die im Board of Airline Representatives in Germany e. V. organisiert sind, haben
sich nach intensiven Bemühungen unserer Bundesregierung bereit erklärt, sich freiwillig an einer privatrechtlich organisierten Schlichtungsstelle zu beteiligen. Eine
Schlichtungsstelle macht aber nur Sinn und ist nur dann
im Sinne der Verbraucher, wenn sich auch alle Unternehmen dieser Branche daran beteiligen. Leider gibt es
schwarze Schafe, die das nicht wollen. Aber das darf für
die Fluggäste kein Nachteil sein. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht die Möglichkeit vor, in solchen Fällen
eine behördliche Schlichtungsstelle anzurufen.
Das ist Verbraucherschutz.
Es ist aber nur dann wirksamer Verbraucherschutz,
wenn der unzufriedene Fluggast sich nicht erst durch einen Schlichtungsstellendschungel quälen muss, bis er
die richtige findet. Deshalb unterstütze ich das derzeit
von den Flugunternehmen angedachte „Y-Modell“, also
ein Portal mit zwei Schlichtungsstellen. Der Verbraucher
kann sich dann entweder an die söp oder die Schlichtungsstelle der Airlines wenden.
Was aber machen wir mit den Airlines, die sich nicht
freiwillig der Schlichtungsstelle anschließen? Das Modell
sieht vor, dass Beschwerden, die diese Airlines betreffen,
automatisch an die behördliche Schlichtungsstelle weitergegeben werden. Für den Verbraucher entstünde kein
besonderer Aufwand.
Schlichtung ermöglicht den Verbrauchern eine
schnelle und im Allgemeinen kostenlose Streitbeilegung.
Aber auch für die Unternehmen hat die außergerichtliche Schlichtung den Vorteil, dass sie den Kunden eher
an sich binden können, als wenn es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommt. Dass sich ein Unternehmen freiwillig an einer Schlichtungsstelle beteiligt
und dem Kunden diese Möglichkeit eröffnet, erzeugt sicherlich auch Vertrauen und ist ein Vorteil im Wettbewerb. Deshalb hoffe ich, dass sich auch die anderen Airlines überzeugen lassen, an der Schlichtungsstelle
freiwillig teilzunehmen. Sie gesetzlich zwingen, wie die
Verbraucherzentrale es fordert, wollen wir nicht. Das
Verfahren beruht auf Freiwilligkeit. Was hätte der Verbraucher davon, wenn die Fluggesellschaft zur Teilnahme gezwungen würde, dann aber keinen Schlichterspruch akzeptiert?
Ein wichtiger Aspekt für die Verbraucher sind natürlich die Kosten. Wenn nach einer zweijährigen Evaluierungsphase überwiegend Ansprüche geltend gemacht
wurden, die nicht bestanden haben, kann die Schlichtungsstelle eine Gebühr von 20 Euro von dem Fluggast
verlangen. Diese wird zurückgezahlt, sollte der Anspruch begründet sein.
Diese Regelungen sind sinnvoll.
Eine Schutzgebühr ist notwendig, damit die Schlichtungsstelle nicht überlastet wird. Die Gebühr darf aber
keinesfalls eine Hürde darstellen, also nicht so hoch
sein, dass sie Verbraucher, die einen begründeten AnZu Protokoll gegebene Reden
spruch haben, abschrecken würde! 20 Euro halte ich für
angemessen.
Wenn allerdings „die Geltendmachung des Anspruchs missbräuchlich“ war, muss der Fluggast eine
Gebühr zahlen. Dabei ist mir besonders wichtig: Der
Verbraucher muss vor Einleitung des Schlichtungsverfahrens informiert werden, sollte es zu Gebühren kommen, weil die Schlichtungsstelle missbräuchlich in Anspruch genommen wird.
Einerseits müssen sich die Fluggesellschaften natürlich vor Querulanten schützen dürfen. Andererseits darf
ein unbedachter Fluggast auch nicht mit Gebühren bestraft werden. Das müssen wir beobachten.
Das Gesetz zur Schlichtung im Luftverkehr bringt
viele Vorteile für die Verbraucher. Die Schlichtungsstelle
bringt grundsätzlich gebührenfrei und schnell Ergebnisse; der Verbraucher hat damit eine gute Möglichkeit,
seinem Recht Geltung zu verschaffen.
Wir haben 2009 nach langen und intensiven Diskussionen die Rechte von Bahnkunden gestärkt. Wir haben
dafür gesorgt, dass Kundinnen und Kunden der Bahn
auf klar geregelte Fahrgastrechte bauen können und
nicht mehr als Bittstellerinnen und Bittsteller auf die
Kulanz der Bahn hoffen müssen.
Bereits seit Februar 2005 ist die EU-FluggastrechteVerordnung 261/2004 in Kraft. Auf dieser Grundlage
könnten die Fluggäste ihre Rechtsansprüche gegenüber
den Fluggesellschaften geltend machen. Eigentlich! Seit
Jahren zeigt sich aber, dass die Fluggesellschaften mit
allen möglichen Tricks versuchen, sich um die Zahlungsverpflichtungen zu drücken. Statt sich um eine
außergerichtliche Streitbeilegung, also um eine Schlichtung, zu bemühen, müssen die Gerichte ein ums andere
Mal die Luftfahrtunternehmen auf ihre Verpflichtung zu
Ausgleichsleistungen verurteilen. Erst vor zwei Wochen
wieder hat der Europäische Gerichtshof ein entsprechendes Urteil gefällt und erneut die Rechte der Fluggäste gestärkt.
Eine Schlichtungsstelle ist wichtig und notwendig,
eine Beteiligung der Luftverkehrsunternehmen ebenso.
Es würde ihnen die Chance eröffnen, ihr Verhältnis zu ihren Kundinnen und Kunden zu verbessern, neues
Vertrauen aufzubauen und damit den entstandenen Imageschaden zu heilen. Dies gilt vor allem mit Blick auf diejenigen Airlines, die bis heute über kein Beschwerdemanagement verfügen und deren Ziel bisher nur die
Abwehr von Verbraucheransprüchen ist.
Um es ganz klar zu sagen: Schlichtung ersetzt nicht
das Beschwerdemanagement bei den Verkehrsunternehmen. Schlichtung stellt vielmehr eine unverzichtbare Ergänzung zu einem guten Beschwerdemanagement dar.
Aber: Wir brauchen eine verkehrsträgerübergreifende
Schlichtungsstelle, und diese muss für alle Verkehrsträger - selbstverständlich auch für die Luftfahrtunternehmen - verpflichtend sein! Alles andere ist Murks.
Die unübersichtliche Aufsplitterung der Zuständigkeit, je nach Verkehrsträger und dann auch noch behördlich und privatrechtlich organisiert, verursacht
Nachteile für die Verbraucherinnen und Verbraucher
und ist ganz einfach nicht effektiv.
Richtig angesiedelt ist die Schlichtung bei der
„Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr“, söp, die ja verkehrsträgerübergreifend konzipiert
ist und eine hervorragende Arbeit leistet. Ich erinnere
daran, dass die Verbraucherschutzminister der Länder
dies bereits im September 2010 gefordert haben.
Ich begrüße und unterstütze die Kritik des Bundesrates am Gesetzentwurf der Bundesregierung:
Die vorhergesehene Regulierungsfrist muss von
30 Tage auf 90 Tage ausdehnt werden, denn die bisherige Frist ist kaum erreichbar.
Die Luftfahrtunternehmen sollen gesetzlich verpflichtet werden, auf ihrer Internetseite, in ihren AGB und in
den Reiseverträgen in geeigneter Weise bekannt zu machen, dass die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens
besteht und welche Schlichtungsstelle für die Behandlung der gegen sie geltend gemachten Ansprüche von
Fluggästen zuständig ist.
Mit Eingang eines Schlichtungsantrages soll ein Anspruch auf Entgelt an die Schlichtungsstelle entstehen,
da für diese ein Aufwand entsteht.
Die Begrenzung der Zuständigkeit der Schlichtungsstelle auf bestimmte Rechtsverstöße, Verbraucherstreitigkeiten und vor allem Zahlungsansprüche bis
5 000 Euro soll gestrichen werden.
Ich hoffe sehr, dass die Kolleginnen und Kollegen der
Koalitionsfraktionen in den anstehenden parlamentarischen Beratungen in den Ausschüssen gemeinsam mit
uns die Kritik aufgreifen und entsprechende Änderungen
im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher auf den
Weg bringen.
Ich freue mich, dass wir einen breiten Konsens darüber haben, dass eine Schlichtungsstelle für Flugreisende eine wichtige Einrichtung ist. Der vorliegende
Gesetzentwurf der Bundesregierung dokumentiert, dass
auch die Bundesregierung dieses Ziel verfolgen will.
Ein weiterer breiter Konsens besteht in der positiven
Bewertung der qualitativ hochwertigen Arbeit der
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr
e.V., söp. Die Schaffung einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung für den Luftverkehr unter dem Dach
der söp ist daher wünschenswert.
Es gibt gute Gründe: Derzeit warten rund 2 500 Flugreisende auf eine Schlichtungsempfehlung zur Beendigung ihres Streitfalles. Die söp könnte dies professionell
und in einem überschaubaren Zeitrahmen erledigen.
Aber leider beschränken sich die Unterstützungsbekundungen der Koalition oftmals nur auf verbale und
schriftliche Darlegungen. So ist es auch bei dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung. Eine UnZu Protokoll gegebene Reden
terstützungsabsicht ist dem Gesetzentwurf zu entnehmen. Bei einer konkreten Durchführung der Einrichtung
einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle
für den Luftverkehr unter dem Dach der söp hapert es
allerdings bei der Bundesregierung und ihrem Gesetzentwurf.
Konkret schlägt die Bundesregierung in ihrem Entwurf mehrere verschiedene Schlichtungsstellen allein
für den Luftverkehr vor: die söp und eine oder mehrere
private Schlichtungsstellen, die von deutschen Luftfahrtunternehmen auf freiwilliger Basis neu gegründet werden sollen. Hinzu soll dann noch eine behördliche
Schlichtungsstelle kommen, für die Probleme mit Luftverkehrsunternehmen, die anderen Schlichtungsstellen
nicht freiwillig beitreten. Diese unnötigen Parallelstrukturen sind nicht verbraucherfreundlich, weil Fluggäste zunächst die überhaupt zuständige richtige
Schlichtungsstelle finden müssten.
Intermodalität wird heute von jedem praktiziert und
von Politik und Unternehmen in die Planungen mit einbezogen. Die EU will vereinheitlichte Zugänge für die
Verbraucherinnen und Verbraucher, um die Nutzung einer Mobilitätskette von verschiedenen Verkehrsträgern
zu erleichtern. Dies bezieht sich sowohl auf Fahrscheine
und Reiseverträge als auch auf Anlaufstellen für
Beschwerden und Schlichtungsstellen. Die EU-Kommission formulierte bereits in ihrer Mitteilung vom Dezember
letzten Jahres: Es „sind EU-Passagierrechte notwendig,
die den Reisenden einheitliche Zugangsbedingungen
und ein grundlegendes Dienstleistungsniveau garantieren - Mitteilung über die Rechte der Benutzer aller
Verkehrsträger ({0}). An anderer Stelle schreibt die EU-
Kommission: „Die Bereitstellung „durchgehender
Fahrscheine“, das heißt ein Beförderungsvertrag für
verschiedene Reiseabschnitte mit einem Verkehrsträger)
und integrierte Fahrscheine, das heißt ein Vertrag für
eine intermodale Beförderungskette, erleichtert das Reisen und stärkt die Passagierrechte.“ „Die Verwirklichung des intermodalen Verkehrs, etwa durch integrierte Beförderungsverträge, erfordert eine Anpassung
des gesetzlichen Rahmens für Passagierrechte, damit
das Problem, wenn es bei intermodalen Beförderungen
zu Störungen an einem Umsteigepunkt kommt, gelöst
werden kann“.
Dass dieses Ziel auch notwendig ist, zeigen Ergebnisse verschiedener Untersuchungen und Umfragen, wie
der repräsentativen Quotas-Umfrage im Rahmen des
EU-Projektes USEmobility, das in sechs europäischen
Ländern, darunter auch Deutschland, durchgeführt
wurde. Laut dieser Umfrage wählen zwei Drittel der
Reisenden einen Mix aus verschiedenen Verkehrsmitteln
für ihre täglichen Wege. Mit 77 Prozent weist Deutschland von allen europäischen Ländern die höchste Multimodalität auf.
Als Antwort auf die vorhandene Intermodalität fordern wir Sozialdemokraten die Schaffung einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle, an die
sich Reisende bei allen Problemen - egal ob Bahn-,
Flug-, Schiffs- oder Busreise wenden können. Hierzu
hätte die Bundesregierung nach dem Vorbild der
Schlichtungsstelle Energie die Unternehmen gesetzlich
zur Teilnahme verpflichten müssen.
Betrachtet man den vorliegenden Gesetzentwurf der
Bundesregierung genauer, muss man leider feststellen,
dass die gute Absicht, die Verbraucherrechte für Flugreisende zu stärken durch die Ausgestaltung des Gesetzentwurfes eingeschränkt wird.
Obwohl nach den Erfahrungen der mehrjährigen
Schlichtungsarbeit der söp die Quote rechtsmissbräuchlich erhobener Beschwerden unter 1 Prozent liegt, hält
sich die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf die
Möglichkeit offen, in so einem Fall Kosten von bis zu
20 Euro auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abzuwälzen. Dies kann Fluggäste davon abhalten, sich mit
ihrer Beschwerde an eine Schlichtungsstelle zu wenden.
Die Bundesregierung begrenzt die Zuständigkeit der
Schlichtungsstellen auf bestimmte Rechtsverstöße, Verbraucherstreitigkeiten und auf Zahlungsansprüche über
10 und bis zu 5 000 Euro. Bei dieser Eingrenzung wären
aber beispielsweise Streitigkeiten über fehlerhafte Internetbuchungen und über Stornogebühren für eine
Schlichtung nicht zulässig. Obwohl die Schlichtung ein
freiwilliges Verfahren ist, dass jederzeit abgebrochen
werden kann und der Schlichterspruch von beiden Parteien akzeptiert werden muss, wird dieses Verfahren im
vorliegenden Gesetzentwurf unnötigerweise eingegrenzt.
Die Verfahrensordnung der söp sieht stattdessen eine
Obergrenze des Streitwertes von 30 000 Euro vor. Diese
Schlichtungsstelle schlichtet auch Streitfälle, die Körperund Sachschaden zum Gegenstand haben. Die von der
Bundesregierung getroffenen Eingrenzungen schließen
dagegen einen großen Teil von Streitfällen für ein
Schlichtungsverfahren aus.
Bereits im Herbst 2010 hatte die Konferenz der Verbraucherschutzminister der Länder die Bundesregierung dazu aufgefordert, die Schlichtungsstelle für den
öffentlichen Personenverkehr verpflichtend für alle in
Deutschland tätigen Reiseverkehrsunternehmen gesetzlich festzuschreiben.
Wir sind der Ansicht: Diese Forderung ist durch
nichts zu ersetzen und mit Sicherheit nicht durch diesen
Gesetzentwurf.
Als Verbraucher will ich die Leistung haben, für die
ich auch bezahlt habe. Bekomme ich die Leistung nicht
oder nicht in der vereinbarten Qualität, will ich einen
Ersatz für den entstandenen Schaden. Darum ist es ein
demokratisches Recht, sich an eine Stelle wenden zu
können, die bei der Durchsetzung von Rechten hilft. Das
muss nicht immer gleich mit dem Gang zum Gericht verbunden sein. Darum ist es sinnvoll, außergerichtliche
Schlichtung anzubieten, die den Geschädigten davor
schützen kann, nicht auch noch das Risiko zusätzlicher
Kosten einzugehen.
Verbraucherinnen und Verbraucher wollen ohne bürokratischen Aufwand zu ihrem Recht kommen. Und sie
wollen auch nicht lange suchen, wer denn für was zuständig ist. Ein Anliegen, ein Ansprechpartner. Dieses
Prinzip heißt auf Fahrgastrechte übertragen, dass es für
mich einen Ansprechpartner gibt, der mich unterstützt,
die Rechtmäßigkeit meiner Beschwerde zu prüfen, und
dabei hilft, berechtigte Interessen durchzusetzen. Diesen
Anspruch erfüllt der hier vorliegende Gesetzentwurf
überhaupt nicht. Aus Sicht der Verbraucher ist er untauglich. Denn er ist nicht aus dem Blickwinkel der Verbraucher geschrieben. Die Bundesregierung hat sich
von ihrem Vorhaben verabschiedet, eine unabhängige
Schlichtungsstelle zu schaffen, die für alle Reisenden zuständig ist, egal ob sie per Bahn, Bus, Schiff oder Flugzeug unterwegs sind. Die Fluggesellschaften weigern
sich standhaft, eine neutrale Schlichtungsstelle für alle
zu akzeptieren. Was macht die Bundesregierung? Sie
kuscht und legt uns einen Gesetzentwurf vor, der exklusiv für die Luftverkehrsgesellschaften gemacht ist. Das
überrascht nicht wirklich. Schließlich hat der Kollege
Patrick Döring vor einem Jahr hier im Plenum angekündigt - ich zitiere -: „Unser Ziel bleibt, gemeinsam mit
der betroffenen Wirtschaft ein gutes Gesetz auf den Weg
zu bringen.“ Es stimmt, das Gesetz ist eindeutig mit oder
vielleicht sogar von der betroffenen Wirtschaft auf den
Weg gebracht. Das Versprechen, ein gutes Gesetz vorzulegen, bleibt die Bundesregierung allerdings schuldig.
Man hat sich nicht die Regelungen zueigen gemacht,
die beispielsweise in Schweden, Dänemark, Estland
oder Lettland gelten. Dort fallen Fluggastansprüche in
die Zuständigkeit von Schlichtungsstellen, die allgemein
für Verbraucheransprüche eingerichtet worden sind.
Das bestätigt auch die Bundesregierung. Der alternative
Verkehrsclub Deutschland, VCD, hat Vorschläge, wie
Reisende in Deutschland zu ihrem Recht kommen, wenn
sie nicht die Leistung erhalten, für die sie bezahlt haben.
Meine Fraktion hat, wie die übrigen Oppositionsparteien auch, einen Antrag eingebracht, der eine einheitliche Anlaufstelle für Verbraucher festschreibt. Damit
kann ein wirklicher Fortschritt in Sachen Stärkung der
Verbraucherrechte gelingen.
Wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung beschlossen würde, wäre das ein echter Rückschritt. Das
ist fatal, schließlich waren wir schon auf dem richtigen
Weg. Vor drei Jahren jedoch wurde die Richtung gewechselt. Die Schlichtungsstelle für den öffentlichen
Personenverkehr e.V., söp, löste die anerkannte unternehmensgetragene Schlichtungsstelle Mobilität ab. Die
Fluggesellschaften wollten aber auch an dieser Schlichtungsstelle söp nicht teilnehmen und bestanden auf einer
Extrawurst. Jetzt liegt uns eine Sonderregelung vor, wo
aus jedem Absatz herauszulesen ist, wessen Interessen
umgesetzt werden sollen. Es wird uns ein bunter Strauß
verschiedener Schlichtungsmöglichkeiten angeboten.
Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht? Also - es
wird angeboten, dass das Bundesministerium der Justiz
im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und dem Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie - und nun kommt’s - privatrechtlich organisierte Einrichtungen als Schlichtungsstellen zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten anerkennen.
Fluggäste können eine Schlichtungsstelle anrufen, wenn
sie mit einer direkten Beschwerde bei der Fluggesellschaft nicht weitergekommen sind. Die privatrechtlich
organisierte Stelle ist zuständig, wenn das Luftfahrtunternehmen an der Schlichtung durch diese Schlichtungsstelle teilnimmt. Und damit man weiß, ob denn die Stelle
auch die richtige ist, muss diese Schlichtungsstelle eine
Liste der Gesellschaften vorweisen, welche sich dieser
Stelle angeschlossen haben. Wenn ein Fluggast Ansprüche gegen eine der Gesellschaften geltend machen will,
die nicht in dieser Liste zu finden ist, dann kann er oder
sie die Schlichtungsstelle anrufen, die bei einer Bundesbehörde einzurichten ist.
Soll das Verbraucherschutz sein? Soll das Bürokratieabbau sein? Ich gebe zu, das ist eine rhetorische
Frage. Dieser Gesetzentwurf zur Schlichtung im Flugverkehr ist Bürokratie pur und verbraucherfeindlich.
Vielleicht guckt die Verbraucherschutzministerin nochmal drauf. Ihre bayerische Kollegin Frau Merk hat
schon mal auf den wunden Punkt hingewiesen. Ich zitiere: „Wenn jede Fluggesellschaft die Möglichkeit bekommt, ihre Schlichtungsstelle selbst zu bestimmen,
führt das zu einem Fleckerlteppich. Und der ist für den
Reisenden nicht mehr überschaubar.“
Damit nicht nur Spezialisten ihre Rechte durchsetzen
können, fordert Die Linke eine Regelung, die für alle
Verkehrsgesellschaften gilt, die für alle verbindlich ist
und die für alle Betroffenen ohne bürokratische Hürden
zugänglich ist.
Einig sind wir uns ja nun alle: Es ist sinnvoll, eine außergerichtliche Streitbeilegung für Reisende gesetzlich
zu verankern. So können Reisende ihr Recht bei Verspätungen, Annullierungen und Nichtbeförderung niedrigschwellig durchsetzen. Aber in keinem Rechtsbereich ist
die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit momentan so eklatant wie bei den Fluggastrechten. Die
entscheidende Frage ist nun, ob durch den vorliegenden
Gesetzentwurf mehr Probleme oder Lösungen geschaffen werden. Aus meiner Sicht ist das vorliegende Gesetz
verbraucherunfreundlich und widerspricht Ihrem eigenen Koalitionsvertrag. Von Niedrigschwelligkeit keine
Spur!
Der Gesetzentwurf sieht die Möglichkeit vor, mehrere
Schlichtungsstellen für den Luftverkehr zu schaffen. Getrennte Schlichtungsstellen sind besonders verbraucherunfreundlich, weil die Gefahr besteht, dass Zuständigkeiten hin- und hergeschoben werden. Das ist
ineffizient und führt zu einer Zersplitterung der Zuständigkeiten und zu höheren Kosten. Das hat mit Verbraucherschutz wenig zu tun.
Um die Verwirrung komplett zu machen, wird im Gesetzentwurf neben der privaten Schlichtungsstelle, an
der die Airlines teilnehmen können, nun noch zusätzlich
eine Behörde beauftragt, bei den Airlines zu schlichten,
die bei den anderen Schlichtungsstellen nicht mitmaZu Protokoll gegebene Reden
chen. Das ist ein absurdes Theater. Weil die Airlines sich
nicht einigen können, sollen die Steuerzahler jetzt mit einer Behörde einspringen. Das ist eine ungerechtfertigte
Extrawurst für die Airlines. Auch das hat nichts mit Verbraucherschutz zu tun.
Wir Grünen haben von Anfang an betont, dass wir
eine Schlichtungsstelle für alle Verkehrsträger unter einem Dach wollen. So steht es übrigens auch in Ihrem
Koalitionsvertrag. So eine Stelle gibt es bereits mit der
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personennahverkehr, söp. Die söp ist verkehrsübergreifend konzipiert
und wird diesem Anspruch durch diverse Angebote gerecht. Während nahezu alle Bahnunternehmen und auch
vermehrt Nahverkehrsanbieter wie zum Beispiel die
BVG als Träger der söp die Vorteile dieses Verfahrens
anerkennen, weigern sich die Flugunternehmen weiter
beharrlich. Die Bundesregierung knickt vor den Interessen der Airlines ein. Auch die Verbraucherschutzminister haben vor über einem Jahr festgestellt - damals saßen auch Verbraucherschutzminister der CDU und der
FDP mit am Tisch -, dass die Schlichtung bei der söp am
besten aufgehoben ist.
Eine unabhängige und verkehrsträgerübergreifende
Streitbeilegung in einer einzigen Schlichtungsstelle ist
für ein zeitnahes Ergebnis im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher die richtige Lösung. Eine verkehrsträgerübergreifende Lösung sichert vor allem die
Neutralität gegenüber den verschiedenen Verkehrsträgern sowie betriebswirtschaftliche Skaleneffekte, die die
Kosten für eine Schlichtung so niedrig wie möglich halten. Zugleich steigen aber etwa Effizienz und Effektivität
von Werbemaßnahmen.
Das wichtigste Argument müssen immer die Verbraucherinnen und Verbraucher sein. Sie sollten sofort wissen, an wen sie sich mit ihrem Anliegen wenden können,
ganz unabhängig davon, welchen Verkehrsträger sie
nutzen. Ein Zuständigkeitswirrwarr, wie Sie es mit diesem Gesetz planen, hilft doch eher dabei, die Menschen
von einem Schlichtungsverfahren fernzuhalten. Viele
werden ein solches Verfahren resigniert scheuen, erst
recht die Beschreitung des Rechtsweges.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass
die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf mehr das
Wohl der Airlines im Auge hat als das der Verbraucherinnen und Verbraucher. Sogar der Koalitionsvertrag
wird dafür gebrochen. Dort heißt es, es solle eine
Schlichtungsstelle für alle Verkehrsträger eingesetzt
werden. Genau das wäre im Sinne der Reisenden. Da
hätten Sie sich mit Ihrem Koalitionsvertrag endlich einmal die Unterstützung der gesamten Opposition verdienen können, und Sie verpatzen es schon wieder. Wenn
Sie schon nicht auf uns hören, dann hören Sie doch wenigstens auf den ADAC oder den Verbraucherzentrale
Bundesverband. Alle sind dafür, nur eben die Airlines
nicht und in der Folge auch die Bundesregierung nicht.
Pure Ignoranz ist, dass die Bundesregierung nicht auf
die Änderungsvorschläge des Bundesrates eingeht. Da
waren auch viele Änderungsvorschläge von der CSU dabei. Heute wissen wir, dass das nichts als Show war. Die
Bundesregierung hat dem 20-seitigen Dokument des
Bundesrates zur Schlichtung im Luftverkehr so gut wie
nichts entgegenzusetzen.
Wir brauchen eine verkehrsträgerübergreifende
Schlichtungsstelle für alle Verkehrsträger. Die söp
macht hier gute Arbeit; an ihr sollten wir anknüpfen.
Noch ist es nicht zu spät. Daher appelliere ich an die
Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen: Sorgen Sie für eine gesetzliche Lösung, bei der die
Interessen der Verbraucher ernst genommen werden und
ihr Koalitionsvertrag ausnahmsweise einmal ordentlich
umgesetzt wird! Wenn Sie das in einem entsprechenden
Änderungsantrag tun, stimmen wir gerne mit Ihnen.
Wird ein Fluggast mit dem gebuchten Flug nicht befördert, weil dieser überbucht oder annulliert ist, kommt
ein Fluggast verspätet an oder ist sein Gepäck verloren
gegangen, hat er zwar umfangreiche Ansprüche gegen
die Fluggesellschaft. Häufig jedoch ist es schwierig,
diese Ansprüche auch zu realisieren, weil die Fluggesellschaft sie nicht reguliert oder weil Streit über die
Anspruchsberechtigung besteht. Hiervon zeugen vielzählige Gerichtsverfahren. Sie bedeuten aber nicht nur
ein Kostenrisiko für den Fluggast, das ihn oft von der
gerichtlichen Geltendmachung abhält. Auch werden unsere Zivilgerichte hierdurch zunehmend belastet.
Diese Ansprüche schnell, kostengünstig und durch
eine unabhängige Stelle schlichten zu können, ist das
Ziel des von der Bundesregierung vorgelegten Entwurfs
eines Gesetzes zur Schlichtung im Luftverkehr. Er wird
zugleich die Zivilgerichte nachhaltig entlasten.
Voraussetzung für das Funktionieren jeder Schlichtung ist aber ihre Akzeptanz durch die Beteiligten. Die
Bundesregierung hat daher intensive Gespräche mit den
Luftfahrtunternehmen und ihren Verbänden geführt. Dabei ist es letztlich gelungen, die im Bundesverband der
Deutschen Luftverkehrswirtschaft e. V., BDL, und in
dem Board of Airline Representatives in Germany e. V.,
BARIG, organisierten deutschen und ausländischen
Luftfahrtunternehmen für eine Akzeptanz der Schlichtung zu gewinnen und sich auf gemeinsame Eckpunkte
hierfür zu verständigen. Dies ist ein großer Erfolg, der
vor allem den Verbrauchern zugutekommt.
Auf der Grundlage dieser Eckpunkte hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf erarbeitet, der Ihnen heute
zur Beratung vorliegt. Wie in vielen anderen Bereichen
sollen danach Schlichtungen grundsätzlich durch privatrechtlich organisierte, von den Unternehmen getragene Schlichtungsstellen erfolgen. Diese können von der
Bundesregierung anerkannt werden, wenn sie bestimmte
Anforderungen an die Unparteilichkeit der Stelle und
die Fairness des Verfahrens erfüllen. Unternehmen, die
sich an der freiwilligen privaten Schlichtung nicht beteiligen, sollen einer subsidiären behördlichen Schlichtung
überantwortet werden.
Die Schlichtungsstellen können von Fluggästen wegen solcher Ansprüche angerufen werden, die aus einer
Überbuchung, einer Annullierung oder einer VerspäZu Protokoll gegebene Reden
tung des Fluges resultieren sowie beschädigtes oder verloren gegangenes Reise- oder Handgepäck betreffen und
5 000 Euro nicht übersteigen. Die Schlichtung ist - abgesehen von Fällen des Missbrauchs - für den Verbraucher kostenlos.
Die Luftfahrtunternehmen haben sich trotz Umsetzung der vereinbarten Eckpunkte in dem vorgelegten
Gesetzentwurf in zwei Punkten kritisch geäußert:
Sie fordern, dass in die Evaluierung zur Einführung
eines „Zugangsentgelts“ nicht nur die unbegründeten,
sondern auch die unzulässigen Anrufungen der Schlichtungsstelle einbezogen werden sollen. Diese Forderung
lehnt die Bundesregierung ab. Zunächst einmal ist es
wichtig, hervorzuheben, dass der Gesetzentwurf ein
„Zugangsentgelt“, wie es von den Luftfahrtunternehmen
gefordert wurde, nicht vorsieht. Verbraucher können
also ohne eigene Aufwendungen die Schlichtungsstelle
wegen ihrer Fluggastansprüche anrufen. Sollte sich allerdings zeigen, dass die Schlichtungsstelle ganz überwiegend angerufen wird, obwohl gar keine Ansprüche
bestehen, kann ein moderates Zugangsentgelt von maximal 20 Euro eingeführt werden, um die Schlichtungsstelle vor Überlastung mit unbegründeten Begehren und
die allein kostenpflichtigen Luftfahrtunternehmen vor
unnötigen Aufwendungen zu bewahren. Demgegenüber
bedeuten unzulässige Anrufungen der Schlichtungsstelle
regelmäßig keine nennenswerte zusätzliche Arbeitsbelastung und verursachen meist keine nennenswerten
Kosten. Nur hiervor soll das „Zugangsentgelt“ aber
schützen.
Die Luftfahrtunternehmen fordern weiter, die Bearbeitungsfrist von Beschwerden durch Unternehmen von
30 Tagen vor - zulässiger - Anrufung der Schlichtungsstelle auf 90 Tage heraufzusetzen. Nach Auffassung der
Bundesregierung ist eine Bearbeitungszeit von 30 Tagen
vor Einleitung eines Schlichtungsverfahrens für die Unternehmen jedoch ausreichend und aus Gründen der Kohärenz der Rechtsordnung auch geboten. Die Bemessung
dieser Frist folgt den Antwortfristen für das Kunden- und
Beschwerdemanagement nach den EU-Verordnungen
über Fahrgastrechte im Eisenbahn- und Kraftomnibusverkehr. Berücksichtigt wurde zudem, dass nach deutschem Recht nach Ablauf von 30 Tagen die Verzugsfolgen eintreten. Es gibt keine sachlichen Gründe, den
Luftfahrtunternehmen längere Bearbeitungsfristen als
den anderen Verkehrsträgern einzuräumen. Es kann
keine Bearbeitungszeit beansprucht werden, die über die
Verzugsfristen hinausgeht und diese konterkariert.
Die im BDL und in der BARIG organisierten deutschen und ausländischen Luftfahrtunternehmen haben
sich in den Eckpunkten zur freiwilligen Teilnahme an
einer Schlichtung bereit erklärt. Ob sie dazu der vorhandenen Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, beitreten oder eine neue Schlichtungsstelle für den Luftverkehr einrichten, werden sie
demnächst entscheiden müssen. Wichtig ist, dass damit
alsbald ein schnelles, unkompliziertes und faires Regulierungsverfahren zur Verfügung steht, das für Verbraucher und Luftfahrtunternehmen Vorteile bringt.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11210 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann haben
wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Stephan
Mayer ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Gisela Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff
({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates zum
Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien
Datenverkehr ({2})
KOM({3}) 11 endg.; Ratsdok. 5853/12
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Satz 1 des
Grundgesetzes
- Drucksache 17/11325 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung schon ausgewiesen, werden
die Reden zu Protokoll genommen. - Alle sind damit
einverstanden.
Sowohl im Europäischen Parlament und im Rat als
auch im Deutschen Bundestag und Bundesrat haben
nach der Veröffentlichung der Vorschläge der EU-Kommission zur Neuregelung des Datenschutzes in Europa
lebhafte Diskussionen begonnen. Dies liegt unter anderem daran, dass gerade in Deutschland der Schutz
personenbezogener Daten eine sehr hohe Bedeutung genießt. Es ist daher sehr wichtig, dass sich das deutsche
Parlament mit dem Instrument des Antrages nach
Art. 23 des Grundgesetzes ebenfalls in die Diskussion
einbringt.
In vielen Fällen ist es allerdings nicht der Staat, den
es als Sammler von personenbezogenen Daten zu regulieren gilt, sondern die Wirtschaft, die personenbezogene Daten als Währung für ihre Angebote und Dienstleistungen längst akzeptiert hat.
Für mich stellt sich somit die Frage nach einem roten
Faden, einer Leitlinie, die auf der einen Seite die Interessen der datenverarbeitenden Unternehmen und auf
der anderen Seite die Interessen der die Anwendungen
Stephan Mayer ({0})
nutzenden Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen berücksichtigt.
Denn schließlich steht der Schutz personenbezogener
Daten gemäß Art. 8 in der EU-Grundrechtecharta nicht
isoliert. Auch die Berufs- und die unternehmerische
Freiheit gemäß Art. 15 und 16 sind fester Bestandteil der
EU-Grundrechtecharta.
Dem vorliegenden Entwurf der Kommission gelingt
dieser schonende Ausgleich zwischen den von mir aufgezeigten widerstrebenden Interessen allerdings nicht
vollständig. Daher haben die Koalitionsfraktionen hier
einen Antrag vorgelegt, der die wichtigsten Fragen aufgreift und die Bundesregierung auffordert, sich in den
Verhandlungen im EU-Rat für eine ausgleichende sowie
praxistaugliche Fortentwicklung des Verordnungsentwurfes einzusetzen.
Viele datenschutzrechtliche Fragestellungen werden
ausschließlich aus Sicht des Verbrauchers abgehandelt
und auch zu dessen Gunsten aufgelöst. Dies mag vielleicht in dem einen oder anderen Fall aufgrund der jüngeren Schwierigkeiten von Unternehmen mit dem Schutz
personenbezogener Daten angezeigt sein. Ergänzend
hierzu darf es natürlich zukünftig nicht mehr möglich
sein, dass Unternehmen in der Europäischen Union das
Land als Unternehmenssitz wählen, in dem ein vergleichsweise geringes Datenschutzniveau herrscht.
Grundsätzlich begrüße ich daher das Vorhaben einer
Vollharmonisierung des europäischen Datenschutzrechtes sehr.
Ich halte beispielsweise die vorgesehenen Regelungen von Privacy-by-Design und Privacy-by-Default für
zwei wichtige technikoffene Optionen zur zukünftigen
datenschutzkonformen Gestaltung von elektronischen
Diensten und Anwendungen im Internet. Insgesamt
überwiegen jedoch im Entwurf die vielen unternehmensbelastenden Regelungen.
Das von der Kommission selbst gesetzte Ziel eines
Abbaus von Bürokratie und einer Reduzierung der
Kosten der Wirtschaft wird aus meiner Sicht längst nicht
im möglichen Umfang erreicht. Zwar werden teilweise
bestehende Informationspflichten abgebaut. Es werden
zugleich aber auch insbesondere durch die Art. 14 und
15 sowie den Art. 32 eine Vielzahl von neuen Informations- und Dokumentationspflichten geschaffen. Es ist
zudem noch immer unklar, welche Informationspflichten
tatsächlich als Bringschuld des Unternehmens ausgestaltet sind.
Aus meiner Sicht sollte beispielsweise für Dinge, die
bereits allgemeiner Kenntnis entsprechen, zumindest
keine Informationspflicht durch die Unternehmen bestehen. Zudem sollten für kleinere und mittlere Unternehmen oder auch Unternehmen, die nur selten personenbezogene Daten verarbeiten, entsprechende Ausnahmen
oder Erleichterungen geschaffen werden. Lassen Sie
mich das mit einem kleinen Beispiel verdeutlichen:
Aufgrund des weiten Anwendungsbereichs der jetzigen Vorschriften wäre beispielsweise die Übertragung
von Informationen von Visitenkarten in eine elektronische Datenbank ein informations- und auskunftspflichtiger Vorgang. Dies ist schlicht unverhältnismäßig und
völlig praxisfern.
Ich teile daher die Einschätzung der deutschen Wirtschaftsverbände, die alle davon ausgehen, dass die Verordnung in der jetzigen Form zu einem erheblichen
Mehraufwand an Kosten führen wird, zu einem Mehraufwand, der letztlich auf alle Nutzerinnen und Nutzer
umgelegt werden wird.
Hinzu kommt, dass viele der neuen Pflichten vielleicht noch von großen Konzernen eingehalten werden
können. Gerade kleinere und mittelständische Unternehmen werden sich aber schwertun, beispielsweise innerhalb von 24 Stunden umfassend über eine mögliche
Datenschutzverletzung aufklären zu können.
Umso unverständlicher ist es daher für mich, dass die
Verpflichtung zur Einrichtung eines betrieblichen Datenschutzbeauftragten erst ab 250 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern greifen soll ({1}). In Deutschland hat sich an dieser Stelle die Grenze von 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einem Unternehmen
durchaus bewährt ({2}).
Ich rate daher zu einer gründlichen Überarbeitung
der entsprechenden Vorschriften. Es sollte eine deutliche
Abstufung und Differenzierung zwischen dem Umfang
der zu verarbeitenden personenbezogenen Daten und
der jeweiligen Größe des Unternehmens und der damit
verbundenen Pflichten vorgenommen werden. Auch
wenn das neue One-Stop-Shop-Prinzip grundsätzlich
eine breite Zustimmung erfährt, sollte ein einheitlicher
europäischer Rechtsrahmen auch die Belange der kleineren und mittleren Unternehmen in gebotenem Maße
berücksichtigen.
Nachfolgend möchte ich kurz auf die möglichen Folgen der Verordnung für den Datenschutz von Beschäftigten eingehen. Auch an dieser Stelle schießt die Verordnung aus meiner Sicht deutlich über das Ziel hinaus.
In Deutschland haben sich seit vielen Jahren datenschutzrechtliche Regelungen in Betriebsvereinbarungen
bewährt. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite passen die
bestehenden rechtlichen Grundlagen für den jeweiligen
Betrieb und das jeweilige Arbeitsumfeld darin an. Betriebsvereinbarungen helfen, Verfahrensabläufe rechtssicher zu handhaben und unbestimmte Rechtsbegriffe
für die Unternehmen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu konkretisieren. Sie stellen damit einen hohen
und praxisnahen Datenschutz dar.
Dieser Prozess des Gebens und Nehmens ist allerdings durch den Verordnungsvorschlag in Gefahr geraten. Denn dieser sieht in Art. 6 Abs.1 b, c vor, dass die
Verarbeitung personenbezogener Daten zur Erfüllung
eines Vertrages oder einer gesetzlichen Verpflichtung
erforderlich sein muss. Die in Deutschland und auch in
anderen europäischen Ländern geschlossenen Kollektivvereinbarungen zwischen den Tarifpartnern wären
somit hinfällig. Sie böten keine Grundlage mehr für eine
rechtmäßige Datenverarbeitung. Es sollte daher
dringend sichergestellt werden, dass auch zukünftig
Kollektivvereinbarungen wie Tarifverträge und BeZu Protokoll gegebene Reden
Stephan Mayer ({3})
triebsvereinbarungen rechtmäßige Grundlage für eine
Datenverarbeitung sein können.
Auch der Wegfall der Einwilligungsmöglichkeit im
Arbeitsverhältnis in Art. 7 Abs. 4 in Verbindung mit Erwägungsgrund 34 stellt aus meiner Sicht einen Rückschritt vom praxisnahen Datenschutz dar. Mir ist bewusst, dass viele Datenschützer und auch die
Gewerkschaften den Wegfall der Einwilligungsmöglichkeit im Arbeitsverhältnis im Entwurf der Kommission
begrüßt haben. Ich halte ihn dennoch für falsch. Denn
bereits jetzt wird die Möglichkeit der Einwilligung in der
überwiegenden Zahl der Fälle nur wahrgenommen,
wenn die damit verknüpfte Datenverarbeitung zugunsten des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin erfolgt,
beispielsweise bei zusätzlichen durch den Arbeitgeber
angebotenen Gesundheitsleistungen, kostenlosen Zeitschriften, Mitarbeiterrabatten etc. Alle diese Fälle wären dann zukünftig ausgeschlossen bzw. müssten gesondert durch den Gesetzgeber geregelt werden. Dies ist
weder aufwandsneutral noch praxistauglich. Die Einwilligung sollte daher grundsätzlich auch in Beschäftigungsverhältnissen zulässig bleiben. Einzelne kritische
Anwendungsbereiche könnten jedoch ausgeschlossen
werden.
Abschließend möchte ich noch kurz zur Anzahl der
delegierten Rechtsakte sowie dem beabsichtigten Kohärenzverfahren Stellung nehmen.
Aus meiner Sicht stellen die knapp 50 Stellen für
delegierte Rechtsakte bzw. weiterführende Ermächtigungen zur näheren Ausgestaltung der Verordnung ein
deutliches Überschreiten der in Art. 290 AEUV gesetzten Grenzen dar. Aus Art. 289 und 290 AEUV ergibt sich,
dass eine Verordnung als Basisrechtsakt die wesentlichen materiellen Festlegungen nicht auf den abgeleiteten Rechtsakt übertragen darf, sondern diese selbst
regeln muss. Der Verordnungsentwurf sieht aber an den
vorgenannten Stellen nicht nur Konkretisierungen vor,
sondern auch die Befugnis für die Kommission, den
Regelungsgehalt von einzelnen Normen eigenständig
auszufüllen. Sie kann damit eine Vielzahl von Normen,
deren Einhaltung sie überwachen soll, zuvor selbst
schaffen. Dies ruft erhebliche rechtsstaatliche Bedenken
hervor. Die Zahl der delegierten Rechtsakte muss daher
aus meiner Sicht deutlich reduziert werden. Es ist richtig, dass für Bereiche, die der rasanten technologischen
Entwicklung angepasst und fortgeschrieben werden, gewisse Spielräume und eine gewisse Flexibilität für die
EU-Kommission verbleiben müssen. Allerdings geschieht dies hier in deutlich zu großem Umfang.
Auch das im Verordnungsentwurf vorgesehene Kohärenzverfahren ist bereits aus rechtsstaatlichen Gründen
abzulehnen. Die Kommission kann bei datenschutzrechtlichen Fragestellungen ein eigenes Selbsteintrittsrecht geltend machen und Maßnahmen der nationalen
Datenschutzaufsichtsbehörden untersagen. Ein gesondertes Rechtsmittel hat die nationale Aufsichtsbehörde
gegen eine solche Entscheidung nicht. Die Kommission
erhält durch dieses Verfahren somit umfangreiche
Durchgriffsrechte bis hinunter auf die nationale Ebene.
Damit verstößt das Verfahren sowohl gegen die Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörden ({4}) als auch
gegen das in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes verankerte Demokratieprinzip. Schließlich wäre die Datenschutzkontrolle nicht mehr der demokratischen Verantwortung der jeweiligen Mehrheit des nationalen
Parlaments unterworfen.
Bei den Diskussionen sollte weiterhin die Umsetzbarkeit und Praktikabilität der geplanten Regelungen im
Vordergrund der Debatte stehen.
Mein Fazit ist, dass es zu einer Vielzahl von einzelnen
Regelungen noch einer intensiven Diskussion unter den
Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament bedarf.
Die möglichen Auswirkungen der neuen Verordnung
sind für viele zentrale Lebensbereiche noch ungeklärt
und nicht endgültig abschätzbar. Es verbieten sich daher
gesetzgeberische Schnellschüsse.
Die christlich-liberale Koalition leistet mit dem vorliegenden Antrag einen praxisorientierten Beitrag dazu,
das europäische Datenschutzrecht angemessen und
sinnvoll weiterzuentwickeln. Sie finden in diesem Antrag
noch weitere grundsätzliche Forderungen, wie die angemessen Differenzierung zwischen dem öffentlichen und
dem nichtöffentlichen Bereich, die Einbeziehung der
Institutionen der Europäischen Union in den Anwendungsbereich der Verordnung, die Ablehnung von
Verbandsklagen oder auch die Forderung nach angemessene Übergangs- und Inkrafttretensregelungen.
Die Fülle der Themen und die Komplexität des
Themas verlangen auch in den kommenden Wochen und
Monaten eine intensive Beschäftigung mit diesem zentralen Reformvorhaben.
Wir stehen erst am Beginn des digitalen Zeitalters.
Weite Bereiche unseres Lebens sind aber jetzt schon erfasst. Immer mehr Menschen nutzen soziale Netzwerke
für ihre private und öffentliche Kommunikation. Das
Internet wird von immer mehr Menschen zur Information und zum Einkaufen genutzt. Und immer mehr Handlungen des täglichen Lebens - wie zum Beispiel die Nutzung von Verkehrsmitteln - werden über das Internet
abgewickelt. Das alles ist aber erst der Anfang. Mit dem
Internet der Dinge, mit der Nutzung des Internets auch
im Individualverkehr, den sogenannten „Connected
Cars“, wird auch unser alltägliches Handeln immer
mehr Spuren im Netz hinterlassen.
Und diese Vielfalt von Informationen und Datenspuren, die wir im Netz hinterlassen, die etwas über unsere
Person und unser Verhalten aussagen, ist hochinteressant und kommerziell verwertbar. Je mehr ich über eine
Person, ihr Verhalten und ihre Präferenzen weiß, desto
besser kann ich dieses Wissen nutzen, um sein Verbraucherverhalten gezielt über Werbung zu steuern oder
auch zu manipulieren. Und gerade in dieser Kombinationsmöglichkeit, und nicht als Datum per se, werden personenbezogene oder personenbeziehbare Daten im Internet zur Ware. Daten sind sozusagen das Erdöl des
Internetzeitalters. Nicht „Big brother is watching you“,
sondern „Big Business is watching you“.
Damit aber tritt das kommerzielle Interesse an der
Erhebung von personenbeziehbaren und personenbezogenen Daten in Widerspruch und in erheblichen Konflikt
zum Grundrechtsschutz der Würde des Menschen, der
Person und ihrer Freiheit; oder - wie das Bundesverfassungsgericht es in Ableitung aus diesen Grundrechten
definierte - zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Der Schutz dieser Grundrechte im Internetzeitalter ist
nicht nur Aufgabe, sondern Pflicht der Staaten. Dem
sind wir in der deutschen Rechtsordnung in vielen Bereichen nachgekommen. Allerdings haben wir bei der
Durchsetzung der Rechtsgrundsätze des Datenschutzes
ein erhebliches Vollzugsdefizit. Denn die Rechtsgrenzen
sind national, die der Märkte sind europäisch und das
Netz ist global. Effektiven Datenschutz - und diese Erkenntnis ist inzwischen allgemein geworden - können
wir nur auf europäischer Ebene organisieren. Wir brauchen eine europäische Harmonisierung! Davon werden
nicht nur die Verbraucher, sondern davon wird auch die
Wirtschaft in Europa profitieren, weil ihr mit einer europäischen Rechtsetzung auch Einheitlichkeit und Rechtssicherheit gegeben wird.
So hat am 25. Januar 2012 die Europäische Kommission den Entwurf einer Datenschutzreform vorgestellt,
und zwar bestehend aus der sogenannten DatenschutzGrundverordnung sowie der sogenannten Richtlinie
über die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit.
Beide Teile sollen als Gesamtpaket - so wünscht dies die
Europäische Kommission - verabschiedet werden.
Die Datenschutz-Grundverordnung wird ohne Umsetzungsrechtsakt für Deutschland gelten. Ein Großteil
der deutschen Datenschutzregelungen wird durch sie ersetzt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt das
Ziel der Kommission, mit den vorgelegten Entwürfen ein
einheitliches Datenschutzniveau innerhalb der Europäischen Union zu erreichen. Wir verstehen die Entwürfe
der Kommission als Chance, um innerhalb Europas einen besseren Datenschutz sowie mehr Rechtssicherheit
zu erreichen. Wir verstehen den Verordnungsentwurf
auch deshalb als Chance, weil er in einigen Bereichen
bereits zukunftsweisende Prinzipien des Datenschutzes,
wie die grundsätzliche Zustimmungspflicht oder das
Prinzip, dass jedes Unternehmen, das Daten europäischer Bürger verarbeitet, unabhängig vom Sitz erfasst
wird, beinhaltet.
Allerdings gibt es aus unserer Sicht auch eine Reihe
von Verbesserungsmaßnahmen.
Für die Bundesrepublik wird es nun entscheidend
sein, diese bei den Verhandlungen im Rat durchzusetzen.
Und gerade in dieser sensiblen Frage kann man diese
Bundesregierung und gerade diesen Bundesinnenminister nicht alleine lassen. Gemessen an den Schwankungen, die die Koalition und der Innenminister beim
Thema Datenschutz vollzieht, und das können Sie mir
als Bewohner des Hessischen Riedes glauben, ist ein im
Winde hin und her geworfenes Schilfrohr eine statisch
höchst stabile Erscheinung.
Und das sieht offensichtlich die Koalition auch so.
Denn auch Sie haben jetzt einen Antrag eingebracht, in
dem Sie Ihrer eigenen Regierung konkrete Vorgaben für
die Verhandlungen machen. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang. Inhaltlich ist dieser Antrag aber ein „Bärendienst“ für den Datenschutz! Sie formulieren zwar,
dass Sie einen Datenschutz auf hohem Niveau haben
wollen. In der Sache aber fordern Sie, dieses Niveau
möglichst weit im Interesse der Wirtschaft abzuschleifen. Sie wollen die bereits bestehenden hohen deutschen
Datenschutzstandards nicht etwa schützen, sondern
über Europa aushebeln. Das wird die SPD nicht mitmachen!
Sie führen das Wort „Datenschutz“ gerne im Munde,
um in der Paxis das Gegenteil zu tun, meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen von CDU/CSU und
FDP!
Aber das sind wir ja gewohnt von dieser Koalition
und Regierung - sie versucht, sich in den meisten
Themen darin zu überbieten, dass sie nichts tut. Aus der
so hoch gepriesenen Stiftung Datenschutz wurde nichts
und das mit großem Tamtam angekündigte Rote-LinieGesetz wurde nie vorgelegt, weil die Wirtschaftslobby
Sie zurückgepfiffen hat. Auch der Beschäftigtendatenschutz hängt im schwarz-gelben Strudel der Klientelbefriedigung.
Dafür wollen Sie mit Ihrem Antrag den Schutz der
Beschäftigten über die EU-Verordnung aushebeln. Sie
wollen, dass auch in dem vom Ungleichgewicht geprägten Beschäftigtenverhältnis durch Einwilligung oder
Betriebsvereinbarung das Schutzniveau unterschritten
werden kann.
Neben den arbeitnehmerfeindlichen Forderungen
wollen Sie dann auch in weiteren Punkten die Wirtschaft
- diesmal zulasten der Verbraucher - glücklich machen.
Da kommt dann nämlich wieder die übliche Leier von:
Die Wirtschaft soll nicht mit angeblich zu viel Bürokratie belastet werden; strengere Regeln würden Innovationspotenzial hemmen; die Wirtschaft kann sich viel
besser selbst regulieren.
Wie gut das funktioniert, haben wir ja bei dem
Geodatenkodex gesehen. Ein Jahr nach dem mit großem
Medienrummel vorgelegten Kodex ist nicht viel passiert.
Bis auf ein verspätet fertiggestelltes Informationsportal
kann man nicht viel erkennen von der angepriesenen
Selbstregulierung. Das, was von Ihnen und Wirtschaftsverbänden immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt
wird: „Wir wollen einen praktikablen Datenschutz auf
hohem Niveau“ ist doch Orwell´scher „Neusprech“!
Das erinnert mich an den Frankfurter Flughafen, wo
Luftverkehrswirtschaft und CDU das Nachtflugverbot
durch ein „praktikables Nachtflugverbot“ ersetzen wollten, bei dem weiter 17-mal in der Nacht geflogen wurde.
„Praktikables Nachtflugverbot“ hieß also: kein Nachtflugverbot und Beschränkungen nur, insoweit die Profitinteressen der Wirtschaft nicht gestört werden. Und genauso bedeutet doch Ihr „praktikabler Datenschutz auf
hohem Niveau“ nichts anderes als weniger Datenschutz!
Zu Protokoll gegebene Reden
Nein, dieser Minister braucht keinen Antrag, der ihn
dazu auffordert, die Datenschutzbestrebungen in Europa
zu be- und verhindern: Das schafft er schon alleine. Er
braucht die klare Aufforderung des Parlamentes, sich
für „tatsächlichen Datenschutz auf hohem Niveau“ in
Europa einzusetzen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb einen eigenen Antrag eingebracht ({0}), der bereits an den Ausschuss überwiesen wird.
In ihm geben wir der Bundesregierung klare Vorgaben
in Richtung Sicherung und Erhöhung des Datenschutzes
in Europa. Die durch das Bundesverfassungsgericht geschaffenen Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung sowie auf Gewährleistung der Vertraulichkeit
und Integrität informationstechnischer Systeme dürfen
nicht ausgehöhlt und verwässert werden. Wir begrüßen
deshalb in unserem Antrag die positiven Ansätze, die der
Entwurf der Kommission in dieser Richtung zeigt. Wir
begrüßen ausdrücklich, dass die Kommission den Anwendungsbereich auch hinsichtlich der Unternehmen
festlegt, die ihren Sitz nicht innerhalb der Europäischen
Union haben, aber in der EU Waren oder Dienstleistungen anbieten bzw. Verhaltensbeobachtungen durchführen.
Diese Festlegung auf das Territorialprinzip erleichtert auch den Kontroll- bzw. Aufsichtsbehörden die Arbeit. Oft konnte Datenschutzverstößen nur deshalb nicht
nachgegangen werden, weil die Unternehmen keinen
Sitz innerhalb des jeweiligen Mitgliedstaates bzw. innerhalb der EU hatten.
Wir fordern aber eine weitere Überarbeitung des Anwendungsbereichs der Verordnung. So kann es nicht
sein, dass die Union sich selbst aus dem Anwendungsbereich herausnimmt, wo sie doch selbst eine sehr große
Datenverarbeiterin ist.
Wir wollen auch, dass ausdrücklich aufgenommen
wird, dass soziale Netzwerke und Suchmaschinen, die
ihre Einnahmen ja hauptsächlich aus Werbung erhalten
und personenbezogene Daten sammeln, um diese kommerziell zu nutzen, ausdrücklich auch der Verordnung
unterliegen. Gemeint sind hier natürlich Facebook und
Co.
Wir begrüßen weiter, dass die Einwilligung grundsätzlich zur Voraussetzung für die Datenverarbeitung
gemacht wird. Allerdings bedarf es dabei noch weiterer
Ergänzungen bzw. weiterer Konkretisierungen. Die Einwilligung im Beschäftigungs- bzw. Beschäftigungsanbahnungsverhältnis kann keine Rechtsgrundlage für die
Verarbeitung personenbezogener Daten sein, weil der
Arbeitnehmer grundsätzlich in einem unlösbaren
Abhängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber steht. Es lässt
sich eben nie ausschließen, dass die Einwilligung nur
gegeben wird, weil der Arbeitnehmer Angst hat, sein
Arbeitsverhältnis zu belasten bzw. zu verlieren.
Darüber hinaus müssen die Rechtsfolgen bei Verstößen gegen diese Regelung eindeutig in der Verordnung
geregelt sein.
Wir fordern darüber hinaus, dass der besondere
Schutz von Kindern und Jugendlichen im Bereich der
Datenverarbeitung stärker hervorgehoben wird. In eine
Verordnung, die auch die Verarbeitung von Daten gerade dieser besonders schützenswerten Gruppe regeln
soll, gehören auch gesonderte Regelungen, die dem
besonderen Gefährdungspotenzial für diese Gruppe
Rechnung tragen.
Besonders wichtig ist es uns, dass eine Weitergabe
oder Übermittlung an Drittstaaten oder internationale
Organisationen nur dann zulässig sein darf, wenn ein
ausreichendes Schutzniveau gewährleistet ist. Was nützen uns denn die schönsten, ausgefeiltesten Datenschutzregeln, wenn wir sie dann über die Grenze schaffen und dort jeder damit tun und lassen kann, was er
will? Gerade in diesem Abschnitt muss die Verordnung
noch erheblich nachgebessert werden.
Auch im Bereich der Geltendmachung von Rechten
sowie im Bereich des Rechtsschutzes sehen wir Ergänzungsbedarf.
Wir fordern weiter, dass die Unabhängigkeit der
nationalen und europäischen Datenschutzbehörden gewährleistet wird - wie dies auch das Urteil des EuGH
von 2010 fordert. Es muss eine klare Trennung gegenüber den Exekutivorganen der Union geben.
Wir fordern darüber hinaus Regelungen, die es ermöglichen, bei besonders bereichsspezifischen und besonders schützenswerten Daten von den Festsetzungen
der Verordnung nach oben hin abzuweichen.
Wir fordern klare Regelungen, die ein Profiling nur
mit eindeutiger Zustimmung zulassen, und wir sehen
eindeutige Vorgaben zur durchgehenden Umsetzung des
Prinzips „privacy by default“ als zwingend.
Wenig Verständnis haben wir dafür, dass die Sanktionen geringer ausfallen sollen als im europäischen Wettbewerbsrecht.
Und wir fordern die Angleichung der Schwelle zur
Bestellung eines betrieblichen Datenschutzbeauftragten
an die der deutschen Regelungen, die sich bewährt haben.
Die Vorlage des europäischen Verordnungsvorschlages ist eine einmalige Chance, den Schutz der Bürger im
digitalen Zeitalter, den Schutz der Persönlichkeitsrechte
gegenüber Gewinnmaximierungsinteressen voranzubringen. Wir Sozialdemokraten wollen sie nutzen und
nicht kaputtmachen.
Die EU hat sich ein großes Ziel gesetzt: ein moderner und europaweit verlässlicher Datenschutz. Für
über 500 Millionen Menschen in 27 Staaten und knapp
20 Millionen Unternehmen sollen künftig ein und dieselben Regelungen für den Umgang mit personenbezogenen Daten gelten, egal, ob die Daten im eigenen Land
oder beispielsweise im E-Commerce über Staatengrenzen hinweg verarbeitet werden.
Dabei macht die rasante technische Entwicklung der
vergangenen Jahrzehnte eine Modernisierung des Datenschutzes erforderlich. Der Datenschutz steht vor
Zu Protokoll gegebene Reden
neuen Herausforderungen, weil die digitale Datenverarbeitung neben neuen Chancen auch neue Risiken mit
sich bringt. Die falsche Herangehensweise wäre, die Digitalisierung und das Internet als Büchse der Pandora
zu betrachten und zu versuchen, deren Deckel wieder zu
schließen. Nicht nur war das schon bei Pandora ein
hoffnungsloses Unterfangen und wäre es erst recht in
Bezug auf Internet und neue Medien, die schon längst
zum Alltag gehören und daraus auch nicht wegzudenken
oder zu verdrängen sind, sondern es wäre auch ein gedanklich falscher Ansatz. Der richtige Ansatz ist, ein
Datenschutzrecht zu schaffen, das den mündigen Bürger
als Herrn über seine Daten begreift und auch so behandelt.
Der Ausgangspunkt muss daher sein, dass alle personenbezogenen Daten privat, das heißt in der freien Verfügungsgewalt des Betroffenen, sein müssen - und es für
ihre Verarbeitung stets besonderer Voraussetzungen bedarf. „Datenautonomie“ ist das Prinzip unseres Datenschutzverständnisses. Datenautonomie bedeutet, dass
jeder für sich entscheiden kann, ob oder ob nicht er
seine Daten zur Verfügung stellt. Damit es eine wirklich
autonome Entscheidung ist, bedarf es des mündigen Entscheiders, der seine Entscheidung auf ausreichende Information stützt. Datenautonomie heißt aber gerade
nicht, die Entscheidung nur dann zuzulassen, wenn es
um die Zurückhaltung von Daten geht, sondern auch,
wenn es um die Preisgabe von Daten geht. Datenschutz
darf man nicht als Schutz des Menschen vor sich selbst
missverstehen. Das wäre eben gerade keine selbstbestimmte, mündige Entscheidung. Das wäre Datentotalitarismus.
Es muss also darum gehen, einen Rahmen zu setzen,
in dem nicht die Verarbeitung personenbezogener Daten
verboten oder bis an den Rande eines Verbots eingeschränkt wird, sondern in dem die Eigenverantwortung
des Einzelnen das tragende Element ist. Dazu bedarf es
klarer Vorgaben, wer die Daten des Einzelnen haben
darf, nutzen darf und vor allem, unter welchen Voraussetzungen das geschehen darf. Von dieser Überzeugung
lassen wir uns leiten in unserer Stellungnahme nach
Art. 23 Grundgesetz, mit der wir der Bundesregierung
die Marschrichtung vorgeben, wie sie für Deutschland,
für die Menschen in unserem Land, in Brüssel votieren
soll.
Darin unterscheidet sich unsere Stellungnahme auch
ganz wesentlich von derjenigen, die die Sozialdemokraten hier letzte Woche vorgelegt haben: Wir trauen den
Menschen zu, dass sie selbst entscheiden können. Wir
vertrauen der Klugheit und dem Selbstbewusstsein der
Menschen, wenn es darum geht, ob sie ihrem Arbeitgeber durch Einwilligung erlauben, Daten zu erheben für
die freiwillige betriebliche Altersvorsorge oder den
Platz im Betriebskindergarten. Die Sozialdemokraten
hingegen wollen das verbieten. Sie meinen, dass der Gesetzgeber den Menschen die Entscheidung abnehmen
und den Arbeitgebern eine gesetzliche Ermächtigung
geben sollte, aber natürlich nur für die Fälle, die die Sozialdemokraten für gut halten. Aber wenn dann ein Angebot kommt, was zwar ohne Zweifel für den Arbeitnehmer vorteilhaft wäre, aber der SPD heute nicht eingefallen ist oder nicht bekannt war, weil es in der rasanten
technischen Entwicklung erst entsteht, dann ist es halt
verboten. Das ist Politik nach Gutsherrenart - und lässt
jeden Respekt für den mündigen Bürger vermissen.
Wir wollen zudem, dass neben Einwilligung und gesetzlicher Ermächtigung auch Betriebsvereinbarungen
und Tarifverträge in der EU-Verordnung als Rechtfertigungsgrundlagen für Datenerhebungen einbezogen werden. Schleierhaft bleibt mir an dieser Stelle die Verweigerungshaltung der Gewerkschaften selbst, denn in
beiden Fällen sitzen sie doch regelmäßig mit am Tisch
und stimmen den Vereinbarungen zu.
Nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern trauen wir
zu, selbst zu entscheiden. Wir setzen auch auf Selbstregulierung in der Wirtschaft. Datenschutz ist in der Informationsgesellschaft ein Wettbewerbsmerkmal - und guter Datenschutz ein Wettbewerbsvorteil. Alle Unternehmen, die von Datenschutzskandalen betroffen waren,
haben das erlebt: Kundenvertrauen basiert auch darauf,
dass mit den Kundendaten sorgsam umgegangen wird.
Deshalb ist es falsch, funktionierende Selbstregulierung
durch staatliche Allzuständigkeit zu ersetzen. Dazu gehört einmal der Punkt, dass der Erhalt unseres bewährten Systems der betrieblichen Datenschutzbeauftragten
unbedingt erforderlich ist. Die Vorschläge der Kommission würden durch den viel zu hohen Schwellenwert von
250 Mitarbeitern den betrieblichen Datenschutz völlig
aushöhlen. Dazu gehört aber auch, dass Instrumente des
Selbst- und Systemdatenschutzes, etwa ein Datenschutzgütesiegel, in das neue Recht Eingang finden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Volkszählungsentscheidung, in der Geburtsstunde unseres
Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, gesagt, dass es kein belangloses Datum mehr geben könne.
Das gilt in der Informationsgesellschaft umso mehr. In
einer Zeit, in der alles mit allem verknüpft werden kann,
in der schon ein einfaches Handy mit früher nicht vorstellbaren Rechenkapazitäten ausgestattet ist, kann ein
Datum durch die Verknüpfung auf einmal viel mehr aussagen, als es allein und nur für sich ausgesagt hätte.
Denkt man hier konsequent weiter, kommt man
schnell zu dem Ergebnis, dass eigentlich alle Daten, von
Atlanten bis Zuschauerquoten, mit anderen Daten verknüpft und letztendlich auch mit einer Person in Verbindung gebracht werden könnten. Dass darin Gefahren für
die Persönlichkeitsrechte liegen, wird niemand ernsthaft
bestreiten wollen. Dass aber umgekehrt auch nicht jedem, der Faltstraßenkarten erstellt, zugerechnet werden
kann, dass womöglich seine Karte mit anderen Daten
zusammengewürfelt werden, liegt auch auf der Hand.
Hier einen fairen Ausgleich zu finden, der berücksichtigt, wie Daten verwendet werden können, aber zugleich
berücksichtigt, wie weit jeder, der Daten, die zunächst
für sich allein stehen, verarbeitet, verantwortlich gemacht werden kann für das, was womöglich ein Dritter
damit machen könnte, ist wohl die härteste Herausforderung für ein modernes Datenschutzrecht. Herr Dix, der
Berliner Landesdatenschutzbeauftragte, sagte letztens
bei dem vom Bundesinnenministerium veranstalteten
Kongress zum geplanten EU-Datenschutzrecht, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
man über eine Differenzierung durchaus nachdenken
könne, solange das nicht dazu führe, dass durch
schlichte Festlegung Teile der personenbezogenen Daten schlichtweg vom Schutz ausgenommen würden.
Dem folgend setzen wir uns dafür ein, dahin gehend
zu differenzieren, wie streng das Schutzniveau im Einzelnen ist, und zwar danach, welches Gefährdungspotential
in einer Datenverarbeitung liegt. Eine Datenverarbeitung, beispielsweise für die Rechnungserstellung des
Klempners, birgt deutlich weniger Gefahren für die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen als eine Datenverarbeitung durch eine Freunde-Finde-App auf dem Smartphone. Dass hier also an den Klempner als Datenverarbeiter andere Anforderungen zu stellen sind als an
den Hersteller einer App, die in Echtzeit Standortdaten
übermittelt, liegt für uns auf der Hand.
Ganz anders denken hier aber wieder die Sozialdemokraten. In deren Antrag wollen sie die Bundesregierung verpflichten, sich in Brüssel dafür einzusetzen,
dass zum Beispiel jegliche Datenübertragung personenbezogener Daten auf elektronischem Wege nach dem
Stand der Technik gesichert sein müsse. Jede Datenübertragung - das ist dann auch das Einstellen eines
Photos auf Flickr durch den Betroffenen selbst. Jede Datenübertragung - das ist jede personalisierte E-Mail.
Das ist also ganz offensichtlich völlig an der Sache vorbei. Mit solchen Vorschlägen schüttet man das Kind mit
dem Bade aus und bringt den einfachen, schnellen und
unkomplizierten Datenaustausch zum Erliegen. Ganz offensichtlich ist es zwingend, dass die elektronische
Übermittlung von Datensätzen, beispielsweise von Mitarbeiterdaten oder Versicherungsdaten oder auch Behördendatensätzen, so gesichert sein muss, dass der unberechtigte Zugriff Dritter ausgeschlossen ist. Aber für
den Abruf von Daten, die im Telefonbuch mit Einwilligung des Betroffenen veröffentlicht sind, eine gesicherte
Übertragung vorzuschreiben, ist ebenso offensichtlicher
Unsinn.
Damit wird aber ein Kernproblem offenbar, das die
Datenschutzregulierung im Informationszeitalter mit
sich bringt: Wir brauchen Regelungen, die anwendbar
und praktikabel sind für ganz unterschiedliche Sachverhalte. Es geht nicht an, dass - aus ja durchaus auch berechtigten Gründen - schweres Geschütz aufgefahren
wird, um manch einem US-amerikanischen Internetdatenkraken die Grenze aufzuzeigen, aber dann auch die
Spatzen mit Kanonen beschossen werden. Ein Recht, das
dieser Prämisse folgt, kann nur ungenaue Streutreffer
verursachen und damit zu Kollateralschäden führen, die
niemand wollen kann. Deshalb haben wir in unserer
Stellungnahme Wert darauf gelegt, dass die Bundesregierung ihr besonderes Augenmerk darauf richtet, dass
hier nicht im Versuch, Facebook, Google und Co. zu
treffen, ein Lex Internet geschaffen wird, das dann aber
den Handwerksbetrieb um die Ecke trifft.
Einige Punkte, die wir in unserer Stellungnahme einfordern, sind auch schon von vielen anderen kritisiert
worden - und wir haben hier nicht einfach die Stellungnahme der Gewerkschaften übernommen und schließen
uns dieser an. Ebenso wenig übernehmen wir die Stellungnahme von Arbeitgebern oder Wirtschaftsverbänden einfach eins zu eins, auch das unterscheidet uns von
den Sozialdemokraten. Datenschutz macht eben auch
Mühe, Herr Reichenbach!
Zu den Punkten, auf die ich hier auch nicht in aller
Breite eingehen will, weil sie schon von vielen anderen
zu Recht vorgetragen wurden, gehören: differenzierte
Regelungen für den öffentlichen und den nichtöffentlichen Bereich, weil man das Standesamt nicht gleichbehandeln kann mit Facebook; klare, unmissverständliche
und praktikable Vorgaben zum Schutz von besonders
sensiblen Daten, insbesondere Gesundheits- oder Sozialdaten; die Eindämmung der unerträglich vielen delegierten Rechtsakte, die sich derzeit mitnichten am Wesentlichkeitsprinzip orientieren, das in Art. 290 AEUV
verankert ist; die Wahrung der Unabhängigkeit der
Datenschutzaufsichtsbehörden, die nach dem von der
Kommission vorgeschlagenen Verfahren am Ende ihre
Unabhängigkeit eben gerade bei der Kommission abgeben und sich deren Diktat unterwerfen müssen; Profilbildung nur mit Einwilligung, um den besonderen Gefahren einer umfassenden Verknüpfung zahlreicher
Einzeldaten ein starkes Recht des Betroffenen entgegenzu-stellen; effektive Rechtschutzmöglichkeiten für
die Bürgerinnen und Bürger, die sich trotz gebündelter
Zuständigkeit der Datenschutzaufsicht am Sitzland des
Unternehmens an „ihren“ nationalen bzw. lokal zuständigen Datenschutzbeauftragten wenden können müssen;
die Einbeziehung der EU-Institutionen in die Verordnung, weil es nicht sein kann, dass sich in der EU alle
daran halten müssen, außer die EU selbst.
Die EU-Datenschutz-Verordnung wird unser Bundesdatenschutzgesetz ablösen; sicher nicht ganz so schnell,
wie sich die Kommission das wünscht. Aber ich habe
keinen Zweifel, dass die Verordnung kommen wird - und
auch kommen soll. Dem muss aber eine breite und vor
allem gründliche Diskussion vorangehen, denn vieles,
was von der Kommission vorgeschlagen wurde, muss
doch noch deutlich verändert und verbessert werden.
Es ist gut, dass sich der Bundestag an dieser Debatte
beteiligt - und von seinen Rechten nach Art. 23 Grundgesetz Gebrauch macht, um der Bundesregierung eine
klare und bindende Weisung mit auf den Weg zu geben.
Von den eingangs erwähnten über 500 Millionen Menschen vertritt der Bundestag 80 Millionen, die natürlich
von einer Verordnung der EU unmittelbar betroffen sind
und für die wir uns für einen modernen, effektiven und
zukunftsfähigen Datenschutz einsetzen.
An einer Europäisierung des Datenschutzniveaus
geht kein Weg vorbei. Es gibt heute praktisch keinen Bereich moderner Informations- und Kommunikationstechnik mehr, der sich nicht nationaler Regelung und
Kontrolle entzieht. Die vorgelegten Vorschläge der Europäischen Kommission zu einer Reform des europäischen Datenschutzrechts gehören deshalb zu Recht zu
den derzeit am intensivsten diskutierten Gesetzgebungsvorschlägen sowohl auf der europäischen als auch auf
der mitgliedstaatlichen Ebene.
Zu Protokoll gegebene Reden
Angesichts von Umfang und Komplexität der Vorschläge ist es aus meiner Sicht eigentlich kaum möglich,
eine zusammenfassende Bewertung abzugeben. Festzustellen ist, dass die Kommission eine Vielzahl begrüßenswerter Einzelvorschläge vorgelegt hat, die durchaus Unterstützung verdienen. Dies ändert aber nichts an
der Tatsache, dass sowohl in wesentlichen Grundfragen
als auch in speziellen Bereichen zum Teil deutlicher Verbesserungsbedarf besteht.
Angesichts des noch laufenden Diskussionsprozesses
ist es schon etwas erstaunlich, welchen Wettlauf an Stellungnahmen die Datenschutz-Grundverordnung, DSGVO, vor allem aber die Sachverständigenanhörung des
Innenausschusses initiiert hat. Schon sehr früh legten
die Grünen eine allgemeine Erklärung in Antragsform
zur europäischen Datenschutzreform vor, die ja dann
auch Gegenstand der Sachverständigenanhörung war.
Unmittelbar nach der Anhörung und einigen Anregungen aus der Anhörung folgend, legte die SPD eine Stellungnahme zur Grundverordnung vor, und schließlich
wurde die heute als „zu Protokoll“ eingereichte „Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Art. 23
Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz“ der Koalitionsfraktionen
aufgelegt.
Die heute vorliegende Stellungnahme der Koalitionsfraktionen ist denn auch eine - nicht einmal mit besonderem Engagement vorgetragene - Pflichtübung. Einerseits. Andererseits ist sie aber auch der Versuch, die in
der öffentlichen Debatte geäußerten Vorbehalte - Stichwort Absenkung deutscher Standards, Umgehung des
Bundesverfassungsgerichts - aufzugreifen und mit einem Bekenntnis zu wirtschaftsliberalen Lockerungsvorschlägen gegen die Harmonisierungsvorgaben im Unternehmensbereich zu verbinden. Bemüht werden dabei
die üblichen Schlüsselwörter: Bürokratieabbau, Wettbewerbsfähigkeit, Betriebsvereinbarungen statt gesetzlicher Regelungen, Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen,
Gleichbehandlung von Verbraucherinteressen und wirtschaftlichen Interessen usw. usf.
Und so hat in dieser Stellungnahme jeder Absatz, geradezu klassisch, quasi sein eigenes Ober- und Unterhaus. Oder um es anders zu sagen: In der Stellungnahme
soll offenbar das schöne Wort den praktischen Pferdefuß
vergessen lassen. Und, auch das muss ich feststellen, es
ist natürlich auch einer der Formelkompromisse, zu denen eine Koalition im Zustand des Dauerzoffs gerade
noch fähig ist.
Um Ihnen das einmal an einem Beispiel zu veranschaulichen: In Punkt 23 wird zu Recht die „Berücksichtigung des Scorings in der Datenschutz-Grundverordnung“ und die Achtung der Rechte „der
Verbraucherinnen und Verbraucher an Information,
Nachvollziehbarkeit und dem Schutz vor unangemessener Benachteiligung“ gefordert. So weit, so wohlklingend. Aber dann folgt die Forderung, „auch dem wirtschaftlichen Interesse an diesem Verfahren“ Rechnung
zu tragen. Genau mit diesen schönfärberischen Formulierungen wurden im deutschen Recht rechtliche Legitimierung und reale Praxis des Scorings nicht nur nicht
deutlich begrenzt, sondern stramm den technischen
Möglichkeiten und den Forderungen der diversen Lobbys folgend erweitert.
Auf diese und viele andere Punkte wie zum Beispiel
Verbandsklagerechte, betrieblicher Datenschutz und Beschäftigtendatenschutz, Status bzw. Ausstattung der Aufsichtsbehörden trifft zu, was der Sachverständige
Neumann in der Anhörung als Problem des öffentlichen
und parlamentarischen Umgangs mit der Datenschutzgrundverordnung benannt hat:
„Die berechtigte einhellige Forderung nach einem
Erhalt der durch deutsche Gesetzgebung und deutsche
Verfassungsrechtsprechung erreichten rechtlichen Standards - in vielen Fällen gegen Versuche des Gesetzgebers durchgesetzt, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einzuschränken - darf nicht die vielfältig
prognostizierten Mängel an der deutschen Datenschutzpraxis und deren Modernisierungsbedarf unterschlagen.
… Daneben gibt es aber bereits nach heutigem Stand der
europäischen Datenschutzrichtlinie eine Reihe weiterer
Umsetzungsdefizite, von den nicht umgesetzten Richtlinien mit datenschutzrechtlichem Bezug - zum Beispiel
die sogenannten Cookierichtlinie - ganz zu schweigen.
Auch in Deutschland sind weiterhin erhebliche Umsetzungsdefizite zu beklagen: sowohl in der Praxis der
nichtöffentlichen Stellen im Umgang mit personenbezogenen Daten als auch im öffentlichen Bereich. Diese Defizite werfen berechtigte Fragen nach der Effektivität
der Datenschutzaufsicht, aber auch nach der Geeignetheit materiell-rechtlicher Vorgaben auf. Die Konferenz
der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder hat sich vor diesem Hintergrund im Jahr 2010 mit
einer bisher unbeantwortet gebliebenen Initiative zur
umfassenden Modernisierung des deutschen Datenschutzrechts gemeldet und eine Fülle konkreter Vorschläge unterbreitet. Bedauerlicherweise fehlte es bisher am politischen Willen, sich ernsthaft mit den
Herausforderungen zu befassen.“
Die von der Koalition vorgelegte Stellungnahme enthält zweifellos auch ein paar wichtige und richtige Forderungen an die zukünftigen Verhandlungen, darunter
einige konkretere, wie zum Beispiel die Möglichkeiten,
nationale, weitergehende Standards, vor allem auch bereichsspezifischer Art, beibehalten zu können, aber auch
allgemeine wie die Beschränkung der Ermächtigungen
für die Kommission zum Erlass delegierter Rechtsakte.
Das ist erst einmal zu begrüßen. Es ist mir allerdings ein
kleines Rätsel, wieso sie dieses wichtige Thema heute
mit dieser Stellungnahme und ohne die nötige parlamentarische und gesellschaftliche Debatte abhandelt. Ihre
Gründe hierfür interessieren mich sehr, und ich hoffe,
sie sorgt hier schnellstmöglich für Aufklärung. Denn
eine solch widersprüchliche und allgemeine Stellungnahme als Meinungsäußerung des Parlaments würde an
den bisherigen Verhandlungspositionen der Bundesregierung nicht nur nichts ändern, sondern ihr weiterhin
einen ziemlich großzügigen Spielraum zugestehen. Den
hat die Bundesregierung aber bisher auf europäischer
Ebene nur äußerst selten im Interesse des Datenschutzes, des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des Schutzes der Rechte von Verbraucherinnen und Verbraucher genutzt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Daran muss sich endlich grundlegend etwas ändern.
Meine Fraktion sagt deshalb Ja zu einer überfälligen
Europäisierung des Datenschutzniveaus. Dies muss
aber auf dem höchsten Niveau erfolgen und nirgendwo
zu einem Abbau von Datenschutzrechten führen.
Meine Fraktion und ich haben das heutige Thema be-
reits vor einigen Monaten hier erstmals ins Plenum ge-
tragen, weil wir in Sorge waren, dass von dieser Koali-
tion dazu gar nichts mehr kommt.
Ich habe es damals gesagt, und ich tue es jetzt hier
gerne wieder und appelliere erneut an die Koalition, all
die Kritik, das Verharren und Zögern endlich in kon-
struktive Energien umzuwandeln. Denn wir brauchen
die EU-Datenschutzreform. Wir brauchen die EU-
Datenschutzreform, weil wir ansonsten im zunehmend
globalisierten Datenverkehr, in Zeiten, in denen zwei
Drittel aller Bürgerinnen und Bürger online sind und
heute beinahe 25 Millionen Deutsche ein Profil bei ei-
nem sogenannten sozialen Netzwerk haben, mit unseren
bestehenden nationalen Regelungen schlicht unterge-
hen. Wir werden von den internationalen Playern auf
dem heißumkämpften Markt um immer mehr Daten der
Bürgerinnen und Bürger schlicht nicht Ernst genommen,
wenn wir nicht einheitlich als Wirtschaftsraum auch un-
sere Werte- und Grundrechtsordnung klar und deutlich
ausformulieren. Für uns bedeutet Datenschutz Grund-
rechtsschutz, und das gilt auch und mehr denn je für die
Privatwirtschaft, wo staatliche Schutzpflichten den Ge-
setzgeber anhalten, gravierende Machtungleichge-
wichte zwischen den Vertragsparteien auszugleichen.
Wir unterstützen deshalb die Europäische Kommis-
sion darin, die ohne Zweifel beachtliche, auch ganz kon-
kret fachliche Herausforderung zu stemmen, einen trag-
fähigen und in die Zukunft weisenden, den Bürgerinnen
und Bürgern tatsächliche Mehrwerte bietenden Entwurf
zu erarbeiten und freuen uns sehr, dass einer der Be-
richterstatter für dieses Vorhaben, welches der Präsi-
dent des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, vor
kurzem während einer interparlamentarischen Anhö-
rung in Brüssel eines der wichtigsten Vorhaben für das
Europäische Parlament bis zum Ende der Legislatur ge-
nannt hat, mein geschätzter Kollege Jan Philipp
Albrecht ist.
Auch wir verhehlen nicht, dass der gegenwärtige Ent-
wurfsstand noch viele wichtige Fragen offenlässt und
weisen auf diesen Umstand bei jeder Gelegenheit hin,
auch hier im Plenum. Die bestehenden Mängel des bis-
herigen Entwurfs haben wir in unseren Anträgen klar
formuliert. Auch wir wollen durch die Reform keine Ab-
senkung des allgemeinen und vergleichsweise hohen
Schutzstandards, sehen aber auch die zahlreichen Lü-
cken und bestehenden Probleme des bundesdeutschen
Datenschutzrechts, bis hin zu den gravierenden Voll-
zugsdefiziten in der Kontrolle der Wirtschaft, die vor al-
lem den viel zu knappen Ressourcen der Aufsicht ge-
schuldet sind.
Umso wichtiger erscheint es uns deshalb, dass ge-
rade unser Land in der weiteren Diskussion um die Aus-
gestaltung eines europäischen Datenschutzrahmens eine
konstruktive Rolle einnimmt und mit konkreten Verbes-
serungsvorschlägen zumindest versucht, die führende
innovative Rolle, die wir in Fragen des Datenschutzes
einmal innehatten, wieder ein Stück weit zurückzugewin-
nen.
Dass wir aber so weit in der derzeitigen Diskussion
zurückgefallen sind, verdanken wir leider dem beharrli-
chen Unterlassen der schwarz-gelben Koalition und der
politischen Bankrotterklärung, in diesem für die Bürge-
rinnen und Bürger so wichtigen Feld wirken und für
hohe Daten- und Verbraucherschutzstandards sorgen zu
wollen. An Aufforderungen und Erinnerungen, zu han-
deln, mangelte es freilich nicht.
Die Debatte um die Reform des Datenschutzes auf
EU-Ebene wurde nicht erst am 25. Januar 2012 eröffnet,
als Frau Reding ihren Entwurf einer Datenschutz-
Grundverordnung vorstellte. Die Debatte war bereits
2009 voll entbrannt, als annähernd 200 Institutionen
und Personen auf Aufforderung der EU-Kommission in
einer Public Consultation ihre Änderungswünsche zur
EG-Datenschutzrichtline 95/46 unterbreitet haben. Da-
runter war auch die Bundesregierung mit einer äußerst
knapp gehaltenen Stellungnahme, aus der ich gerne zi-
tiere: „Die Bundesregierung ist bereit, an dieser wichti-
gen Aufgabe konstruktiv mitzuwirken“.
Doch erst heute, nach drei Jahren intensivster Dis-
kussionen auf nationaler wie auch europäischer Ebene,
erhalten wir hier allenfalls Andeutungen, wohin die
Reise nach Ansicht der Bundesregierung gehen soll. In
der Zwischenzeit haben andere die Arbeit gemacht. An-
dere haben die Richtungen vorgezeichnet - leider nicht
immer in unserem Interesse. Wenn Sie jetzt, Herr Minis-
ter Friedrich, hier und heute betonen, sie wünschten
sich „eine breite und sorgfältige Debatte“ und es be-
stehe „erheblicher Erörterungsbedarf auch in grund-
sätzlicher Hinsicht“, dann ist das vor diesem Hinter-
grund einfach nicht nachvollziehbar. Eine solche „breite
Debatte“ läuft seit Jahren, bisher ist sie allerdings
schlicht an Ihnen vorbeigegangen.
Sie haben sich, Herr Minister, zunächst entschieden,
die ganze Sache in Brüssel mehr oder weniger laufen zu
lassen. Sie haben dabei die ständig wachsende Bedeu-
tung der Thematik sowie die politische Dynamik insge-
samt völlig unterschätzt. Ideologische Scheuklappen
machen eben immer auch ein Stück weit blind. Denn
auch wenn ich nicht glaube, dass alle in der Union so
denken, so ist zu befürchten, dass, durch die Brille der
inneren Sicherheit Ihrer Partei besehen, Datenschutz oft
immer noch auf Täterschutz und, durch die Wirtschafts-
brille besehen, häufig auf Bürokratie reduziert wird.
So haben Sie bloß zugeschaut, als eine äußerst ent-
schlossen auftretende Kommissarin Reding 2010 das
Thema mit einer sehr weitgehenden Reformankündi-
gung aufgriff. Seit aber die konkreten Vorschläge auf
dem Tisch liegen, hintertreiben Sie die Reform, wo es
nur geht. Von Ihren ersten grundsätzlich ablehnenden
Stellungnahmen bis zu Ihrem auf Verzögerung angeleg-
Zu Protokoll gegebene Reden
ten, wenig konstruktiven Verhalten in den EU-Ratsver-
handlungen wird deutlich, dass Sie diese Reform eigent-
lich nicht wollen. Diesen Eindruck hinterließ auch die
vom BMI kürzlich in größter Eile einberufene Daten-
schutzkonferenz, mit der eine breitere Zustimmung für
die gröbsten Schlagworte der Bundesregierung zur De-
batte gefunden werden sollte. Sie kam deutliche zwei
Jahre zu spät. Sie erinnerte mit ihren an Grundsatzfra-
gen ausgerichteten, selbstquälerischen, ja geradezu
faustischen Debatten um das Thema „Datenschutz oder
nicht“ deshalb an absurdes Theater, weil in Brüssel und
in vielen europäischen Großstädten derweil ganz kon-
krete Fragen der Weiterentwicklung des Datenschutzes
auf der Agenda stehen, es also um den Ausbau und die
Effektivierung und nicht um den Abbau des Datenschut-
zes geht.
Ebenfalls unangenehm aufgefallen ist, meine Damen
und Herren von der Koalition - daran muss ich Sie in
diesem Zusammenhang leider erinnern -, wie Sie in un-
kollegialer Weise versucht haben, die Anhörung des In-
nenausschusses zur Datenschutzreform durch Ihre Sach-
verständigen zu torpedieren und die Fragerechte der
Oppositionsfraktionen durch Zeitablauf zu beschränken
bzw. leerlaufen zu lassen.
Ich will noch auf die mantraartig vorgetragenen,
aber zu keinem Zeitpunkt konzeptionell untermauerten
drei Thesen des Bundesinnenministers in Sachen Reform
eingehen.
Wenn wir den Datenschutz des öffentlichen Bereichs
aus der Grundverordnung wieder herausnehmen, dann
fallen wir hinter den Stand der Richtlinie von 1995 zu-
rück. Denn auch diese erstreckt sich bereits auf den öf-
fentlichen Bereich, und sie gilt nach der Rechtsprechung
in einer Reihe von Punkten bereits als vollharmonisie-
rend. Natürlich bedeutet der Schritt zur Rechtsform der
Verordnung auch insoweit eine bedeutende Verände-
rung, aber dann lassen Sie uns doch konkret über die-
jenigen Gebiete, etwa den Sozialdatenschutz, das
Meldewesen oder vielleicht sogar Teile des Medizinda-
tenschutzes, reden, bei denen wir uns konkret wünschen,
dass unsere Standards auch auf europäischer Ebene
Eingang finden.
Die Verordnung lässt dafür durchaus Spielräume of-
fen, und die grundlegende Gesprächsbereitschaft der
Kommission wurde bereits signalisiert. Bereichsausnah-
men oder Übernahmen unserer Schwellen in das Gerüst
der Verordnung bleiben somit möglich. Man muss dafür
aber wenigstens konkrete Vorschläge vorlegen.
Selbstregulierung bleibt ein Schlagwort, wenn man
nicht über den Status quo redet. Wir haben eine Rege-
lung im Bundesdatenschutzgesetz. Doch die findet in der
Wirtschaft keinen Anklang. Uns liegt bis heute keine ein-
zige Selbstregulierung vor, die den Namen tatsächlich
verdient. Denn Selbstregulierung heißt im grundrechts-
sensiblen Bereich des Datenschutzes eben nicht, dass
mal eben eine Handvoll Unternehmen vage Zusagen ge-
ben und dafür im Gegenzug von der Einhaltung gesetzli-
cher Bestimmungen befreit werden. Hier fehlt es an ei-
nem Konzept, bei dem die bessere Sachkenntnis der
Betroffenen in ihren Unternehmen und Branchen und
die Verantwortung des Gesetzgebers für einen durchge-
hend hohen Schutzstandard zusammengeführt werden.
Ein solches Konzept konnten Sie bis heute noch immer
nicht vorlegen.
Schließlich: Die irreführende These vom Verbotsvor-
behalt dient lediglich dazu, das Bild der hinderlichen
Bürokratie zu evozieren. Der Erlaubnisvorbehalt behält
seine wichtige Funktion der Verteilung der Rechtferti-
gungslast auch für scheinbar unwichtige Informationen
über Personen, weil diese, einmal ihrem Kontext entris-
sen und anderswo verwendet, eben doch erheblichen
Schaden entfalten können. Deshalb ist es gerade Sache
der Verantwortlichen, die Erforderlichkeit der Verarbei-
tung überzeugend zu begründen und nicht umgekehrt
Sache der Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen
zur Einhaltung grundlegender Spielregeln im Umgang
mit ihren Daten anzuhalten.
Auch die These von der Notwendigkeit eines stärker
risikobezogenen Ansatzes verfehlt vor allem die gelebte
Praxis des Datenschutzes, die sich in den Unternehmen
und vermittelt über deren Verbände auf der Grundlage
des sicherlich besonders unschönen § 28 BDSG längst
etabliert hat. In jahrelanger Absprache mit den Auf-
sichtsbehörden bestehen weitgehende Erleichterungen
und Anpassungen für kleine und mittlere Unternehmen
sowie sehr weitgehende Rechtfertigungen der unter-
schiedlichsten Verarbeitungspraktiken in den Unterneh-
men auf der Grundlage des bestehenden Rechts. Die ge-
samte Auslegung des Bundesdatenschutzgesetzes erfolgt
also seit über 20 Jahren höchst pragmatisch und risiko-
bezogen.
Lassen sie mich abschließend noch eins sagen, meine
Damen und Herren der Koalition: Ihr Antrag enthält
- das sage ich an dieser Stelle ausdrücklich - durchaus
einzelne unterstützenswerte Punkte. Aber aus Ihrem
Munde klingen sie, gemessen an Ihrem „Gesamtnicht-
verhalten“ zum Thema Datenschutz, einfach unglaub-
würdig. Der Grundtenor des Antrages atmet eine insge-
samt so rückwärtsgewandte Perspektive im Hinblick auf
den Datenschutz, dass wir ihn nur ablehnen können.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11325 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es sind alle damit
einverstanden. Dann haben wir dies gemeinsam so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a und 38 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 17/11293 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
Vizepräsident Eduard Oswald
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert
Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung re-
duzieren
- Drucksachen 17/8348, 17/9972 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden dieses
Tagesordnungspunktes zu Protokoll zu geben.1) Sind
alle damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich
nicht.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11293 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
haben wir das so gemeinsam beschlossen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9972, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8348
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! Das sind alle drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber frage ich nach Enthaltungen. - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts
- Drucksache 17/11127 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. - Widerspruch erhebt sich
nicht.
Wir befassen uns heute in der ersten Lesung mit einem Entwurf der Bundesregierung zur Modernisierung
des Außenwirtschaftsrechts. Mit der vorliegenden Überarbeitung erfüllen wir eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag vom 26. Oktober 2009.
Das Außenwirtschaftsgesetz genießt weltweit einen
hervorragenden Ruf und wird daher in seinen bewährten
Grundstrukturen, insbesondere im Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit, beibehalten. Dennoch wird es
höchste Zeit für eine Modernisierung. Das Außenwirtschaftsgesetz ist 1962, also vor 50 Jahren, in Kraft getreten. Seither hat sich, wie wir alle wissen, in der außenpolitischen Architektur einiges geändert: Die
Europäische Union hat Zuständigkeiten im Außenhandel übernommen und in ihrem Zuständigkeitsbereich einen gemeinsamen Exportkontrollmechanismus aufgebaut. Auch deshalb sind das Außenwirtschaftsgesetz
({0}) und die Außenwirtschaftsverordnung ({1})
häufig geändert worden.
AWG und AWV gleichen derzeit einem Flickenteppich, sie sind unübersichtlich und wenig nutzerfreundlich. Selbst Juristen und Experten haben teilweise
Schwierigkeiten, sich in diesem Dschungel an Paragrafen noch zurechtzufinden. Das AWG besteht aus 50 Paragrafen. Nach der Novelle sollen es nur noch 28 Bestimmungen sein. Im Interesse der Exporteure, insbesondere der kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die oft nicht über eine eigene
Rechtsabteilung verfügen, müssen die Regelungen gestrafft und auch für Nichtjuristen verständlich formuliert werden. Die Neufassung ist also eine notwendige
Anpassung, und ich gratuliere der Bundesregierung zu
ihrer Entscheidung, das Außenwirtschaftsrecht zu novellieren.
Worum es hier zunächst geht, sind modernere Definitionen für besseres sprachliches Verständnis. Das AWG
wird an die moderne Terminologie angepasst. Es erhält
eine zeitgemäße Sprache und wird in Einklang mit den
europarechtlich etablierten Begriffen gebracht. Da das
nationale und das europäische Recht eng verzahnt sind,
werden so Widersprüche beseitigt. Viele Begrifflichkeiten sind schlicht veraltet. Dies ist nicht verwunderlich,
wenn man sich vor Augen führt, dass viele der Definitionen aus der Zeit vor der Wiedervereinigung und vor
der Dual-Use-Verordnung ({2}) stammen. Es
ist also an der Zeit, den Definitionskatalog zu überarbei-
ten. Einige Begriffe wie „fremde Wirtschaftsgebiete“
entfallen ganz, andere werden sprachlich vereinfacht.
Auch sollen AWG und AWV besser und übersichtli-
cher strukturiert werden. Ein Beispiel: Die außenwirt-
schaftsrechtlichen Einfuhrverfahrensvorschriften finden
sich derzeit sowohl im AWG als auch in der AWV. Im In-
teresse der Übersichtlichkeit werden sie nunmehr ein-
heitlich in der AWV geregelt und damit an die Ausfuhr-
verfahrensvorschriften angeglichen.
Sie sehen, es geht hier nicht um eine grundlegende
Änderung der Inhalte, etwa um laxere Ausfuhrbestim-
mungen, wie teils fälschlicherweise in der Presse be-
hauptet und skandalisiert, sondern vor allem um eine
Anpassung an den modernen Sprachgebrauch und eine
schlankere Fassung der Bestimmungen. Vergleicht man
AWG/AWV in ihrer aktuellen Form mit der vorliegenden
Überarbeitung, so wird klar: In der Sache ändert sich
nur wenig.
Die Opposition wäre also gut beraten, sich die Zeit
zum Lesen der 88 Seiten Gesetzesnovelle zu nehmen, be-
vor sie absichtlich oder zumindest durch Nachlässigkeit 1) Anlage 12
falsche Behauptungen über laxere Rüstungskontrollen
verbreitet, die explizit nicht vorgesehen sind.
Denn das AWG geht weit über Rüstung hinaus, und
der Bereich Rüstung innerhalb des AWG bleibt völlig
unberührt von der Überarbeitung. Ich sage es noch einmal: Die Überarbeitung des Außenwirtschaftsrechts
sieht keinerlei Erleichterungen für den Export von Rüstungsgütern vor. Insofern ist es gelinde gesagt verwunderlich, wenn das Magazin „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe vom 16. Juli 2012 ({3}) mit dem
irreführenden Titel „Rüstungsexporte: Deutsche Waffen
für die Welt“ behauptet, die Bundesregierung wolle mit
der Gesetzesnovellierung „den Export von Waffen und
Rüstungsgütern vereinfachen“. Hiervon kann keine
Rede sein! Die Inhalte der bestehenden Verbote und
Genehmigungsinhalte bleiben dieselben. Die vorliegende Gesetzesmodernisierung führt nicht dazu, dass
sich Rüstungsgüter aus Deutschland leichter exportieren lassen. Und das begrüße ich ausdrücklich.
Was in der Tat entfällt, sind überholte Ermächtigungsgrundlagen, die seit Inkrafttreten des Gesetzes
schlicht nie genutzt wurden. Gerne gebe ich Ihnen ein
Beispiel: Nach § 17 AWG können Rechtsgeschäfte über
die Verbreitung ausländischer Filme und anderer audiovisueller Werke beschränkt werden, um die deutsche
Filmwirtschaft zu schützen. Die Beschränkungen haben
keinen außenwirtschaftsrechtlichen, sondern einen industriepolitischen Hintergrund. Von der Ermächtigungsgrundlage wurde noch nie Gebrauch gemacht.
Wichtige Grundlagen, wie beispielsweise der sogenannte „Einzelakteingriff“ ({4}), bleiben erhalten. Nach wie vor können also Lieferungen, die
nach dem geltenden Recht legal wären, durch einen Einzeleingriff gemäß § 6 ({5}) untersagt werden, um bestimmte Gefahren abzuwenden, zum
Beispiel für die auswärtigen Beziehungen Deutschlands.
Die Voraussetzungen einer solchen Ausfuhrbeschränkung in Form eines Verwaltungsakts sollen durch die
Gesetzesnovelle auch für den Seeverkehr außerhalb des
deutschen Küstenmeers konkretisiert werden ({6}).
Zusätzlich zu der Anpassung an die moderne Terminologie sind einige inhaltliche Änderungen im Bereich
der Straf- und Bußgeldbewehrungen vorgesehen, die ich
gerne erläutere:
Bislang fiel es schwer, zwischen dem Tatbestand einer
Ordnungswidrigkeit und dem einer Straftat zu unterscheiden. Die bisherigen Straf- und Bußgeldbewehrungen sind schwer verständlich, weil sie an unbestimmte
Rechtsbegriffe anknüpfen. Verstöße gegen bestimmte
Genehmigungserfordernisse werden zu Straftaten, wenn
sie geeignet sind, die „auswärtigen Beziehungen der
Bundesrepublik Deutschland“ erheblich zu gefährden
({7}). Dies ist eine schwammige Formulierung. Die Rechtsprechung hat die Bestimmungen aus
gutem Grund kritisiert: Es sei für den Adressaten schwer
erkennbar, wann er sich strafbar machen könne, weil
nicht immer klar sei, in welchen Fällen das Auswärtige
Amt diesen Tatbestand bescheinige. Deshalb sind die
geltenden Straf- und Bußgeldbewehrungen „am Rande
der Verfassungswidrigkeit“.
Ich halte es daher für richtig, dass die Novelle auf unbestimmte Rechtsbegriffe in der Zukunft verzichten soll.
Die Straf- und Bußgeldbewehrungen werden in der Novelle klarer als bisher am Grad der Vorwerfbarkeit ausgerichtet. Mit anderen Worten, vorsätzliche Verstöße gegen bestimmte Verbote und Genehmigungserfordernisse,
die bisher als Ordnungswidrigkeiten behandelt werden,
sollen zukünftig als Straftaten bewertet werden, auch im
Bereich von Dual-Use-Gütern. Auch hier bietet sich zum
besseren Verständnis ein kurzes Beispiel an: Die ungenehmigte Ausfuhr von Waffen wird als Straftat geahndet.
Das ist bisher so, und das wird auch so bleiben. Nach
dem vorliegenden Gesetzentwurf wird aber auch die ungenehmigte Ausfuhr ziviler Güter, die für militärische
Zwecke missbraucht werden können, eine Straftat, wenn
der Täter vorsätzlich handelt ({8}). Damit ist die klare Botschaft verbunden: Wer sich bewusst
über das Außenwirtschaftsrecht hinwegsetzt, handelt
nicht nur ordnungswidrig, er macht sich vielmehr strafbar.
Eine Ahndung von Ordnungswidrigkeiten als Straftaten soll hingegen nicht mehr möglich sein. Der Gesetzentwurf - mit Ausnahme von Verstößen gegen Waffenembargos - verzichtet auf eine Strafbewehrung fahrlässigen Handelns, das heißt von Verstößen gegen die
erforderliche Sorgfalt. Der Grund hierfür ist einleuchtend: Mitarbeiter exportierender Unternehmen sollen
nicht kriminalisiert werden, wenn sie sich rechts-treu
verhalten wollen, ihnen aber versehentlich ein Arbeitsfehler unterläuft. In diesen Fällen ist die Verhängung eines Bußgeldes gegen das Unternehmen die angemessene
Sanktion. Außerdem können solchen Unternehmen außenwirtschaftsrechtliche Genehmigungen wegen mangelnder Zuverlässigkeit versagt werden.
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass Verstöße
gegen Waffenembargos verschärft werden. Eine Lieferung von Waffen in ein Embargoland oder die Vermittlung eines solchen Waffengeschäfts wird als Verbrechen
bestraft. Festzuhalten ist: Die Strafbewehrungen für
vorsätzliche Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht
werden sogar deutlich verschärft.
Erlauben Sie mir, vor dem Hintergrund der teilweise
ungeheuerlichen Berichterstattung auch kurz auf den
Bereich der Gesetzesnovelle einzugehen, der die Überarbeitung der AWV betrifft. Ich meine die Genehmigungserfordernisse für Güter mit doppeltem Verwendungszweck, den sogenannten Dual-Use-Bereich: Es
handelt sich um deutsche Sondervorschriften aus einer
Zeit, als es noch keine vergleichbaren Bestimmungen im
europäischen Recht gab. Mittlerweile sind sie durch korrespondierende europäische Vorschriften überlagert.
Das Nebeneinander der europäischen und der deutschen Genehmigungserfordernisse mit weitgehend identischem Regelungsgehalt führt nicht zu einer verbesserten Exportkontrolle, sondern nur zu einer
bürokratischen Belastung der Unternehmen und zu
Wettbewerbsnachteilen gegenüber ihren europäischen
Konkurrenten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Welche
Dual-Use-Güter gelistet sind, ist im deutschen Recht in
der Ausfuhrliste geregelt. Diese erfasst neben den europaweit gelisteten Gütern auch Güter, die nur in Deutschland gelistet sind ({9}):
Häufig sind die nationalen Listungen auf Einzelfallentscheidungen ({10})
zurückzuführen. Viele dieser gelisteten Güter sind veraltet bzw. haben ihre Praxisrelevanz verloren. Aus diesem
Grund wird die deutsche Güterliste gekürzt. Zudem wird
auf die Wiedergabe der Güter der Dual-Use-Verordnung
verzichtet, denn diese Güter sind ohnehin von der vorrangig geltenden EG-Dual-Use-Güter-VO erfasst.
Sie sehen also, dass der vorliegende Gesetzentwurf
deutlich in die Klasse der Weiterentwicklung effizienten
Regierens in Deutschland einzuordnen ist. Sein Inhalt
eignet sich nicht für parteipolitisches Geplänkel. So
schließe ich mit einem Lob an unsere Bundesregierung,
die einen sehr vernünftigen Gesetzentwurf vorgelegt hat.
Die Bundesregierung hat uns ein Gesetz zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts vorgelegt. Wie wir
der Begründung des Gesetzentwurfs entnehmen können,
werden nun Vorgaben des Koalitionsvertrags von
Schwarz-Gelb umgesetzt. Wie schön!
In Ihrem Koalitionsvertrag steht zur Änderung des
Außenwirtschaftsrechts unter anderem - ich zitiere -:
Es werden Vorschriften gestrichen, die deutsche
Exporteure gegenüber ihren europäischen Konkurrenten benachteiligen. Bei der Anwendung des Außenwirtschaftsrechts muss der internationalen
Wettbewerbssituation der deutschen Wirtschaft
mehr als bisher Rechnung getragen werden.
Damit missverstehen Sie das Außenwirtschaftsrecht.
Aus dem ersten Paragrafen des Außenwirtschaftsgesetzes ergibt sich, dass der Wirtschaftsverkehr mit anderen
Staaten „grundsätzlich frei“ ist, jedoch - und dafür
muss man diesen Paragrafen weiterlesen - Einschränkungen unterliegt. Und diese Einschränkungen ergeben
sich aus der besonderen Berücksichtigung der nationalen - also deutschen - und auch europäischen sicherheits-, außen-, wirtschafts- und handelspolitischen Belange.
Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Raum,
wie Sie sie sehen, sollten Sie auf der Ebene der EU angehen. Eine alleinige Streichung von deutschen Sondervorschriften darf nicht Ergebnis einer Novellierung des
Außenwirtschaftsrechts sein.
Mit den geplanten Änderungen im Außenwirtschaftsrecht werden Sie den neuen Herausforderungen nicht
gerecht. Gerade vor dem Hintergrund der Debatte zu
Angra 3 hätte sich die SPD-Bundestagsfraktion zum
Beispiel eine klare Regelung zur Beendigung der Exportförderung für Atomtechnologien gewünscht. Die
Förderung und Unterstützung des Baus eines Atomkraftwerks in Brasilien steht im Widerspruch zum Ausstieg
aus der Nutzung der Atomenergie in Deutschland.
Es kommt hinzu: Die Hermesbürgschaft für Angra 3
soll 1,3 Milliarden Euro betragen. Mit diesem Betrag
will die Bundesregierung ein Projekt fördern, an dem
kein deutsches Unternehmen mehr beteiligt ist. Das
Atomkraftwerk soll in einem Gebiet gebaut werden, das
geologisch - aufgrund von Erdrutschgefahren und instabilen Böden - und geografisch - durch die Nähe zum
Meer und zu Großstädten - ungeeignet ist. Darüber hinaus ist das Sicherheitsdesign des geplanten Atomkraftwerks veraltet.
Unter Rot-Grün haben wir Hermesumweltleitlinien
entwickelt. Wir wollen im Ausland keine Projekte unterstützen, die wir bei uns nicht zulassen würden. Nach den
Hermesleitlinien war die Exportförderung von Nukleartechnologien zum Neubau bzw. zur Umrüstung von Atomanlagen ausgeschlossen. Kurz nach der Bundestagswahl
2009 setzte Schwarz-Gelb diese Hermesumweltleitlinien
außer Kraft. Ein Ausdruck Ihrer rückwärtsgewandten
Politik!
Spätestens seit dem Atomausstieg 2011 müssen die
Leitlinien wieder gelten. Die SPD-Bundestagsfraktion
kann sich vorstellen, solche Kriterien, wie in den Hermesleitlinien formuliert, in das Außenwirtschaftsrecht
zu integrieren. Das wäre ein Fortschritt und eine wirkliche Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts.
Ein anderer sensibler Bereich des Außenwirtschaftsrechts ist das Rüstungsregime. Nehmen wir den Schauplatz Indonesien: Wir hören da von 150 Panzern der
Typen Leopard und Marder, die von Deutschland nach
Indonesien geliefert werden sollen. Gestern wurde gemeldet, dass die Unterzeichnung des Panzerdeals aufgrund offener technischer Details verschoben wurde. Es
wird davon ausgegangen, dass die Unterzeichnung am
Samstag erfolgt. Im Wirtschaftsausschuss hörte sich das
Anfang Juli noch anders an. Eine Anfrage - aber kein
Antrag auf Erteilung einer Genehmigung - sei eingegangen, so hieß es damals.
Dieser Deal soll, so wie es aussieht, trotz der Befürchtungen, dass die Panzer im Konflikt mit ethnischen
Minderheiten eingesetzt werden könnten, vonstatten gehen. Hier ist Aufklärung durch die Bundesregierung notwendig. Es gibt Kriterien zur Bewertung von Waffenexporten. Die haben wir unter Rot-Grün entwickelt. Diese
„Politischen Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstiger Rüstungsgüter“ zusammen mit dem
„Gemeinsamen Standpunkt des Rates“ legen die Regeln
für die Genehmigung von Waffenexporten fest. Die dortigen Kriterien sind gesetzlich zu verankern. Dazu hätten Sie mit dieser Novelle des Außenwirtschaftsgesetzes
die Möglichkeit gehabt.
Aus Regierungskreisen heißt es, durch die Novelle des
Außenwirtschaftsrechts würden die Regelungen über
den Export von Rüstungsgütern „ausdrücklich nicht berührt“ werden. Es bliebe bei den „bewährten Grundsätzen“ des Außenwirtschaftsrechts, „wonach die Ausfuhr
von Rüstungsgütern im jeweiligen Einzelfall unter sorgfältiger Abwägung vor allem der außen-, sicherheitsund menschenrechtspolitischen Argumente geprüft“
werde. Aber warum schreiben Sie es nicht ins Gesetz?
Sie könnten für Klarheit sorgen. Das wäre eine wirkliche
Zu Protokoll gegebene Reden
Weiterentwicklung des Außenwirtschaftsrechts. Und sagen Sie nicht, das Außenwirtschaftsgesetz würde durch
diese Kriterien überfrachtet werden. Wem wollen Sie etwas vormachen?
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Vorschriften zur
Ausfuhr von Dual-Use-Gütern aufgehoben werden sollen. Begründet wird diese Aufhebung mit dem bürokratischen Aufwand für die betroffenen Unternehmen und
dem Wettbewerbsnachteil gegenüber Wettbewerbern aus
anderen Mitgliedstaaten. Gerade der Bereich der DualUse-Güter ist besonders sensibel. Das erleben wir gerade bei der Debatte zu den Kommunikationstechnologien und zur Spyware.
Die Kenntnisse über atomare, biologische oder chemische, aber auch kommunikationstechnologische
Zusammenhänge auch im zivilen Bereich können zum
Gebrauch oder zur Entwicklung von Waffen genutzt werden. Daher stellen diese Güter ein besonderes Gefahrenpotenzial dar und unterliegen der Ausfuhrkontrolle.
Die Aufhebung der Sondervorschriften zu Dual-UseGütern erfolgt mit Bezugnahme auf die europäische
Dual-Use-Verordnung. Inwiefern die europäische Verordnung den gleichen hohen Ansprüchen an die Ausfuhrkontrolle gerecht wird, werden wir in der angesetzten Anhörung klären müssen. Das ist insbesondere
interessant, weil die europäische Verordnung nach Art. 4
strengere Regelungen in den Mitgliedstaaten zulässt.
Es gibt viel zu besprechen, und wir sollten uns zu den
verschiedenen Aspekten weiteren Sachverstand einholen. Daher werden wir im Wirtschaftsausschuss eine Anhörung durchführen.
Die Koalition und die Bundesregierung verfolgen im
Zuge der Novellierung des Außenwirtschaftsgesetzes besonders eine Straffung und Harmonisierung der Vorschriften. Denn niemand kann bestreiten, dass eine Modernisierung dieses Gesetzes nach über 50 Jahren
notwendig ist.
Deutsche Sondervorschriften entfallen zugunsten einer europäischen Angleichung. Dies betrifft die Ausfuhr
sogenannter Dual-Use-Güter. Eine ungenehmigte Ausfuhr von Rüstungsgütern bleibt weiterhin eine Straftat.
Gleiches gilt für den Verstoß gegen die Genehmigungspflicht bei Dual-Use-Gütern, die bisher lediglich als
Ordnungswidrigkeit geahndet wurde. Die neue Übersichtlichkeit und Verständlichkeit führt zur Senkung der Bürokratiekosten in den betroffenen Unternehmen.
Die Novelle behält dabei die bewährten Grundstrukturen des deutschen Außenwirtschaftsrechts bei.
Genehmigungen zur Ausfuhr von Rüstungsgütern
werden weiterhin auf Grundlage der „Politischen
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem
Jahr 2000 und dem „Gemeinsamen Standpunkt 2008/
944/GASP des Rates der Europäischen Union vom
8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die
Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern“ geprüft. Vereinfacht wird lediglich das Verfahren als solches.
Die nationalen Sonderregelungen, die zum größten
Teil ihre Bedeutung verloren haben, begründeten lange
Zeit für deutsche Unternehmen durch bürokratischen
Aufwand einen Wettbewerbsnachteil. Dieses Problem
hat unsere schwarz-gelbe Koalition nun angegangen
und beseitigt sie durch die Novellierung des Gesetzes.
Mit dieser Novelle fördern wir einen fairen Wettbewerb
und heben die Wettbewerbsnachteile deutscher Unternehmen gegenüber ihren europäischen Mitbewerbern
auf.
Deutschland ist der drittgrößte Rüstungsexporteur
der Welt. Das ist eine beschämende Position; denn damit
ist Deutschland in hohem Maße mitverantwortlich für
viele Tote auf der Welt. Die Regierung macht sich lächerlich, wenn sie sich bei der Vorstellung der Novelle
zum Gesetz zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts selbst eine strenge Kontrolle von Rüstungsgütern
bescheinigt. U-Boot-Lieferungen nach Ägypten und Israel, Panzerlieferungen nach Indonesien und SaudiArabien, deutsche Sturmgewehre in Libyen und Georgien beweisen das Gegenteil. Am Geschäft mit dem Tod
wird gut verdient, und das soll auch so bleiben. Deshalb
finden dringend notwendige Restriktionen keinen Eingang in die vorliegende Novelle.
Die Politischen Grundsätze der Bundesregierung für
Rüstungsexporte klingen gut: Lieferungen an Länder,
die sich in bewaffneten äußeren Konflikten befinden
oder bei denen eine Gefahr für den Ausbruch solcher
Konflikte besteht, scheiden grundsätzlich aus. Auch bei
einem schon hinreichenden Verdacht, dass deutsche
Waffen zur Unterdrückung der Bevölkerung oder zu
sonstigen fortdauernden Menschenrechtsverletzungen
im Empfängerland missbraucht werden könnten, gibt es
grundsätzlich keine Exportgenehmigung.
Doch was nutzt das, wenn diese Grundsätze unverbindlich sind, gegenüber den ökonomischen Interessen
der deutschen Rüstungsindustrie abgewogen werden
und dann - wen wundert es? - der Profit immer über die
Menschenrechte gesetzt wird? Nicht einmal 0,15 Prozent der Rüstungsexporte - in Antragswerten - wurden
2010 abgelehnt. Diese Grundsätze müssen verbindlich
in das Außenwirtschaftsgesetz eingefügt werden. Dann
wären wir einen großen Schritt weiter auf dem Weg zu
einer friedlicheren und humaneren Welt.
Die Menschenrechte sind für die Bundesregierung
immer gerade dann nützlich, wenn sie ihre Soldaten irgendwo hinschicken will. Sie schert sich einen Deut darum, wenn deutsche Wasserwerfer an autoritäre Regime
verkauft werden. Den Milizen von Lukaschenko greift sie
sogar aktiv unter die Arme, bildet sie aus und beliefert
sie mit Kameras, Software und Transportern. Nicht nur
Waffen und Kriegsgerät, auch Überwachungstechnik
und Software können Unterdrückungsinstrumente sein
und müssten unter die Restriktionen des Außenwirtschaftsgesetzes fallen. Doch statt einer Verschärfung
Zu Protokoll gegebene Reden
nimmt die Bundesregierung im Bereich der Dual-UseGüter Lockerungen vor.
Restriktionen, die nach dem deutschen Recht bisher
vorgeschrieben waren, nach europäischem aber nicht,
sollen entfallen. Nach dem derzeitigen Außenwirtschaftsrecht kann die Ausfuhr von Gütern beschränkt
werden, die für die Entwicklung, die Erzeugung oder den
Einsatz von Waffen, Munition oder Kriegsgerät nützlich
sind. Künftig soll dies nur noch für Güter gelten, die ausdrücklich für die Entwicklung, die Erzeugung oder den
Einsatz von Waffen, Munition und Rüstungsgütern gedacht sind. Das heißt, der Exporteur wird aus der Verantwortung für die Verwendung seiner Güter entlassen.
Ihm kann egal sein, wie viele Menschen wegen seiner
Produkte sterben müssen.
Bei den neuen Straf- und Bußgeldvorschriften gibt es
Verschärfungen, aber auch Erleichterungen. Zentral erscheint mir dabei, dass dem Rüstungsexporteur künftig
nachgewiesen werden muss, dass er vorsätzlich gehandelt hat. Fahrlässige Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht werden nur noch als Ordnungswidrigkeiten
geahndet. Lediglich leichtfertige Verstöße gegen ein
Waffenembargo werden noch strafbewehrt. Das klingt
wie ein halber Freifahrtschein für die Rüstungswirtschaft. Viele Menschen werden weltweit mit Waffen aus
deutscher Produktion oder Lizenz, mit deutschem Knowhow und deutscher Hilfe getötet - nach dieser Novelle
leider mehr statt weniger.
Die Bundesregierung verfolgte bei der Neufassung
des Außenwirtschaftsrechts nach eigenen Worten das
Ziel, die Regelungen zu straffen und zu vereinfachen.
Was für ein Ehrgeiz: eine Anpassung an eine EU-Richtlinie, Begriffsklärungen, aber keine substanziellen
Veränderungen. So will ich Ihr Augenmerk auf all das
lenken, was die Bundesregierung in diesem Gesetzentwurf, in dem es vor allem um Ausfuhrbestimmungen zu
militärisch nutzbaren Exportgütern geht, nicht ändern
möchte.
Deutschland ist inzwischen zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt aufgestiegen. Deutsche Rüstungsgüter verkaufen sich hervorragend und finden sich in
Libyen, Indonesien und Saudi-Arabien wieder. Die
Presse berichtete ausführlich über die skandalösen
Verkäufe von Panzern an Saudi-Arabien. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie scheint
diese Exporte sehr zu begrüßen; denn es schreibt in seinem Kommentar zum Außenwirtschaftsgesetz: „Die
strenge Exportkontrolle für Rüstungsgüter bleibt unangetastet.“
Doch die Exportkontrolle für Rüstungsgüter ist in
Deutschland ein Skandal. Insbesondere wir Abgeordnete werden außen vor gehalten. Die Legislative, also
wir, hat zurzeit sogar nur beschränkte Informationsrechte im Hinblick auf bereits erteilte Genehmigungen,
und das Wenige erhalten wir sogar regelmäßig lückenhaft und mit erheblicher Verspätung. Nur im jährlichen
Exportbericht erfahren wir von erteilten Genehmigungen für Rüstungsgüter; aber dieser wird regelmäßig erst
zum Ende des folgenden Jahres fertiggestellt. Hier muss
die Regierung endlich eine verbindliche Zeitvorgabe
schaffen.
Es wäre für die Bundesregierung ein Leichtes gewesen, ihren Entwurf eines Außenwirtschaftsgesetzes um
einen Satz zum Rüstungsexportbericht zu ergänzen und
festzulegen, dass der Bericht spätestens im ersten Quartal des Folgejahres veröffentlicht werden muss. Im
ersten Quartal übermittelt die Bundesregierung die
deutschen Rüstungsexportdaten auch an die EU. Die
Bundesregierung informiert die EU also regelmäßig früher als die eigenen Abgeordneten. In anderen Ländern
wie Großbritannien und Rumänien wird das Parlament
sogar vierteljährlich über Rüstungsexporte unterrichtet.
Das halten auch wir von Bündnis 90/Die Grünen für erstrebenswert.
Wir Abgeordnete haben eine Kontrollfunktion inne
und sollten diese im Bereich der Rüstungsexporte auch
ausüben. Die Bundesregierung sollte sich nicht mehr mit
dem Mantel des Schweigens bedecken können. Begründungen für getroffene Entscheidungen zum Beispiel
sollten für sie selbstverständlich sein. Selbst wir Abgeordnete werden oft mit Hinweisen auf Geheimhaltungsbedürfnisse abgespeist.
Ein weiterer Skandal bei der Exportkontrolle für Rüstungsgüter ist der Umgang der Bundesregierung mit den
Kriterien für die Vergabe der Genehmigungen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie schreibt
zwar, dass Anträge zur Genehmigung der Ausfuhr von
Kriegswaffen oder sonstigen Rüstungsgütern auf Grundlage der Politischen Grundsätze der Bundesregierung
für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern vom 19. Januar 2000 und des gemeinsamen
Standpunktes der EU betreffend gemeinsame Regeln für
die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und
Militärgütern vom 8. Dezember 2008 entschieden werden. Doch das Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie vergisst dabei, zu erwähnen, dass es sich
hierbei um unverbindliche Vorgaben handelt. Andere
Länder wie Großbritannien, Schweden, Österreich,
Tschechien und Dänemark haben den gemeinsamen
Standpunkt längst in nationales Recht übernommen.
Eine gesetzliche Verankerung der Exportkriterien wäre
eine wichtige Aufgabe bei der Novellierung des Außenwirtschaftsrechts gewesen. Insbesondere die Menschenrechtslage im Empfängerland und die Gefahr der inneren Repression müssen bei Rüstungsexporten bedacht
werden. Doch die schwarz-gelbe Koalition stimmt lieber
in den Refrain der Rüstungsverbände ein: Veränderungen sind nicht notwendig.
Um eine Überprüfung der Einhaltung von Menschenrechtskriterien zu ermöglichen, wollen wir Grüne die
Möglichkeit der Verbandsklage bei Rüstungsexporten
prüfen. Im Umwelt- wie im Verbraucherrecht gibt es
jetzt schon Verbandsklagerechte, zum Beispiel bei Verstößen gegen Umweltstandards. Jetzt ist es so, dass ein
Exporteur klagen kann, wenn ein Antrag durch Ausfuhrgenehmigung durch das Bundesamt für Wirtschaft und
Ausfuhrkontrolle, BAFA, abgelehnt wird. Jedoch ist zurZu Protokoll gegebene Reden
zeit nur er klagebefugt, um die Interessenabwägung zu
seinen Gunsten überprüfen zu lassen. Eine nochmalige
gerichtliche Überprüfung im Sinne des Friedensschutzes und der Menschenrechte ist nicht möglich. Solch
eine Möglichkeit könnte mehr Öffentlichkeit und somit
mehr Transparenz im Hinblick auf die Ausfuhrgenehmigungen und ihre Kriterien schaffen.
Besondere Dringlichkeit für Änderungen des Außenwirtschaftsrechts gibt es auch bei Dual-Use-Gütern,
welche für die Störung von Telekommunikationsdiensten
und zur Überwachung und Unterbrechung des Internetverkehrs eingesetzt werden können. Wenn autoritäre
Regierungen die Internetverbindungen kappen, reicht es
nicht, wenn wir protestieren. Techniken zur Filterung
und Zensur des Internets müssen genauso wie andere
Dual-Use-Güter einer strengen Rüstungskontrolle unterliegen.
Die Bundesregierung behauptet zwar immer wieder,
dass solche Exportgenehmigungen grundsätzlich bei
hinreichendem Verdacht des Missbrauchs zur inneren
Repression oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen nicht erteilt
werden. Jedoch hat sie sich nicht dafür eingesetzt, dass
obengenannte Störtechnologien in die europäische
Dual-Use-Verordnung aufgenommen werden. In einem
Schreiben von 2011 an die Europäische Kommission
setzte sich die schwarz-gelbe Bundesregierung gar dafür ein, dass die Interessen der Wirtschaft ausgewogen
Berücksichtigung finden - ohne auf 21 Seiten die Menschenrechte zu erwähnen.
Die Bundesregierung setzt bei Rüstungsexporten ihre
Prioritäten bei der Industrie- und Wirtschaftspolitik und
vergisst dabei ihre Pflicht zur Friedenssicherung. So
schreibt zum Beispiel das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie auf seiner Homepage in seinem
Kommentar zur Novellierung des Außenwirtschaftsrechts: „Mit diesen Änderungen setzt sich die Bundesregierung für ein modernes, klar formuliertes Exportkontrollrecht für die exportorientierte deutsche Wirtschaft
ein.“ Aufgrund all dieser Punkte erscheint es mir zwingend notwendig, dass dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie die Zuständigkeit für Rüstungsexporte entzogen wird. Die Ressortzuständigkeit für
Rüstungsexporte sollte dem Auswärtigen Amt übertragen werden; denn dieses hat die notwendige Kompetenz
in Menschenrechtsfragen. Anders als das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie dürfte das Auswärtige Amt es auch nicht als seine primäre Aufgabe ansehen, für den wirtschaftlichen Erfolg der heimischen
Rüstungsindustrie durch eine Exportstrategie zu sorgen.
Die deutsche Rüstungsindustrie steht vor der Herausforderung, sich umzustrukturieren und auf friedlichere
Produkte zu setzen. Dabei ist sie aufgrund ihrer vielen
Dual-Use-Produkte gut aufgestellt. „Dual use“ bedeutet
ja: Auch andere Verwendungen sind möglich.
Interfraktionell wird die Überweisung dieses Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11127 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Macht
jemand andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir dies gemeinsam so beschlossen.
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 40:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung agrarmarktrechtlicher Bestimmungen
- Drucksachen 17/11294, 17/11354 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Die Reden werden zu Protokoll genommen, wie dies
in der Tagesordnung ausgewiesen ist. - Alle sind damit
einverstanden.
Das europäische Milchpaket ermöglicht es unseren
Milchbauern in Zukunft, ihre Vermarktung noch besser
zu bündeln. Erzeugergemeinschaften können nun auch
selbst Preise mit Molkereien verhandeln und damit eine
bessere Stellung in der Wertschöpfungskette einnehmen.
Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung nun das
Marktstrukturgesetz, das seit 1969 die Anerkennung von
Erzeugergemeinschaften und deren Vereinigungen regelt, weiterentwickelt und so die Umsetzung der neuen
EU-Regelung ermöglicht.
Für die Landwirte gibt es am bestehenden Anerkennungssystem keine grundlegenden Änderungen, sodass
der bürokratische Aufwand nicht erheblich wachsen
wird. Wir begrüßen die wettbewerbsrechtliche Klarstellung der Tätigkeitsbereiche von Erzeugerorganisationen
und deren Vereinigungen. In Zukunft gibt es klare Regelungen für Preisberichterstattung und Preisfeststellung.
Dies ist schon deshalb notwendig, da der Milchmarkt in
Deutschland in ständiger Bewegung ist. Wir stehen unmittelbar vor dem Auslaufen der Milchquotenregelung,
und europaweit ist eine Konzentration in der Molkereistruktur zu beobachten. Die jetzt gegebene Bündelungsmöglichkeit im Milchmarkt soll den Wettbewerb verbessern. Die Sektoruntersuchung Milch hat uns gezeigt,
dass auch kartellrechtliche Auswirkungen zu bedenken
sind.
Unser Ziel muss es sein, dass in Zukunft Preise für die
Landwirte erreicht werden, die es ihnen ermöglichen, einen Hof über Jahre rentabel zu betreiben und ihn auch
an die nächste Generation zu übergeben. Dabei ist die
Bündelung zur Verhandlung auf Augenhöhe mit den großen Abnehmern sicher wünschenswert. Das kann und
darf nicht durch Zwang erfolgen. Bündelung heißt nicht
zwangläufig mehr Strukturwandel.
Insgesamt fördert das Gesetz die Wettbewerbskraft
der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft. International steigt die Nachfrage nach Milch und gerade
auch nach hochveredelten Produkten wie Käse. Durch
eine noch bessere Bündelung ergeben sich hier noch
bessere Möglichkeiten für den Milchexport. Bei einem
Selbstversorgungsgrad von über 100 Prozent und einem
großen Druck auf die Erzeugerpreise ist es nur folgerichtig, wie bisher zusätzliche Absatzmöglichkeiten auf
dem Weltmarkt zu nutzen. An der Chicagoer Börse zeigt
der Preis nach oben. Durch die Probleme mit der diesjährigen Dürre in den USA sind viele Herden geschlachtet worden, und Milch ist, etwa zur Käseproduktion,
stark nachgefragt.
Ich weiß: Es gibt Kritik an der Exportorientierung
der deutschen Landwirtschaft, trotz der Tatsache, dass
die europäische Milchquote derzeit um 4,3 Prozent unterliefert wird. Es ist nicht einzusehen, dass im Exportland Deutschland, das seine Entwicklung und seinen
Wohlstand der Orientierung auf den Außenhandel zu
verdanken hat, gerade eine Branche, nämlich die Landund Ernährungswirtschaft, nicht weitere ausländische
Absatzmärkte erobern soll. Wir würden so den Bauern
einerseits Entwicklungsmöglichkeiten verweigern und
andererseits die Marktentlastung im Inland verhindern.
Die Gegnerschaft gegenüber deutschen Agrarexporten
und die gleichzeitige Forderung nach einem staatlich
verordneten höheren Erzeugerpreis passen nicht zusammen. Wir müssen unseren Bauern, ebenso wie den anderen Branchen, den Weg in den Export offen halten und so
einen höheren Absatz ermöglichen. Alles andere würde
die Existenz der Höfe in Deutschland gefährden, und am
Ende könnten wir nicht einmal unser eigenes Land mit
einheimischer Milch versorgen. Die Folgen für den
Standort und vor allem für den Milchstandort Deutschland wären erheblich und nicht zurückzudrehen.
In den Medien liest man von den Vorbehalten einiger
Erzeuger und auch einiger Länder gegenüber der sogenannten Andienungspflicht an eine Erzeugergemeinschaft. Die Andienungspflicht gibt es schon. Das Gesetz
ändert hieran nichts. Auch gibt es keine Benachteiligung
für den einzelnen Landwirt. Es bleibt aber den Erzeugergemeinschaften wie bisher offen, ihren Mitgliedern
in ihrer Satzung den Weg in eine weitere Gemeinschaft
bzw. Genossenschaft freizustellen. Denkbar sind da sowohl lokale als auch grenzüberschreitende Gemeinschaften. Wenn die Mitglieder das für sinnvoll halten,
sollte es ihnen auch freigestellt bleiben. Der Markt wird
hier aber für eine adäquate Bündelung der Erzeuger
sorgen.
Mit der Umsetzung des EU-Rechts und der Anpassung des Marktstrukturgesetzes macht die Bundesregierung nun den Weg für eine weitere Entwicklung auf dem
Milchmarkt frei, und sie wird zum Erhalt unserer heimischen Strukturen beitragen. Das Gesetz stärkt zudem die
Marktposition der Erzeuger und gibt Raum durch bessere Exportchancen.
Heute beraten wir in erster Lesung den Gesetzentwurf zur Änderung agrarmarktrechtlicher Bestimmungen. Das Gesetz hat zum Ziel, die staatliche Anerkennung für Agrarorganisationen und deren Freistellung
vom Kartellrecht zu regeln. Das Gesetz ist erforderlich,
um bestehendes EU-Recht umzusetzen und insbesondere
die Vertragsbeziehungen im Sektor Milch und Milcherzeugnisse zu regeln.
Das bisher in Deutschland geltende Marktstrukturgesetz mit seinen 18 Durchführungsverordnungen weist
wegen der zahlreichen Änderungen im EU-Recht in den
vergangenen Jahren erheblichen Änderungsbedarf auf.
Es fehlen beispielsweise grundsätzliche Regelungen für
die Anerkennung von Branchenverbänden, obwohl das
EU-Recht diese schon seit längerem beinhaltet. Außerdem gibt es gegenwärtig noch Bestimmungen zur Förderung der Erzeugerorganisationen sowohl im Marktstrukturgesetz als auch in den Fördergrundsätzen der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“, die sich zum Teil widersprechen.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf enthält Begriffsdefinitionen und Ermächtigungen zum Erlass von
Durchführungsverordnungen. Leider resultiert aus dem
EU-Recht ein wesentlich höherer Bürokratie- und Verwaltungsaufwand. In der Durchführungsverordnung
werden die wesentlichen Punkte geregelt. Aus meiner
Sicht ist besonders erfreulich, dass nach der erfolgten
Überarbeitung die Verschärfungen gegenüber dem EURecht herausgenommen wurden. Offensichtlich war der
Genossenschaftsverband nicht in der Lage, den politischen Druck aufrechtzuerhalten, und dadurch kommen
wir heute zu einer sinnvollen Eins-zu-eins-Umsetzung.
Ich begrüße auch ausdrücklich, dass das Agrarorganisationenregister nun doch bei der BLE geführt werden
soll.
Das Gesetz wie auch die Verordnung können nicht
ohne Berücksichtigung des EU-Milchpaketes bewertet
werden. Ziel des EU-Milchpaketes ist es, dass die europäischen Milcherzeuger ihre Marktstellung verbessern
und so zukünftig auf Augenhöhe mit den Milchabnehmern verhandeln können. Das ist angesichts der
Marktstrukturen überfällig. Erfreulich ist auch, dass
bestehende Erzeugergemeinschaften zunächst ihre Anerkennung behalten können. Innerhalb einer Übergangsfrist bis zum 1. September 2014 lassen sich gegebenenfalls noch fehlende Anerkennungsvoraussetzungen
gemäß den neuen Anforderungen schaffen.
Für den Milchsektor sind insbesondere die Punkte
Doppelmitgliedschaft sowie Obergrenzen der Bündelung interessant. Deutschland wird entsprechend dem
eingebrachten Entwurf von der Möglichkeit Gebrauch
machen, bei geografisch getrennten Erzeugungseinheiten auch mehrere Mitgliedschaften in Erzeugerorganisationen zuzulassen. Eine Definition, was unter „unterschiedlichen geografischen Gebieten“ zu verstehen ist,
gibt es bisher nicht. Erste Diskussionen lassen erkennen,
dass die Länderabgrenzung konsensfähig sein könnte.
Rein rechtlich betrachtet wird die Doppelmitgliedschaft nur dann verboten sein, wenn kartellrechtlich
freigestellte Vertragsverhandlungen geführt werden sollen. In der Praxis wird aber jede Erzeugerorganisationen auch Vertragsverhandlungen führen wollen, sodass
sich daraus am Ende doch das Verbot der Doppelmitgliedschaft ergibt.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hatte in den ersten
Arbeitsentwurf des Agrarmarktstrukturgesetzes ein generelles Verbot der Doppelmitgliedschaft aufgenommen.
Das hätte jedoch dazu geführt, dass dieses Verbot auch
für andere Produktbereiche, für die ebenfalls ErzeugerZu Protokoll gegebene Reden
gemeinschaften gegründet und anerkannt werden können, gelten würde. Dafür gibt es aber teilweise keine
entsprechende Grundlage im EU-Recht. Nun wird diese
nicht mehr geregelt, und damit gilt das EU-Recht eins zu
eins in Deutschland, was ich sehr begrüße. Allerdings
sind Doppelmitgliedschaften im Milchsektor bei Vertragsverhandlungen weiterhin verboten.
Ein paar Worte möchte ich zu diesem Thema aber
noch verlieren. Es macht wenig Sinn, Vertragsverhandlungen zu beginnen, ohne dass man genau weiß, über
welche Menge konkret verhandelt wird. Diejenigen, die
die Verhandlungen führen, müssen über entsprechende
Sicherheit verfügen. Es ist nicht vorstellbar, dass Milchmengen in Abhängigkeit vom erzielten Verhandlungsergebnis weiterhin zur Verfügung stehen oder nicht.
Darauf kann sich kein Vertragspartner einlassen, und
deshalb sind an dieser Stelle klare Vorgaben sinnvoll.
Zum Thema Genossenschaften möchte ich Folgendes
anmerken: In Deutschland werden ungefähr 70 Prozent
der Milchmenge von Genossenschaften erfasst. EU-weit
liegt der Durchschnitt bei ungefähr 58 Prozent. Diese
Mengen stehen gemäß dem Milchpaket nicht zur Bündelung bei kartellrechtlich freigestellten Vertragsverhandlungen zur Verfügung. Der Bund der Deutschen Milchviehhalter fordert, dass auch Mitglieder einer
Molkereigenossenschaft an solchen Vertragsverhandlungen teilhaben dürfen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es dann Vertragsverhandlungen im eigentlichen Sinn nicht geben kann,
da die Mitglieder zugleich Eigentümer der Molkerei
sind, an die sie ihre Milch liefern. Das gilt auch in den
Fällen, in denen das Verarbeitungsunternehmen in eine
eigenständige Rechtsperson ausgegliedert wurde. Den
Mitgliedern einer Genossenschaft bieten sich im Rahmen der Gremien der Genossenschaft vielfältige Möglichkeiten, ihre Interessen durchzusetzen. Das grundsätzliche Regelwerk der Genossenschaften besteht
inzwischen fast 150 Jahre. Sie sind nicht auf häufigen
Wechsel der Mitglieder ausgerichtet, sondern eher auf
eine gewisse Konstanz. Es erscheint daher auch verständlich, dass Genossenschaften ehemalige Mitglieder
eher nicht wieder aufnehmen wollen, wenn diese zuvor
die Solidargemeinschaft aus welchen Gründen auch immer verlassen haben. Grundsatz in der Genossenschaft
ist einerseits die vollständige Andienungspflicht der
Milch durch die Erzeuger und andererseits die vollständige Abnahmepflicht durch die Molkerei. Dieses bedeutet auch weniger Risiko für den einzelnen Milcherzeuger
und mehr Sicherheit für beide Vertragsparteien.
Ich sehe allerdings, dass in den Regionen, wo einzelne Molkereigenossenschaften regionale Nachfragemonopole etabliert haben, sehr wohl wettbewerbsrechtliche Anpassungen bezüglich der Bindefristen und
anderer Regelungen notwendig sind. Die Molkereigenossenschaften sollten nicht zu Restmilchempfängern
degradiert werden; denn das würde das Aus für die Molkereigenossenschaften bedeuten. Vor dem Hintergrund
der wirtschaftlichen Bedeutung der Molkereigenossenschaften kann dies politisch nicht gewollt sein.
Auch zur Obergrenze der Bündelungsmenge melden
einige Marktbeteiligte weiteren Diskussionsbedarf an.
Dazu möchte ich wie folgt Stellung beziehen: In
Deutschland beläuft sich die Grenzen für die Milchmenge, die kartellrechtlich freigestellt verhandelt werden darf, auf 5,3 Millionen Tonnen. Diese Begrenzung
wird von einigen Vertretern der Milcherzeuger kritisiert.
Sie argumentieren, dass statt der Festlegung einer
Grenze im Einzelfall geprüft werden solle, welcher Bündelungsgrad zulässig sei. Diesem Argument kann ich
nicht folgen. Eine gemäß dem EU-Milchpaket anerkannte Erzeugerorganisation kann im Namen der Mitglieder Verträge über die Lieferung von Rohmilch mit
einem Abnehmer aushandeln, wenn die verhandelte
Milchmenge weniger als 3,5 Prozent der EU-Milcherzeugung und weniger als 33 Prozent der erzeugten
Milchmenge des Mitgliedstaates betrage. Der gegenwärtige Bündelungsgrad in Deutschland ist weit von den
genannten Grenzen entfernt. Die größte Vereinigung von
Milcherzeugerorganisation in Deutschland verfügt nach
eigenen Angaben zurzeit über eine Milchmenge von
1,8 Millionen Tonnen. Darüber hinaus sind Einzelfallprüfungen im Kartellrecht sehr aufwendige Verfahren,
sodass mit der pauschalen Freistellung unterhalb der
genannten Grenze eine einfache Regelung getroffen
wurde.
Ich hoffe, dass der Bündelungsgrad in der nächsten
Zeit weiter zunimmt. Dies würde aber bedeuten, dass bei
jeder Änderung der Milchmenge, über die Vertragsverhandlungen geführt werden sollen, eine erneute kartellrechtliche Prüfung erfolgen müsste. Das erscheint mir
wenig handhabbar und angesichts der zu erwartenden
kürzeren Abstände zwischen den Vertragsverhandlungen
fast unmöglich. Allerdings bleibt die Möglichkeit der
Einzelfallprüfung bestehen, wenn die Grenzen der pauschalen Freistellung überschritten werden sollten. Diese
Einzelprüfungen würden dann greifen, wenn es zu weiteren großen Zusammenschlüssen käme. Das EU-Milchpaket ist bis 2020 befristet, und es sollen Fortschrittsberichte im Jahr 2014 und 2018 vorgelegt werden. Ich
gehe davon aus, dass bei Bedarf Anpassungen beim
Thema „Obergrenze der Bündelungsmenge“ möglich
sein werden.
Ich begrüße auch, dass die Mindestmitgliederzahl
von Erzeugerorganisationen von sieben auf fünf reduziert wird. Die Mitglieder können künftig auch aus anderen Mitgliedstaaten stammen und dort ihren Betriebssitz
haben. Die Regelungen zur Andienungspflicht ändern
sich nicht. Mit Zweidrittelmehrheit können Änderungen
weiterhin beschlossen werden. Es bleibt bei dem Grundsatz, dass die Erzeugerorganisationen nur für einen
Sektor gegründet werden können. Deren Anerkennungsvoraussetzungen entsprechen im Grunde denen aus dem
Marktstrukturgesetz.
Leider gibt es für die Wirtschaftsbeteiligten und
zuständigen Behörden einen Wermutstropfen; denn die
Informationspflichten werden ausgebaut. Diese zusätzlichen Bürokratielasten ergeben sich unmittelbar aus dem
EU-Recht. Geregelt ist nun auch, dass die Förderung
von Erzeugerorganisationen national ausschließlich in
den Fördergrundsätzen zur Gemeinschaftsaufgabe
Zu Protokoll gegebene Reden
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ geregelt wird.
Im Frühjahr dieses Jahres haben Parlament, Ministerrat und Kommission das sogenannte EU-Milchpaket
beschlossen. Dieses Milchpaket ist ein wichtiger Schritt
hin zu einem markt- und wettbewerbsorientierten Milchsektor. Mit dem vor über zehn Jahren beschlossenen
Ausstieg aus der Milchquote zum 1. April 2015 werden
Landwirte mehr Freiheit zur Produktion von Milch erhalten. Sie können dadurch die Chancen und Möglichkeiten ihres Produktionsstandorts besser nutzen. Außerdem werden die Quotenkosten der Vergangenheit
angehören.
Mit dem Gesetz zur Änderung agrarmarktrechtlicher
Bestimmungen werden die notwendigen Anpassungen
für die Umsetzung des Milchpakets vorgenommen. Das
bestehende Marktstrukturgesetz aus dem Jahr 1969 wird
an den neuen Rechtsrahmen angepasst; die national
bewährten Regelungen werden weiterentwickelt. Uns als
Liberale ist es dabei besonders wichtig, dass die bisher
18 Durchführungsverordnungen entschlackt und in einer einzigen Verordnung zusammengefasst werden.
Das Milchpaket ermöglicht es Milcherzeugern erstmals, sich zu Erzeugerorganisationen und Branchenverbänden zusammenzuschließen. Die Möglichkeit zur
Bündelung des Milchangebots stärkt die Verhandlungsmacht der Milcherzeuger. Sie können für ihre Mitglieder
Verträge aushandeln und erhalten eine stärkere Stellung
in der Wertschöpfungskette Milch. Das bringt sie ihrem
Ziel näher, über die Vermarktung ihrer Rohmilch mit den
Molkereien auf Augenhöhe zu verhandeln.
Die FDP begrüßt diese Stärkung der Milcherzeuger.
Milcherzeuger müssen ebenso wie Molkereien die neuen
Möglichkeiten nutzen, die Wertschöpfung aus einem
Liter Milch zu erhöhen. Italien und Frankreich zeigen
uns, dass eine höhere Wertschöpfung möglich ist. Diese
ist eine wichtige Voraussetzung für gute Milchpreise.
Gleichzeitig gibt die EU-Verordnung vor, dass die Angebotsbündelung nicht mehr als 33 Prozent des nationalen und 3,5 Prozent des europäischen Marktes umfassen
darf. Es muss sichergestellt sein, dass der Wettbewerb
nicht ausgeschlossen wird. Wir wollen keine Monopolbildung, sondern sicherstellen, dass kleine und mittlere
Molkereiunternehmen sich am Markt behaupten können.
Dadurch, dass es keine generelle Vertragspflicht gibt,
bleibt die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des
einzelnen Landwirtes gewährleistet. Dies ist ein wichtiges Element für einen funktionierenden Markt.
Die FDP lehnt das von der EU geforderte Verbot von
Doppelmitgliedschaften in Erzeugerorganisationen für
ein und dasselbe Agrarerzeugnis ab. Erzeugergemeinschaften geben sich Satzungen, in denen auch die sogenannte Andienungspflicht geregelt wird. Sie dient dazu,
dass eine Erzeugergemeinschaft von einem Landwirt
eine möglichst große Menge des erzeugten Produktes erhält, um diese dann gebündelt vermarkten zu können. In
fast allen derzeit bestehenden Erzeugergemeinschaften
beträgt diese Andienungspflicht 100 Prozent des Agrarerzeugnisses. Es gibt aber bereits Ausnahmen für
geringfügigen „Ab-Hof-Verkauf“. Ein Landwirt kann
aufgrund seiner Zustimmung zur Satzung der Erzeugergemeinschaft nicht ein und dasselbe Produkt an mehrere
Erzeugergemeinschaften liefern. Es sollte jedoch möglich bleiben, zukünftig die Satzungen auch in der Andienungspflicht flexibler zu gestalten. Ein Verbot von
vornherein lässt später keine neuen Organisationsformen und Flexibilität der Landwirte zu. Hier sollte auf
Vorgaben von gesetzgeberischer Seite verzichtet werden; dies kann der Markt selbst regeln. Auch die Festlegung von Mindestmengen, Mindestmarktwerten und
Mindestanbauflächen sehen wir Liberale kritisch. Erzeugergemeinschaften brauchen eine bestimmte Größe,
um sich auf dem Markt etablieren zu können; aber sie
sind selbst dafür verantwortlich, tragende Strukturen
aufzubauen. Hier ist ein weiterer Einsatz auf europäischer Ebene notwendig.
Mit dem Agrarmarktstrukturgesetz sollen auch die
gesetzlichen Grundlagen für Erzeugergemeinschaften
und Branchenverbände aus anderen Landwirtschaftsbereichen an neues EU-Recht angepasst werden. In
Deutschland gibt es bereits starke landwirtschaftliche
Branchenverbände, anders als in anderen EU-Mitgliedstaaten. Deshalb gilt es, die bewährten Strukturen an die
jetzige Rechtslage anzupassen; neue Organisationsformen sind hier nicht notwendig. Die Gründung und
Entwicklung des Bundesverbandes deutscher Milchviehhalter, BDM, hat, neben bestehenden Organisationen,
exemplarisch gezeigt, dass bei uns neue Branchenorganisationen entstehen können. Eine Vorgabe durch die
Politik ist nicht notwendig.
Mit dem neuen Agrarmarktstrukturgesetz stärken wir
den Landwirt als Erzeuger und seine Position gegenüber der Verarbeitungsebene und dem Handel. Gleichzeitig verbessern wir die Kommunikation mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Wir schaffen einen
Rechtsrahmen, in dem unternehmerische Landwirte
dabei unterstützt werden, ihr Einkommen am Markt zu
erwirtschaften.
Das in Brüssel beschlossene Milchpaket zur Verbesserung der Situation am Milchmarkt bildet die Grundlage für den hier vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung. Es ist offensichtlich, dass im Bereich der
Milcherzeugung der Markt nicht funktioniert.
In regelmäßigen Abständen führt die Entwicklung an
den Absatzmärkten für Milchprodukte zu existenziellen
Bedrohungen bei den Erzeugerbetrieben. Die letzte
große Krise aus den Jahren 2007/2008 ist noch nicht
vergessen.
Das strukturelle Überangebot an Milch ist grundsätzlich unverändert, auch wenn hier und da der Export gestiegen ist und von den strukturellen Problemen am innereuropäischen Markt ablenkt.
Warum ist das so? Warum funktioniert die Liberalisierung und die Globalisierung der Märkte nicht? WaZu Protokoll gegebene Reden
rum produzieren die Milchviehbetriebe auf Teufel komm
raus, egal ob die Preise steigen oder sinken? Warum
reagieren die Erzeuger nicht auf die Marktlage? Warum
schränken sie ihr Angebot an Milch nicht ein, wenn die
Preise niedrig sind, das heißt, die Kosten nicht gedeckt
werden können, und weiten es aus, wenn Verbrauch und
Nachfrage steigen? Das wäre doch marktgerechtes Verhalten?
Es ist im Grunde ganz einfach: Es gibt keinen fairen
Milchmarkt, in dem sich Erzeuger, Verarbeiter und
Händler auf Augenhöhe begegnen. Ein tatsächlicher
Markt im idealen Sinne verlangt aber gerade nach Verhandlungen auf Augenhöhe. Diese sind aber strukturell
nicht annähernd gegeben. Rund 80 000 Milchviehbetrieben stehen 100 Molkereien und diesen wiederum
10 große Einzelhandelsketten in der Lebensmittelvermarktung gegenüber. Da ist völlig klar, wie die Machtverhältnisse und damit die Preisgestaltung aussehen.
Als Erzeuger muss ich entweder möglichst viel Milch
liefern, auch wenn der Preis nicht kostendeckend ist, um
damit zumindest einen Teil meiner Ausgaben zu decken,
oder ich ziehe mich komplett zurück und gebe die Milchviehhaltung auf. Die verbleibenden Betriebe versuchen
durch Kostensenkung und Wachstum, das Notwendige
zum Überleben zu erwirtschaften, was häufig zu hoher
Selbstausbeutung und Überschuldung führt.
Das genau ist der Grund, warum die Milchmenge
sich kaum verändert, obwohl die Zahl der Erzeugerbetriebe ständig schrumpft. Wachsen oder Weichen, diese
Devise des sogenannten Strukturwandels bestimmt nach
wie vor das Geschäft. Die Betriebe, die heute noch
Milch erzeugen, haben faktisch keinen Einfluss auf die
Angebotsmenge und damit keinen Einfluss auf die Preisbildung.
Genau das müsste ihnen aber mit dem Milchpaket der
EU ermöglicht werden! Das ist und bleibt eine zentrale
Forderung der Milchbäuerinnen und -bauern. Konkret
müsste das bedeuten: keine vertragliche Festlegung auf
nur eine Molkerei, sondern die Möglichkeit, die Angebotsmenge zu variieren und auch an verschiedene Abnehmer zu verkaufen.
Die Linke unterstützt die Anliegen der Milcherzeuger
für eine wirksame Angebotsbündelung und Mengensteuerung durch sie selbst. Wenn das Milchangebot die
Nachfrage übertrifft, muss es eben möglich sein, das Angebot zurückzufahren und darüber die Preisbildung zu
beeinflussen, ohne dass die Abnehmer dies sofort mit
dem Rückgriff auf andere Angebote aus dem Weltmarkt
aushebeln können, um damit wieder den Preis zu drücken.
Nur ein funktionierender Milchmarkt kann die auch
ökologisch und sozial wichtige Milcherzeugung absichern, und zwar viel besser als alle direkten oder indirekten politischen Interventionen. Das hat die Krise aus
den Jahren 2007/2008 gezeigt. Es wurde deutlich, wie
begrenzt wirksam finanzielle Hilfen sind. Sie können
prinzipiell nicht das Marktversagen in Form einer völlig
ungleichen Machtverteilung am Markt kompensieren.
Die agrarmarktrechtlichen Bestimmungen müssen dazu
beitragen, die ungleichen Machtverhältnisse am Milchmarkt zugunsten der Milchbäuerinnen und -bauern zu
korrigieren, damit diese eine Zukunft haben.
Dafür wird sich die Linke einsetzen.
Die Milcherzeugerinnen und Milcherzeuger in
Deutschland befinden sich seit Jahren in einer angespannten bis existenziell bedrohlichen wirtschaftlichen
Lage. Nun ist es ja nicht einmal so, dass Frau Aigner in
Sachen Milch nichts getan hat. Sie hat zum Beispiel
2009 mit der Milchkrise Wahlkampf gemacht. Sie hat
auch über 700 Millionen Euro Steuergelder in einem
Sonderprogramm für die Milchviehhalter - besser bekannt als Kuhschwanzprämie - versenkt, von dem heute
keiner mehr spricht, weil es verpufft ist wie ein Strohfeuer. Nur eines hat Frau Aigner nicht getan: Sie hat
nichts unternommen, um der strukturellen Krise der
Milcherzeugung etwas entgegenzusetzen.
Dabei hätten sich genug Gelegenheiten geboten: Als
das Milchpaket in Brüssel verhandelt wurde, hätte Frau
Aigner sich aktiv für die Forderungen der Milchbäuerinnen und Milchbauern einsetzen können; sie hat es nicht
getan. Als das Kartellamt offengelegt hat, dass der
Milchmarkt nicht funktioniert und die Milcherzeuger
massiv benachteiligt werden, hätte Frau Aigner das in
Regierungshandeln umsetzen müssen; sie hat es nicht
getan. Bei allen Haushaltsberatungen dieser Legislaturperiode haben wir den Antrag, eine Bündelungsoffensive Milch aufzulegen, eingebracht, um die Bildung von
Milcherzeugerzusammenschlüssen zu fördern. Dem hätten Sie zustimmen können, aber Sie haben es nicht getan.
Der Grund für Ihre Untätigkeit ist, dass Sie überhaupt nicht an einer wirklichen Lösung der Milchkrise
interessiert sind. In dem ungleichen Machtkampf zwischen den Milchbauern und den Molkereien stehen Sie
nicht auf der Seite der schwachen Bauern, sondern auf
der Seite der starken Industrie und des Handels. Das ist
angesichts der personellen Verstrickungen mit der Agrarindustrie bei CDU/CSU und FDP auch kein Wunder.
Dieses Lobbygeflecht wirkt bis in die Gesetzgebung hinein.
Es ist geradezu absurd, wie Sie aus dem EU-Milchpaket zur Stärkung der Erzeuger gegenüber den Molkereien ein Gesetz und eine Verordnung zur Stärkung der
Genossenschaftsmolkereien gegenüber den Milcherzeugern machen wollen. Genau das würde das von Ihnen
geplante Verbot von Doppelmitgliedschaften in einer
Molkerei und einer Erzeugergemeinschaft bedeuten. Wir
lehnen diese unsinnige Gängelei der Milcherzeuger entschieden ab, so wie es auch der Bundesrat getan hat.
Diese Bundesregierung hat bisher nichts für die
Milchbäuerinnen und Milchbauern getan, und sie will
auch künftig nichts für sie tun. In der Erwiderung der
Bundesregierung auf die Stellungnahme des Bundesrats
zu dem uns vorliegenden Gesetzentwurf steht es schwarz
auf weiß: Die Bundesregierung ist fest entschlossen,
nichts zu unternehmen, um in Brüssel die unsinnigen
Zu Protokoll gegebene Reden
und ungerechten Obergrenzen für Erzeugerzusammenschlüsse im Milchpaket nachzuverhandeln.
Statt in Brüssel ihre Arbeit zu machen, verzieht sich
Frau Aigner lieber schon mal nach Bayern, wohl auch,
um dem dauernden Beschuss aus den eigenen Reihen
wie beim gerade gescheiterten Tierschutzgesetz zu entgehen. Ein paar wohlklingende Versprechungen für die
Milchbäuerinnen und Milchbauern hat sie sicher auch
im Gepäck.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/11294 und 17/11354 an
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das sehe ich nicht. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des AZR-Gesetzes
- Drucksache 17/11051 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/11364 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({1})
Ulla Jelpke
Memet Kilic
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Punkt zu Protokoll zu geben.1) - Ich sehe, es
sind alle einverstanden, sodass wir zur Abstimmung
kommen.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11364, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11051 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können es sicher kaum fassen, aber wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 9. November 2012, 9 Uhr,
ein.
Ich freue mich, Sie dann wieder begrüßen zu können.
Die Sitzung ist geschlossen.