Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie zu unserer Plenarsitzung.
Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten,
möchte ich zunächst dem Kollegen Reinhold Sendker
zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den er gestern gefeiert hat. Alle guten Wünsche im Namen des gesamten
Hauses!
({0})
Nun müssen wir noch drei Wahlen durchführen:
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, den Kollegen
Dr. Michael Meister für eine weitere Amtszeit als Mitglied des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für
Wiederaufbau zu berufen. Die SPD-Fraktion benennt
für die neue Amtsperiode erneut den Kollegen Hubertus
Heil als Mitglied des Verwaltungsrates. Sind Sie mit beiden Vorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Kollegen Dr. Michael Meister
und Hubertus Heil für eine weitere Amtszeit als Mitglieder des Verwaltungsrates gewählt.
Für die neue Amtszeit des Beirates beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR gemäß § 39 Abs. 1
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes schlägt die FDP-Fraktion
vor, den Kollegen Patrick Kurth als Mitglied zu wählen. Darf ich auch zu diesem Vorschlag Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit
ist der Kollege Kurth für die neue Amtszeit als Mitglied
des Beirates gewählt.
({1})
Schließlich schlägt die SPD-Fraktion vor, als Nachfolgerin der ausgeschiedenen Kollegin Nicolette Kressl
die Kollegin Petra Hinz als stellvertretendes Mitglied in
den Beirat zur Auswahl von Themen für die Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag beim Bundesfinanzministerium zu wählen.
({2})
- Ich nehme mit besonderer Erleichterung zur Kenntnis,
dass Sie offenkundig auch die einschränkende Bemerkung, dass damit kein Zuschlag verbunden ist, demütig
akzeptieren. - Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin Petra Hinz „ohne Zuschlag“ für die neue Amtszeit
als Mitglied des Programmbeirates gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Soziale Situation der Kinder in Deutschland
verbessert in Zeiten christlich-liberaler Regierungspolitik
({3})
ZP 2 Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrech-
nungshofes
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Praxisgebühr sofort abschaffen
- Drucksache 17/11192 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Praxisgebühr jetzt abschaffen
- Drucksache 17/11141 -
c) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt abschaffen
- Drucksache 17/11179 24232
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 48
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Michael Hartmann ({4}),
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Europäische Harmonisierung im Datenschutz
auf hohem Niveau sicherstellen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/11144 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({5})Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen
des Vizekanzlers Dr. Rösler, das Betreuungsgeld koste viel Geld, sei nicht gegenfinanziert
und eine Bildungskomponente fehle völlig
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ({7}),
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Chancen nutzen - Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt einleiten
- Drucksachen 17/8346, 17/8642 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gemeinsam lernen - Inklusion in der Bildung
endlich umsetzen
- Drucksache 17/11143 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 4, 5, 22
und 24 abgesetzt.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs unserer Tagesordnung.
Schließlich darf ich noch auf mehrere nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam machen:
Der am 27. September 2012 ({9}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf und die mit diesem
verbundene Unterrichtung sollen zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes
- Drucksache 17/10744, 17/10797 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({11})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Der am 18. Oktober 2012 ({12}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({13}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und
anderer umweltrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/10957 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14})Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Gibt es Widerspruch hierzu im Ganzen oder zu einer
einzelnen der vorgetragenen Veränderungen? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist das hiermit so beschlossen.
Wir kommen nun zu unserem Zusatzpunkt 2:
ZP 2 Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes
Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über den Bundesrechungshof wählen der Deutsche Bundestag und der
Bundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag der
Bundesregierung den Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes.
Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 311 Ja-Stimmen erforderlich.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben vom
24. Oktober 2012 vor, den Kollegen Christian Ahrendt
zum Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes zu
wählen.
Ich gebe Ihnen einige Hinweise zum Wahlverfahren.
Für die Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlausweis,
den Sie bitte, soweit Sie das noch nicht getan haben, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen. Weiterhin benötigen
Sie den blauen Stimmzettel mit Wahlumschlag. Diese
Unterlagen erhalten Sie von den Schriftführerinnen und
Schriftführern an den Ausgabetischen vor den Wahlkabinen. Dort zeigen Sie bitte Ihren Wahlausweis vor.
Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihren
Stimmzettel nur in einer der Wahlkabinen ankreuzen und
dort in den Wahlumschlag legen. Andernfalls wäre die
Stimmabgabe ungültig. Die Wahl kann gegebenenfalls
vorschriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, darauf zu achten. Gültig sind nur Stimmzettel mit einem Kreuz bei „Ja“,
„Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind demzufolge
Stimmzettel, die entweder kein Kreuz oder mehr als ein
Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Übergeben Sie bitte, bevor Sie den Wahlumschlag in
eine der Wahlurnen werfen, Ihren Wahlausweis einem
der Schriftführer an der Wahlurne. Die Abgabe des
Wahlausweises dient als Nachweis der Teilnahme an der
Wahl. Kontrollieren Sie daher, ob der Wahlausweis Ihren
Namen trägt.
Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer
bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und mir zu
signalisieren, ob das jeweils in der erforderlichen Anzahl
der Fall ist. - Links fehlt noch ein Schriftführer.
Dann eröffne ich hiermit die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmzettel
abgegeben?
({15})
- Okay.
Zweiter Versuch: Haben nun alle anwesenden Mit-
glieder des Bundestages ihre Stimmzettel abgegeben? -
Das scheint der Fall zu sein.
Dann schließe ich hiermit den Wahlgang und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl geben wir Ih-
nen nach der Auszählung, während des nächsten Tages-
ordnungspunktes, bekannt.1)
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung
- Drucksache 17/10773 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({16})
- Drucksache 17/11174 Berichterstattung:Abgeordneter Max Straubinger
- Bericht des Haushaltsausschusses ({17})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11178 Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer ({18})Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({19})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({20}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger
Arbeit gleichstellen
- Drucksachen 17/7386, 17/11174 Berichterstattung:Abgeordneter Max Straubinger
Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Karl Schiewerling für die CDU/
CSU-Fraktion.
({21})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Union und FDP legen heute
einen Gesetzentwurf zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung vor.
({0})
Grund ist, dass wir seit 2003 im Bereich der geringfü-
gigen Beschäftigung keine Anhebung der Geringfügig-
keitsgrenze hatten und dass es um einen Inflationsaus-
gleich geht, was ein Stück Gerechtigkeit zu den in dieser
Zeit tatsächlich stattgefundenen Reallohnsteigerungen
herstellt.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass Minijobs
in der Diskussion sind. Minijobs sind nichts Neues. Vor
100 Jahren, 1911, wurde in der Reichsversicherungsord-
nung festgelegt, dass vorübergehende Dienstleistungen
versicherungsfrei blieben. 1977 wurde zum ersten Mal
der Begriff „geringfügige Beschäftigung“ eingeführt. 1) Ergebnis Seite 24238 A
1999 hatten wir die Angleichung zwischen Ost und
West. Im Rahmen dieser Angleichung war geklärt worden, dass die Menschen unter gleichen Bedingungen arbeiten sollen.
Die Entwicklung der Minijobs bekam allerdings einen Schub, und zwar 2003, als im Rahmen der Hartz-IIGesetze eine neue Regelung eingeführt wurde, nämlich
dass man zu seiner ordentlichen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung noch einen Minijob dazu haben konnte. Seitdem ist die Zahl der Minijobs explosionsartig auf 2,5 Millionen gestiegen.
Minijobs sind geschaffen worden, um Menschen aus
der Schwarzarbeit herauszuholen.
({1})
Sie sind geschaffen worden, um das einzubeziehen, was
bisher unter steuerlichen und sozialrechtlichen Gesichtspunkten nicht berücksichtigt wurde, und um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich in der Sozialversicherung abzusichern.
Unser Gesetz, dessen Entwurf Ihnen vorliegt, sieht
eine Erhöhung der Entgeltgrenze bei der geringfügigen
Beschäftigung von 400 auf 450 Euro und beim Gleitzonenentgelt von 800 auf 850 Euro vor. Gleichzeitig legen
wir mit diesem Gesetz fest, dass Menschen, die eine geringfügige Beschäftigung ausüben, von Anfang an rentenversicherungspflichtig sind; das ist neu. Bisher sind
sie es nicht. Bisher müssen sie ausdrücklich erklären,
wenn sie es sein wollen. Mit diesem Gesetz ändern wir
die geltende Regelung. Die Betreffenden müssen ausdrücklich erklären, dass sie nicht rentenversicherungspflichtig sein wollen. Ich halte das für einen wichtigen
Schritt im Bereich der Sozialpolitik. Ich glaube, dass wir
vielen Menschen in diesem Land damit einen Gefallen
tun und so das Bewusstsein dafür, dass man mit einem
Minijob den Schutz der Rentenversicherung bekommen
kann, schärfen. Ich hoffe sehr, dass es viele Menschen
gibt, die die Chancen, die damit verbunden sind, tatsächlich erkennen und nutzen.
({2})
In Zukunft wird es so sein, dass nach einer bestimmten Karenzzeit der Arbeitgeber die Verantwortung dafür
trägt, dass die Arbeitnehmer, die er im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses einstellt, über
die Vorteile der Rentenversicherung informiert werden. Er
muss dokumentieren, dass er die Unterlagen der Knappschaft ausgehändigt hat und seiner Informationspflicht
nachgekommen ist. Die Vorteile der Rentenversicherung
sind eindeutig. Mit der Rentenversicherungspflicht erwirbt man schon in jungen Jahren Rentenanwartschaften. Man erwirbt über diesen Weg die Möglichkeit,
Schutz vor Invalidität zu bekommen. Man hat zudem ein
Recht auf Rehabilitation. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung eröffnet den Arbeitnehmern die
Möglichkeit, am Riester-Sparen teilzunehmen. Ich halte
das für einen wichtigen Fortschritt. In der Anhörung ist
dieser Schritt einhellig von allen begrüßt worden.
({3})
Wir haben heute 7,3 Millionen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Davon üben 2,5 Millionen Beschäftigte die geringfügige Beschäftigung als Nebenjob aus.
Das heißt, sie haben eine ordentliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und verdienen sich darüber hinaus im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung Geld hinzu. Ich weiß, dass schnell gesagt wird, das
sei Ausdruck purer Armut und Verelendung. Könnte es
sein, dass die Menschen die Freiheit, die sich hier ergibt,
gerne nutzen wollen? Könnte es sein, dass sie die Möglichkeit nutzen wollen, sich über diesen Weg den ein
oder anderen Wunsch zu erfüllen? Aber es kann auch
sein - das will ich nicht in Abrede stellen -, dass die
Menschen über diesen Weg die Möglichkeit haben, ihre
finanziellen Grundlagen bzw. ihr Familieneinkommen
zu verbessern.
Insgesamt ist festzustellen, dass von den 7,3 Millionen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen etwa
20 Prozent Rentnerinnen und Rentner und etwa 20 Prozent Jugendliche, Schüler und Studenten sind. Das
macht deutlich, dass es gerade in diesem Bereich trotz
der große Spannbreite viele Menschen gibt, die ein Interesse haben, dass Minijobs als gestaltende Möglichkeit
erhalten bleiben.
({4})
Natürlich will ich nicht in Abrede stellen, dass Minijobs
Gefahren mit sich bringen, dass es Branchen gibt, die
glauben, allein über den Weg der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Ich
halte das auch unter betrieblichen Gesichtspunkten für
einen völligen Irrglauben. Das wird nicht gut gehen. Der
Handelsverband Deutschland hat uns mitgeteilt, dass nur
2 000 der in den letzten Jahren entstandenen 26 000 Beschäftigungsverhältnisse Minijobs sind; dem stehen
24 000 ordentliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gegenüber.
({5})
Das zeigt: Die Branche beschreitet in diesem Bereich
neue Wege. Dies begrüßen wir ausdrücklich.
({6})
Ich hoffe sehr, dass die Menschen die Möglichkeiten
nutzen, die wir ihnen eröffnen, und dass wir sie auf ihrem weiteren Weg in eine sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung ein gutes Stück unterstützen. Immerhin
hat ein Drittel aller Minijobber den Weg in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gefunden.
({7})
- Frau Kollegin Ferner, wenn zwei Drittel den Weg dorthin nicht gefunden haben, dann heißt das nicht, dass sie
ihn nicht gehen durften. Viele von ihnen wollten ihn
auch nicht gehen,
({8})
weil sie sich bewusst für diesen Schritt entschieden haben.
Ich hoffe sehr, dass der jetzt eingeschlagene Weg zu
einer guten Entwicklung führen wird.
({9})
Wir bitten Sie um Ihre Unterstützung unseres Gesetzentwurfs.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentribüne hat die Präsidentin des Parlaments der Republik
Island, Frau Asta Johannesdottir, mit ihrer Delegation Platz genommen.
({0})
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
begrüße Sie im Namen des ganzen Hauses. Für Ihren
Aufenthalt in Deutschland, Ihre Besuche sowie für die
weiteren Gespräche wünschen wir Ihnen alles Gute. Wir
freuen uns über die immer enger werdenden Verbindungen zwischen unseren beiden Parlamenten. Vielen Dank
für Ihr Interesse.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme für
die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben folgende Tatsache zu beobachten:
In dieser Legislaturperiode wurde uns bislang von der
Arbeitsministerin lediglich eine Handvoll von Gesetzen
vorgelegt. Jetzt aber geht es wahrlich Schlag auf Schlag,
ein Gesetzentwurf jagt den anderen - zum Rentenbeitrag, zur Unfallversicherung, zu den Minijobs.
({0})
Sogar bei den Regelungen für die Bezirksschornsteinfeger wird an den Stellschrauben gedreht. Das artet in geradezu hektischen Aktionismus aus. Aber Sie wissen:
Mit hektischem Aktionismus geht immer schlechte Qualität einher.
({1})
Man glaubt nicht, dass diese Arbeitsministerin sage und
schreibe drei Jahre Zeit hatte, um über die erwähnten
Gesetzentwürfe nachzudenken.
Heute beraten wir abschließend über das Thema Minijobs. Am Freitag hat Ministerin Schröder auf einer Konferenz des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend 45 Minuten über die Minijobs gesprochen, den eigenen Gesetzentwurf jedoch noch nicht einmal erwähnt.
Die Unionsabgeordnete Winkelmeier-Becker hat gesagt: Dieser Gesetzentwurf ist nicht das Konzept der
Unionsfraktion. - Herr Schiewerling, bei Ihnen hat sich
das etwas anders angehört. Auf der Webseite des Familienministeriums - Sie gestatten mir, dass ich zitiere heißt es:
Im Idealfall sind Minijobs ein Übergang in die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Häufig
werden sie aber diesem Anspruch nicht gerecht.
… Die Attraktivität einer Beschäftigung im Minijob … wandelt sich mit der Zeit oftmals in Ernüchterung über Entwicklungschancen, Einkommensperspektiven und Alterssicherungsansprüche um.
Im ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung
aus dem Jahr 2011 heißt es, Lebensverläufe in Minijobs
seien desaströs.
({2})
Meine Damen und Herren in der Union, ist das nicht
ziemlich eindeutig? Für Rentner und Studenten mögen
Minijobs eine gewisse Attraktivität haben. Dabei wäre
es manchmal sinnvoller, wenn auch Studenten einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen.
({3})
Aber für die meisten anderen Menschen werden Minijobs
zur biografischen Sackgasse. Minijobber erhalten weitaus weniger Stundenlohn. Im Jahr 2006 waren es im
Durchschnitt 9 Euro; Vollzeitbeschäftigte hatten 18 Euro.
Es gibt Diskriminierung bei bezahltem Urlaub oder beim
Mutterschutz. Im Jahr 2004 erhielt nicht einmal jeder
Dreizehnte Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall; von
den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten waren es
weitaus mehr. Es gibt Rentenarmut bei Frauen vor allen
Dingen aus dem Westen. Ich habe mir gestern die Zahlen
aus der AVID-Studie herausgesucht. 50 Prozent Frauen
im Westen haben im Durchschnitt sieben Jahre einen Minijob in ihrer Erwerbsbiografie. Das bedeutet massive
Einbußen bei der Altersrente.
({4})
10 Prozent der Frauen üben 13, 14, 15 oder sogar
16 Jahre einen Minijob aus.
({5})
Viele Frauen haben oft keine Wahl - gerade nach der
Babypause -, einen anderen Job als einen Minijob zu bekommen. Im Handel sind über viele Jahre sozialversicherungspflichtige Jobs vernichtet worden. Genauso
sieht es in der Gastronomie aus. Wenn Sie sagen, Herr
Schiewerling, im Bereich des Handels habe sich etwas
verändert, dann kann ich nicht nachvollziehen, dass die
Zahl der Minijobs dennoch weiter ansteigt.
({6})
All diese Probleme kommen aber in Ihrem Gesetzentwurf nicht vor. Sie machen zweierlei: Sie nehmen eine
Ausweitung der Minijobgrenzen vor und sorgen damit
für eine Verfestigung dieser katastrophalen Beschäftigungsform. Sie sagen, es solle eine Versicherungspflicht
mit der Möglichkeit des Opt-out geben, schreiben aber
gleichzeitig, dass diese Möglichkeit so gut wie gar nicht
in Anspruch genommen werden wird.
({7})
Die Erhöhung der Schwellenwerte ermöglicht es noch
leichter, normale Jobs in Minijobs zu zerlegen.
({8})
Es geht angeblich um eine Anpassung an die allgemeine
Einkommensentwicklung. Aber der Durchschnittsverdienst liegt nur bei 220 Euro. Es ist eine Illusion, davon
auszugehen, dass Arbeitgeber die Stundenlöhne erhöhen
werden, und auch Minijobber wollen tatsächlich höhere
Stundenzahlen haben; wir haben dies erst in der Sachverständigenanhörung vernommen. Tatsächlich wollen
sie circa 20 Stunden und nicht lediglich 12 Stunden in
der Woche arbeiten.
Wir brauchen etwas anderes. Wir brauchen eine
Rückführung der Minijobs.
({9})
Es geht im Prinzip um Folgendes: Wir brauchen eine
Änderung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes, sodass
Teilzeitbeschäftigung auch befristet ausgeübt werden
kann und Frauen so wieder einer regulären Vollzeitbeschäftigung nachgehen können. Es gibt im Teilzeit- und
Befristungsgesetz einen Rechtsanspruch auf Aufstockung der Arbeitszeit. Leider kennt niemand diesen Anspruch; vielleicht müssen wir ihn noch genauer und besser formulieren, damit sich daraus mehr Chancen
ergeben.
Wir sollten überlegen, das Nachweisgesetz zu ändern,
weil gerade Minijobber häufig keine Arbeitsverträge bekommen. Wir sollten überlegen, dies - genauso wie im
Berufsausbildungsgesetz - strafbewehrt zu gestalten,
also Verstöße mit einer Geldbuße zu belegen.
({10})
Wir sollten, damit die Hürde bei 400 auf 401 Euro leichter überwunden wird, über die Einführung einer Gleitzeitzonenregelung nachdenken, wie es beispielsweise
das Institut Arbeit und Qualifikation vorsieht.
Meine Damen und Herren, zuallerletzt sei noch etwas
zur Rentenversicherung gesagt: Ihre angebliche Absicherung verkommt zur Marginalie. Ihr Tiger ist nicht nur
zahnlos, er ist ein pazifistischer Vegetarier.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Johannes Vogel für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Entgegen dem, was hier jetzt wieder von der Opposition
behauptet wurde, sind Minijobs ein Teil des erfolgreichen deutschen Arbeitsmarkts, der von vielen Menschen
gebraucht und gewollt wird. Das werden Sie nicht wegdiskutieren können.
({0})
Das ist so, weil Minijobs Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen die Möglichkeit geben, sich
unkompliziert etwas dazuzuverdienen. Da sind in der Tat
die Studenten. Ich kenne das aus eigener Erfahrung:
Auch ich habe als Schüler und Student schon im Minijob
dazuverdient. So ist es auch heute. So sind heute Minijobber zum Beispiel in großer Zahl Menschen wie eine
Studentin, die nebenher kellnert, um sich das Studium zu
finanzieren.
Minijobs sind aber noch mehr. Sie eröffnen zum Beispiel einem Feuerwehrmann die Möglichkeit, am Wochenende im Cateringservice noch tätig zu sein und sich
etwas dazuzuverdienen. Sie stellen zum Beispiel auch
eine Möglichkeit für eine Seniorin dar, die im Haushalt
ihrer Nachbarin noch aushelfen will, dies ebenso unkompliziert zu tun ({1})
- weil sie es will -, um nur drei Beispiele aus meinem
persönlichen Bekanntenkreis zu nennen. Weil Minijobs
den Menschen diese Möglichkeiten bieten und gewollt
und gebraucht werden, ist es auch richtig und nur fair,
nach zehn Jahren einen Inflationsausgleich zu ermöglichen und die Grenze auf 450 Euro anzuheben.
({2})
Es ist auch richtig, dass wir das Versicherungsprinzip
in der Rentenversicherung umkehren und einen Wechsel
von Opt-in zu Opt-out vornehmen. So wird dafür gesorgt, dass der, der sich keine Gedanken macht, automatisch in der Rentenversicherung abgesichert ist und zum
Beispiel eine Erwerbsminderungsrente und die RiesterFörderung in Anspruch nehmen kann. Gleichzeitig wird
aber niemand, der das in seiner Lebenssituation nicht
will, gezwungen, mehr abzuführen als heute. Das ist eine
maßvolle Regelung, und auch das hat uns die Anhörung
am vergangenen Montag bestätigt, wie Herr Kollege
Schiewerling schon gesagt hat.
Schauen wir uns doch einmal an, was den Minijobs
alles vorgeworfen wird - Sie haben das ja eben auch
wieder ausgeführt -: Es kam eben bei Ihnen, liebe Frau
Kollegin Kramme, zum Beispiel die Behauptung, Minijobs hätten in einigen Branchen dazu geführt, dass
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung durch Minijobs ersetzt wurde. Machen wir einmal einen Realitätstest. Interessanterweise beschäftigen drei Viertel der Arbeitgeber, die Minijobber haben, überhaupt nur drei
Minijobber. Um eine sozialversicherungspflichtige
Stelle zu ersetzen, brauchten sie schon vier. Das kann
also nicht aufgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Johannes Vogel ({3})
({4})
Folgerichtig ist in den vergangenen Jahren die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stärker gestiegen als
die Zahl der Minijobs. Dies führt dazu, dass der Anteil
der Minijobs am Arbeitsmarkt eben nicht zunimmt. Weil
Sie das nicht glauben, habe ich Ihnen einmal die Grafik
der Minijobzentrale mitgebracht. Hier ist die Kurve des
Anteils der Minijobs an der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu sehen. Gäbe es eine Ersetzung,
müsste die Kurve hochgehen; sie ist aber flach.
({5})
Das zeigt: Ersetzung sieht anders aus, sie findet einfach
nicht statt.
({6})
Der zweite Vorwurf, der immer wieder erhoben wird,
lautet, Minijobs würden niedrig entlohnt. Da zitiere ich,
weil Sie es uns nicht glauben, einmal das Statistische
Bundesamt. Ihm werden Sie ja wohl glauben und es
nicht in Abrede stellen.
({7})
Es sagt uns:
Für geringfügig Beschäftigte ist zu beachten, dass sie
im Unterschied zu anderen Beschäftigungsformen
kaum Abzüge für Lohnsteuer und Sozialversicherung haben. Viele geringfügig Beschäftigte stehen
deshalb netto besser da, als der am Bruttoverdienst
gemessene … Anteil an Niedriglohnbeziehern vermuten lässt.
({8})
Der mittlere Nettoverdienst von Minijobbern liegt bei
70 Prozent des Durchschnittsverdienstes. Die Kenner im
Ausschuss wissen, dass dies oberhalb der Niedriglohnschwelle liegt. Im Klartext, auf Deutsch: Minijobs haben
mit Niedriglohn im Regelfall eben nichts zu tun,
({9})
und das, obwohl Minijobs ja nun in aller Regel nicht in
der Neurochirurgie angeboten werden. Das sollten Sie
zur Kenntnis nehmen.
({10})
Das sagt nicht die Koalition, sondern das sagt uns das
Statistische Bundesamt.
Das dritte Argument, das immer genannt wird, lautet,
Minijobs stellten eine Sackgasse für Frauen dar.
({11})
Damit muss man sich ernsthaft beschäftigen, weil wir
alle wollen, dass der Anteil der Frauen an der Erwerbstätigkeit gerade in Zeiten des Fachkräftemangels hochgeht.
({12})
Nur, stellen die Minijobs hier das Problem dar? Da muss
man sich erst einmal vergegenwärtigen, dass die übergroße Mehrheit der Minijobber nicht mehr als einen
Minijob ausüben will; das zeigen uns alle Umfragen. Sie
sind in einer Lebenssituation, in der sie nur einen Minijob wollen. Ein Drittel der Minijobber ist übrigens unter
25 oder über 60 Jahre alt. Sie wollen nur einen Minijob
machen.
({13})
Die Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen ist unter den
Minijobbern am stärksten vertreten. Das sind in der Regel Studenten, die nur einen Minijob machen wollen.
Das dürfen Sie auch nicht vergessen, wenn Sie sich dieses Instrument anschauen.
In der Tat sind Frauen unter den Minijobbern - die
gerne mehr arbeiten würden, das ist die Minderheit - in
der Mehrheit; das stimmt.
({14})
Die Frage ist aber doch: Liegt das an den Minijobs, dass
sie nicht mehr als einen Minijob ausüben können, obwohl sie mehr arbeiten wollen? Liegt das nicht an etwas
anderem, Frau Kollegin Ferner, zum Beispiel daran, dass
es nicht genug Betreuung gibt? Oder liegt das nicht zum
Beispiel daran, dass es immer noch die Steuerklasse V
gibt?
({15})
Und sollten wir das dann nicht ändern? Da könnten wir
gemeinsam agieren. Nur dafür kann der Minijob nichts.
Insofern ist es falsch, dass Sie hier die Minijobs diskreditieren; das bringt nichts.
Ich habe es Ihnen schon in erster Lesung gesagt:
Wenn Ihr Auto einen Motorschaden hat und Sie es sich
nicht leisten können, den Motor auszutauschen, dann
wechseln Sie auch nicht das Getriebe aus. Das wäre reiner Aktionismus und würde nichts zur Lösung des Problems beitragen. Ein solcher Aktionismus würde aber
auf dem Rücken der Minijobber ausgetragen, die einen
Minijob wollen und brauchen. Sie sollten mit solchen
Argumenten nicht die Minijobs diskreditieren.
({16})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich halte abschließend fest: Die Kritikpunkte betreffend die Minijobs halten einer Überprüfung nicht stand.
Sie sollten die These, auf dem deutschen Arbeitsmarkt
sei alles schlecht, überdenken - Sie versuchen immer
wieder, dies anhand der Minijobs zu belegen - und die
Diskussion nicht auf dem Rücken der Minijobber austra24238
Johannes Vogel ({0})
gen. Wir machen das nicht, nehmen stattdessen den
überfälligen Inflationsausgleich vor und erhöhen die
Verdienstgrenze auf 450 Euro; wir werden das machen.
Ich finde es schade, dass Sie nicht zustimmen. Für die
7 Millionen Minijobber draußen im Land ist es in jedem
Falle das Richtige.
Vielen Dank.
({1})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
komme ich zu unserem Zusatzpunkt 2 zurück und gebe
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der Wahl des Vizepräsidenten des
Bundesrechnungshofes bekannt: abgegebene Wahlausweise 561, abgegebene Stimmen 561. Davon haben mit
Ja gestimmt 449,
({0})
mit Nein haben gestimmt 55. 57 Mitglieder des Hauses
haben sich der Stimme enthalten.1) Ungültige Stimmen
hat es nicht gegeben. Damit hat der Kollege Christian
Ahrendt die erforderliche absolute Mehrheit erreicht. Ich
darf dem Kollegen Ahrendt zu seiner Wahl durch den
Deutschen Bundestag die herzlichen Glückwünsche des
Hauses aussprechen.
({1})
Das Ergebnis der Wahl werde ich der Frau Bundeskanzlerin und dem Herrn Präsidenten des Bundesrates zu
weiterer Veranlassung mitteilen.
Wir setzen nun die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 3 fort. Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana
Golze für die Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe einmal ein paar Zeitungsüberschriften mitgebracht, übrigens nicht aus der taz oder der jungen Welt. Zum Beispiel titelte Die Welt am 3. Oktober:
„Studie: Minijobs sind ‚Falle‘ für Frauen“. Die Rheinische Post erklärte am gleichen Tag: „Minijobs verschärfen den Fachkräftemangel“. Die Welt titelte am 18. Oktober: „DGB warnt Bundesregierung vor Ausweitung
der Minijobs“. Der Stern schrieb: „Zahl der Zweitjobs
verdoppelt - Regierung meint: Kein Anlass zur Sorge“.
Im Internetportal Telepolis ist gar vom „gescheiterten
Arbeitsmodell Minijob“ die Rede. Ich finde, das sind
keine guten Schlagzeilen für einen Gesetzentwurf der
Regierung, den sie doch als so wichtig erachtet und in
den höchsten Tönen lobt.
Worüber reden wir also? Wir sprechen über 7 Millionen Menschen, die in Minijobs beschäftigt sind, davon
4,8 Millionen ausschließlich in einem Minijob. Fast eine
halbe Million davon, 477 000, muss ihren Minijoblohn
mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken. Die Mehrheit der
Minijobbenden sind Frauen. Sie arbeiten als Reinigungskräfte, in der Gastronomie, in Hotels, im Einzelhandel
und zunehmend auch in Gesundheitsberufen.
Die Koalitionsfraktionen wollen nun die Verdienstgrenze bei der geringfügigen Beschäftigung anheben.
Aber ich sage: Das ist die falsche Medizin.
({0})
Denn nicht die Löhne der Minijobbenden werden steigen, sondern die Zahl der Minijobs wird zunehmen, mit
all den Problemen, die damit einhergehen. Seit der Reform im Jahr 2003 unter Rot-Grün haben sich die Probleme verschärft, und zwar unter allen Regierungskonstellationen. Ich möchte auf drei Schwerpunkte der
Fehlentwicklungen eingehen.
Erstens. Minijobs bedeuten organisiertes Lohndumping; denn sie werden fast immer unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt. Laut Angaben des Statistischen
Bundesamtes werden mehr als 80 Prozent der Minijobber unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt, Herr
Vogel.
({1})
Schon jetzt ist das Verhältnis von Minijobs zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung eins zu fünf. Wenn
bereits 20 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse Minijobs sind, sollte dies Anlass zu großer Sorge sein über
den Verfall der regulären Strukturen am Arbeitsmarkt.
({2})
Es hat sich ein subventionierter Parallelarbeitsmarkt
gebildet, der dringend abgeschafft werden muss.
({3})
Was macht die Regierung? Frau von der Leyen weitet
das Problem durch die vorgesehene Neuregelung aus,
statt es zu bekämpfen. Das ist mir vor allem deshalb ein
Rätsel, weil sie in Talkshows immer mit sorgenvollem
Gesicht sagt, dass man doch etwas dagegen tun müsse
und dass gerade Frauen davon betroffen seien.
Herr Vogel, ich möchte ihr Beispiel vom Feuerwehrmann aufgreifen, der sich am Wochenende bei einem
Cateringservice etwas dazuverdient.
({4})
Mehr als 2 Millionen in Vollzeit arbeitende Menschen
wie der Feuerwehrmann müssen sich nebenbei mit einem Minijob etwas dazuverdienen.
({5})
Haben die alle feuchte Wände zu Hause? Können die
ihre Familienmitglieder nicht mehr ertragen? Haben die
zu viel Zeit? Ist das ihr Hobby?1) Anlage 2
({6})
- Ja, sie arbeiten gerne. Ich bin mir aber sicher, dass der
von Ihnen als Beispiel genannte Feuerwehrmann gerne
ein Gehalt hätte, von dem er leben und mit dem er seine
Familie ernähren kann.
({7})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Feuerwehrmann
als Hobby am Wochenende bei einem Cateringservice
arbeitet. Seine Kinder bekommt er dann überhaupt nicht
mehr zu Gesicht.
Um Menschen wie dem Feuerwehrmann zu helfen,
brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Nur so bekommen die Menschen ein Gehalt,
von dem sie leben können. Es darf nicht sein, dass sie
trotz Arbeit arm sind.
({8})
Herr Vogel, was Sie hier vortragen, ist so was von lebensfremd. Ich bitte Sie: Sprechen Sie einmal mit Ihrem
Feuerwehrmann!
({9})
- Das können wir gerne machen, Herr Vogel.
Minijobs sind bei den Arbeitgebern nicht nur wegen
der niedrigen Löhne beliebt, sondern auch wegen der geringen Standards, die sich eingeschliffen haben. Zum
Beispiel gibt es in der Regel keine Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall. Der Mutterschutz ist nur bedingt gegeben. Bezahlter Urlaub für Minijobbende ist die Ausnahme und nicht die Regel. Dadurch sparen die Arbeitgeber noch mehr Kosten. Das ist zwar gesetzwidrig, aber
die Minijobber machen den Mund nicht auf, weil sie die
400 Euro brauchen. Übrigens bekommen die meisten
nicht einmal 400 Euro. Im Durchschnitt bekommen sie
260 Euro, weil die Minijobs eben so schlecht bezahlt
sind. Sie machen den Mund nicht auf, weil sie diesen
Zusatzverdienst brauchen, weil sie finanziell von ihm
abhängig sind. Das darf nicht sein! Wir dürfen keine Beschäftigten erster und zweiter Klasse in einer demokratischen Gesellschaft wie der unseren zulassen, und deshalb müssen Minijobs abgeschafft werden.
({10})
Zweiter Schwerpunkt. Minijobs sind aus gleichstellungspolitischer Sicht eine Katastrophe; denn zwei Drittel der Minijobbenden sind Frauen. Sie bewegen sich damit beruflich in einer Sackgasse mit hohen persönlichen
Risiken. Selbst im Gleichstellungsbericht der Bundesregierung - bitte hören Sie auf Ihre Sachverständigen! werden Minijobs als nicht mehr zeitgemäß eingeschätzt.
Die Frauen verbleiben in wirtschaftlicher Abhängigkeit,
entweder von ihrem Mann oder vom Jobcenter. Beides
ist für Frauen nicht gerade attraktiv.
({11})
Altersarmut ist für sie vorprogrammiert. Deshalb besteht
dringender Handlungsbedarf. Die Anhebung der Verdienstgrenzen führt zu einer Ausweitung dieser Form
prekärer Beschäftigung. Wir müssen aufhören, die Minijobs auszubauen; vielmehr müssen wir sie mit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gleichsetzen.
({12})
Dritter Schwerpunkt. Minijobs bedeuten Altersarmut. Auch die Einführung einer Rentenversicherungspflicht für Minijobs ändert nichts daran, dass Minijobs
Minilöhne bedeuten und daher Minirenten die Folge
sind. Die Deutsche Rentenversicherung hat festgestellt:
Derzeit wird für einen Minijob, der monatlich mit
400 Euro vergütet wird - wenn denn überhaupt so viel
gezahlt wird -, ein Rentenbeitrag von 3,18 Euro im Jahr
erworben. Mit der neuen Regelung sind wir bei
4,15 Euro - im Jahr!
({13})
Ich habe im März die Bundesregierung gefragt, was
sie zu diesen Zahlen der Deutschen Rentenversicherung
sagt. Mir wurde schriftlich bestätigt: Nach 45 Jahren in
einem Minijob mit 450 Euro Verdienst bekommt man
eine Rente von 205,70 Euro.
({14})
Da wir wissen, dass vor allem Frauen lange in Minijobs
verharren, und da wir wissen, dass die Minijobs kein
Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt, zu einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung sind,
wissen wir auch, auf welche Katastrophe - Altersarmut
von Frauen - wir mit diesen Minijobs zusteuern. Das
kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein.
({15})
Daran müssen wir etwas ändern, und wir dürfen das Problem nicht auch noch verschärfen.
Die Koalitionsfraktionen gehen übrigens davon aus
- das zeigt ihr Gesetzentwurf -, dass 90 Prozent der Minijobbenden das sogenannte Opt-out-Verfahren wählen
werden, das heißt, dass sie darauf verzichten, in die Rentenversicherung einzuzahlen, weil sie von dem wenigen,
was sie haben, nicht auch noch etwas in die Rentenversicherung einzahlen können.
Das zeigt, dass mit diesem Vorschlag nur Sand in die
Augen gestreut wird. Das ist keine Verbesserung für die
Rente. Das ist kein Ausweg aus der Altersarmut. Mit
Minijobs kann man keine eigenständige Altersvorsorge
aufbauen. Auch das ist ein Grund, sie abzuschaffen.
({16})
Wir müssen diese Fehlanreize beseitigen. Wir müssen
Minijobs endlich mit sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung gleichsetzen. Das entspricht auch dem
Wunsch der Beschäftigten, gerade dem von Frauen. Zwei
Drittel der minijobbenden Frauen, Herr Vogel - er ist leider nicht mehr da -,
({17})
wünschen sich eine längere Arbeitszeit. Das ist das Ergebnis von Umfragen, die nicht von der Linken gemacht
worden sind, sondern diese Zahlen stammen vom Statistischen Bundesamt.
Wir fordern mehr Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt. Wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn.
Wir fordern, dass das Lohndumping endlich beendet
wird. Es darf keine unterschiedliche Behandlung von
Beschäftigungsformen geben.
({18})
Aus der Wissenschaft gibt es dazu verschiedene Vorschläge. Wenn wir uns in dem Ziel einig sind, dass wir
keine zweite und dritte Klasse von Beschäftigten in diesem Land haben wollen, dann lassen Sie uns über den
Weg streiten. Lassen Sie uns diese Verschärfung bei den
prekären Beschäftigungsverhältnissen endlich beenden.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Wir
werden den Gesetzentwurf natürlich ablehnen.
Vielen Dank.
({19})
Brigitte Pothmer ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Wirklichkeit weiß es jeder hier im Saal:
({0})
Die Ausweitung von Minijobs ist falsch.
({1})
Minijobs haben als Brücke in versicherungspflichtige
Beschäftigung versagt. Minijobs sorgen für lebenslange
ökonomische Abhängigkeit von Frauen, entweder von
ihrem Ehemann oder von staatlichen Transferleistungen.
Dies ist nicht allein meine Erkenntnis. Diese Erkenntnis
können Sie einem Gutachten entnehmen, das die Bundesfrauenministerin in Auftrag gegeben und letzte Woche Freitag öffentlich vorgestellt hat.
({2})
Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Warum finanziert
das Bundesfrauenministerium teure Gutachten aus Steuergeldern und ignoriert dann die Erkenntnisse, die aus
diesem Gutachten hervorgehen?
({3})
Ich frage Sie: Wo ist in dieser Debatte eigentlich die
Bundesfrauenministerin?
({4})
Warum trägt sie heute hier, in dieser Debatte, die Erkenntnisse aus diesem Gutachten nicht vor?
({5})
Sie ignoriert nicht nur die Erkenntnisse aus dem Gutachten, das sie selbst in Auftrag gegeben hat, nein - Frau
Kramme hat bereits darauf hingewiesen -, sie ignoriert
auch den eigenen Gleichstellungsbericht, also den
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. In diesem
Gleichstellungsbericht steht: Minijobs wirken „desaströs“ auf die Erwerbsbiografien von Frauen. Vielleicht
sollten Sie, Herr Vogel, sich diese Lektüre einmal zu Gemüte führen.
({6})
Ich finde, es ist die Aufgabe von Frau Schröder, es ist
die Aufgabe der Bundesfrauenministerin, einer Politik
entgegenzuwirken, die sich so negativ auf die Erwerbsbiografien von Frauen auswirkt. Dafür wird sie gut bezahlt. Das ist ihr Job.
({7})
Aber nicht nur Frau Schröder duckt sich weg, wenn es
um die Minijobs geht, auch Frau von der Leyen praktiziert in dieser Frage einen Totstellreflex. Frau von der
Leyen, noch vor einem Jahr haben Sie der Wochenzeitung Die Zeit ins Blatt diktiert - ich zitiere -:
… ich bin eine entschiedene Gegnerin der Ausweitung der Minijobs.
({8})
Frau von der Leyen, seit Jahren erklären Sie Frau
Schröder, was in der Frauenpolitik wichtig und richtig
ist. Ich bin die Letzte, die behaupten würde, das sei nicht
notwendig. Aber jetzt sind Sie gefordert. Jetzt geht es
um Ihren ureigenen Verantwortungsbereich. Ich finde,
wenn wir heute diesen Gesetzentwurf hier verabschieden, dann haben Sie kläglich versagt.
({9})
Die Ausweitung von Minijobs ist nicht nur frauenpolitisch desaströs, sondern auch aus arbeitsmarktpolitischer Sicht ein kapitaler Fehler. Sie weiten damit den
Niedriglohnsektor aus und treiben die Spaltung auf dem
Arbeitsmarkt weiter voran. Außerdem wirkt - das ist
hier schon gesagt worden - die Ausweitung von Minijobs kontraproduktiv beim Kampf gegen den Fachkräftemangel. Sie wissen genauso gut wie ich - alle möglichen
Untersuchungen zeigen das -: Frauen wollen mehr arbeiten. Sie wollen ihr Erwerbsarbeitsvolumen ausdehBrigitte Pothmer
nen. Frauen wollen mehr als Minijobs. Die Wirtschaft
braucht diese gut qualifizierten Frauen. Aber Minijobs
halten die Frauen am Arbeitsmarkt klein.
({10})
Ihr Potenzial verkümmert. Die Qualifikationen werden
abgewertet. Nur die wenigsten schaffen den Sprung in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und in ein
auskömmliches Einkommen. Ich frage Sie, Frau von der
Leyen: Sieht so Ihr Kampf gegen den Fachkräftemangel
aus?
({11})
Sieht so Ihr Kampf für bessere Erwerbsbiografien von
Frauen aus? Das kann nicht Ihr Ernst sein.
({12})
Außerdem - auch das ist bekannt -: Altersarmut und
Minijobs gehen Hand in Hand. Sie behaupten, der Altersarmut den Kampf anzusagen. Die Ausweitung von
Minijobs ist die Ausweitung von Altersarmut.
({13})
So schlicht ist die Gleichung.
({14})
Dass Ihre Opt-out-Regelung daran wirklich gar nichts
ändern wird, das wissen Sie. Das schreiben Sie selbst in
Ihrem Gesetzentwurf.
({15})
Sie schreiben: 90 Prozent werden diese Regelung nicht
in Anspruch nehmen. Für diesen minimalen Effekt betreiben Sie einen maximalen bürokratischen Aufwand.
({16})
Ich habe Ihnen das schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfes vorgerechnet. 787 500 Arbeitsstunden
werden in Betrieben gebraucht. Sie verbrennen in den
Betrieben 22 Millionen Euro nur für den bürokratischen
Aufwand. Den Beschäftigten bringt das nichts.
({17})
Lieber Herr Vogel, ich habe mich einmal ein bisschen
auf der Homepage der FDP getummelt.
({18})
- Ja, wir alle hier erhalten ein gutes Schmerzensgeld. Ich
finde, da muss man sich das einmal zumuten.
({19})
Sie haben dort eine Rubrik: Meilensteine zum Bürokratieabbau. - Herr Vogel, da lacht doch die Koralle.
({20})
Das, was Sie hier mit diesem Gesetzentwurf vorlegen, ist
ein Meilenstein für Bürokratieaufbau.
({21})
Sie stellen sich jetzt hierhin und versuchen, den Eindruck zu erwecken, als würde ausgerechnet die FDP das
Füllhorn über die Arbeitenden, über die Armen und Entrechteten ausschütten. Herr Vogel, das ist zynisch. Wenn
Sie wirklich etwas für Geringverdiener tun wollten, dann
gäben Sie endlich Ihre Bockbeinigkeit beim gesetzlichen
Mindestlohn auf.
({22})
Kommen Sie nicht immer mit dem Ammenmärchen vom
Inflationsausgleich. Sie wissen genauso gut wie ich:
Drei Viertel aller Minijobber und Minijobberinnen kommen an die 400-Euro-Grenze überhaupt nicht heran.
({23})
Was Sie wollen, ist eine Ausweitung des Niedriglohnbereichs. Sie wollen mehr Niedriglohn, noch mehr Niedriglohn und noch mehr Niedriglohn.
({24})
Das wollen wir ausdrücklich nicht.
({25})
Wir wollen mehr gute Arbeit, von der die Menschen
auch leben können. Wir wollen Arbeit, die auch vor Altersarmut schützt. Das alles bietet Ihr Gesetzentwurf
nicht. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Ich danke Ihnen.
({26})
Frau Kollegin Enkelmann will zur Geschäftsordnung
sprechen. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, der Verlauf der Debatte macht eines sehr deutlich: Es geht hier um ein wichtiges Thema, um ein
Thema, das Millionen Frauen in diesem Land beschäftigt. Wir können nicht nachvollziehen, weshalb die Frauenministerin nicht im Plenum ist.
({0})
Wir beantragen deswegen nach § 42 der Geschäftsordnung die Herbeirufung der Ministerin.
({1})
Wird das Wort zur Gegenrede gegen den Geschäftsordnungsantrag gewünscht? - Bitte schön, Herr Kollege
Grosse-Brömer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bedaure, dass zwischendurch immer wieder diese Spielchen gespielt werden müssen.
({0})
Auf der Regierungsbank sitzen die Ministerin für Arbeit
und Soziales und der Parlamentarische Staatssekretär
aus dem Familienministerium, Dr. Hermann Kues.
Man kann natürlich der Auffassung sein, man müsse
regelmäßig Minister herbeizitieren.
({1})
- Das ist Ihr gutes Recht. Ich appelliere ja nur, darüber
nachzudenken, ob es wirklich Sinn macht, diesen Meinungsaustausch zu unterbrechen,
({2})
nur weil Ihnen eine sehr gut besetzte, fast vollständig besetzte Regierungsbank immer noch nicht ausreicht.
({3})
Ich lasse über den zweifellos zulässigen Geschäftsordnungsantrag abstimmen. Wer dem Antrag der Fraktion Die Linke zustimmen will, den bitte ich um das
Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Nach meinem Eindruck hat die Mehrheit diesen Antrag abgelehnt.
({0})
- Dafür ist, wie Sie wissen, nach der Geschäftsordnung
das Präsidium zuständig. Diesem Eindruck hat niemand
widersprochen. Damit ist der Antrag abgelehnt.
({1})
Wir setzen die Debatte fort. Nächster Redner ist der
Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das zeigt sehr deutlich: Die Oppositionsfraktionen wollen lieber Klamauk machen, als sich mit den Tatsachen
auseinanderzusetzen.
({0})
Um bei den Worten von Frau Pothmer zu bleiben: Da
weint die Koralle.
Es geht hier nämlich um eine ganz ernste Angelegenheit: Wollen wir die Preissteigerungsraten der vergangenen zehn Jahre anrechnen und die Geringfügigkeitsgrenze dementsprechend anheben? Frau Pothmer, Ihre
Partei und auch die SPD haben 2003 der Neuregelung
der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zugestimmt - aber mit Begründungen, die völlig anders sind
als die, die Sie heute dargelegt haben.
({1})
Insofern ist es richtig, wenn wir die Grenzen anpassen
und eine Erhöhung von 400 auf 450 Euro vornehmen sowie die Midijobgrenze von 401 auf 850 Euro ausdehnen.
Dies ist sachgerecht, zumal wir es zusätzlich sozialpolitisch hervorragend untermauern. Kollege Schiewerling
hat bereits darauf hingewiesen, dass wir jetzt eine generelle Rentenversicherungspflicht einführen, aus der man
sich nur per Antrag verabschieden kann. Für Rentnerinnen und Rentner ist das auch sinnvoll. Schülern und Studenten würde ich eine solche Antragstellung gar nicht
empfehlen, weil sie bereits mit geringsten Beiträgen Anwartschaftszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung erwerben und damit schneller die fünfjährige Wartezeit nachweisen können.
Unter diesen Gesichtspunkten haben wir, glaube ich,
eine großartige, auch sozialpolitisch orientierte Regelung in das Gesetz aufgenommen, verehrte Damen und
Herren.
({2})
Von den Kolleginnen und Kollegen wurde schon dargelegt, was die Rentenversicherungspflicht bedeutet.
Damit werden Altersrentenanwartschaften erworben.
Vor allen Dingen wird auch eine Anwartschaft für Rehaleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung und
für eine Erwerbsunfähigkeitsrente erworben. Außerdem
kann man dann die Riester-Rente abschließen. Darüber
hinaus hat man die Möglichkeit, zusätzliche Anwartschaftszeiten wie Zeiten für langjährig Versicherte und
dergleichen mehr in der Rentenversicherung nachzuweisen. Das zeigt sehr deutlich, dass wir damit eine gute gesetzliche Grundlage geschaffen haben, die sich in keiner
Weise von der Grundlage sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung unterscheidet.
Herr Kollege Straubinger, darf der Kollege
Strengmann-Kuhn Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Straubinger, Sie haben gerade die Bedeutung der Rentenversicherungspflicht, des Zugangs
zur Erwerbsminderungsrente, zur Reha und zur RiesterRente erläutert. Nicht zu vergessen ist, falls das irgendwann einmal kommen sollte, der Zugang zur Zuschussrente zwecks Bekämpfung der Altersarmut.
Warum führen Sie, wenn Sie das so sehen, nicht eine
Rentenversicherungspflicht für die Minijobber ein, sondern dieses merkwürdige Opt-out-Modell? Schließlich
gehen Sie selbst davon aus - Brigitte Pothmer hat das
eben schon beschrieben -, dass sich nur 10 Prozent für
die Rentenversicherung entscheiden werden und die
restlichen 90 Prozent dagegen. Sie haben gerade noch
einmal an die Studierenden appelliert, sich doch ebenfalls sozialversicherungspflichtig beschäftigen zu lassen.
Das ist durchaus vernünftig. Warum sind Sie dann nicht
konsequent und führen eine Rentenversicherungspflicht
für die Minijobber ein? Dann gibt es zumindest für die
entsprechenden Fälle eine Absicherung. Es bestünde sogar eine Absicherung gegen Altersarmut, wenn es irgendwann einmal eine Zuschussrente, eine Garantierente oder was auch immer gibt. Warum lassen Sie sich
da von der FDP über den Tisch ziehen? Ich weiß, dass
Sie selbst - aus den Gründen, die Sie genannt haben durchaus gegen das Opt-out-Modell sind.
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, ich bin Ihnen sehr
dankbar für diese Frage. Natürlich könnte man es generalisieren. Dann müsste man aber auch Ausnahmen formulieren. Wir sind, glaube ich, beide der Meinung, dass
man aktiven Rentnerinnen und Rentnern nicht zumuten
kann, Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung
zahlen zu müssen. Bei Schülern, die Zeitungen, Reklameheftchen und dergleichen austragen, ist eine Beitragszahlung in meinen Augen ebenfalls nicht sinnvoll. Insofern müsste man bei ihnen Ausnahmen machen.
Man kann sich über die Opt-out-Regelung streiten;
das ist völlig klar. Meines Erachtens ist es aber eine
Fehlannahme - das ist auch im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen niedergeschrieben -, dass sich möglicherweise 90 Prozent verabschieden werden. Ich bin
überzeugt, dass es weit weniger sein werden.
Allerdings liegt es in der Natur der Sache, dass diese
Bundesregierung und unsere Fraktionen vorsichtig
schätzen. Das machen wir ja auch beim Haushalt.
({0})
- Natürlich. Wir haben in den Haushaltsgesetzen bisher
immer Schulden in einer Höhe veranschlagt, die das
überstieg, was dann tatsächlich an Schulden aufgenommen werden musste. - Ähnlich verfahren wir bei vielen
Prognosen, bei Wirtschaftsprognosen und dergleichen
mehr. Damit sind wir gut gefahren.
Ich bin überzeugt, dass weit mehr als von Ihnen erwartet die Rentenversicherungspflicht in Anspruch nehmen bzw. sich nicht daraus verabschieden werden. Wir
sollten uns überraschen lassen. Mit den positiven Zahlen, die dann festzustellen sind, können wir uns noch
trefflich auseinandersetzen.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wende mich
gegen die Dämonisierung der Minijobs, die heute stattfindet. Ich habe es bereits ausgeführt: Wer die Versicherungsfreiheit in der Rentenversicherung aufgibt, hat den
Vorteil, dass der pauschale Betrag in Höhe von 15 Prozent, den der Arbeitgeber zahlt, ihm persönlich zugerechnet wird. Wenn er das nicht tut, dann hat er persönlich
nichts davon, sondern es profitiert nur die allgemeine
Rentenversicherung. Auch unter diesem Gesichtspunkt
lohnt es sich also, die Rentenversicherungsfreiheit aufzugeben. Damit wird natürlich genauso ein Anspruch auf
Altersrente begründet.
Frau Kollegin Pothmer und Frau Kollegin Kramme,
ob Sie 400 Euro in einem rein sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis oder in einem Minijob
verdienen, ist egal. Der Rentenanspruch wird nicht höher, wenn wir an der beitragsbezogenen Rente festhalten.
({2})
Wenn ich das SPD-Rentenkonzept betrachte, das Sie zukünftig noch überarbeiten sollten, habe ich den Eindruck, dass sich die SPD davon verabschieden will.
Auch unter diesen Gesichtspunkten lohnt es sich also,
dies hier sehr sachgerecht zu beurteilen und zu betrachten.
({3})
Ich wende mich gegen die Dämonisierung der Minijobregelung, zu der es heute vor allen Dingen aus der
Fraktion Die Linke wieder gekommen ist. Diese ist letztendlich in keiner Weise mit dem Ausdruck „prekäre
Beschäftigung“ zu stigmatisieren. Hier gelten genau dieselben Arbeitsbedingungen: Jeder ganz normale Tarifvertrag, die Urlaubsregelungen und die Regelungen zur
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind einzuhalten.
({4})
Sie können nicht pauschal jedem Arbeitgeber unterstellen, sie würden das nicht einhalten, und ständig nur
Misstrauen gegenüber allen Arbeitgebern ausdrücken.
Das nicht einzuhalten, wäre bei einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung genauso möglich, indem
man sagt: Ich entlohne Sie für sieben Stunden, aber zehn
Stunden müssen Sie arbeiten. Das wäre ganz genau dasselbe.
Das, was Sie betreiben, ist unstatthaft. Sie stellen hier
alle Arbeitgeber letztendlich so dar, als ob sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Lohn betrügen
würden. Das ist aber Ihre Sache. Wir machen das nicht
mit, und das lassen wir auch nicht gelten.
({5})
Sie haben dann auch noch dargestellt, dass ein Minijob bedeutet, dass man mit Hartz IV aufstocken muss.
({6})
In der Regel ist das ganz anders: Die Hartz-IV-Leistungen werden durch einen Minijob aufgestockt, weil durch
einen 400-Euro-Minijob 160 Euro zusätzlich verdient
werden, die nicht auf die Hartz-IV-Leistung angerechnet
werden. Das ist die Erfahrung - nicht umgekehrt. Die
Hartz-IV-Leistung wird aufgestockt und nicht umgekehrt der Minijob durch eine Hartz-IV-Leistung. Hier
verkennen Sie die Realität.
Sie müssen noch einmal in Ihren Antrag hineinschauen, der von Fehlinformationen nur so strotzt. Dort
wird dargestellt, dass die Arbeitgeber einen Vorteil hätten, wenn sie Beschäftigungsverhältnisse in Form von
Minijobs einführen würden. Bei diesem Beschäftigungsverhältnis werden die Arbeitgeber aber mit einer Pauschale von 30 Prozent belastet, während sie nur mit
20 Prozent Lohnnebenkosten belastet werden, wenn sie
ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis anbieten.
Es ist sehr deutlich, dass letztendlich sowohl die Minijobber als auch die Betriebe ein Interesse an dieser
Form der Beschäftigung haben können. Bei mir in der
Heimat zum Beispiel wird die örtliche Tankstelle als einfacher Familienbetrieb geführt. Der Inhaber ist froh,
wenn ein Student dort ein paar Stunden lang aushilft, damit sich die Familie auch einmal in Ruhe einen freien
Sonntag gönnen kann.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Für diese Tätigkeit könnte niemals ein ganztägiges
Beschäftigungsverhältnis bzw. eine Vollzeitbeschäftigung angeboten werden. Minijobs sind deshalb notwendig zur Flexibilisierung und vor allen Dingen zum Abarbeiten von Arbeitsspitzen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Beim
Herrn Präsidenten bedanke ich mich herzlich für die Geduld.
({0})
Nun erhält die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm das
Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute über zwei parlamentarische Initiativen,
die unterschiedlicher nicht sein können. Auf der einen
Seite haben wir den Gesetzentwurf von CDU/CSU und
FDP zur Ausweitung der Minijobs, und auf der anderen
Seite fordert die Linke die Abschaffung selbiger.
({0})
Wir haben folgende Ausgangslage: Ungefähr 7,5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten ohne eigenständige Krankenversicherung, ohne vollwertige Rentenansprüche und ohne ein Recht auf Arbeitslosengeld I.
Lohnfortzahlung bei Krankheit oder bezahlter Urlaub
werden ihnen in der Regel verwehrt. Sie verdienen, obwohl die meisten von ihnen eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, durchschnittlich etwa 5 Euro in der
Stunde und 300 Euro im Monat. So, lieber Herr Kollege
Vogel und Herr Straubinger, sieht die Wirklichkeit aus.
Wenn Sie, Herr Kollege Straubinger, in diesem Zusammenhang von Dämonisierung sprechen, dann haben Sie
wirklich keine Ahnung, wie die Wirklichkeit aussieht.
({1})
Der Niedriglohnsektor weitet sich aus - durch Ihr Minijobgesetz noch mehr -, und im Niedriglohnsektor wird
niedrig bezahlt. Deshalb heißt er auch so, Herr Kollege
Vogel. Der Übergang in existenzsichernde Beschäftigung
gelingt nur selten. Die meisten dieser Beschäftigten sind
Frauen, Minijobberinnen. Für Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Schwarz-Gelb, sind diese Minijobs ganz
offensichtlich der Hit; denn Sie wollen noch mehr davon.
Deshalb schlagen Sie in Ihrem Gesetzentwurf vor, die
Verdienstgrenze von 400 auf 450 Euro für die geringfügig Beschäftigten anzuheben.
Welche Folgen wird dieses Gesetz haben? Die Minijobberinnen werden nicht etwa mehr verdienen, was
vielleicht ganz gut wäre. Nein, es wird lediglich noch
mehr Minijobberinnen geben.
({2})
Damit steigt der Anteil der Frauen, die entweder von ihrem Partner oder von Sozialleistungen abhängig sind.
Es wird im Zusammenhang mit den Minijobs viel von
der „dazuverdienenden Ehefrau“ gesprochen. Die Wirklichkeit ist: Nicht einmal die Hälfte aller Minijobberinnen hat heute einen Partner, der in einem regulären Arbeitsverhältnis steht und sie mitversorgen könnte. Alle
anderen, wenn sie nicht gerade Studentinnen oder Rentnerinnen sind, müssten eine aufstockende Sozialleistung
in Anspruch nehmen; denn weder 300 noch 450 Euro
Monatsgehalt sind existenzsichernd. Unser gemeinsames Ziel muss doch aber die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Männern und Frauen auf der Basis eines eigenen Einkommens sein.
({3})
In unserem Unterhaltsrecht und in unserer Hinterbliebenenversorgung wird davon im Übrigen schon lange
ausgegangen. Davon, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Schwarz-Gelb, lese ich in Ihrem Gesetzentwurf
nichts.
({4})
Im Gegenteil: Sie halten eine Beschäftigungsform, die
einen Partner, zumeist die Frau, in einer Zuverdienerrolle sieht, ganz offensichtlich für zukunftsweisend.
Diese Vorstellung ist zwar von vorvorgestern,
({5})
Sie halten aber daran fest und zementieren dieses Frauenbild mit Ihrem Minijobgesetz. Ehegattensplitting und
die kostenlose Krankenmitversicherung tun ihr Übriges.
Frauen werden so wichtiger Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt beraubt, jetzt und später. Jetzt bedeutet der
Minijob Entgeltdiskriminierung, Abhängigkeit und in
der Regel eine berufliche Sackgasse. Später führt er in
die Altersarmut.
Ich komme zu der von Ihnen vorgeschlagenen Rentenversicherungspflicht, die automatisch gilt, wenn die
Minijobberin nicht widerspricht. Dies macht die Sache
aber nicht leichter. Zwar rückt damit eine eigenständige
Alterssicherung näher, aber aus zwei Gründen wird sie
das Problem drohender Altersarmut nicht lösen.
Erstens. Der Rentenanspruch, der erworben werden
kann, ist sehr gering. Laut Rentenversicherung beträgt er
maximal 4,30 Euro pro Jahr. Erst nach etwa 200 Jahren
im Minijob würde man die Grenze der Grundsicherung
im Alter erreichen.
Zweitens muss davon ausgegangen werden - das
wurde auch in unserer Anhörung am Montag deutlich -,
dass mehr als neun von zehn geringfügig Beschäftigten
nicht in die Rentenversicherung einzahlen werden.
Eines steht fest: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Schwarz-Gelb, verstehen nichts von Gerechtigkeit.
({6})
Das haben Sie inzwischen zur Genüge bewiesen, und
zwar mit ihrem Betreuungsgeld, mit der Flexi-Quote und
jetzt mit diesem Frauenbenachteiligungsgesetz. Sie
ignorieren dabei selbst knallharte Fakten Ihrer eigenen
Bundesregierung; es wurde schon darauf hingewiesen.
Der Gleichstellungsbericht bezeichnet bereits die jetzt
bestehende Minijobregelung gleichstellungspolitisch als
desaströs. Die jetzige Ausweitung setzt dem noch eins
obendrauf. So viel zur Geschlechtergerechtigkeit. Aber
auch volkswirtschaftlich gesehen ist diese - so wurde es
in unserer Anhörung am Montag genannt - Ausweitung
der „Stilllegung von Arbeitsvermögen“ nicht vertretbar.
Herr Kollege Straubinger, Sie haben darauf hingewiesen, dass sich die SPD und die Grünen 2003 für die Ausweitung der Minijobs ausgesprochen haben. Das ist richtig. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass wir
damals auf Ihren Druck hin im Vermittlungsausschuss so
gehandelt haben. Zudem hatten wir damals eine andere
Arbeitsmarktsituation. Wir hatten eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Auch wir hatten die Hoffnung, durch die
Minijobs eine Brücke in reguläre Beschäftigung, in den
ersten Arbeitsmarkt schlagen zu können. Leider hat sich
das als Illusion, als falsch erwiesen. Deshalb müssen wir
nachsteuern.
({7})
Wir haben heute eine ganz andere Arbeitsmarktsituation. Wir brauchen dringend Fachkräfte, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das diskutieren wir immer wieder.
Wer nun meint, ausgerechnet mit der Ausweitung von
Minijobs Fachkräfte gewinnen zu können, hat schlichtweg keine Ahnung vom Arbeitsmarkt.
({8})
Ich fasse zusammen:
Das muss jetzt sehr konzentriert erfolgen.
Ihr Gesetzentwurf ist inakzeptabel. Er gehört in die
Tonne.
Danke.
({0})
Sehr schön! Geht doch. - Sebastian Blumenthal ist
der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann
nur noch staunen, in welche Richtung Rot-Rot-Grün die
Debatte lenkt.
Frau Kramme, Sie hatten vorhin ausgeführt, das Instrument der Minijobs sei ein katastrophales Instrument,
das nun ausgeweitet werden solle.
({0})
Ich frage Sie und die SPD-Fraktion: Wie stehen Sie
dazu, dass wir den 163 geringfügig beschäftigten Mitarbeitern bei Ihnen in der Bundestagsfraktion - ich habe
mir einmal angeschaut, wie viele bei Ihnen auf Basis der
Minijobregelung beschäftigt sind - mit der Ausweitung
der Verdienstgrenze neue Möglichkeiten eröffnen? - Sie
sprechen von der Ausweitung eines katastrophalen Arbeitsmarktinstruments, arbeiten aber in Ihrer Bundestagsfraktion selbst mit diesem Instrument. Das ist auf gar
keinen Fall glaubhaft, und das diskreditiert schon Ihre
ganze Argumentationsführung.
({1})
Ich komme zu den Grünen. Frau Pothmer, Ihr Beitrag war nicht nur frei von biologischen Grundkenntnissen - Stichwort: Da lacht doch die Koralle -, sondern
auch Sie müssen einen Widerspruch aufklären: Obwohl
Sie das Instrument hier sehr stark negativ dargestellt
haben, sind in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen 43 Mitarbeiter auf genau dieser Basis beschäftigt. Ich kann Ihnen sogar noch weitere Beispiele
nennen, die belegen, dass in Wahlkreisbüros, in den
Kreisverbänden usw. sowie in weiteren Untergliederungen genau mit diesem Arbeitsmarktinstrument Arbeitsplätze auch im Umkreis von Bündnis 90/Die Grünen geschaffen werden. Ihre Argumentation ist genauso wenig
glaubhaft wie die Argumentation der SPD. Ansonsten
müssten Sie ja auf dieses Instrument verzichten.
({2})
Ich komme zur Fraktion Die Linke. Frau Golze, Sie
hatten dem Kollegen Vogel vorhin unterstellt, er würde
lebensfremd argumentieren.
({3})
Ich möchte Ihnen zurückgeben: Auch Ihre Argumentation scheint realitätsfremd zu sein. In der Bundestagsfraktion Die Linke werden 67 Mitarbeiter genau auf dieser Basis beschäftigt. Das sind mehr als 10 Prozent der
Mitarbeiter, die bei der Fraktion Die Linke insgesamt im
Einsatz sind.
Ich möchte Ihnen noch ein weiteres Beispiel nennen.
Darf die Kollegin Golze Ihnen eine Zwischenfrage
stellen, bevor Sie ein weiteres Beispiel nennen?
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen.
Ich möchte Sie einfach nur fragen, ob Sie bereit sind,
zur Kenntnis zu nehmen, dass im Gegensatz zu der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion - zumindest nach
meinen Informationen - bei den anderen Fraktionen
Praktikantinnen und Praktikanten, zum Beispiel auch
Studentinnen und Studenten, die innerhalb ihrer Ausbildung ein Praktikum bei einem Bundestagsabgeordneten
machen, eine Aufwandsentschädigung bekommen
({0})
und dass viele meiner Kollegen - ich gehe davon aus,
dass das auch in den anderen Fraktionen so ist ({1})
diesen Praktikantinnen und Praktikanten dafür etwas
zahlen
({2})
und dass das als ordentliches Beschäftigungsverhältnis
über die Bundestagsverwaltung abgewickelt wird.
({3})
Mich würde Ihre Meinung dazu interessieren. Ich
glaube, wenn man sich die Zahlen genauer anschaut,
zieht Ihr Argument nicht.
({4})
Vielen Dank für die Anregung, Frau Kollegin. Damit
bringen Sie mich jetzt aber nicht wirklich in Verlegenheit.
({0})
Wenn Sie suggerieren wollen, die Fraktion der FDP
würde eine solche Bezahlung nicht vornehmen,
({1})
kann ich Ihnen das Gegenteil darlegen.
({2})
Sie lösen damit auch den Widerspruch nicht auf, dass Sie
in Ihren Reihen mit dem Instrument der Minijobs Abgeordnetenmitarbeiter beschäftigen. Diesen Widerspruch
konnten Sie auch in Ihrer Zwischenfrage nicht auflösen.
Insofern ist das meine Antwort darauf: Wir zahlen auch,
und Sie können den Widerspruch nicht auflösen.
({3})
Ich komme zu einem weiteren Beispiel aus den Reihen der Linken, das hochinteressant ist. Sie intonieren
hier immer den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“. Von einer Ihrer Landtagsfraktionen gibt es eine
Stellenausschreibung, die auf Basis von 450 Euro im
Monat ausgeschrieben wird. Das Ganze ist als Vollzeitstelle ausgeschrieben. Wenn wir das herunterrechnen,
kommen Sie mit der Ausschreibung auf einen Stundenlohn von 2,92 Euro.
({4})
Das sind die Ausschreibungen, die Sie veröffentlichen;
uns unterstellen Sie, wir würden unlauter agieren. Auch
das ist widersprüchlich, Frau Kollegin.
Das ist die Klammer um die Argumentationslinie von
Rot-Rot-Grün: Sie unterstellen uns mit der Skandalisierung und dem Vorwurf, wir würden für prekäre Beschäftigungsverhältnisse sorgen,
({5})
dass wir Menschen in Situationen bringen, in denen kein
vernünftiger Lohn mehr gezahlt wird. Sie selbst bieten
aber in Ihrem realen Handeln genau solche Stellen an, ob
in der Bundestagsfraktion, in den Parteiuntergliederungen oder auf der Ebene der Landesparlamente.
({6})
Mit solchem Verhalten können Sie uns mit Sicherheit
nicht dazu bringen, dass wir sagen, das Instrument sei
nicht gerechtfertigt.
({7})
Ich komme noch zu weiteren Punkten. Sie haben von
der Anhörung berichtet. Ich glaube, das waren Sie, Frau
Pothmer. Sie hatten aus dem Gutachten für das BMSFJ
zur Situation der Frauen zitiert. Meine Bitte ist: Zitieren
Sie dann vollständig! Ich werde jetzt das vortragen, was
Sie nicht vorgetragen haben. Das Zitat aus der Studie
„Frauen im Minijob“ lautet wie folgt:
Diese Entwicklung hängt eng mit den sozial- und
steuerrechtlichen Regelungen für Verheiratete zusammen.
…
84 % der aktuell im Minijob pur tätigen Frauen sind
verheiratet ({8}).
({9})
Vor allem folgenden Satz haben Sie vergessen:
Die gelegentlich geäußerte These von der Ausbeutung von Frauen im Minijob durch den Arbeitgeber
bestätigt sich im Horizont der subjektiven Wahrnehmung und Erfahrungen von Frauen im Minijob
pur nicht.
({10})
Sie sehen, dass wir bei allen Punkten, die Sie uns entgegenzustellen versucht haben, mit Fakten und nackten
Zahlen dagegen argumentieren können. Wir verwahren
uns gegen die Art und Weise, wie Sie eine Skandalisierung dieses Instruments herbeiführen wollen.
({11})
Für uns gibt es gute Gründe, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich denke, dass ich auf die meisten Ihrer
Punkte die entsprechende Antwort geben konnte.
({12})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Blumenthal, ich glaube, so etwas nennt man
Entlastungsangriff. In der Regel gehen die schief. So war
das bei Ihnen auch.
Ich werde wie die Kollegin Pothmer nicht davor
zurückschrecken, heute Mittag mit Interesse auf der
Homepage der FDP-Bundestagsfraktion nachzusehen.
({0})
Ich erwarte eine lückenlose Darstellung, wie Sie mit
Ihren Praktikanten und Mitarbeitern umgehen. Das
wüssten wir jetzt alle gerne ganz genau.
({1})
Ich verstehe auch, dass Sie diesen Entlastungsangriff
gestartet haben. Wir erleben ja im Deutschen Bundestag
zum wiederholten Male, dass diese Regierungskoalition
wider besseres Wissen handelt. Das erste Beispiel ist das
Betreuungsgeld. Wider besseres Wissen werden Sie es
einführen.
({2})
Das zweite Beispiel ist genau das, über das wir heute
diskutieren. Nach dem Gesetz der Serie fürchte ich: Sie
werden in den wenigen Monaten, die Sie noch Zeit
haben, erneut vielfach wider besseres Wissen handeln.
Wer hätte gedacht, meine Damen und Herren, dass
Frauenministerin Schröder
({3})
mit der Vorstellung des Gutachtens die amtierende Arbeits- und Sozialministerin frauenpolitisch überholen
könnte?
({4})
Ich finde, das ist ein besonderer Moment in unserer
Republik.
Ich habe den großen Wunsch, dass wir in Sachen
Minijobs alle miteinander die rosaroten Brillen ablegen.
Dann würde es allerdings kräftige Fallgeräusche in Ihren
Reihen geben, weil Sie im Gegensatz zu uns den Arbeitsmarkt nicht realistisch sehen. Wenn Sie diese Brillen abnehmen würden, könnten Sie das aber auch.
({5})
Wir diffamieren keinen Arbeitgeber, aber wir sagen:
Es gibt solche und solche. Leider - das werden Sie nicht
entkräften können, aber Sie haben ja gleich noch das
Wort - gibt es Arbeitsverhältnisse, bei denen viele Minijobber ihre Rechte nicht kennen und deshalb nicht nutzen. Das gilt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und leider, leider nutzen das auch einige
Arbeitgeber aus. Dass das nicht wenige sind, das konnten wir bei der Anhörung am Montag erfahren.
Ich zitiere aus der Stellungnahme von Frau Dr.
Weinkopf in der Anhörung:
Ich befürchte …, dass die Zahl der Minijobs weiter
steigen wird. Durch die Anhebung der Verdienstgrenze rutschen einige hinein, die bislang sozialversicherungspflichtig waren. Von daher ist eine Ausweitung zu erwarten, die dem Arbeitsmarkt aus
meiner Sicht überhaupt nicht guttut. Wir haben jetzt
schon einen Minijob auf etwa fünf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wir
erweitern also den Anteil derjenigen …, die nicht
voll in die Sozialversicherungspflicht einbezogen
sind …
Das ist die Wahrheit; darüber reden wir hier, und Sie geben Gas an dieser Stelle. Eine Regelung, über die Sie
heute sagen: „90 Prozent werden sie gar nicht nutzen“,
die ist ja nur 10 Prozent wert.
({6})
Deshalb frage ich mich: Warum regeln Sie das gesetzlich
dann eigentlich so?
({7})
Ich finde, das heißt, Leute hinter die Fichte zu führen,
und insbesondere betrifft das Frauen.
Als ich mir den Gesetzentwurf ansah, dachte ich: Das
ist wie bei den Berliner Hinterhöfen. Die sind ja bekannt
dafür: ein schickes Vorderhaus, dann kommt ein Hinterhof, und dann gibt es ein erstes und ein zweites Hinterhaus. Wir reden bei Minijobs im Augenblick über dieses
letzte Hinterhaus.
({8})
Da gibt es keinen Aufzug nach oben, da gibt es kaum
Tageslicht, und - das will ich Ihnen sagen - da gibt es
eben auch nicht den wunderbaren Aufstieg oder die Brücke, über die hier vielfach geredet wurde.
Sie finden es gut, dass ein Drittel einen vermeintlichen Übergang in den ersten Arbeitsmarkt findet. Mich
interessieren die anderen zwei Drittel noch viel mehr.
({9})
Die erwarten, dass wir hier handeln, und zwar auf eine
Weise, die sie unterstützt.
Dass das ein Gleichstellungsproblem ist, ist heute
deutlich geworden. Ich bin mehr als betrübt darüber,
dass Sie an dieser Stelle gar kein Wort darüber verlieren.
Wir reden nicht über jene kleinen Arbeitsverhältnisse,
die die Gattin eines gutverdienenden Ehemanns nebenher haben mag - das ist eine persönliche Lebensplanung,
die jedem freisteht, die aber mancher Frau auch schon
zum Verhängnis wurde -; wir reden darüber, dass Frauen
und Männer in ordentlichen sozialversicherungspflichtigen Jobs Vollzeit arbeiten. Diese Zielperspektive haben
Sie offenkundig aus den Augen verloren.
({10})
Das ist das eigentliche Drama, das wir heute feststellen
müssen.
({11})
Wo ich schon bei diesem Bild „Hinterhof und Hinterhaus“ bin, will ich Ihnen auch sagen: Genau deshalb
haben der DGB und die Regierung in NRW gute Überlegungen dazu angestellt, welche Lösungen wirklich
zielführend sind. Darüber höre ich überhaupt nichts von
Ihnen. Haben Sie sich beschäftigt
({12})
mit der Begrenzung der Wochenarbeitszeit bei Minijobs?
({13})
Ein interessanter Vorschlag! Haben Sie sich beschäftigt
mit Gleitzonen? Ich finde, das ist ein kluger Vorschlag;
er ist diskussionswürdig. Nichts höre ich davon. Deshalb
befürchte ich leider, dass Sie weiterhin einen gespaltenen Arbeitsmarkt haben wollen und nicht davor zurückschrecken, den Graben tiefer zu machen. Ich bedaure
dies sehr. Deshalb kann es keine Zustimmung geben zu
Ihrem Entsetzesentwurf - - Gesetzentwurf, der entsetzlich ist.
Vielen Dank.
({14})
Die Kollegin Heike Brehmer hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen
wir heute Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung vornehmen.
Nach der Wirtschaftskrise hat sich der deutsche Arbeitsmarkt erfolgreich entwickelt. Die gute Entwicklung
der deutschen Wirtschaft hat dazu geführt, dass sich
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Lohnerhöhungen freuen können. So konnten die Renten sowie die Sätze für das Arbeitslosengeld II angehoben und
die Rentenbeitragssätze für Arbeitnehmer gesenkt werden.
({0})
Wir als christlich-liberale Koalition wollen mit den
Änderungen im Bereich der geringfügig Beschäftigten
der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt Rechnung tragen. Angesichts der Lohnentwicklung der
letzten Jahre sehen wir es als notwendig an, die Arbeitsentgeltgrenze von 400 auf 450 Euro anzuheben. Entsprechend wird die Grenze für das Gleitzonenentgelt von
800 auf 850 Euro angepasst.
({1})
Die vielfach von der Opposition vorgebrachte Behauptung, dass Minijobs sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung verdrängen, ist bei genauer Betrachtung
nicht haltbar.
({2})
Seit 2005 ist die Zahl der Minijobber lediglich um
2,9 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum haben die
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse um
9 Prozent zugelegt.
Die Einführung der Minijobs im Jahr 2003 durch RotGrün hat zur Umwandlung der Schwarzarbeit in reguläre
Beschäftigung geführt. Ein Hinweis darauf ist der starke
Aufwuchs der Beschäftigungszahlen in den letzten Jahren. Hier zeigt sich, dass die Einführung der Minijobs
eine richtige Entscheidung war; denn dadurch wurde
Schwarzarbeit erfolgreich bekämpft.
Minijobs eignen sich für Studenten, die sich etwas dazuverdienen wollen, aber auch für rüstige Senioren, welche sich etwas zu ihrer Rente dazuverdienen wollen.
In den letzten Wochen bin ich wiederholt im Wahlkreis darauf angesprochen worden, wann wir nun endlich die Erhöhung im Deutschen Bundestag beschließen.
Viele Menschen in geringfügiger Beschäftigung erwarten von uns, dass die Geringfügigkeitsgrenze angehoben
wird. Viele Betroffene - Frau Kramme, da gebe ich Ihnen recht - wollen mehr verdienen und würden natürlich
auch gern mehr arbeiten.
Mit Blick auf die demografische Entwicklung werden
wir mit Minijobs dem Fachkräftemangel nicht begegnen
können. Zur Wahrheit gehört aber auch, zu sagen, dass
für viele Bürger der Minijob die einzige Möglichkeit ist,
etwas Geld dazuzuverdienen. Besonders in strukturschwachen ländlichen Regionen fehlen Vollzeitarbeitsplätze. Durch die weiten Entfernungen sind Familie und
ein Vollzeitjob oft nicht unter einen Hut zu bringen. Das
Fehlen von Kindertagesstätten und schlechte Verkehrsanbindungen kommen in manchen Regionen noch erschwerend dazu. Ein flexibler Minijob, mit dem man Beruf und Familie in Einklang bringen kann, ist für viele
eine gute Möglichkeit, um das Haushaltsbudget etwas
aufzubessern.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Fakt ist, dass bereits heute in dünn besiedelten Gebieten keine Tageszeitung pünktlich im Briefkasten wäre oder die Tankstelle
nicht so lange geöffnet hätte, wenn es keine Minijobs
gäbe.
({3})
Ohne die geringfügig Beschäftigten wäre vieles in unserem Alltag nicht möglich. Eine Dankeschön an dieser
Stelle einmal allen, die sich tagtäglich einbringen und in
einem Minijob eine gute Arbeit verrichten.
({4})
Mit unserem vorliegenden Gesetzentwurf zur geringfügigen Beschäftigung wollen wir einen besseren Einstieg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen
ermöglichen. Minijobs sollten nur eine vorübergehende
Beschäftigungsform sein. Eine jahrelange Dauerbeschäftigung in Minijobs führt später zu einer unzureichenden Altersvorsorge.
({5})
Genau deswegen wollen wir mit der beabsichtigten Neuregelung eine Verbesserung der Rentenversicherungsmöglichkeiten für die geringfügig Beschäftigten schaffen.
Im Zuge der Einführung der Rentenversicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte, verbunden mit der
Opt-out-Regelung, müssen sich die Arbeitnehmer mit
der eigenen Altersvorsorge befassen. Die Arbeitnehmer
können so für die Zeit in geringfügiger Beschäftigung
Entgeltpunkte für die Rentenversicherung sammeln und
zu Anwartschaften für ihre Rente beitragen. Damit sind
sie auch im Falle einer Erwerbsunfähigkeit abgesichert.
({6})
Auch Riestern - Herr Schiewerling hat vorhin schon darauf hingewiesen - ist für die betroffene Gruppe möglich. Darüber hinaus sichern sich die Minijobber mit ihren Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung einen
Anspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen. Mit dieser
Neuregelung wollen wir entscheidend den Versicherungsschutz für geringfügig Beschäftigte verbessern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser gemeinsames
Ziel muss es sein, die gesetzlichen Rahmenbedingungen
so zu setzen, dass mehr sozialversicherungspflichtige
Arbeitsplätze entstehen und ein Minijob im Erwerbsleben nur eine Ausnahme bleibt.
Die CDU/CSU lehnt den Antrag der Fraktion Die
Linke ab.
Ich würde Sie, meine Damen und Herren, bitten, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Tauber, auch für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir schreiben
heute eine Erfolgsgeschichte fort, bei der wir - das kann
man ganz offen sagen - nicht die Urheberschaft haben.
Die Urheberschaft haben Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von SPD und Grünen.
({0})
Vor diesem Hintergrund ist es schon bezeichnend, auf
welche Art und Weise Sie ein Instrument, von dem Millionen Menschen in diesem Land profitieren, selbst infrage stellen. Das zeugt von einem Selbstverständnis
- damit müssen Sie am Ende des Tages klarkommen -,
das sich für mich nur sehr schwer erschließt.
({1})
Wenn wir uns die Situation der Minijobber in diesem
Land anschauen, dann müssen wir - da haben Sie recht auch auf die Bereiche schauen, wo es Probleme gibt, wo
Erwerbsbiografien entstehen, die uns nicht kalt lassen
können, weil sie im Zweifel zu Altersarmut führen können, wo es vor allem um die Frauen geht und um die
Frage: Gelingt es, aus einem Minijob heraus oder im Anschluss an einen Minijob
({2})
in ein vollwertiges sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu wechseln?
Zur Wahrheit gehört es aber auch, zu sagen, dass die
Legende, die Sie hier stricken, dass wir eine Ausweitung
der Minijobs wollen, nichts anderes ist als eine Legende.
({3})
Wir wollen lediglich die Rahmenbedingungen für die
Minijobber, die es gibt, verbessern. Sie wollen es ihnen
dagegen verwehren, an der Lohnentwicklung der letzten
Jahre und am wirtschaftlichen Aufschwung zu partizipieren, indem Sie die Minijobber in dem 400-Euro-Getto
festmauern wollen. Wir wollen, dass sie mehr bekommen können, und zwar 450 Euro. Das haben die meisten
Minijobber auch verdient. Sie müssen sich dann der
Frage stellen: Was antworten Sie den Minijobbern, wenn
sie fragen, warum sie weiterhin 400 Euro und nicht
450 Euro bekommen sollen? Darauf bin ich sehr gespannt.
({4})
Dass die Rede von der Ausweitung eine Legende ist,
weil Sie damit unterstellen, dass es zulasten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse
geht, belegen schon die Zahlen. Während die Zahl der
Minijobber seit Einführung nur leicht gestiegen ist, zwischenzeitlich sogar im ersten Quartal dieses Jahres rückläufig war, wächst die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs in diesem Land überproportional. Wir
haben bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen einen Anstieg um 9 Prozent. Das
sind 2,4 Millionen.
({5})
Ehe Sie unterstellen, dass Minijobs dies verhinderten,
sollten Sie lieber etwas Mathematik machen und sich nur
diese Statistik anschauen. Dann werden Sie ein bisschen
schlauer.
({6})
- Schade, dass ich diesen Zwischenruf nicht verstanden
habe, Frau Kollegin.
({7})
Ich werde das mit großem Interesse im Protokoll nachlesen. Vielleicht stellen Sie das nächste Mal eine Zwischenfrage.
Wir müssen also mit dieser Legende aufräumen. Wir
dürfen dabei die Probleme - das gestehe ich Ihnen zu natürlich nicht aus dem Blick verlieren. Wir müssen aber
auch die Fortschritte klar benennen. Das haben die Kolleginnen und Kollegen, die hier gesprochen haben, eindrucksvoll getan. Die Regelung, die wir jetzt bei der
Rentenversicherung treffen wollen, ist ein solcher Fortschritt mit den beschriebenen Effekten.
Einen Punkt muss man noch etwas näher benennen,
weil er in der Debatte viel zu kurz kam: der Erfolg im
Kampf gegen die Schwarzarbeit.
({8})
Das betrifft gerade den Bereich der häuslichen Beschäftigungsverhältnisse. Schauen Sie sich doch die Wirklichkeit an. Es mag nicht in Ihr vorgeprägtes Weltbild passen,
({9})
aber meistens ist die Wirklichkeit nicht so, wie man sie
sich wünscht.
Schauen Sie sich doch an, wie viele 400-Euro-Jobs im
Haushaltsbereich entstanden sind.
({10})
Diese Tätigkeiten wurden früher in Schwarzarbeit ausgeübt.
({11})
Darüber muss man reden. Es ist ein großer Erfolg, dass
uns dies gelungen ist, und es ist wichtig, dass es diese
Möglichkeiten gibt.
Werfen wir einen Blick auf diejenigen, die einen Minijob haben. Allein in meinem Wahlkreis sind das
32 000 Menschen, davon 7 000 junge Menschen, die einen Minijob neben ihrem Studium, neben der Schule
oder vielleicht sogar neben der Berufsausbildung ausüben. Diese jungen Menschen sagen möglicherweise:
Das Ganze ist für mich eine tolle Chance, andere Bereiche des Arbeitslebens kennenzulernen. Das sind immerhin 400 Euro, um die ich nicht Mama und Papa bitten
muss, sondern über die ich frei verfügen kann. - Das ist
für junge Menschen viel Geld.
({12})
Insofern muss man festhalten: Es ist gut, dass es diese
Jobs für junge Leute gibt, weil sie auf diese Weise lernen, wie unsere Arbeitswelt funktioniert, weil sie sich
ausprobieren können,
({13})
weil sie unterschiedliche Bereiche des Arbeitslebens
kennenlernen, weil sie auch die Belastungen kennenlernen, denen man sich im Arbeitsleben stellen muss.
Wenn Sie das gleich als Ausbeutung definieren, dann
haben Sie eines nicht verstanden: Es gibt viele Menschen, die gerne arbeiten und nicht nur deshalb neben einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis zusätzlich einen Minijob ausüben, weil es mit
dem Gehalt nicht reicht. Das mag es auch geben.
({14})
- Das ist nicht die Regel. - Die Frage lautet aber: Was
machen Sie mit diesen Menschen, wenn Sie ihnen den
400-Euro-Job wegnehmen? Es gibt sehr viele Menschen,
die sagen: Ich arbeite gerne, ich möchte gerne zusätzlich
in einem anderen Bereich arbeiten, und deshalb mache
ich neben meinem Job noch einen Minijob. Es gibt beides. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass Sie endlich aufhören, nur ein einseitiges Bild der Minijobber in diesem
Land zu zeichnen.
Dasselbe gilt übrigens auch für die Älteren. Natürlich
gibt es auch die dramatischen Fälle, in denen die Rente
nicht ausreicht und die Menschen gezwungen sind, mit
einem 400-Euro-Job noch etwas hinzuzuverdienen. Es
gibt jedoch sehr viele Rentnerinnen und Rentner, die so
rüstig sind, dass sie noch etwas tun wollen und zum Beispiel mit einem 400-Euro-Job in ihrer alten Firma weiterarbeiten.
Unsere Aufgabe ist es, diese Bandbreite abzudecken.
Hierum geht es, wenn wir diesen Gesetzentwurf diskutieren. Man darf nicht pauschal sagen: Das taugt alles
nichts, hier ist damals nicht ordentlich gearbeitet worden, wir krempeln das jetzt um. Das wäre der völlig falsche Ansatz bei diesem Thema.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:
Wir hören, dass quer durch alle Fraktionen Praktikanten
und Mitarbeiter auf 400-Euro-Basis beschäftigt werden.
Das sind wohl eher junge Menschen, die neben dem Studium in einer Bundestagsfraktion arbeiten oder dort ein
Praktikum machen und davon profitieren. Das ist ja auch
in Ordnung. Das ist übrigens gängige Praxis in allen
Fraktionen. Es ist nun extrem unredlich von Ihnen, den
Kollegen von der FDP zu unterstellen, sie würden nach
anderen Maßstäben verfahren, als wir das alle gemeinsam tun.
({15})
Umgekehrt müssen Sie sich die Frage gefallen lassen,
ob Sie bei Ihren Praktikanten oder Mitarbeitern, die Sie
auf 400-Euro-Basis beschäftigen, auch die Arbeitszeiten
einhalten.
({16})
Ich behaupte, nein.
({17})
Diese Leute werden nämlich viel länger im Büro sitzen.
Den gegenteiligen Nachweis müssen Sie erbringen,
wenn Sie den Kollegen von der FDP entsprechende Vorwürfe machen. Sie müssen sich an denselben Maßstäben
messen lassen, die Sie an andere anlegen.
({18})
Das ist die Wahrheit.
Als Letztes gebe ich Ihnen Folgendes mit auf den
Weg: Wenn wir das nächste Mal über Minijobs diskutieren, dann lassen Sie sich Ihre Reden besser von Ihren
Minijobbern schreiben; dabei kommt mehr rum, als
wenn Sie es machen.
({19})
Danke.
({20})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ge-
setzentwurf zu Änderungen im Bereich der geringfügi-
gen Beschäftigung.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/11174, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/10773 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung angenommen.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen dabei über den
Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion der SPD na-
mentlich ab. Bei der Stimmabgabe bitte ich alle Kolle-
ginnen und Kollegen sorgfältig darauf zu achten, dass
die Stimmkarten, die sie verwenden, auch Ihren Namen
tragen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Bevor ich die Abstimmung eröffne, weise ich darauf
hin, dass mir drei Erklärungen zur Abstimmung vorlie-
gen. Falls es noch weitere geben sollte, fügen wir sie wie
üblich dem Protokoll bei.
Sind alle Abstimmungsplätze von jeweils zwei
Schriftführern besetzt? - Dort ist das der Fall. Links
auch? - Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ich stelle die obligate Frage: Haben alle anwesenden
Mitglieder an der Abstimmung teilgenommen? - Aha,
da kommt noch jemand.
Ich glaube, jetzt haben alle an der Abstimmung teilge-
nommen. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Zunächst zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/11174, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7386 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
({0})
- Ich bitte darum, sich an der Abstimmung zu beteiligen.
Wie ist es bei der CDU/CSU? Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
({1})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
FDP gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Ent-
haltung der Grünen angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Praxisgebühr sofort abschaffen
- Drucksache 17/11192 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Praxisgebühr jetzt abschaffen
- Drucksache 17/11141 -
c) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt abschaffen
- Drucksache 17/11179 Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt, über
ihren Antrag in der Sache namentlich abzustimmen.
Diese namentliche Abstimmung werden wir aber nur
durchführen, wenn nicht, wie von den Koalitionsfraktionen beantragt, zuvor die Ausschussüberweisung beschlossen wird.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Karl
Lauterbach für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Praxisgebühr wurde in der Großen Koalition eingeführt. Mit ihr waren damals drei Hoffnungen
verbunden: Wir wollten damals die Anzahl überflüssiger
Arztbesuche reduzieren, wir wollten die Anzahl unnötiger Facharztbesuche ohne vorherigen Hausarztbesuch reduzieren, und wir wollten mehr Kostenbewusstsein bei
den Patienten säen.
Der Erfinder der Praxisgebühr ist heute nicht bei uns;
er verantwortet sich in München. Das ist Horst Seehofer
gewesen. Ich erlaube hier ausdrücklich dem ZDF die Berichterstattung über diesen Punkt.
({0})
Horst Seehofer hat damals im Vermittlungsausschuss
- ich sage dies deshalb, weil man das selten hört - darum 1) Ergebnis Seite 24254 A
gebeten, dass die Praxisgebühr eingeführt wird. Er war
damals in einem regelrechten Zuzahlungsrausch und forderte, die Praxisgebühr bei jedem Arztbesuch zu erheben. Wir haben damals als SPD verhindern können, dass
die Praxisgebühr bei jedem Arztbesuch gezahlt werden
muss. Wir haben - so sage ich es einmal - das
Schlimmste verhindert. Aber der Erfinder der Praxisgebühr - Unehre, wem Unehre gebührt - war Horst
Seehofer.
({1})
Unsere damaligen Bedenken haben sich bestätigt: Die
Zahl der Arztbesuche ist gestiegen, sie ist nicht zurückgegangen. Auch die Zahl unnötiger Facharztbesuche
ohne steuernde Wirkung hat zugenommen. Das Kostenbewusstsein bei den Patienten ist nicht besser geworden.
Wir haben mehr Bürokratie in den Praxen; die Ärzte lehnen daher die Praxisgebühr zu Recht ab. Alte und
Kranke fühlen sich diskriminiert. Sie fragen sich: Weshalb müssen wir dieses Sonderopfer erbringen, während
die Krankenkassen fast 30 Milliarden Euro Überschuss
erwirtschaften?
Die Praxisgebühr gehört somit abgeschafft; das ist
eine richtige Entscheidung. Dies bleibt auch dann eine
richtige Entscheidung, wenn sich die FDP dafür einsetzt.
Nicht alles, was die FDP für richtig hält, ist automatisch
falsch.
({2})
Hier sind wir mit der FDP in einem Boot. Die Praxisgebühr muss ersatzlos gestrichen werden.
({3})
Unsere Sorge ist - ich will es gleich auf den Punkt
bringen -, dass die unstrittig unsinnige Praxisgebühr
durch ein noch unsinnigeres Betreuungsgeld ersetzt
wird. Das ist unsere Sorge. Wir wissen alle: Es ist ein
Kuhhandel in Vorbereitung, der als solcher noch verdeckt werden soll. Das gelingt aber, ehrlich gesagt, recht
schlecht. Die Praxisgebühr, die aus Perspektive der FDP
unsinnig ist, soll gegen die Einführung des Betreuungsgeldes eingetauscht werden, das aus Sicht der FDP ebenfalls unsinnig ist. Der Vizekanzler und FDP-Vorsitzende
Rösler trug vor, das Betreuungsgeld koste viel Geld, sei
nicht gegenfinanziert und eine Bildungskomponente
fehle völlig. Da muss man sagen: Chapeau, Herr Rösler!
Damit haben Sie es auf den Punkt gebracht. Dann ist es
aber völlig unklar, weshalb Herr Brüderle darauf hinweist, dass das unsinnige Betreuungsgeld jetzt eingeführt werden soll.
Der Eindruck, der sich hier aufdrängt, ist: Die Praxisgebühr schadet in erster Linie Alten und Kranken; sie
soll jetzt durch ein Betreuungsgeld ersetzt werden, welches in erster Linie Kindern schadet. Ich sage: Das ist
der Tiefpunkt des schwarz-gelben Regierungshandwerks, wenn man hier noch von „Handwerk“ zu sprechen wagt.
({4})
Hier wird Murks gegen Murks getauscht. Seien wir doch
ehrlich: Hier wird ein Murks zugelassen, damit ein anderer Murks abgeschafft werden kann. Es wird für
Deutschland nichts erreicht. Es ist unklar, was dem Land
mehr schadet: der abgeschaffte Murks oder der neu eingeführte Murks. Insofern ist die Regierungskoalition
hier in einen Kuhhandel verwickelt, der zum Schluss allen Beteiligten schadet.
Vizekanzler Rösler wurde vom Parlamentarischen
Geschäftsführer Oppermann als „Umfaller“ bezeichnet.
Ich muss sagen: Besser kann man es nicht ausdrücken;
es ist tatsächlich so. Vizekanzler Rösler hat sich selbst
früher einmal als „Bambus im Sturm“ bezeichnet. Wenn
ich ehrlich sein soll: Er erinnert heute eher an einen eingeknickten Strohhalm als an einen Bambus im Sturm.
({5})
Wir haben der FDP und auch der Union heute ein faires Angebot zu machen. Das faire Angebot ist Folgendes: Wir haben unseren Antrag modifiziert. Wir verzichten auf jedes Beiwerk. Mit unserem heutigen Antrag gibt
es die Abschaffung der Praxisgebühr pur, ohne jedes
Beiwerk, keine anderen Inhalte.
({6})
Das heißt: Wenn es die FDP ehrlich meint, dann kann sie
heute mit uns abstimmen. Ein Kuhhandel ist bei uns
nicht nötig. Bei uns bekommen Sie die sinnvolle Abschaffung der Praxisgebühr, ohne dass Sie dafür einem
anderen Unsinn zustimmen müssen.
Die Bundeskanzlerin, die gerade gekommen ist, erweckt den Eindruck, als ob sie dies alles nichts angehe.
Tatsache ist aber, dass der Murks, der hier getauscht
wird, zum Schluss auch in ihrer Verantwortung liegt. Daher ist es nicht unwichtig, was wir hier beschließen. Die
wichtigen Entscheidungen, die im Ausland für unser
Land zu treffen sind, ersetzen kein aktives Regierungshandeln, das unsere Kinder und die alten und kranken
Menschen im Land betrifft. Daher möchte ich appellieren, diese Debatte ernst genug zu nehmen.
Wir bringen heute unseren Antrag ein, mit dem die
Praxisgebühr abgeschafft werden kann, ohne dass sich
jemand verbiegen muss, ohne Kuhhandel. Es ist eine
ehrliche Abschaffung. Meine sehr verehrten Kollegen
von der FDP, hier können Sie einmal Ehrlichkeit und
Rückgrat zeigen.
({7})
Sie können zeigen, dass Sie nicht nur Taktiker und Strategen sind, dass Sie es ernst meinen, dass Sie nicht zum Verdruss beitragen. Denn genau diese Kuhhandel, die zulasten der Menschen gehen, führen zu Politikverdrossenheit.
Das ist der Grund, weshalb Sie in Umfragen bei 3 Prozent
liegen und die Union in keiner Großstadt mehr ernst genommen wird und keine Wahl mehr gewinnen kann.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischendurch
gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und
FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung
bekannt: abgegebene Stimmen 583. Mit Ja haben gestimmt 315, mit Nein haben gestimmt 268, Enthaltungen
keine. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon
ja: 314
nein: 266
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({2})
Axel E. Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({4})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({5})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({15})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({22})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({23})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({24})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({25})
Michael Link ({26})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({27})
Burkhardt Müller-Sönksen
({28})
Dirk Niebel
({29})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Serkan Tören
({30})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({31})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({32})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({33})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({34})
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({35})
Hubertus Heil ({36})
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({37})
Frank Hofmann ({38})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({39})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({40})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({41})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({42})
Michael Roth ({43})
({44})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({45})
Bernd Scheelen
({46})
Werner Schieder ({47})
Ulla Schmidt ({48})
Carsten Schneider ({49})
Swen Schulz ({50})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({51})
Uta Zapf
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({52})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({53})
Volker Beck ({54})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({55})
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({56})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({57})
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({58})
Manuel Sarrazin
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({59})
Wolfgang Wieland
Wir fahren in der Diskussion zum jetzigen Tagesordnungspunkt fort. Ich erteile Johannes Singhammer für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({60})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Lauterbach, Ihnen von der Opposition geht es
nicht um die Praxisgebühr. Es geht Ihnen auch nicht um
die Sorgen der Patientinnen und Patienten.
({0})
Ihnen geht es um ein schräges, taktisches Spielchen.
({1})
Sie hoffen und glauben, dass Sie mit Ihrem Antrag die
Koalition in Bedrängnis bringen könnten.
({2})
Lassen Sie mich eines sagen: Ihr schiefer Winkelzug
ist zum Misserfolg verdammt. Warum? Weil er den Charakter einer unfreiwilligen Vorlage hat.
({3})
Sie können über die Abschaffung der Praxisgebühr und
die Verringerung der Überschüsse der gesetzlichen
Krankenversicherung nur sprechen, weil wir die historisch einmalige Situation von gefüllten Kassen im Gesundheitsfonds und bei den Krankenkassen haben.
({4})
Dieses historisch Einmalige, das hat diese Koalition geschafft, weil wir die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt und eisenharte Sparmaßnahmen verfügt haben.
({5})
Das war nicht planlos, sondern planvoll.
({6})
Im vergangenen Jahr sind allein bei den Arzneimitteln
1,1 Milliarden Euro eingespart worden. Das ist der
Grund für die jetzige komfortable Situation. Viele erinnern sich noch: Vor nicht weniger als zwei Jahren haben
wir diskutiert: Wie können wir das sich abzeichnende
Defizit von 11 Milliarden Euro vermeiden? Wie können
wir das schwarze Loch im Bereich Finanzen beseitigen?
Heute führen wir eine Diskussion, die im Deutschen
Bundestag in den vergangenen Jahrzehnten so noch
nicht geführt worden ist: Wie gehen wir mit Überschüssen im Fonds, mit Reserven bei den Kassen um? Was
soll mit diesen Überschüssen geschehen?
({7})
Eine solche Diskussion ist für uns komfortabel, sie ist
angenehm, und wir werden dafür sorgen, dass uns die
Überschüsse nicht zerrinnen, sondern dass der Aspekt
der Sicherheit bei der gesetzlichen Krankenversicherung
gewahrt wird.
Zur Praxisgebühr. Sie ist natürlich auch zum Zweck
der Einnahmegewinnung eingeführt worden. In den vergangenen Jahren - darauf hat der Kollege Zöller immer
wieder hingewiesen - hat die Praxisgebühr 16 Milliarden Euro eingebracht.
({8})
- Frau Ferner, Sie kommen mir gerade recht. Sie haben
Ihren Antrag ursprünglich überschrieben mit: „Hausärztinnen und Hausärzte stärken“. So haben Sie Ihren Antrag ursprünglich genannt.
({9})
Nun haben Sie ihn wieder beseitigt. Das ist auch gut
so.
({10})
Denn die Praxisgebühr hat insbesondere bei den sogenannten Hausarztverträgen zu einer Steuerungswirkung
geführt. Viele Hausarztverträge sind deshalb angestrebt
worden und haben sich deshalb als attraktiv erwiesen,
weil ein Bestandteil vieler dieser Verträge war, dass die
Praxisgebühr in diesem Komplettpaket nicht mehr enthalten ist. Wenn jetzt die Praxisgebühr abgeschafft wird,
dann bedeutet das eine massive Verringerung der Attraktivität von Hausarztverträgen. Insofern ist es richtig, dass
Sie Ihren ursprünglichen Antragstext leicht verändert haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie weiter so!
Ich darf daran erinnern - Sie haben das so beiläufig
erwähnt -: Die Praxisgebühr ist in der Zeit der rot-grünen Koalition beschlossen worden,
({11})
mit Zustimmung der Union. Ja, so war es.
({12})
2009 - auch das kann ich Ihnen nicht ersparen - hat die
frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt - nicht
2004, sondern 2009 - erklärt: Im Gegensatz zu Ländern,
wo Patienten bei jedem Arztbesuch zuzahlen müssen, sei
die Praxisgebühr moderat und sozial ausgewogen. Sie
sagte: „Wir planen keine Erhöhung, aber auch keine
Rücknahme.“ Das war vor drei Jahren. Ich stelle fest:
Die politische Halbwertszeit von derartigen Bekundungen beträgt bei den Sozialdemokraten genau drei Jahre.
({13})
Was machen Sie nach der Bundestagswahl als Nächstes? Wie werden Sie Ihre Meinung wieder geändert haben?
({14})
Ich sage Ihnen: Wichtiger als all diese Diskussionen
ist für die Patientinnen und Patienten, dass sie jederzeit
und überall in unserem Land eine qualitätsvolle gesundheitliche Versorgung erhalten.
({15})
Das interessiert die Menschen draußen. Sie wollen, dass
es in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen eine
qualitativ gute Versorgung gibt.
({16})
Deshalb fördern wir die Struktur der Gesundheitsversorgung gleichmäßig und bewerten auch die Gesundheitsversorgung als eine Strukturleistung.
({17})
Das wird auch künftig nicht ohne Mehrausgaben zu
bewältigen sein. Wir haben mit Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des ländlichen Raumes begonnen,
damit sich mehr Ärzte im ländlichen Raum niederlassen.
Mit 120 Millionen Euro wollen wir die Feiertags- und
Notdienste der Apotheken im ländlichen Raum honorieren. Damit stärken wir die Struktur in den ländlichen Regionen. Wir werden die Strukturleistung, die das Gesundheitswesen darstellt, weiterhin unterstützen. Denn
der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und des schnellen
Internets im ländlichen Raum kann keine positive Wirkung entfalten, wenn in den ländlichen Regionen keine
ausreichende qualitätsvolle Gesundheitsversorgung vorhanden ist. Dann werden alle anderen Strukturmaßnahmen nichts nützen. Deshalb nehmen wir nochmals Geld
in die Hand. Deshalb setzen wir hier einen Schwerpunkt.
({18})
Darum sage ich Ihnen: Lasst uns darüber diskutieren.
Lasst uns den Menschen die Sicherheit geben, dass die
Versorgung auch weiterhin garantiert ist, und lasst uns
nicht mit schrägen taktischen Spielchen, die erkennbar
und durchschaubar sind, die Menschen verunsichern.
({19})
Wir machen eine nachhaltige Gesundheitspolitik auf einer gesicherten finanziellen Basis. Diese Politik wird die
Koalition in den verbleibenden Monaten dieser Legislaturperiode und in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen.
({20})
Das Wort hat nun Dietmar Bartsch für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Singhammer, mich hat gewundert, dass Sie allen
hier unterstellen, dass es ihnen nur um Taktik geht. Was
glauben Sie eigentlich, was die Leute, die uns hier zuhören, denken? Einigen von ihnen, die heute noch die
Praxisgebühr zahlen müssen, fällt es vielleicht wirklich
schwer, sie zu bezahlen.
({0})
Lassen Sie uns doch einmal über die Sache sprechen,
darüber, worum es hier geht, über die Anträge der Opposition. Lassen Sie uns beleuchten, ob die Abschaffung
der Praxisgebühr machbar ist oder ob das nicht machbar
ist. Die Linke hat schon vor längerer Zeit einen solchen
Antrag gestellt.
({1})
Sie haben im Ausschuss verhindert, dass dieser Antrag
auf die Tagesordnung gekommen ist.
({2})
In diesem Sinne: Lieber Karl Lauterbach, die Linke hat
damals ein ehrliches Angebot unterbreitet, dem die SPD
hätte zustimmen können.
({3})
Eines ist doch ganz klar: Die Praxisgebühr ist unsozial, die Praxisgebühr ist überflüssig, und die Praxisgebühr gefährdet letztlich die Gesundheit. Wir haben schon
bei der Einführung gesagt, dass wir dagegen sind. Seit
langem versuchen wir, die Praxisgebühr abzuschaffen.
Jetzt gibt es einen großen Wettlauf: Die Grünen sind für
die Abschaffung. Die Sozialdemokraten sind für die Abschaffung. Heute habe ich gelesen, dass das rot-grüne
Nordrhein-Westfalen die Abschaffung im Bundesrat beantragen will. Die FDP ist für die Abschaffung der
Praxisgebühr. Selbst bei der Union gibt es viele, die die
Praxisgebühr abschaffen wollen. Eigentlich könnten wir
heute ruhig abstimmen und die Praxisgebühr schlicht abschaffen.
({4})
Schauen Sie, es ist doch so: Auf der Gesundheitsministerkonferenz haben sich elf Länder dafür ausgesprochen, dass die Praxisgebühr abgeschafft wird. Das
schwarz-gelb regierte Hessen ist dafür. Das zeigt doch
ganz klar: Das sollten wir machen. Warum machen wir
das nicht? Aus einem Grund: Im Koalitionsausschuss
- da wird wie auf einem Basar oder bei einem Kuhhandel verhandelt - steht die Praxisgebühr mit auf der Tagesordnung. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wie
wollen Sie den Menschen erklären, dass das die Politik
hier im Bundestag ist?
({5})
Ich will aber auch daran erinnern - das ist schon gesagt worden; das sollten wir alle nicht vergessen -, wann
die Praxisgebühr eingeführt worden ist. Das war 2004.
Das hat Rot-Grün im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes gemacht, mit Zustimmung der CDU/CSU.
Das war im Rahmen der Agenda 2010. Es ging darum,
die Lohnnebenkosten zu senken, die Krankenversicherungsbeiträge zu senken und eine Steuerungswirkung zu
entfalten. Die Praxisgebühr war Teil eines Pakets.
Ich will den Anlass nutzen, um zu sagen, was alles
damals von Rot-Grün beschlossen worden ist. Es wurden ja nicht nur die 10 Euro pro Quartal beschlossen. Es
wurden eine Zuzahlung von 10 Prozent zu Arznei- und
Hilfsmitteln und bei einem Krankenhausaufenthalt an
den ersten 28 Tagen 10 Euro pro Tag beschlossen. Es ist
beschlossen worden, dass die Kosten für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel und die Fahrtkosten zur
ambulanten Behandlung komplett von den Patientinnen
und Patienten getragen werden müssen. Das Entbindungs- und das Sterbegeld sind gestrichen worden. Die
Belastungsobergrenze für Zuzahlungen ist auf 2 Prozent
des jährlichen Bruttoeinkommens erhöht worden. Das
alles ist damals von Rot-Grün im Rahmen der Agenda
2010 zulasten der Patientinnen und Patienten beschlossen worden.
Die Praxisgebühr - das ist sonnenklar; ich glaube, da
gibt es Konsens hier im Haus - hat ihre Ziele nicht erreicht. Die Steuerungswirkung ist nicht eingetreten. Wir
können feststellen, dass es insgesamt nicht weniger
Arztbesuche gibt. Es gibt sogar mehr Arztbesuche. Aber
einige Versicherte verzichten deswegen auf Arztbesuche. Das sind nicht wir Bundestagsabgeordnete und andere Gutverdienende. Wer verzichtet darauf? Die Geringverdienenden sowie Rentnerinnen und Rentner.
({6})
Der Verzicht auf Arztbesuche führt zur Verschleppung
von Krankheiten und hat negative Folgen für die Gesundheit. Letztlich führt dies sogar zu Zusatzkosten. Einige Versicherte gehen oft zum Arzt, aber gerade die sozial Schwächeren verzichten auf Arztbesuche.
({7})
Dazu kommt der bürokratische Aufwand; das wissen
wir alle. Auch die FDP weist darauf hin. Die Bürokratiekosten für Arztpraxen betragen 360 Millionen Euro.
Dieses Geld steht für die Patientinnen und Patienten
letztlich nicht zur Verfügung. Die zusätzlichen Einnahmen betragen nicht 8 Milliarden Euro. Es sind nicht
einmal 2 Milliarden Euro pro Jahr. Wenn man diese Einnahmen einmal in Relation zu den Einnahmen des Gesundheitsfonds betrachtet - diese liegen bei ungefähr
180, 190 Milliarden Euro -, dann sieht man, dass sie
circa 1 Prozent der Einnahmen des Gesundheitsfonds
ausmachen. Das hat die Praxisgebühr eingebracht.
Noch einmal: Die anderen Maßnahmen haben für die
Patientinnen und Patienten insgesamt zusätzliche Belastungen in Höhe von 46 Milliarden Euro gebracht. Das
Ergebnis ist - dies verkünden Sie jetzt mit großem
Stolz -: Die Krankenversicherungen haben einen Überschuss von über 20 Milliarden Euro. Ich finde, dass es
nicht in Ordnung ist, wenn auf der einen Seite die Krankenkassen einen Überschuss von 20 Milliarden Euro haben und auf der anderen Seite die Ärmsten der Bevölkerung eine Praxisgebühr zahlen müssen. Das ist nicht
akzeptabel.
({8})
Im Übrigen gibt es auch bei den Kassen sehr wohl
differenzierte Sichtweisen. Es ist nicht so, dass alle Kassen das ganz toll finden. Es ist im Übrigen auch eine
schreiende Ungerechtigkeit, dass 9 Millionen Privatversicherte diese Gebühr nicht zahlen. Dies ist eine Zweiklassenmedizin.
({9})
Nun möchte ich einen Satz zur SPD sagen. Man kann
es ja nett ausdrücken, lieber Karl Lauterbach, und es eine
Weiterentwicklung von Positionen nennen und von Erkenntniszuwachs sprechen. Eines allerdings geht nicht:
dass sich die SPD in dieser Frage als Speerspitze der Bewegung geriert. Das ist sie nicht.
({10})
Es gibt nämlich eine andere Fraktion, die die Abschaffung der Praxisgebühr seit vielen Jahren fordert.
Ich finde es zwar gut, dass sich Ihre Position verändert hat; letztlich müssen wir aber auf etwas anderes
drängen. Wir brauchen eine solidarische Bürgerversicherung, damit wir diesen Bereich insgesamt verändern.
Nicht nur die Praxisgebühr muss weg. Die Beitragsbemessungsgrenze muss natürlich auch aufgehoben werden. Wir müssen Beamte, Abgeordnete und Selbstständige in das allgemeine System einzahlen lassen. Dann
werden wir dieses Problem lösen können.
Wir als Linke haben eine Studie anfertigen lassen. Die
Ergebnisse dieser Studie sind sonnenklar. Ähnliche Erkenntnisse gibt es auch bei den Sozialdemokraten. Aktuell liegen die Beiträge bei 15,5 Prozent, nicht einmal
paritätisch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgeteilt. Wir wollen eine Bürgerversicherung mit einem
Beitrag in Höhe von 10,5 Prozent, wobei beide, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 5,25 Prozent übernehmen.
Dann könnten wir alle Zuzahlungen abschaffen, wir
könnten die Praxisgebühr abschaffen, und wir könnten
das Ganze finanzieren. Das wäre der Weg; das wäre
wirklich eine große Lösung.
({11})
Es ist natürlich interessant, dass auch Sie das wollen.
Wir alle wissen, dass die Privatversicherungen im Niedergang sind. Das wird sich so ergeben.
({12})
- Nur zu, ich bin ja für die Bürgerversicherung. Sie müssen mir aber eines erklären: Wenn Sie wirklich für die
Bürgerversicherung sind, dann müsste doch für Sie - anders als für Ihren Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück die FDP ein Albtraumpartner sein; denn die wollen das
nicht.
({13})
Die Linke wäre der Traumpartner; denn wir wollen eine
Bürgerversicherung. Lassen Sie uns das doch gemeinsam machen. Das wäre eine vernünftige Variante. Wir
sollten darüber nachdenken, hier einen großen Schnitt zu
machen, und nicht nur kurzfristig handeln.
Sie haben jetzt gesagt, dass Sie einen Antrag vorlegen, in dem Sie ausschließlich die Abschaffung der Praxisgebühr fordern. Ich sage Ihnen: Wir werden Ihrem
Antrag bei allen Differenzen - die Linke verhält sich da
ein bisschen anders -, zustimmen. Die Grünen haben einen Antrag gestellt. Ich sage ganz klar: Die Fraktion Die
Linke stimmt diesem Antrag zu. Die FDP ist für die Abschaffung der Praxisgebühr. Es könnte heute eine ganz
einfache Angelegenheit sein: Wir stimmen ab, und wir
schaffen die Praxisgebühr ab. Ich glaube, im Lande würden sich ganz viele darüber freuen.
Ganz nebenbei: Es wäre ein Gewinn für die Demokratie, wenn wir einmal außerhalb dieser Basarhandlungen und außerhalb von Anrufen und Ähnlichem etwas
im Bundestag klärten, wovon die Mehrheit des Hauses
überzeugt ist. Die Mehrheit hält die Einführung der Praxisgebühr für einen großen Fehler, weil alles das, was
man sich davon erwartet hat, nicht eingetroffen ist. Wir
sollten endlich eine Entscheidung treffen, die im Sinne
der Ärztinnen und Ärzte, im Sinne der Patientinnen und
Patienten, im Sinne der Krankenkassen, also im Sinne
der Mehrheit in diesem Lande ist.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben hier schon eine Vielzahl von
Debatten zur Gesundheitspolitik erlebt. Mit einer ganzen
Reihe von Gesetzen haben wir die Finanzen wieder in
Ordnung gebracht. Wir haben den Arzneimittelmarkt völlig neu organisiert, wir haben das GKV-Versorgungsstrukturgesetz durchs Parlament gebracht, das insbeson24260
dere für den ländlichen Raum viele Verbesserungen
bringt. Zuletzt haben wir das Pflege-NeuausrichtungsGesetz beschlossen, von dem insbesondere Menschen mit
Demenz profitieren.
Wir kümmern uns um eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung, die schon sehr gut ist in diesem
Lande. Das, was noch verbessert werden kann, gehen
der liberale Gesundheitsminister und die Gesundheitspolitiker von CDU/CSU und FDP gemeinsam an.
({0})
„Worum geht es heute?“, wird sich mancher Zuschauer fragen. Angeblich geht es um die Praxisgebühr;
doch das stimmt so nicht ganz.
Herr Kollege Lauterbach, Sie haben versucht, sich in
ein fremdes Boot zu setzen. Als Kuckucksei werden Sie
bei uns nicht unterkommen. Sie wollen gerne teilhaben
an einer Diskussion, die in den letzten anderthalb Jahren
in der Hauptsache von der FDP angestoßen wurde.
({1})
Es geht darum, Ideen zu entwickeln, gute Gründe vorzutragen, sich aber auch Argumente anzuhören, die dagegen sprechen könnten. In dieser Debatte befinden wir
uns im Übrigen noch.
Indem hier Anträge gestellt werden, die aus Versatzstücken früherer Anträge bestehen, wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, die Opposition würde an
der Mitarbeit gehindert. Damit muss ich aufräumen. Wir
wären ganz im Gegenteil froh, wenn aus der Opposition
konstruktive Vorschläge kämen und die Debatte mit uns
wirklich geführt würde.
Die drei Anträge der einzelnen Oppositionsfraktionen, die heute wieder neue Anträge gestellt haben, sind
im Plenum bereits ausführlich behandelt worden. Wie es
sich gehört - so werden wir es auch heute halten -, haben wir die Anträge an den Gesundheitsausschuss überwiesen. Im Ausschuss sind die Anträge auf die Tagesordnung gesetzt und aufgerufen worden. Über die Sache
sprechen wollten die Oppositionsfraktionen nicht. Sie
wollten, dass möglichst schnell abgestimmt wird, damit
die Anträge wieder ins Plenum gehen. So wiederholt
sich ein seltsames Schauspiel im Gesundheitsausschuss,
über das man hier durchaus einmal berichten sollte: Ich
habe im Ausschuss mehrfach den Antrag gestellt, dass
wir diskutieren, man aber bitte darauf Rücksicht nehmen
möge, dass innerhalb der Koalition eine diesbezügliche
Diskussion läuft. Wir wollen, wie es im Koalitionsvertrag steht, prüfen, ob die Praxisgebühr sinnvoller und unbürokratischer erhoben werden kann. Das hängt zusammen mit der generellen Frage - auch das ist kein
Geheimnis -, welche Steuerungsinstrumente es denn geben könnte, die womöglich sinnvoller sind als die Praxisgebühr, über die zumindest die Mehrheit der Betrachter sagt, dass sie ihre Lenkungsfunktion nicht oder
jedenfalls nicht sehr gut erfüllt. Das haben Sie leider
nicht wahrgenommen. Das heißt, dieser Tagesordnungspunkt wird seit mehreren Sitzungswochen jedes Mal im
Ausschuss auf die Tagesordnung gesetzt und von der
Vorsitzenden aufgerufen; aber es meldet sich aus der Opposition niemand zu Wort, um entsprechende Beiträge
vorzubringen. Das Einzige, was Sie wollen, ist, dass abgestimmt wird. Wir sagen: Wir haben hier noch Beratungsbedarf untereinander.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, danke. - Diese Beratung führen wir, und wir
sind kurz vor dem Ziel, zusammen eine vernünftige Lösung zu erarbeiten. Das können Sie übrigens alles den
Tageszeitungen entnehmen, weil darüber auch genügend
geschrieben und gesprochen wird.
Deswegen verwahre ich mich in aller Form gegen
das, was Herr Bartsch gesagt hat. Ich bedaure übrigens,
dass weder der Kollege Weinberg noch die Kollegin
Bunge dazu reden, die sich tatsächlich schon seit längerem mit diesem Thema beschäftigen.
({0})
Immer dann, wenn es angeblich wichtig wird, sprechen
andere aus der Fraktion. Die Kollegin Bender hat das mit
dem Kollegen Kuhn auch erlebt. Die Stuttgarter Wähler
haben sie jetzt davon erlöst, sodass das hier nicht mehr
vorkommen wird.
Ich habe hier mit Erstaunen festgestellt, dass Sie gesagt haben, wir hätten das von der Tagesordnung abgesetzt, Herr Bartsch. Das stimmt so nicht. Es ist niemals
im Gesundheitsausschuss von der Tagesordnung abgesetzt worden. Sie haben nur die Gelegenheit zur Diskussion erst gar nicht wahrgenommen. Ich möchte Sie doch
bitten, dass Sie da bei der Wahrheit bleiben.
Meine Damen und Herren, wir haben erlebt, dass die
SPD einen Antrag gestellt hat. Herr Lauterbach hat dann
versucht, uns einzuladen. Sie haben aber in der Tat getrickst. Zuerst haben Sie einen Antrag verschickt, in dem
es hauptsächlich um das Hausarztmodell ging, weil Sie
es hier wieder heimlich auf die Tagesordnung bringen
wollten. In allerletzter Minute haben Sie dann gemerkt,
dass das vielleicht nicht ganz passt. Der Kollege
Singhammer hat schon einiges dazu gesagt. Deswegen
haben Sie Ihren Antrag schnell noch abgeändert und auf
die Praxisgebühr beschränkt.
Ich sage Ihnen in aller Offenheit: Es gibt gute Gründe,
zu diskutieren. Wir haben über die Steuerungswirkung
zu sprechen. Wir haben über die Finanzwirkung zu sprechen. Wir haben über die Konstruktion zu sprechen. Ein
Inkasso für Dritte ist nämlich immer eine unglückliche
Konstruktion. Die Ärzte haben ja niemals die Praxisgebühr für sich eingetrieben, sondern das immer für die
Krankenkassen getan. Zuerst haben sie sogar noch Verluste damit gemacht, weil sie hinter Geld herlaufen
mussten, was dann noch mehr Geld gekostet hat. Außerdem gibt es Bürokratiekosten.
Wir haben uns bereits Gedanken darüber gemacht.
Bis hin zur Kanzlerin haben wir erreicht, dass jetzt darüber nachgedacht wird. Wir stehen kurz vor einem, wie
ich glaube, erfolgreichen Ende.
Liebe Kollegen, deswegen appelliere ich an Sie: Lassen Sie uns das Ganze weiter im Ausschuss beraten - da,
wo es hingehört.
({1})
Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt reden wir einmal nicht über Geschäftsordnung und Gedanken, sondern über die Politik, die diese Regierung
macht.
({0})
Nach acht Jahren Geltung der Praxisgebühr kann man
ganz nüchtern feststellen: Die Praxisgebühr ist ein bürokratisches Ärgernis in den Praxen und ein soziales Ärgernis im Hinblick auf Arme und Kranke, die - Überforderungsklausel hin oder her - deswegen Arztbesuche
hinausschieben. Das können wir nicht wollen. Deswegen
gibt es gute Gründe, die Praxisgebühr abzuschaffen.
({1})
Wir stellen auch fest: Im Gesundheitsfonds ist im Moment - auch unter Beachtung der notwendigen Rücklagen - genügend Geld, um die Abschaffung der Praxisgebühr zweieinhalb Jahre lang zu finanzieren. Also spricht
eigentlich alles dafür, es zu tun.
Wir stellen nun aber fest: In der Regierung gibt es einen Kuhhandel. Die FDP hat jetzt ein Thema entdeckt,
das „Entlastung der Versicherten“ heißt. Entlastung der
Versicherten? Geht es Ihnen wirklich darum? Was dürfen wir denn allen Berichten entnehmen? Die FDP ist
jetzt bereit, einer schuldenfinanzierten Ausgabe von
1,5 Milliarden Euro zuzustimmen - das sogenannte Betreuungsgeld; der Sache nach nichts anderes als eine
Fernhalteprämie für Kinder aus der Kita; mithin 1,5 Milliarden Euro Schulden dafür, dass Kinder aus armen Familien weniger Chancen auf Förderung haben, als sie in
der Kita hätten.
({2})
Die FDP weiß sogar, dass das so ist, und hat es auch
gesagt. Sie ist aber bereit, das dafür mitzumachen, dass
es 2 Milliarden Euro weniger bei der Praxisgebühr gibt.
Das nennen Sie Entlastung? Das ist doch lächerlich. Das
ist ein politischer Kuhhandel. Er stinkt zum Himmel.
Dafür kann man Sie in keiner Weise loben.
({3})
Sie haben aber Gelegenheit, heute unseren Anträgen
hier zuzustimmen. In diesem Zusammenhang muss man
noch einmal sagen, worum es bei der Praxisgebühr auch
geht. Ich habe gesagt, dass im Moment im Gesundheitsfonds genügend Geld vorhanden ist, um ihre Abschaffung zu finanzieren. Dass Geld vorhanden ist, ist aber
nicht das Ergebnis guter Politik. Warum haben wir denn
Überschüsse im Gesundheitsfonds? Warum haben wir
Überschüsse bei den Kassen? Weil Sie, aufbauend auf
den Vorarbeiten der Großen Koalition, ein Modell geschaffen haben, bei dem es nicht nur einen Einheitsbeitrag gibt, sondern auch eine Unterfinanzierung der Kassen, die sich das Geld über einen Zusatzbeitrag holen
sollen.
Schwarz-Gelb hat diesen von Beschäftigten und Arbeitgebern zu zahlenden Beitrag eingefroren. Sie wollen,
dass in Zukunft nur noch die Versicherten für die Bewältigung jeglicher Kostensteigerung im Gesundheitswesen
zuständig sind. Weil Sie aber Angst vor Ihrer eigenen
Courage hatten, haben Sie den einheitlichen Beitragssatz
geschwind noch einmal erhöht. Deswegen ist so viel
Geld im Gesundheitsfonds.
Weil die Kassen Angst vor dem Zusatzbeitrag hatten,
haben sie das Geld die ganze Zeit festgehalten, kein
Geld für neue Versorgungsmodelle ausgegeben und bei
der Reha gespart. Das Ganze ist eine Innovationsbremse
im Gesundheitswesen par excellence.
({4})
Sozial ist daran überhaupt nichts. Wenn es nämlich
keinen Regierungswechsel gäbe, dann würde die Abschaffung der Praxisgebühr mittelfristig natürlich wieder
zu Zusatzbeiträgen führen. Sie würden mit den Versicherten also „Linke Tasche - rechte Tasche“ spielen. Genau das wollen wir verhindern.
({5})
Wir wollen, dass das Gesundheitswesen wieder gescheit finanziert ist. Der Weg dahin ist die Bürgerversicherung.
Als Erstes müssen die Kassen wieder entscheiden
können, welche Beiträge sie erheben. Dann werden etliche die Beiträge senken, und das Geld geht direkt in die
Taschen der Versicherten.
Abgeschafft werden müssen dabei die Zusatzbeiträge,
und abgeschafft wird dabei auch die Praxisgebühr. Mittelfristig wird sie durch die Bürgerversicherung finanziert, wodurch es zu größerer Solidarität und mehr Einnahmen kommt. Das muss die Perspektive sein - und
kein Kuhhandel, bei dem man noch Geld dafür herauswirft, die sozialen Chancen Benachteiligter noch weiter
zu vermindern. Das kann es nicht sein.
({6})
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es wichtig, sich angesichts der Debatte noch einmal in Erinnerung zu rufen, warum wir überhaupt in der
Lage sind, eine solche Debatte zu führen,
({0})
und dass es eigentlich ein Novum in der längeren, jüngeren deutschen Krankenversicherungsgeschichte ist, dass
wir mittlerweile seit Wochen öffentlich an vielen Stellen
darüber reden, wie wir mit Rücklagen in der gesetzlichen Krankenversicherung umgehen.
Über Jahrzehnte wurde immer darüber gesprochen,
wie wir mit Defiziten umgehen und dass wir im Gesundheitswesen Kostendämpfung betreiben müssen. Unsere
erfolgreiche Politik hat uns dahin gebracht, dass wir in
den sozialen Sicherungssystemen Rücklagen haben. Ich
finde, das gehört am Anfang einer solchen Debatte erst
einmal entsprechend gewürdigt.
({1})
Diese Rücklagen haben für sich genommen tatsächlich große Formen angenommen. Sie betragen im Gesundheitsfonds 10 Milliarden Euro. Bei einzelnen Kassen sind es noch einmal Rücklagen in Höhe von
14 Milliarden Euro. Das muss man übrigens bitte wirklich differenzieren, Herr Kollege Lauterbach; das können Sie nicht einfach zusammenzählen. Das heißt also,
einzelne Kassen haben sehr hohe Rücklagen, während
andere auch heute noch Zusatzbeiträge erheben. Genauso wie es früher Unterschiede beim Beitragssatz gab,
gibt es heute Unterschiede in der Finanzsituation der
Kassen. Die einen schütten Prämien aus, andere müssen
Zusatzbeiträge erheben. Das ist gelebter Preiswettbewerb.
Die Summen sind für sich genommen natürlich hoch.
10 Milliarden Euro: Das ist und bleibt eine Menge Geld.
Zur Wahrheit gehört aber auch, zu sagen: Bei Gesamtausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung im
nächsten Jahr von 190 Milliarden Euro reichen 10 Milliarden Euro nicht einmal, um sie einen halben Monat
lang zu finanzieren. Auch das müssen wir in der Debatte
einmal deutlich machen: Es sind Rücklagen da, und es
ist gut, dass es Rücklagen gibt, aber wir sollten es auch
einmal ertragen, diese Rücklagen zu behalten, für den
Fall, dass wieder schlechtere Zeiten kommen. Dafür
werben wir in der Union jedenfalls massiv.
({2})
Rücklagen auch einmal ertragen und erhalten zu können und in der Politik nicht gleich wieder Debatten darüber führen zu müssen, wie wir Rücklagen möglichst
schnell wieder ausgeben können, ist wichtig und im Übrigen insbesondere auch im Interesse von Patientinnen
und Patienten;
({3})
denn zum einen kann uns keiner garantieren, dass die
gute wirtschaftliche Lage in einer Zeit, in der es in fast
allen Ländern auf der Welt wirtschaftlich nicht ganz so
gut läuft, für uns, die Exportnation Deutschland, weiterhin so bestehen bleibt, und zum anderen erwartet uns
eine demografische Veränderung - wir werden weniger
und älter -, die sich natürlich auch im Gesundheitswesen
und bei der Bekämpfung und Behandlung von Krankheiten bemerkbar machen wird.
Deswegen ist es im Interesse von Patientinnen und
Patienten, aber auch von denjenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind, dass wir einmal drei, vier, fünf,
sechs Jahre lang und idealerweise noch länger Stabilität
in der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
({4})
Dafür sind Rücklagen gut. Deswegen wollen wir gerne
von diesen Rücklagen möglichst viel erhalten.
({5})
- Das gilt im Übrigen auch für die Rente. Darauf weise
ich hin, weil Sie hier immer „Rente“ schreien. Ja, wir
senken den Beitragssatz in der Rentenversicherung, aber
es bleiben selbst nach der Senkung des Beitragssatzes
noch 20 Milliarden Euro an Rücklagen in der Rentenversicherung übrig.
({6})
Das heißt, auch dort betreiben wir Vorsorge für schlechtere Zeiten. Auch dort wollen wir Geld zurücklegen,
weil das eben im Interesse derjenigen ist, die damit vielleicht dieses Jahr nichts zu tun haben, aber in drei, vier
oder fünf Jahren mit diesem sozialen Sicherungssystem
umgehen müssen.
Ein anderer Punkt ist die Praxisgebühr und Ihre
Frage, Herr Lauterbach: Wer hat sie denn eigentlich eingeführt? Wissen Sie, das ist das grundsätzliche Problem
jenseits der Praxisgebühr, das Sie bzw. Rot-Grün mit
dem haben, was Sie im Übrigen zusammen mit uns an
vielen Stellen, auch in der Opposition, eine verantwortungsvolle Rolle übernehmend, unter dem Oberbegriff
„Agenda 2010“ beschlossen haben. Es ging um die Gesundheitsreform, eine Rentenreform, eine Steuerreform,
die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.
Genau diese Maßnahmen, vor sechs, sieben, acht Jahren beschlossen, haben den deutschen Aufschwung, den
wir heute haben, das zweite große deutsche Wirtschaftswunder, erst möglich gemacht. Wir stehen heute wirtschaftlich so gut da wie nie zuvor, im Grunde genommen
seit vielen Jahrzehnten. Wir haben in vielen Regionen
des Landes Vollbeschäftigung. Wir haben in Deutschland so viele Menschen in Beschäftigung wie noch nie
zuvor. Das hat mit den Reformen vor sechs, sieben, acht
Jahren zu tun. Sie schämen sich aber für das, was Sie getan haben. Deswegen stellen die Menschen diesen positiven Kontext zwischen „Es wurden Reformen gemacht“
und „Diese Reformen haben Erfolg gehabt“ nicht her,
weil Sie sich ständig populistisch in die Büsche schlagen. Das ist an dieser Stelle ein grundsätzliches Problem.
({7})
Die Praxisgebühr ist ein Ausfluss dieses grundsätzlichen Problems. Ulla Schmidt ist gerade schon zitiert
worden. Sie hat sich zu Recht bis 2009 - heute traut sie
sich wahrscheinlich nicht mehr, das zu sagen, weil das
bei Ihnen nicht mehr angesagt ist - dazu bekannt. Wir
haben die Zuzahlungen gemeinsam eingeführt: Zuzahlungen als Steuerungselement,
({8})
aber auch als eine Form von Solidarität desjenigen, der
auf eines der besten Gesundheitswesen der Welt zählen
kann. Herr Bartsch, Sie sollten nicht so unehrlich daherreden, wie Sie das gerade gemacht haben.
({9})
Wir haben für die sogenannte Chronikerregelung gesorgt: Ein chronisch Kranker muss nicht mehr als 1 Prozent seines Einkommens für die Praxisgebühr aufwenden.
({10})
- Frau Ferner, ich glaube, wir haben diese Regelung
gemeinsam eingeführt. Sie stehen zwar nicht mehr dazu.
Dafür schreien Sie ganz schön laut herum.
({11})
Von den allgemein Versicherten muss niemand mehr als
2 Prozent seines Einkommens dafür aufwenden. Das
heißt, dass Geringverdiener, dass chronisch Kranke
durch Zuzahlungen natürlich nicht überfordert werden.
Wir haben das bewusst sozial ausgewogen.
({12})
Deswegen muss jemand, der beispielsweise nur
1 000 Euro im Monat hat, niemals mehr als 10 Euro im
Monat für Zuzahlungen oder für die Praxisgebühr ausgeben und kann gleichzeitig darauf hoffen, dass eines der
besten Gesundheitswesen der Welt mit guten Leistungen
in jeder Lebenslage und bei jeder Erkrankung, egal wie
teuer die Behandlung ist, für ihn zur Verfügung steht.
Auch das ist eine Form von Solidarität.
({13})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lauterbach?
Jederzeit mit Freude.
Vielen Dank. - Sie haben gerade den Kollegen
Bartsch gemaßregelt,
({0})
er hätte fälschlicherweise die Chronikerregelung kritisiert, die Sie eingeführt hätten. Ist es richtig, dass die
Union damals gegen die Einführung der Chronikerregelung gewesen ist? Ist es richtig, dass Sie in der letzten
Legislaturperiode die bestehende Chronikerregelung, die
Sie sich gerade noch selbst zugeschrieben haben, abschaffen wollten?
({1})
Es ist erst einmal richtig, wie ich das schon festgestellt habe, dass wir die Chronikerregelung vor acht Jahren gemeinsam eingeführt haben.
({0})
- Sie müssen einmal differenziert debattieren lernen,
finde ich manchmal.
({1})
- Sie machen das immer mit dem Vorschlaghammer.
({2})
- Nein, ein chronisch Kranker ist nicht per se sozial
schwach.
({3})
Es gibt Millionäre mit Diabetes. Auch in diesem Land
gibt es sie.
({4})
Deswegen haben wir einmal gesagt: Lasst uns doch einmal schauen, ob die Chronikerregelung nicht zu weit
gefasst ist; denn darüber, dass wir den Millionär mit Diabetes nur 1 Prozent und nicht 2 Prozent seines Einkommens zuzahlen lassen, kann man einmal reden.
({5})
Dass aber diejenigen, die nur ein geringes Einkommen
haben, insbesondere dann, wenn sie chronisch krank
sind und regelmäßig Medikamente brauchen, natürlich
nicht überfordert werden dürfen,
({6})
und dass es dafür natürlich eine prozentuale Begrenzung
braucht, haben wir nie infrage gestellt. Das ist sogar eine
elementare Regelung eines fairen, eines gerechten Systems. Wir wollen allerdings dieses Instrument zielgenau
bei denen einsetzen, die ein geringes Einkommen haben.
Heute profitieren aber auch viele davon, die gut verdienen. Wir wollen es gerechter machen, und wenn es darum geht, sind wir jederzeit dabei.
({7})
Ich bleibe dabei: Die Praxisgebühr als Form der Zuzahlung ist grundsätzlich auch eine Form von Solidarität. Das heißt, wenn ich Krebs habe, wenn ich Multiple
Sklerose habe, wenn ich Parkinson habe, kann ich damit
rechnen, dass mir eines der besten Gesundheitssysteme
der Welt zur Verfügung steht und dass mir von der Solidargemeinschaft geholfen wird. Im Rahmen dessen, was
ich leisten kann, und unter Berücksichtigung von Einkommensgrenzen bringe ich mich aber auch ein. Ich
glaube - das erlebt man auch in zahlreichen Veranstaltungen -, viele Menschen sind genau dazu bereit.
Wir haben aber auch gesagt - es ist richtig, darüber zu
diskutieren -, dass man die hohen Rücklagen auch dazu
nutzen kann, die Bürgerinnen und Bürger moderat zu
entlasten. Der größte Teil sollte aber für schlechte Zeiten
zurückgelegt werden. Gleichzeitig können wir in der gesetzlichen Krankenversicherung eine moderate Entlastung vornehmen in einer Phase, in der es sinnvoll ist, Impulse für wirtschaftliches Wachstum im nächsten Jahr zu
setzen. Darüber reden wir gerade in der Großen Koalition.
({8})
- Das war ein klassischer Freud’scher Versprecher. Ich
meinte natürlich unsere großartige Koalition. Ich musste
heute so oft unsere gemeinsamen Beschlüsse loben, dass
ich gedanklich in der falschen Richtung unterwegs war.
Diese großartige Koalition diskutiert darüber, wie wir
die Rücklage im Bestand sichern können, aber gleichzeitig zu moderaten vernünftigen Entlastungen für die Menschen im Lande kommen können. Glauben Sie mir, wir
werden auch zu einem guten Kompromiss kommen.
Eines wird aber zu keinem Zeitpunkt passieren. Das
kann ich Ihnen versprechen. Wir werden nicht um der
billigen Überschrift willen - das ist genau das, was Sie
mit der Debatte heute Morgen bezwecken wollen ({9})
und um des Populismus willen politisch aktiv werden.
Ob es die Rente mit 67 ist, ob es die Praxisgebühr ist
oder ob es um höhere Steuern geht, Sie schlagen sich bei
alldem in die Büsche und laufen weg vor dem, was Sie
einmal gemeinsam mit uns beschlossen haben. Sie laufen außerdem weg vor dem, was die Basis für den großen wirtschaftlichen Erfolg war, den wir heute zu verzeichnen haben.
Mit uns wird es das nicht geben. Wir werden verantwortungsvoll und vor allem auch über den Wahltag
hinaus planen und zudem mit den Finanzen in der gesetzlichen Krankenversicherung vernünftig umgehen.
Das jedenfalls kann ich Ihnen versprechen.
({10})
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In bestimmten Medien in Deutschland liest man manchmal
jede gängige Geschichtsfälschung. Wenn man heute den
einen oder anderen Redner gehört hat, so konnte man
den Eindruck gewinnen, dass das ein bisschen in diese
Richtung ging. Es wurde gesagt, Rot-Grün mit der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wollte 2003 bzw.
2004 diese Praxisgebühr. Richtig ist vielmehr, Herr
Singhammer: Die jetzige Praxisgebühr ist von CDU und
CSU durchgesetzt worden.
({0})
CDU und CSU wollten im Rahmen der Erarbeitung des
Gesundheitsmodernisierungsgesetzes diese Praxisgebühr. Rot-Grün hatte aber damals im Bundesrat nicht die
Mehrheit.
Ich erinnere daran, dass die Union damals 10 Prozent
der Behandlungskosten als Selbstbeteiligung und 5 Euro
für jeden Arztbesuch forderte. Das ist die historische
Wahrheit, Herr Singhammer. Das darf man nicht vergessen.
({1})
Herr Seehofer hat einmal von der schönsten Nacht
seines Lebens mit Ulla Schmidt gesprochen. In dieser
schönsten Nacht wurde ein Kompromiss vereinbart. Der
Kompromiss war die Praxisgebühr von 10 Euro.
Herr Spahn, ich habe vorhin noch persönlich mit Ulla
Schmidt gesprochen.
({2})
Sie hat gesagt, man habe dem Kompromiss nur zugestimmt, um weitergehende Zuzahlungen zu verhindern.
Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie gesagt haben.
Rot-Grün wollte nämlich Praxisgebühren gerade
beim Hausarzt und insbesondere bei den Standardfachärzten verhindern. Wir wollten lediglich eine Gebühr für
den Besuch bei teuren Fachärzten, um unnötige Apparatemedizin und unnötige Kosten zu verhindern. Diese
Richtung hat Rot-Grün damals in der Gesundheitspolitik
eingeschlagen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({3})
Wir wollten nämlich gerade das Facharzt-Hopping vermeiden und Kosten einsparen und effizienter gestalten.
Viele Geschichtsfälschungen - ich habe es eben
schon erwähnt - gingen hier weiter. Man muss deshalb
fragen: Warum diskutieren wir die Abschaffung der PraDr. Edgar Franke
xisgebühr? Es ist richtig: Wir haben 20 Milliarden Euro
Überschüsse bei der gesetzlichen Krankenversicherung
und im Gesundheitsfonds. Aber diese Überschüsse haben wir auch deshalb, weil diese Regierung nicht richtig
rechnen kann. Die Beiträge sind nämlich viel zu hoch.
Die FDP wollte immer „Mehr Netto vom Brutto“, aber
was hat sie gemacht? Sie haben die Beiträge zur Krankenversicherung erhöht. Das ist auch eine Wahrheit.
({4})
Den Versicherten ist somit Geld vorenthalten worden.
Herr Spahn hat angesprochen, warum wir so gute Beschäftigungszahlen haben. Es ist richtig, Herr Spahn:
Wir haben so gute Beschäftigungszahlen, weil unter RotGrün Strukturreformen realisiert worden sind.
({5})
Wir haben den Reformstau unter Kohl aufgelöst. So wird
die Katze bunt; so ist die Wahrheit, mein sehr verehrter
Herr Spahn.
Was erleben wir heute? Chaotische Zustände in der
Regierungskoalition.
({6})
Was will die Regierung? Zur Abschaffung der Praxisgebühr hört man das eine oder das andere. Wollen Sie die
Beiträge senken? Wollen Sie am Einheitsbeitragssatz
festhalten? Frau Bender hat zu Recht darauf hingewiesen. Über die Beitragssatzautonomie wäre nachzudenken. Wollen Sie die Rücklage als Finanzpolster? Kein
Mensch weiß so richtig, was diese Regierung will.
({7})
Mein geschätzter Kollege Lauterbach hat schon gesagt: Der Geburtshelfer der Praxisgebühr, CSU-Chef
Seehofer, will die Beibehaltung. Auch der geschätzte
Kollege Singhammer hat in der Rheinischen Post ausdrücklich gesagt:
Die CSU in Berlin ist weiter der Meinung, dass die
Praxisgebühr ihre Berechtigung hat.
Söder will die Abschaffung. Hasselfeldt will die Senkung. Frau Bundeskanzlerin Merkel war ein bisschen
dagegen und lässt jetzt durch ihren Regierungssprecher
erklären, dass sie ein bisschen dafür sei. Herr
Lanfermann hat sich eben selber zitiert. Er sagt in jeder
Ausschusssitzung treuherzig, dass noch Beratungsbedarf
besteht. Die FDP hat noch keine konkrete Position.
({8})
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen, glaube
ich, wie es geht. Wir wollen die Krankenversicherung
entlasten. Ich darf noch einmal die drei Punkte nennen,
die für unseren Antrag „Praxisgebühr sofort abschaffen“
sprechen.
Erstens. Allen ist klar, dass die Praxisgebühr keine
Steuerungswirkung mehr hat. Sie ist lediglich ein Finanzierungsinstrument.
Zweitens. Die Kranken und Einkommensschwachen
werden durch die Praxisgebühr einseitig besonders belastet.
Drittens - das darf man nicht vergessen, und das muss
man hier noch einmal ausdrücklich sagen - hat die Praxisgebühr zu erheblichen Bürokratie- und Verwaltungskosten geführt. Der Normenkontrollrat hat festgestellt,
dass 300 Millionen Euro Bürokratiekosten für den Einbehalt und die Dokumentation anfallen. Auch das spricht
ganz klar dafür, die Praxisgebühr abzuschaffen.
Der Zoff in der Koalition um die Praxisgebühr zeigt
erneut die Zerrissenheit von Schwarz-Gelb. Er zeigt mir
vor allen Dingen auch, dass es in der Sozialpolitik keinen Konsens zwischen CDU/CSU und FDP mehr gibt.
Die SPD ist für die Abschaffung der Praxisgebühr.
Noch einmal: Sie belastet einseitig die Einkommensschwachen und Kranken. Die erhoffte Lenkungswirkung
hin zu den Hausärzten ist ausgeblieben. Es ist lediglich
Bürokratie erzeugt worden.
Ich kann nur an die Vertreter der Koalition appellieren, dass sie mit uns für die Abschaffung der Praxisgebühr stimmen. Ich hoffe, dass Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen, auch einmal etwas Vernünftiges machen.
Machen Sie etwas Vernünftiges: Stimmen Sie einfach
für unseren Antrag!
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun Christine Aschenberg-Dugnus für
die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Bevor ich auf
unser eigentliches Thema komme, möchte ich - wie der
Kollege Spahn es getan hat - auf unsere gute Finanzsituation eingehen; das ist nämlich das Positive, das wir
haben. Ich kann nur sagen: Sie hätten sich zu rot-grünen
Regierungszeiten darüber gefreut, aber Sie haben nicht
im Traum daran gedacht, dass einmal eine Zeit kommen
würde - zu Ihrer Zeit war das nämlich nie der Fall -, in
der die Kassen und der Fonds so gut dastehen würden
wie jetzt.
({0})
Das kann man den Menschen draußen gar nicht oft genug sagen.
Wir haben hier gute Politik abgeliefert. Unser Minister Daniel Bahr macht gute Politik. Nur deswegen stehen
wir überhaupt hier, um dieses Thema zu debattieren.
({1})
Nun komme ich zum eigentlichen Thema. Lieber
Kollege Franke, ich schätze Sie als Mensch ja sehr, aber
nach dem, was Sie eben zum Thema Geschichtsfälschung gesagt haben, muss ich Ihnen raten: Sie sollten
sich mal an die eigene Nase fassen. Das war schon eine
Nummer aus dem Tollhaus: Rot-Grün als Regierung ist
von der Opposition genötigt worden, bestimmte Dinge
zu verabschieden. - Das können Sie hier doch keinem
erzählen und draußen auch keinem erzählen.
({2})
Wenn ich mir einmal Ihren Antrag anschaue, sehe ich:
Da steht: „die von CDU/CSU … durchgesetzte Praxisgebühr“. In dem gesamten Antrag wird so getan, als wären
Sie von der SPD überhaupt nicht daran beteiligt gewesen.
({3})
Wem wollen Sie draußen eigentlich Sand in die Augen
streuen? Damit lassen wir Sie nicht durchkommen!
({4})
Die Öffentlichkeit weiß, dass Sie es waren, die die Praxisgebühr installiert haben.
({5})
Wir haben eben vom Kollegen Singhammer gehört
- vielen Dank dafür! -, dass Frau Schmidt noch im Jahr
2009 gesagt hat, sie ist für die Beibehaltung der Praxisgebühr; sie möchte sie nicht abschaffen.
({6})
Genau vor diesem Hintergrund müssen wir den Antrag
der SPD sehen.
Sie schreiben dann noch, wir als FDP würden nur öffentlich so tun, als wollten wir die Praxisgebühr abschaffen.
({7})
Das empfinde ich persönlich als Frechheit. Sie werfen
uns Täuschung vor.
({8})
Sie sind die Pharisäer, die hier etwas behaupten, aber Ihr
Agieren in der Vergangenheit war völlig anders.
({9})
Sie machen die taktischen Spielchen hier, und dazu kann
ich nur sagen: Wir werden diese taktischen Spielchen
aufdecken.
({10})
Die Bevölkerung wird mitbekommen, dass das zu überhaupt nichts führt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich würde gerne weitermachen.
({0})
Meine Damen und Herren, die Koalition braucht Ihre
Anträge nicht, um gute Gesundheitspolitik mit Augenmaß zu machen.
({1})
Das schaffen wir auch ohne die Opposition.
Ich muss sagen: Ja, natürlich, wir haben in der Koalition unterschiedliche Auffassungen. Das ist so in einer
Demokratie. Das können einige hier im Hause vielleicht
nicht so nachvollziehen,
({2})
aber das ist so.
Es wird jetzt gesagt, man mache uns ein faires Angebot. Ich empfinde das nicht als faires Angebot; das ist
ein unmoralisches Angebot.
({3})
Wir gehen nicht fremd.
({4})
Wir werden die Sache mit unserem Koalitionspartner regeln, meine Damen und Herren.
({5})
Der Kollege Lanfermann hatte vollkommen recht. Es
geht Ihnen gar nicht um eine sachliche Diskussion; es
geht Ihnen darum, hier Schaufensteranträge zu stellen.
Sie haben gemerkt: Aha, es steht auf einmal eine Einigung kurz bevor. Da müssen wir aber schnell noch einmal unsere Spielchen hier im Plenum treiben.
({6})
Das ist der Hintergrund dieser Debatte, die wir hier
heute zum x-ten Male führen.
({7})
Ich sage Ihnen: Das machen wir nicht mit.
Wir werden in der Koalition weiter beraten. Wir werden im Ausschuss weiter beraten. Wir werden gemeinsam zu einem guten Ergebnis kommen.
({8})
- Das ist nichts Neues; das machen wir in der Koalition
schon von Anfang an so, meine Damen und Herren. Ich kann der Öffentlichkeit immer nur sagen: Ihre Spielchen, vor allen Dingen die der SPD, machen wir nicht
mit. Ich nehme da Sie von den Grünen aus, weil Ihr Antrag anders aussieht. Sie haben Ihren Antrag heute Vormittag noch einmal geändert.
({9})
Bei Ihnen - das muss ich jetzt wirklich sagen - geht es
auch noch um andere Dinge. Aber bei Ihnen von der
SPD ist es wirklich so, dass ich sage: Da sitzen die Pharisäer im Plenum.
({10})
Das müssen wir ganz klar aufzeigen. Das machen wir
nicht mit. Wir werden uns in der Koalition einigen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun Karin Maag für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben das heute schon mehrfach gehört: Die Debatte
wird offensichtlich nur deshalb geführt, weil die Opposition meint, sie könne einen Keil zwischen Union und
FDP treiben.
({0})
Ich bin mir sehr sicher: Das wird ihr nicht gelingen.
Der fundamentale Unterschied zwischen Ihnen und
uns ist: Wir, Union und FDP, ringen mit Argumenten in
der Sache. Die Opposition insgesamt hingegen streitet
ausschließlich um ihr Führungspersonal. Wir diskutieren
zuerst und stimmen dann ab. Offensichtlich ist es bei Ihnen genau umgekehrt. Auch den Versicherten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nützt diese Debatte
nichts.
Die Zuzahlungen - das muss man einfach einmal sagen - sind eine wichtige Einnahmequelle für die Kassen,
und sie entlasten die Beitragszahler.
({1})
- Nein, liebe Frau Kollegin. Die dauerhaft fehlenden
Einnahmen müssen ja irgendwo ausgeglichen werden.
({2})
Ich habe von Ihnen noch nicht gehört, dass Sie irgendwo
weniger Ausgaben vorsehen wollen. Dies geht nur über
andere Einnahmearten, und dafür kämen wieder die Beitragszahler infrage.
({3})
Insofern halte ich von Ihren Anträgen nichts.
({4})
- Ich komme dazu, Frau Ferner.
Diese Debatte hat natürlich etwas Gutes - jetzt sind
wir bei den Überschüssen -: Sie ist doch ein Kompliment an die Leistung von Union und FDP.
({5})
Uns ist es gelungen, die Finanzierung in der GKV sicherzustellen, und zwar ohne Leistungseinschränkung
und vielen Unkenrufen zum Trotz. Es wurde immer geschrien: Priorisierung, Rationierung! - Wir sichern eine
dauerhafte, gute Versorgung für unsere Patienten und für
die Versicherten. Das ist doch ein Wert. Darauf können
wir aufbauen.
({6})
Klar ist - Sie selbst haben es gesagt -: Im Moment
geht es den meisten - ich betone: den meisten - Kassen
gut. Wenn wir das weiterhin gewährleisten wollen, brauchen wir eine verlässliche Finanzierung. Wir wollen,
dass sich die Menschen weiterhin darauf verlassen können, in jeder Lebenssituation eine medizinische Versorgung auf höchstem Niveau zu bekommen. Aber das kostet. Dafür wurde mit der Praxisgebühr nicht nur
Preisbewusstsein geschaffen, sondern vor allen Dingen
ein stabilisierendes Element der Finanzierung, und das
ist mir wichtig.
Wir wissen, dass Wirtschaftswachstum nicht von Gott
gegeben ist. Die Liquiditätsreserve über die Mindestreserve hinaus - wir reden hier von 25 Prozent, also einem
Viertel einer durchschnittlichen Monatsausgabe; wir reden hier nicht über Vermögen - ist deshalb ökonomisch
sinnvoll und vor allem auch wieder im Interesse der Versicherten.
Meine Damen und Herren insbesondere von den Linken, würden wir die Praxisgebühr oder die Zuzahlungen
insgesamt abschaffen, wie Sie es fordern, dann hätten
uns in den letzten 8 Jahren - das bezieht sich jetzt auf die
Praxisgebühr - 16 Milliarden Euro im System gefehlt.
Jedes Jahr waren das 2 Milliarden Euro aufgrund der
Praxisgebühr. Wenn wir die Zuzahlungen insgesamt abschaffen, fehlen jährlich 5 Milliarden Euro in den Kassen. Das würde übrigens einer dauerhaften Erhöhung der
Kassenbeiträge um 0,5 Beitragssatzpunkte entsprechen.
Ohne Ausgleich würde jede kleine Delle in der Konjunktur zu einem Zusatzbeitrag führen. Insofern ist das ein
völlig sinnloses Unterfangen.
Auch über die Mär davon, dass sich Arztbesuche
- diese haben insbesondere Sie wieder vorgebracht - ein
Teil der Bevölkerung nicht leisten kann, haben wir schon
gesprochen. Die Überforderungsklausel gilt. Es gibt sie,
und niemand will sie abschaffen.
2003 wurde unter anderem als Ziel eine Stärkung der
Eigenverantwortung der Versicherten genannt. Lieber
Herr Lanfermann, die Eigenverantwortung ist Ihr Thema.
Deswegen wäre es mir schon wichtig, dass Sie zuhören.
Danke. - Es geht um Leistung gegen Kostenbeteiligung.
Damit sollte bei den Versicherten ein Gefühl für Preissensibilität und Ressourcenverantwortlichkeit geschaffen
werden. Das hat wenig mit einer dauerhaften steuerlichen
Entlastung zu tun, die Sie, liebe Kollegen von Rot-Grün,
im Bundesrat nachhaltig blockieren.
Mit der Praxisgebühr, die einmal im Quartal anfällt,
ist diese Selbstbeteiligung sehr moderat ausgefallen. Das
ist mir wichtig, weil rund 20 Prozent der Versicherten
80 Prozent der Kosten tragen. Ähnlich wie bei der Rente
alimentieren doch hier innerhalb des Systems die Jüngeren die Älteren und die eher Gesunden die eher Kranken.
({7})
Ohne die Praxisgebühr würde dieser Transfergedanke
noch mehr ausgeweitet. Mit welchen Argumenten wenden Sie sich gegen den Verzicht auf weitere Zuzahlungen? Wo ist hier die Grenze; bei den Krankenhäusern, in
den Apotheken usw.? Ich jedenfalls will den Gedanken
der Eigenverantwortung nicht ohne Not aufgeben.
Jetzt noch ein Satz zur Steuerungswirkung. Lieber
Kollege Franke, das Gesetz ist nicht im Vermittlungsausschuss entstanden. Bei aller Liebe, Sie waren an der Regierung.
({8})
Das nur als Hinweis. Die Debatte wird vor allen Dingen
auf der Basis von Untersuchungen zur Häufigkeit von
Arztbesuchen geführt.
({9})
- Ich habe den Vermittlungsausschuss angeführt, und
dort ist das Gesetz nicht entstanden.
({10})
- Liebe Frau Ferner, das nächste Mal lassen Sie sich von
Ihrer Fraktion Redezeit geben, und dann können Sie alles, was Sie jetzt so vor sich - schwäbisch gesagt - bruddeln, ordentlich vortragen.
({11})
- Frau Ferner, machen Sie einfach einen Punkt und halblang.
Wir reden jetzt über die Steuerungswirkung. Tatsache
ist, dass diese Debatte vor allem auf der Basis von Untersuchungen zur Häufigkeit der Arztbesuche geführt
wird. Richtig ist, dass es im Durchschnitt 17 Kontakte
im Jahr sind. Richtig ist aber auch, dass 16 Prozent der
Patienten für 50 Prozent der Kontakte zuständig sind.
Ich habe schon in der letzten Debatte darauf verwiesen,
dass es immer noch eine ordentliche und gute Steuerungswirkung gibt, dass die Praxisgebühr vor allem die
Hinwendung der Patienten zu Selektivverträgen, zu
Hausarztverträgen und damit zu den Hausärzten fördert.
Es gibt entsprechende Modelle, zum Beispiel der Barmer GEK und vieler Betriebskrankenkassen. Ich nenne
als Beispiel für eine gute Steuerungswirkung die Zuzahlungen im Generikamarkt. Erst das In-Aussicht-Stellen
des Verzichts auf die Gebühr veranlasst viele Patienten
dazu, sich in die Verträge einzuschreiben. Ohne Praxisgebühr werden wir wieder das Facharzthopping erleben.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wir werden ohne Not wieder volle Notfallambulanzen am Wochenende haben. Und die sinnvolle Stärkung
der Hausärzte im System können wir wieder zu den Akten legen. Genau deshalb werden wir ohne Ihre Hilfe innerhalb der Koalition das Notwendige überlegen und zu
guten und richtigen Entscheidungen kommen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Steffen-Claudio Lemme für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister Bahr!
Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz! Frau Flach!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Praxisgebühr“: Allein der Name ist irrsinnig. Eine Gebühr, wie man sie
sonst vielleicht von Parkgebühren oder den unsäglichen
Studiengebühren kennt, zu entrichten, um im Krankheitsfall behandelt zu werden, widerspricht dem sozialen
und solidarischen Grundgedanken der gesetzlichen
Krankenversicherung. Kurzum: Die Praxisgebühr gehört
abgeschafft.
({0})
Auch darum, weil sich der erhoffte Nutzen nicht gezeigt
hat: Weder konnte die Anzahl der Arztbesuche signifikant
gesenkt noch die hausarztzentrierte Versorgung gestärkt
werden. Noch immer sind die Deutschen Spitzenreiter in
den Wartezimmern mit durchschnittlich 17 Arztbesuchen
pro Jahr gegenüber nur 6 Arztbesuchen in den Niederlanden. Die Praxisgebühr verursacht zusätzliche Kosten für
die Versicherten ohne zusätzlichen Nutzen. Eigentlich ist
es noch schlimmer; denn es entstehen zusätzliche Kosten
bei geringerem Nutzen für die Versicherten, da die Praxisgebühr manchen Kranken davon abgehalten hat, zum
Arzt zu gehen. Das macht nicht nur aus gesundheitsökonomischer Sicht absolut keinen Sinn, nein. Da müsste
doch selbst bei Schwarz-Gelb der Groschen fallen. Stattdessen spielen Sie die Praxisgebühr gegen das Betreuungsgeld aus.
Um eines an dieser Stelle klipp und klar zu sagen: Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind gegen
die Praxisgebühr und gegen das Betreuungsgeld.
({1})
Ich finde es moralisch verwerflich, dass Sie Ihre Zankereien auf dem Rücken der emanzipierten Familien austragen; denn mit dem Betreuungsgeld kommen wir wieder in der Steinzeit an.
({2})
Ich weiß nicht, ob es Ihnen entgangen ist: Führende
Ökonominnen und Ökonomen, Soziologinnen und Soziologen, Juristinnen und Juristen sagen Ihnen: Stoppen
Sie das Betreuungsgeld! - Aber auf diesem Ohr moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse scheint die Bundesregierung taub zu sein.
({3})
Doch zurück zur Praxisgebühr. Die Abschaffung
kommt den Patientinnen und Patienten in vielerlei Hinsicht zugute. Wir kommen damit der paritätischen Finanzierung wieder ein Stück näher. Betrachtet man die Finanzierung des Gesundheitssystems, stellt man fest, dass
der Anteil der sogenannten Out-of-Pocket-Zahlungen,
also der Zuzahlungen, die von den Patientinnen und Patienten direkt aus der eigenen Tasche geleistet werden
müssen, bereits im Jahr 2009 bei 13 Prozent lag.
Die Daten von der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD, zeigen
darüber hinaus, dass der Anteil der Selbstbeteiligung
zwischen den Jahren 2000 und 2009 in nicht unerheblichem Maße gestiegen ist. Das bedeutet eine stetige Zunahme und einseitige finanzielle Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land; denn
die Arbeitgeber sind hier ja fein raus.
Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass der
Anteil der Selbstbeteiligung im Durchschnitt aller
OECD-Mitgliedstaaten gesunken ist. Deutschland steht
mit der Privatisierung von Gesundheitskosten und der
Individualisierung von gesundheitlichen Risiken im internationalen Vergleich fast alleine da.
Was sind die Folgen? Wir haben: die Praxisgebühr in
Höhe von 10 Euro pro Quartal, Zuzahlungen zu Medikamenten und Hilfs- und Heilmitteln, 10 Euro pro Kalendertag im Krankenhaus - und das bis zu 28 Tagen - und
noch vieles mehr. Wie sollen sich das Alleinerziehende
oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringem Einkommen leisten, wie beispielsweise im Osten,
wo das Lohnniveau spürbar unter dem der westdeutschen Bundesländer liegt? Da tun die 10 Euro Praxisgebühr deutlich mehr weh.
Ihre Reaktion darauf fällt eindeutig aus. Sie gehen
trotz Krankheit entweder gar nicht zum Arzt, oder aber
sie schieben den Arztbesuch ins nächste Quartal, um für
das auslaufende Quartal die Praxisgebühr zu sparen. Das
ist aber nicht nur schlecht für die Kranken, sondern führt
auch für uns alle zu weiter steigenden Kosten.
Gewerkschaften, Patientenorganisationen, Sozial- und
Wohlfahrtsverbände weisen seit längerem auf die negativen Steuerungseffekte der Praxisgebühr hin und betonen
dabei die Verschärfung der sozialen und gesundheitlichen
Ungleichheit in Deutschland. Wir müssen endlich handeln. Die Praxisgebühr muss weg!
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hausärztinnen und
Hausärzte sind wichtige Akteure in der Versorgungslandschaft. Leider wird ihnen bislang noch nicht der Stellenwert beigemessen, den sie verdienen. Ihre Funktion wird
unterschätzt. Durch die Praxisgebühr war beabsichtigt,
dass die Hausärztinnen und Hausärzte die Patientinnen
und Patienten durch das ambulante Versorgungssystem
navigieren und damit als Lotsen fungieren. Auch dieser
erhoffte Effekt ist nicht eingetreten. Die Hausärztinnen
und Hausärzte leiden noch immer unter einem schlechten
Image, auch bei den Medizinstudenten.
Im Vergleich zu anderen Facharztgruppen verdienen
Hausärzte deutlich weniger, und ihre Arbeit ist noch nicht
so hoch angesehen wie beispielsweise die eines Kardiologen. Dabei müsste den Hausärztinnen und Hausärzten
in einer immer älter werdenden Gesellschaft eine Schlüsselfunktion zukommen. Doch der Hausärztemangel ist in
manchen Regionen Deutschlands fatal.
Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Die Praxisgebühr hat in keinster Weise dazu geführt, positive Effekte
im deutschen Gesundheitssystem hervorzurufen. Im Gegenteil: Sie hat einen Beitrag zur sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit geleistet. Ihre Abschaffung ist
überfällig. Daher bitte ich Sie um breite Zustimmung zu
unserem Antrag, die Praxisgebühr abzuschaffen.
Vielen Dank.
({5})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!
Im Alter, bei Krankheit oder in anderen schwierigen Lebenssituationen kann es für jeden von uns
Momente geben, in denen wir auf die Solidarität
der anderen angewiesen sind. Diese Solidarität unter veränderten ökonomischen Bedingungen in einer globalisierten Welt, aber auch angesichts der
veränderten demographischen Entwicklung zu gewährleisten ist unsere Aufgabe. Dass wir alle
glücklicherweise immer älter werden und die Lebenserwartung steigt, auf der anderen Seite aber zu
wenig Kinder geboren werden, ist die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts.
Das waren Worte aus der Debatte vom 9. September
2003, vorgetragen von der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Im Anschluss daran wurde
im Deutschen Bundestag die Einführung der Praxisgebühr als Teil eines Sanierungskonzepts für die sozialen
Versicherungssysteme beschlossen. Es ist im Protokoll
registriert: „Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Die Grünen“. Wenn ich das Gleiche sage, hätte ich jetzt
gern den gleichen Beifall.
({0})
Aber Sie haben sich ja von Ihrer damaligen Haltung
abgewendet. Sie nennen die Praxisgebühr heute ja sogar
„irrsinnig“.
({1})
Sie erwecken den Anschein, es sei moralisch verwerflich, was damals Ihre eigene Politik war,
({2})
und Sie stellen sich hin und tun so, als wäre das im
Grunde gänzlich unehrenhaft.
({3})
Sie bringen drei Argumente. Das erste lautet, die Praxisgebühr ist unwirksam; das zweite lautet, sie ist unsozial, und das dritte lautet, sie ist unnötig. Mit allen drei
Argumenten möchte ich mich auseinandersetzen.
Zur Frage der Wirksamkeit. Wenn man sich das methodisch einmal genau anguckt, merkt man: Es ist ja eine
superkomische Konstruktion, zu sagen: Weil nach der
Einführung der Kassengebühr die Arztbesuche trotzdem
angestiegen sind, ist das der Beweis dafür, dass die Kassengebühr auf Arztbesuche keinen Einfluss hatte; sie hat
bei der Steuerungswirkung versagt. - Das ist relativ albern. Denn es kann ja dafür, warum die Zahl der Arztbesuche steigt, eine Begründung geben, die gar nichts mit
der Kassengebühr zu tun hat. Dann hat die Kassengebühr trotzdem eine Wirkung, die darin liegt, dass sie einen Anstieg, der darüber läge, dämpft. Ich halte das jedenfalls für methodisch genauso gut belegt, genauso gut
vertretbar wie die Aussage, sie sei unwirksam.
({4})
Im Übrigen möchte ich aus einem Interview mit der
damals immer noch amtierenden Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt mit der Welt online aus dem
Jahr 2004 zitieren, wo sie erklärt hat:
Sie bringt jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro. Sie war
ein Kompromiss. … Sie ist nicht beliebt, aber die
Mehrheit der Versicherten hat sie akzeptiert. …
Es stimmt, dass die Praxisgebühr mittlerweile nur
eine geringe Lenkungswirkung hat. Aber sie ist
eine Form der Zuzahlung und bringt eine Menge
notwendiger Einnahmen.
So weit Ulla Schmidt, die ja zu Ihren Reihen gehört egal, worüber Sie, Herr Franke, mit ihr telefoniert haben.
Das müsste dann ja im Gegensatz zu dem stehen, was sie
noch 2004 der Öffentlichkeit gegenüber erklärt hat.
({5})
Dann zu der Frage, ob die Praxisgebühr denn unsozial
ist. Es ist ja schon viel darüber gesprochen worden, dass
Zuzahlungen nicht einen Wert von 1 Prozent oder 2 Prozent des Jahreseinkommens überschreiten können. Aber
ich glaube, es gibt noch einen zweiten Punkt. Worum
machen sich die Menschen Sorgen, wenn sie über die
Sozialkassen in Deutschland sprechen und nachdenken?
Sie machen sich Sorgen darum, dass die Finanzkraft der
sozialen Kassen angesichts der demografischen Entwicklung, angesichts des medizinischen Fortschritts, angesichts berechtigter Erwartungen an Lohnerhöhungen
bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen möglicherweise nicht reichen könnte, um die Versicherungsversprechen einzulösen.
Das Wichtigste, was wir für Patientinnen und Patienten in Deutschland tun können - noch wichtiger vielleicht als all das, was wir mit dem Patientenrechtegesetz
bewirken, jedenfalls aber zusätzlich nötig -, ist, dass wir
die Finanzkraft der gesetzlichen Krankenkassen so stark
machen, dass sich jeder, der heute in dieses System hineinkommt, darauf verlassen kann, dass dieses System
auch dann, wenn er älter ist, finanziell tragfähig sein
wird. Dies erfordert natürlich, dass man sich auf die großen Risiken konzentriert und sie zuverlässig absichert.
Wo ist denn dann das Problem für jemanden, der durchschnittlich verdient, eine Eigenbeteiligung von 10 Euro
zu leisten? Im Übrigen, verehrte SPD-Kollegen, wollen
Sie ja auch gar keine Abschaffung der übrigen Zuzahlungen, jedenfalls jetzt nicht, oder Sie machen die Abschaffung der Praxisgebühr zu einem Schritt auf dem
Weg dazu.
Dritte Bemerkung: Die Praxisgebühr ist unnötig. - Ja,
es ist wahr und mit Recht betont worden, dass die KoaliRudolf Henke
tion erreicht hat, dass die Finanzlage der gesetzlichen
Krankenkassen unendlich viel besser ist, als sie es früher
war.
({6})
Die Koalition hat dies erreicht, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben die Grundlage
dafür erwirtschaftet haben und weil wir auf einen
Wachstumspfad zurückgekehrt sind, der heute zu Rekordzahlen an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geführt hat.
({7})
Das ist eine Leistung, die uns diese Situation erst ermöglicht.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, in meiner Heimatstadt Aachen, in meinem Wahlkreis kämpfen jetzt
zur Stunde 600 Arbeiter der Firma Bombardier um ihre
Arbeitsplätze, weil das Unternehmen angekündigt hat,
600 Stellen zu streichen und das Werk, das 174 Jahre alt
ist, zu schließen, da man angeblich in einem wachsenden
Markt für Ausrüstungsinvestitionen bei der Bahn keine
Aufträge mehr bekommt. In einer Situation, wo das auch
anderswo eintreten kann, soll ich mich jetzt hierher stellen und sagen: „Wir sind sicher, dass das Geld, das in
den Kassen ist, für alle reicht, um in Zukunft die Sozialversicherungsaufgaben zu finanzieren“, und ich soll auf
Einnahmen in Höhe von 1,5 oder 1,6 Milliarden Euro
verzichten?
({8})
Das ist kurzsichtig, das geht in meiner Wahrnehmung
weit über das hinaus, was Sie an Prognosekraft aufbringen können. Deswegen sage ich: Die Finanzkraft der sozialen Kassen zu erhalten, ist für deren Verlässlichkeit
und für die Gültigkeit des Versicherungsversprechens
viel wichtiger als die Frage, ob wir jetzt den Ärzten oder
den Versicherten gefallen und Applaus dafür bekommen,
dass wir uns für die Abschaffung der Praxisgebühr einsetzen.
Zum Schluss noch eine letzte Bemerkung. Lieber
Herr Kollege Lauterbach, Sie haben Horst Seehofer als
Erfinder der Kassengebühr angegriffen. Ich weiß nicht,
ob er das war; ich war nicht dabei, ich kann das nicht sagen.
({9})
Sie haben dazu gesagt: Unehre, wem Unehre gebührt. Herr Lauterbach, wenn das der Stil der Debatte ist,
({10})
dass Sie, wenn jemand eine neue Idee hat und sie vorträgt, anschließend sagen: Ich bin derjenige, der hier die
Schulnote verteilt, der ihn moralisch abwertet und der
dann erklärt, wer eine neue Idee hat, verdient das Urteil
„Unehre, wem Unehre gebührt“, dann machen Sie parlamentarische Debatte im Sachkern unmöglich und sorgen
dafür, dass nur noch populistisch und polemisch gestritten werden kann. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktionen der SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen wünschen die Abstimmung ihrer
Anträge auf Drucksachen 17/11192, 17/11141 und
17/11179 in der Sache. Die Fraktionen von CDU/CSU
und FDP wünschen jeweils Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Gesundheit. Die Anträge auf den Drucksachen 17/11192 und 17/11179 sollen darüber hinaus mitberatend an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Arbeit
und Soziales sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Nach ständiger Übung stimmen wir zuerst über die
Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
({0})
- Es besteht Uneinigkeit im Präsidium. Ich wiederhole
die Abstimmung.
({1})
Wer stimmt für die Überweisungen? - Wer stimmt dagegen? ({2})
Enthaltungen? - Es herrscht Uneinigkeit. Sie kennen das
Verfahren: Es folgt jetzt ein Hammelsprung.
({3})
Ich bitte Sie also, den Plenarsaal zu verlassen und dann
durch die entsprechenden Türen - Ja, Nein, Enthaltung den Plenarsaal wieder zu betreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,
den Plenarsaal zu verlassen, damit wir eine ordnungsgemäße Durchführung des Hammelsprungs garantieren
können.
Ich habe den Eindruck, alle Kolleginnen und Kollegen haben den Plenarsaal verlassen, sodass wir jetzt mit
der Abstimmung beginnen können. Die Abstimmung ist
eröffnet.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Darf ich fragen, ob alle werten Abgeordneten den Plenarsaal wieder betreten haben? - Das ist der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis zu übermitteln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich teile Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der Abstimmung mit - Sie wissen, es geht um
die Frage der Überweisung an die Ausschüsse -: Mit Ja
haben gestimmt 297, mit Nein 225, Enthaltungen keine.
({4})
Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Das
heißt, wir stimmen heute nicht in der Sache über die An-
träge ab; daher entfällt auch die namentliche Abstim-
mung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 48 a bis 48 h sowie Zusatzpunkt 4 auf:
48 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Auswandererschutzgesetzes
- Drucksache 17/11047 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})-
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung ({6}) Nr. 1259/
2010 und zur Änderung anderer Vorschriften
des Internationalen Privatrechts
- Drucksache 17/11049 -
Überweisungsvorschlag:-
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Vorschlägen für einen Beschluss des Rates über
die Unterzeichnung und für einen Beschluss
des Rates über den Abschluss des Abkommens
zwischen der Europäischen Union und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über die
Zusammenarbeit bei der Anwendung ihres
Wettbewerbsrechts
- Drucksache 17/11050 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})-
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des AZR-Gesetzes
- Drucksache 17/11051 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({8})-
Rechtsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von 2004 zur Kontrolle und Behandlung von Ballastwasser und
Sedimenten von Schiffen ({9})
- Drucksache 17/11052 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Ute Koczy, Beate Walter-Rosenheimer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz bei Steinkohleimporten
- Drucksache 17/10845 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})-
Auswärtiger Ausschuss -
Innenausschuss -
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Dr. Thomas Gambke, Ingrid
Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Offenlegung der Jahresabschlüsse
- Drucksache 17/11027 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({12})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Renate Künast, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aufsichtsrat neu besetzen, Geschäftsführer
entlassen und den Flughafen Berlin-Brandenburg skandalfrei fertigstellen
- Drucksache 17/11168 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})Ausschuss für Tourismus
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Michael Hartmann ({14}),
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Europäische Harmonisierung im Datenschutz
auf hohem Niveau sicherstellenhier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/11144 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({15})Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 49 a
bis 49 l. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 49 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die weitere Bereinigung von Übergangsrecht aus dem Einigungsvertrag
- Drucksache 17/10755 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({16})
- Drucksache 17/11092 Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzSonja SteffenMarco BuschmannJens PetermannIngrid Hönlinger
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11092, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/10755 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Was ist mit der FDP und
den Grünen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Linken
und FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
({17})
- Die Lücke ist geschlossen. Das Haus stimmt zu bei
Enthaltung der Grünen.
Tagesordnungspunkt 49 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2013
({18})
- Drucksache 17/10915 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({19})
- Drucksache 17/11165 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11165, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10915 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Verordnung ({20})
Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 24. November 2010 über
die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/10958 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({21})
- Drucksache 17/11181 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Lutze
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11181, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10958 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen
bei Enthaltung der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 49 d:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. April
2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und
zur Verhinderung der Steuerhinterziehung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen
- Drucksache 17/10751 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 12. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/10752 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22})
- Drucksache 17/11106 Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeLothar Binding ({23})
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11106,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10751 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11106, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10752
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Linken
und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({24})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klimagerechte Stadtpolitik - Potentiale
nutzen, soziale Gerechtigkeit garantieren,
wirtschaftliche Entwicklung unterstützen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Stephan Kühn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimaschutz in der Stadt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energieeffizienz und Klimaschutz im Gebäudebereich
- Drucksachen 17/7023, 17/5368, 17/5778,
17/8384 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Götz
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8384 die Ablehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/7023 mit dem
Titel „Klimagerechte Stadtpolitik - Potentiale nutzen,
soziale Gerechtigkeit garantieren, wirtschaftliche Entwicklung unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei
Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5368 mit dem Titel „Klimaschutz in der Stadt“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken
und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5778 mit dem Titel „Energieeffizienz und Klimaschutz im Gebäudebereich“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 49 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 480 zu Petitionen
- Drucksache 17/11020 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 480 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 481 zu Petitionen
- Drucksache 17/11021 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 481 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 482 zu Petitionen
- Drucksache 17/11022 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 482 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 483 zu Petitionen
- Drucksache 17/11023 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 483 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
von Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 484 zu Petitionen
- Drucksache 17/11024 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 484 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 485 zu Petitionen
- Drucksache 17/11025 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 485 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen von SPD und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 486 zu Petitionen
- Drucksache 17/11026 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 486 ist mit den Stimmen der
beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen
des Vizekanzlers Dr. Rösler, das Betreuungsgeld koste viel Geld, sei nicht gegenfinanziert
und eine Bildungskomponente fehle völlig
({32})
Ich eröffne die Aussprache und erteile Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion das Wort.
({33})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das … Betreuungsgeld kostet viel Geld, ist nicht
gegenfinanziert und eine Bildungskomponente fehlt
völlig.
({0})
Ich muss Ihnen offen und ehrlich sagen: Ich hatte bisher
nicht viel Gelegenheit, Übereinstimmung mit Herrn
Rösler zu suchen, aber hier hat er recht.
({1})
Ich finde es schön, dass im Laufe der Zeit Entwicklung möglich ist. Sie begreifen jetzt, was Opposition,
Wissenschaft, Verfassungsjuristen, Kinderschutzbund,
Migrantenverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeber,
Evangelische Kirche und vor allen Dingen die große
Mehrheit der Bevölkerung schon seit langem wissen:
Das Betreuungsgeld ist Geldverschwendung, setzt völlig
falsche Anreize, taugt nichts und muss vom Tisch.
({2})
Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich hier auch
zum Betreuungsgeld geredet. Dass das Thema noch immer „hängt“, hat natürlich Gründe. Wenn Sie in der Koalition davon überzeugt wären, dass das Betreuungsgeld
wirklich das Richtige ist, dann hätten Sie es längst umgesetzt. Was Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, in Wahrheit beunruhigt,
({3})
ist, dass Sie in diesem Falle nicht nur Kritik aus der Opposition bekommen, sondern dass die Verständnislosigkeit in den eigenen Reihen von Monat zu Monat wächst.
Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen von FDP und
CDU glauben selbst nicht an dieses Instrument. Sie haben
aber nicht die Kraft - und das ist das Entscheidende -, aus
der wachsenden Verständnislosigkeit in den eigenen Reihen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie lassen die
Dinge treiben und hoffen auf Ermüdung der Öffentlichkeit bei diesem Thema. Genau das werden wir Ihnen
aber nicht durchgehen lassen.
({4})
Dass ich mich zu diesem Thema nach einem Jahr hier
im Bundestag wieder zu Wort melde, hat nichts damit zu
tun, dass ich das Betreuungsgeld für eine der vielen nicht
finanzierten sinnlosen Maßnahmen zur Klientelbefriedigung halte, sondern weil ich noch immer - heute sogar
immer mehr - der Meinung bin, dass Sie in unserem Bildungssystem an einer verhängnisvoll falschen Weichenstellung arbeiten. Die Tragweite dessen, was Sie hier
jetzt auf den Weg schicken wollen, erkennen Sie bei Ihrem koalitionären Tunnelblick inzwischen gar nicht
mehr.
({5})
Sie müssen sich doch über eines im klaren sein: Sie
können in der nächsten Woche im Koalitionsausschuss
irgendeinen krummen Kompromiss zurechtzimmern,
den der Finanzminister am Ende bezahlt und der Ihnen
in der Koalition vielleicht über die nächsten vier Wochen
hilft. Es bleibt aber bei der Wahrheit, die ich vor einem
Jahr von diesem Pult aus auch schon gesagt habe: Das,
was Sie hier vorbereiten, ist eine bildungspolitische Katastrophe. Ein anderes Wort habe ich dafür nicht zur Verfügung.
({6})
Was immer Sie in der Koalitionsküche jetzt zusammenbrutzeln: Sie verantworten am Ende einen grundlegend falschen Anreiz, nämlich eine Prämie dafür, dass
Kinder zu Hause bleiben. Viele von Ihnen wissen vermutlich, was Sie damit anrichten: Gerade viele der Kinder, die wir viel mehr in öffentlichen Betreuungseinrichtungen sehen möchten, gerade viele der Kinder, die erst
durch die Betreuung in öffentlichen Einrichtungen überhaupt eine Chance im Bildungssystem bekommen, gerade auch viele Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, die eine möglichst frühzeitige Sprachförderung
erhalten müssen, werden durch Ihre Prämie und Ihren
Fehlanreiz zu Hause bleiben. Sie wissen das, machen es
aber trotzdem. Das ist das Verantwortungslose.
({7})
Ich meine, wir müssen familienpolitisch argumentieren. Aber auch ökonomisch verstehe ich Sie nicht, gerade diese Koalition nicht, gerade wenn Sie, wie viele
von Ihnen, bei der letzten BDA-Jahrestagung geredet
und gehört haben, was Ihnen die Unternehmer in diesem
Lande berichten, nämlich von ihrer Sorge um den Mangel an Arbeitskräften. Nun besteht aber die Hälfte der
gut ausgebildeten jungen Menschen in diesem Lande aus
Frauen. Deren Erwerbstätigkeit - daran haben wir ein
Interesse - müssen wir fördern und nicht behindern.
({8})
Aber es scheint so zu sein, dass Ideologie oder Koalitionsarithmetik auch die einfachsten Gesetze der Logik
außer Kraft setzen.
Vor einem Jahr kam ich aus einem Gespräch mit den
kommunalen Spitzenverbänden zu der Debatte zum Betreuungsgeld hierher. Zufälligerweise hat ein solches
Treffen gerade gestern wieder stattgefunden. Ich will Ihnen noch einmal sagen: Die Botschaft, die von unseren
Kommunen kommt, ist immer noch dieselbe. Sie ist
ganz einfach und klar: Hört damit auf, Geld auszugeben,
damit Kinder zu Hause bleiben! Ganz im Gegenteil: Jeder Euro, jeder Cent, der für diesen Unsinn verschleudert
wird, der wird für den Kitaausbau dringend gebraucht. Recht haben die kommunalen Spitzenverbände!
({9})
Deshalb zum Schluss. Mit Verlaub: Alle Argumente
liegen auf dem Tisch, aber sie sind eben nicht auf Ihrer
Seite. Auf Ihrer Seite ist der ominöse Koalitionsfrieden.
Nicht aber dem sind Sie mit Ihrem Mandat verpflichtet,
sondern dem Wohl von Familien und der Zukunft der
Kinder hier in Deutschland. Deshalb muss das Betreuungsgeld vom Tisch.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier. Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Markus Grübel. Bitte schön, Kollege
Markus Grübel.
({0})
Die kommen noch. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier im Deutschen Bundestag schon eine sehr seltsame Opposition. Wenn das
Thema Betreuungsgeld auf der regulären Tagesordnung
des Bundestages steht, dann verweigert sich die Opposition, dann versucht die Opposition mit allen Verfahrenstricks, auch mit schlechten, die Debatte hier im Parlament zu verhindern.
({0})
Wenn dieses Thema in einer Woche einmal nicht auf der
Tagesordnung steht, dann können wir uns blind darauf
verlassen, dass es dazu eine Aktuelle Stunde gibt. Ich
kann die Zahl der Aktuellen Stunden zum Betreuungsgeld schon nicht mehr zählen.
({1})
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass wir Sie noch
durch Sachargumente überzeugen können.
Aber zur Sache. Zur Grundsatzfrage hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag,
Rainer Brüderle, gestern alles gesagt. Herr Brüderle hat
noch einmal betont, dass er zum Betreuungsgeld steht.
({2})
Ich zitiere: Wir sind vertragstreu, das ist vereinbart.
({3})
Das sagt Rainer Brüderle. Wir werden in naher Zukunft
den Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu einem guten Abschluss bringen.
({4})
Es wird noch ein paar Änderungen geben, zum Beispiel
Wahlleistungen für eine kapitalgedeckte Rente, oder die
FDP hat noch Wünsche für eine Bildungskomponente,
aber im Kern wird es beim vereinbarten Betreuungsgeld
bleiben.
({5})
Um was geht es beim Betreuungsgeld? Bund, Länder
und Gemeinden fördern jeden Platz für jedes Kind unter
drei Jahren mit 900 bis 1 000 Euro im Monat. Eltern, die
die Betreuung selbst organisieren oder eine Betreuung,
die nicht öffentlich gefördert wird, in Anspruch nehmen,
sollen künftig 150 Euro im Monat erhalten. Als Anerkennung für ihre Betreuungsleistung, aber auch als
Unterstützung für die selbstorganisierte Betreuung, die
nicht staatlich gefördert wird,
({6})
fördern Bund, Länder und Gemeinden jeden Platz für einen unter Dreijährigen mit 900 Euro bis 1 000 Euro im
Monat. Dabei geht es um ein- oder zweijährige Kinder.
({7})
Meine Damen und Herren, wir wollen die Wahlfreiheit. Dazu gehört einerseits das Betreuungsgeld und andererseits der massive Ausbau der Kinderbetreuungsplätze auch für die unter Dreijährigen. Noch nie wurden
in Deutschland so viele Betreuungsplätze für unter Dreijährige geschaffen wie in den letzten drei Jahren.
({8})
Noch nie wurde so viel Bundesgeld eingesetzt, um
Betreuungsplätze zu schaffen. In den letzten drei Jahren
haben wir 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. In
vielen Ländern sind diese Mittel jetzt aufgebraucht. Darum haben wir jetzt zusätzliche Mittel, nämlich 580 Millionen Euro, für zusätzliche 30 000 Betreuungsplätze bereitgestellt.
Was machen nun aber manche Länder bzw. die Länder? Sie blockieren, weil sie nicht regelmäßig berichten
wollen, wie viele Betreuungsplätze zur Verfügung stehen. Diese Zahl brauchen wir aber, um garantieren zu
können, dass wir im August 2013 auch wirklich den
Rechtsanspruch erfüllen können.
Ich kann mich noch gut an das Tagesbetreuungsausbaugesetz erinnern - Herr Steinmeier; Frau Künast, Sie
reden nachher -, das von Rot-Grün auf den Weg gebracht worden ist. Dabei sind auch Milliarden eingesetzt
worden. Ich habe aber noch keinen SPD-Bürgermeister
und noch keinen SPD-Kämmerer gefunden, der mir gesagt hat: Das Geld ist in meiner Kommune angekommen.
Das haben wir beim Kinderförderungsgesetz besser
gemacht. Damals haben wir gemeinsam regiert. Wir haben gesagt: Es muss nachweisbar sein, dass die Kommune das Geld bekommt, die tatsächlich Betreuungsplätze für unter Dreijährige schafft. - Heute kann jeder
im Haushaltsplan seiner Gemeinde nachlesen, zu welchem Anteil der Bund beispielsweise einen Neubau bezuschusst und wie hoch die laufende Förderung des Bundes ist. Dabei können sich die Kommunen auf den Bund
verlassen.
({9})
Diese guten Erfahrungen wollen Sie jetzt wieder aufgeben. Insbesondere die rot-grün regierten Länder wollen das ändern und das Geld wieder in ihre Taschen leiten. Deshalb haben wir die Sorge, dass nur wenig oder
gar nichts bei den Kommunen ankommt. Dabei machen
wir nicht mit.
({10})
Meine Damen und Herren, schauen wir doch einmal
auf den Ausbauzustand. Wer hat sich in den letzten Jah24278
ren angestrengt? Es gibt eine neue Studie vom Deutschen Jugendinstitut. Danach ist der Fehlbedarf in einem
SPD-regierten Land am größten, nämlich in Bremen.
Dann folgt Nordrhein-Westfalen. Im Osten ist der Fehlbedarf in Mecklenburg-Vorpommern am größten. Wer
ist denn dort Sozialministerin? Das ist doch eine von der
SPD,
({11})
die hier immer dicke Backen macht, es aber nicht hinbekommt.
({12})
Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen stehen besser da. Deshalb kann man wirklich sagen, dass die Voraussetzungen ähnlich sind.
({13})
Schauen wir doch einmal in den Westen. Wer hat im
Westen den geringsten Fehlbedarf? Dies ist der Freistaat
Bayern.
({14})
Bayern ist für das Betreuungsgeld, tut aber etwas für den
Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen und ist dabei vorbildlich. Bayern hat sich wirklich angestrengt.
({15})
Bei dieser Lage sollten Sie Ihre Länder beeinflussen,
dass sie die 580 Millionen Euro für die 30 000 neuen
Betreuungsplätze nehmen, nicht weiter blockieren und
ihrer Berichtspflicht nachkommen.
({16})
Vielleicht ist der wirkliche Grund für die heutige Aktuelle Stunde, von diesem Problem und von Ihrem eigenen Versagen abzulenken. Dabei machen wir aber nicht
mit.
Herzlichen Dank.
({17})
Vielen Dank, Kollege Markus Grübel. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Die Linke unser Kollege Dr. Gregor Gysi. Bitte schön,
Kollege Dr. Gregor Gysi.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beschäftige mich jetzt einmal mit dem Frauenbild der Männer der CDU/CSU. Ich kenne Ihr Frauenbild. Sie stellen
sich Frauen so vor: Frauen sitzen zu Hause, betreuen,
versorgen und erziehen die Kinder. Dann machen sie die
Wohnung sauber. Dann kümmern sie sich um die Wäsche aller Familienmitglieder. Dann bügeln sie die Hemden des Ehemannes. Dann gehen sie einkaufen. Dann
stellen sie ihrem Mann die Puschen hin, damit er abends
bequem vor dem Fernseher sitzen kann.
({0})
Ich sage Ihnen aber: Dieses Frauenbild ist so etwas
von veraltet, dass ich mich wundere, dass Frau
Hasselfeldt in der CSU nicht darum kämpft, dass das
endlich einmal überwunden wird.
({1})
Davon gibt es auch eine Folge: In Ihrer Fraktion gibt es
wenig Frauen, nämlich nur 18,98 Prozent. In unserer
Fraktion gibt es mehr Frauen als Männer, nämlich
55,2 Prozent. Erreichen Sie das erst einmal.
({2})
Ich weiß natürlich auch, dass es Frauen gibt, die eine
solche Rolle übernehmen und sich sogar darin wohlfühlen. Ich habe vor ihnen auch vollen Respekt. Aber das
heißt nicht, dass man das politisch als Bundestag noch
finanziell fördern und unterstützen muss. Ganz im Gegenteil: Wenn man die Gleichstellung der Geschlechter
erreichen will, muss man zumindest in der CDU/CSU
erst einmal das Bild der Männer von den Frauen grundsätzlich ändern.
({3})
Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die eindeutig beweisen, dass es ein großer Vorteil für Kinder
ist, wenn sie Kindertageseinrichtungen aufsuchen.
({4})
Warum nehmen Sie sie nicht zur Kenntnis? Die Kinder
lernen von anderen Kindern. Sie lernen auch sozial. Das
gilt übrigens nicht nur für Kinder von Alleinerziehenden, sondern gerade auch für Kinder aus betuchten Verhältnissen. Sie lernen dann nämlich auch den Umgang
mit anderen Verhältnissen und werden wieder natürlicher, als sie es von zu Hause mitbekommen haben.
({5})
In der Schule zeigt sich, dass diese Kinder, die vorher
Kindertagesstätten besucht haben, aufgeschlossener sind
und leichter den Lehrstoff erfassen als jene Kinder, die
nur zu Hause waren.
({6})
Nach den Kindertagesstätten müsste der Besuch einer
Ganztagsschule beginnen, und zwar auch deshalb, weil
es den Kindern hilft und gleichzeitig ermöglicht, dass
Frauen und Männer sich gleichberechtigt beruflich entwickeln können.
({7})
Es gibt eine Studie, die Folgendes besagt - ich zitiere
wörtlich -:
Besonders für die Kinder von Alleinerziehenden
hat die Ganztagsbetreuung einen positiven Effekt.
Ihre Schulleistungen lassen sich durch die Betreuung signifikant verbessern.
Dann wird in der Studie Folgendes festgestellt: Der Anteil der Kinder von Alleinerziehenden an Gymnasien
würde von 36 auf 62 Prozent steigen, wenn alle Kinder
diese Angebote hätten und auch wahrnehmen könnten.
Mit Ihrem Geld wollen Sie genau das verhindern. Erklären Sie doch einmal den Kindern, was Sie damit eigentlich anrichten.
({8})
- Ja, natürlich. Sie wollen ja dann bezahlen, wenn die
Eltern die Kinder nicht dort hinschicken. Damit richten
Sie sich geradezu an die ärmeren Eltern, nach dem
Motto: Wenn ihr Knete haben wollt, dann bringt eure
Kinder nicht in die Kindertageseinrichtungen. - Ich bitte
Sie, das ist 19. Jahrhundert. Das hat mit dem 21. Jahrhundert nichts mehr zu tun.
({9})
Übrigens haben die Kindertageseinrichtungen im Osten einen Vorsprung. Warum können wir das nicht in
ganz Deutschland einführen? Man kann doch auch einmal einen Vorsprung im Osten für ganz Deutschland nutzen. Was spricht eigentlich dagegen?
({10})
- Ja, da reagieren Sie sofort arrogant. Das ist eine völlige
Fehlleistung. Schauen Sie sich einmal die Studien etc.
zur beruflichen Entwicklung von Frauen aus dem Osten
an! Wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen, dann hilft
es nichts. Es tut mir leid: Dann bleiben Sie im Kalten
Krieg stecken.
({11})
Ab 1. August gibt es einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuungsstellen. Vielen Kommunen fehlt aber das
Geld. Warum geben Sie das für diesen Unsinn vorgesehene Geld nicht den Kommunen, um die Kinderbetreuungsstellen zu finanzieren? Sie haben von Bayern und
vielen anderen Ländern gesprochen, die auf den Ausweg
setzen, eine Mutter zu finden, die mehrere Kinder betreut. Das ist natürlich nur die halbe Miete.
({12})
Eine Kindertageseinrichtung mit hochqualifiziertem Personal ist wesentlich besser. Das müssen wir übrigens
auch erreichen, und zwar verstärkt.
({13})
Also: Ich halte von diesem Zwischenweg relativ wenig.
Nun sage ich Ihnen - auch an die Adresse der FDP -:
Das Geschacher in der Koalition ist nicht nachvollziehbar. Ich frage Sie von der FDP: Was hat ein ohnehin
nicht zu rechtfertigender Zuschuss zur privaten Pflegeversicherung mit dem Betreuungsgeld zu tun? Was hat
die Berücksichtigung von Rentenpunkten für Frauen, die
vor 1992 Kinder zur Welt gebracht haben, mit dem Betreuungsgeld zu tun? Was hat die Verpflichtung zur
Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen von Kindern mit dem Betreuungsgeld zu tun? Was hat ein sogenanntes Bildungssparen für Kinder - fragen Sie das mal
Herrn Brüderle! - mit dem Betreuungsgeld zu tun?
Was ist das für ein Kuhhandel, den Sie organisieren?
71 Prozent aller Befragten in Deutschland wollen kein
Betreuungsgeld, übrigens auch 62 Prozent aller Anhängerinnen und Anhänger der CDU. Das sollten Sie bedenken.
Deshalb sage ich Ihnen: Lassen Sie diesen Blödsinn,
diesen Rückfall in ein völlig antiquiertes Frauenbild und
ins 19. Jahrhundert! Das brauchen wir nicht. Wir brauchen dieses Geld dringend für die Kinderbetreuungsstellen.
({14})
Vielen Dank, Kollege Dr. Gregor Gysi. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP, unser Kollege Patrick
Meinhardt. Bitte schön, Kollege Patrick Meinhardt.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Steinmeier, ich darf einmal zitieren:
Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder
von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche
Zahlung ({0}) eingeführt
werden.
So beschlossen bei der Änderung des Sozialgesetzbuchs
durch die Große Koalition - mit Ihrer Stimme, Herr
Steinmeier.
({1})
An dieser Stelle muss man einmal sehr deutlich sagen: Stehen Sie zu dem, was Sie in der Vergangenheit in
das Sozialgesetzbuch hineingeschrieben haben!
({2})
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, Herr
Steinmeier.
({3})
Fühlten Sie sich dem Koalitionsfrieden oder fühlten Sie
sich dem deutschen Volk verpflichtet?
Aus dem gleichen Jahr darf ich den Kollegen
Steinbrück zitieren. Da kam die Meldung über die Ticker: Koalition konnte sich einigen. „Das Veto des Finanzministers ist weg“, sagte die damalige Ministerin
von der Leyen. - Was sagte Herr Steinbrück dazu, zu
diesem Betreuungsgeldkompromiss? - „Es sei ein vernünftiger Kompromiss.“ Damit sind Sie als Sozialdemokraten aus der Debatte herausgekommen. Stellen Sie
sich doch Ihrer eigenen Verantwortung und schlagen Sie
sich hier nicht in die Büsche!
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein
wichtiges Datum; das ist der 1. August nächsten Jahres.
Alle Anstrengungen müssen darauf hinauslaufen, den
Ausbau der Krippenplätze genau so umzusetzen, wie er
verabschiedet worden ist. Diese Bundesregierung stellt
die Mittel hierfür in vollem Umfang zur Verfügung. Sie
legt noch einmal 580 Millionen Euro obendrauf.
({5})
Deswegen: Kümmern Sie sich darum, dass Ihre Landesregierungen diese Mittel abrufen, die Auszahlung nicht
blockieren, sondern den Weg freimachen, sodass wir am
1. August kommenden Jahres auch das erreichen, was
wir in diesem Land gesellschaftspolitisch erreichen wollen.
({6})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
eine ganze Reihe von Herausforderungen, die wir in
diese Diskussion um die Frage des Betreuungsgeldes,
die Frage der richtigen Familienpolitik und die Frage der
richtigen gesellschaftspolitischen Schwerpunkte mit
hineinbringen wollen. Logischerweise - das gehört zu
einer Koalition - gibt es bei Wegen zu einem Ziel unterschiedliche Akzentuierungen und auch eine Diskussion
darüber, wie die Ausgestaltung optimal laufen soll.
Als FDP-Bundestagsfraktion haben wir klare Akzente
in der Debatte gesetzt. Zum Ersten geht es darum, dass
wir so schnell wie möglich eine schwarze Null im Bundeshaushalt wollen;
({7})
das hat für uns oberste Priorität. Wir wollen erreichen,
dass eine solide Finanzierung sichergestellt ist; denn
eine solide Haushaltspolitik ist die beste Generationenpolitik.
({8})
Zum Zweiten - das ist für uns der zentrale Punkt -:
Wir wollen als Liberale und wir wollen auch in dieser
Regierungskoalition ein bildungspolitisches Signal setzen.
({9})
Es geht um eine starke Bildungskomponente, wie es der
Bundesvorsitzende der Freien Demokratischen Partei
formuliert hat. Es geht darum, für die Kinder Bildungschancen für die Zukunft zu eröffnen.
({10})
Deswegen ist das Ziel der Liberalen, in dieser Debatte,
in dieser gesellschaftspolitisch wichtigen Debatte, ein
kluges Zeichen für ein intelligentes Bildungssparen zu
setzen.
({11})
Bildungspolitische Fragestellungen an dieser Stelle zu
diskutieren, ist aus liberaler Sicht der richtige Ansatzpunkt.
({12})
Monat für Monat sind hier Möglichkeiten gegeben,
die wir im Koalitionsvertrag auch schon angedeutet und
aufgetan haben, nämlich beispielsweise über ein Bildungskonto, über einen Bildungsbonus Schwerpunkte zu
setzen. Das wäre der Einstieg in ein modernes und sozial
gerechtes Bildungssparen. Unser Ziel ist es, dass wir in
dieser gesellschaftspolitischen Debatte einen starken
Akzent, ein starkes Zeichen für die Bildung setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusammenhang ist es auch wichtig und gut, dass das Bundeswirtschaftsministerium ein Gutachten zur Zukunft des
Vermögensbildungsgesetzes in Auftrag gegeben hat,
({13})
um zu schauen, auf welche Art und Weise wir Vermögensbildung über die Frage des Bildungssparens und die
Frage der stärkeren Akzentuierung hier miteinander erreichen können.
({14})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es lohnt
sich, in diesem Hohen Hause darum zu streiten, wie wir
Zukunftschancen für Kinder verbessern können. Es
lohnt sich, auch darum zu streiten, wie wir einen Bildungsbonus schaffen können. Es lohnt sich mit Sicherheit, darum zu streiten, wie wir die Bildungschancen in
diesem Land noch weiter erhöhen können. Das ist die
Debatte, die wir hier auch führen müssen.
Herzlichen Dank.
({15})
Vielen Dank, Kollege Patrick Meinhardt. - Nächste
Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Renate Künast.
Bitte schön, Frau Kollegin Renate Künast.
Danke. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Ich will einmal sagen: Bisher habe ich kein entscheidendes Argument für das Betreuungsgeld gehört.
({0})
Mein letzter Vorredner, Herr Meinhardt, hat gesagt, das
wichtigste Datum im nächsten Jahr sei der August 2013,
wenn es den Rechtsanspruch gibt. Ich habe eher den Eindruck: Bei Ihnen ist das wichtigste Datum der 1. April
nächsten Jahres; denn so agieren Sie.
({1})
Anders kann ich das nicht verstehen; denn mit dem
1. April verbindet man doch immer einen Aprilscherz.
({2})
Was soll man denn davon halten: Herr Rösler läuft herum und kritisiert zu Recht: Das Betreuungsgeld ist zu
teuer. Es ist ein falsches Instrument. Es ist nicht gegenfinanziert und hat keine bildungspolitische Komponente. Da denken wir schon: Wow! Endlich legt sich jetzt die
FDP einmal ins Zeug - ganz modern - und tut etwas für
die Kinder und für die Frauen. - Kurz danach kommt
Herr Brüderle, springt Rösler in den Nacken und sagt:
Nein, wir sind vertragstreu. - Dann gilt wieder das.
Herr Meinhardt hat gerade hier am Redepult einen
doppelten Rittberger zur Aufführung gebracht und gesagt:
({3})
Beide haben recht. Wir sind vertragstreu. - Dann kommt
mit Bildungssparen sozusagen die bildungspolitische
Komponente ins Spiel. Wollen Sie uns und auch die
Frauen in diesem Land eigentlich veräppeln?
({4})
Wer über Bildung redet, weiß: Auf den Anfang
kommt es an. Wollen Sie uns jetzt erzählen, dass ein
Kind das erste, zweite, dritte, vierte Lebensjahr zu Hause
bleiben soll, obwohl es auf den Anfang ankommt, um
Bildung zu erleben - wir wissen, der Kindergarten hat
einen Bildungsauftrag -,
({5})
und dass man mit 100 oder 150 Euro für Bildungssparen
für später vorsorgen soll?
Sie müssen wissen: Die Entscheidung darüber, ob
sich ein Kind auf seinem Schulweg tapfer und mutig
zum Beispiel zum Abitur und um zu studieren auf den
Weg macht, wird nicht dadurch gefällt, dass man sicherheitshalber schon im Kindesalter Bildungssparen für das
Studium macht. Vielmehr wird dies dadurch entschieden, dass dieses Kind seine Kompetenzen und Möglichkeiten kennenlernt und ausleben und entwickeln kann.
Und da gehen Sie wieder nicht ran! Insofern: Vergessen
Sie Ihr Bildungssparen an dieser Stelle!
({6})
- Über das Bildungssparen können wir gerne diskutieren. Aber vorher machen wir das Betreuungsgeld nicht.
Dann würde Bildungssparen Sinn machen.
({7})
Das alles ist doch von vorgestern und keine Antwort
auf die Frage, die die meisten Eltern haben, die sagen,
sie seien hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie aufgerieben.
Der Bedarf an Krippenplätzen steigt immer noch weiter. In manchen Kommunen liegt er schon heute bei über
50 Prozent. Viele Väter wollen gerne weniger erwerbstätig und Frauen mehr erwerbstätig sein. Für solche Dinge
muss man doch einen familienpolitischen und bildungspolitischen Rahmen schaffen. Aber ich habe den Eindruck: Hier sollen nicht die Familien gerettet werden,
sondern hier soll die Koalition gerettet werden, weil Sie
sich gerade noch durchmauscheln wollen.
({8})
Das ist nichts als ein Versuch, irgendwie davon abzulenken, dass die Aufgaben für den August 2013 in Bezug
auf den Rechtsanspruch nicht realisiert werden können.
Der nationale Bildungsbericht, von Frau Schavan in
Auftrag gegeben, hat vor der Leistung Betreuungsgeld
gewarnt. Bei den Empfehlungen aus Europa für unseren
Haushalt wird gesagt: keine steuerlichen finanziellen
Anreize dieser Art für das Zuhausebleiben.
Die Mehrheit der Eltern will das Betreuungsgeld
nicht. Selbst der Sozialdienst katholischer Frauen in
Bayern will das Elterngeld nicht.
({9})
- Betreuungsgeld. Entschuldigung. - Alle wollen an dieser Stelle eine bessere Infrastruktur mit mehr Personal
und individueller Förderung.
Dann frage ich mich noch, warum Sie und Frau von
der Leyen an dieser Stelle so gern von einer drohenden
Altersarmut der Frauen reden. Sie bekämpfen doch die
Altersarmut der Frauen nicht damit, dass Sie ihnen heute
100 oder 150 Euro geben. Vor drei, vier Wochen sollte
das noch sein, damit die Frauen ihre Altersvorsorge be24282
zahlen können. Aber auch das ist offensichtlich schon
wieder vergessen.
({10})
Was soll denn sein? - Die Frauen brauchen eine echte
Wahlfreiheit. Das heißt, es muss mehr Kindergartenplätze geben, und es muss irgendwann einmal einen
Rechtsanspruch auf einen Ganztagskindergartenplatz geben.
({11})
Nur so funktioniert das.
Wir müssen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt noch
viel mehr erreichen, zum Beispiel die Schließung der
Lohnlücke und einen Mindestlohn. Was ich bei Ihnen
kritisiere, ist ganz klar: Nach Ihrer Vorstellung soll mit
dem Betreuungsgeld die Erziehungsleistung gesetzlich
anerkannt werden. Aber am Ende bekommen auch die,
die gar nicht erziehen, sondern die 100 oder 150 Euro als
Taschengeld für das Au-pair-Mädchen nehmen, das
Geld. Was wollen Sie denn nun: eine Erziehungsleistung
an dieser Stelle rechtfertigen oder einen Bildungsauftrag
wahrnehmen?
Mein letzter Gedanke in meiner Rede gilt Ihnen,
Herrn Grübel. Herr Grübel, Sie haben sich hier durch das
Thema gegrübelt. Sie haben gesagt, Sie würden den Ländern 580 Millionen Euro zusätzlich geben. Sie haben
aber nicht gesagt, dass die 580 Millionen Euro von den
Bundesländern kofinanziert werden sollen und es eine
regelmäßige Berichtspflicht geben soll.
({12})
Ausgemacht war an dieser Stelle: Länder und Kommunen übernehmen die Personalkosten, während der Bund
eine einmalige finanzielle Leistung als Investition erbringt. Sie haben nicht die Wahrheit gesagt. Sie geben
den Kommunen nicht das Unterstützungsgeld, sondern
stattdessen das Betreuungsgeld.
({13})
Das lehnen wir ab. Im Notfall schaffen wir es im nächsten Jahr wieder ab.
({14})
Vielen Dank, Frau Kollegin Renate Künast. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Norbert Geis.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Frau Künast, Sie bringen einiges durcheinander. Sie verwechseln nicht nur das Betreuungs- mit dem Elterngeld, sondern Sie unterscheiden
auch nicht zwischen Krippe und Kindergarten.
({0})
Die Krippe betreut Kinder in den ersten drei Jahren, und
dann beginnt der Kindergarten. Wir alle sind dafür, dass
möglichst viele Kinder in den Kindergarten gehen. Wir
stimmen mit Ihnen darin überein, dass die Kinder ab diesem Alter in den Kindergarten kommen sollen, damit deren Kommunikationsfähigkeit wächst. Das wollen wir
genauso wie Sie.
({1})
Sie dürfen uns das Gegenteil nicht vorwerfen.
In dieser Debatte ist nichts Neues hervorgebracht
worden, und es wird auch nichts Neues hervorgebracht.
({2})
Wir reden hier im Parlament zum siebten oder achten
Mal über das Betreuungsgeld. Sieben oder acht Mal sind
dieselben Argumente vorgetragen worden. Um was geht
es Ihnen eigentlich? Es geht Ihnen gar nicht mehr um die
Argumente, sondern darum, aus einer vielleicht koalitionsinternen Meinungsverschiedenheit Kapital für Ihre
eigene Partei zu schlagen.
({3})
- Darum geht es nicht. Es geht Ihnen nicht um die Kinder. - Es geht Ihnen ganz billig um einen Vorteil für Ihre
eigene Partei. Den brauchen Sie natürlich auch, weil Sie
sonst keinen bekommen.
({4})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden!
Ich will Ihnen sagen, was ich am Betreuungsgeld kritisiere. Ich kritisiere am Betreuungsgeld die Bezeichnung. Früher haben wir dazu Erziehungsgeld gesagt. Es
wurde zwei Jahre das Erziehungsgeld und in einigen
Bundesländern ab dem dritten Jahr das Landeserziehungsgeld gezahlt. Das gab es beispielsweise in Bayern,
Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen. Wir haben
es damals Erziehungsgeld genannt. Es geht hier schließlich um Erziehung. Es geht darum, dass durch dieses
Geld die Erziehungsleistung der Eltern unterstützt wird.
Dazu hat der Staat nach Art. 6 Grundgesetz eine Verpflichtung. Er muss die Erziehungsleistung der Eltern
unterstützen.
({5})
- Aller Eltern. - Deswegen sollten wir es nicht Betreuungsgeld nennen; denn es geht nicht um Betreuung, sondern um Erziehung. Eine bessere Bezeichnung wäre also
Erziehungsgeld.
({6})
Herr Steinmeier und viele andere haben vorgetragen,
dass Kinder, wenn sie in den ersten drei Jahren bei ihren
Eltern bleiben und daheim erzogen werden,
({7})
einen Nachteil gegenüber Kindern haben, die eine Kita
besucht haben.
({8})
- Okay, ich nehme Ihre Korrektur entgegen. - Das kann
auch nicht richtig sein. Aber es wird so verstanden. Es
kann nicht sein, dass Sie die Erziehung durch die Eltern,
die Mutter oder den Vater, disqualifizieren.
({9})
Das kann doch nicht sein. Damit will ich aber nicht sagen, dass die Eltern, die ihr Kind in die Kita geben, nicht
in gleichem Maße Nähe und Bindung zum Kind aufbauen können. Ich gehe davon aus, dass dies ebenfalls
der Fall ist.
({10})
- Nein, ich sage das nicht. Aber ich sage Ihnen: Sie können auch nicht das Gegenteil behaupten, nämlich dass
ein Kind einen Nachteil hätte, wenn es nicht in die Kita
kommt.
({11})
Das ist weit hergeholt und völlig falsch.
Des Weiteren wird immer wieder behauptet - auch
von Ihnen, Herr Steinmeier -, das Betreuungsgeld sei
verfassungswidrig.
({12})
Das kann ich nun überhaupt nicht nachvollziehen. Was
geschieht denn hier? Meine sehr verehrten Damen und
Herren von der SPD, im Jahr 2008 haben Sie zugestimmt, dass die Erziehungsleistungen der Eltern unterstützt werden sollen. Das sollte zum einen durch die Kitas erfolgen; hier sind wir voll bei Ihnen. Hierfür hat der
Staat bereits über 4 Milliarden Euro geleistet. Es sind die
SPD-regierten Länder, die ihre Leistung noch nicht erbracht haben. Das müssen Sie sich vorhalten lassen.
Zum anderen sollte eine Unterstützung durch das Betreuungsgeld erfolgen. Das haben Sie im Jahr 2008 selber so entschieden. Sie haben mit uns entschieden, dass
der Staat die Unterstützung der Erziehungsleistungen auf
zweierlei Weise vornehmen kann
({13})
- nein, ich will Ihnen nur die Wahrheit sagen -, nämlich
auf der einen Seite durch die Kita als Sachleistung und
auf der anderen Seite durch das Betreuungsgeld als
Geldleistung. Was soll daran verfassungswidrig sein?
Wir geben den Eltern Wahlfreiheit. Wir sagen ihnen: Ihr
könnt wählen, ob ihr euer Kind in die Kita gebt oder ob
ihr das Betreuungsgeld nehmt. - Eine solche Wahlfreiheit kann doch nicht verfassungswidrig sein. So etwas
kann doch nur einem seltsam gewundenen juristischen
Hirn einfallen. Damit können Sie bei uns nicht anlanden.
Ich möchte einen weiteren Punkt hervorheben. Der
Staat wird meiner Meinung nach in eine Gerechtigkeitslücke geraten, wenn er nur die Eltern unterstützt, die ihr
Kind in die Kita geben. Das sind ja maximal 40 Prozent
der Eltern. 60 Prozent der Eltern, die ihr Kind in den ersten drei Jahren daheim erziehen wollen, soll der Staat
nicht unterstützen? Das führt meiner Meinung nach zu
einer Gerechtigkeitslücke.
({14})
Das können wir so nicht stehen lassen.
Bitte werfen Sie einen kurzen Blick zu unseren Nachbarn in Frankreich. Dort werden die Kinder landesweit
zu maximal 15 Prozent in die Krippe gebracht, 25 Prozent gehen zur Tagesmutter. Frankreich zahlt aber ein
einkommensabhängiges Betreuungsgeld von 300 bis
500 Euro. Ähnlich verhält es sich in Skandinavien. In
Norwegen werden einkommensabhängig pro Monat und
Kind mindestens 300 Euro als Betreuungsgeld gezahlt.
({15})
In Schweden wird es ähnlich gehandhabt. Nur wir sind
wieder einmal klüger. Wir sollten etwas bescheidener
sein und uns lieber ein Beispiel an unseren Nachbarn
nehmen.
({16})
Vielleicht kommen Sie dann auf andere Ideen.
Danke schön.
({17})
Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. - Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere
Kollegin Caren Marks. Bitte schön, Frau Kollegin Caren
Marks.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Geis, wenn Ihre Argumentation so überzeugend
wäre, dann hätte das vielleicht auch zu einer erneuten
Aufstellung in Ihrem Wahlkreis geführt. Das sei nur nebenbei bemerkt.
({0})
Herr Meinhardt, das ist doch der verzweifelte Versuch
der FDP, sich hier einen schlanken Fuß zu machen.
({1})
Im KiföG steht ausdrücklich, dass das Betreuungsgeld
2013 eingeführt werden soll. Das heißt, diejenigen, die
jetzt regieren, kommen nicht aus der Verantwortung heraus.
({2})
Wer den Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld einbringt
und verabschiedet, der ist dafür verantwortlich.
({3})
Frau von der Leyen, die im Übrigen genauso wie die
SPD immer ganz klar gegen das Betreuungsgeld war, hat
es nicht vermocht, die CSU im Zaum zu halten und zu
verhindern, dass das Betreuungsgeld im KiföG aufgenommen wird. Hätten wir in dem Gesetzentwurf nicht
die unverbindliche Sollbestimmung aufgenommen, hätte
der Bund damals nicht den gesamten U-3-Ausbau vorangebracht und 4 Milliarden Euro bereitgestellt. Es ging
uns um die Kinder und die Familien; das war wichtiger.
Jetzt liegt es alleine an Ihnen, die Einführung des Betreuungsgeldes scheitern zu lassen. Aus dieser Nummer
kommen Sie als FDP nicht heraus; das sage ich Ihnen.
({4})
Wer die Debatte über das Betreuungsgeld in den vergangenen Monaten verfolgt hat, dem wird sicherlich aufgefallen sein, dass sich die Regierungskoalition stets um
die Beantwortung einer ganz entscheidenden Frage herumdrückt: Wer soll das bezahlen? Der FDP - genauer
gesagt: dem FDP-Vorsitzenden und Vizekanzler Rösler fällt auf einmal ein, dass die Regierungskoalition hierauf
ja noch eine Antwort schuldig ist. Plötzlich stellt er das
Betreuungsgeld unter Finanzierungsvorbehalt.
({5})
Ist das vielleicht ein Versuch, sich - auch in den eigenen
Reihen - als Hardliner zu profilieren, Herr Rösler? Warum Sie nicht schon von Anfang an auf die Finanzierung
des Betreuungsgeldes gepocht haben - gerade bei einem
derart umstrittenen Gesetzentwurf -, findet meine Fraktion wirklich mehr als rätselhaft. Wir haben immer darauf gedrängt, Ross und Reiter bei der Finanzierung zu
nennen.
Dann kommt wenige Tage nach Ihnen, Herr Rösler,
Ihr Fraktionsvorsitzender Brüderle als Versöhner um die
Ecke gebogen und sagt: Das Betreuungsgeld wird von
der FDP mitgetragen.
({6})
Meine Herren von der FDP, welches Wort gilt denn nun?
Auch die Berliner Zeitung spricht bereits von einer Debatte in der FDP, die verzweifelte Formen angenommen
habe. Aber der Gipfel in dieser Debatte ist, dass die CSU
öffentlich ein Finanzierungskonzept ablehnt. So sieht
Frau Hasselfeldt - so in öffentlichen Erklärungen keine Notwendigkeit einer Gegenfinanzierung. Solide
Haushaltspolitik, meine Kolleginnen und Kollegen von
Schwarz-Gelb, geht definitiv anders. Wo kommen wir
hin, wenn die Bundesregierung in Zukunft nicht mehr
verpflichtet ist, zu sagen, woher das Geld für ein neues
politisches und vor allem unsinniges Vorhaben kommt?
Zu Recht gibt es große Befürchtungen, dass vor allem im
Bereich des Bundesfamilienministeriums wirklich herbe
Einschnitte drohen. Kürzungen zulasten von Familien,
Kindern, Jugendlichen und Älteren - so wird das Gegenfinanzierungskonzept zum Betreuungsgeld aussehen.
Das geht auf Kosten der Familien, für die Sie angeblich
mit dem Betreuungsgeld Politik machen wollen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, Fakt ist: Das geplante Betreuungsgeld ist wirklich nichts anderes als der
verzweifelte Versuch der CSU, die Kosten für ein bayerisches Wahlversprechen dem Bund aufs Auge zu drücken.
({7})
Ihnen lassen wir das nicht durchgehen.
({8})
Das ist die Wahrheit, der Sie sich, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, stellen müssen und
die nun endlich auch dem kleinen Koalitionspartner, zumindest dem Vizekanzler, zu dämmern scheint.
Meine Damen und Herren von der Koalition, jenseits
der Finanzierungsfrage ist noch etwas ganz anderes
wichtig: Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger und die große Mehrheit der Familien in unserem
Land verstehen nicht, warum Sie so vehement dieses Betreuungsgeld durchdrücken wollen. Erst recht durchschaut wirklich niemand mehr die Vorschläge, die wie
Tennisbälle aus einer Ballmaschine auf uns niederprasseln. Mal soll das Betreuungsgeld an alle ausgezahlt
werden, dann wieder nur an bestimmte Gruppen, aber
nicht an Empfängerinnen und Empfänger von Transferleistungen. Dann kommt ein neuer Vorschlag: Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II sollen
vielleicht doch das Betreuungsgeld bekommen, aber natürlich nicht bar, sondern quasi als Gutschein. Mal fordern Sie, das Betreuungsgeld an die Wahrnehmung von
Vorsorgeuntersuchungen zu knüpfen, dann wieder nicht.
Ein anderes Mal verknüpfen Sie es mit der Praxisgebühr.
Ich fürchte, Schwarz-Gelb blickt hier selbst nicht mehr
durch.
Für meine Fraktion und für die Menschen wird diese
Diskussion von Tag zu Tag absurder. Wir bleiben bei unserer klaren Haltung: Das Betreuungsgeld ist und bleibt
Unsinn, egal wie es ausgestaltet wird. Es schadet dem
Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Es
konterkariert Bildungs-, Gleichstellungs- und Sozialpolitik.
({9})
Es widerspricht einer modernen Familienpolitik, wie
übrigens auch vier ehemalige Familienministerinnen,
darunter auch zwei aus den Reihen der Union, öffentlich
deutlich gesagt haben. Vielleicht denken Sie einmal darüber nach.
Wir appellieren erneut an Sie, insbesondere an Sie,
Herr Rösler, den Vizekanzler: Stehen Sie als FDP zu Ihrem Wort! Stehen Sie als FDP-Vorsitzender zu Ihrem
Wort! Lassen Sie die Finger von diesem Vorhaben! Es
wird uns gesellschaftspolitisch um Jahre zurückwerfen.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollegin Caren Marks. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Florian
Toncar. Bitte, Kollege Toncar.
({0})
Danke schön, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe Verständnis dafür, dass wir heute
eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema haben, auch
wenn es eigentlich in fast jeder Woche der letzten Monate dazu eine Debatte gegeben hat; aber es ist ja auch
ein kontroverses Thema. Neue Argumente hat die heutige Debatte nicht hervorgebracht; das muss man auch
sagen. Frau Kollegin Marks, ich glaube, dass Sie nicht
verstanden haben oder nicht verstehen wollten, dass es
nicht darum geht, dass sich irgendjemand in der Koalition um die Verantwortung für das Betreuungsgeld drücken möchte. Vielmehr verantworten alle, die darüber zu
beschließen haben, das, was letztlich beschlossen wird.
Das war und ist so.
({0})
Aber worum es natürlich schon geht, ist die Frage Ihrer
eigenen Glaubwürdigkeit, und das hat der Kollege
Meinhardt thematisiert. Ich halte es für nicht besonders
glaubwürdig, dass diejenigen, die schon einmal eine
Barleistung akzeptiert hatten - das Wort „Zahlung“ steht
in Ihrem Konzept von 2008 -,
({1})
nun die Allerersten sind, die solche Aktuellen Stunden
beantragen. Darum geht es und nicht um die Frage der
Verantwortung der Regierungskoalition.
({2})
Der Bundeswirtschaftsminister Dr. Rösler hat am vergangenen Sonntag nochmals auf zwei Sachargumente
hingewiesen, die es zu berücksichtigen gilt. Es geht um
die Frage, wie man das Betreuungsgeld so ausgestalten
kann, dass es bildungspolitisch die richtigen Folgen zeitigt, dass es eine Bildungskomponente gibt, und um die
Frage, wie wir es in Zeiten abkühlender Konjunktur mit
dem Ziel der Haushaltskonsolidierung vereinbaren können.
({3})
Das sind berechtigte Argumente. Sie sind im Übrigen
nicht zum ersten Mal geäußert worden. Sie wurden von
meiner Fraktion hier immer wieder vorgetragen. Das ist
nichts Neues; aber es bleibt natürlich richtig, dies auch
so zu sagen.
({4})
Über diese Fragen wird jetzt gesprochen. Es wird in
den nächsten Wochen darüber Gespräche geben,
({5})
und wenn es etwas gibt, was entscheidungsfähig ist,
({6})
dann wird es hier im Deutschen Bundestag vorgelegt.
Die FDP ist vertragstreu; aber Gründlichkeit geht uns
vor Schnelligkeit. Es kann keine Rede davon sein, dass
hier etwas durchgedrückt wird, wie Sie gesagt haben,
Frau Kollegin. Ganz im Gegenteil: Es wird gründlich
diskutiert, und der Vizekanzler hat dazu berechtigte Anmerkungen gemacht.
({7})
Sie haben aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dass
diese Koalition in dieser Wahlperiode viele echte Verbesserungen für Familien bereits beschlossen hat, und
das übrigens in einer sehr angespannten finanziellen Situation. Ich will darauf noch einmal hinweisen, weil ich
glaube, dass die Debatte einen falschen Eindruck erweckt, wenn hier immer nur über ein Thema diskutiert
wird und viele Verbesserungen für Familien und im Bildungsbereich in den letzten Jahren völlig ignoriert werden. Die Familien sind von dieser Koalition steuerlich
entlastet worden; das Kindergeld ist erhöht worden. Wir
haben beschlossen, in vier Jahren 12 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und Forschung auszugeben. Das ist
etwas, wovon Familien sehr profitieren, gerade auch im
Bereich der frühkindlichen Bildung.
Wir haben beispielsweise 300 Millionen Euro dafür
zur Verfügung gestellt, dass es in den Kindertagesstätten
eine qualifizierte Sprachförderung durch zusätzliches
Personal gibt, damit unter drei Jahre alte Kinder, die
nicht ausreichend Deutsch können, dort Deutsch lernen.
Dies kostet übrigens die Kommunen keinen einzigen
Euro; das zahlt alles der Bund. Das heißt, wir haben
nicht nur in die Quantität, also in Betreuungsplätze, sondern auch in die Qualität der Betreuung, in die Bildung
in den Kindertageseinrichtungen investiert. Die Angebote vor Ort werden hervorragend angenommen, und
das zeigt auch, dass man im Bereich der frühkindlichen
Bildung wirklich etwas getan hat.
({8})
Wir haben in diesem Jahr beschlossen, dass der Bund
nochmals 580 Millionen Euro für zusätzliche Plätze bei
der Kinderbetreuung ausgibt. Früher haben alle drei
staatlichen Ebenen ihren Anteil geleistet und sich beteiligt, also auch Länder und Kommunen. Jetzt füllt der
Bund die Lücke und stellt die zusätzlichen Mittel allein
bereit.
({9})
Ich würde von Ihnen gern einmal wissen, was Sie dazu
sagen, dass die Länder nicht eine ähnliche Verpflichtung
wie der Bund übernommen haben. Wenn die Länder dies
getan hätten, wären wir weiter, was die Zahl der Betreuungsplätze angeht. Dann hätten wir mehr Geld zur Verfügung, um die frühkindliche Bildung zu verbessern. Da
sind Sie wiederum aus der Debatte ausgestiegen. Ihre
Länder haben da nichts gemacht, und auch darauf muss
man an dieser Stelle einmal hinweisen.
Wir haben dafür gesorgt, dass der Bund über das hinaus, was bereits den Kommunen zugesagt wurde, Verpflichtungen bei den Betriebskosten der Kitas übernimmt,
weil es eben nicht reicht, nur Gebäude herzustellen und
auszustatten und Plätze zu schaffen. Schließlich haben
die Kommunen Folgekosten zu tragen. Auch da engagieren wir uns stärker, als es ursprünglich im Jahr 2007 zugesagt worden war.
Diese Koalition kümmert sich also um frühkindliche
Bildung. Sie nimmt dafür auch eine ganze Menge Geld
in die Hand. Auch das soll heute erwähnt werden.
({10})
Ganz allgemein will ich darauf hinweisen, dass wir
auch in Zeiten der Schuldenbremse die Kommunen in
Deutschland um über 4 Milliarden Euro jährlich entlasten, weil wir wissen, dass sie gerade wegen dieser Mammutaufgabe, dieser riesigen Aufgabe des Kinderbetreuungsausbaus, mit den herkömmlichen finanziellen
Mitteln alleine nicht klargekommen wären. Wir werden
- aufwachsend in den nächsten Jahren - über 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen und so den Kommunen
zusätzlichen Spielraum verschaffen. Sie wissen genauso
gut wie wir, dass Kommunen besonders stark in Bildung
investieren, dass also eine Entlastung der Kommunen
immer direkte Folgen für die Qualität der Bildungsarbeit
vor Ort hat. Wir tun etwas für die frühkindliche Bildung.
Alle anderslautenden Behauptungen gehen an den Tatsachen vorbei. Wir werden uns deswegen in dieser Frage
über Lösungen verständigen, aber ansonsten unseren
Kurs weiterverfolgen.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Toncar. - Nächster Redner für
die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Rolf Schwanitz. Bitte schön, Kollege Rolf Schwanitz.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Geis, nach Ihrem ergreifenden Bekenntnis, dass wir
alle dafür sind, dass möglichst viele Kinder im Alter von
unter drei Jahren in die Kindertagesstätten gehen,
({0})
will ich auf den Zusammenhang zwischen Kitaausbau
und Betreuungsgeld hinweisen. Ich will dazu einfach aus
dem Gesetzentwurf zitieren, den die Regierung im Kabinett beschlossen hat. Da heißt es nämlich zum Betreuungsgeld:
Es schließt die verbliebene Lücke im Angebot
staatlicher Förder- und Betreuungsangebote für
Kinder bis zum dritten Lebensjahr.
Das Betreuungsgeld soll den Bedarf im Kitabereich verringern. Darum geht es, meine Damen und Herren; das
ist der Zusammenhang.
({1})
Sie wissen das und schreiben das sogar in den Gesetzentwurf. Das geht schon knapp an Heuchelei vorbei.
Ich will etwas zur Finanzierung dieses Rückschrittsprojekts sagen, weil sie mich als Haushälter natürlich ganz
besonders berührt. Das Betreuungsgeld ist im Haushaltsentwurf 2013 mit 300 Millionen Euro etatisiert, im Familienetat als gesetzliche Leistung ausgewiesen. Ich
habe die Ministerin bei den Berichterstattergesprächen
gefragt: Wie sieht denn die Gegenfinanzierung aus? Die
Ministerin hat in der ihr eigenen schmallippigen Art gesagt: Herr Schwanitz, Sie sehen doch, dass dies nicht mit
Mitteln aus meinem Etat gegenfinanziert wird. - Das ist
richtig. Aber richtig ist auch, dass es 2013 über die Nettokreditaufnahme finanziert wird. Ich halte also zunächst
einmal für das Jahr 2013 fest: Das, was Sie als 300-Millionen-Euro-Block für das Betreuungsgeld in den Haushalt eingestellt haben, muss auf Pump, über neue Schulden, finanziert werden. Sie finanzieren das zulasten der
künftigen Generationen, die das mit Zinsen und Zinseszinsen zurückzuzahlen haben, meine Damen und Herren.
({2})
Das dicke Ende kommt erst noch; denn bei voller
Haushaltswirkung im Jahr 2014 sind es 1,1 Milliarden
Euro. 2015 wären es - wenn der Wähler Sie im nächsten
Jahr gewähren ließe - 1,2 Milliarden Euro, die hier
finanziert werden müssten, und das alles unter den Vorgaben der Schuldenbremse. Es geht also nicht, dass Sie
hier den Notausgang für Helden nutzen, nach dem
Motto: Wir machen mal neue Schulden. - Dieser Betrag
von 1,2 Milliarden Euro muss durch Kürzungen in gleicher Größenordnung direkt gegenfinanziert werden; darum geht es.
Nun habe ich aufmerksam gehört, was Sie, Herr FDPGeneralsekretär Döring, gestern Morgen im Deutschlandfunk gesagt haben. Sie haben auf die Frage, wo die
1,2 Milliarden Euro eigentlich eingespart werden sollen,
gesagt: Dort, wo es eingeführt wird, also im Familienetat.
({3})
Er hat gleich zwei Tipps hinterhergeschoben und gesagt:
Da gibt es ja die familienpolitischen Leistungen und die
kinderpolitischen Leistungen.
Die inhaltliche, politische Seite - es ist rückschrittliche Politik, ein Rückfall in das 19. Jahrhundert - ist das
eine. Das andere ist, dass es faktisch einen Kahlschlag
bei den familienpolitischen Leistungen geben muss, damit diese Vergangenheitspolitik finanziert werden kann.
({4})
Ich will einmal die Dimensionen ins Verhältnis setzen.
Die Zuschüsse für Gleichstellungspolitik, Familien und
Ältere, die aus dem Familienetat von Frau Schröder aufgebracht werden, haben ein Volumen von 37 Millionen
Euro. Das sind schlappe 3 Prozent dessen, was Sie für
das Betreuungsgeld aufbringen und an anderer Stelle
kürzen müssten.
({5})
Wo wollen Sie denn da eigentlich kürzen? Das würde
mich einmal interessieren, Herr Döring. Der Kinder- und
Jugendplan, das zentrale Förderinstrument im Familienetat für die Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland,
hat ein Volumen von knapp 150 Millionen Euro. Das
sind 12 Prozent dessen, was Sie für das Betreuungsgeld
kürzen müssten. Was wollen Sie denn eigentlich kürzen,
Herr Döring? Das würde mich schon einmal interessieren.
({6})
Nein, dieser Irrsinn, meine Damen und Herren, muss
gestoppt werden. Hier wird faktisch - ich bin fest davon
überzeugt, dass das in den Hinterzimmern der Koalition
schon längst diskutiert wird - der Kahlschlag einer zeitgemäßen Familienpolitik erwogen und vorbereitet, nur
damit die CSU ihren Fetisch bekommt. Das ist die Situation.
({7})
Die eigentliche Schuld liegt nicht bei Frau Schröder
- mit Verlaub, von Frau Schröder erwarte ich an dieser
Stelle nichts mehr -,
({8})
sondern bei der Bundeskanzlerin. In dieser Bundesregierung wird nicht geführt. In dieser wunderbaren schwarzgelben Koalition kann sich jeder austoben, wie er will:
vom kleinen liberalen Hanswurst bis zum Politiker aus
bajuwarischen Ländern mit verstaubten Vorstellungen
von vorgestern.
({9})
Man wolle Nachteile vom deutschen Volk abwenden, hat
Frau Merkel gesagt. Dieses Schauspiel muss nächstes
Jahr beendet werden.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Daniela
Ludwig. Bitte schön, Kollegin Daniela Ludwig.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Frau Marks, zu Ihrer Rede möchte ich eigentlich gar nichts sagen, außer vielleicht zu Ihrer allerersten
Äußerung.
({0})
- Ja, das sehen Ihre Kollegen selber so, dass man Sie
besser nicht kommentieren sollte.
({1})
Wenn Ihnen gar nichts mehr einfällt - Ihre Taktik kennen wir aus den letzten Aktuellen Stunden -, dann müssen Sie offenbar gegenüber jemandem aus meiner Kollegenschaft - in diesem Fall gegenüber Herrn Geis persönlich und diffamierend werden. Das möchte ich an
dieser Stelle in aller Deutlichkeit zurückweisen.
({2})
Man muss andere Meinungen aushalten können, ohne
gleich unter die Gürtellinie zu schlagen. Vielleicht nehmen Sie sich das beim nächsten Mal mehr zu Herzen.
({3})
Lieber Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bildungspolitische Katastrophe,
({4})
wenn Eltern ihre Kinder im Alter von ein oder zwei Jahren selbst betreuen wollen.
({5})
- Hätten Sie diesen Unsinn nicht gesagt, dann bräuchte
ich ihn nicht zu zitieren.
({6})
Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bildungspolitische
Katastrophe,
({7})
wenn Eltern eine andere Betreuung als eine staatliche
Krippe für ihre ein- und zweijährigen Kinder in Anspruch nehmen wollten.
({8})
Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bildungspolitische
Katastrophe,
({9})
wenn Eltern frei und individuell entscheiden, was sie mit
ihren Kleinst- und Kleinkindern im Hinblick auf die Betreuung machen wollen.
({10})
Das ist peinlich. Schämen Sie sich!
({11})
- Ich fürchte, Sie verstehen es nicht.
({12})
Ich gestehe Ihnen aber eines zu: Zumindest haben Sie
seit der letzten Aktuellen Stunde zum Betreuungsgeld, in
der Sie gesprochen haben, den Unterschied zwischen
Krippe und Kindergarten gelernt. Das muss man bei Ihnen schon als Fortschritt bezeichnen.
({13})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was ist eigentlich so schwierig daran, zu akzeptieren, dass Eltern,
wenn sie ein sehr kleines Kind haben, frei darüber entscheiden wollen, ob und in welche Betreuung sie ihr
Kind geben wollen? Was ist eigentlich so schwierig daran, anzuerkennen, dass es neben einer massiven, guten
und richtigen Förderung von Kinderkrippen von staatlicher Seite andere Möglichkeiten einer Kleinst- und
Kleinkindbetreuung geben kann und dass diese mit einem ohnehin ausgesprochen geringen Betrag von
100 bzw. 150 Euro ein Stück weit unterstützt werden
sollen? Was spricht eigentlich dagegen?
({14})
Worauf gründet sich eigentlich Ihr ständig vorgetragenes
Misstrauen gegenüber Eltern? Sie behaupten: Wenn jemand nicht genug Einkommen hat, nicht mindestens
Abitur oder die deutsche Staatsbürgerschaft vorweisen
kann, dann kann er darüber nicht verantwortungsbewusst entscheiden. Das verstehe ich nicht.
({15})
Ich habe es heute leider wieder nicht verstanden. Noch
einmal: Wir vertrauen Eltern, wir misstrauen ihnen
nicht.
({16})
Deswegen können wir mit ausgesprochen gutem Gewissen hinter dem Konzept des Betreuungsgeldes stehen.
Die FDP will noch eine Bildungskomponente einbauen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Da es um ein- oder
zweijährige Kinder geht, bin ich gespannt, was Sie vorschlagen wollen, aber ich bin offen für alles.
({17})
Wir können aber nicht darüber reden, dass es die
Mehrheit der linken Seite dieses Hauses als schlecht ansieht, wenn Kinder im Alter von einem Jahr zu Hause
bleiben und erst in den Kindergarten gehen, wenn sie
drei Jahre alt sind. In Bayern haben wir eine 99-prozentige Abdeckung mit Kindergartenplätzen. Ich glaube,
den bayerischen Kindern geht es gut. Wer möchte, dass
sein Kind in eine Krippe geht, findet in Bayern in quantitativer und qualitativer Hinsicht die besten Voraussetzungen. Unser Haushalt ist so gesund, dass wir uns einen
ordentlichen Krippenausbau locker leisten können.
({18})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Marianne Schieder. Bitte schön,
Frau Kollegin Marianne Schieder.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte das große Glück, auf einem Oberpfälzer
Bauernhof groß werden zu dürfen, zusammen mit Geschwistern und in einer ganz typischen bäuerlichen
Großfamilie, vor allen Dingen aber mit einer GroßmutMarianne Schieder ({0})
ter, die für nahezu alle Lebenssituationen die richtige Lebensweisheit parat hatte. Kurz, knapp, prägnant und sehr
bildhaft wurde die Sache auf den Punkt gebracht. Eine
dieser Lebensweisheiten passt so gut zu dieser wirklich
unsäglichen Diskussion über das Betreuungsgeld, dass
ich sie Ihnen nicht vorenthalten möchte. Immer dann,
wenn wir Kinder unsere Aufgaben so gar nicht auf die
Reihe gebracht haben und wenn das Ergebnis alles andere als zufriedenstellend war, sagte unsere Oma - sie
sagte es natürlich auf Oberpfälzisch -: Du bist wia da
söll Schneinda, der hot gsagt, des gibt se scho mi’m
Biegln’, wäi a kennt hot, dass a an seina Hosn des
Hosndial hint und niat vorn eingnaht hot.
({1})
Da ich natürlich wusste, dass ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen unsere wunderbare Sprache nicht
kann, habe ich auch die Übersetzung dabei. Also, meine
Oma hätte auf Hochdeutsch gesagt: Du bist wie jener
Schneidermeister, der bei näherer Betrachtung der von
ihm genähten Hose leider feststellen musste, dass er den
Reißverschluss, der zum Öffnen derselbigen Hose gebraucht wird, am Hinterteil angebracht hatte und eben
nicht vorn. Der sagte dann: Ja, das wird sich schon geben beim Bügeln.
({2})
Ich glaube, ich brauche nicht zu erklären, dass diesem
guten Schneidermeister das Bügeln nicht helfen wird. So
ist es auch mit den Vorstellungen der Bundesregierung
zum Betreuungsgeld: Man kann die Sache drehen und
wenden, wie man will - das ganze Ding ist von Grund
auf eine Fehlkonstruktion.
({3})
Es ist rückwärtsgewandt und absolut nicht geeignet, seinen Zweck zu erfüllen. Ganz bestimmt ist es absolut ungeeignet, um jungen Menschen die zu Recht eingeforderte Unterstützung bei ihrer Erziehungsleistung
zukommen zu lassen.
Nun werden Sie nicht müde, zu betonen - Frau Raab
hat es gerade wieder gesagt -, das Betreuungsgeld müsse
kommen, weil die Leistung der Eltern, die ihre Kinder zu
Hause erziehen, honoriert werden müsse. Ja, was meinen
Sie denn, was Eltern tun, deren Kinder vier oder acht
Stunden in der Krippe sind? Der Tag hat 24 Stunden und
nicht 8 Stunden! Diese Eltern erziehen ihre Kinder genauso zu Hause.
({4})
Übrigens, lesen Sie doch einmal Ihren Gesetzentwurf.
Da ist von der Betreuung durch die Eltern keine Rede.
({5})
Da geht es einzig und allein darum: Wird eine Kita aufgesucht oder nicht? Dort heißt es wörtlich: Anspruch auf
Betreuungsgeld hat, wer „für das Kind keine dauerhafte
durch öffentliche Sach- und Personalkostenzuschüsse
geförderte Kinderbetreuung, insbesondere keine Betreuung in Tageseinrichtungen“ in Anspruch nimmt.
({6})
Ferner heißt es in der Begründung: Für den Bezug
von Betreuungsgeld ist es nicht relevant, „in welchem
Umfang die Eltern erwerbstätig sind“, und es ist nicht
nötig, dass die Eltern für die Betreuung ihre Berufstätigkeit reduzieren.
({7})
Das heißt de facto: Wie und wo das Kind betreut wird,
ist egal. Für den Bezug ist einzig und allein wichtig, dass
das Kind nicht in einer Kita betreut wird.
({8})
Kolleginnen und Kollegen, das kann doch nicht Ihr Ernst
sein. Das kann doch nicht Ihre Vorstellung von möglichst guter frühkindlicher Bildung sein.
Alle Welt erkennt inzwischen die enorme Bedeutung
der frühkindlichen Bildung. Überall wird heftig darüber
diskutiert, wie man das Wissen über die frühkindliche
Bildung besser in die Köpfe der Eltern bringen kann.
Überall wird darüber diskutiert, wie man die Ausbildung
der Erzieherinnen und Erzieher noch besser gestalten
kann. Die Kommunen investieren landauf, landab in
gute Kitas, weil sie deren Bedeutung für die Entwicklung der Kinder kennen. Dennoch kommen Sie daher
und wollen einen Gesetzentwurf durchdrücken, in dem
steht: Liebe Eltern, wichtig ist, dass Sie keine Kita in
Anspruch nehmen. Dann sparen Sie nicht nur Geld, sondern bekommen von uns auch noch Geld bar auf die
Hand. - Das hat mit Familien- und Kinderfreundlichkeit
nichts zu tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, seien
Sie zumindest ehrlich: In Wahrheit hoffen Sie doch, dass
Sie sich mit dem Betreuungsgeld darüber hinwegretten
können, dass am 1. August 2013 in Bayern bei weitem
nicht genügend Kitaplätze vorhanden sein werden, um
den Rechtsanspruch zu erfüllen.
({9})
Sie alle kennen die Zahlen zum Stand des Aufbaus der
U-3-Betreuung: Mecklenburg-Vorpommern 52 Prozent,
Bayern 21 Prozent.
({10})
Ich komme zurück auf meine Großmutter, Herr Kollege, und appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP: Versuchen Sie, sich nicht
länger einzureden, dass dieser Murks von Gesetzentwurf
noch zu retten ist. Schmeißen Sie das Ding weg! Denn es
wird nichts mehr.
({11})
- Ja. - Der FDP möchte ich einen Spruch eines berühmten bayerischen Volksschauspielers mit auf den Weg geben, einen Spruch von Karl Valentin.
({12})
Er hat einmal gesagt: „Mögen hätt ich schon wollen,
aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“
({13})
Trauen Sie sich, zu dürfen, und versenken Sie mit uns
diesen Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({14})
Frau Kollegin Marianne Schieder, ich hätte Ihnen
gern noch einen Zeitzuschlag für die Übersetzung gegeben; aber Sie haben dies nicht benötigt.
({0})
Nächster und letzter Redner in dieser Aktuellen
Stunde ist Kollege Dr. Peter Tauber für die Fraktion der
CDU/CSU.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich
kann man über die Frage, ob man neben den jeweils mit
knapp 1 000 Euro von der Solidargemeinschaft finanzierten Krippen- und Kitaplätzen einen Ausgleich für die
Eltern, die dieses Angebot nicht in Anspruch nehmen
wollen, schaffen will, ganz rational und ruhig diskutieren. Rein theoretisch kann man nach einer sehr ruhigen
und besonnenen Überlegung oder Debatte zu dem Ergebnis kommen: Na ja, vielleicht wollen wir das Geld an
dieser Stelle nicht investieren. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich diese Diskussion mit mir selbst und mit
Freunden und Kollegen immer wieder geführt habe und
führe. Ich sage Ihnen aber auch ganz ehrlich: Ich brauche nur eine einzige Debatte mit Ihnen in diesem Haus,
und ich weiß, dass ich dafür stimmen werde.
({0})
Dies mache ich aus einem einfachen Grund; man
kann es in zwei Sätzen zusammenfassen. Herr Präsident,
ich zitiere aus dem Kurznachrichtendienst Twitter. Dort
hat jemand die Debatte und Ihre Wortbeiträge mit einem
schönen Satz in 140 Zeichen zusammengefasst: „Ah!
SPD, Grüne und Linke heute wieder so: ‚Eltern schaden
ihren Kindern.‘“ Das ist die Quintessenz Ihrer Aussagen.
({1})
Sie wollen eben nicht das, was wir wollen. Wir wollen,
dass beides gleichberechtigt akzeptiert und wertgeschätzt wird. Wir wollen auch, dass es gute, qualifizierte
Betreuung für unter Dreijährige gibt.
Ein kleiner Hinweis an die Kollegen von den Grünen:
Ich hätte mich hier lieber mit Frau Dörner gestritten.
Auch sie ist eine sehr große Gegnerin des Betreuungsgeldes; aber sie kennt sich zumindest in der Sache, in der
Materie aus, nicht wie Frau Künast, die über Vierjährige
und über Bildung schwadroniert.
({2})
Über Vierjährige reden wir nicht. Wir sprechen über
Kinder, die jünger als 36 Monate sind. Sie erwecken den
Eindruck, dass wir über Bildungspolitik reden und dass
es darum gehe, 15 Monate alten Kindern frühkindliches
Englisch beizubringen. Das ist sehr weit weg von der
Lebenswirklichkeit. Es ist fast unerträglich, was Sie hier
von sich geben. Für wie dumm halten Sie die Menschen?
({3})
Natürlich geht es auch um Bildung, aber um eine andere Art von Bildung. Es geht um Zuwendung, Liebe
und Betreuung,
({4})
und zwar sowohl in der Krippe als auch zu Hause. Sie
unterstellen permanent, dass es eine große Zahl von Eltern in diesem Land gibt, die das nicht leisten.
({5})
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das ist der erste
Punkt.
({6})
Lesen Sie einmal in den Protokollen Ihre Reden dazu in
den letzten Debatten nach. Dann werden Sie das feststellen.
Man kann zu dem Ergebnis kommen: Ja, wir wollen
einen solchen Ausgleich, ein solches Angebot für die Eltern schaffen, die ihr 15 Monate altes Kind noch nicht in
eine Krippe geben wollen, die es vielleicht erst mit drei
Jahren in den Kindergarten geben wollen. Das ist der
Gegenstand dieser Aktuellen Stunde. Die spannende
Frage ist: Auf welche Art und Weise wird das organisiert, was ist die Grundlage, wie sieht das genaue Modell
aus?
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es ist gar nicht schlimm,
dass wir mit den Kollegen der FDP über den richtigen
Weg streiten. Das hat einen einfachen Grund: Nicht die
Kollegen der FDP haben das erfunden, Sie haben das mit
uns erfunden.
({7})
- Sie können dazwischenrufen und das abstreiten, so viel
Sie wollen, Frau Marks. Ich bin Ihre Zwischenrufe gewöhnt.
Im Bundesgesetzblatt, Jahrgang 2008, Teil I, Nr. 57,
ausgegeben zu Bonn am 15. Dezember 2008, steht
- Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich -:
Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder
von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche
Zahlung ({8}) eingeführt
werden.
({9})
Dieses Gesetz hat die Große Koalition beschlossen, Sie
haben das mit beschlossen. Unter dem Gesetz steht
- vielleicht ist das der Grund, warum er in der Debatte
heute nicht da ist - zum Beispiel der Name Peer
Steinbrück.
Bis zum Beschluss des Gesetzes in diesem Hohen
Hause, aber auch darüber hinaus werden Sie in zwei
Punkten Ihre Ansichten ändern müssen:
Erstens. Das Misstrauen, das Sie Eltern entgegenbringen, die sich dafür entscheiden, keinen Krippenplatz in
Anspruch zu nehmen, müssen Sie ablegen. Dieses Misstrauen ist eine Unverschämtheit.
({10})
Zweitens. Sie müssen anerkennen - wir tun das; das
ist der große Unterschied zwischen Ihnen und uns; deswegen sind wir in der Debatte sehr viel sachlicher und
ruhiger als Sie -, dass manche Eltern, auch wenn es gute
Betreuungseinrichtungen gibt,
({11})
diese Einrichtungen erst später in Anspruch nehmen
wollen. Ich finde, diese Eltern müssen Wahlfreiheit haben, und wir müssen ihnen die Wahl erleichtern.
({12})
In Wahrheit ist es doch so: Weil es Ihrem Gesellschaftsmodell entspricht, wollen Sie alle Kinder in die
Krippe zwingen. Von der Lufthoheit über den Kinderbetten träumen die Sozis schon immer. Die wollen Sie jetzt
erringen. Da machen wir nicht mit.
Herzlichen Dank.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege
Dr. Peter Tauber war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr
2013 ({1})
- Drucksachen 17/10743, 17/11059 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3})
- Drucksache 17/11175 Berichterstattung:Abgeordneter Matthias W. Birkwald
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11177 Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer ({5})Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({6})
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Schaffung eines DemographieFonds in der gesetzlichen Rentenversicherung
zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung ({7})
- Drucksache 17/10775 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({8})
- Drucksache 17/11175 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Matthias W. Birkwald
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({9})
Vizepräsident Eduard Oswald
- zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rentenbeiträge nicht absenken - Spielräume
für Leistungsverbesserungen nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin
Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Erwerbsminderungsrente verbessern, RehaBudget angemessen ausgestalten
- Drucksachen 17/10779, 17/11010, 17/11175 Berichterstattung:Abgeordneter Matthias W. Birkwald
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner in unserer Aussprache ist der Kollege
Peter Weiß für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön,
Kollege Peter Weiß.
({10})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im deutschen Rentenrecht steht eine eindeutige und
klare Formulierung - ich zitiere -:
Der Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversicherung ist vom 1. Januar eines Jahres an zu verändern, wenn am 31. Dezember dieses Jahres bei Beibehaltung des bisherigen Beitragssatzes die Mittel
der Nachhaltigkeitsrücklage … das 1,5fache der …
Ausgaben für einen Kalendermonat … voraussichtlich übersteigen.
Nach Feststellung des unabhängigen Schätzerkreises für
die Rentenversicherung, der Mitte dieses Monats getagt
hat, bedeutet diese gesetzliche Bestimmung, dass der
Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung
zum 1. Januar 2013 auf 18,9 Prozent gesenkt werden
muss.
Das Gesetz ist eindeutig
({0})
und lässt keine andere Entscheidung zu.
({1})
Die Bundesregierung und das Parlament sind gehalten,
die Gesetze zu achten. Deswegen entspricht das, was wir
heute beschließen, schlichtweg dem, was im Gesetz
steht. Es ist auch richtig, dass Regierung und Deutscher
Bundestag das tun, was ihnen gesetzlich vorgegeben ist.
({2})
Weil in dieser Debatte vonseiten der Opposition anderes vorgetragen wird, noch der freundliche Hinweis:
Diese Gesetzesformulierung ist im Jahr 2001 so von der
damaligen rot-grünen Koalition hier im Deutschen Bundestag beschlossen worden. Deswegen ist es umso verwunderlicher, dass die damaligen Regierungsparteien
diese Gesetzesbestimmung offensichtlich nicht mehr
kennen oder kennen wollen.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist ein erfreulicher Tag, da wir über die Möglichkeit einer Beitragssenkung sprechen können. Der Unterschied zur Zeit von
Rot-Grün ist, dass die Rentenkasse damals ins Minus
fiel. Erstmals musste der Bundesfinanzminister der Rentenkasse mit einem staatlichen Zuschuss aushelfen, damit Renten ausbezahlt werden konnten.
({4})
Heute haben wir eine Rücklage in der Rentenkasse; wir
haben ein Plus in der Rentenkasse. Insofern ist es eine
gute Nachricht für die Rentnerinnen und Rentner in
Deutschland, dass die Rente nicht auf Pump ausgezahlt
werden muss, sondern aus einer prall gefüllten Rentenkasse ausgezahlt werden kann. Das ist eine tolle Leistung.
({5})
Nun ist es sehr verwunderlich, dass der Vorschlag gemacht wird, wir sollten diese Absenkung gar nicht vornehmen. Das hat zwei unterschiedliche Folgen. Die erste
Folge ist: Eine Beitragssenkung führt automatisch dazu
- so die Rentenformel, die Rot-Grün ebenfalls beschlossen hat -, dass die Rentenerhöhung der Rentnerinnen
und Rentner zum 1. Juli höher ausfällt. In diesem Jahr
hat dies ungefähr 0,4 Prozentpunkte zusätzliche Rentenerhöhung ausgemacht, im nächsten Jahr würde es voraussichtlich 0,9 Prozentpunkte zusätzliche Rentenerhöhung ausmachen.
({6})
Wenn die Opposition heute beantragt, die Beitragsabsenkung nicht zu beschließen, dann soll ebendiese Opposition den deutschen Rentnerinnen und Rentnern bitte
auch erklären, warum sie ihnen eine Rentenerhöhung
vorenthalten will. Wir wollen ein Plus für die Rentnerinnen und Rentner.
({7})
Richtig ist, dass zu Zeiten, als Helmut Kohl und
Norbert Blüm noch die Verantwortung für die deutsche
Peter Weiß ({8})
Rentenversicherung als Regierungschef und Bundesarbeitsminister getragen haben, in der Rentenversicherung eine höhere Rücklage gebildet werden konnte. Ich
finde es schon ein wenig verwunderlich, dass bei den
Sozialdemokraten und den Grünen offensichtlich die
Meinung vorherrscht, Helmut Kohl und Norbert Blüm
seien Sozialdemokraten gewesen. Mitnichten!
({9})
Natürlich kann man auch dafür plädieren, zum alten
Recht zurückzukehren. Der Punkt ist nur der - das ist der
große Unterschied -: Die Rentenpläne, die von der Opposition vorgelegt werden, zeigen uns, dass es den Oppositionsfraktionen gar nicht darum geht, noch mehr
Rücklage in der Rente zu ermöglichen. Vielmehr wollen
sie Geld ausgeben.
({10})
Wenn ich die Rücklage aber verjubeln will, dann habe
ich für die Rentenversicherung nichts gewonnen, sondern werde sie auf alle Zeit mit höheren Belastungen
versehen
({11})
und künftig immer höhere Beiträge der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler erheben müssen.
({12})
Es gibt keinen ungeschickteren Augenblick als den
heutigen, mehr Rücklage in der Rentenversicherung zu
fordern. Warum? Die Rentenversicherung sollte ihr Geld
in unser aller Interesse und im Interesse der Rentnerinnen und Renten gut anlegen können. Bei den niedrigen
Zinssätzen, die die Rentenversicherung wegen der strengen Vorschriften,
({13})
die wir ihr machen, derzeit erzielt, liegt sie allerdings unterhalb der Inflationsrate. Insofern ist der heutige Zeitpunkt der ungeschickteste Zeitpunkt, einen solchen Antrag zu stellen.
({14})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es
gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen den Oppositionsfraktionen und den Regierungsfraktionen.
({15})
Für eine sichere Rente unserer Rentnerinnen und
Rentner und auch für Rentensteigerungen sorgt nur eine
solide, vor allem eine auf solider Finanzierung aufbauende Rentenpolitik. Was die Opposition vorlegt, ist
keine solide Rentenpolitik, sondern bedeutet zusätzliche
Ausgaben zulasten der nächsten Generationen. Weiterhin gilt: Eine sichere Rente ist ein Markenzeichen der
Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Dazu stehen wir. Das zeigt auch die heutige Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. - Nächster Redner
ist unser Kollege Anton Schaaf für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Peter Weiß, das war gerade wirklich abenteuerlich.
Heute Morgen stand hier die Koalition, diskutierte über
die Gesundheitspolitik und die Praxisgebühr
({0})
und sagte: Wir müssen das Geld im Bereich der Gesundheitspolitik zusammenhalten, und wir müssen sparsam
damit umgehen. Deswegen wollen wir die Praxisgebühr
nicht abschaffen, sondern wir wollen Rücklagen bilden,
damit wir die Leute auch in Zukunft sicher versorgen
können. - Das war das Argument heute Morgen.
Jetzt argumentieren Sie genau gegenteilig. Wir wollen
diese Rücklage behalten, damit die Rente sicher bleibt.
Sie sagen: Lasst uns die Nachhaltigkeitsrücklage wieder
auf 0,2 Monatsausgaben senken; das Geld gehört anderen. - Nein, wir wollen Sicherheit bezogen auf die Rentenkasse. Deswegen fordern wir, die Beiträge jetzt nicht
zu senken. Damit stehen wir übrigens nicht allein. Gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Sozialverbänden sagen wir: Lasst die Finger davon.
({1})
Ihre Argumentation lautet: Im Gesetz steht, dass der
Beitragssatz gesenkt werden muss. Ja, das steht im Gesetz. Aber wir sind der Gesetzgeber. Wir können Gesetze
verändern.
({2})
Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, über
den heute ebenfalls abgestimmt wird, den Sie aber ablehnen. Offensichtlich sind Sie nur noch Vollzugsbeamte
und nicht mehr Gesetzgeber in diesem Land, Herr Peter
Weiß. So habe ich zumindest Ihre Argumentation hier
verstanden.
({3})
Man muss sich einmal anhören, was Sie beim Thema
Rente noch vorhaben. Die Ministerin war beim Thema
„Rente“ in dieser Legislaturperiode ein Totalausfall; das
lässt sich ja nun konstatieren. Mit ihrer Zuschussrente ist
sie voll vor die Wand gefahren. Von ihren Plänen ist
nichts mehr übrig. Uns werfen Sie vor, immer mehr Geld
ausgeben zu wollen, weswegen wir die Rücklage behalten und die Beiträge nicht senken wollten. Diesen Vorwurf kann man von mir aus erheben.
({4})
Aber Sie selber verweisen beispielsweise darauf, dass
Sie in Bezug auf die Kindererziehungszeiten von Eltern,
deren Kinder vor 1992 geboren sind, etwas machen wollen. Das kostet übrigens viel Geld. Wenn ich mir ansehe,
was dabei herauskommt, dann muss ich sagen, dass Sie
die Menschen ganz gewaltig hinter die Fichte führen. Sie
wollen nämlich nicht allen, deren Kinder vor 1992 geboren worden sind, sondern nur denen, die neu in Rente gehen, einen halben und nicht etwa einen ganzen Entgeltpunkt gewähren. Diejenigen, die schon jetzt in Rente
sind, bekommen gar nichts. Mit solchen Regelungen
führen Sie die Menschen hinter die Fichte, meine Damen
und Herren von der Koalition. Eine Reform in dieser Art
und Weise geht nicht. Sie wollten sogar die Zuschussrente - verfassungswidrig - über Beiträge finanzieren;
sie wollten einen Griff in die Rentenkasse vornehmen.
Daneben philosophieren Sie jetzt über die Erwerbsminderungsrente. Ich sage Ihnen: Ja, da muss man etwas
machen. Sie wollen aber - das habe ich in der Zeitung
gelesen - erst ab dem Jahre 2030 1 Milliarde Euro zusätzlich für Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente einsetzen. Das, was Sie hier veranstalten wollen,
ist geradezu lächerlich. Lassen Sie es lieber sein. Ab
2013 werden wir einige Korrekturen vornehmen, auch
was die Rentenpolitik angeht.
Ich sage Ihnen auch: Wenn wir wollen, dass ein höheres Renteneintrittsalter für die allermeisten Menschen in
diesem Lande, die schwer und hart arbeiten, akzeptabel
wird, dann müssen wir die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen. Dafür muss man Geld in die Hand
nehmen. Die Erwerbsminderungsrente ist dabei ein zentraler Punkt. Die Abschläge müssen weg, und die Zurechnungszeit muss heraufgesetzt werden. Ansonsten
wird die Rente mit 67 von den Menschen, die in diesem
Lande hart arbeiten, nie akzeptiert. Man muss das also
schon im Zusammenhang sehen.
({5})
Dafür nehmen wir Geld in die Hand, wenn wir wieder
die Verantwortung in diesem Land bekommen haben.
Schauen Sie sich an, was die geplante Beitragssenkung für einen durchschnittlichen Arbeitnehmer bringt:
etwa das, was die berühmte Maß Bier kostet. Eine Maß
Bier mag in Bayern eine besondere Einheit sein. Für die
restliche Republik spielt es aber überhaupt keine Rolle,
ob man eine Maß Bier mehr oder weniger hat.
({6})
Die Menschen wollen Sicherheit und nicht 8 Euro mehr
in der Tasche. Das Ganze nützt ja letzten Endes übrigens
nur Gutverdienern und Durchschnittsverdienern. Wenn
man sich Niedrigverdiener anschaut, dann sieht man,
dass bei ihnen durch eine Rentenbeitragssenkung nur
2 bis 4 Euro übrig bleiben.
Schaut man sich unseren Gesetzentwurf an, dann
sieht man, dass es möglich ist, Gesetze zu ändern. Man
hat sich an den Begrifflichkeiten ein wenig gestört. Ich
kann das nachvollziehen, wenn von Begriffen wie Demografiereserve gesprochen wird. Wenn man diesen Gesetzentwurf zur Rentenpolitik isoliert betrachtet, ist es
sogar berechtigt, das so zu sehen. Aber wenn man ihn in
einem größeren Zusammenhang sieht, Stichwort „Einführung einer Erwerbstätigenversicherung“, dann erkennt man, dass aus Ihrem Vorwurf ein Schuh wird.
Mich selber stört diese Begrifflichkeit an dieser Stelle
persönlich nicht; aber ich kann nachvollziehen, dass sich
andere daran stören. Allerdings muss man das im Kontext sehen, und dann macht es wieder Sinn, darüber zu
diskutieren.
Wenn wir jetzt den Rentenbeitragssatz bei 19,6 Prozent belassen würden, dann wäre es so, dass wir bis Ende
des Jahrzehnts eine Ansparphase hätten und bis zum Jahr
2025 den Beitragssatz ohne Mehrausgaben nicht anheben müssten. Das wäre Ausdruck von Verlässlichkeit.
Auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wäre
das verlässlich. Aber diese Verlässlichkeit wollen Sie
nicht.
({7})
Ich sage Ihnen, was dabei herauskommen wird - das
ärgert mich dabei maßlos -, wenn der Rentenbeitragssatz
jetzt auf 18,9 Prozent gesenkt wird: Am Ende dieses Jahrzehnts wird der Beitragssatz sprunghaft ansteigen müssen. Ich hoffe, dass Sie dann nicht in der Verantwortung
sind. Aber wenn ja, dann müssten Sie auch rechtfertigen,
warum man so große Sprünge in der Rentenversicherung
zulässt. Ich finde solche großen Sprünge unzulässig.
Jemand muss mir einmal erklären: Was ergibt sich
dann im Zusammenhang mit der Schuldenbremse?
Wenn die Konjunktur schwächelt und die Einnahmen
der Rentenversicherung nachlassen und Sie keinen Kredit an die Rentenkasse wegen der Schuldenbremse auszahlen können, was ist dann? Dann muss man die Beiträge erhöhen. Davon werden Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer unmittelbar betroffen sein. Das ist das,
was dabei herauskommen wird.
Zu den Erziehungszeiten habe ich bereits etwas gesagt.
Sie wollen nun doch so etwas Ähnliches wie eine Zuschussrente einführen, sagen das aber nicht mehr. Das ist
auch nicht mehr durchsetzbar; dieses Thema ist durch.
Dabei wollen Sie Menschen, die lange gearbeitet haben,
über das jetzige Rentensystem mit einer Rente nach
Mindestentgeltpunkten helfen. Da bin ich sofort bei Ihnen, absolut und ohne jeden Zweifel.
Was ich aber auf keinen Fall mitmachen werde - das
sage ich den Menschen im Lande ganz laut -: Diese Koalition will mit dieser Lösung vor allen Dingen die VerAnton Schaaf
sicherungswirtschaft in Deutschland stärken. Sie sagen:
Voraussetzung dafür, dass wir das machen, ist die Beschäftigungszeit; aber einen Freibetrag gibt es nur bei
Riester-Rente oder einer betrieblichen Altersvorsorge,
also einer kapitalgedeckte Altersvorsorge. Ich sage Ihnen: Das ist eine massive Ungleichbehandlung gegenüber allen anderen Sparformen, übrigens auch gegenüber der Rentenversicherung. So kann man mit dem
Thema aus meiner Sicht nicht umgehen. Wir schlagen
etwas anderes vor, nämlich dass ausschließlich die Beschäftigungszeiten dazu berechtigen, eine auf 850 Euro
aufgestockte Rente in Anspruch zu nehmen.
({8})
Es war einmal ein Reisender in Österreich unterwegs,
der aus seiner Reise einen Reisebericht gemacht hat. Dabei war er auch im Stubaital gewesen. Die Menschen
dort hat er folgendermaßen beschrieben: ein kleines, listiges Bergvolk, das sich im Wesentlichen durch Jodeln
verständigt.
({9})
Klein sind Sie in der Rentenpolitik, weil Sie nichts
auf die Reihe bekommen haben. Listig sind Sie, wenn
Sie die Menschen mit Ihren Modellen hinter die Fichte
führen. Jodeln kann wohl der eine oder andere bei Ihnen,
aber eines ist völlig klar: Die Politik von Ihnen versteht
kein Mensch.
({10})
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Toni Schaaf, das war ja eine Reise quer durch den
Garten der Rentenpolitik mit anekdotischen Anwandlungen. Wenn man so redet, dann meidet man damit das
Kernthema der Debatte. Insofern will ich gerne auf das
zurückverweisen, worüber wir heute reden, nämlich darüber, dass es in Deutschland möglich ist, in krisenhaften
Zeiten eine kräftige Rentenbeitragssenkung vorzunehmen. Das ist alles andere als selbstverständlich; das ist
vielmehr der Erfolg der guten Politik dieser Bundesregierung. Das will ich hier zu Beginn meiner Rede sehr
deutlich feststellen.
({0})
Wenn wir es nämlich nicht geschafft hätten durch die
Nutzung eines ganzen Repertoires von Beschäftigungsformen einen zahlenmäßigen Höchststand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in Deutschland zu
erreichen - darüber haben wir hier öfters debattiert -,
dann hätten wir überhaupt nicht die Spielräume, um
heute diese Rentenbeitragssatzsenkung zu beschließen.
Wenn Sie so wollen, ist das ein Luxusproblem, um das
uns ganz Europa beneidet. Ich bin sicher, die SPD hätte
jede Woche ein Freudenfeuer angezündet, wenn sie annähernd solche Zahlen vorzuweisen gehabt hätte.
({1})
Der zweite Punkt. Die Nachhaltigkeitsrücklage ist ein
Liquiditätspuffer, der unterjährige Schwankungen, auch
kurzfristige konjunkturelle Schwankungen, ausgleichen
soll; sie ist nicht mehr und nicht weniger. Deswegen ist
es gut, das auch der Höhe nach zu bemessen. Ich will
diejenigen, die immer noch so ein bisschen den Juliusturm aus den frühen Adenauer-Zeiten im Hinterkopf haben, darauf hinweisen: In heutigen Werten war der Juliusturm nicht viel höher als die Nachhaltigkeitsrücklage,
die wir trotz Senkung des Rentenbeitragssatzes am Ende
des Jahres 2013 voraussichtlich haben werden, nämlich
knapp 30 Milliarden Euro. Das ist die Wahrheit, und das
muss man hier auch einmal sagen.
Sie sagen: Gesetze kann man ändern. Ich finde aber,
seine Überzeugungen sollte man nicht unbedingt ändern,
jedenfalls nicht ohne Not. Deswegen muss man noch
einmal darauf hinweisen: Es gab Zeiten, in denen die
SPD in diesem Haus über die Notwendigkeit gesprochen
hat, die Lohnnebenkosten zu begrenzen. Als im Jahr
2001 die Automatik eingeführt wurde, dass die Beiträge
gesenkt werden, wenn die Nachhaltigkeitsrücklage ein
bestimmtes Maß überschreitet, hieß es damals von RotGrün, konkret von Arbeitsminister Walter Riester: Die
Stabilisierung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung wendet den Anstieg der Lohnnebenkosten ab. Dies hat eine stabilisierende Wirkung auf die Entwicklung des Preisniveaus. Die Lohnkosten sind eine
wichtige Einflussgröße für das Preisniveau. - Die Parlamentarische Staatssekretärin Mascher sagte: Das erhöht
unsere Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Das
stärkt das Wirtschaftswachstum und hilft, dass neue Jobs
entstehen.
Das war die SPD des Jahres 2001. Leider klingt das
im Jahr 2012 ganz anders. Für uns ist es aber unverändert wichtig, dass wir mit der Absenkung des Rentenbeitragssatzes in einer Schlüsselsituation der konjunkturellen Entwicklung einen Wachstumsimpuls dadurch
geben, dass wir die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler um knapp 7 Milliarden Euro entlasten. Diesen
könnte man verstärken, wenn Sie im Bundesrat endlich
Ihre Blockadehaltung gegenüber der Beseitigung der
kalten Progression aufgeben würden. Dies sind jeweils
circa 6,5 Milliarden Euro, also 13 Milliarden Euro insgesamt. Das würde nicht einfach in der Volkswirtschaft
verpuffen, sondern uns helfen, Beschäftigung auf hohem
Niveau in Deutschland zu stabilisieren.
({2})
Es ist schon gesagt worden, dass viele von dieser Senkung profitieren. Deswegen kann ich Ihre Verbohrtheit
auch gar nicht verstehen. Der Bundeshaushalt profitiert
in doppelter Weise, nämlich durch einen niedrigeren
Bundeszuschuss, aber auch durch höhere Steuereinnahmen, weil die steuerlich absetzbaren Rentenversiche24296
rungsbeiträge niedriger ausfallen werden. Die Haushalte
von Bund, Ländern und Kommunen profitieren bei der
Vergütung der Arbeit ihrer Angestellten davon. Vor allen
Dingen profitieren aber die Rentner.
({3})
Ich halte es auch für außerordentlich wichtig, dass wir
nicht durch dauerndes Herumfummeln an den Stellschrauben der Rentenpolitik das Vertrauen in die Rentenversicherung beschädigen. Vielmehr müssen wir den
Rentnern das Zeichen geben: Wir halten an der Rentenformel und an den Stellschrauben der Rentenversicherung
auch dann fest, wenn dies zu euren Gunsten wirkt. - Deswegen muss der Beitragssatz heute gesenkt werden,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
In der Anhörung ist sehr deutlich geworden, dass ein
Demografiefonds, wie ihn sich die SPD vorstellt, nicht
funktioniert. Die Sachverständigen haben das sehr deutlich gesagt. Wenn es einen Peak bei der Beitragssatzentwicklung geben würde, dann könnte man diesen tunneln.
Wir steuern aber auf ein Plateau zu. Deshalb kann man
nicht, indem man über wenige Jahre hinweg Beiträge anspart, eine Entwicklung aushebeln, die unvermeidlich
ansteht. Auch wenn der Beitragssatz nicht gesenkt werden würde, muss der Beitragssatz ab 2020, spätestens ab
2025 angehoben werden, weil die demografische Entwicklung nun einmal so ist, wie sie ist, weil die Menschen in unserem Land länger leben und weil der Anteil
der Menschen im Alter von mehr als 65 Jahren steigt.
Diese Grundgesetze kann man nicht aushebeln. Die Einrichtung eines Demografiefonds heißt für Sie: Es soll ein
bisschen Geld zurückgelegt werden, damit man sich
möglicherweise ein paar Wünsche erfüllen kann. - Ich
bin aber sicher, Sie werden überhaupt nicht in die Situation kommen, dass das am Ende möglich wäre.
({5})
Wenn Sie noch ein bisschen Verantwortung für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
empfinden, lieber Toni Schaaf, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD - früher sind Sie ja immer angetreten, Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zu machen -,
({6})
dann können Sie heute nicht wirklich den Menschen
diese Entlastung verweigern, so wie Sie bisher ihnen
schon die steuerliche Entlastung im Zusammenhang mit
der kalten Progression verweigert haben. Es handelt sich
hier nicht um Menschen, deren Einkommen an der Beitragsbemessungsgrenze liegt oder darüber hinausgeht.
Diese Menschen spüren diese Entlastung überhaupt
nicht. Sondern es handelt sich um Menschen mit einem
kleinen oder mittleren Einkommen, die das, was sie an
dieser Stelle erhalten, unmittelbar zu Konsumzwecken
verwenden können und teilweise auch verwenden müssen. Diese Entlastung sollten wir den Menschen geben.
Das ist mein Plädoyer, und darum bitte ich Sie alle.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Matthias W. Birkwald.
Bitte schön, Kollege Matthias W. Birkwald.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kolb, es gibt für Regierungsparteien nichts
Schöneres, als mit Geschenken in den Wahlkampf zu gehen.
({0})
Genau das machen CDU/CSU und FDP, wenn sie jetzt
die Beitragssätze von 19,6 auf 18,9 Prozent senken wollen.
Manchmal bleibt von Geschenken wenig übrig, wenn
man sie erst einmal ausgepackt hat. Genau so ist es mit
der Rentenbeitragssenkung: mit viel Tamtam verpackt,
aber letztendlich doch nur Kleinkram und obendrein
auch noch vergiftet. Ein solches Geschenk lehnen wir
ab.
({1})
Eine Dachdeckergesellin erhält nach zweijähriger Tätigkeit ein Tarifgehalt von 2 707 Euro brutto im Monat.
Wenn der Beitragssatz um 0,7 Prozentpunkte gesenkt
wird, muss sie knapp 9,50 Euro weniger Beitrag in die
Rentenkasse zahlen. Das heißt in Köln-Lindenthal: in
der Mittagspause einmal Currywurst mit Pommes und
zwei Mineralwasser.
({2})
Ein Kölner Friseur mit Tarifgehalt müsste da schon auf
die Currywurst verzichten und sich auf Pommes und
Kakao beschränken. Denn bei einem Bruttomonatsverdienst von 1 326 Euro kommen bei der von den Christdemokraten und den Liberalen gewollten Beitragssenkung nur noch 4,60 Euro bei ihm an. Dabei wird aber
eines vergessen: Diese mit großer Geste verteilte kleine
Gabe führt dazu, dass die Menschen im Alter noch
schlechter vor Altersarmut geschützt sein werden.
({3})
Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, beschenken heute die Menschen mit Currywurst und Pommes, die sich diese Beschäftigten morgen
als Rentnerinnen und Rentner nicht mehr werden leisten
können. Ihre Rentenpolitik, Herr Kolb - vor allem die
Rente erst ab 67 und die Absenkung des Rentenniveaus -, wird am Ende zu Rentenkürzungen führen. Genau das müssen Sie den Menschen aber auch sagen. Hören Sie auf, die Menschen an der Nase herumzuführen!
({4})
Sagen Sie ihnen, dass das bisschen mehr Netto vom
Brutto heute zu mehr Altersarmut morgen und übermorgen führen wird! Seien Sie einfach ehrlich! Oder noch
besser: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!
({5})
Herr Kollege Birkwald, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb?
Gerne.
Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
Herr Kollege Birkwald, wären Sie bereit, mir zuzustimmen,
({0})
dass die erworbenen Rentenanwartschaften in einem
Jahr nicht von der Höhe des in diesem Jahr geltenden
Rentenbeitragssatzes abhängen, sondern allein vom Verhältnis des verbeitragten Entgeltes eines Versicherten
zum Durchschnittsentgelt in diesem Jahr, dass also der,
der genau das Durchschnittsentgelt verdient, einen Entgeltpunkt bekommt? Dieser Entgeltpunkt ist aktuell
28,07 Euro wert, und zwar unabhängig von dem Beitrag,
den man dafür bezahlt.
Wären Sie auch bereit, mir zuzustimmen, dass niemand, nicht einmal ein Matthias Birkwald, heute voraussehen kann, wie hoch der Rentenwert im Jahr 2030 sein
wird, dass es jedenfalls keinen Automatismus gibt, dass
das Nettostandardrentenniveau vor Steuern auf 43 Prozent absinkt, sondern dass wir derzeit eine deutlich günstigere Entwicklung haben? Wären Sie bereit, mir in diesen Punkten zuzustimmen?
Herr Kollege Kolb, Sie haben das gestern im Ausschuss schon einmal versucht.
({0})
Ich will Ihnen gerne sagen, dass Sie gerade am Schluss
Ihrer Frage den wesentlichen Punkt genannt haben: Ihre
Politik ist es, das Rentenniveau abzusenken.
({1})
Ob am Schluss 43 Prozent oder 44,5 Prozent herauskommen - all das sichert deutlich nicht mehr den Lebensstandard.
({2})
Es ist deutlich weniger als heute, wo das Rentenniveau
bei knapp 50 Prozent liegt. Gerade diejenigen, die
Durchschnittseinkommen oder niedrigere Einkommen
haben, schicken Sie damit in die Altersarmut. Das hat
Ministerin von der Leyen - das habe ich ausdrücklich
gewürdigt - mit ihrer Schocktabelle in der Bild am Sonntag deutlich gemacht.
Wenn Sie an der Rentenformel nichts ändern und die
Kürzungsfaktoren nicht streichen, dann werden die Renten weiter absinken und dann werden Sie damit Millionen Menschen in die Altersarmut treiben. Daran führt
kein Weg vorbei.
({3})
Meine Damen und Herren, wer jetzt den Rentenbeitrag senkt, tut nichts dafür, dass die Rente zum Leben
reicht. Das habe ich gerade noch einmal erläutert. Die
Rente muss wieder den Lebensstandard sichern, und sie
muss vor Altersarmut schützen. Mit der ständigen Beitragssatzsenkerei ist das nicht zu machen, Herr Kolb.
Das sollten Sie nicht behaupten. Das sind wenige Euro
im nächsten und übernächsten Jahr, aber auf Dauer geht
das Rentenniveau herunter, und damit ist das die falsche
Politik.
({4})
Der DGB hat erkannt, dass die Beitragssatzsenkerei
nichts nützt, und die CDU/CSU hat das auch verstanden;
bei der FDP bin ich mir jetzt nicht so sicher. Aber dennoch wollen Sie das Problem verschlimmern. Auch die
SPD tut, bisher jedenfalls, nichts gegen den freien Fall
des Rentenniveaus. Die Kollegin Pothmer von den Grünen findet sogar die Absenkung des Rentenniveaus auf
bis zu 43 Prozent richtig. Das Motto bei mehreren im
Hause lautet also: Hauptsache, die Rentenbeiträge steigen nicht zu sehr. Das bedeutet dann aber, dass die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ordentlich entlastet bleiben und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer privat
vorsorgen sollen. Wer das nicht schafft, wird in die
Grundsicherung abgeschoben. - Das ist zynisch, das ist
unverantwortlich, und da macht die Linke aus guten
Gründen nicht mit.
({5})
Meine Damen und Herren, die Rentenversicherung
hat kürzlich auf das besonders hohe Armutsrisiko für Er24298
werbsgeminderte hingewiesen. Wer im Jahr 2000 in eine
volle Erwerbsminderungsrente ging, erhielt im Durchschnitt, Herr Kolb, 738 Euro. Im vorigen Jahr waren es
noch 634 Euro, also 104 Euro weniger. Wenn die Kölner
Dachdeckerin vor ihrem 63. Geburtstag erkrankt und
nicht mehr arbeiten kann, wird ihr die Rente um bis zu
10,8 Prozent gekürzt werden. Diese ungerechten Abschläge zu streichen, würde die Betroffenen im Durchschnitt immerhin aus der Grundsicherungsbürokratie herausholen. Das wäre zwar noch lange nicht genug, aber
es wäre ein erster wichtiger Schritt. Und er ist finanzierbar! Die Abschläge abzuschaffen, würde bis zum Jahr
2030 insgesamt circa 4,6 Milliarden Euro kosten. Durch
die Beitragssatzsenkung gehen der Rentenkasse 8 Milliarden Euro verloren - jedes Jahr.
Meine Damen und Herren, niemand wird freiwillig
krank, und deshalb müssen die Abschläge in der Erwerbsminderungsrente gestrichen werden. Das wäre locker zu finanzieren.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, Kollege
Dr. Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Damen und Herren auf den Tribünen und vor den
Fernsehschirmen! Was wir jetzt hier erleben, ist eine
reine Showveranstaltung der schwarz-gelben Koalition.
({0})
Eigentlich ist es völlig unnötig, hierzu einen Gesetzentwurf vorzulegen. Peter Weiß hat vorhin selber gesagt: Es
gibt ein Gesetz, und es ist ein reiner Automatismus, der
jetzt abläuft. Das hätte man normalerweise einfach per
Verordnung machen können. Das haben viele von den
Sachverständigen in ihren schriftlichen Stellungnahmen
zu der Anhörung am Montag auch geschrieben und ihr
Befremden darüber bekundet, dass überhaupt ein Gesetzentwurf vorgelegt wird; man hätte es über eine Verordnung machen müssen und können.
({1})
Man brauchte einfach eine Bühne, um sich hinzustellen
und zu sagen: Wir tun Tolles für die armen Rentnerinnen
und Rentner
({2})
und für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Ich
glaube, dass diese Show nicht aufgeht.
({3})
- Aber jetzt kommt erst mal eine Zwischenfrage des
Kollegen Peter Weiß.
Ja. Da Sie die schon zugelassen haben und der Präsident damit einverstanden ist, sage ich: Bitte schön. Es ist
ja gut, wenn das alles so läuft.
Verehrter Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben
mit Ihrem Hinweis recht: Man kann es auch per Rechtsverordnung machen. - Bedeutet die Tatsache, dass Sie
gleich zu Beginn Ihrer Rede dieses Thema ansprechen,
dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sich wünscht,
dass man kein Gesetz macht, sondern eine Rechtsverordnung, und dass dann, wenn eine solche Rechtsverordnung
vorgelegt würde, die Grünen den Landesregierungen, an
denen sie beteiligt sind, empfehlen, im Bundesrat dieser
Rechtsverordnung mit Freude zuzustimmen?
Vielen Dank für die Frage; denn jetzt kann ich ausführlich auf das eingehen, was Sie in Ihrer Rede gesagt
haben.
Die Regelungen zur Obergrenze und Untergrenze haben ja wir unter Rot-Grün im Gesetz eingeführt.
({0})
Nun ist das zehn Jahre her. Nach zehn Jahren kann man
sich die Lage durchaus neu anschauen und überlegen, ob
die Ober- und Untergrenze, die wir damals festgelegt haben, heutzutage noch Sinn machen.
({1})
Dazu kann ich sowohl die Sachverständigen aus der
Anhörung zitieren als auch einige Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer eigenen Fraktion, die durchaus auch hier
im Plenarsaal schon gesagt haben, dass man darüber
nachdenken könnte, die Obergrenze von 1,5 Monatsausgaben zu erhöhen, nämlich auf zwei Monatsausgaben,
wie ein Sachverständiger gesagt hat, oder auf drei Monatsausgaben, was Herr Schiewerling ins Spiel gebracht
hat. Die meisten Sachverständigen waren bezüglich der
Untergrenze der Meinung, man sollte nicht auf 0,2 Monatsausgaben, sondern auf 0,5 Monatsausgaben gehen,
damit die Rücklage nicht komplett abgesenkt wird. Die
Debatte darüber sollten wir hier sehr sachlich führen.
Wenn man das gemacht hätte, dann wäre man nicht unbedingt zu dem Ergebnis gekommen, dass es tatsächlich
sinnvoll ist, jetzt die Beiträge zu senken.
Wir beide waren gestern bei einer Veranstaltung der
AWO, auf der Sie selbst gesagt haben, Sie hätten durchDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
aus Sympathie für den Vorschlag, die Beiträge jetzt nicht
zu senken, sondern sie langfristig konstant zu halten.
({2})
Ihr macht jetzt aber keinen Dialog!
Ich sage: Herzlichen Glückwunsch! Genau das beantragen wir. In Ihrer Rede gerade haben Sie aber gesagt,
die Beiträge nicht zu senken, mache wenig Sinn, weil die
Renditen auf dem Finanzmarkt im Moment zu gering
sind. Wir finden, das ist nicht so ein starkes Argument.
Wir wollen vielmehr langfristig konstante Beitragssätze
und sie jetzt nicht senken.
({0})
- Die Antwort auf die Frage habe ich im Prinzip gegeben.
({1})
Sie haben ja gefragt, was wir den Bundesländern raten
würden. Wir würden ihnen raten, der Verordnung nicht
zuzustimmen. Vielmehr wäre jetzt die Gelegenheit, das
Gesetz im Rahmen der ganzen Debatten zu verändern,
die wir ohnehin über die Rente führen und in der die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nach wie
vor überhaupt nichts vorlegen, außer dieses eine Gesetz,
das eigentlich unnötig wäre, weil man dies als Verordnung machen könnte, und das Schornsteinfegergesetz,
bei dem wir als Parlament gezwungen sind, etwas zu
machen. Auch da haben Sie reagiert, weil Sie den Gesetzen und Gerichtsurteilen nicht widersprechen wollen.
({2})
Insofern ist das, was Sie hier machen, wieder einmal
großartig. Eigentlich sind Sie bei der Rentenpolitik völlig blank. Da hat der Kollege Schaaf - er hat das gerade
schon angesprochen - völlig recht: Da passiert nichts.
Das alles, was hier wieder einmal stattfindet, ist nichts
anderes als eine große Rentenshow von Frau von der
Leyen.
Warum wir der Meinung sind, dass die Rentenbeiträge jetzt nicht gesenkt werden sollen, habe ich eben
schon angedeutet, nämlich weil das ein sehr kurzsichtiges Vorgehen ist. In der Tat ist es meines Erachtens kein
Zufall, dass die Rentenbeiträge kurz vor der Bundestagswahl gesenkt werden sollen. Das hat natürlich etwas mit
Wahlkampf zu tun.
({3})
Auch intern gab es bei Ihnen eine Diskussion darüber, ob
man nicht besser andere Wege geht. Aber das macht sich
vielleicht ganz gut; denn schließlich ist das insbesondere
für die FDP der letzte Strohhalm, vielleicht doch noch
dazu zu kommen, mehr - wie hieß es doch gleich? Netto vom Brutto hinzubekommen.
({4})
Das ist aber sehr kurzfristig gedacht. Die meisten Bürgerinnen und Bürger durchschauen das. Zumindest diejenigen, mit denen ich rede, fragen: Was soll das, jetzt die
Rentenbeiträge zu senken, wenn sie in wenigen Jahren
wieder steigen und wir dann wieder mehr zahlen müssen?
Es ist in der Tat eine Frage der Generationengerechtigkeit, ob wir es hinbekommen, die Beiträge dauerhaft
konstant zu halten. Da gehen wir auch konform mit der
Debatte über die Krankenversicherungsbeiträge. Auch
da ist unsere Position, dass wir sagen: Man muss die
Beiträge in der Krankenversicherung durch eine Bürgerversicherung dauerhaft und nachhaltig niedrig halten.
Langfristig müssen wir das auch bei der Rente hinbekommen, um stabile Beitragssätze mit einem vernünftigen Rentenniveau zu gewährleisten.
({5})
Sie sagen weiterhin, es mache keinen Sinn, so wie
SPD und Linke es vorschlagen, die Obergrenze bei der
Nachhaltigkeitsrücklage komplett abzuschaffen und das
Geld auf dem Kapitalmarkt anzulegen. Richtig! Deswegen sagen wir, dass man das Geld teilweise verwenden
sollte, nicht um einen Tunnel zu bohren, sondern um von
der jetzigen Beitragssenkung zur Beitragssteigerung eine
Brücke zu schaffen. Dann könnte man die Beiträge auf
der einen Seite längerfristig konstant halten und auf der
anderen Seite gemäßigte Leistungsverbesserungen durchführen. Von Vervespern oder Verschleudern zu reden,
wenn wir fordern, Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente vorzunehmen und das Rehabudget bedarfsgerecht auszustatten, finde ich wirklich hanebüchen.
Unsere Position ist: keine Beitragssatzsenkung jetzt,
stabile Beitragssätze in der Zukunft - das ist generationengerecht ({6})
und Leistungsverbesserung insbesondere für diejenigen,
die aus gesundheitlichen Gründen eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Für diese müsste es möglich sein,
ohne Abschläge in Rente zu gehen.
({7})
Bevor Sie mit einem neuen Gedanken beginnen,
schauen Sie bitte schnell einmal auf die Uhr.
Ich habe keinen neuen Gedanken mehr, sondern will
nur noch sagen: Noch ein Jahr geht diese schwarz-gelbe
Show weiter. Danach machen wir wieder eine nachhaltige, solide Rentenpolitik.
({0})
Nächster und letzter Redner in unserer Aussprache ist
für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Paul Lehrieder.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen, sofern Sie es vergessen haben, rufe ich
Ihnen gerne in Erinnerung, dass wir mit der Absenkung
des Beitragssatzes zum 1. Januar 2013 auf 18,9 Prozent
in der gesetzlichen Rentenversicherung und auf 25,1 Prozent in der knappschaftlichen Rentenversicherung geltendem Recht folgen; Recht aus rot-grüner Zeit. Das will
ich noch einmal ausdrücklich betonen.
Lieber Anton Schaaf, wenn ich deine Währungseinheit von einem Maß Bier nehme, dann sind das jetzt fünf
kleine Kölsch. Die 10,50 Euro, über die wir reden, sind
sehr wohl keine Peanuts.
({0})
- Herr Präsident, ich brauche jetzt erst einmal wieder die
Aufmerksamkeit der SPD.
({1})
Lieber Kollege Schaaf, wenn Sie im selben Atemzug die
heute Morgen diskutierte Praxisgebühr anführen, so gebietet es die Ehrlichkeit, zu sagen, dass die Praxisgebühr
mit 10 Euro einmal im Quartal anfällt. Die Entlastung,
die wir heute vornehmen, beträgt bei einem Durchschnittseinkommen jeden Monat immerhin 10,50 Euro.
Das heißt, wir entlasten um dreimal so viel, wie die Praxisgebühr maximal bringen könnte.
({2})
So gesehen handelt es sich keinesfalls um Kleinkram,
wie Sie ausgeführt haben. Zur Währungseinheit Currywurst, Herr Kollege Birkwald, fällt mir momentan auch
nichts ein.
Nach § 158 SGB VI ist der Beitragssatz zu Beginn eines Jahres zu senken, wenn die Mittel der Nachhaltigkeitsrücklage zum Ende des Jahres - ({3})
- Herr Präsident, ich bin selbstverständlich bereit, die
Frage des Kollegen Schaaf anzunehmen.
Alles läuft gut. Hier sieht man auch das gute kollegiale Verhältnis im Ausschuss. Bitte schön.
({0})
In der Tat, es ist ein sehr gutes kollegiales Verhältnis.
Deswegen werde ich den Kollegen Lehrieder auch nicht
bitten, zu jodeln, sondern bitte ihn, mir Folgendes zu beantworten: Heute Morgen beim Thema Gesundheit war
die Argumentation, man müsse die Kasse beieinanderhalten und sparsam mit dem Geld umgehen und dürfe
deswegen die Praxisgebühr nicht abschaffen. Gilt bei der
Rentenkasse nicht das gleiche Argument, und zwar im
Hinblick auf die Schuldengrenze, die wir im Grundgesetz vereinbart haben, und im Hinblick darauf, dass es
vielleicht einmal schlechtere Zeiten geben könnte und
wir damit eine schlechtere Einnahmesituation haben
könnten? Sie haben dabei auch nicht berücksichtigt, was
die Sachverständigen zur Obergrenze gesagt haben. Das
Gleiche gilt auch für die Untergrenze. Hier wurde gesagt, man solle eine Rücklage von 0,5 Monatsausgaben
halten. All das ist überhaupt nicht berücksichtigt worden. Hier geht es nur darum, einen maximalen Effekt gegenüber der Bevölkerung zu erreichen. Das habe ich
schon im Zusammenhang mit der Praxisgebühr moniert.
Lieber Kollege Anton Schaaf, jodeln und Schuhplattler tanzen werde ich hier nicht. Da kann ich Sie beruhigen.
({0})
Ich komme aus Franken. Da ist es nicht üblich, Schuhplattler zu tanzen. Wir haben andere, gleichwohl schöne
Tänze. Den Gefallen werde ich Ihnen aber nicht tun.
Sie haben ausgeführt: Wir entlasten die Mitbürgerinnen und Mitbürger; dabei müssen wir aber auch die Kassen zusammenhalten. Das ist auch der Kern dessen, was
die Sachverständigen am Montag ausgeführt haben.
Die Demografierücklage, die immer angesprochen
wird und für die ich am Anfang zugegebenermaßen ein
hohes Maß an Sympathie hatte - wir lassen das Geld ansparen, weil wir es in den nächsten Jahren brauchen -,
wird eben nicht so lange reichen, wie es für eine nachhaltige Senkung der Beiträge notwendig wäre.
({1})
Die Demografierücklage beträgt maximal etwas über
80 Milliarden Euro. Wir hätten in den Wahljahren 2017
eine Rücklage von etwa 79 Milliarden Euro und 2021
von etwa 80 Milliarden Euro, wenn wir auf die Absenkung verzichten. Auch das gehört zur Wahrheit. Das
heißt, die Chance, dass wir diese Demografierücklage
zweckmäßig verwenden, ist außerordentlich gering.
Zur Frage der Verwendung der Demografierücklage
im Umlageverfahren: Die Beträge, die hier aufgebaut
werden, sind, wenn wir die Gesamtsumme, die für die
Renten ausgegeben werden, ansehen, relativ bescheiden.
Das war die Aussage der Sachverständigen am vergangenen Montag. Im Übrigen ist dies auch nur ein temporäres Problem, worauf schon hingewiesen wurde. Die
Demografierücklage ist, wenn wir diese Berechnungen
nehmen, spätestens im Jahr 2024, 2025 verbraucht.
Dann gehen wir in das normale Verfahren hinein. 2030
liegen alle Schätzungen zu den Beitragssätzen, Herr
Kollege Schaaf, bei 21,8 bzw. 21,9 Prozent, also knapp
unter der 22-Prozent-Grenze. Wir reden hier also über
einen ganz bescheidenen Zeitraum.
Deshalb ist die Gefahr groß - auch darauf müssen wir
achten -, dass wir im Hinblick auf die derzeit günstige
Finanzierung - ({2})
- Aufstehen bitte, ich bin noch nicht fertig. Herr Präsident, kann er sich wieder hinstellen? Ich bin noch bei der
Beantwortung.
({3})
Braucht ihr jetzt doch einen Präsidenten dazu? Vorher
ging es ohne.
Es geht um die Beantwortung der Frage, was mit dem
Geld zu geschehen hat.
Wenn Leistungen ausgebaut werden, haben diese
Leistungen finanzielle Folgen, die weit über das Jahr
2024 hinausgehen und die dann ohnehin schwierige
Finanzierung der Rentenversicherung weiter erschweren. Deshalb kann man davor nur warnen, lieber Anton
Schaaf.
Das Geld, das sich heute in der Rücklage befindet, haben die jetzigen Beitragszahler aufgebracht. Genau denen steht das Geld auch zu. Deshalb sind wir der Auffassung - im Übrigen ähnlich wie die Große Koalition beim
Thema Arbeitslosenversicherung -, dass die Beiträge in
den sozialen Sicherungssystemen da abgesenkt werden
sollten, wo man die Menschen entlasten kann. Eine Entlastung der kleinen Bürger und der Arbeitnehmer war
früher auch Augenmerk der SPD. Ich würde mir wünschen, dass Sie in diesem Verfahren wieder einer Entlastung zustimmen könnten.
({0})
Jetzt bin ich fertig, Herr Präsident.
Jawohl. Damit darf sich der Kollege wieder setzen.
Unter Anwendung des gesetzlichen Anpassungsmechanismus sowie auf der Grundlage der Ergebnisse
der turnusgemäßen Einschätzung der Rentenfinanzen
durch den Rentenversicherungsschätzerkreis, verbunden mit der guten wirtschaftlichen Entwicklung, ergibt
sich die Absenkung des Beitragssatzes auf 18,9 Prozent.
Lieber Herr Kollege Schaaf, es ist längst nicht so,
dass wir diesen Zeitpunkt beeinflussen können. Schön
wäre es ja. Es ist Zufall, dass uns jetzt die gut laufende
Konjunktur ein Dreivierteljahr vor der nächsten Wahl
die Möglichkeit gibt, diese Absenkung vorzunehmen.
({0})
Das liegt aber daran, dass in Deutschland die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften die Krise gut überstanden haben, im Übrigen auch mit gemeinsam hier in
diesem Hause entwickelten Szenarien, zum Beispiel der
Verlängerung des Kurzarbeitergeldes usw. Das heißt:
Wir befinden uns derzeit in der günstigen Situation - anders als alle Länder um uns herum -, dass wir Absenkungen in den Sozialabgabebereichen vornehmen können. Das sollten wir tun. Das sind wir unseren Bürgerinnen
und Bürgern schuldig.
Lieber Anton Schaaf, wenn Sie Ihren Beitrag zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger leisten wollen, dann
bitte ich Sie höflich: Sprechen Sie mit Ihren Ministerpräsidenten, damit sie die Blockade im Bundesrat gegen die
Absenkung der Steuertarife, gegen die Verbesserungen
im Bereich der kalten Progression endlich aufgeben.
Dann können wir die kleinen und mittleren Bürger noch
besser entlasten.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Absenkung des Beitragssatzes führt im Jahr 2013 zu einer
deutlichen Erhöhung der verfügbaren Einkommen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Interessen
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit kleinen
Einkommen sind in dieser christlich-liberalen Koalition
gut aufbewahrt. Wir sind die Anwälte der kleinen Leute.
({2})
Das führt zu einer spürbaren Entlastung der Arbeitnehmer und Unternehmen in Höhe von etwa 3,2 Milliarden
Euro. Hiermit werden deutliche Impulse für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und positive Signale auf
dem Arbeitsmarkt gesetzt.
Des Weiteren profitieren auch die Rentnerinnen und
Rentner davon; denn die Senkung des Rentenbeitragssatzes zum 1. Januar 2013 wirkt sich auch auf die Rentenanpassungsformel aus und somit steigernd auf die Rentenanpassung zum 1. Juli 2014. Die Renten werden demnach in den nächsten beiden Jahren um 1,3 Prozent steigen. Neben der normalen Erhöhung erhält ein Rentner
mit einer Rente von etwa 1 000 Euro im Monat durch die
Absenkung der Beitragssätze zur Rentenversicherung im
Monat circa 13 Euro zusätzlich.
({3})
Es gehört zur Generationengerechtigkeit dazu, dass die
Menschen, die unser Land aufgebaut haben, jetzt auch
von einer Entlastung profitieren können.
({4})
Wie Sie sehen, steht die Beitragssatzsenkung - anders
als von Ihnen behauptet -, keineswegs im Widerspruch
zu unserem Ziel der Vermeidung von Altersarmut.
Schließlich leisten wir einen weiteren wichtigen Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von
Bund, Ländern und Kommunen; denn die Anpassung
des Beitragssatzes bedeutet zugleich eine Entlastung um
etwa 1,6 Milliarden Euro für den Bund, um 80 Millionen
Euro für die Länder und um 150 Millionen Euro für die
Kommunen, also insgesamt um 1,9 Milliarden Euro. Allein der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung sinkt
um 1,1 Milliarden Euro.
Wir entlasten die Länder, wir entlasten die Kommunen, nicht nur im SGB-XII-Bereich, über den wir
nächste Sitzungswoche reden werden, sondern auch
durch die Absenkung der Rentenbeiträge. Ich stelle fest:
Die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer,
aber auch der Kommunen sind in dieser christlich-liberalen Koalition in guten Händen.
({5})
Im Übrigen, meine sehr geehrten Damen und Herren
auf der linken Seite des Hohen Hauses, hat die Sachverständigenanhörung am vergangenen Montag doch ganz
klar und deutlich gezeigt, dass Ihre Vorhaben nicht das
Geringste mit Nachhaltigkeit zu tun haben. Im Gegenteil: Ihre Forderungen würden in den nächsten Jahrzehnten unweigerlich zu Kostenexplosionen führen, die nicht
zu verantworten wären. Über den Leistungsausbau habe
ich vorhin bereits ausgeführt.
Der Verzicht auf die Absenkung der Beitragssätze zur
gesetzlichen Rentenversicherung und damit der Aufbau
einer sogenannten Demografiereserve würde lediglich
zu einer zeitlichen Verschiebung der Beitragssatzerhöhung ab 2025 führen.
({6})
Ich habe es bereits ausgeführt: Von den Sachverständigen wurde das Problem des Tunnels unter einem Plateau
angesprochen. Sie können sich unschwer vorstellen:
Wenn Sie unter einem Plateau einen Tunnel bauen, können Sie sehr lange bohren, Sie werden das Ende aber nie
erreichen.
Genau in diese Richtung dürfen wir uns nicht bewegen. Deshalb ist die Absenkung richtig. Deshalb bitte ich
Sie: Helfen Sie mit, für die Bezieher von kleinen und
mittleren Einkommen in Deutschland etwas Gutes zu
tun. Stimmen Sie für unsere Anträge.
Danke schön.
({7})
Das war eine punktgenaue Landung, Herr Kollege
Paul Lehrieder. - Ich schließe nun die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2013. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11175, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10743
und 17/11059 ({0}) in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt
dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthal-
tungen? - Keine. Somit ist der Gesetzentwurf angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 7 b, Abstimmung über den Ge-
setzentwurf der Fraktion der Sozialdemokraten über die
Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen
Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatz-
entwicklung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11175, den Gesetzentwurf der
SPD auf Drucksache 17/10775 abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das ist die Fraktion der Sozialdemo-
kraten. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitions-
fraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Enthaltungen? - Die Fraktion Die Linke. Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 7 c. Wir setzen die Abstimmun-
gen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/11175 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/10779 mit dem Titel
„Rentenbeiträge nicht absenken - Spielräume für Leis-
tungsverbesserungen nutzen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! -
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Fraktion der So-
zialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/11010 mit dem Titel „Beitragssätze
Vizepräsident Eduard Oswald
nachhaltig stabilisieren, Erwerbsminderungsrente ver-
bessern, Reha-Budget angemessen ausgestalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegen-
probe! - Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die
Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Dr. Martina
Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Psychische Belastungen in der Arbeitswelt reduzieren
- Drucksache 17/11042 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte
Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Psychische Gefährdungen mindern - Altersund alternsgerecht arbeiten
- Drucksache 17/10867 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit
Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort der Kollegin Jutta Krellmann für
die Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wachsender Leistungsdruck prägt immer mehr die Arbeitswelt in
dieser Gesellschaft. Die Zunahme von Arbeitsstress hat
gravierende gesundheitliche Folgen für Millionen von
Menschen. Der jährliche Fehlzeiten-Report der AOK belegt, dass die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Belastungen von 1994 bis heute um 120 Prozent
gestiegen ist. Psychische Erkrankungen sind in Deutschland mittlerweile die Hauptursache für Frühverrentungen.
Die Bundesregierung hat dieses Thema neuerdings
für sich entdeckt. Die Gründe für wachsenden Arbeitsstress sind aber eigentlich schon lange bekannt:
Die erste und wichtigste Ursache in diesem Zusammenhang ist die Verdichtung von Arbeit. Die meisten
Beschäftigten müssen heute mehr Arbeit in derselben
Zeit leisten als vor wenigen Jahren. Krankenhäuser sind
mittlerweile ein sehr gutes Beispiel dafür. So wurde in
der Berliner Charité jahrelang Personal gekürzt. Jetzt ist
eine einzelne Pflegerin in der Nachtschicht für die Pflege
von 31 Patienten verantwortlich. Das ist Akkord im
Krankenhaus, das verursacht Stress. Einen solchen Job
macht man nicht nur wegen des Geldes, sondern auch
aus sozialem Engagement und aus Liebe zu den Menschen.
Zweitens führt die zunehmende Entgrenzung von Arbeit zu Stress. Viele Beschäftigte können sich nicht mehr
ausreichend von der Arbeit erholen. Der Achtstundentag
ist für sie längst Vergangenheit. Unbezahlte Mehrarbeit
nimmt breitflächig zu.
Drittens führt die Zunahme von unsicheren Arbeitsverhältnissen zu wachsendem Stress in vielen Unternehmen. Befristete Arbeitsverhältnisse nehmen seit einigen
Jahren kontinuierlich zu, gleichzeitig Leiharbeit und
Werkverträge. All dies zwingt Beschäftigte zum häufigeren Wechsel ihres Arbeitsplatzes, was auch wieder Stress
bedeutet. Dies bedeutet auch größeren Konkurrenzdruck
in den Belegschaften. Die Politik der Bundesregierung
hat diese Entwicklung gefördert ebenso wie zuvor die
Agenda 2010 von Rot-Grün.
Die Linke will mit drei gesetzlichen Maßnahmen den
Stress am Arbeitsplatz verringern:
Erstens. Wir wollen den Arbeitsschutz verbessern.
Konkret heißt dies: Wir unterstützen die Forderung meiner
Gewerkschaft, der IG Metall, nach einer Anti-StressVerordnung. Damit werden im betrieblichen Arbeitsschutz verbindliche Standards zur Prüfung von Stressbelastungen verankert.
Zweitens. Wir wollen die Arbeitszeiten klarer regeln.
Die gesetzliche Höchstarbeitszeit muss auf 40 Stunden
verringert werden,
({0})
und Überstunden müssen stärker begrenzt werden. Freizeit muss Freizeit bleiben.
({1})
Drittens. Wir wollen die Einflussmöglichkeiten der
Beschäftigten auf die Organisation der Arbeitsprozesse
im Betrieb deutlich verbessern. Dies bedeutet: Beschäftigten und ihren Betriebsräten muss Einfluss auf die Personalausstattung ihres Arbeitsbereichs gegeben werden,
um die gestellten Anforderungen erfüllen zu können. Sie
müssen an diesen Entscheidungen beteiligt werden. Sie
brauchen Vetorechte gegen den Einsatz von Leiharbeit
und Werkverträgen, wenn Stammbeschäftigte ersetzt
werden sollen.
({2})
All diese Maßnahmen hätte die Bundesregierung
längst anpacken können, wenn sie dieses Thema ernst
genommen hätte. Stattdessen hat sie jahrelang von flexibler Arbeit geschwärmt und dabei billigend in Kauf ge24304
nommen, dass private Unternehmen ihre Gewinne auf
Kosten der Gesundheit ihrer jeweiligen Beschäftigten erhöhen. Damit muss Schluss sein.
({3})
Die Bedürfnisse der Beschäftigten müssen Vorfahrt bekommen vor den Profitinteressen der Unternehmen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
richtig, Frau Krellmann: Die Verdichtung von Arbeit ist
in der Tat zu einem Problem geworden. Auch die Tatsache, dass wir die Arbeitseffizienz in den letzten Jahren
in einem erheblich höheren Maße steigern konnten als
die Materialeffizienz und die Energieeffizienz, spricht
sicherlich nicht für Nachhaltigkeit. Arbeit nur als einen
Produktionsfaktor zu sehen und sie nur als Human Resource zu bezeichnen, entspricht aus unserer Sicht nicht
der Personalität der Arbeit, die zum Ausdruck kommen
sollte. Es überrascht dann nicht, dass 67 Prozent der
Menschen in ständiger Hektik und Unruhe die größten
Auslöser von Stress sehen und dass die Weltgesundheitsorganisation beruflichen Stress zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts erklärt hat.
Nun hat die IG Metall - die Kollegin Krellmann hat
das erwähnt - eine Anti-Stress-Verordnung vorgelegt.
Ein wenig aufbauend auf der Anti-Stress-Verordnung,
diskutieren wir heute einen Antrag der Linken und einen
Antrag der Grünen. Mir ist bei der Lektüre sowohl der
Anti-Stress-Verordnung als auch der beiden Anträge
nicht so ganz klar geworden, ob es tatsächlich richtig ist,
die psychischen Belastungen im Arbeitsleben vorrangig
über gesetzliche Maßnahmen oder über Verordnungen
zu regeln. Ich glaube, uns tut es gut, dass wir erst einmal
vornehmlich in die Betriebe hineinschauen. Dabei geht
es für mich im Wesentlichen um vier zentrale Punkte:
Erstens. Der Erhalt der psychischen Gesundheit von
Beschäftigten muss zur Selbstverständlichkeit in jeder
Unternehmenskultur werden. Die besten Lösungen können
partnerschaftlich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gefunden werden. Dabei sollen sie von Krankenkassen, Rentenversicherungen, Werks- und Betriebsärzten, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Innungen
und Kammern Unterstützung erhalten. Das entspricht
dem Prinzip der Subsidiarität.
Zweitens. Wir sollten einen gesamtgesellschaftlichen
Prozess initiieren, damit psychische Erkrankungen, vor
allen Dingen Depressionen, enttabuisiert werden, damit
Erkrankungen dieser Art und Weise nicht als Schwachheit oder Mangel ausgelegt werden, sondern als etwas,
das jedem Arbeitnehmer passieren kann. Wir müssen
also darangehen, diese Dinge zu enttabuisieren und ein
Klima der Wertschätzung zu erreichen.
Drittens. Wir müssen auch darangehen, eine genaue
Diagnostik und Klassifikation des Begriffes „Burn-out“
zu erreichen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der
Begriff „Burn-out“ ein bisschen den Stellenwert des Begriffes der Hysterie im 19. Jahrhundert hat: Man klebt
das Label auf unterschiedlichste Symptome, ohne genau
zu wissen, was man damit letztendlich meint.
({0})
Ich bin der Meinung, eine geeignete wissenschaftliche
Begründung, Diagnostik und Therapie von Burn-out
wäre hier ausgesprochen hilfreich.
Viertens. Last, not least bin auch ich der Überzeugung, dass eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer
- über eine Kapitalbeteiligung, eine Prozessbeteiligung
oder andere Formen der Beteiligung - ebenfalls hilfreich
ist, wenn es darum geht, die psychischen Belastungen
am Arbeitsplatz deutlich zu senken.
Meine Damen und Herren, große Entwürfe treffen auf
konkrete Lebenswelten. Wir können natürlich ganz praktisch etwas tun; denn wir sind als Bundestagsabgeordnete auch Arbeitgeber. Und wir alle sind vorbildliche
Arbeitgeber.
({1})
Wir rufen unsere Mitarbeiter nie am Wochenende oder
abends, nach Feierabend, an.
({2})
Wir bestehen natürlich darauf, dass keiner der Mitarbeiter länger als 40 Stunden arbeitet, und sind natürlich der
Meinung, dass die Tätigkeit unserer Mitarbeiter, wie es
die Anti-Stress-Verordnung der IG Metall vorsieht, „der
Gesundheit zuträglich“ ist. Oder nicht?
Nur selten finden gegenteilige Erfahrungen den Weg
in die Presse. Das zeigt aber auch, wie schwierig der
Umgang mit diesem Themenfeld ist. Letztendlich, denke
ich, fangen die Veränderungen bei uns an. Wenn wir vernünftig sind, wenn wir vernünftig mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen, dann brauchen wir
keine Gesetze. Wenn wir nicht vernünftig sind, dann helfen keine Gesetze.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Josip
Juratovic.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schon seit Jahrzehnten wird über das Projekt
„Humanisierung der Arbeit“ diskutiert. Als ehemaliger
Betriebsrat war ich mit dabei, wenn es darum ging, die
Arbeitswelt an die Bedürfnisse der Arbeitnehmer anzupassen. Das Ziel ist es, die Arbeitswelt so zu gestalten,
dass Arbeit nicht krank macht.
Die Humanisierung der Arbeitswelt ist ein immerwährendes Thema. Während der Industrialisierung ging
es darum, schwere körperliche Arbeit zu vereinfachen.
Später mussten in der Industrie die Taktzeiten arbeitnehmerfreundlich gestaltet werden. Das Problem ist jedoch,
dass die Arbeitswelt insgesamt nicht unbedingt humaner
geworden ist. Die Probleme haben sich nur verlagert und
haben ein anderes Gesicht als früher. Heute ist es in Bezug auf die Humanisierung der Arbeitswelt die große
Aufgabe, darauf zu achten, psychische Belastungen zu
vermeiden.
Die Belastungen in unserer Arbeitswelt haben sich
zwar verändert, aber es sind Belastungen geblieben. Das
Problem ist, dass die Belastungen heute nicht mehr auf
den ersten Blick zu erkennen sind. Früher war es offensichtlich, dass es Probleme mit dem Rücken gibt, wenn
man permanent über Kopf arbeiten muss. Heute sind die
Belastungen subtiler, wenn Arbeitnehmer viel Stress haben.
Viele Unternehmen operieren heute nur noch nach
reiner Wachstumslogik und schauen nur auf die kurzfristige Rendite. Es wird großer Druck auf die Mitarbeiter
ausgeübt, die sich ständigen Optimierungsprozessen
ausgesetzt sehen. Diese Leistungsverdichtung bedeutet
für viele Arbeitnehmer Stress. Zudem bestimmen moderne Informations- und Kommunikationsmedien die
meisten Bereiche unserer Arbeit. Technische Innovationen führen zu immer schnelleren Veränderungen. Das
Wissen, das man gestern noch brauchte, ist heute schon
nichts mehr wert. Die Arbeitnehmer brauchen immer
mehr Flexibilität und Lernbereitschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Entwicklung von prekärer Arbeit hat Einfluss auf Stress in der
Arbeitswelt. Wenn ein Arbeitnehmer weiß, dass er befristet, über Leiharbeit oder auf der Grundlage eines
Werkvertrags arbeitet, lebt er in der ständiger Unsicherheit in Bezug auf seinen Arbeitsplatz. Er kann seine
Zukunft nicht planen, geschweige denn eine Familie
gründen. Zudem will er dauernd Höchstleistungen vollbringen, um eventuell vom Unternehmen übernommen
zu werden.
Außerdem hat in vielen Berufen die Arbeitszeit zugenommen. Im Sommer veröffentlichte das Statistische
Bundesamt Daten zur Qualität der Arbeit. Seit Mitte der
90er-Jahre ist die Wochenarbeitszeit um etwa 40 Minuten angestiegen, ein Viertel der Beschäftigten arbeitet
auch samstags - in den 90er-Jahren waren es nur
18,8 Prozent -, und immer mehr Beschäftigte arbeiten
nachts. Die Zahlen belegen, dass die Arbeitnehmer immer flexibler werden müssen, um ihre Arbeit zu erfüllen.
All diese Trends zeigen, dass sich unsere Arbeitswelt
verändert hat. Mit diesen Veränderungen kommen neue
Herausforderungen auf uns zu, auf die wir reagieren
müssen. Wir brauchen neue Regelungen im Arbeits- und
Gesundheitsschutz, um auf die steigenden psychischen
Belastungen zu reagieren. Im Arbeitsschutz ist alles
Mögliche detailliert geregelt; ich denke zum Beispiel an
die Biostoffverordnung. Eine Verordnung im Bereich der
psychischen Belastungen fehlt jedoch. Wir brauchen
dringend eine Anti-Stress-Verordnung, um diese Regelungslücke zu schließen.
({0})
Die Gestaltung unserer Arbeitswelt und die konkreten
Arbeitsbedingungen müssen stärker in den politischen
Fokus rücken. Zu oft wird der Arbeits- und Gesundheitsschutz in die technische Ecke von DIN-Normen und Verordnungen gedrängt. Wir brauchen hier mehr politische
Gestaltung im Sinne der Humanisierung der Arbeitswelt.
({1})
Darüber hinaus müssen wir sicherstellen, dass die Arbeitsschutzaufsicht gut und effektiv arbeiten kann. Ich
appelliere an die Länder, die Personalsituation zu verbessern. Zudem müssen wir uns dafür starkmachen, dass
Gefährdungsbeurteilungen häufiger genutzt werden. Der
Arbeits- und Gesundheitsschutz hängt davon ab, dass
bekannt ist, welche Belastungen der jeweilige Arbeitsplatz beinhaltet. Diese Gefährdungsbeurteilungen müssen auch alterssensibel durchgeführt werden. Wir müssen
dringend dafür sorgen, dass alle Betriebe Gefährdungsbeurteilungen erstellen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Bereich
Arbeitszeit müssen wir Lösungen finden. Wir müssen regeln, bis wann ein Mitarbeiter für den Arbeitgeber erreichbar sein muss. Oft machen sich die Mitarbeiter auch
selbst oder untereinander Druck und arbeiten deshalb bei
Projektarbeiten mit kurzen Fristen abends und nachts
weiter. Hier müssen auch die Unternehmen handeln;
denn kein Arbeitgeber kann ein Interesse daran haben,
dass sein Mitarbeiter aufgrund überlanger Arbeitszeiten
nach ein paar Jahren ein Burn-out-Syndrom hat. Unsere
Fachkräfte dürfen nicht durch enorm lange Arbeitszeiten
und eine enorme Arbeitsbelastung verbraten werden.
Dies ist auch ein entscheidender Punkt im Zusammenhang mit dem Thema „Vereinbarkeit von Familie
und Beruf“. Wenn die Arbeitszeiten nicht so geregelt
sind, dass Zeit für die Familie bleibt, bringt das alles
nichts. Unser Ziel im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes muss sein, möglichst viele psychische Belastungen präventiv zu verhindern.
({3})
Wir müssen die Arbeitswelt so gestalten, dass psychische Belastungen erst gar nicht entstehen.
An einem besseren Arbeits- und Gesundheitsschutz
sollten alle in unserer Gesellschaft ein Interesse haben:
die Arbeitnehmer, damit sie nicht krank werden, die Arbeitgeber, damit ihre Arbeitnehmer nicht aufgrund von
Krankheit fehlen, und der Staat, weil wir damit Kosten
für unser Gesundheitssystem vermeiden.
Es ist dringend notwendig, dass im Bereich der psychischen Belastungen endlich konkret etwas geschieht.
Bisher fällt Ministerin von der Leyen vor allem dadurch
auf, dass sie medienwirksam Regelungen für die Erreichbarkeit über das Smartphone fordert. Konkret aber
passiert nichts. Zur Anti-Stress-Verordnung sagt unsere
Ministerin zum Beispiel nichts. Herr Zimmer, Sie haben
hier hervorragend analysiert. Ich wünsche Ihnen viel
Glück bei der Erstellung eines entsprechenden Antrags
bzw. Gesetzentwurfs.
({4})
Wir müssen das neue Ziel der psychischen Gesundheit in der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie stärker nutzen. Es reicht nicht, warme Worte an die
Presse zu richten. Die Bundesregierung muss endlich gesetzlich handeln; denn viele Arbeitgeber handeln nicht
aus Eigeninteresse, sondern nur, wenn sie dazu verpflichtet sind, wie Studien belegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeits- und
Gesundheitsschutz ist entscheidend für die Lebensqualität in unserem Land. Arbeit darf nicht krank machen,
insbesondere nicht psychisch. Wir müssen Arbeit so gestalten, dass die Menschen ihr Leben genießen können
und genug Freizeit und Zeit für ihre Familie haben. Wir
brauchen gute und gesunde Arbeit, um die Lebensqualität in unserem Land zu steigern. Die SPD wird in den
nächsten Wochen einen umfassenden Antrag zur Modernisierung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes vorlegen.
In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Pascal Kober hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den beiden Anträgen von Linken und Grünen, die wir
heute beraten, wird ein durchaus wichtiges Thema aufgegriffen: die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz.
Dieses Thema ist wichtig. Dieses Thema hat die Regierungskoalition allerdings schon etwas früher erkannt als
Sie. Sie hat schon im Koalitionsvertrag vor drei Jahren
vereinbart, eine umfassende Präventionsstrategie zu erarbeiten. Diese Strategie ist gründlich ausgearbeitet worden; die Arbeiten stehen kurz vor ihrem Abschluss.
({0})
Parallel dazu wurden vonseiten der christlich-liberalen Regierungskoalition entscheidende Schritte zur Förderung der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz unternommen. So hat das Bundesgesundheitsministerium
die Kampagne „Unternehmen unternehmen Gesundheit“
im Jahr 2011 gestartet. Ziel dieser Kampagne ist es vor
allem, die Zahl von kleinen und mittleren Unternehmen
zu erhöhen, die sich aktiv im Bereich der betrieblichen
Gesundheitsförderung engagieren. So gibt es auf der
Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit eine
Sammlung von hundert vorbildlichen Projekten der
Krankenkassen, die den kleinen und mittleren Unternehmen als Ideenbörse dienen können.
({1})
Der demografische Wandel und der damit einhergehende Fachkräftemangel werden dazu führen, dass das
Thema der psychischen Gesundheit und die Notwendigkeit, die Gesundheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu fördern, bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes
und der Arbeitsabläufe in den Unternehmen in Zukunft
noch mehr in den Vordergrund gerückt werden.
Klar ist aber auch, dass die Zahl der psychisch bedingten Krankheiten in den vergangenen Jahren zugenommen hat. 2010 verursachten psychische Erkrankungen 53,5 Millionen Krankheitstage; das sind 80 Prozent
mehr als 1997. Mittlerweile sind fast 40 Prozent der
Neuzugänge bei Frühverrentungen darauf zurückzuführen. Ich denke, dass man aber auch genau prüfen muss,
inwieweit die zunehmende Zahl wirklich auf steigende
Erkrankungsfälle zurückzuführen ist und nicht zum Teil
auch auf verbesserte Diagnosemöglichkeiten.
Peter Weiß hat gestern in der Ausschusssitzung folgendes Beispiel genannt: Was früher vielleicht als ein
Rückenleiden diagnostiziert wurde, aber in Wahrheit
eine psychische Erkrankung war, kann und wird mittlerweile als solche diagnostiziert. Es ist gut, dass das
Thema enttabuisiert wurde und man sich nicht mehr für
psychische Erkrankungen schämen muss.
({2})
Gerade im Bereich des Sports gibt es prominente Beispiele wie den Skispringer Sven Hannawald oder den
Fußballtrainer Ralf Rangnick, die durch ihr öffentliches
Bekenntnis zu ihrer Burn-out-Erkrankung Verständnis
und gesteigerte Aufmerksamkeit für das Thema erzeugt
haben. Das ist gut.
Nicht nur das Bundesgesundheitsministerium hat bereits entsprechende Maßnahmen auf den Weg gebracht,
sondern auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat Programme aufgelegt und arbeitet tatkräftig
daran. So hat es beispielsweise die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie von Bund, Ländern und
Kommunen fortgeführt, die nun das Thema „Schutz und
Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung“ zu einem der drei Schwerpunktthemen
für das Jahr 2013 erklärt hat.
Bereits im Frühjahr dieses Jahres hatte das BMAS einen Expertenworkshop organisiert, um den gegenwärtigen Forschungsstand zum Thema „Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt“ zu erheben, und darauf
folgend weitere Forschungsvorhaben zum Schließen von
wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnislücken in diesem Bereich in Auftrag gegeben. Das ist nur ein kleiner
Teil der Maßnahmen dieser christlich-liberalen Bundesregierung. Sie sehen daran, wie wichtig uns dieses Thema
ist.
Die Maßnahmen, die die Linken und die Grünen in
ihren Anträgen vorschlagen, gehen am Ziel weit vorbei.
({3})
So will die Linke ein Vetorecht für Betriebs- und Personalräte beim Einsatz von Zeitarbeit oder Werkverträgen.
In anderen Anträgen, die Sie schon in den Bundestag
eingebracht haben, fordern Sie gar das Verbot dieser beiden Instrumente der Arbeitsteilung.
({4})
Dies würde jedoch die psychische Gesundheit nicht erhöhen, sondern bedeuten, dass viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren würden,
({5})
mit allen negativen Auswirkungen, die Arbeitslosigkeit
auf das psychische Befinden eines Menschen hat.
({6})
Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu fördern, ist
gut und wichtig, aber dies sollte nicht auf Kosten des Arbeitsplatzes geschehen.
({7})
Die Kolleginnen und Kollegen der Grünen stellen in
ihrem Antrag ähnliche Forderungen; damit gehen Sie
das Thema von der falschen Seite an. Sie fordern in Ihrem Antrag einen gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn sowie die Einschränkung von Zeitarbeit und befristeter Beschäftigung. Auch hier kann ich Ihnen nur
entgegnen, dass diese Maßnahmen mehr Menschen in
die Arbeitslosigkeit bringen würden. Daher können wir
dem auf gar keinen Fall zustimmen.
({8})
Ziel muss es sein, die Gesundheit der Menschen am Arbeitsplatz zu fördern, aber nicht auf Kosten der Arbeitsplätze.
Zum Abschluss, lieber Herr Ernst, möchte ich noch
einen anderen Aspekt einbringen. Ich halte es für einen
ein wenig verengten Blickwinkel, wenn man das Thema
„psychische Erkrankungen“ nur auf der Ebene der Arbeitswelt betrachtet. Uns allen muss doch klar sein, dass
Arbeit nur ein Teil des Lebens ist. Auch die privaten Lebensumstände haben Auswirkungen auf das psychische
Befinden eines Menschen und können Ursache von
Krankheiten sein. Jemand, der frisch verliebt ist, ist gewöhnlich in besserer Stimmung als jemand nach einer
Trennung. Wem gerade ein Kind geboren worden ist,
dem geht es besser als jemandem nach einem Trauerfall
in der Familie. Entsprechend werden dann auch Belastungen am Arbeitsplatz unterschiedlich wahrgenommen
und wirken sich entsprechend unterschiedlich auf den
Einzelnen aus. Ich möchte uns daher davor warnen, das
Thema ausschließlich aufseiten der Arbeitswelt anzugehen.
({9})
Auch andere gesellschaftliche Bereiche wie beispielsweise die Schule - auch Schülerinnen und Schüler sind
psychischen Belastungen ausgesetzt - gehören in den
Blickwinkel der gesellschaftlichen Debatte über dieses
Thema.
({10})
Psychische Erkrankungen können mannigfaltige Ursachen haben, deren wir uns als Gesellschaft insgesamt annehmen müssen. Diese Regierungskoalition hat das
Thema angepackt. Wir werden den Menschen zur Seite
stehen und diese gesellschaftliche Debatte gemeinsam
führen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gute und gesunde Arbeitsbedingungen sind eine Zukunftsinvestition, die sich für alle lohnt:
für die Betriebe, für den öffentlichen Dienst und insbesondere für die Beschäftigten. Schlechte Arbeitsbedingungen machen hingegen krank.
Heute sind - das wurde schon gesagt - die psychischen Belastungen mit 37 Prozent die Hauptursache für
Frühverrentungen. Wer zu früh in Rente geht, bekommt
weniger Geld; in der Folge droht Altersarmut. Dieses
Problem hat inzwischen auch die Ministerin entdeckt.
Mit ihrer Zuschussrente hat sie allerdings nur die Symptome im Blick.
Entscheidend sind jedoch die Ursachen. Wer Altersarmut bekämpfen will, der muss auch dafür sorgen, dass
die Menschen gesund bis zur Rente arbeiten können.
({0})
Gestern haben wir zum ersten Mal im Ausschuss über
dieses Thema diskutiert. Unstrittig war, dass die Zahl der
Krankheitstage aufgrund von psychischen Belastungen
von Jahr zur Jahr zunimmt. Die vagen Lösungsansätze
waren für mich aber nicht überzeugend. Es ging um
deklaratorische Klarstellung, um Sensibilisierung. Das
alles hat sich sehr unverbindlich angehört. Das ist mir
schlichtweg zu wenig.
({1})
Was wir brauchen, sind konkrete Werkzeuge, die wir
den Betrieben an die Hand geben können. Notwendig
sind klare Definitionen und Vorgaben. Die Betriebe müssen wissen, wann und wie psychische Gefährdungen am
Arbeitsplatz entstehen und wie sie, zum Beispiel bei
Schichtarbeit oder bei Taktarbeit, vermieden werden
können. Die Betriebe müssen wissen: Was bewirkt Mobbing? Wo liegen die Grenzen bei der Rufbereitschaft?
Wo liegen die Grenzen bei Arbeitsverdichtung und
Mehrarbeit? Betriebswirtschaftliche Ziele und die Leistungsfähigkeit der Menschen müssen schlicht zusammenpassen.
Geht es um den Lärmschutz oder um giftige Chemikalien, dann existieren Verordnungen. Für den Bereich
der psychischen Belastungen fehlen aber entsprechende
Regelungen. Das ist nicht akzeptabel. Der Schutz vor
psychischen Gefährdungen und Stress am Arbeitsplatz
muss im System der Arbeitsschutzgesetze konkretisiert
werden. Deshalb fordern auch wir mit unserem Antrag,
dass endlich eine Anti-Stress-Verordnung auf den Weg
gebracht wird.
({2})
Das reicht aber nicht. Die Arbeitsbedingungen müssen auch alters- und alternsgerecht ausgestaltet werden.
Zentral dafür sind die Gefährdungsbeurteilungen; sie
müssen zukünftig verbindlich durchgeführt werden, und
zwar auch altersbezogen. Hier greift der Antrag der
Linken zu kurz. Notwendig sind Arbeitsbedingungen,
die dem jeweiligen Alter der Beschäftigten angemessen
sind und perspektivisch das gesamte Erwerbsleben im
Blick haben.
Dem Arbeitsschutz fehlt bisher auch eine Geschlechterperspektive; denn was für Männer akzeptabel ist,
muss noch lange nicht für Frauen gesundheitsförderlich
sein. Gerade wenn es um arbeitsbedingte psychische
Belastungen geht, sind Frauen doppelt so stark betroffen
wie Männer. Das liegt zum einen daran, dass ein
beträchtlicher Anteil der Frauen in prekären Jobs arbeitet. Andererseits ist es auch ein Indiz dafür, dass in
Deutschland die angebliche Vereinbarkeit von Familie
und Beruf immer noch auf Kosten von Frauen geht.
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, bei diesem
Thema geht es um die Gesundheit und die Lebensqualität der Beschäftigten. Psychische Erkrankungen sind
schrecklich; denn sie isolieren die Menschen und belasten zugleich die gesamte Familie. Nehmen Sie dieses
Thema bitte endlich ernst!
Aber es geht auch um die Betriebe; denn nur mit einer
tragfähigen Arbeitskultur, die Jungen und Älteren
ebenso wie Männern und Frauen gleichermaßen gerecht
wird, sind der demografische Wandel und der drohende
Fachkräftemangel in den Betrieben zu bewältigen. Nehmen Sie sich des Themas an, machen Sie sich zusammen
mit den Sozialpartnern auf den Weg. Wir brauchen eine
alters- und alternsgerechte Arbeitswelt.
Vielen Dank.
({3})
Es spricht jetzt der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben - ich glaube, da sind wir uns in diesem
Hause einig - das Problem sehr wohl als drängendes
Problem erkannt. Liebe Kollegin Krellmann, allzu oft
stimme ich Ihnen ja nicht zu, aber ich bedanke mich für
den Hinweis, dass sich die Bundesregierung dieses
Themas angenommen hat. Das sehen wir durchaus als
positives Zeichen von Ihrer Seite für unsere Arbeit.
Herzlichen Dank dafür.
Ich will nicht alle Zahlen wiederholen, die wir jetzt
schon gehört haben, beispielsweise wie viel Prozent der
Frühverrentungen aus psychischer Erkrankung resultieren und in welchem Maße dieses Krankheitsbild in der
Arbeitswelt auftritt.
Kollege Kober hat, glaube ich, sehr richtig ausgeführt, dass wir es hier mit einer multikausalen Kette zu
tun haben, die zu diesen Erkrankungen führt. Auch die
Entstigmatisierung, eine bessere Kenntnis über diese
Erkrankungen und natürlich auch das offene Umgehen
der Betroffenen selber mit dieser Krankheit führen dazu,
dass man diesem Krankheitsbild heute anders entgegentritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, mit den
Eingangssätzen genug des Lobes von mir. Die Vorschläge, die Sie machen, halten wir in Gänze für nicht
zielführend; ich erwähne beispielhaft das individuelle
Vetorecht, eine Kommission zur Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes, Meldepflicht.
Wir haben durchaus Vertrauen in unsere Unternehmen, in unsere Unternehmer und Unternehmerinnen,
dass das Arbeitsschutzgesetz in den Betrieben angewendet wird. Man sollte hier nicht immer das Negativbeispiel nennen, auf das schwarze Schaf abzielen. In vielen Betrieben wird mit den Arbeitnehmervertretungen
zusammen sehr wohl, sehr gut und sehr konstruktiv an
diesem Thema gearbeitet.
Ich möchte auch ausdrücklich unterstreichen, dass ich
davon überzeugt bin, dass wir ein sehr gutes Arbeitszeitgesetz haben und wir hier nicht über das Arbeitszeitgesetz, Kollegin Krellmann, eingreifen sollten.
Zum Betriebsverfassungsgesetz. Mit dieser Keule,
mit der Sie schlagen, sind Sie bei einem alten Thema.
Immer dann, wenn wir hier irgendetwas diskutieren,
wollen Sie über das Betriebsverfassungsrecht Dinge regeln, womit letztlich die Systematik dieses Gesetzes und
das Grundverständnis über die Stellung unserer Betriebe
verändert würden. Sie wollen ein Mitbestimmungsrecht
bei wirtschaftlichen Fragen und bei der strategischen
Ausrichtung.
({0})
Das betrifft nicht die Frage der psychischen Belastung
am Arbeitsplatz, sondern zielt in Richtung einer grundsätzlichen Veränderung unserer Wirtschaftsstruktur, die
Sie damit erreichen wollen.
({1})
Solche Gesetze, liebe Kolleginnen und Kollegen,
brauchen wir mit Sicherheit nicht. Vielmehr brauchen
wir das Verständnis in den Betrieben.
Ich will auf die Vorschläge der Grünen auch nur mit
einem Satz eingehen: Es geht nicht darum, dem Problem
mit mehr Verordnungen oder mehr Bürokratie, sondern
mit konkreten Ansätzen in den Betrieben zu begegnen.
Ich glaube, dass unsere Bundesregierung hier mit
zahlreichen Initiativen über die Häuser hinweg auf dem
richtigen Weg ist: ob es um die Initiative Neue Qualität
der Arbeit - hier schon mehrfach besprochen - geht, ob
es die Initiativen für mehr Familienfreundlichkeit und
flexiblere Arbeitszeiten sind, ob es mit dem Ausbau von
Kitas um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, ob
es um die Initiative „Unternehmen unternehmen Gesundheit“ aus dem Gesundheitsministerium für die betriebliche
Gesundheitsförderung oder ob es um die schon genannte
Koordinationsplattform Nationale Arbeitsschutzkonferenz geht.
({2})
Insgesamt gesehen sind wir hier auf einem guten
Weg, weil wir alle wissen, dass wir dem Problem nur
über eine ressortübergreifende Strategie
({3})
begegnen können.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir von der Koalition wollen, dass der Erhalt der psychischen Gesundheit
von Beschäftigten Teil einer jeden Unternehmenskultur
- ich unterstreiche das Wort „Unternehmenskultur“ ({5})
und Teil unserer Gesellschaft wird und dass wir mit
diesem Thema offen umgehen. Helfen wir zusammen.
Dann werden wir dieses Problem auch in den Griff
bekommen.
({6})
Danke schön.
({7})
Herr Ernst hätte Ihnen gerne eine Frage gestellt, aber
das möchten Sie wohl nicht mehr zulassen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11042 und 17/10867 an die
Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung
finden. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist dann so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 21. September 2011
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Schweizerischen Eidgenossenschaft
über Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom
5. April 2012
- Drucksache 17/10059 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/11093 Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingMartin GersterHolger KrestelDr. Barbara HöllDr. Thomas Gambke
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11096 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider ({2})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({3})
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und ein solcher der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor. Am Ende der Beratung werden wir über diesen Gesetzentwurf namentlich abstimmen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Es ist vorgesehen, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich ebenfalls keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen
Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Wir stimmen heute über den Gesetzentwurf zum Deutsch-Schweizer Abkommen über die
Zusammenarbeit im Bereich Steuern ab.
In den Beratungen wurde immer wieder der Vorwurf
erhoben, dieses Abkommen sei ungerecht; vor allem
seien die Steuersätze zu gering. Allerdings ist diese
Behauptung bei nüchterner Betrachtung nicht haltbar.
Die Steuersätze liegen im Bereich zwischen 21 und
41 Prozent. Diese beziehen sich wohlgemerkt auf das
Kapitalvermögen, also nicht auf die Erträge, sondern auf
die Substanz, und zwar auch dann, wenn die Steueransprüche eigentlich bereits verjährt wären.
Natürlich kann man sich bei einem solchen Abkommen immer wieder Einzelfälle in der Theorie denken,
bei denen man auf individuelle Steuersätze kommt, die
in der Tat nicht ganz befriedigen können. Man muss aber
immer bedenken: Wir haben es hier mit einem Abkommen zu tun, das nicht im luftleeren Raum entstanden ist,
sondern zwischen zwei souveränen Staaten ausgehandelt
wurde.
({0})
Wie immer bei Verhandlungen zwischen gleich
starken Partnern gibt es nicht nur Weiß und Schwarz,
sondern Kompromisse. Kompromisse bedeuten auch
Grautöne. Es ist eben nicht so, dass wir uns in der Regierungskoalition das einfach nur ausgedacht und aufgeschrieben haben, sondern das, was heute vorliegt, ist das
Ergebnis von langwierigen, zähen, am Ende aber erfolgreichen Verhandlungen mit der Schweiz.
({1})
Wir werden jetzt gleich in der weiteren Debatte erleben, wie die Opposition über dieses Abkommen herzieht. In dieser Diskussion muss man deshalb schon
auch einmal erwähnen, dass die rot-grüne Bundesregierung, als sie noch in Amt und Würden war, ein Steueramnestiegesetz vorgelegt hat, mit dem den Steuersündern weltweit ein Discountsteuersatz von 15 Prozent und
Straffreiheit angeboten wurden. Wir sprechen heute über
ein Abkommen mit Steuersätzen, die fast dreimal so
hoch liegen wie der von Ihnen mit 15 Prozent gesetzte
Standard. Hier muss man sich schon einmal überlegen,
ob man sich an der einen oder anderen Stelle vielleicht
ein bisschen zurücknehmen sollte.
Wie immer in der Politik muss man sich, wenn man
Kompromisse eingehen muss, die Frage stellen: Wie ist
die Situation jetzt und heute, und wie ist sie mit diesem
Abkommen in der Zukunft?
({2})
Die Situation jetzt ist die: Die Besteuerung von deutschem Vermögen in der Schweiz erfolgt nur auf freiwilliger Basis oder eben aufgrund von Zufallserkenntnissen
im Zusammenhang mit den Ankäufen von Steuer-CDs.
Ich glaube, damit werden wir dem Gleichheitsgrundsatz
nicht gerecht. Ich denke, wir sind uns in diesem Hause
zumindest diesbezüglich einig, dass das nicht dem
Grundsatz gleicher Besteuerung entspricht.
Dass das Modell der CD-Ankäufe auch in Zukunft
nicht funktioniert, sollte eigentlich bei allen hier Konsens sein.
({3})
Diese CD-Ankäufe können kein Zukunftsmodell sein.
({4})
Nun zum Vergleich mit der Situation in der Zukunft:
Mit diesem Steuerabkommen ist zukünftig sichergestellt,
dass die Besteuerung erstmals überhaupt in einer gleichmäßigen Weise durchgeführt wird.
({5})
Die Steuer auf die Geldanlagen in der Schweiz bildet in
Zukunft genau das ab, was auch in Deutschland durchgeführt wird, nämlich die anonyme Quellenbesteuerung.
Genau das Gleiche, was wir in Deutschland haben, werden wir zukünftig auch in der Schweiz haben. Diese anonyme Quellenbesteuerung wurde im Übrigen von einem
Finanzminister der SPD, Ihrem heutigen Kanzlerkandidaten, eingeführt. Es tut mir leid: Ich kann nicht erkennen, dass das, was in Deutschland rechtmäßig ist, in der
Schweiz unrechtmäßig sein soll.
Zu der Höhe der Einnahmen. Nun, was die Höhe der
Einnahmen aus diesem Abkommen anbelangt, da besteht zugegebenermaßen ein gewisses Maß an Unsicherheit. Wenn wir die exakte Summe dessen kennen würden, was in der Schweiz an unversteuerten Vermögen
liegt, dann bräuchten wir dieses Abkommen nicht. Wir
wissen es nicht. Trotzdem halte ich es für plausibel, für
nachvollziehbar und realistisch, dass wir mit Einnahmen
von circa 10 Milliarden Euro für die Nachversteuerung
rechnen können und danach dann jährlich mit einem
Aufkommen in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrages;
({6})
das ist Geld, das unsere Kommunen und die Länder dringend brauchen.
Ich weiß wirklich nicht, wie Sie von der Opposition
sich das vorstellen. Was sind denn die Alternativen zu
diesem Abkommen?
({7})
Ist es denn etwa gerecht, dass wir es mit dem Ankauf
von CDs vom Zufall abhängig machen, ob eine BesteueOlav Gutting
rung von Vermögensanlagen in der Schweiz stattfindet
oder nicht? Ich glaube das nicht. Bei denjenigen, die unehrlich sind und die nicht durch Zufall erwischt werden,
verjähren nämlich zwischenzeitlich die Steueransprüche
munter weiter, Jahr für Jahr. Mit jedem Jahr, in dem dieses Steuerabkommen von Ihnen aus parteitaktischen Gründen blockiert wird, verliert der deutsche Staat, verlieren
die deutschen Bürgerinnen und Bürger Steueransprüche
im Milliardenbereich.
({8})
Wenn Sie weiter im Bundesrat blockieren, wie Sie das
schon angekündigt haben, dann werden Sie auf absehbare Zeit gar nichts haben.
({9})
Wer die Stimmung in der Schweiz aufmerksam verfolgt
hat, dem dürfte nicht entgangen sein, dass es keine neuen
Verhandlungen geben wird. Die Schweiz wird sich eben
nichts diktieren lassen. Ihre Ministerpräsidenten Beck
und Kretschmann waren erst vor kurzem in der Schweiz.
Seit sie dort waren und die Lage sondiert haben, ist es
um sie relativ still geworden.
Ich kann Ihnen abschließend nur raten: Erkennen Sie
an, dass wir heute mit diesem Abkommen einen Zwischenschritt erreicht haben. Das ist nicht das Abkommen
für alle Zeiten, sondern das ist die Basis für weitere Verhandlungen, die wir heute abschließen können.
({10})
Erlauben Sie mir noch eine Empfehlung zum Abschluss an Sie in der Opposition.
Herr Kollege.
Ich möchte Ihnen raten: Klettern Sie nicht allzu hoch
auf die Bäume; denn Sie werden bei diesem Abkommen
ziemlich bald wieder heruntersteigen müssen.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat Joachim Poß jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Stimmung in der Schweiz war jedenfalls nach der
ersten Paraphierung des Abkommens glänzend. Da haben die Champagnerkorken geknallt, Herr Kollege Gutting.
({0})
Das hatte seine Gründe:
({1})
Ihr Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat sich
nämlich mit diesem Abkommen zum Komplizen einer
fragwürdigen Weißgeldstrategie der Schweiz und der
Schweizer Banken gemacht.
({2})
Auch nach intensiven Beratungen, Gesprächen mit
Praktikern, Finanzbeamten, Kriminalbeamten, nach der
Anhörung der Sachverständigen ist die Beurteilung der
SPD eindeutig: Dieses Abkommen muss aus Gründen
der Steuergerechtigkeit und aus vielen anderen Gründen
abgelehnt werden.
({3})
Es bringt für den deutschen Rechtsstaat und die ehrlichen deutschen Steuerzahler mehr Nachteile als Vorteile.
({4})
Das kann belegt werden.
({5})
Dieser Vorgang ist im Übrigen, Herr Kauder, für mich
ein Präzedenzfall, wie ernst es diese Bundesregierung im
Kampf gegen die Steueroasen meint,
({6})
die auszutrocknen Sie bei den G-20-Konferenzen versprochen haben.
({7})
Mit bilateralen Abkommen dieser Qualität kommt man
nicht gegen die Steueroasen und deren Wirksamkeit an.
({8})
Dieses Abkommen würde eine wirksame europäische
Strategie gegen Steuerhinterziehung auf Jahre verzögern, wenn nicht ganz unterlaufen. Dieses Abkommen
ist deshalb ein Hindernis im weiteren Kampf gegen die
Steueroasen.
({9})
- Herr Kollege Michelbach, Sie kennen sich in der Geschäftswelt doch gut aus.
({10})
Mit dem vorliegenden Abkommen werden auch zukünftig unversteuerte Gelder aus Deutschland unentdeckt in die Schweiz fließen.
({11})
Die mit dem Abkommen verbundene Legalisierung
von Steuerkriminalität bei fortbestehender Anonymität
können wir nicht akzeptieren. Kollege Gutting, das ist
der Unterschied. Was zu Zeiten von Hans Eichel gemacht wurde, war von den Steuersätzen her bescheiden,
wie Sie es zu Recht geschildert haben. Die Betreffenden
mussten aber, anders als beim vorliegenden Abkommen,
sozusagen die Hosen herunterlassen. Die Anonymität
wurde aufgehoben. Sie wollten in die Steuerehrlichkeit
zurück. Nach Ihren Vorstellungen können sie jedoch in
der Steuerunehrlichkeit verbleiben. Es sind nicht nur
Steuersünder, sondern auch Kriminelle ganz anderer Art,
die im Schutz der Anonymität verbleiben wollen.
({12})
Die USA geben sich mit diesen Qualitäten und Standards nicht zufrieden. In diesem Fall sollten wir den
USA beipflichten, was deren Standards angeht. Die USA
geben sich jedenfalls nicht mit der Anonymität zufrieden.
Es gibt eine Alternative - warum beschreiten Sie
nicht diesen Weg, Herr Schäuble? -, die besser ist und
für die Sie - dies gilt für die gesamte Koalition - eigentlich kämpfen müssten. Das ist der umfassende automatische Informationsaustausch, der auch die Aufdeckung
unbekannter Steuerfälle ermöglicht.
Herr Schäuble, Sie haben aber von vornherein das
Ziel verfolgt, überhaupt zu einem Abkommen zu gelangen. Deshalb haben Sie die Position der Schweizer Regierung und der Schweizer Banken weitgehend übernommen.
({13})
Deutschland ist der wichtigste Wirtschaftspartner der
Schweiz.
({14})
Daher frage ich: Vor diesem Hintergrund sollte nicht
mehr zu erreichen gewesen sein? Die Schweiz verfolgt
doch eigene Interessen. Sie will auch bei uns wirtschaftlich tätig sein, wie sie auch in den USA wirtschaftlich tätig sein will. Darauf haben die USA Bezug genommen.
Es gibt auch keine Entwicklungen in neuerer Zeit, die
das Abkommen akzeptabler machen würden. Weder das
von Ihnen gefeierte neue Doppelbesteuerungsabkommen
Deutschlands mit Singapur, das im Übrigen noch gar
nicht unterzeichnet worden ist, noch die mögliche Zulassung von Gruppenanfragen durch die Schweiz beheben
die großen Lücken im vorliegenden Abkommen.
({15})
Was sind also die Hauptpunkte, die einzuwenden
sind? Die Legalisierung der Steuerhinterziehung bei
fortbestehender Anonymität ist ein ganz wichtiger
Punkt. Die pauschale Einmalzahlung hebt im Kern auf
die über die Jahre unversteuerten Kapitalerträge ab und
berücksichtigt deshalb nicht wirklich, dass die in der
Schweiz angelegten und jetzt nachversteuerten Vermögen oftmals bereits das Ergebnis von Steuerhinterziehung sind. Das ist ein Sachverhalt, den der nordrheinwestfälische Finanzminister zu Recht stark betont.
({16})
Dies alles ist und bleibt ein Schlag ins Gesicht aller
Steuerehrlichen.
({17})
Vermögenswerte können trotz Abkommen über Familienstiftungen, Trusts oder Schließfächer anstelle von
Konten und Depots leicht und legal der Besteuerung entzogen werden. Steuerpflichtige können ihre Konten und
Depots bis zum Jahresanfang 2013 auflösen und die Vermögenswerte unerkannt und sanktionslos aus der Schweiz
in Drittländer abziehen. Insofern ist das vorliegende Abkommen wie ein Schweizer Käse.
Wie so die 10 Milliarden Euro, von denen oft die
Rede ist, für den deutschen Fiskus zustande kommen
sollen, mit denen Sie werben, das weiß allein der liebe
Gott. Belastbar sind diese Zahlen jedenfalls nicht. Das
alles spricht dafür, dass wir dieses Abkommen im Deutschen Bundestag ablehnen. Meine Parteifreunde und, ich
denke, auch die Parteifreunde der Grünen werden das
auch im Bundesrat machen.
({18})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Kollege Poß, ich finde es nicht
schlimm, dass Sie die Meinung vertreten, die Sie hier
vorhin kundgetan haben. Schlimm finde ich aber, dass
Sie das wider besseres Wissen tun.
({0})
Dieses Abkommen regelt zwei Bereiche: zum einen
geht es um die Altfälle, und zum anderen schafft es eine
Lösung für die Zukunft.
Es ist nicht richtig, dass bei den Altfällen nur die Kapitalerträge besteuert werden, sondern es wird die gesamte Vermögenssubstanz, das heißt die Summe, die
sich auf dem Konto befindet, in vollem Umfang besteuert, also das gesamte Anlagevermögen und die Kapitalerträge.
({1})
Das wissen Sie auch. Dass Sie das Gegenteil behauptet
haben, finde ich nicht in Ordnung; denn die Menschen
wollen zu Recht, dass wir mit dem Thema Steuerhinterziehung und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung
seriös und sachlich umgehen.
Wer wider besseres Wissen behauptet, nach dem Abkommen würden nur Kapitalerträge, aber keine Vermögenssubstanz besteuert, der leistet keinen Beitrag zur
sachlichen Auseinandersetzung mit dem wirklich ernsten Problem.
({2})
Herr Kollege Poß, Sie haben eben gesagt, es gebe
eine Alternative auch für die Altfälle, indem man über
einen vollständigen Informationsaustausch mit der
Schweiz verhandelt.
({3})
Sie wissen, dass auch das nicht wahr ist; denn die
Schweiz ist ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik
Deutschland auch. Wir haben eine Verfassung, die verbietet, dass man Gesetze rückwirkend ändern kann. Dieses Prinzip des Rückwirkungsverbotes nach unserem
deutschen Grundgesetz nehmen wir alle im Deutschen
Bundestag sehr ernst.
Ich finde, es ist eine Frage des Respekts vor Abgeordneten anderer Parlamente, in diesem Fall vor den
Schweizer Kollegen, anzuerkennen, dass sie das Rückwirkungsverbot in ihrer Verfassung ebenso ernst nehmen
wie wir. Deswegen sagen wir ganz klar: Es ist nicht
wahr, dass es eine Alternative für die Altfälle gibt. Das
Rückwirkungsverbot gilt in Deutschland wie in der
Schweiz. Deswegen sollten Sie sich endlich von Ihrer
Scheinlösung verabschieden und sich den konkreten
Problemen zuwenden. Sie haben keine Lösung für die
Altfälle - wir haben heute eine in Gesetzesform.
({4})
Auch das verbale Aufrüsten gegenüber der Schweiz,
dass man die Kavallerie dorthin schicken will oder die
Schweiz in die Nähe der Kriminalität rückt,
({5})
wie Sie es eben gemacht haben - Sie haben gesagt, die
Schweiz verfolge mit ihrer Weißgeldstrategie irgendwelche kriminellen Ziele und man mache sich zum Komplizen; das alles waren Ihre Worte -, ist kein seriöser Beitrag zur Lösung des ernsten Problems der Steuerhinterziehung; denn Sie wissen, dass das alles nicht wahr ist.
Was das Problem in der Zukunft angeht, ist in dem
Abkommen klar geregelt, dass die Kapitalerträge in der
Schweiz in Zukunft ebenso besteuert werden wie in
Deutschland. Jetzt muss ich alle Bürgerinnen und Bürger
fragen: Finden Sie es gerecht, dass man auf Kapitalerträge in der Schweiz genauso viel Steuern zahlt wie in
Deutschland? Wir finden das gerecht, und deswegen
wollen wir dieses Gesetz.
({6})
Warum sind Sie dagegen? Wenn Sie dazu etwas gesagt hätten, wären wir einen Schritt weiter; denn die
Anonymität gilt bei den Kapitalerträgen in Deutschland
genauso wie in der Schweiz.
({7})
Also gibt es auch da keinen Unterschied. Deswegen sollten wir, finde ich, den Menschen sagen, dass dieses Abkommen ein Problem löst, und zwar mit maximaler Gerechtigkeit: gleiches Steuerrecht für Deutsche in der
Schweiz wie in Deutschland. Was will man denn noch
mehr erreichen? Warum wollen Sie denn die Kavallerie
ausrücken lassen, wenn Ihnen so ein gutes Abkommen
vorliegt?
({8})
Deswegen: Wir brauchen dieses Abkommen. Ich
finde es hervorragend, dass Sie, Herr Minister Schäuble,
in Verhandlungen mit der Schweiz auch erreicht haben,
dass es Gruppenanfragen gibt, dass für die Zukunft mehr
Kontrollmöglichkeiten geschaffen werden und dass
Steuerhinterziehung über die Schweiz der Vergangenheit
angehört, sobald dieses Abkommen in Kraft tritt. Das ist
auch Ihr Verdienst. Wir wissen, dass Sie sich sehr darum
bemüht haben. Deswegen auch ein ganz herzliches Dankeschön vom Deutschen Bundestag an Sie persönlich,
Herr Minister Schäuble, für dieses hervorragende Verhandlungsergebnis im Sinne der Steuergerechtigkeit.
({9})
Meine Damen und Herren, die Steuerhinterziehung ist
nicht nur ein Problem mit der Schweiz, sondern auch mit
anderen Ländern. Dass Sie, Herr Minister Schäuble,
auch mit anderen Steueroasen auf der Welt Gespräche
führen, um das System der Steuerhinterziehung durch
mangelnden Informationsaustausch und fehlende Steuerabkommen systematisch zu schließen, sind wir den
Menschen schuldig, die in Deutschland ehrlich ihre
Steuern zahlen. Fair ist ein Staat nur dann, wenn er
gleichmäßig Steuern erhebt.
Jetzt komme ich zu Ihren Steuer-CDs. Sie sagen genauso wie wir: Der Staat soll seinen Steueranspruch
gleichmäßig durchsetzen. Die Frage ist aber: Schafft
man das mit ordentlichem Recht und guten Gesetzen wie
mit dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben,
({10})
oder schafft man das durch Kooperation mit Kriminellen, die in ihren Heimatländern gegen Datenschutzbestimmungen und ihre arbeitsrechtlichen Pflichten verstoßen und Daten von Bürgerinnen und Bürgern entwenden,
um sie an den deutschen Staat zu veräußern?
Nun können wir lange diskutieren, ob solche Datenankäufe nach deutschem Recht möglich sind oder nicht
möglich sind. Wir können lange darüber diskutieren, ob
das im Strafprozess verwertbar ist oder nicht. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs spricht dafür, dass es
eine Verwertbarkeit gibt. Aber was Sie nicht wegdiskutieren können, ist, dass es eines Rechtsstaats - für mich
ist und bleibt die Bundesrepublik Deutschland ein
Rechtsstaat - unwürdig ist, den eigenen Steueranspruch
nur durchsetzen zu können, indem man mit Kriminellen
in anderen Staaten kooperiert.
({11})
Was Sie den Menschen, die in Deutschland ehrlich
Steuern zahlen, auch sagen müssen, ist, dass das Geld,
das Sie den Datendieben in der Schweiz bezahlen, von
den deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern erwirtschaftet werden muss.
({12})
Ich bin nicht der Meinung, dass die Deutschen Steuern
zahlen sollen, damit der Staat mit den Steuereinnahmen
Kriminelle im Ausland finanziert, sondern ich erwarte
ein konsistentes, rechtsstaatlich einwandfreies Steuerrecht und saubere Doppelbesteuerungsabkommen, damit
Ordnung und Recht und Klarheit und Fairness und Gerechtigkeit im Steuersystem herrschen.
({13})
Das ist ein gutes Abkommen, weil es ein Beitrag zu
rechtsstaatlichem Steuervollzug ist.
({14})
Es ist ein gutes Abkommen, weil es die Altfälle abarbeitet und besteuert und dabei die Möglichkeiten maximal
ausschöpft. Und es ist ein gerechtes und gutes Abkommen, weil für die Zukunft gleiches Steuerrecht für Deutsche in der Schweiz wie in Deutschland gilt. Deswegen
finde ich es richtig, wenn Kollege Gutting sagt: Rüsten
Sie bei diesem Thema ab! Hören Sie auf, den Menschen
zu erklären, dass es eine Alternative gibt! Diese Alternative wird von Ihnen schlicht und einfach nur erfunden.
Sagen Sie den Menschen doch die Wahrheit, nämlich
dass man mit den Altfällen nicht mehr anders umgehen
kann als so und dass die Alternative zu diesem Abkommen keine gerechtere Besteuerung ist
Herr Kollege.
- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -, sondern dass die Alternative zu diesem Abkommen die Verjährung für alle Zeit ist! Das ist die ungerechteste Variante gegenüber den ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern.
Deswegen: Denken Sie noch einmal darüber nach!
Stimmen Sie dem Abkommen zu! Es ist das beste, was
mit der Schweiz jemals ausgehandelt worden ist.
({0})
Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wissing, das war ja mal wieder ein Tiefpunkt.
({0})
Wenn man seine Politik ständig als alternativlos darstellt
und Alternativen nicht mehr wahrnimmt, ist man in der
Politik wirklich überflüssig; denn Politik ist der Kampf
um Alternativen, um verschiedene Lösungsmöglichkeiten.
({1})
Herr Schäuble erklärte vorgestern, der weitere Ankauf
von Steuer-CDs sei keine Alternative zu einer vernünftigen gesetzlichen Regelung. Ich finde, dem kann man zustimmen. Hätten Sie doch eine vernünftige Regelung vorgelegt! Aber Ihr Vorschlag ist einfach ein Geschenk für
Steuerbetrüger, für die Schweizer Finanzindustrie und
eine Einladung zu organisierter Steuerkriminalität, und es
widerspricht dem, was wir hier in Sachen Schwarzgeldbekämpfung versucht haben. Das ist ein Schlag gegen all
diese Bemühungen.
({2})
Sie sagen einfach: Entweder dieses schlechte Abkommen oder gar keines. - Nein, die Alternative ist: entweder ein Abkommen oder automatischer Informationsaustausch.
({3})
Um das einmal zu erklären: Der automatische Informationsaustausch ist das effektivste Mittel, um Steuerhinterziehung wirklich zu bekämpfen. Das heißt einfach,
dass zwischen den Ländern vereinbart wird, dass steuerrelevante Daten wie Person, Vermögenswerte, Erträge,
Kontodaten automatisch zwischen den Finanzbehörden
der Länder ausgetauscht werden.
Wenn Sie jetzt dieses Abkommen beschließen, verhindern Sie vor allem auf internationaler Ebene und in
der EU den weiteren Kampf um diesen automatischen
Informationsaustausch; und das ist ein großer Skandal.
({4})
Es ist doch völlig klar: Wir sind die größte Volkswirtschaft in Europa. Wenn wir jetzt hier klein beigeben, hat
kein anderes Land in der Europäischen Union überhaupt
nur den Hauch einer Chance, mit der Schweiz einen automatischen Informationsaustausch zu vereinbaren.
Dass es anders geht, das haben die USA bewiesen.
({5})
Da gelten jetzt solche Bedingungen, dass de facto ein automatischer Informationsaustausch besteht. Es geht also
anders.
Es ist nachgewiesen, dass heute schon zum Beispiel
Österreich mit Hinweis auf die Unterzeichnung des Abkommens Deutschland/Schweiz sagt: Wir werden uns an
der weiteren Erarbeitung der europäischen Zinsrichtlinie
- hin zum automatischen Informationsaustausch - nicht
mehr beteiligen. - Damit behindern Sie wirklich den
Kampf gegen Steuerhinterziehung. Das wirft uns um
Jahre zurück. Auch das ist ein Grund, warum wir dieses
Abkommen ablehnen.
({6})
Wenn Sie sich einigermaßen bemüht hätten, hätte sich
das auch in der Anhörung im Finanzausschuss widerspiegeln müssen. Sie haben zu der Anhörung im Finanzausschuss interessanterweise vor allem Vertreter der
Schweizer Finanzindustrie eingeladen, nämlich von
UBS, SwissBanking und dem Eidgenössischen Finanzdepartement.
Frau Höll, Herr Wissing würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, dass die
Schweiz mit den USA einen automatischen Informationsaustausch vereinbart hat.
Nein.
In der Öffentlichkeit wird immer wieder behauptet,
mit den USA seien weitergehende Informationsabkommen getroffen worden als mit der Bundesrepublik
Deutschland.
Nun hat der Finanzausschuss eine Anhörung mit vielen Sachverständigen durchgeführt. Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass alle Sachverständigen gegenüber dem Deutschen Bundestag bestätigt haben, dass das
Abkommen mit den USA, was den Datenaustausch angeht, nicht über das hinausgeht, was wir zwischen
Deutschland und der Schweiz ausgehandelt haben?
Danke für die Frage. - Nach den weiteren Beratungen
im Finanzausschuss habe ich sowieso den Eindruck,
dass wir in verschiedenen Anhörungen saßen; davon einmal ganz abgesehen.
({0})
Klar ist: Ich habe hier nicht gesagt, dass ein automatischer Informationsaustausch vereinbart wurde. Ich habe
soeben gesagt, dass die Kriterien für die Auskünfte massiv abgesenkt wurden. Dadurch wird faktisch erzwungen, dass es zu einem Informationsaustausch kommt, der
zwar noch kein automatischer Informationsaustausch ist,
der aber kurz davor ist, einer zu sein. Und das, finde ich,
kann man auch tatsächlich zur Kenntnis nehmen.
Wir sollten uns wirklich einmal mit den Meinungen
der Sachverständigen in der Anhörung beschäftigen. Ich
habe mir extra einmal einige Zitate herausgesucht. Herr
Thomas Eigenthaler von der Deutschen Steuergewerkschaft sagte - Zitat -: „Wir lehnen das Abkommen ab.“
Er verweist auf Art. 108 des Grundgesetzes mit der entsprechenden Vorschrift, wonach für den Vollzug von
Steuergesetzen nun einmal die Finanzbehörden zuständig sind. Das gilt ja wohl noch. Aber was machen Sie in
dem Abkommen? Sie übertragen die definitive Besteuerung, die abschließende Besteuerung an Banken in der
Schweiz, Banken, die jahrelang mit dem Geschäftsmodell „Schweizer Bankgeheimnis“ Geld verdient haben.
({1})
Sie haben jetzt auf einmal das Grundvertrauen, dass
diese Banken die Vorreiter bei der Bekämpfung der
Steuerhinterziehung sind. Das ist doch einfach Augenwischerei.
({2})
Herr Eigenthaler kritisiert das geplante Verbot von CDKäufen, weil er sagt: Das ist natürlich eine massive Behinderung der Steuerfahnder.
Die vereinbarte Zahl von 1 300 Anfragen, die die
deutschen Finanzbehörden innerhalb von zwei Jahren an
die Schweizer stellen dürfen, ist einfach aus der Luft gegriffen. Das wird kein wirksames, effektives Mittel sein.
Ich verweise auf Markus Meinzer vom Netzwerk für
Steuergerechtigkeit. Er verwies auf die Behinderung der
EU-Zinsrichtlinie, weil sich, wie ich es eben gesagt
habe, Österreich und Luxemburg schon jetzt darauf berufen, dass Deutschland dieses Steuerabkommen abschließen will. Er hat auch auf den hohen Verwaltungsaufwand verwiesen, der mit dem Abkommen verbunden
ist, weil in weiteren Verhandlungen die Staaten jeweils
bilaterale Abkommen abschließen müssen, wenn es
keine EU-einheitliche Zinsrichtlinie gibt.
Professor Grinberg von der Georgetown University
sagte, die Ratifizierung des Abkommens sei ein Rückschlag für die deutschen Bemühungen, die Steuerflucht
deutscher Staatsbürger mittels ausländischer Konten zu
bekämpfen.
Das alles sind Aussagen der Sachverständigen.
Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter hatte eine klar ablehnende Haltung. Das muss ich
einfach zitieren:
Es führt dazu, dass diese Gelder nach wie vor
anonym bleiben. Und das ist im Grunde das, was
uns in der Tat sehr schockiert hat. … Wir erkennen
eine gewisse Beratungsresistenz der Bundesregierung.
({3})
„Gewisse Beratungsresistenz“ - das ist sehr freundlich formuliert. Aber klar ist - darauf hat er hingewiesen -, dass alles das, was intern auf Selbstregulierungsmaßnahmen hinausläuft, immer nur ein Feigenblatt ist.
Die Schweizer Banken haben im Rahmen ihrer Beratung Bürgerinnen und Bürger angeschrieben, die bei ihnen Konten haben, dass sie das Geld pauschal nachversteuern können und dafür anonym bleiben. Das heißt,
das ist wirklich ein Ablasshandel. Also, ich habe kriminelle Energie entwickelt - - Ich nicht!
({4})
Wenn man kriminelle Energie entwickelt hat und Geld
schwarz in die Schweiz verbracht hat, besteht nun die
Möglichkeit einer pauschalen Nachbesteuerung mit
21 Prozent. Das wird bei den meisten zum Tragen kommen. Das ist oftmals weniger, als man bei einer normalen Besteuerung zahlen müsste. Hinzu kommt: Ich
bleibe anonym. Ich entziehe mich dem Zugriff für diese
kriminellen Handlungen und bekomme einen Persilschein. Ich frage mich wirklich, wo wir leben. Herr
Wissing, Sie haben eben die Rechtsstaatlichkeit hochgehalten. Das hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun.
({5})
Das zu der Nachbesteuerung.
Wir lehnen natürlich auch ab, dass Sie nichts tun, um
Möglichkeiten für zukünftige Steuerhinterziehungen, die
die Schweizer Banken schon wieder aufgezeigt haben,
zu beseitigen. Wenn man einen Trust oder eine Stiftung
in Luxemburg oder Liechtenstein gründet und diese von
einer Schweizer Bank verwalten lässt, dann bleibt es dabei, dass dem Staat das Geld entzogen wird.
Frau Kollegin.
Mein letzter Satz. - Wir reden hier über Bürgerinnen
und Bürger, die über sehr hohe Einkommen verfügen
und sich ihrer Pflicht entziehen, entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit etwas zum Gemeinwesen beizutragen.
Frau Kollegin.
Ich frage mich, warum Sie dafür so viel Kraft aufwenden. Wir lehnen das Abkommen konsequent ab.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege
Dr. Gerhard Schick.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Abkommen geht sowohl beim Umgang
mit der Vergangenheit als auch beim Weg in die Zukunft
in die falsche Richtung.
({0})
Was die Vergangenheit angeht: Es ermöglicht eine
Amnestie ohne Aufdeckung; das heißt, es wird ein
Mantel des Schweigens nicht nur über die Steuerhinterziehung, sondern auch über damit verbundene Straftaten
gelegt, weshalb nicht nur die Steuerbehörden, sondern
auch Experten aus dem Bereich der Justizverwaltung sagen: Das darf nicht passieren.
Was die Zukunft betrifft: Es wird mit der Abgeltungsteuer etwas festgelegt, was schon in Deutschland ungerecht ist. Ist es denn gerecht, dass man Kapitalerträge,
die insbesondere Menschen mit sehr hohen Einkommen
haben, mit einem niedrigeren Satz besteuert als Arbeitserträge? Nein, das ist ungerecht, und es wäre falsch, das
über das Schweizer Steuerabkommen für die Zukunft
festzuschreiben.
({1})
Stellen wir einmal die Frage: Wem nützt eigentlich
das Abkommen? Wie ist die Situation mit und wie ist die
Situation ohne Abkommen? Es ist interessant, welche
Einschätzungen wir aus der Schweiz erhalten können.
Ich zitiere aus dem Tagesspiegel vom 10. Oktober den
Leiter des German Tax and Legal Center der KPMG AG
in Zürich: Ohne Steuerabkommen wird der Druck auf
Steuerhinterzieher in der Schweiz größer werden. - Ich
zitiere Herrn Odier, den Präsidenten der Schweizerischen Bankiervereinigung:
Sollte das Abkommen scheitern, „müssten die Kunden mit erhöhter Unsicherheit rechnen. …“
({2})
Ja, dieses Abkommen schafft Sicherheit für Steuerhinterzieher statt Unsicherheit. Und das ist falsch.
({3})
Sie verwirklichen im Endeffekt die Strategie der
Schweizerischen Bankiervereinigung. Angesichts des
Drucks, der nach der Aufdeckung der skandalösen Steuerhinterziehungsfälle aufgebaut worden ist, hat man in
der Schweiz überlegt: Wie können wir diesem Druck
standhalten? Was können wir dem entgegensetzen? Die Idee war: Wir schaffen eine Abgeltungsteuer. Sie
können das sehr genau in der Publikation der Schweizerischen Bankiervereinigung, Faktenblatt Steuerabkommen 2012, nachlesen. Dort heißt es:
Um das zu verhindern, hat die Schweiz ein eigenständiges Gegenkonzept entwickelt: die Abgeltungssteuer.
Es soll damit genau das erreicht werden, was nicht im
Interesse aller ehrlichen Steuerzahler sein kann. Ich zitiere wieder:
Das bewahrt die Privatsphäre der Bankkunden.
Also das Bankgeheimnis.
Und da machen wir Grüne nicht mit; denn nur die Offenlegung gegenüber dem Finanzamt stellt sicher, dass
es eine faire Besteuerung für alle gibt.
({4})
Das Schöne ist: Sie haben uns ja demonstriert, wem
dieses Abkommen nutzt. Von den 18 Sachverständigen,
die Stellung genommen haben, hat sich die Mehrheit gegen dieses Abkommen ausgesprochen - und das, obwohl
Sie die Mehrheit benennen konnten -, und nur eine Minderheit von sieben Sachverständigen war dafür. Von diesen
sieben kamen vier aus der Schweiz.
({5})
Und welche Sachverständigen aus der Schweiz waren
das? Das war zunächst ein Vertreter der UBS, des größten Vermögensverwalters, der mit üblen Steuerhinterziehungsfällen und Fällen von Beihilfe zur Steuerhinterziehung in den USA, in Frankreich, in der Schweiz und in
Deutschland in Verbindung gebracht wird. Das war die
Credit Suisse, das waren die Schweizerische Bankiervereinigung sowie ein Vertreter der Schweizer Regierung.
Das sind die Sachverständigen, die der Meinung sind,
dass dieses Steuerabkommen gut sein soll.
({6})
Ich glaube, das ist Beweis genug.
({7})
Interessant ist auch, wen Sie befragt haben: Von
16 Fragen der Koalitionsfraktionen gingen 10 Fragen an
die Vertreter aus der Schweiz, die in ihren Antworten herausgearbeitet haben, dass dieses Abkommen nicht den
ehrlichen deutschen Steuerbürgern nutzt.
({8})
Danke, dass Sie das so deutlich gemacht haben.
({9})
Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, der
sehr wichtig ist, wenn man das Wesen der Steuerhinterziehung erfassen will. Ein Großteil der Steuerhinterziehung läuft heute nicht mehr so wie früher ab, dass
einfach jemand mit einem Köfferchen eine Grenze überquert - also bilateral -,
({10})
sondern es handelt sich häufig um Konstruktionen, die
mehrere Staaten berühren. Mal sind es die Schweiz und
Liechtenstein, mal sind es die Schweiz und Panama etc.
Deswegen muss jeder rein bilaterale Ansatz zwangsläufig zu Problemen führen.
Deswegen ist es ein strategischer Fehler, Herr
Schäuble, dass Sie die jahrelange produktive Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich auf
diesem Gebiet beendet haben, die Ihre beiden Amtsvorgänger erfolgreich betrieben haben - im Rahmen der Europäischen Union durch das Vorantreiben der Zinssteuerrichtlinie und im Rahmen der OECD -, und uns jetzt
auf einem bilateralen Weg in die Sackgasse führen.
({11})
Ich zitiere dafür den Vertreter aus den USA, der bei
der Anhörung dabei war:
Für Deutschland und die EU insgesamt wird es …
schwieriger werden, Druck auf andere Rechtsgebiete auszuüben, sich am automatischen Informationsaustausch zu beteiligen, sobald Deutschland
mit der Schweiz eine anonyme Abgeltungssteuer
vereinbart hat.
Herr Kollege!
Das zeigt genau: Der von Ihnen gewählte bilaterale
Ansatz führt in die Irre. Wir brauchen einen europäischen Ansatz gegen die Steuerhinterziehung.
({0})
Das Wort für die Bundesregierung ergreift der Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich möchte zunächst darum bitten, dass wir in einer Zeit,
in der in Europa vielfältige Diskussionen geführt werden, in der Art, wie wir unsere nationalen politischen
Debatten führen, immer daran denken, dass unsere Partner in Europa einen Anspruch darauf haben, dass wir mit
Respekt über sie reden.
({0})
Es schadet Deutschland und es schadet Europa,
({1})
wenn wir bloß aus innenpolitischen Gründen in einer
Weise über andere reden, die unerträglich ist.
Ich möchte gerne eine zweite Bemerkung machen.
Herr Kollege Schick, man kann ja unterschiedlicher
Meinung sein, ob man die geltende deutsche Steuergesetzgebung, also das System der Kapitalertragsbesteuerung mit der definitiven Abgeltungsteuer, für richtig hält
oder nicht. Ich glaube, Sie haben das damals nicht für
richtig gehalten. Das ist Ihr gutes Recht. Das Gesetz
trägt allerdings die Unterschrift des damaligen Finanzministers, und das war Herr Steinbrück. Wir haben dem
Gesetz auch zugestimmt; es ist in Kraft.
Mit diesem Abkommen - wenn es in Kraft tritt - stellen wir sicher, dass Kapitalanlagen von deutschen Steuerflüchtigen in der Schweiz genauso steuerlich behandelt
werden, wie wenn sie in Deutschland angelegt worden
wären. Etwas anderes kann man nicht machen.
({2})
Die Behauptung also, wir würden durch das Abkommen
mit der Schweiz etwas anderes schaffen, ist Unsinn. Das
ist nun wirklich unterhalb dessen, was man als Niveau
parlamentarischer Auseinandersetzung akzeptieren sollte.
Wir schaffen damit die Möglichkeit, und die Schweizer
Banken machen dann dasselbe, was die deutschen Banken auch machen. Das muss auch der Vorsitzende einer
Gewerkschaft einsehen. Ob ihm das passt oder nicht, ist
eine andere Frage; aber in Deutschland ist es mit Sparkassen und Banken genauso.
({3})
Deswegen ist das ein Abkommen für die Zukunft; es
sei denn, man sagt, das deutsche Gesetz sei falsch. Das
darf man aber nicht der Schweiz vorwerfen, sondern das
ist unsere deutsche Verantwortung. Wir können jederzeit
neue Gesetze machen; daran haben wir ja keinen Mangel. Aber solange das betreffende deutsche Gesetz so
gilt, müssen wir dafür sorgen, dass es gesetzmäßig vollzogen wird, nicht allein durch Zufallsfunde, womöglich
in der Zusammenarbeit mit mehr oder weniger Kriminellen, sondern durch einen verwaltungsmäßigen, einen
ordnungsgemäßen rechtsstaatlichen Vollzug. Dies sichert
das Abkommen mit der Schweiz für die Zukunft.
({4})
Das ist der erste Punkt. Daran können Sie überhaupt
nicht rütteln.
Es entspricht im Übrigen dem Informationsaustausch.
Dazu haben wir den OECD-Standard mit der Schweiz ja
vereinbart. Das ist alles international; das sind die multilateralen Bemühungen. Sie werfen die Dinge völlig
durcheinander.
({5})
Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die Vergangenheit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss
einfach zur Kenntnis nehmen - der Kollege Wissing hat
es gesagt -: Belastende Gesetze können nach unserem
Verfassungsverständnis rückwirkend nicht eingeführt
werden. Angesichts dessen, was für uns gilt, müssen wir
doch respektieren, dass es in der Schweiz nicht anders
ist. Die Schweiz hat ein Bankgeheimnis; es ist integraler
Bestandteil der Schweizer Rechtsordnung seit 70 oder
mehr Jahren. Wenn dies so ist, dann kann man für die
Vergangenheit nicht erreichen, dass die Schweiz dies
rückwirkend ändert. Das wäre bei uns verfassungswidrig, und das ist es in der Schweiz auch. Daher sollte man
die Schweiz deswegen nicht beschimpfen, sondern man
sollte sich anschauen, welche Lösung wir mit der
Schweiz verhandelt haben.
Zwei Möglichkeiten hat der Steuerpflichtige, und das
teilen ihm die Banken auch mit. Entweder kann er eine
Mitteilung seines Finanzamts bringen, dass er seine steuerlichen Pflichten erfüllt hat, oder der Bestand seines Vermögens - Herr Kollege Poß, Sie sollten schon zwischen
Erträgen und Vermögensbestand unterscheiden ({6})
wird mit einem Pauschalsatz an Steuer belegt. Jetzt sage
ich Ihnen, wie er sich berechnet. Wenn ein Vermögen
schon seit zehn Jahren in der Schweiz liegt, dann - es
mag wie auch immer entstanden sein - sind die steuerund strafrechtlichen Ansprüche verjährt. Diese Verjährung kann auch rückwirkend nicht aufgehoben werden.
Auch das ist ein festes Verfassungsprinzip.
58 Prozent aller Konten und Depots in der Schweiz
bestehen seit mehr als zehn Jahren. Dies sage ich, damit
wir wissen, wovon wir reden. Daher können steuerlich
also nur diejenigen Erträge von Belang sein, die in diesen zehn Jahren angefallen sind und zu besteuern sind.
Dafür gilt ein Satz von 21 Prozent auf die Summe, auf
die Substanz des Kapitals. Das ist ein höherer Satz, als
man ihn bei einer Regelbesteuerung erzielt. Deswegen
gehen alle davon aus - Schweizer Banken haben ja Untersuchungen dazu durchgeführt -, dass in mehr als
90 Prozent aller Fälle die Durchführung der Regelbesteuerung für den Steuerpflichtigen günstiger ist. Das
ist aber der Sinn einer Pauschalregelung. Wenn Sie
100 Prozent erreichen wollen, bekommen Sie keine Pauschalregelung zustande.
Was ist mit den Vermögen, die in den letzten zehn
Jahren angewachsen sind oder überhaupt erst in den letzten zehn Jahren in die Schweiz verbracht worden sind?
Dort wird ein höherer Prozentsatz auf das Kapital erhoben, aus genau diesem Grund, damit man nämlich auch
den Teil erfasst, der möglicherweise in der Substanz der
Besteuerung liegt. Es kann auch die Erbschaftsteuer gewesen sein, die hinterzogen wurde.
Wir haben noch gar nicht darüber diskutiert, dass in
der Zukunft, wenn der Steuerpflichtige verstirbt, entweder die Erbschaftsbesteuerung regulär durchgeführt
wird oder der höchstmögliche Erbschaftsteuersatz von
50 Prozent von der Schweizer Bank abgeführt wird.
({7})
Meine Damen und Herren, was wollen wir denn eigentlich mehr?
({8})
Wenn dies nicht der Fall ist, dann beendet die Schweizer
Bank ihre Geschäftsbeziehung mit dem Kunden. Die
Schweiz teilt uns mit, wohin die Vermögen verlagert
werden, damit wir mit den betreffenden Ländern Kontakt aufnehmen können. Sie haben ja diese sogenannte
Abschleichbewegung in den letzten Monaten zum großen Thema gemacht. Inzwischen haben wir uns belehren
lassen: Nur bei 0,5 Prozent der Vermögenswerte sind in
den letzten Monaten Konten aufgelöst worden. Das ist
der ganz normale Schwund; bei jeder Bank werden immer mal Konten aufgelöst. Also kann davon überhaupt
keine Rede sein. Darüber hinaus bekommen wir die Antwort, in welche Länder es abfließt, sodass wir in Zukunft
auch die entsprechenden Möglichkeiten haben.
Das Abkommen ist - auch diese wahrheitswidrige
Behauptung darf hier nicht unwidersprochen stehen bleiben - von der Kommission der Europäischen Union geprüft und für gut befunden worden. Es gibt keine Einwendungen aus dem europäischen Recht heraus. Das
heißt, Sie reden wider besseres Wissen, meine Damen
und Herren, und verunsichern die Menschen.
({9})
Die Alternative zu diesem Abkommen ist, dass die
Steueransprüche verjähren. Die Verjährungsfrist beträgt
in aller Regel zehn Jahre. Da 58 Prozent aller Depots
und Konten bereits länger als zehn Jahre bestehen, muss
jedermann wissen: Das meiste wird in kurzer Zeit verjährt sein. Entweder wird dieses Abkommen zum 1. Januar 2013 in Kraft treten, oder wir werden kein Abkommen haben. Dann wird weiterhin ein Zustand bestehen,
in dem wir die Besteuerung von Einkünften, die deutsche
Steuerpflichtige aus Kapitalvermögen in der Schweiz
haben, von Zufallsfunden und von der Zusammenarbeit
mit mehr oder weniger rechtsstaatlich einwandfreien Persönlichkeiten abhängig machen. Das kann doch nicht im
Sinne einer gesetzmäßig handelnden Verwaltung sein.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich
mit allem Ernst und in aller Ernsthaftigkeit: Wenn wir unsere Verantwortung für einen gerechten Vollzug der deutschen Steuergesetze einigermaßen wahrnehmen wollen,
dann erfüllen wir mit diesem Abkommen unsere Pflicht.
Deswegen werbe ich um Ihre Zustimmung zu diesem
Abkommen.
({10})
Hören Sie auf, aus vordergründigen parteistrategischen
Überlegungen Unbehagen gegen Banken, Steuerhinterziehung und was weiß ich zu schüren!
({11})
- Nein, nein, ich habe doch gar nichts dagegen. Ich sage
nur: Wenn Sie Steuerhinterziehung bekämpfen wollen,
müssen Sie dieses Abkommen in Kraft setzen.
({12})
Anderenfalls laden Sie die Verantwortung dafür auf sich,
dass wir auch weiterhin auf Zufallsfunde angewiesen
sind und unserer Verpflichtung, für die Gleichmäßigkeit
der Besteuerung und die Rechtsstaatlichkeit des Gesetzesvollzugs zu sorgen, nicht gerecht werden.
Dieses Abkommen wird zum 1. Januar in Kraft treten,
oder es wird gescheitert sein. Sie werden in absehbarer
Zeit kein anderes Abkommen bekommen. Sie werden
als Alternative zu diesem Abkommen haben, dass die
Steueransprüche verjähren.
Das Bundesfinanzministerium hat nie von 10 Milliarden Euro gesprochen; davon haben wir überhaupt nichts
gesagt.
({13})
- Nein, ich erkläre es Ihnen doch. Herr Kollege Poß, ich
kann es Ihnen genau erklären. Wir haben mit der
Schweiz verabredet, dass die Schweizer Banken bei Abschluss des Abkommens eine anzurechnende Vorauszahlung, die gilt und definitiv ist, von 2 Milliarden Schweizer
Franken leisten werden. Großbritannien hat ein ähnliches
Abkommen mit der Schweiz. Großbritannien bekommt
eine Vorauszahlung Schweizer Banken in Höhe von
500 Millionen Schweizer Franken. In Großbritannien hat
man eine bestimmte Summe, die man dort aus der rückwirkenden Besteuerung erwartet, in den Haushalt eingestellt. Wenn man die britischen Zahlen mit vier multipliziert, was nach der Logik einigermaßen richtig sein
könnte, dann kommt man auf einen Betrag, Herr Kollege
Poß, der größer als 10 Milliarden Euro ist. Nur dies haben wir gesagt. Wir selber haben nichts anderes als die
2 Milliarden Schweizer Franken in unsere Planungen
eingestellt. Alles andere warten wir ab.
Aber darüber hinaus ist klar: Für die Zukunft werden
wir die normalen Kapitalertragsteuern aus der Schweiz
genauso abgeführt bekommen, wie wir sie auch von
deutschen Banken bekommen. Wenn Sie das Abkommen scheitern lassen, dann werden wir auch für die Zukunft allenfalls auf Zufallsfunde angewiesen sein. Das
ist nicht zu verantworten. Deswegen werbe ich mit allem
Ernst und in aller Sachlichkeit um Ihre Zustimmung zu
diesem Abkommen.
({14})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Schäuble, ich habe mich gemeldet, weil Sie davon
gesprochen haben, man solle mit seinen Nachbarn respektvoll umgehen. Ich rate sehr dazu. Aber dazu passt
es nicht, dass Sie diejenigen, die sich in Deutschland darum bemühen, Steuerhinterziehung zu verfolgen, zum
Beispiel den nordrhein-westfälischen Finanzminister,
hier in Ihrer Rede klandestin und hintenherum der Zusammenarbeit mit Kriminellen bezichtigen. Das ist keine
Zusammenarbeit mit Kriminellen, sondern Strafverfolgung.
({0})
Wenn Sie sich heute hier einer Garantiesumme von
2 Milliarden Euro rühmen, dann muss ich Sie darauf hinweisen, dass diejenigen, die Sie der Zusammenarbeit mit
Kriminellen zeihen, durch den Ankauf von Steuer-CDs
mittlerweile fast das Doppelte für den deutschen Steuerzahler hereingeholt haben. Das sollte Ihnen zu denken
geben.
({1})
Sie haben schon 2009 einer Bundesregierung angehört. Im Jahre 2009 war die Bundesregierung beim G-20Gipfel in London vertreten. Sie haben ein Schlusskommuniqué verabschiedet. Darin steht wörtlich: „Die Ära
des Bankgeheimnisses ist vorbei.“ Aber das Abkommen,
das Sie heute vorlegen, ist nichts anderes, als eine überlebte Ära mit aller Gewalt in die Zukunft zu retten.
({2})
Ich sage Ihnen eines: Sie überantworten den Vollzug
deutscher Steuergesetze Banken wie der UBS und der
Credit Suisse, die in diversen Verfahren in den USA, in
Frankreich und auch in Deutschland der Beihilfe zur
Steuerhinterziehung nicht nur bezichtigt, sondern auch
überführt worden sind. Was ist das für eine Vorstellung
von Rechtsstaatlichkeit, Herr Minister?
({3})
Bis heute habe ich gedacht, Sie wären ein großer
Europäer.
({4})
Aber Ihre Haltung, mit der Schweiz ein bilaterales Abkommen abzuschließen, führt dazu, dass die Umsetzung
der europäischen Zinssteuerrichtlinie von Österreich und
Luxemburg mehr und mehr infrage gestellt wird.
Sie sagen, man solle respektvoll mit den Nachbarn
umgehen. Auch ich bin der Auffassung, dass man respektvoll mit der Schweiz umgehen sollte. Aber mit einem sollte man keinen Schindluder treiben: mit der
Freundschaft und der guten Nachbarschaft zu Frankreich. Was Sie mit diesem bilateralen Abkommen angefangen haben, ist eine Absage an Europa. Das ist nicht
im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und nicht
im Interesse von Europa.
({5})
Der Herr Bundesminister zur Antwort.
Herr Kollege Trittin, ich habe eine lange parlamentarische Erfahrung und habe meine Vorstellungen vom
Sinn der parlamentarischen Kurzintervention und davon,
was nicht ihr Sinn ist. Ich weiß auch, dass es zurzeit in
Parteien Mitgliederbefragungen und Ähnliches gibt.
Aber lassen wir das einmal dahingestellt,
({0})
obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob man das unbedingt miteinander vermischen sollte.
({1})
- Herr Kollege Trittin, wissen Sie: Ich bin vom Inhalt Ihrer Ausführungen wenig beeindruckt. Jeder hat gehört,
was Sie hier gesagt haben. Jeder hat auch gehört, was Sie
vorher gesagt haben.
Ich habe gesagt, dass es besser ist, wir setzen den
Vollzug unserer Gesetze durch, die wir verabschiedet haben, die aber von Ihrer Fraktion infrage gestellt werden;
denn Ihr Kollege hat gesagt, es sei ganz schlimm, dass
wir eine Abgeltungsteuer, die Kapitalertragsteuer, haben.
Herr Kollege Trittin, das ist aber geltendes Recht. Dieses
Gesetz ist vom Deutschen Bundestag mit Zustimmung
des Bundesrats so beschlossen worden. Es ist in Kraft; es
gilt.
Da wir nun verpflichtet sind, den rechtmäßigen Vollzug, die Steuergerechtigkeit sicherzustellen, ist es richtig, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz auch auf Steuerpflichtige, die ihr Kapitalvermögen in der Schweiz
haben, angewandt wird. Dies sichert dieses Abkommen,
und wenn das Abkommen nicht zustande kommt, dann
ist der Vollzug der Gesetze in der Schweiz nicht sichergestellt. Dann ist man - auch das habe ich gesagt - auf
Zufallsfunde und auf eine entsprechende Zusammenarbeit angewiesen. Ich habe nicht irgendeinen Kollegen
der Zusammenarbeit mit Kriminellen bezichtigt, sondern
ich habe gesagt: Wir sind beim Vollzug der Gesetze.
Ich habe an solchen Entscheidungen, Daten anzukaufen, mitgewirkt. Aber das ist die schlechtere Lösung.
Herr Kollege Trittin, die bessere Lösung ist, dass wir uns
bemühen, durch Gesetze und Verträge sicherzustellen,
dass Regeln allgemein und rechtsstaatlich einwandfrei
angewandt werden. Wenn Sie dagegen sind, dann ist das
Ihre Position. Ich rate jedem, die Position der Bundesregierung und der Koalition einzunehmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Martin Gerster hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Bundesminister Schäuble, Sie haben
davon gesprochen, dass wir respektvoll mit der Schweiz
umgehen sollen. Wir gehen respektvoll mit der Schweiz
um. Ich glaube nicht, dass der Konflikt zwischen der
Schweiz und Deutschland besteht. Die Konfliktlinie ist
vielmehr eine ganz andere. Da gibt es auf der einen Seite
die ehrlichen Steuerzahler bei uns, die ihren Beitrag zu
einem funktionierenden Gemeinwesen leisten. Da gibt
es auf der anderen Seite die Steuerkriminellen und ihre
Hintermänner und zuweilen eben auch die Schweizer
Kreditinstitute, die einen Beitrag dazu leisten, dass Steuerhinterziehung überhaupt stattfinden kann. Das ist doch
die Konfliktlinie.
({0})
Sie mahnen einen respektvollen Umgang an. Ich sage
Ihnen: Auch die Sachverständigen im Finanzausschuss
und auch unsere Beamten, die sich äußern und ihre Meinung kundtun, haben einen Anspruch darauf, fair und respektvoll behandelt zu werden. Aber was wir in der Anhörung und anschließend auch in den Beratungen im
Finanzausschuss erlebt haben, ist alles andere als respektvoll gewesen; denn dort wurden die Sachverständigen, die Kriminalbeamten und die Steuerbeamten von
den Regierungsfraktionen diskreditiert.
({1})
In dem Bericht des Finanzausschusses, Frau Vorsitzende Reinemund, heißt es:
In der Anhörung zum Gesetzentwurf habe es auch
- so sagen es Union und FDP kritische Stimmen gegeben.
- Immerhin, Sie gestehen das wenigstens ein.
Dies sei z. B. bei Vertretern der Steuergewerkschaft
und dem Bund Deutscher Kriminalbeamter aus deren Perspektive auch zu erwarten gewesen. Ein entsprechendes Abkommen mit der Schweiz führe zu
einer Aufgabenminderung bei diesen Gruppen, was
deren kritische Haltung selbstverständlich mache.
Es ist unglaublich, wie die Regierungsfraktionen, wie
Schwarz-Gelb die eigenen Beamtinnen und Beamten
und ihre sachkundige Meinung diskreditieren. Das darf
doch wohl nicht wahr sein!
({2})
Warum soll es zu einer Aufgabenminderung kommen? Sie haben doch selbst die Bedingungen mit ausgehandelt, die dazu führen, dass sie enorme Einschränkungen bei der Ermittlung von Steuerhinterziehung in Kauf
nehmen müssen. Das ist doch die Wahrheit. Deshalb war
im Finanzausschuss von den Sachverständigen eine derart kritische Meinung zu hören.
Nächster Punkt. Auch wir Parlamentarier, Herr
Minister Schäuble, haben einen Anspruch auf respektvollen und ehrlichen Umgang. Ich wundere mich sehr,
wie hier mit Zahlen gespielt wird. Kurz vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen haben wir gehört, was
diese Steuerabkommen für unsere Kassen bringen sollen.
({3})
Es wurde für jedes Bundesland detailliert aufgelistet,
wie hoch die Mehreinnahmen wären. Als wir im Finanzausschuss nachgefragt haben, sagte Staatssekretär
Koschyk, eine Berechnung sei überhaupt nicht möglich.
Zwischendurch hören wir wieder, dass es 10 Milliarden
Euro Steuereinnahmen sind und dass wir Sozialdemokraten darauf doch nicht verzichten könnten,
({4})
weil wir inzwischen in so vielen Bundesländern regieren
würden. Ich kann nur sagen: Gut, dass wir Sozialdemokraten wieder in so vielen Bundesländern regieren. Herr
Schäuble, mit solchen Zahlenbeispielen können Sie uns
jedenfalls nicht davon überzeugen, diesem Steuerabkommen zuzustimmen.
({5})
Wesentliche Gründe dafür, warum wir dem Abkommen nicht zustimmen können, sind, dass die Anonymität
der Steuerhinterzieher gewahrt bleibt, dass es sanktionslos bleibt und dass man bis zum Ende des Jahres noch
Zeit hat, seine Gelder in andere Steueroasen zu verschieben. Das ist das sogenannte Abschleichen.
Herr Schäuble, Sie haben gesagt - ich habe es mir
aufgeschrieben -, Sie hätten sich beraten lassen. Ich
frage mich: Von wem haben Sie sich beraten lassen und
diese Zahl, 0,5 Prozent, erfahren? Das würden wir schon
sehr gerne wissen. Wir haben den Eindruck, dass Sie in
dieser ganzen Angelegenheit die falschen Berater haben.
({6})
Anders kann man gar nicht auf die Idee kommen - auch
mit Blick auf die Zukunft Europas -, ein solches Steuerabkommen abschließen zu wollen.
({7})
Für die SPD bleiben unter dem Strich viele Gründe,
warum wir dieses Steuerabkommen ablehnen. Ich kann
nur hoffen - das sage ich auch im Namen meiner Fraktion -, dass sich im Bundesrat keine Mehrheit für dieses
Steuerabkommen findet.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Ab-
kommen vom 21. September 2011 mit der Schweizeri-
schen Eidgenossenschaft über Zusammenarbeit in den
Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom
5. April 2012. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11093, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 17/10059 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktio-
nen angenommen. Die Oppositionsfraktionen haben da-
gegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-
entwurf auf Verlangen der Fraktionen der SPD, der Lin-
ken und des Bündnisses 90/Die Grünen namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Fehlen noch Schrift-
führerinnen oder Schriftführer? - Das scheint nicht der
Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das trotz um-
fassender Möglichkeiten und eigenem Bemühen seine
Stimme bis jetzt noch nicht abgeben konnte? - Das
scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Ab-
stimmung.1)
Ich bitte Sie herzlich, die Gänge zu räumen und Ihre
Plätze wieder einzunehmen, damit wir in der Beratung
fortfahren können. Vielleicht hilft es, wenn ich Ihnen
mitteile, dass wir noch einige namentliche Abstimmungen vor uns haben und dass sich durch den relativ großen Zeitverzug die Abendtermine verschieben können.
Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Wir kommen
zu den Entschließungsanträgen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11152? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt. Enthalten haben sich Linke und Bündnis 90/Die
Grünen. Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/11153. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion und die Linke. Die SPD
hat sich enthalten. Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Tobias Lindner, Beate WalterRosenheimer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaft im Umbruch - Wandel ökologisch,
sozial und europäisch gestalten
- Drucksache 17/11162 ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ({1}),
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Chancen nutzen - Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt einleiten
- Drucksachen 17/8346, 17/8642 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. Damit sind Sie einverstanden? - Dann verfahren
wir so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Kerstin Andreae für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ludwig Erhard hat gesagt: Wirtschaft ist zu 50 Prozent
Psychologie. - Dieser Satz wird von Wirtschaftsministern und von der FDP gerne zitiert. Meinetwegen, dann
ist es halt zu 50 Prozent Psychologie, aber dann entfallen
immer noch 50 Prozent darauf, etwas zu tun. Das Einzige, was man bei diesem Wirtschaftsminister und dieser
Koalition im Bereich der Wirtschaftspolitik erkennen
kann, ist 100 Prozent Stillstand:
({0})
keine steuerliche Forschungsförderung, kein besserer
Zugang zu Wagniskapital. Der Bürokratieabbau stockt.
Seit Juli 2011 sind rund 1,1 Milliarden Euro Bürokratie-
kosten durch neue Gesetze entstanden.
Eines dieser neuen Gesetze umfasste im Übrigen die
von uns unterstützte Anerkennung ausländischer Berufs-
abschlüsse. Dieses Gesetz gilt seit April dieses Jahres. 1) Ergebnis Seite 24325 A
Sie waren damals davon ausgegangen, dass ungefähr
300 000 Menschen von diesem Gesetz profitieren werden. Seit Inkrafttreten des Gesetzes sind 270 Personen
zusätzlich in Deutschland angekommen, so die Zahlen
des DIHK.
({1})
Wenn Sie bei diesem Tempo bleiben, brauchen Sie noch
625 Jahre, um die Zahl 300 000 zu erreichen. Erzählen
Sie mir nicht, dass Sie hier kraftvoll gegen den Fachkräftemangel und für die Erleichterung bei der Zuwanderung
handeln.
({2})
Vor einem Jahr hat die Zeitschrift Cicero den Wirtschaftsminister Rösler zu einem der Absteiger des Jahres
erklärt. Die Überschrift dieses Artikels war: „Keine einzige große Idee“. Ich hatte damals gehofft, dass vielleicht etwas passieren wird. Wenn ich mir aber anschaue,
was dann wirtschaftspolitisch geschehen ist, muss ich in
der Tat sagen: Da gibt es keine einzige große Idee. Sie
ruhen sich auf dem Argument mit der Psychologie aus,
haben aber keine Vorstellung davon, wo und wie wir
weitermachen sollten. Sie haben keine große Idee.
Ökologische Modernisierung kann die industrielle Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland werden; das wäre eine große Idee.
({3})
Darum geht es in dem Antrag, den wir Ihnen heute vorlegen. Die Wirtschaft steht vor einem tiefgreifenden
Wandel, sie befindet sich im Umbruch. Ein Wirtschaftsminister muss diesen Umbruch zum einen erkennen - er
muss ihn zum Teil auch einfordern -, zum anderen muss
er ihn begleiten, ihn in allen Bereichen durchdeklinieren.
Dann nimmt ein Wirtschaftsminister seine Aufgabe
wahr.
Zurück zur Ökologie. Traditionelles Wirtschaften mit
diesem gigantischen Rohstoffhunger, mit diesem gigantischen Energiehunger ist nicht zukunftsfähig. Den Zahlen für die EU 27 können Sie entnehmen, dass wir ein
Außenhandelsdefizit in Höhe von 120 Milliarden Euro
haben, auch aufgrund der Importe von Rohstoffen. Wir
sind auf dem falschen Pfad. Wir verbrauchen zu viel.
Wir brauchen eine Antwort darauf, wie wir von diesem
falschen Wirtschaftsmodell wegkommen.
({4})
Sie kennen den Kampf des Wirtschaftsministers gegen die Energieeffizienzrichtlinie. Wir müssen aber endlich eine Strategie entwickeln, wie wir im Bereich Rohstoffeffizienz, im Bereich Energieeffizienz und im
Bereich Einsparungen wirklich vorangehen können, und
dies nicht etwa nur deswegen, weil Rohstoffe und Energie so teuer geworden sind, sondern weil dies wirtschaftliche Perspektiven und Chancen für neue Jobs bietet.
Von einem Wirtschaftsminister hätte ich erwartet, dass er
eine große Idee entwickelt, wie wir dieses Land zukunftsfähig aufstellen. Aber hier herrscht bei Ihnen absolute Fehlanzeige.
Wir werden immer weniger innovativ. Wenn Sie sich
den Innovationsindikator anschauen, können Sie genau
erkennen: Deutschland rutscht ab. Uns fehlen die Ideen,
die Innovationen, uns fehlt kraftvolles Handeln, obwohl
wir vorangehen und große Ideen entwickeln müssen. Sie
ziehen sich immer darauf zurück, Wirtschaft sei zu
50 Prozent Psychologie. Das ist viel zu wenig. Diese
große Idee, die ich geschildert habe, scheint leider viel
zu groß für Sie zu sein.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zuerst auf Frau Andreae eingehen. Wenn ich
das richtig gesehen habe, wird unsere erfolgreiche Regierungsarbeit in Ihrem Antrag als „Stillstandspolitik“
bezeichnet.
({0})
Was verstehen Sie unter Stillstand? Verstehen Sie unter Stillstand, dass wir in den letzten Jahren die höchsten
Wachstumsraten der Wirtschaft seit der Wiedervereinigung hatten? Ist Stillstand, dass wir mit 41,5 Millionen
Menschen die höchste Beschäftigungsquote in Deutschland überhaupt haben? Ist Stillstand, dass wir die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa haben? Ist Stillstand, dass die Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64Jährigen in den letzten zehn Jahren von 38 Prozent auf
60 Prozent gestiegen ist? Ist Stillstand, dass wir die
höchsten F-und-E-Ausgaben in der Geschichte der Bundesrepublik haben? Liebe Frau Andreae, da muss einer
von uns etwas falsch verstanden haben. Eine solche Bedeutung des Begriffes „Stillstand“ finden Sie im Duden
nicht.
({1})
Wenn man sich genau anschaut, was Sie in Ihrem Antrag fordern, findet man viele gute Dinge; da will ich gar
nicht widersprechen. Sie fordern zum Beispiel, dass der
Zugang zu Wagniskapital erleichtert wird. Diese Auffassung teilen wir. Mit dem Haushaltsentwurf wollen wir
erreichen, dass für die nächsten vier Jahre eine Wagniskapitalförderung von 150 Millionen Euro bereitgestellt
wird. Gefördert werden private Investoren. Insbesondere
Business Angels und jungen innovativen Unternehmen
soll Beteiligungskapital zur Verfügung gestellt werden.
Insoweit haben wir die Dinge schon gemacht, bevor Sie
Ihren Antrag geschrieben haben.
Dann sprechen Sie viel von Binnenmarkt, von Kaufkraft und davon, was man da alles stärken sollte. Sie haben in den nächsten Tagen und Wochen noch Gelegenheit dazu, sich zu beweisen und genau dies mit uns
gemeinsam zu tun. Wir haben verabschiedet, dass der
Grundfreibetrag im nächsten Jahr erhöht werden soll.
Wir haben verabschiedet, dass die Menschen in diesem
Land von den Lohnerhöhungen auch etwas spüren sollen, indem die kalte Progression, letztlich die kalte Enteignung, abgemildert wird. Der entsprechende Gesetzentwurf liegt im Bundesrat. Sie können dafür sorgen,
dass nicht nur Baden-Württemberg, sondern der Bundesrat insgesamt zustimmt. Dann haben wir eine effektive
Steuerentlastung der kleinen und mittleren Leistungsträger und eine größere Wirksamkeit des Inflationsausgleichs.
({2})
Sie sprechen über den Abbau von Bürokratie. Auch
da können wir gemeinsam viel erreichen. Wir haben auf
den Weg gebracht, dass die steuerlichen Aufbewahrungsfristen in einem ersten Schritt auf acht Jahre, dann
auf sieben Jahre und in einer längeren Perspektive auf
fünf Jahre verkürzt werden.
({3})
Das ist das größte Bürokratieabbauprogramm, das man
sich für die Freien Berufe, für das Handwerk und für den
Mittelstand vorstellen kann. Es entfaltet auch eine psychologische Wirkung. Wir freuen uns daher auf Ihre Zustimmung zum Jahressteuergesetz, das demnächst im
Bundesrat zur Abstimmung ansteht.
Sie fordern im energetischen Bereich Nachhaltigkeit
und andere Dinge mehr. Auch da können Sie mitmachen,
indem Sie damit aufhören - ihre Verweigerung können
wir nicht mehr länger akzeptieren -, die steuerliche Abzugsfähigkeit der energetischen Sanierung im Bundesrat
zu blockieren. Dies tun Sie seit knapp eineinhalb Jahren,
obwohl Sie im letzten Jahr zusammen mit den Bundesländern dem Energieprogramm zugestimmt haben. Deshalb werden wir jetzt im Interesse der energetischen Sanierung, im Interesse der von Ihnen angesprochenen
Nachhaltigkeit Ersatzmaßnahmen auf den Weg bringen.
Wir werden andere Möglichkeiten schaffen, durch die
wir diese Zielgruppe erreichen. Dies wird leider nicht
mit steuerlichen Entlastungen und der Schaffung von
Abzugsmöglichkeiten verbunden sein, weil Sie es verhindern. Das müssen Sie den Menschen draußen sagen.
({4})
Sie sprechen auch den Arbeitsmarkt an. Da hätten Sie
heute schon - ein paar Tagesordnungspunkte zuvor,
nämlich bei der Erhöhung der Grenze für Minijobs von
400 auf 450 Euro - Gelegenheit gehabt, Nägel mit Köpfen zu machen. Ihre Redner haben aber nicht nur dagegen gesprochen, sondern Ihre Fraktion hat heute dagegen gestimmt, dass die Minijob-Beschäftigten einen
Inflationsausgleich bekommen. Sie haben dagegen gestimmt, dass sie einen Reallohnzuwachs von 400 auf
450 Euro erfahren. Sie haben dagegen gestimmt, dass
zukünftig eine Erhöhung der sozialen Sicherheit durch
eine automatische Rentenversicherungspflicht erreicht
werden kann. Sie haben für mehr Schwarzarbeit gestimmt, indem Sie dies alles abgelehnt haben. Das ist für
mich nicht die Beschäftigungs- und Arbeitsförderung,
die ich mir vorstelle und die Sie in Ihrem Antrag mit vielen wolkigen Worten beschreiben.
({5})
Sie haben bei einem der vorherigen Tagesordnungspunkte gegen eine Senkung der Rentenbeiträge gestimmt. Dabei ist das im Bereich der Sozialversicherung
das größte Programm zur Stärkung des Binnenkonsums,
das wir für das nächste Jahr auf den Weg bringen können. Die Menschen, die arbeiten und in die Rentenversicherung einzahlen, müssen weniger Beiträge zahlen und
haben dadurch mehr Geld zur Verfügung. Sie können
entweder konsumieren oder vielleicht auch entsprechend
privat vorsorgen. Aber Sie sind dagegen.
Sie sind auch gegen höhere Rentenerhöhungen. Ein
komplizierter Mechanismus, den Sie kennen, Frau
Andreae, führt nämlich dazu, dass die Renten im nächsten Jahr sogar überproportional steigen.
({6})
Aber dieses Signal für mehr Binnenkonsum, Wachstum
und Beschäftigung, das mit Blick auf Europa wichtig ist,
geht von Ihnen nicht aus.
({7})
Sie unterstellen uns - damit komme ich zum
Schluss - Engstirnigkeit. Dabei haben Sie anscheinend
wenig von Technologieoffenheit gehört. Sie sprechen
viel von Nachhaltigkeit - ich hätte es zählen können,
habe aber irgendwann aufgehört -, von Zukunftstechnologien, von Nanotechnologie, Biotechnologie und Gentechnologie. Andere Begriffe finden wir in Ihrem Antrag
für Wachstum und Beschäftigung aber nicht.
Insofern kann ich nur feststellen und zum Abschluss
Churchill zitieren - das darf ich noch schnell machen -:
Sie kommen jetzt schon zum zweiten Mal zum Abschluss.
Es gibt Leute, die halten Unternehmer für einen
räudigen Wolf, den man totschlagen müsse, andere
meinen, der Unternehmer sei eine Kuh, die man ununterbrochen melken kann. Nur ganz wenige sehen
in ihm das Pferd, das den Karren zieht.
Wir sehen das Pferd, das den Karren zieht.
Herr Kollege.
Die ganz Linken wissen nicht, was sie sehen, und Sie
sind wohl irgendwo dazwischen.
Vielen Dank.
({0})
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
zum Entwurf des Gesetzes zum Abkommen mit der
Schweiz auf den Drucksachen 17/10059 und 17/11093
bekannt: abgegebene Stimmen 569. Mit Ja haben gestimmt 312 Kolleginnen und Kollegen,
({0})
mit Nein haben gestimmt 256, und es gab 1 Enthaltung.
Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 568;
davon
ja: 311
nein: 256
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Jens Spahn
Carola Stauche
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({23})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({24})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({25})
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({26})
Michael Link ({27})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({28})
Burkhardt Müller-Sönksen
({29})
Dirk Niebel
({30})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Serkan Tören
({31})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({32})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({33})
Klaus Brandner
Willi Brase
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({34})
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({35})
Hubertus Heil ({36})
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({37})
Frank Hofmann ({38})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({39})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({40})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({41})
({42})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({43})
Bernd Scheelen
({44})
Werner Schieder ({45})
Ulla Schmidt ({46})
Carsten Schneider ({47})
Swen Schulz ({48})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({49})
Uta Zapf
Brigitte Zypries
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({50})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({53})
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({54})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({55})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({56})
Manuel Sarrazin
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({57})
Wolfgang Wieland
Enthalten
SPD
Hans-Ulrich Klose
Wir kommen zurück zu unserer Debatte, und ich gebe
das Wort dem Kollegen Ingo Egloff für die SPD-Fraktion.
({58})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Pfeiffer, Sie haben hier eben versucht,
deutlich zu machen, dass es keinen Stillstand in der
Wirtschaftspolitik gibt. Wenn Sie aber mit den Betroffenen reden, beispielsweise mit der Energiewirtschaft oder
der Industrie, dann erzählen sie Ihnen etwas ganz anderes. Sie haben nämlich das Gefühl, dass Sie sowohl in
der Energiepolitik als auch in der Industriepolitik keinen
Plan haben, wo es hingehen soll. Sie, die Sie sich immer
so gerieren, als seien Sie die Parteien der Wirtschaft,
sind an dieser Stelle eine einzige Enttäuschung für die
deutsche Wirtschaft.
({0})
Sie stellen sich hier hin und sagen, das Steuergesetz,
das im Bundesrat liegt, würde die kalte Progression beseitigen. Wenn Sie die kalte Progression wirklich beseitigen wollen, dann müssen Sie 30 Milliarden Euro in die
Hand nehmen. Dieses Geld haben Sie bzw. hat dieser
Staat nicht, um es in die Hand zu nehmen.
Sie haben weiße Salbe verteilt, nur um Ihren Koalitionspartner zu beruhigen. Sie wissen selber, dass diejenigen, die ein kleines Einkommen haben, nur so viel von
dieser Steuerreform profitieren, dass sie sich davon eine
Currywurst kaufen können, aber nur dann, wenn sie zwei
Monate lang sparen. Das bewirkt das Gesetz, das im
Bundesrat liegt.
({1})
Lassen Sie uns zu dem Antrag der Grünen zurückkommen. Ich meine, der Antrag weist in die richtige
Richtung. Ich finde es gut, dass wir hier die Gelegenheit
haben, einmal grundsätzlicher über die Frage zu diskutieren, in welche Richtung sich die Wirtschaft in diesem
Land, aber auch in Europa entwickeln soll.
Ich will hier nicht alle Bereiche aufgreifen. Das wäre
viel zu viel; dazu reicht die Zeit nicht. Ein paar Sachen
möchte ich aber herausgreifen.
Es ist kein Geheimnis, dass wir in vielen Bereichen
mit den Grünen übereinstimmen, wie zum Beispiel in
der Kritik an der nicht erfolgenden Energiewende durch
die Regierung. Wir Sozialdemokraten sind der Meinung,
dass die Bundesregierung die Energiewende endlich als
nationale Aufgabe begreifen muss und dass man nicht
dabei stehen bleiben und darauf hoffen darf, dass der
Markt es regeln wird. Der Markt wird es nämlich nicht
alleine regeln. Das sehen wir im Moment.
({2})
Wir möchten, dass es einen nationalen Ausbauplan
gibt, und es wäre auch wünschenswert, wenn es eine
staatliche Beteiligung an den Netzgesellschaften gäbe,
die sich dieser Energiewende dann auch annähmen.
Damit, dass Sie nach dem beschlossenen Atomausstieg ein Jahr lang nichts getan und bis zum heutigen Tag
noch nichts umgesetzt haben, obwohl zum Beispiel das
Konzept für den Anschluss von Offshoreanlagen seit
März abgestimmt vorliegt, zeigen Sie nur eines: Sie haben die Tragweite unserer gemeinsamen Entscheidung,
aus der Atomenergie und mittelfristig aus der fossilen
Energieerzeugung auszusteigen, nicht begriffen. Sie
wollen das wichtigste Industrieland Europas energiemäßig umsteuern, aber Sie haben keinen tragfähigen Plan.
Das ist weder zukunftsgerichtet noch nachhaltig.
({3})
Allerdings teilen wir auch nicht die pauschale Kritik
an der Ausnahme bestimmter Branchen bei den Netzleitungsgebühren. Wir sind jedoch der Auffassung, dass die
Ausnahmen, die die Regierung hier beschlossen hat, so
ausgeweitet worden sind, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung leidet. Trotzdem sind wir der Auffassung,
dass es richtig ist, energieintensive Industriebetriebe auszunehmen, die für die Wertschöpfungsketten in diesem
Land wichtig sind und sonst nicht konkurrenzfähig wären; denn wir wollen die ganzen Wertschöpfungsketten
hier in Deutschland. Wir wollen die Grundstoffindustrie
in Deutschland; denn wir wollen hier nicht abhängig sein
von anderen. Auch das ist ein Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit in der Wirtschaft.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
auch wenn wir viele Ihrer Forderungen teilen und sie
hier zum Teil ja schon selbst in Antragsform eingebracht
haben, drückt Ihr Antrag an einigen Stellen etwas aus,
was zumindest mir nicht gefällt.
Natürlich brauchen wir Forschungsförderung für den
Mittelstand. Ich finde es aber auch nicht schlimm, dass
ein Großkonzern Forschungsförderung erhält, wenn er
damit etwas Vernünftiges macht.
Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist es, dass wir
einerseits große Konzerne von Weltrang haben, andererseits aber auch viele Mittelständler, zum Teil auch solche, die als Hidden Champions auf dem Weltmarkt sehr
erfolgreich sind. Deshalb möchte ich an dieser Stelle
keinen Unterschied machen; denn nur gemeinsam ist der
Exporterfolg der deutschen Wirtschaft, ist das Ausschöpfen ihres Innovationspotenzials möglich.
Die SPD begrüßt ausdrücklich die Reindustrialisierungsstrategie der Europäischen Union. Wir wollen ein
Europa, das wieder Vorreiter bei Wettbewerbsfähigkeit
und Innovation wird. Wir wollen Produkte, die dem Ziel
der Ressourcenschonung und dem Klimaschutz verpflichtet sind. Wir wollen die Abhängigkeit von fossilen
Energieträgern überwinden. Aber wir wollen im Vergleich zu anderen Gegenden der Welt auch konkurrenzfähig sein.
({5})
- Darauf warten wir schon lange, Herr Breil.
({6})
- Schön wäre das ja. - Deshalb müssen wir europäische
Leitmärkte definieren, in denen wir erfolgreich sind, wo
wir in der Lage sind, auf dem Weltmarkt mitzuhalten.
Wir müssen eine gemeinsame europäische Industriepolitik formulieren. Leitmärkte sind unserer Meinung nach
zum Beispiel der Maschinenbau, der in Europa 10 Prozent der industriellen Wertschöpfung ausmacht und in
dem in Deutschland 870 000 Menschen beschäftigt sind,
die Luft- und Raumfahrtindustrie, die mit Airbus und
EADS jetzt schon ein Beispiel europäischer Industriekooperation ist.
Wir dürfen auch die Automobilindustrie nicht aus den
Augen verlieren, nicht nur, weil in Deutschland jeder
siebte Arbeitsplatz an dieser Branche hängt, sondern
auch, weil sich die Menschen in ihrer Mobilität nicht
werden einschränken lassen. Im Gegenteil: Auch in anderen Gegenden der Welt wird das Automobil eine zunehmende Rolle spielen. Deshalb brauchen wir im Gesamtinteresse des Klimaschutzes innovative Techniken
wie Brennstoffzellen und Elektromobilität. Deshalb
brauchen wir hier auch die Forschung in der deutschen
Industrie. Deswegen sollten wir auch die Automobilindustrie als einen der Leitmärkte ansehen.
({7})
Davon profitiert der Klimaschutz in der gesamten
Welt. Wir brauchen innovative Bahntechniken, und auch
der Bereich der Chemie- und Pharmaindustrie gehört zu
den sektoralen Leitmärkten, die für ein hohes Innovationspotenzial stehen.
Eine zukünftige europäische Innovationsstrategie benötigt neue Breitbandnetze. Hier steht Deutschland im
Vergleich zu anderen europäischen Ländern auf einem
hinteren Platz, was den Ausbau angeht.
({8})
Kommunikationsmöglichkeiten sind heute, insbesondere
für Mittelständler in ländlichen Regionen, der Schlüssel
zum Erfolg. Der Ausbau der europäischen Breitbandnetze, der Energienetze und der Bahnverbindungen ist
ein Baustein zum Erfolg der europäischen Reindustrialisierungspolitik.
Dieser Aspekt der europäischen Industriepolitik, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ist, auch wenn
Sie das in Ihrem Beitrag, Frau Andreae, angesprochen
haben, in Ihrem Antrag, ich nenne es einmal so: ein bisschen unterbelichtet. Industrie ist unseres Erachtens nicht
alte Wirtschaft. Industrielle Beschäftigung und Wertschöpfung haben dazu geführt, dass Deutschland besser
durch die Krise gekommen ist als andere Länder.
({9})
Industrielle Innovation ist auch der Schlüssel zum Erfolg bei Ressourceneinsparung und Energieeffizienz und
kann mit dazu beitragen, die Klimaschutzziele weltweit
zu befördern. Das ist eine echte Win-win-Situation.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die Wirtschaft nachhaltiger und klimafreundlicher zu gestalten.
Diese Debatte lohnt. Insofern kann das nur ein erster
Auftakt sein.
Vielen Dank.
({10})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Martin
Lindner das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Lieber Herr Kollege Egloff, aus Ihren Worten und auch aus
Ihrem Gesicht sprachen so deutlich wie nie zuvor die
ganze Frustration, Depression und Traurigkeit der Opposition, dass es Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht
so gut wie nie zuvor gegangen ist.
({0})
Nie so wenig Arbeitslosigkeit, nie so viel Zuwachs,
gerade im Binnenbereich, aber auch im Export, Lohnzuwächse, wie wir heute gelesen haben, gerade im unteren
Segment: Es macht Sie wirklich traurig, dass Sie keinen
wirklichen Ansatzpunkt für Ihre Kritik haben, sondern
sich an so einem lächerlichen Hokuspokus abarbeiten
und solchen Schimären nachjagen, wie Sie das gerade
getan haben.
Dem schließt sich auch dieser Antrag an. Frau Kollegin Andreae, Sie wollten mit den Forderungen Ihres Antrags die Wirtschaftskraft stärken. Sie beginnen mit einem ökologischen Umbau. Statt zu sagen: „Wir können
an der einen oder anderen Stelle etwas weiterentwickeln,
was in diesem Land erfolgreich ist“, wollen Sie gleich
umbauen. In Wahrheit wollen Sie nicht einen wirtschaftlichen Umbau, einen ökologischen Umbau haben, sondern einen wirtschaftlichen Abbau bewirken. Das ist der
zentrale Punkt Ihres Antrags.
({1})
Sie schreiben zum Beispiel davon, umweltschädliche
Subventionen abbauen zu wollen. In diesem Zusammenhang wagen Sie es, uns den Begriff „Lobbypolitik“ vorzuhalten. Wenn wir auf der anderen Seite hier Debatten
über die Energiepolitik führen, haben Sie überhaupt kein
Problem damit, dass aus der Opposition von SPD und
Grünen gleich drei Eurosolar-Lobbyisten aufmarschieren und deutlich machen, dass sie gar keine Volksvertreter sind, sondern pure Lobbyisten in diesen Fragen.
Dann sollten Sie sich mit diesen Worten wirklich deutlich zurückhalten. Das sage ich Ihnen an dieser Stelle
ganz deutlich.
({2})
Außerdem wollen Sie nachhaltige Finanzmärkte
schaffen. Dabei wollen Sie eine „Größenbremse für Banken einführen“. Herrschaften, wie viele Großbanken haben wir denn eigentlich in Deutschland? 80 Prozent der
deutschen Banken sind Genossenschaftsbanken, Sparkassen oder Landesbanken, an denen der Staat beteiligt
ist.
({3})
Hinzu kommt die teilverstaatlichte Commerzbank. Dann
bleiben noch 20 Prozent übrig. Die Hälfte davon sind
Kleinstbanken oder private Banken. Dann gibt es noch
die Deutsche Bank. Dann schreiben Sie doch gleich in
Ihren Antrag hinein, dass Sie das einzige große deutsche
Bankinstitut auch noch abschaffen wollen. Für eine
Volkswirtschaft mit dieser Bedeutung ist dies aber deutlich zu wenig. Es geht nicht nur mit Sparkassen und Regionalbanken, meine Damen und Herren. Das sage ich
Ihnen an dieser Stelle auch ganz deutlich.
({4})
Ihr Antrag enthält aber auch gute Ansätze. Dabei
möchte ich mich dem Kollegen Pfeiffer anschließen. Mit
Ihrer Forderung nach einer steuerlichen Forschungsförderung und einem besseren Zugang zu Wagniskapital
kämpfen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass wir Spielräume erarbeiten, dass wir an anderen Stellen kürzen
können, um diese wichtigen Projekte durchsetzen zu
können.
({5})
Dabei kann man auch etwas gemeinsam machen. Dazu
lade ich Sie ein.
({6})
Das geht aber natürlich nicht mit solchen Schaufensteranträgen.
({7})
Dr. Martin Lindner ({8})
Wenn Sie es mit diesem Antrag ernst meinten, dann würden Sie darauf hinwirken, dass dieser Antrag im Ausschuss beraten wird. Aber einen so umfangreichen Antrag hier vorzustellen und zur sofortigen Abstimmung zu
stellen, zeigt, dass Sie gar keine ernsthafte Debatte führen wollen, sondern dass Sie hier irgendetwas für Ihre
Klientel machen wollen. Mit seriöser Politik hat das aber
nichts zu tun.
({9})
Es fehlen zentrale Punkte und Punkte, denen Sie sich
in Ihrer Partei stellen müssen.
({10})
Erstens meine ich damit die Infrastrukturprojekte. Dabei
müssen Sie sich einmal zu Projekten bekennen - auch
wenn die Kugeln pfeifen -, die für die Fortentwicklung
und den Bestand dieser Industriegesellschaft eminent
sind. Das sind Projekte im Straßenverkehr, im Schienenverkehr und im Flugverkehr.
Wenn Sie der Meinung sind, es müsse überall restriktiv und einschränkend vorgegangen werden - hier keine
Startbahn, da keine Schienen, hier keine Autobahnverbindung, wobei Sie wegen 2 Kilometern Autobahn sogar
eine Koalition nicht eingehen -, dann erklären Sie doch
bitte auf der anderen Seite den Leuten, dass die Realisierung dieser ökologischen Politik mit erheblichen und
dramatischen Einbußen des Wohlstands dieses Landes
einhergeht.
Sagen Sie den Leuten, dass heute in einem Supermarkt etwa 10 000 Produkte verfügbar sind. Sagen Sie
ihnen, dass in den 70er- und 80er-Jahren noch 700 bis
800 Produkte verfügbar waren. Sagen Sie ihnen, dass es
sich nur noch Bestverdiener leisten können, in Feinkostläden einzukaufen, wenn Sie das realisieren, was Sie
realisieren wollen, Normalbürger an diesen Wohlstandserrungenschaften aber nicht mehr teilhaben. Sagen Sie
den Leuten, dass Fliegen dann nur noch für Topverdiener möglich ist, wie dies in den 50er- und 60er-Jahren
der Fall war. Sagen Sie ihnen, dass Mallorca dann nicht
mehr drin ist. Sagen Sie den Leuten die Wahrheit. Dies
ist manchmal besser, als es in Ihrem Soziologendeutsch
immer wieder zu verklausulieren.
({11})
Worauf Ihr Ansinnen hinausläuft und was Ihre wichtigsten Fragen sind, das erwähnen Sie am Anfang Ihres
Antrags - dies ist der ökologische Umbau - sowie am
Ende Ihres Antrags. Am Ende Ihres Antrags fallen aber
nur noch Schlüsselworte, die Sie für wichtig halten, die
aber nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun haben: Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft, Geschlechterquote, Benachteiligungen, Mindestlohn, Mitbestimmung
und Equal Pay. In irgendwelchen sozialpolitischen Anträgen mag das alles richtig sein. Sie erheben aber hier
den Anspruch, Wirtschaftspolitik zu betreiben. Das hat
mit Wirtschaftspolitik aber nichts zu tun. Das ist eine Art
Antimaterie zur Wirtschaftspolitik, meine Damen und
Herren.
({12})
Das lehnen wir ab. Mit uns wird es kein Programm
geben, das absichtlich zu Rezession in diesem Land
führt. Davon haben wir eine durchaus andere Vorstellung.
Der letzte Punkt: Wenn Sie wirklich einen Eindruck
davon bekommen wollen, was die Menschen in den kleinen Betrieben, den Familienbetrieben zurzeit bedrückt,
dann reden Sie mit ihnen über Ihre Lieblingsprojekte
Vermögensteuer und Vermögensabgabe. Dann kriegen
Sie einen Eindruck davon, was gerade Familienunternehmen, Schlosserbetriebe, Schreinerbetriebe und andere Handwerke davon halten, weil sie genau wissen
- das können Sie gerade in Frankreich studieren -: Wer
glaubt und postuliert, er würde den Reichen ans Fell gehen, wie Herr Hollande in unserem Nachbarland, der
kriegt aus der Millionärsteuer einen Ertrag von 250 Millionen Euro. Die Leute lesen das, und sie wissen genau,
dass es bei solchen Sachen nicht um Millionäre geht,
sondern dass einem ganz normalen Mittelständler und
der Mittelschicht das Fell über die Ohren gezogen werden soll. Darum geht es, und darüber werden wir auch
im kommenden Jahr die Auseinandersetzung sehr intensiv führen, meine Damen und Herren.
Wir stehen für Fortschritt. Wir stehen für Wachstum.
Wir wollen, dass Deutschland weiter stark bleibt. Sie
haben genau das Gegenteil vor. Dagegen werden wir
kämpfen.
Herzlichen Dank.
({13})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Kerstin Andreae vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
({0})
- Das ist richtig. Ich habe schon gesprochen. Aber ich
muss einen Punkt weit von mir weisen.
Sie hatten den Herrn Kollegen Egloff angesprochen,
es dann aber auf die Opposition insgesamt bezogen. Sie
haben gesagt, die Opposition würde sich freuen, wenn es
der Wirtschaft und den Menschen schlecht geht. Das
finde ich unglaublich. Wir alle sind Parlamentarier und
nehmen unsere Verantwortung und unsere Arbeit sehr
ernst. Eine Hauptaufgabe unserer Arbeit ist, dass wir
versuchen, zum Besten der Menschen, der Wirtschaft,
der Gesellschaft und der Umwelt zu handeln. Genau dies
tun wir und nehmen es für uns in Anspruch.
Deswegen bin ich erstens überhaupt nicht bereit und
weise es auf das Vehementeste von mir, wenn Sie uns in
der Opposition alleine oder in Gänze vorwerfen, dass
wir uns freuen würden, wenn es irgendjemandem
schlecht geht, um dann unsere Politik erklären zu können. Das weise ich auf das Allerschärfste von mir.
({0})
Zweitens will ich Ihnen sagen: Es ist doch nicht unsere Erfindung, dass wir uns in einem Strukturwandel
befinden und dass diese Regierung keine Antworten auf
diesen Strukturwandel hat. Der Ifo-Index ist zum sechsten Mal in Folge gefallen. Die DIHK-Unternehmensumfrage belegt verschlechterte Geschäftsaussichten. Die
Herbstprognose aus dem Hause Ihres Wirtschaftsministers Rösler musste wiederum nach unten korrigiert werden. Entschuldigung, hat das die Opposition erfunden,
oder sind das Zahlen aus Studien und Untersuchungen
oder aus dem Wirtschaftsministerium? Es sind Belege
dafür, dass sich der Wind dreht.
Wir fordern ein, dass Sie auf diesen Wandel reagieren, aber das tun Sie nicht. Das werfen wir Ihnen vor.
Das hat überhaupt nichts mit Freude über irgendetwas zu
tun, sondern das ist eine klare Analyse und Einforderung
von Handeln.
Danke schön.
({1})
Herr Kollege Lindner zur Erwiderung.
Frau Kollegin Andreae, ich unterstelle weder Ihnen
noch der gesamten Opposition, dass Sie sich freuen würden, wenn es Menschen schlechter geht.
({0})
- Nein. Das müssen Sie im Protokoll nachlesen. Dann
werden Sie sehen, dass ich sagte: Ihre Verzweiflung darüber, dass Sie keinen richtigen Ansatz finden, dieser
Regierung wirtschaftspolitisches Versagen vorzuwerfen,
({1})
ist Ihr Problem. Wir haben jeden Tag Zahlen, von denen
Sie, als Sie regierten, geträumt hätten.
({2})
Sie hatten maximale Arbeitslosigkeit. Sie hatten maximale Inflation. Das ist das, was Sie als rot-grüne Bundesregierung seinerzeit zusammengebracht oder auch
zusammengestümpert haben.
Natürlich verzweifeln Sie daran, dass selbst in einer
Abschwungphase, die eine ganz normale zyklische
Entwicklung darstellt, Erfolgsmeldungen kommen, etwa
dass Deutschland einer der attraktivsten Investitionsstandorte geworden ist und dass es in einem wachsenden
Prozess auch gelungen ist, beispielsweise Exportdefizite,
die wir im europäischen Bereich haben, im außereuropäischen Bereich auszugleichen. Das sind Erfolgsmeldungen. Ich rede nicht von Gutachten. Sie finden immer ein
paar griesgrämige Gutachten zu allem.
({3})
Sie müssen sich vielmehr an die volkswirtschaftlichen
Daten und an die echten Fakten und Zahlen halten statt
an das, was Ihnen Ihre Hausgutachter aufgeschrieben
haben. Das ist der entscheidende Punkt.
Sie müssen versuchen, in einer solchen Phase etwas
konstruktiver an die Dinge heranzugehen. Dass Sie jedes
Mal repetieren, dass die SPD ihren Anteil hatte, 2002
und 2003, als sie allmählich ihre Agenda-Politik machte,
ist schon peinlich. Es sind zehn Jahre verstrichen, und
jetzt - daran verzweifeln Sie natürlich - kriegen Sie
nichts mehr zustande. Jetzt machen Sie genau das
Gegenteil der Agenda-Politik. Sie wollen all das wieder
abräumen, was damals mit eine Ursache für die heutige
Situation gelegt hat. Sie sagen immer wieder: Das alles
hat mit der schwarz-gelben Regierung nichts zu tun. Das
waren alles wir, 2003. - Dass Sie es damals in den 50erJahren des letzten Jahrhunderts mit Ihren programmatischen Entwicklungen waren, die die Grundlagen gelegt
haben, das werden Sie uns demnächst auch noch vorhalten.
({4})
Die Wahrheit ist doch, dass es, seitdem diese Regierung im Amt ist, Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht gut geht. Ich lade Sie herzlich ein, mit uns um noch
bessere Lösungen zu ringen - wie beispielsweise bei der
steuerlichen Forschungsförderung oder beim Wagniskapital. Aber lassen Sie dieses lächerliche und unglaubwürdige Kassandragerufe! Das hat keinen Sinn. Das
glaubt Ihnen auch keiner. Versuchen Sie, Ihre wirtschaftsfeindliche Politik im Zaum zu halten! Sie stellen
auf der einen Seite einen Kandidaten auf,
({5})
der meint, mit Wirtschaftspolitik reüssieren zu können,
und auf der anderen Seite machen Sie genau das Gegenteil. Versuchen Sie erst einmal, Kandidat und Programm
zusammenzubringen! Dann reden wir hier über vernünftige Programme weiter.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Ulla Lötzer.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ach, wissen Sie, Herr Lindner, mit den Exporterfolgen heften Sie
sich vor allem die Ergebnisse der Wirtschaftspolitik der
Regierungen Chinas, Lateinamerikas und anderer Staaten als Ihre Erfolge an die Brust. Wenn der Abschwung
kommt, dann waren es wahrscheinlich die Märkte oder
sonst wer, aber nicht Sie. So simpel geht es einfach
nicht.
({0})
Frau Andreae, Sie haben recht, wenn Sie - im Gegensatz zu Herrn Lindner - sagen, dass wir einen grundlegenden Wandel der Wirtschaft brauchen. Dazu gehören
auch Verteilungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit
für alle; so schreiben Sie. Die Art, wie und was wir
arbeiten und wie wir wirtschaften, muss sich ändern. Natürlich brauchen wir auch, Herr Egloff, Maßnahmen zur
Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage.
Herr Pfeiffer und Herr Lindner, genauso richtig ist,
dass Sie in dieser Hinsicht restlos versagen. „Stagnation“ oder „Stillstand“ wäre ja noch ein Lob für das, was
Sie tun. Auf alle Herausforderungen hat Ihr Wirtschaftsminister, Herr Rösler, nur eine Antwort: „Der Markt
wird es richten“, statt den Wandel in Industrie und
Dienstleistungsbereich tatsächlich politisch zu gestalten.
({1})
Armut und Armutslöhne werden von Ihnen zementiert und ausgeweitet. Das und nichts anderes haben die
Debatten über Minijobs und Rente gezeigt. Sie blockieren die Energiewende, weil Sie die Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher hochtreiben und die
Hand über die großen Vier halten, statt dezentrale Energieerzeugung, kleine und mittlere Ansätze, Genossenschaften und anderes zu stützen.
({2})
Frau Andreae, auch wenn wir viele Forderungen und
Aspekte in dem von Ihnen vorgelegten Antrag teilen,
muss ich ein paar Tropfen Wasser in den Wein gießen.
Das betrifft vor allem: Gute Arbeit für alle. „Nach
30 Jahren Deregulierung liegt der Arbeitsmarkt in totaler
Unordnung, prekäre Beschäftigung und der Niedriglohnsektor nehmen zu“, schreibt der DGB in seinem Papier.
Sie aber weigern sich nach wie vor, den Bruch mit der
Agenda 2010 zu vollziehen.
({3})
Es war Ihre Politik, die zur Ausweitung von Niedriglöhnen, Leiharbeit und Minijobs geführt hat.
({4})
Hartz IV hat Armut und Zukunftsängste vorangetrieben.
Bis heute verweigern Sie die Rücknahme der Rente mit 67,
({5})
obwohl das Rentenkürzungen und Altersarmut vorantreibt. Angstfreiheit im Wandel sieht anders aus.
Statt immer mehr Reichtum für wenige wollen wir ein
gutes Leben für alle.
({6})
Das geht nur mit Umverteilung von Vermögen, Arbeit
und Einkommen.
Auf europäischer Ebene stützen SPD und Grüne die
Bundesregierung bei ihren Kürzungsprogrammen, die
die Menschen in Armut und Massenarbeitslosigkeit
treiben und die Krise verschärfen. Ein ökologisches
Investitionsprogramm für Europa ist richtig, aber nicht
zusätzlich zu Kürzungsprogrammen, sondern statt
Kürzungsprogrammen.
({7})
Gerade für Europa wären Festlegungen für einen neuen
sozialen Ausgleich und soziale Grundrechte wichtig.
Das fehlt mir bei Ihnen leider völlig.
Bei Herrn Lindner bleibt die Demokratie vor den
Werkstoren stehen. Das hat er mit dem, was alles seiner
Meinung nach nicht zur Wirtschaftspolitik gehört, deutlich gemacht.
Frau Andreae, ich meine, auch bei Ihnen kommt die
Frage der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu kurz. Sie sagen zwar, die betriebliche Mitbestimmung müsse gestärkt werden. Ich glaube aber, das
reicht nicht aus. Für die große Idee eines großen
Wandels braucht man viele Ideen zur direkten Bürgerund Bürgerinnenbeteiligung und zur Ausweitung von
Demokratie innerhalb und außerhalb des Betriebs und
auch gegenüber der Wirtschaft.
({8})
Bei diesen Punkten müssen Sie noch nachsitzen. Erst
dann wird aus dem Wandel tatsächlich ein grundsätzlicher sozialer und ökologischer Erneuerungswandel.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Lämmel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man sich den Antrag anschaut, dann stellt
man fest, dass das im ersten Moment ganz gut klingt.
Die Überschrift ist wie immer gut designt. Aber beim
genaueren Hinschauen fällt sofort auf: viele Zustandsbeschreibungen, langatmig geschrieben, Allgemeinplätze,
die jeden Tag in jeder Zeitung zu lesen sind.
({0})
Sie zählen eine Menge Dinge auf, Frau Andreae, die
längst erledigt sind.
({1})
Ich stelle mir manchmal die Frage, ob Sie im Wirtschaftsausschuss gar nicht anwesend sind, ob Sie den
Diskussionen dort nicht folgen können
({2})
oder ob Sie vielleicht die Beschlüsse, die wir im Wirtschaftsausschuss schon gefasst haben, überhaupt nicht
verinnerlicht haben.
({3})
Ein weiterer Punkt fällt mir bei den Grünen immer
mehr auf, nämlich dass Sie sich immer weiter von dem
Thema soziale Marktwirtschaft verabschieden. Ihnen
geht es im Wesentlichen um staatlichen Dirigismus, um
Planwirtschaft und vor allen Dingen um die Gängelung
der Unternehmen hier in Deutschland.
({4})
Von unternehmerischer Freiheit, unternehmerischer Motivation und den Fähigkeiten deutscher Unternehmer
kann ich in Ihrem Antrag nichts lesen.
({5})
Eine Überraschung gibt es trotzdem, Frau Andreae,
nämlich weil in Ihrem Antrag steht - das habe ich von
Ihnen noch nie gehört -: „Es gibt keine gute oder
schlechte Industrie.“ Das ist ja einmal eine neue Erkenntnis. Das ist richtig toll.
({6})
Denn wir haben früher immer genau gehört: Sie unterscheiden zwischen den Guten und den Schlechten. Die
Schlechten müssen weg, damit im Prinzip die Guten übrig bleiben.
({7})
Die chemische Industrie, die Automobilindustrie und
vor allem die Grundstoffindustrie waren für Sie ständig
rote Tücher.
Wenn man diesen Absatz weiterliest, kommt der
entlarvende Satz: „Diese klassische Klientelpolitik auf
Druck einflussreicher Lobbys geht zu Lasten unserer
Zukunft.“ Ich erinnere mich noch genau an die Diskussionen über das Erneuerbare-Energien-Gesetz, Frau
Andreae, in der die Lobbyisten der Solarindustrie, der
Windindustrie und weiterer Bereiche aufmarschierten
und die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verhindert haben. Selbst in Ihrer Partei und auch bei
der SPD ist man doch mittlerweile schon längst so weit,
zu erkennen, dass das EEG so, wie wir es heute haben, in
die Irre führt und klar zulasten der Zukunft geht, weil es
den Menschen enorme finanzielle Mittel aus der Tasche
zieht.
({8})
Nun noch zu einigen konkreten Punkten: Das Thema
Ressourceneffizienz ist kein Thema, das die Grünen in
die politische Diskussion geworfen haben, sondern
Ressourceneffizienz bewegt uns alle. Aber da fordern
Sie wieder die Handhabe des Staates. Sie wollen
Verbrauchsobergrenzen einführen. Sie wollen eine Preisgestaltung für Energie und Rohstoffe in Form einer sozial-ökologischen Steuerreform.
Sie sollten gelegentlich wieder einmal ein Unternehmen besuchen und nachschauen, was deutsche Unternehmer selbst unternehmen, um hohen Rohstoffpreisen
und hohen Energiekosten zu begegnen. Sie setzen nämlich von selbst auf Ressourceneffizienz und Energieeffizienz. Als Staat muss man die Wirtschaft nicht ständig
mit neuen Verordnungen und Gängelungen dahin bringen, sondern jeder Unternehmer, der im globalen Wettbewerb überleben will, muss das von sich aus machen.
Deswegen brauchen wir die Anträge der Grünen dazu
nicht.
Sie haben auch die Rohstoffstrategie der Bundesregierung überhaupt nicht gelesen und haben auch nicht
verstanden, worum es in der Rohstoffstrategie überhaupt
geht.
Dann zum Thema Innovationen: Das ist das wichtigste Feld für die deutsche Wirtschaft; denn ohne Innovationen wird man im globalen Wettkampf nicht bestehen können. Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass kleine
und mittlere Unternehmen von der Förderung nicht profitieren. Wo sind wir denn? Sie haben offensichtlich die
Haushaltsverhandlungen in der letzten Woche nicht mitbekommen. Dass Sie gegen den Haushalt und damit
auch gegen die Mittel für kleine und mittlere Unternehmen gestimmt haben, sei einmal dahingestellt. Offensichtlich haben Sie aber nicht mitbekommen, was sich in
den letzten Jahren getan hat. Es gibt das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand. Es geht hier nicht um die
Großindustrie, wie Sie es in Ihrem Antrag suggerieren.
Wenn Sie mit Unternehmern sprechen, dann stellen Sie
fest, dass alle sagen, dass das Programm, das nach dem
Konjunkturpaket II auf ganz Deutschland ausgeweitet
wurde, das unbürokratischste und das technologieoffenste ist, das es bisher in der Bundesrepublik
Deutschland gegeben hat. Dies ist doch ein toller Erfolg.
Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Seit 2005,
Frau Andreae, seit die Grünen also in die Opposition gegangen sind - das hat sich offensichtlich positiv ausgewirkt -, haben sich die Fördermittel, die direkt an die
KMU gegangen sind, mehr als verdoppelt, von einstmals
400 Millionen Euro auf über 1 Milliarde Euro. Dieses
Geld wurde in Innovationen, neue Produkte und neue
Verfahren gesteckt.
Meine Damen und Herren, der Antrag, in dem die
Grünen uns suggerieren wollen, dass sie etwas von Wirt24334
schaftspolitik verstehen, ist ein Rohrkrepierer; das muss
man so sagen. Er ist das Papier nicht wert, auf dem er
geschrieben steht.
({9})
Hätten Sie sich das geschenkt, hätten Sie dem Deutschen
Bundestag mindestens 50 Kilo Papier erspart und hätten
damit zur Ressourcenschonung in der Welt beigetragen.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11162
mit dem Titel „Wirtschaft im Umbruch - Wandel ökologisch, sozial und europäisch gestalten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung
von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Chancen nutzen - Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt
einleiten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8642, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8346 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht
- Drucksachen 17/10040, 17/10252 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/11119 Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausManfred ZöllmerBjörn SängerDr. Gerhard Schick
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD vor. Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Peter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, den wir heute in zweiter und dritter Lesung abschließend beraten, kommen wir ein großes Stück in Sachen Stärkung unseres Finanzsystems und der Verbraucherschutzinteressen in der Bundesrepublik Deutschland voran.
({0})
Die Finanzkrise hat uns deutlich gemacht, dass das Aufsichts- und Regulierungssystem in Deutschland, in
Europa und in der Welt nicht ausreichend war; denn
Fehlentwicklungen und systemische Risiken wurden zu
spät oder gar nicht erkannt. Wir von der christlich-liberalen Koalition haben uns daher seit Ausbruch der Krise
umfangreich mit der Stabilisierung, der Regulierung und
der Aufsicht über die Finanzmärkte auseinandergesetzt.
In dieser Legislaturperiode haben wir hier im Deutschen
Bundestag bereits knapp 20 Gesetze zur Bändigung und
Regulierung des Banken- und Finanzsektors auf den
Weg gebracht.
({1})
- Ich komme gleich noch zu Ihnen. - Neun weitere Gesetze sind in Arbeit und stehen kurz vor dem Abschluss.
Auf europäischer Ebene kommen etwa 70 Gesetzesinitiativen seit Anfang der Krise hinzu.
Angesichts des Einwurfs der SPD-Kollegin, es habe
alles nichts genutzt, komme ich auf den Vorschlag Ihres
Kanzlerkandidaten zu sprechen, der ein fulminantes
Konzept der Finanzmarktregulierung angekündigt hat.
Was sich jedoch dahinter verbirgt, ist eine Blase von
Maßnahmen, die bereits umgesetzt sind oder die sich auf
deutscher oder europäischer Ebene in der Umsetzung befinden.
({2})
Ich glaube, hier sollte sich die SPD zurückhalten. Wenn
das alles ist, was Ihr Kanzlerkandidat in petto hat, dann
kann ich nur sagen: Armes Deutschland!
({3})
Die christlich-liberale Koalition arbeitet verlässlich
an einer an Stabilität orientierten Finanzmarktregulierung und vor allem daran, dass die Finanzmarktregulierung nach den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft
funktioniert. Unser Bundesminister Wolfgang Schäuble
ist ein verlässlicher Partner für eine effektive und stringente Regulierung der Finanzmärkte. Vor kurzem hat er
bei einem Interview mit einer Zeitung Folgendes gesagt:
… ganz ohne Regeln und Grenzen geht es auch mit
Finanzmärkten nicht. Die zerstören sich selbst,
wenn sie keine Grenzen haben.
Das ist in der sozialen Marktwirtschaft unsere Aufgabe:
Regelungen auf den Weg zu bringen und Grenzen zu setzen, in denen sich die Banken und Kreditinstitute bewegen können.
({4})
Mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, stärken wir
die deutsche Finanzaufsicht und setzen weiterhin einen
effektiven Regulierungsrahmen für die Finanzmärkte. In
diesem Gesetzentwurf werden verschiedene Punkte abgearbeitet. Die Verbesserung der Aufsichtsstruktur ist
dabei ein wesentlicher Aspekt. Mit einem Ausschuss für
Finanzstabilität, der eingerichtet werden soll und der
analog zu dem auf europäischer Ebene tätigen Ausschuss für Systemrisiken arbeitet, versuchen wir, gemeinsam die makroprudenzielle Aufsicht zu verbessern,
die Stabilität des Finanzsystems zu überwachen und
rechtzeitig vor Gefahren betreffend die Finanzmärkte zu
warnen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bezahlungsstruktur der BaFin. Auch hier halten wir es für wichtig,
marktorientiert zu arbeiten und die Beamtinnen und Beamten entsprechend zu entlohnen.
Ich habe es bereits angesprochen: Auch der Verbraucherschutz findet seine Berücksichtigung in diesem Gesetzentwurf. So soll ein Verbraucherbeirat installiert
werden. Erstmals wird auch ein Beschwerdeverfahren in
das Gesetz aufgenommen, das die Beziehungen zwischen Kunden und Verbraucherschutzorganisationen regelt.
Das Gesetz zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht zeigt, dass die christlich-liberale Koalition die Lehren aus der Finanzmarktkrise gezogen und eine effektive
und schlagkräftige Aufsicht und Regulierung auf den
Weg gebracht hat. Deutschland leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Regulierung der Finanzmärkte auf europäischer und internationaler Ebene.
Ich habe ein weiteres Zitat von unserem Bundesfinanzminister gelesen, das mir sehr gut gefallen hat; es
entstammt einer Rede, die er bei einem Kongress des
Handelsblatts gehalten hat. Dieses Zitat zeigt fünf wesentliche Punkte auf, die für die Finanzmarktregulierung
wichtig sind. All diese Punkte, meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, haben wir umgesetzt.
Sie sollten dazu beitragen, dass wir hier gemeinsam vorankommen. Die fünf Punkte lauten:
Wir wollen die Transparenz der Märkte und Produkte erhöhen. Wir wollen der Haftung wieder Geltung verschaffen. Wir wollen die Verursacher an
den Kosten der Krise beteiligen. Wir wollen das
Finanzsystem insgesamt krisenfester machen. Und
wir wollen fünftens eine durchsetzungsstärkere
Aufsicht.
Dies haben wir versprochen, und das halten wir nun
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Deswegen bitte
ich Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, sodass wir in
Deutschland weiterhin den Herausforderungen der
Finanzmarktregulierung begegnen können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die SPD-Fraktion sprich jetzt der Kollege
Manfred Zöllmer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Aumer, im vierten Jahr der Krise sollte es eigentlich ein bisschen mehr als nur ein „Wir wollen“ sein.
({0})
Da sollte man dann schon auf die Ergebnisse schauen.
Letzte Woche gab es im Europäischen Rat eine Verständigung, einen rechtlichen Rahmen für eine europäische Finanzaufsicht bis zum Ende dieses Jahres aufzustellen. Dann soll im Laufe des nächsten Jahres die
Bankenaufsicht auf europäischer Ebene stufenweise in
Betrieb genommen werden.
Jetzt lassen Sie uns einmal gemeinsam einen Blick
auf den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Reform der deutschen Finanzaufsicht werfen. Es soll zum
1. Januar 2013 in Kraft treten, also zu einem Zeitpunkt,
da es bereits einen Rechtsrahmen für eine europäische
Aufsichtsstruktur gibt. Wir sollen also nach dem Willen
der Koalition die deutsche Finanzaufsicht reformieren,
die im nächsten Jahr auf die europäische Ebene verlagert
wird. Mit Verlaub, ich weiß wirklich nicht, was das soll.
Wir werden, nein, wir müssen deshalb den vorliegenden
Gesetzentwurf ablehnen, denn mit diesem Gesetzentwurf wird das Thema, um das es geht, eindeutig verfehlt.
({1})
Wir haben deshalb in unserem Entschließungsantrag gefordert, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen und sich
intensiv um eine vernünftige europäische Lösung zu
kümmern.
({2})
Das ist auch wirklich notwendig. Aber die Koalitionsfraktionen sind offensichtlich nicht bereit, diesem
Thema die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Wir haben das mit dem Entschließungsantrag erlebt, der aus der
Hüfte gekommen, hier vorgelegt und dann verabschiedet
worden ist.
({3})
- Herr Kollege Brinkhaus, für das, was Sie unter „treffen“ verstehen, habe ich zwei gute Beispiele. Schauen
wir doch nur einmal Ihren Antrag zur europäischen Ban24336
kenunion an. Was steht darin? Sie fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass es einen Zugriff, eine
Regulierung auf europäischer Ebene nur bei den großen,
international tätigen Banken gibt. Jetzt blicken wir einfach auf die letzte Woche zurück. Was hat denn die
Kanzlerin vereinbart? Sie finden in dieser Vereinbarung
nichts von einer Beschränkung. Es ist völlig klar, dass
die EZB in Zukunft Zugriff auf über 6 000 europäische
Banken hat. So viel vielleicht zum Schießen und Treffen
aus der Hüfte. Leider haben Sie danebengeschossen.
({4})
Die Bundeskanzlerin hat sich nicht durchsetzen können,
und das wird natürlich ganz erhebliche Auswirkungen
auf die deutsche Aufsichtsstruktur haben. Wie, wissen
wir noch nicht genau. Aber gerade deshalb macht es ja
keinen Sinn, jetzt in einem Gesetzentwurf Regelungen
für eine Struktur zu treffen, die wir überhaupt nicht kennen.
Dann gibt es einen weiteren Punkt. Sie haben gefordert, dass nach wirksamer Einführung der Bankenaufsicht sich die Banken beim ESM nur dann refinanzieren
können, wenn sie sozusagen besenrein sind, wenn sie
keine Schulden haben. Dies wird - wenn ich mir die Ergebnisse vom letzten Donnerstag anschaue - ebenfalls
nicht der Fall sein.
({5})
Dann lesen wir die Presse und sehen: Herr Brüderle
({6})
bewertet das als „ein gutes Ergebnis für die Bundesregierung“. Herr Brinkhaus, ich frage Sie: Wenn das ein
gutes Ergebnis ist, wie sieht dann eigentlich ein schlechtes Ergebnis aus?
({7})
Hier versucht Herr Brüderle, einfach nur schönzureden,
was eine eindeutige Niederlage für die Koalitionsfraktionen ist. Schauen Sie noch einmal in Ihren Antrag!
Ein weiterer Punkt, warum wir den Gesetzentwurf ablehnen müssen, ist Ihr Umgang mit dem Verbraucherschutz. Herr Aumer, es ist nicht so, dass Sie hier, bezogen auf den Verbraucherschutz, neue Standards setzen.
Sie weigern sich, den kollektiven Verbraucherschutz explizit als Aufsichtsziel für die BaFin gesetzlich zu verankern. Daran wird deutlich, wie Sie Verbraucherschutz
bewerten, nämlich als etwas, was völlig nachrangig ist.
Dies können und wollen wir angesichts der Ereignisse,
die wir alle gemeinsam beklagen, nicht akzeptieren.
({8})
Zusammenfassend kann man nur sagen: Thema verfehlt, zur Strafe bitte einen neuen Gesetzentwurf vorlegen!
({9})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Björn
Sänger.
({0})
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Während der
Finanzkrise haben wir festgestellt: Das Vertrauen ist
weg, und an Kontrolle mangelte es. Deshalb hat diese
Regierungskoalition schon zu Beginn ihrer Tätigkeit im
Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir die nationale
Finanzaussicht reformieren wollen. Wir hatten hier
ursprünglich eine andere Lösung vorgesehen; das ist
richtig. Aber der Erkenntnisgewinn hat dann schlussendlich zu einer guten Lösung geführt; diese liegt vor.
Herr Zöllmer, man kann natürlich darüber streiten, ob
es Sinn macht, so lange abzuwarten, bis auf EU-Ebene
irgendetwas reguliert wird. Aber ich sage Ihnen eines:
Es wird auch in Zukunft eine nationale Aufsicht geben,
und da ist es doch besser - zumindest aus unserer Sicht -,
wenn die nationale Aufsicht gut aufgestellt ist. Möglicherweise ist die Lösung, die wir heute höchstwahrscheinlich mit großer Mehrheit beschließen werden, eine
Blaupause für eine europäische Regelung; es wäre nicht
das erste Mal.
({0})
Während der Finanzkrise sind einige Probleme offenbar geworden: Wir haben Mängel bei der Verzahnung
der makro- und der mikroprudenziellen Aufsicht festgestellt. Die Globalsicht und die Unternehmenssicht müssen zusammengeführt werden. Das tun wir mit dem Ausschuss für Finanzstabilität. Wir institutionalisieren die
Zusammenarbeit von BaFin und Bundesbank und geben
der Bundesbank hier auch neue Analysetools an die
Hand, wobei uns an dieser Stelle auch wichtig ist - ich
betone dies noch einmal -, dass zunächst auf entsprechende Daten zugegriffen wird, die schon vorhanden
sind, und die Bundesbank hier nicht wahllos weitere Daten zum Beispiel bei Versicherungsunternehmen erhebt.
Wir haben im Ausschuss für Finanzstabilität - auch
das ist uns wichtig - alle drei Säulen der Finanzbranche,
also Wertpapiere, Versicherung und Banken, erfasst, sodass wir hier wirklich eine umfassende Finanzstabilität
sicherstellen können.
Des Weiteren haben wir die Unabhängigkeit der Aufsicht klargestellt, indem wir den Verwaltungsrat entsprechend reformieren und dort die Lobbyverbände herausnehmen. Wir beseitigen damit ein Konstrukt, Herr
Zöllmer, für das Ihr Finanzminister Hans Eichel verantwortlich ist. Man kann natürlich sagen: Wer die Chose
bezahlt, der soll auch im Verwaltungsrat mitbestimmen.
Aber mir persönlich ist nicht bekannt, dass der ADAC in
irgendeinem Verwaltungsrat des TÜV sitzt, und die
Autofahrer zahlen die entsprechenden Überwachungsgebühren auch vollkommen allein. Es sieht einfach
schlecht aus, wenn die Finanzlobby hier im Verwaltungsrat vertreten ist. Dies haben wir geregelt, indem wir
die zehn bislang von den Verbänden benannten Vertreter
auf sechs unabhängige Vertreter zurückfahren. Drei sollen auf Vorschlag der betreffenden Verbände - hier ist
wichtig, dass alle drei Säulen berücksichtigt werden hineinkommen und weitere drei über ein Anhörungsrecht.
({1})
- Nein, es kommen unabhängige Experten hinein. Aber
man hört natürlich die entsprechenden Branchenverbände an, ob diese Experten auch über ausreichend
Expertise verfügen. Das ist im Verwaltungshandeln
vollkommen normal.
Des Weiteren haben wir den Verbraucherschutz gestärkt, indem wir ein Beschwerdeverfahren institutionalisiert und einen Verbraucherbeirat eingerichtet haben.
Damit geben wir der BaFin Möglichkeiten an die Hand,
strukturelle Defizite im Finanzvertrieb zu erkennen;
denn die BaFin ist dafür da, strukturelle Defizite und
Probleme, die möglicherweise institutionalisiert sind, zu
erkennen. Die Aufgabe der BaFin ist es nicht, eine Art
Finanz-Stasi zu sein, die Produkten und einzelnen Beratern hinterherläuft, um Einzelfallentscheidungen zu treffen. Dafür ist sie personell auch gar nicht aufgestellt.
Wir wissen, dass derzeit eine Menge Stellen nicht besetzt sind. Wir ändern die Besoldung, um marktfähig zu
werden.
Ich fasse zusammen: Wir haben die Zusammenarbeit
zwischen BaFin und Bundesbank institutionalisiert. Wir
haben damit eine strukturelle Qualitätsverbesserung in
der Allfinanzaufsicht in Deutschland erreicht und stabilisieren damit das System.
Wir stärken des Weiteren die Unabhängigkeit der
BaFin, indem wir die Lobbyverbände aus dem Verwaltungsrat herausnehmen. Das steigert das Vertrauen in die
Aufsicht in Deutschland. Wir stärken den Verbraucherschutz durch entsprechende Beschwerderechte und einen
Verbraucherbeirat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Bundesregierung alles dafür tut, dass wir hier in Deutschland
ein stabiles Finanzsystem haben und die Trümmer aus
rot-grüner Vergangenheit, die wir vorgefunden haben,
beseitigen. Dieses Gesetz ist vorbildlich. Dem kann man
zustimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Axel Troost von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diejenigen, die sich vielleicht nicht mit dem Thema auskennen, merken, dass wir hier heute eine Paralleldiskussion führen. Eine Diskussion dreht sich um den Gesetzentwurf, der schon seit Mitte des Jahres diskutiert wird,
aber jetzt in vielen Bereichen obsolet geworden ist, weil
eine Bankenunion geschaffen werden soll, eine andersartige europäische Bankenaufsicht. Wir führen hier eine
Debatte über drei Vorlagen und somit drei unterschiedliche Diskussionen.
Ich will zuerst etwas zur Frage der Bankenunion sagen. Gestern war Herr Draghi zu Besuch, und ich habe
ihn gefragt - leider habe ich keine Antwort bekommen -,
ob er ernsthaft glaubt, dass die Europäische Zentralbank
6 000 bis 8 000 europäische Banken beaufsichtigen
kann. Das kann sie nicht - das ist völlig klar -, aber
trotzdem fährt der Zug im Augenblick immer noch in
diese Richtung. In der Tat ist nicht erkennbar, dass sich
die Bundesregierung diesem Prozess wirklich widersetzt. Im Augenblick sieht es so aus, als ob zum 1. Januar 2013 zuerst nur die systemrelevanten Banken dran
sind und danach, bis Ende nächsten Jahres, eben andere
hinzukommen sollen. Das ist für uns völlig inakzeptabel.
({0})
Ich will in diesem Zusammenhang nur einmal darauf
hinweisen: Wir in Deutschland waren und sind stolz auf
die Allfinanzaufsicht, aber sehen da noch Schwierigkeiten. Wir brauchen eine Organisationsuntersuchung bei
der BaFin, weil wir wissen, dass die Verschränkungen
zwischen Banken und Versicherungen immer noch nicht
genug in den Blick genommen werden, dass es da noch
Fehler gibt. Wenn man all dies in einem europäischen
Prozess zur EZB verlagert, haben wir wieder nur eine
Bankenaufsicht und nicht mehr die Allfinanzaufsicht.
Das wäre ein Riesenproblem; das ist für meine Begriffe
nicht akzeptabel.
({1})
Ein zweiter Punkt, der ganz wichtig ist, betrifft nicht
die Organisation, sondern den Inhalt der Aufsicht. Da
stellen wir fest, dass der Inhalt der Aufsicht vor dem
Hintergrund dessen, was notwendig wäre, nach wie vor
völlig unzureichend ist. Der ganze Bereich der Schattenbanken, also derjenigen Institute, die über Geld in Billionenhöhe verfügen, aber nicht dem Kreditwesengesetz
unterworfen sind, wird nach wie vor nicht kontrolliert.
Geschäftsmodelle von Banken werden nach wie vor
nicht zur Disposition gestellt. Das bleibt völlig unzureichend und kann aus unserer Sicht so nicht bleiben, sondern muss unbedingt angegangen werden.
Der letzte Punkt betrifft den Änderungsantrag der
Grünen, dem wir zustimmen werden, und die Frage des
Verbraucherschutzes. Ich muss sagen: Ich halte es schon
für eine Zumutung, dass die FDP von einer Finanz-Stasi
spricht, wenn man versucht, Zockerprodukte, die nach
wie vor auf dem Markt sind, auszumachen und zu verbieten.
Das, was von der Bundesregierung vorgelegt wird,
sorgt für einen sehr schwachen finanziellen Verbraucherschutz; es entspricht bei weitem nicht dem, worüber diskutiert wurde. Wir haben gesagt: Wir brauchen eine Art
Finanzwächter, die gemeinsam mit Vertretern des Ver24338
braucherschutzes die Märkte beobachten. Wir brauchen
letztlich so etwas wie einen Finanz-TÜV. Dann brauchen
wir nämlich auch keine sogenannte Finanz-Stasi. Denn
Finanz-TÜV heißt in diesem Fall: Es gibt nur Geschäftsmodelle und Produkte, die vorher genehmigt worden
sind. Nicht alles ist so lange erlaubt, bis es irgendwann
einmal verboten ist, und bevor wir überhaupt ein entsprechendes Gesetz verabschieden können, haben
Anwaltskanzleien schon wieder ein Alternativprodukt
erfunden.
Das alles wird mit diesem Gesetz nicht geregelt. Insofern ist zu befürchten, dass in den nächsten Wochen noch
sehr viel Hektik auf uns zukommt, wenn es um die europäische Ebene geht. Mit diesem Gesetz wird man dem
aber noch nicht einmal in Ansätzen gerecht.
Danke schön.
({2})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Dr. Gerhard Schick.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
wenigen Gesetzentwürfen der Bundesregierung ist der
Unterschied zwischen dem, was einmal gesagt worden
ist, und dem, was jetzt auf dem Tisch liegt, so groß wie
hier; ich finde es gut, dass Kollege Sänger das offen angesprochen hat. Ich will klarmachen, was das bedeutet.
In sehr vielen Debatten zur Finanzkrise über Monate
und Jahre hinweg hat die FDP-Fraktion behauptet, dass
die Arbeitsteilung zwischen BaFin und Bundesbank, wie
sie unter Rot-Grün entstanden ist, ein großes Defizit
darstellt. Nach einem Prozess des Nachdenkens stellen
Sie fest, dass wir damals die richtige Struktur geschaffen
haben, und deswegen wollen Sie sie beibehalten. Das
muss einmal festgehalten werden.
({0})
Weil die Zeit knapp ist, möchte ich auf die für uns
zentrale Schwäche des Gesetzentwurfes eingehen, obwohl es viele andere Punkte gibt, die wir im Ausschuss
ebenfalls thematisiert haben. Es geht um die Frage: Ist
die Finanzaufsicht in Deutschland nur dafür da, sich um
die Stabilität der Institute zu kümmern? Sollte ihre zentrale Aufgabe nicht auch darin bestehen, die Kunden als
Gruppe vor Fehlverhalten von Banken, Versicherungen
und Fonds zu schützen? Was macht die Koalition? Völlige Fehlanzeige!
Lassen Sie mich durch zwei, drei internationale Vergleiche deutlich machen, was passiert. In Frankreich
nutzt die Finanzaufsichtsbehörde das Beschwerdemanagement aktiv, um herauszufinden, was los ist. In
Deutschland lässt man diesen Bereich verkümmern, man
streicht sogar noch Stellen. In Großbritannien wird eine
neue Finanzaufsichtsbehörde, die Financial Conduct
Authority, geschaffen, die die Erlaubnis hat, Finanzprodukte zu verbieten und sofort vom Markt zu nehmen.
Genau das wäre auch in Deutschland nötig, aber das
wollen Sie nicht.
({1})
Die SEC in den USA kann Sammelklagen initiieren. Sie
kann die Finanzinstitute auch dazu zwingen, Schadenersatz an die Anleger zu zahlen, zum Beispiel für Zertifikate, die die Citibank vertrieben hat. Warum erhält nicht
auch eine Aufsichtsbehörde in Deutschland die Möglichkeit, die Kunden so zu schützen, wie das in anderen Ländern der Fall ist? Warum muss es so sein, dass der Anleger, der Kunde auf dem Finanzmarkt in Deutschland so
viel schlechter geschützt ist als in anderen Ländern? Das
sehen wir nicht ein.
({2})
Wir haben in die Beratungen im Ausschuss einen
Änderungsantrag zum Gesetzentwurf eingebracht, der
zum Ziel hat, das Aufgabenfeld der Aufsicht zu erweitern. Die BaFin soll auch für Kundinnen und Kunden
zuständig sein. Sie haben das abgelehnt. Da sieht man,
bei wem in diesem Haus Kundinnen und Kunden in guten Händen sind, nämlich beim Bündnis 90/Die Grünen
und nicht bei dieser Koalition.
({3})
Jetzt legen wir Ihnen einen Änderungsantrag vor.
Kollege Sänger hat gesagt: Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser. - Zu Beginn dieser Legislaturperiode hat die
Ministerin für Ankündigungen und leere Drohungen,
Ilse Aigner, viel über Testkäufe gesprochen. Sie haben
das sogar in den Haushaltsplan der BaFin eingestellt.
Auf Kleine Anfragen konnten wir erfahren, was Sie
Großartiges vorhaben. Auch die Sprecherin des Finanzministeriums hat 2010 noch gesagt: Das bereiten wir
ganz konkret vor. - Inzwischen ist keine Rede mehr davon. Auch die Haushaltsansätze enthalten keine entsprechende Position. Als es um die Kontrolle der Beratungsqualität ging, haben Sie den Mund sehr voll genommen.
Sie liefern aber nichts. Deswegen legen wir Ihnen jetzt
einen Änderungsantrag vor, der die gesetzliche Grundlage für Testkäufe schaffen soll. Wir intendieren damit
nicht, den Berater zu kontrollieren. Das Entscheidende
ist, dass wir falsche Vertriebsstrukturen und provisionsorientierte Fehlberatung beseitigen. Die BaFin soll die
Möglichkeit bekommen, das zu unterbinden, weil
Falschberatung die Kundinnen und Kunden in Deutschland jedes Jahr Milliarden kostet. Das muss beendet werden.
Danke.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ralph Brinkhaus von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir verabschieden hier heute ein Gesetz, mit dem die Aufsichtsstrukturen und der Verbraucherschutz in Deutschland verbessert werden.
({0})
Mit diesem Gesetz werden übrigens auch - darüber hat
bisher noch keiner gesprochen - die Vergütungsstrukturen innerhalb der BaFin verbessert,
({1})
damit wir gute Leute für diese Arbeit finden und die guten Leute, die dort arbeiten, gehalten werden können.
({2})
Dieser Gesetzentwurf wurde von der Opposition kritisiert. Ich fange mit dem Kollegen Zöllmer an, der sich
ein bisschen widersprochen hat. Er hat gesagt: Warum
macht ihr dieses Gesetz eigentlich? Auf europäischer
Ebene passiert da doch so viel. - Okay. Das würde aber
bedeuten: keine Verbesserung der Vergütungsstruktur
bei der BaFin und kein verbesserter Verbraucherschutz.
Dann würden wir auch nicht so etwas Sinnvolles wie den
Stabilitätsrat einführen, der hier in Deutschland schauen
soll, ob es systemische Risiken gibt - Stichwort „Immobilienblase“ -, ob es Probleme bei Versicherungen, Bausparkassen oder mit Mittelstandskrediten gibt. Herr
Zöllmer, ich hielte das für fahrlässig.
Zweiter Punkt. Es wird kritisiert, dass wir uns von der
ursprünglichen Ankündigung, eine integrierte Aufsicht
bei einem Institut anzusiedeln, also eine Art Kombination aus Bundesbank und BaFin einzurichten, verabschiedet haben. Das ist richtig. Das war ein langer Erkenntnisprozess. Durch all die Probleme, die jetzt
dadurch auf uns zukommen, dass bei der EZB genau das
gemacht werden soll - es geht um die Trennung von
Geldpolitik und Aufsicht; damit sind Fragen der Unabhängigkeit und der Abgrenzung verbunden -, sind wir
doch eigentlich nur bestätigt worden. Viele Probleme
sind also nicht gelöst, und deswegen lösen wir die Probleme, die wir hier in Deutschland lösen können, und
zwar jetzt sofort. Genau das machen wir mit diesem Gesetzentwurf.
({3})
Dann wurde das Thema Verbraucherschutz angesprochen. Wir werden gleich feststellen, dass es diesbezüglich einen kleinen Wertungswiderspruch zwischen Herrn
Zöllmer, der dieses Gesetz nicht haben will, und Frau
Tack gibt - sie wird nach mir für die SPD sprechen -, die
sagt: Wir brauchen noch viel mehr Verbraucherschutz im
Rahmen der BaFin.
Der Kollege Schick hat angeführt, dass es klasse internationale Beispiele gibt, beispielsweise die Financial
Conduct Authority, die zeigt, wie in Großbritannien Verbraucherschutz gemacht wird. Im Handelsblatt steht in
dieser Woche ein schönes Zitat des designierten Chefs
der Financial Conduct Authority: Wir sorgen dafür, dass
die richtigen Finanzinstitute die richtigen Produkte über
die richtigen Vertriebswege an die richtigen Kunden verkaufen. - Da kann ich nur noch brechen. Das ist eine unglaubliche Geschichte. Das ist totalitärer Paternalismus.
Das ist ein Rückfall in sozialistische Zeiten. Heute
schreiben sie uns vor, welche Finanzprodukte richtig
sind, morgen schreiben Sie uns vor, was wir zu essen haben, und übermorgen, was wir zu reden haben. Das werden wir nicht dulden.
({4})
Man muss doch einmal schauen, was für ein Menschenbild dahintersteht. Das ist nicht unser Menschenbild.
Wenn man dann noch so tut, lieber Kollege Schick,
als wenn in den Bereichen Verbraucherschutz und Aufsicht nichts gemacht worden wäre, dann zeigt das nur,
dass die Grünen nicht wahrgenommen haben, was in den
letzten drei Jahren gemacht worden ist. In den letzten
drei Jahren ist nämlich eine ganze Menge gemacht worden.
Wenn Sie dann auch noch behaupten, dass der kollektive Verbraucherschutz bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht nicht verankert ist, dann zeugt
das schlichtweg von einer Fehlwahrnehmung. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht hat das öffentliche Interesse zu wahren. Das ist kollektiver Verbraucherschutz. Insofern ist dieses Gesetz eine Klarstellung,
eine Erweiterung und gut und richtig.
({5})
Die ganze Diskussion, die wir über diesen Gesetzentwurf führen, zeigt das ganze Elend der Opposition in den
letzten drei Jahren. Es wird nur kritisiert, nach mehr Daten gefragt, genörgelt, problematisiert und gesagt, worüber man sonst noch alles diskutieren könnte. In der
Zeit, in der Sie sich hier am Herumnörgeln ergötzt haben, haben wir Folgendes gemacht: Wir haben europäisches Recht umgesetzt, und wir haben viele deutsche
Gesetze auf den Weg gebracht.
Nur eine kleine Auswahl dessen, was wir gemacht haben: Wir haben die Vergütungsstrukturen reguliert; da
haben wir geliefert. Regulierung der Ratingagenturen:
Da haben wir geliefert. Regulierung der Großkredite: Da
haben wir geliefert. Regulierung der Verbriefungen: Da
haben wir geliefert. Regulierung des grauen Kapitalmarkts: Auch da haben wir geliefert. Neuordnung der
nationalen Finanzaufsicht: Da haben wir geliefert. Neuordnung der europäischen Finanzaufsicht: Auch da haben wir geliefert. Bankenrestrukturierungsgesetz: Da haben wir geliefert, und zwar als erstes Land in Europa und
in der Welt.
({6})
Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise: Wer
hat die Bankenabgabe eingeführt? Wir waren es. Wir haben reguliert. Wir haben geliefert.
({7})
Wir können die Liste noch weiterführen. Neuordnung
der Eigenkapital- und Liquiditätsregeln für Banken: Wir
haben geliefert. Wir warten auf die europäische Umsetzung. Das Zeug steht auf der Rampe und muss nur abgeholt werden.
({8})
Neuordnung der Versicherungsaufsicht, Solvency II:
Auch dazu haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt und
warten auf die europäische Endfassung von Regelungen.
Auch da haben wir geliefert. Auch das steht auf der
Rampe und kann abgeholt werden. Auch da haben wir
geliefert.
({9})
Das Ganze geht noch weiter. Denn wir haben nicht
nur geliefert, sondern wir sind auch in der Produktion.
({10})
Wir werden nächste Woche einen Vorschlag zur Umsetzung der europäischen Richtlinie zur stärkeren Regulierung der OTC-Derivatemärkte vorlegen, dieses großen
Finanzmarktbereiches, der uns allen so viel Sorgen bereitet. Nächste Woche ist die erste Lesung. Auch da werden wir liefern.
({11})
Hochfrequenzhandel: Das ganze Projekt wird noch
vor der Winterpause von uns vorgelegt werden. Auch da
werden wir liefern. Regulierung der alternativen Investmentfonds: Auch da werden wir liefern. Auch da wird
etwas vorgelegt werden. Ich könnte die Liste noch stundenlang weiterführen.
Fakt ist: Wir haben bei der Finanzmarktregulierung
geliefert, und zwar nicht nur heute mit diesem Gesetzentwurf, sondern auch schon in der Vergangenheit. Ihr
großer Regulierer, der hier in den letzten drei Jahren
kaum vertreten war - ich sehe ihn auch gerade jetzt
nicht; wahrscheinlich ist er wieder anderweitig unterwegs -, führt nur große Worte im Mund.
Insofern kann ich nur zu einem auffordern: Nörgeln
Sie nicht an diesem Gesetzentwurf herum! Machen Sie
es besser oder stimmen Sie heute zu!
Danke schön.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Brinkhaus, Ihre Rede war relativ laut. Da Sie
von Elend gesprochen haben: Ja, auch das war relativ
elend.
({0})
Ich will sagen: Sie haben völlig recht. Ich betrachte
das, was wir hier heute beschließen sollen, aus verbraucherpolitischer Sicht. Es entspricht, wenn man Ihnen und
der FDP glauben soll, nicht einmal ansatzweise dem,
was Frau Aigner als Ministerin und die Kollegen aus der
Regierungskoalition versprochen haben, als sie im Koalitionsvertrag eine effizientere Aufsicht angemahnt haben.
Wir wollen, dass Verbraucherschutz explizit als Ziel der
Finanzaufsicht festgeschrieben wird. Wir wollen nicht,
dass er nur in der Begründung eines Gesetzentwurfes
steht, sondern wir wollen, dass er als Ziel in einem Gesetz festgeschrieben wird.
({1})
Herr Schick, machen Sie es nicht zum Alleinstellungsmerkmal der Grünen.
({2})
- Okay. - Dieses Ziel muss fest definiert werden. Diese
Auffassung eint uns;
({3})
daher sollten wir uns nicht gegenseitig die Show stehlen.
({4})
Wir in der Opposition sind uns sehr einig, dass dieses
Ziel festgeschrieben werden muss.
Wir sind uns auch sehr einig in dem Punkt, dass wir
die Finanzaufsicht dadurch stärken können, dass wir ihr
einen Finanzmarktwächter zur Verfügung stellen. Es
geht um die Stärkung der Verbraucherzentralen, die genau das tun sollen, was sie am besten können: Sie sollen
beraten. Sie sollen zusammentragen. Sie sollen informieren. Sie sollen aber ihre Erkenntnisse auch an die Aufsichtsbehörden geben können, damit Aufsichtsbehörden
tätig werden müssen.
({5})
Genau dafür treten wir ein. Wir sehen, dass die BaFin
auch im Interesse des Verbraucherschutzes tätig werden
muss. Wir sind uns sicher - zumindest in den Oppositionsreihen -, dass ein Finanzmarktwächter eine sinnvolle, hilfreiche und gelingende Ergänzung zur staatlichen
Marktaufsicht ist.
({6})
Der Verbraucherbeirat, der hier schon mehrfach positiv erwähnt wurde, wird ausschließlich in der Gesetzesbegründung genannt und hat keinerlei Rechte, weder Informations- noch Anhörungsrechte. Wir wollen mehr.
({7})
Ferner wollen wir, dass die blinden Flecken endlich
beseitigt werden. Wir wollen, dass alle, auch die freien
Finanzvermittler und künftig auch die Honorarberater,
unter die Aufsicht der BaFin fallen. Auch das wäre in IhKerstin Tack
rem Sinne, würden Sie Ihren Koalitionsvertrag ernst
nehmen.
({8})
Zur Frage von Testkäufern wurde von der GrünenFraktion ein eigener Antrag eingebracht. Auch wir wollen Testkäufer, und wir stehen damit nicht allein: Noch
Anfang des Jahres hat die Verbraucherministerin, Frau
Aigner, landauf, landab gefordert, dass die BaFin Testkäuferinnen und Testkäufer einsetzt.
({9})
Bis heute gibt es solche Testkäufer nicht. Die Ministerin
kann sich nicht verteidigen: Sie ist nicht da. Heute würde
sie wahrscheinlich anders reden. Aber das war ihre Forderung, diese Forderung hat sie Anfang des Jahres gestellt. Heute will die Koalition davon nichts mehr wissen. Auch das hat etwas mit Elend zu tun.
({10})
Sehr geehrte Damen und Herren, wenn wir heute diesen Gesetzentwurf ablehnen, dann hat das viele Gründe,
nicht nur den Verbraucherschutzgrund. Es hat explizit
auch den Grund, dass wir aus Europa etwas zu erwarten
haben. Wir regeln besser dann, wenn wir wissen, was auf
uns zukommt.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der deutschen Finanzaufsicht.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11119, den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksachen 17/10040 und
10252, in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11172 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Zu diesem Änderungsantrag
hat die Fraktion der Grünen namentliche Abstimmung
beantragt. Anders als ursprünglich aufgeführt, ist der
Antrag auf namentliche Abstimmung zum Änderungsantrag der Grünen gestellt worden.
Damit es hier keine Missverständnisse gibt, sage ich
es noch einmal: Wir stimmen in namentlicher Abstimmung über den Änderungsantrag der Grünen ab. Das
heißt, Sie müssen anders abstimmen, als es ursprünglich
vorgesehen war.
Damit das ganz klar ist, wiederhole ich es zum dritten
Mal: Es gibt einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
hat beantragt, dass über ihren Änderungsantrag namentlich abgestimmt wird. Das heißt, wer für den Änderungsantrag der Grünen ist, muss mit Blau stimmen, wer dagegen ist, muss mit Rot stimmen. Ich hoffe, dass es jetzt
jeder verstanden hat. Auf Wunsch würde ich es auch ein
viertes Mal wiederholen.
Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer auf ihren Plätzen? - Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die
Stimmkarten einzuwerfen.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarten eingeworfen, oder gibt es Kolleginnen und Kollegen,
die das noch nicht getan haben oder die noch Entscheidungshilfe benötigen? - Nein. Wenn alle Kolleginnen
und Kollegen ihre Karten eingeworfen haben, dann
schließe ich den Wahlgang.
Bevor wir fortfahren können, müssen wir selbstverständlich das Ergebnis abwarten. Ich möchte gleich darauf hinweisen, dass wir nachher über den Gesetzentwurf nicht namentlich abstimmen, sondern, wie üblich,
durch Handzeichen und in dritter Lesung durch Erheben
vom Platz.
Ich unterbreche die Sitzung, bis das Ergebnis der namentlichen Abstimmung vorliegt.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen.
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung zu dem Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zu dem Entwurf eines Gesetzes
zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht bekannt: abgegebene Stimmen 560. Mit Ja haben gestimmt 123, mit
Nein haben gestimmt 313, Enthaltungen 124. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 558;
davon
ja: 123
nein: 311
enthalten: 124
Ja
SPD
Ulla Burchardt
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({0})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({1})
Volker Beck ({2})
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({3})
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({4})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({5})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Tabea Rößner
Claudia Roth ({6})
Manuel Sarrazin
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({7})
Wolfgang Wieland
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({8})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({9})
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({10})
Dirk Fischer ({11})
Axel E. Fischer ({12})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({13})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({14})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({15})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({16})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({17})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({18})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({19})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({20})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({21})
Anita Schäfer ({22})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({23})
Patrick Schnieder
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({24})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({25})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({26})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({27})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({28})
Peter Weiß ({29})
Sabine Weiss ({30})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Rolf Hempelmann
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({31})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({32})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({33})
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({34})
Michael Link ({35})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({36})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
({37})
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Serkan Tören
({38})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({39})
Enthalten
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({40})
Klaus Brandner
Willi Brase
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({41})
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({42})
Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Petra Hinz ({43})
Frank Hofmann ({44})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({45})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({46})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({47})
({48})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({49})
Bernd Scheelen
({50})
Werner Schieder ({51})
Ulla Schmidt ({52})
Carsten Schneider ({53})
Swen Schulz ({54})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({55})
Uta Zapf
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen nun zum Gesetzentwurf in der Ausschussfassung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will,
den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Grünen und Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenergebnis angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zu
dem Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 17/11173. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt, gegen die Stimmen der SPDFraktion und bei Enthaltung der Linken und der Grünen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zukunft des Mautkonzeptes in Deutschland
- Drucksachen 17/9623, 17/11098 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Gegenstimmen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Uwe Beckmeyer von der SPD-Fraktion das Wort.
({56})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Sinn dieser Großen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion war es, etwas über die Pläne der amtierenden Bundesregierung zur Zukunft des Mautkonzeptes in
Erfahrung zu bringen. Uns liegt nach sechs Monaten des
Wartens jetzt eine Antwort vor. Ich hoffe nur, dass sie
auch der Bundesverkehrsminister als Person gelesen hat.
In der Rubrik „Neues aus dem Sommerloch“ sind Sie,
Herr Minister, mit verschiedensten Initiativen fest gebucht. Aber diesmal, denke ich, geht es um den jährlichen Ruf der CSU nach Einführung einer Pkw-Maut,
dem, so erscheint es mir, mit der Antwort der Bundesregierung zumindest für diese Legislaturperiode endgültig eine Absage erteilt wird.
Es wird auch mit einer zweiten Mär aufgeräumt, die
Sie immer wieder in die deutschen Lande streuen, nach
der Melodie: Hätten wir doch eine Vignette, könnten wir
für eine Kompensation für inländische Autofahrer sorgen. Auch da heißt es in der Antwort der Bundesregierung - nicht Ihres Hauses, sondern der gesamten
Bundesregierung -, dass dies einen Verstoß gegen das
europarechtliche Diskriminierungsverbot darstellen könnte.
Um es einmal klarzustellen: Auch hier haben Sie eine
kurzfristige mediale Lufthoheit gehabt; aber verantwortliche Politik sieht anders aus. Ich denke, eine verantwortliche Politik kümmert sich um die Finanzierung der
Infrastruktur in Deutschland. Das aber vermissen wir bei
Ihnen.
({0})
Beenden Sie diese Geisterdebatten; sonst werden Sie irgendwann einmal der letzte Pkw-Maut-Dino.
Was ich gut finde - allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt, dass Sie sich hier ein Hintertürchen offenhalten -, ist, wenn Sie sagen: In meinem Hause gibt es
keine Denkverbote. - Ich bin der Meinung: Das ist schon
einmal gut. Entweder muss der Minister denken oder das
Haus. Aber wenn Sie Aufträge erteilen, dann bitte ich
um Folgendes:
Erstens. Lassen Sie doch einmal darüber nachdenken,
wie Sie die teilweise selbst verursachten enormen Mindereinnahmen durch das Mautmoratorium abstellen. Die
Addition der Mindereinnahmen von 2009 bis Mitte 2012
betragen überschlägig mehr als 500 Millionen Euro.
Hier ist Handlungsbedarf, Herr Minister. Darauf komme
ich noch zurück.
Zweitens. Lassen Sie doch bitte einmal darüber nachdenken, wie Sie eine Lkw-Maut auf allen Bundes-, Landes- und Gemeindestraßen mit welchem technischen,
mit welchem elektronischen System, ob nun mit Toll
Collect oder nicht, realisieren können.
Drittens. Lassen Sie doch einmal darüber nachdenken, mit welchen rechtlichen Vereinbarungen Sie nach
August 2015 mit Toll Collect oder anderen weiterarbeiten wollen.
Viertens. Lassen Sie doch einmal darüber nachdenken,
wie Sie und vor allem wann Sie endlich die durch die EUWegekostenrichtlinie empfohlene Anrechnung externer
Kosten des Straßengüterverkehrs auch in Deutschland im
Rahmen der Nutzerfinanzierung einführen wollen. Ausweislich der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage haben Sie über all das bisher nicht nachgedacht.
Denn auf unsere Frage, ob eine mögliche „Anlastung externer Kosten des Verkehrs Teil der Vertragsverhandlungen mit der Mautbetreiberfirma“ war, antwortet die Bundesregierung mit einem schlichten Nein.
Was mich beim Lesen Ihrer Antworten fassungslos
gemacht hat, ist, dass Sie überhaupt keine Prognosezahlen haben, was denn wäre, wenn zum Beispiel alle Straßen bemautet werden. Dazu gibt es in Ihrem Haus keine
Zahlen. Ich finde das abenteuerlich. Ich muss ganz ehrlich sagen: So wird die Fortentwicklung des Mautsystems von Ihnen ausgebremst. Wenn Sie am Ende dieser
Legislaturperiode abtreten, sind das vier verlorene Jahre.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss. Ich möchte an dieser Stelle die Koalition
wirklich darum bitten, im letzten Jahr vielleicht noch ein
wenig Kraft aufzubringen, um bei der Frage der Infrastrukturfinanzierung endlich in die Spur zu kommen.
Die Ausweitung der Maut, ob auf andere Fahrzeugklassen oder andere Strecken, ist bei Ihnen nicht gut aufgehoben. Die entsprechenden Voraussetzungen hierzu erfüllen Sie nicht. Die Koalition hat die Fortentwicklung
des Mautsystems offenkundig gar nicht auf der Agenda.
Außerdem haben Sie keine Prognosen zur Mautausweitung, kein Konzept und keine Idee für Kostengerechtigkeit. Damit haben Sie im Grunde die Zukunftsfragen
dieser Republik in diesem Themenfeld missachtet. Greifen Sie dem Minister endlich ins Steuer, sofern Sie das
noch können! Ansonsten fährt der Minister weiter in die
falsche Richtung.
Der ADAC spottet: Populismus bayerischer Provinzpolitik. - Das ist das Ergebnis und die Summe dessen,
was wir hier erfahren haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zunächst möchte ich betonen, dass im ersten Absatz der
Vorbemerkung der Großen Anfrage der SPD absolut zutreffende Feststellungen getroffen werden. Die deutsche
Verkehrspolitik steht vor gewaltigen Herausforderungen,
vor allem bei der Straßeninfrastruktur. Dies haben wir
allerdings schon zu Beginn der Legislaturperiode erkannt. Hierzu hätten wir keine Große Anfrage der SPD
gebraucht.
({0})
So heißt es bereits im christlich-liberalen Koalitionsvertrag:
Erhalt sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sind weit hinter dem Bedarf zurückgeblieben.
Wir meinen damit die Zeit, in der die SPD Regierungsverantwortung trug. Sie ziehen daher falsche Schlussfolgerungen in Ihrer Großen Anfrage, werte Kolleginnen
und Kollegen der SPD.
({1})
Es war Ihre Politik, die die heutigen Engpässe verursacht
hat. Es war die Politik der SPD-Verkehrsminister, die es
über zehn Jahre hinweg versäumt haben, sich um den Erhalt der Bundesstraßen, der Bundesautobahnen und der
zahlreichen Brücken zu kümmern. Der CSU-Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer muss heute die Suppe auslöffeln, die die SPD ihm eingebrockt hat.
({2})
Doch anstatt sich in Ihrer Großen Anfrage wenigstens
in großer Demut zu üben, schieben Sie die Schuld einfach auf die Bundesregierung. So einfach geht es nicht,
meine sehr verehrten Damen und Herren. Schuld an der
Misere ist nicht das Mautmoratorium. Schuld ist allein
die SPD.
({3})
Um eines klarzustellen: Die christlich-liberale Koalition steht hinter dem Mautmoratorium; denn wir haben
eine gesamtstaatliche Verantwortung gegenüber dem
Speditionsgewerbe in Deutschland. Die deutschen Spediteure sind einem ungeheuer harten internationalen
Wettbewerb ausgesetzt. Ihre Gewinnmargen sind minimal. Spielraum gibt es kaum. Wir alle in unserem Land
sind auf die deutschen Spediteure angewiesen, um die
Wirtschaft und die Bevölkerung mit Gütern zu versorgen. Die christlich-liberale Koalition hat deshalb beschlossen, die Lkw-Maut nicht weiter zu erhöhen.
Wenn Sie sich anschauen, wie sich das Mautmoratorium auf die Einnahmesituation des Bundes ausgewirkt
hat, so werden auch Sie erkennen, dass darin mit Sicherheit nicht der Grund liegt für den schlechten Zustand der
Straßen und Brücken in Deutschland.
Klar ist: Wir haben eindeutig zu wenig Geld für neue
Investitionen.
({4})
- Ich sage es Ihnen gleich. - Deshalb haben die Verkehrspolitiker der Koalition bereits im vergangenen Jahr
eine zusätzliche Milliarde erkämpft,
({5})
und auch für das kommende Jahr 2013 bin ich sehr zuversichtlich. Mit dem Finanzierungskreislauf Straße haben wir außerdem einen historisch wichtigen Schritt für
mehr Unabhängigkeit im Verkehrsetat getan. Einen weiteren wichtigen Schritt, meine sehr verehrten Damen
und Herren, könnten wir gehen, wenn wir uns auf einheitliche europäische Regelungen einschließlich der Einführung einer Pkw-Maut in Form einer Vignette verständigen könnten.
Sie sehen, dass die christlich-liberale Koalition die
Probleme anpackt und Minister Ramsauer die richtigen
Antworten darauf hat. Hätten die SPD-Verkehrsminister
seinerzeit ebenso beherzt gehandelt, dann stünden wir
heute besser da. Das steht eindeutig fest. Wären die
SPD-Verkehrsminister seinerzeit nicht so viele grenzüberschreitende Verpflichtungen eingegangen, so hätten
auch wir heute mehr Geld für den Straßenbau. Und hätte
sich der SPD-Verkehrsminister Stolpe seinerzeit nur halb
so viele Gedanken über die Ausgestaltung des Betreibervertrages mit Toll Collect gemacht wie Sie in Ihrer Großen Anfrage, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann
müssten wir heute nicht in zwei Schiedsverfahren über
mehrere Milliarden Euro streiten.
Herr Kollege Holmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pronold?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Holmeier, Sie haben gerade wieder für
die schwarz-gelbe Koalition proklamiert, dass Sie an der
Einführung einer Pkw-Maut festhalten wollen. Wird
diese Regierung, die die Antworten zu dem vorliegenden
Fragenkatalog gegeben hat, von Ihnen noch getragen,
und können Sie mir sagen, welche Antwort unter
Punkt 87 auf die Frage steht, ob diese Regierung die Einführung einer Pkw-Maut verfolgt?
Die Regierung wird von mir und natürlich von uns allen bestens getragen.
({0})
Ziel ist, insgesamt mehr Geld für Verkehrsprojekte im
Bereich Straße zu bekommen. Dabei ist die Vignette irgendwann eine Alternative.
({1})
- Ich habe sie gelesen.
({2})
Ich sage nochmals zur Klarstellung: Die Schiedsverfahren gibt es nur deshalb, weil Herr Stolpe als Verkehrsminister dilettantisch verhandelt hat, weil er keine
klaren und eindeutigen vertraglichen Regelungen für den
Fall der verspäteten Einführung der Lkw-Maut getroffen
hat,
({3})
und weil er und seine SPD sich von Toll Collect über den
Tisch haben ziehen lassen.
({4})
Wenn ich mir die Fragen in der Großen Anfrage so
durchlese, komme ich zu dem Schluss, dass sich ein
SPD-Verkehrsminister jederzeit wieder über den Tisch
ziehen lassen würde. Mit Ihren Fragen, warum man jetzt
eigentlich einen Beratervertrag für die Maut 2015
braucht und was ein solches Beraterteam eigentlich machen soll, geben Sie klar zu erkennen, dass Ihnen die Bedeutung einer rechtssicheren Vertragsgestaltung immer
noch nicht bewusst ist.
({5})
Dazu kann ich nur sagen: Große Ahnungslosigkeit in der
Großen Anfrage der SPD.
({6})
Nur gut, meine sehr verehrten Damen und Herren der
Opposition, dass Sie auch im nächsten Jahr nach der
Bundestagswahl wieder auf der Oppositionsbank sitzen
werden. So kann Minister Ramsauer einen ordentlichen
neuen Betreibervertrag aushandeln. Ich sage Ihnen im
Voraus: Damit wird die Maut 2015 ein Erfolg.
Danke schön.
({7})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Sabine Leidig.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin ein bisschen unzufrieden mit dieser Großen Anfrage, weil sie vor allen Dingen darauf fokussiert, wie
man den Güterverkehr am Rollen halten kann. Ich
glaube, dass ein großer Teil der Güterverkehre überhaupt
nichts mehr mit dem Wohlstand und der Lebensqualität
der Bevölkerung zu tun hat.
({0})
Ein großer Teil findet zwischen einzelnen Betriebsteilen
großer Firmen statt. Ein anderer Teil entfällt auf den
Austausch von Waren derselben Qualität: Milcherzeugnisse im Wert von 5 Milliarden Euro werden eingeführt;
gleichzeitig werden Milcherzeugnisse im Wert von
4 Milliarden Euro ausgeführt. Alles findet mit Lkw statt.
Das ist nichts, was wir wünschenswert finden.
({1})
Die Lkw-Kolonnen sind eine Last. Heutzutage fühlt sich
mehr als die Hälfte der Bevölkerung durch Verkehrslärm
und Folgen des Güterverkehrs beeinträchtigt.
Die Maut ist bei weitem nicht hoch genug - das ist
völlig klar -, und das sagen selbst die Studien aus dem
Verkehrsministerium. Heute werden 18 Cent pro Kilometer auf der Autobahn bezahlt. Allein die Wegekosten,
also die Kosten für Bau und Erhalt von Straßen, betragen
30 Cent pro Kilometer. Wir fordern, dass die Maut sofort
auf diese Höhe angehoben und auch auf die Bundesstraßen ausgedehnt wird; das ist das Mindeste.
({2})
Aber eigentlich geht es darum, die Maut für Lkw so
zu erhöhen, dass schrittweise wirklich die gesellschaftliSabine Leidig
chen Folgekosten damit bezahlt werden können. Worum
geht es dabei? Es geht um Unfälle, um Luft-, Bodenund Wasserverschmutzung, um Lärmerkrankungen, um
Klimaschäden. Das alles kostet nicht nur Lebensqualität,
sondern das kostet auch Geld, das die ganze Gesellschaft
aufbringen muss. Die EU-Kommission hat Szenarien
entwickelt. In einem Szenario hat sie nur einen kleinen
Teil dieser Folgekosten einbezogen. Schon dann, wenn
man nur diesen kleinen Teil einbezieht, müsste die Straßennutzungsgebühr verdoppelt werden.
Interessant ist, dass die Transportgewerbetreibenden
auf ihrem Gipfel vor zwei Wochen selbst gesagt haben,
dass es kein Problem ist, die Maut zu erhöhen, dass man
dann eben die Kosten auf diejenigen überwälzen muss,
die den Gewinn davon haben.
Die EU-Kommission hat auch ein Maximumszenario
aufgestellt, und das finde ich ganz bemerkenswert: Darin
sind unter anderem auch die Staukosten berücksichtigt.
Dabei kommt die EU-Kommission zu dem Ergebnis,
dass nicht 18 Cent pro Kilometer der angemessene Preis
wäre, der für die Lkw entrichtet werden müsste, sondern
3 Euro pro Kilometer.
Es ist so, dass bis zu dieser Summe gesellschaftlich
draufgelegt wird, und das ist eine ziemlich unmittelbare
Subvention der Global Player.
({3})
Schauen wir uns einmal an - auch das hat die EU-Kommission in ihrer Studie gemacht -, wie es sich in Europa
ausgleichen würde, wenn man die Maut tatsächlich anheben würde: Einnahmen würden natürlich vor allen
Dingen dort anfallen, wo viel Lkw-Verkehr durchrauscht, nämlich in Deutschland, in Frankreich, in der
Schweiz, in Österreich, eben in den Ländern, die zentral
liegen. Wenn man dann gegenrechnet, was die eigenen
Verkehrsunternehmen in anderen Ländern zahlen müssten, kommt man zu dem Ergebnis, dass 20 bis 23 Milliarden Euro jährlich zusätzlich in den Bundeshaushalt
fließen würden.
Ich fände es wirklich gut, wenn die Bundesregierung
sich mit entsprechenden Plänen beschäftigen würde. Damit könnte sie die Tradition der früheren Verkehrsminister brechen und einen neuen Weg einschlagen. Es geht
darum, einen Plan zu machen, wie man tatsächlich zu einer solchen Anrechnung der gesellschaftlichen Kosten
kommt. Mit den Einnahmen würden wir zum Beispiel
solche Unternehmen fördern, denen es gelingt, Wertschöpfungs- und Lieferketten zu organisieren, die mit
möglichst wenig Transporten und möglichst wenig Materialaufwand die Güterversorgung sicherstellen.
In diesem Sinne: Weniger Verkehr ist mehr.
({4})
Jetzt hat das Wort der Kollege Oliver Luksic von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wollen vor der Bundestagswahl Klarheit schaffen und
die Mauthöheverordnung verabschieden. Die Zukunft
der Lkw-Maut hängt natürlich vom Wegekostengutachten ab, das erst im nächsten Frühjahr vorliegen wird.
({0})
Dann werden wir hier wie immer besonnen handeln.
Was haben wir bis jetzt getan?
({1})
Seit Einführung der Maut flossen die Einnahmen nicht in
den Ausbau und den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur.
Weniger als 10 Prozent wurden reinvestiert. Erst die
christlich-liberale Bundesregierung hat der undurchsichtigen Verteilung der Mautmittel ein Ende gesetzt. Eingeführt haben wir den Finanzierungskreislauf Straße
({2})
und dafür gesorgt, dass das Aufkommen auch wirklich
für die Bundesfernstraßen verwendet wird. Das ist ein
Erfolgsmodell. Wir haben die unter Rot-Grün eingeführte Zweckentfremdung von Mautmitteln und damit
auch die Mautlüge endlich beendet, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({3})
Das Mautmoratorium - Kollege Holmeier hat es zu
Recht angesprochen - ist richtig und wichtig. Es schafft
Vertrauen und Verlässlichkeit für den Mittelstand, für
das Transportgewerbe. Deswegen werden wir es bis zum
Ende der Legislaturperiode auch dabei belassen.
Liebe Kollegin Leidig, Sie fordern die Internalisierung externer Kosten. Dabei dürfen Sie aber nicht nur
die Maut sehen; Sie müssen auch sehen, dass der Staat
noch zahlreiche andere Steuereinnahmen aus dem Verkehrsbereich hat: Mineralölsteuer, Kfz-Steuer, Versicherungsteuern. Das blenden Sie jedes Mal aus, wenn Sie
über die Maut reden.
({4})
Wir ruhen uns nicht darauf aus. Wie gesagt: Wir werden das Thema Mauthöheverordnung angehen. Das ist in
der Tat ein Unterschied zwischen uns und Ihnen: Wir
wollen keine zusätzlichen Belastungen für das Logistikgewerbe, für den Mittelstand. Wir wollen auch nicht, wie
Sie, die Ausweitung der Maut auf kleinere Fahrzeuge,
weil das den Mittelstand belasten würde. Deswegen ist
das unserer Meinung nach der falsche Weg, den wir
nicht mitgehen, Herr Kollege Beckmeyer.
Wir werden hingegen Anreize für den Einsatz von
schadstoffarmen Euro-6-Lkw setzen. Das wird ein wichtiges Thema sein, das wir im nächsten Jahr angehen.
({5})
Widmen wir uns nun einmal dem, was Sie alles, auch
in Anträgen, im Verkehrsausschuss gefordert haben, was
aber unserer Meinung nach so nicht geht:
Es kann doch nicht sein, dass wir den Menschen immer mehr in die Taschen greifen. Wir müssen einmal sehen, dass wir ein Steueraufkommen aus dem Verkehrsbereich haben, das mittlerweile bei 53 Milliarden Euro
liegt. Deswegen wird die FDP-Bundestagsfraktion eine
Pkw-Maut, die einfach eine weitere Belastung darstellt,
nicht unterstützen.
({6})
Sie wollen mit Ihren Anträgen die Citymaut einführen. Sie wollen eine Verkehrsinfrastrukturabgabe, eine
Logistikabgabe, die Erhöhung der Kfz-Steuer und die
Ausweitung der Lkw-Maut. Was Sie dabei aber unterschlagen? Diese Kosten würden dann natürlich an die
Verbraucher weitergegeben, weil alle Produkte teurer
werden.
({7})
Ihre Anträge - wir haben es einmal zusammengerechnet
- bedeuten 6,5 Milliarden Euro Mehrbelastung ohne jegliche Gegenfinanzierung. Das ist keine solide Politik, die
Sie im Verkehrsbereich machen. Deswegen lehnen wir
das ab, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Wir werden in dieser Legislaturperiode keine PkwMaut beschließen. Das steht nicht im Koalitionsvertrag.
Aber wir werden natürlich dafür sorgen, dass wir die
vorhandenen Mittel priorisieren.
({9})
Wir werden die private Beteiligung von Unternehmen
verstärken. Wir wollen Planungs- und Genehmigungsverfahren verbessern, damit wir für einen Euro mehr gebaut bekommen. Wir werden uns im Haushaltsverfahren
auch dafür einsetzen, mehr Geld für den Verkehrsinvestitionshaushalt zu bekommen.
Wie gesagt: Wir werden nächstes Jahr noch einmal
über das Thema Lkw-Maut diskutieren.
({10})
Dann wird es letzten Endes hier noch einmal zur Debatte
kommen.
Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen uns
und Ihnen: Wir setzen auf eine solide, nachhaltige und
finanzierte Verkehrspolitik.
({11})
Sie hingegen wollen weitere Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger, für den Mittelstand sowie für das Gewerbe, und das ist mit dieser Koalition nicht zu machen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Luksic, Sie haben gesagt, dass
die Logistikabgabe, die ein sehr modernes Instrument
war, das von Rot-Grün eingeführt worden ist, nicht
berücksichtigt habe, dass es inzwischen moderne Logistikketten gibt. Das heißt, Güter werden nicht entweder
auf der Schiene, auf der Straße oder auf dem Seeweg
transportiert, sondern in der Regel gibt es Logistikketten.
Weiterhin haben Sie davon gesprochen, dass die Verwendung der Mautmittel unklar und intransparent war.
({0})
Nun: 51 Prozent sind für die Straße verwendet worden,
38 Prozent für die Schiene und 11 Prozent für die Wasserstraße. Es mag sein, dass das intransparent ist. Aber,
wenn wir einmal ehrlich sind, ist das gar nicht so komplex.
({1})
Was haben Sie stattdessen gemacht? Sie setzen jetzt
die Mauteinnahmen nur noch für den Verkehrsträger
Straße ein.
({2})
Ist das wirklich ein modernes Logistikkonzept, das einer
der größten Exportnationen der Welt angemessen ist? Ist
das wirklich angemessen für ein Land, das so stark von
Export und Import abhängig ist, das so stark davon abhängig ist, dass wir die Verkehrsinfrastruktur zukunftsfähig machen? Nein, das ist es natürlich nicht.
({3})
Schauen wir uns einmal an, was Sie des Weiteren
noch gemacht haben. Sie beklagen jedes Mal wortreich,
dass die Einnahmen, dass die Gelder nicht ausreichen,
um die Verkehrsinfrastruktur auszubauen. Rot-Grün hat
einen guten Einnahmetopf geschaffen. Und was haben
Sie als Erstes gemacht? - Sie haben beschlossen, dass
dieser Einnahmetopf nicht mehr wachsen darf. Warum
beklagen Sie dann das Ganze? Wie passt das zusammen?
Sie sprechen auch gerne davon, dass das Ganze entsprechend marktwirtschaftlich organisiert werden muss.
Das ist sicher klug und richtig. Aber Marktwirtschaft
funktioniert nur dann richtig klug, wenn die Preise die
Wahrheit sagen. Die Preise sagen eben nicht die Wahrheit und können damit kein vernünftiges Signal an die
Märkte geben, wenn ein Teil der Kosten von der Allgemeinheit übernommen wird. Und es ist völlig unstrittig,
dass ein Teil der Kosten von der Allgemeinheit übernommen wird. Das hat zur Folge, dass der Mitteleinsatz
ineffizient wird. Das haben Sie noch verschärft. Nebenbei bemerkt - wenn ich es mir gestatten darf - finde ich
es lustig, dass ausgerechnet die Linksfraktion in dem
Fall so sehr für ein rein marktwirtschaftliches Instrument
streitet. Aber wie gesagt, man darf dazulernen.
({4})
Schauen wir uns einmal die Debatte insgesamt an:
Der Kollege von der FDP sprach davon, dass es keine
Pkw-Maut geben wird. Der Kollege der CSU, der der
gleichen Partei wie der Minister angehört, sprach von
der Pkw-Maut. Auch der Minister sprach des Öfteren davon. Es heißt ja, es gebe keine Denkverbote im Ministerium. Fragt man jedoch das Verkehrsministerium: „Plant
die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode,
die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland prüfen
zu lassen?“,
({5})
bekommt man die Antwort: Nein. Warum reden Sie dann
immer davon?
({6})
Warum beklagen Sie dann immer die nicht vorhandenen
Finanzen? Warum reden Sie immer davon, dass die Österreicher endlich bei uns zahlen sollen? Irgendetwas
stimmt hier nicht zwischen Worten und Taten.
Was brauchen wir? Wir brauchen endlich eine moderne Verkehrspolitik, die erkennt, dass es nicht genügt,
Umgehungsstraßen zu eröffnen - allerdings gibt es immer weniger neue Umgehungsstraßen - und sich dabei
feiern zu lassen. Wir brauchen eine moderne Verkehrspolitik, die insbesondere die Kosten des Güterverkehrs
vernünftig einbezieht, die die externen Kosten vernünftig einbezieht, damit die Marktwirtschaft funktioniert
und für Logistikketten zukünftig entsprechend aufeinander abgestimmte Konzepte angeboten werden. Davon
konnten wir leider bis jetzt sehr wenig erkennen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Bilger von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst herzlichen Dank an die SPD-Fraktion, dass Sie
uns mit Ihrer 87 Einzelfragen umfassenden Großen
Anfrage ein umfassendes Nachschlagewerk zur LkwMaut in Deutschland verschafft hat.
({0})
Danke aber auch dafür, dass Sie der Bundesregierung
damit die Gelegenheit gegeben haben,
({1})
aufzuzeigen, wie gut wir in der Koalition in der Verkehrspolitik arbeiten.
({2})
Der Titel der Großen Anfrage der Sozialdemokraten
lautet: „Zukunft des Mautkonzeptes in Deutschland“.
Nach der Lektüre der Antwort wird klar: Mit uns hat das
deutsche Mautkonzept eine Zukunft.
({3})
Sie geben uns Gelegenheit, dies noch einmal zu verdeutlichen.
Zunächst will ich festhalten: Die Mautausweitung auf
vierspurige Bundesstraßen stellt eine gute Regelung dar.
Die Ausdehnung des Streckennetzes war schon lange
angedacht, selbst von der SPD bei der Einführung des
Systems. Es waren die in der Antwort beschriebenen
technischen Probleme, die einer schnelleren Einführung
im Wege standen. Daran hat die Bundesregierung keine
Schuld. Die Bundesregierung hat aber durch geschickte
Verhandlungen mit dem Betreiber eine realistische Regelung gefunden, trotz der Differenzen wegen des
Schiedsverfahrens.
({4})
Außerdem ist es richtig und wichtig, dass der Bund
verschiedene Optionen für die Zukunft des Lkw-Mautsystems für die Zeit nach 2015 ergebnisoffen prüft. Ein
Schnellschuss oder eine Vorfestlegung würde hier niemandem nutzen.
Steigende Mauteinnahmen sind gut und wichtig. Sie
sind dringend nötig, um unsere Infrastruktur funktionsfähig zu erhalten.
({5})
Dabei sollte uns aber auch wichtig sein, und das sollte
man noch einmal verdeutlichen: Es geht um Arbeits24350
plätze, es geht um den Logistikstandort Deutschland,
und es geht nicht zuletzt um Kosten, die an die Verbraucher weitergegeben werden, wenn wir leichtfertig über
Mauterhöhung diskutieren, ohne die Risiken abzuwägen.
Ich denke, dass wir bisher einen guten Mittelweg gefunden haben, den es auch weiter zu beschreiten gilt.
Meine Damen und Herren, ich finde es etwas merkwürdig, dass die SPD mit ihrer Großen Anfrage versucht, Kritik an der Bundesregierung zu üben, ohne anscheinend selbst zu merken, woher die Grundprobleme
beim Mautkonzept kommen. Wenn damals unter einem
SPD-Bundesverkehrsminister sauber gearbeitet worden
wäre, würde es heute dieses Schiedsverfahren mit
seinem ungewissen Ausgang und seinen exorbitanten
Kosten vermutlich gar nicht geben.
({6})
Fast 100 Millionen Euro wurden bisher schon für dieses
Mautschiedsverfahren ausgegeben. Damit hätte man etliche Umgehungsstraßen bauen können.
({7})
Ich will aber nicht nur sagen, was schlecht war bei der
SPD, sondern auch, was gut läuft im Mautsystem. Insgesamt pflegen wir ja doch ein konstruktives Miteinander. Die Antwort der Bundesregierung zeigt deutlich,
dass das System funktioniert. Auf Mautausweichverkehre entfallen lediglich 4 Prozent, und der Anteil der
Mautpreller liegt gerade einmal bei unter 1 Prozent mit
sinkender Tendenz.
({8})
An dieser Stelle möchte ich auch die Leistung von Toll
Collect durchaus anerkennen, denn das System funktioniert mittlerweile technisch gut.
Doch - das ist in den bisherigen Reden schon angeklungen - es geht nicht nur um die Lkw-Maut, sondern
es geht auch allgemein um das Stichwort „Nutzerfinanzierung“. Beinahe im Wochenrhythmus stellt eine der
Oppositionsfraktionen der Bundesregierung eine Frage
zum Thema Pkw-Maut. Die Antwort ist, wie vorhin bereits gesagt wurde, immer dieselbe: keine Denkverbote,
steht zurzeit aber nicht auf der Tagesordnung. So ist es,
und so ist es auch in Ordnung,
({9})
auch wenn wir uns im Süden - das heißt, auch der grüne
Ministerpräsident in Baden-Württemberg - durchaus
vorstellen können, eine Maut- oder Vignettenlösung einzuführen.
Wir haben in den letzten Wochen wieder gehört, wie
unterfinanziert die Straße ist: In der Finanzplanung bis
2016 fehlen 1,7 Milliarden Euro für laufende Vorhaben.
Dazu gibt es für 7 Milliarden Euro baureife und planfestgestellte, also demnächst baureife Projekte. Darin sind
die üblichen Kostensteigerungen noch nicht einmal
enthalten. Pro Mobilität schreibt dazu: „Vor allem
Menschen in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen
warten auf die Lösungen ihrer Verkehrsprobleme.“ Wir
reden hier nicht von Wunschstraßen regionaler Vertreter,
sondern von für die Wirtschaft lebenswichtigen Bundesfernstraßen und von Umgehungsstraßen, die die Menschen von Lärm und Abgasen entlasten.
Allein mit Priorisierungen, Effizienzsteigerungen und
ähnlichen - durchaus auch wichtigen - Maßnahmen
kommen wir nicht weiter. Deswegen: Unsere Auffassung zu diesem Thema als CDUler aus Baden-Württemberg ist klar: Es muss auch weiterhin Spielraum für
Neubaumaßnahmen geben. Da unterscheiden wir uns
von dem grün-roten Weg. Und wie gesagt: Um mehr
Geld für die Infrastruktur zur Verfügung stellen zu können, darf es keine Denkverbote geben.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass nach dem ursprünglichen Konzept der SPD
ein Mehr an Mauteinnahmen noch nicht einmal dem
Verkehrshaushalt zugutegekommen wäre.
({10})
Es war - das wurde vorhin schon gesagt - Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer, der den Finanzierungskreislauf Straße eingeführt hat. Und noch einmal in
aller Deutlichkeit, weil es, wie ich immer wieder feststelle, viele Bürger gar nicht mitbekommen haben: Mittlerweile kommen die Lkw-Mauteinnahmen direkt der
Straßeninfrastruktur zugute. So muss es auch sein.
({11})
Vorhin wurde es bereits angesprochen, und Sie stellen
jetzt auch die Frage: Was ist mit der Schiene, und was ist
mit der Wasserstraße? Selbstverständlich erfolgt die
Finanzierung hierfür weiterhin aus dem Haushalt.
Nicht zuletzt: Es waren die Koalitionsfraktionen und
diese unionsgeführte Bundesregierung, die mit dem Infrastrukturbeschleunigungsprogramm den Mut aufbrachten, 1 Milliarde Euro zusätzlich in die Hand zu nehmen ein Vielfaches von dem also, was durch die von der SPD
beklagten Mautmindereinnahmen hereingekommen wäre.
Das nenne ich Prioritätensetzung.
Lassen Sie uns weiter darüber diskutieren, wie die
Mittel sinnvoll eingesetzt werden und wie es uns gelingen kann, insgesamt mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung zu haben.
Vielen Dank.
({12})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Florian Pronold von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe drei Minuten Redezeit.
({0})
Wenn ich alle Ankündigungen von Herrn Ramsauer zur
Einführung einer Pkw-Maut aus den letzten vier Jahren
hier vorlesen wollte - ich habe sie hier einmal ausgedruckt -, würde das allein 30 Minuten dauern.
({1})
Wir erleben hier ein Schauspiel, bei dem die schwarzgelbe Koalition in gewohnter Einigkeit auftritt. Der eine
sagt: Wir sind geschlossen für die Einführung der PkwMaut. Der andere sagt: Nein, wir werden sie nicht einführen. Der Dritte sagt: Es gibt keine Denkverbote; vielleicht sprechen wir einmal in der nächsten Wahlperiode
darüber, wenn wir nicht mehr regieren. Was ergibt denn
das für ein Bild? Die Bundesregierung sagt nüchtern und
knapp in der Antwort auf unsere Frage 87: Es wird in
dieser Wahlperiode keine Pkw-Maut geben.
Da frage ich mich: Was hat denn dieser Minister drei
Jahre lang gemacht? Warum debattiert er denn über die
Pkw-Maut, wenn sie zum Schluss sowieso nicht kommt?
Ich frage mich auch, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CSU, warum Sie die Menschen im Rahmen der
Propaganda auf Ihrem Parteitag und der Anträge, die Sie
dort verabschieden, belügen.
({2})
7. Oktober 2011, Beschluss des CSU-Parteitages zur
Einführung der Pkw-Maut mit einem ganz spannenden
letzten Absatz, in dem nämlich steht: Die deutschen Autofahrer sollen nicht an den Kosten der Pkw-Maut beteiligt werden, sondern sie sollen durch andere Maßnahmen entlastet werden.
Wenn das so ist, dann stellt sich erst einmal die Frage:
Woher kommt denn das Mehr an Geld für die Infrastruktur? Die ausländischen Autofahrer, die 7 Prozent der Autofahrer insgesamt ausmachen, können es nicht sein;
denn eine Erhebung der Pkw-Maut bei diesen würde gerade einmal die Einführungskosten erbringen.
Dann lesen wir in der Antwort der Bundesregierung
auf Frage 86 der Großen Anfrage, dass dies europarechtlich gar nicht zulässig ist, was übrigens CSU-Abgeordnete schon vor diesem Beschluss des Parteitages vom
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages
bescheinigt bekommen haben. Trotzdem lügen Sie die
Menschen an und sagen, das koste die deutschen Autofahrer nichts, das zahlten bloß die Ausländer, und beschließen das mit dem stellvertretenden Parteivorsitzenden der CSU und Bundesverkehrsminister auf Ihrem
Parteitag. Das ist Lügen par excellence.
({3})
Dann können wir uns noch über die hier vorgebrachten Wehklagen über das fehlende Geld unterhalten. Der
Kollege Beckmeyer hat schon auf Folgendes hingewiesen: Wenn Sie sagen, dass schon mit 100 Millionen Euro
eine Menge Umgehungsstraßen gebaut werden können,
was könnte dann mit den 500 Millionen Euro gebaut
werden, die uns zusätzlich zur Verfügung stünden, wenn
Sie das mit der Lkw-Maut unter Ihrer Verantwortung
richtig gemacht hätten? 500 Millionen sind uns durch
die Lappen gegangen. Das sind fünfmal so viele Umgehungsstraßen.
({4})
Da Sie beklagen, dass auch ansonsten Geld für den
Verkehrshaushalt fehlt, sage ich Ihnen eines: 1,5 Milliarden Euro haben Sie jedes Jahr im Haushalt aus dem Bereich des Verkehrs, über die Luftverkehrsteuer und über
die Bahndividende, mehr eingenommen. So gut wie
nichts davon ist für die Verkehrsinfrastruktur ausgegeben worden. Da helfen auch keine verkehrsträgereigenen
Finanzierungskreisläufe. Es ist zu wenig Geld vorhanden.
Wissen Sie, was das Schlimme ist? Schlimm ist nicht,
dass Herr Ramsauer Ankündigungen macht und sie nicht
einhält. Das Schlimme ist, dass dies drei verlorene Jahre
für die Infrastruktur, für die Zukunft von Deutschland,
für Wachstum und Arbeitsplätze waren.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2013
- Drucksachen 17/10000, 17/10604 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 17/11190, 17/11220 Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingLothar Binding ({1})Dr. Daniel VolkLisa Paus
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11191 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider ({3})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({4})
b) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes
und des Kraftfahrzeugsteuergesetzes ({5})
- Drucksachen 17/10039, 17/10424 24352
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({6})
- Drucksachen 17/11183, 17/11219 Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsSabine Bätzing-LichtenthälerDr. Daniel VolkLisa Paus
- Bericht des Haushaltsausschusses ({7})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11187 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider ({8})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({9})
Zu dem Jahressteuergesetz 2013 liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD, ein Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke, zwei Änderungsanträge der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD und über einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
werden wir später namentlich abstimmen.
Zu dem Verkehrsteueränderungsgesetz liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Olav Gutting von der CDU/
CSU-Fraktion.
({10})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In
zweiter und dritter Lesung behandeln wir heute einen
Gesetzentwurf, der es schon aufgrund seines Umfangs in
sich hat.
({0})
Zusammen mit den Empfehlungen des Bundesrates waren es über 200 steuerrechtliche Maßnahmen, über die
wir zu beraten hatten.
Wie immer enthält das Jahressteuergesetz neben einer
Vielzahl von technischen und redaktionellen Änderungen auch eine Reihe von politisch bedeutsamen Regelungen und Maßnahmen. Ein Beispiel dafür ist die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Steuerunterlagen.
Im Interesse des Bürokratieabbaus, den diese Koalition
konsequent durchführt, werden die bisherigen Aufbewahrungsfristen von zehn Jahre in einem ersten Schritt
auf acht Jahre abgesenkt und in einem weiteren Schritt
ab dem Jahr 2015 auf sieben Jahre verkürzt. Der Normenkontrollrat, der sich diese Sache angeschaut hat, bestätigt uns hierfür eine Kostenersparnis bei den Bürokratiekosten von circa 2,5 Milliarden Euro.
Mit unserem Jahressteuergesetz 2013 bauen wir auch
die steuerlichen Wettbewerbsnachteile für Elektro- und
Hybridfahrzeuge ab. Wir wollen Deutschland bis zum
Jahr 2020 zu einem Leitmarkt und zu einem Leitanbieter
für Elektromobilität entwickeln.
({1})
Zukünftig wird deshalb der Listenpreis als Besteuerungsgrundlage für die 1-Prozent-Regelung bei den
Dienstwagen um die Kosten des Batteriesystems gemindert.
Ebenfalls bedeutsam in diesem Gesetz ist, dass wir
die ursprünglich vorgesehene Besteuerung von Reservistenbezügen nicht umsetzen. Wir wollen hiermit nochmals unterstreichen, dass wir die Bezüge bei den Reservisten wie bisher komplett steuerfrei belassen. Wir
halten dies auch angesichts der besonderen Belastung
von Reservisten, die ihr Berufsleben für die Wehrübungen und -einsätze unterbrechen, für mehr als gerechtfertigt.
({2})
Die Kritik der gewerblichen Bildungsträger, die durch
eine Umsatzsteuerfreiheit den Vorsteuerabzug verlieren
würden, haben wir aufgegriffen und den in vielen Gesprächen vorgetragenen Befürchtungen der Volkshochschulen und der privaten Musik-, Tanz- und Ballettschulen zum Verlust ihrer bisherigen Umsatzsteuerfreiheit
Rechnung getragen.
Mit dem Jahressteuergesetz versuchen wir auch immer, missbräuchlichen Gestaltungen, das heißt Gestaltungen mit dem Ziel der legalen Steuervermeidung, einen Riegel vorzuschieben. Bei diesen Steuervermeidungsmodellen, die immer wieder auftauchen, ist es ja
oft so wie bei Hase und Igel: Kaum haben wir ein Steuersparmodell vom Markt genommen, tauchen bereits andere kreative Modelle am Steuersparhorizont auf. Deswegen ist es wichtig, dass wir hier immer auf Zack sind
und rechtzeitig gegensteuern.
In letzter Zeit hat sich hier ein Modell etabliert, das
die arbeitsplatzerhaltende Privilegierung von Betriebsvermögen beim Betriebsübergang ausnutzt. Es ist das
vereinzelte Phänomen der sogenannten Cash-Gesellschaften, mit denen Barvermögen über eine Gesellschaft
als Vehikel quasi steuerfrei auf die nächste Generation
geschleust wird. Wir brauchen hier eine angemessene
Regelung, welche diese missbräuchliche Gestaltung verhindert. Aber wir müssen gleichzeitig aufpassen, dass
wir bei einer solchen Regelung nicht den Betrieben und
Unternehmen in unserem Land die Liquidität entziehen.
Deswegen ist der zu diesem Bereich vorliegende Vorschlag der Opposition und des Bundesrates nicht tauglich; er schüttet das Kind mit dem Bade aus und gefährdet damit viele Arbeitsplätze beim Betriebsübergang.
Wir werden - das haben wir zugesagt - noch einmal eingehend prüfen, wie wir das Gestaltungsmodell der CashOlav Gutting
Gesellschaften trennscharf austrocknen können. Schnellschüsse sind allerdings bei der Vielzahl der hier auf dem
Spiel stehenden Arbeitsplätze und der Vielzahl der steuerehrlichen Betriebe und Unternehmen in unserem Lande
nicht angezeigt.
({3})
Dass es uns ernst ist mit dem Ziel, Modelle zur Steuervermeidung auszuschalten und zu unterbinden, zeigt
sich auch an der Tatsache, dass wir mit unserem Jahressteuergesetz 2013 den sogenannten Goldfinger-Modellen einen Riegel vorschieben, bei denen ausländische
Rohstoffhandelsgesellschaften genutzt werden, um über
den negativen Progressionsvorbehalt und das DBA-Abkommen eine Steuerminderung hinzubekommen. Dies
wird zukünftig nicht mehr möglich sein. Wir wollen in
dieser Regierungskoalition - darin sind wir uns einig missbräuchliche Steuergestaltungen ausschalten. Es geht
hier genauso um Gerechtigkeit wie heute Nachmittag
beim Schweizer Steuerabkommen; wir wollen, dass der
Steuerehrliche keine Nachteile hat.
({4})
Mit Blick auf dieses große Gesetzeswerk - ich habe
es vorhin gesagt: über 200 zu beratende Änderungen bedanke ich mich abschließend bei den Berichterstattern
der Koalition, aber auch der Opposition für die immer
gute, faire und zielorientierte Zusammenarbeit. In diesen
Dank beziehe ich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BMF und des Finanzausschusses ein, die sich
im Zusammenhang mit diesem Gesetzgebungsverfahren
teilweise weit über die normalen Dienstzeiten hinaus
eingesetzt haben. Dafür mein Dankeschön!
Jetzt ist es so weit, dass wir diesem Gesetz nach dieser Debatte zustimmen können. Es ist ein Omnibusgesetz, und es braucht freie Fahrt.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
({0})
Schönen Dank, Herr Präsident. - Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben vorhin in einer feurigen Rede von Herrn
Brinkhaus gehört: Die Koalition liefert.
({0})
Das ist klar. Man sollte natürlich bei jeder Lieferung gucken, ob die Produkte nicht faul sind, ob sie nicht defekt,
unvollständig oder alt sind.
({1})
Da muss man immer ein bisschen genauer hingucken.
Ich möchte vorab sagen: Den Dank, den Herr Gutting
formuliert hat, nehmen wir an; denn wir haben uns wirklich angestrengt, gut zu beraten. Dem Lob an die Verwaltung und die Mitarbeiter schließen wir uns an, weil sie
sehr viel arbeiten mussten und gute Vorlagen gemacht
haben.
Wir spüren aber doch: Es kommt in dieser Legislaturperiode eine gewisse Endzeitstimmung auf. Das erkennt
man daran, dass in einer Wahnsinnshektik unendlich
viele Anträge sehr kurzfristig eingebracht wurden. Man
erkennt, dass noch der letzte Spiegelstrich der Koalitionsvereinbarung eilfertig in ein Gesetz gegossen werden muss, und dann vergisst man natürlich wichtige
Dinge.
Sie werden zum Beispiel erleben, dass Baden-Württemberg den Vermittlungsausschuss anruft, weil Regelungen fehlen, um die ungerechte Besteuerung bei
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zu beenden. Das ist auch sinnvoll; denn es ist an der Zeit, dass
das geregelt wird.
({2})
Dazu stellen die Grünen einen Antrag, wir stellen einen
Antrag. Da merkt man: Das Gesetz ist einfach nicht zeitgemäß.
Es gibt noch andere Dinge, die man jetzt hätte korrigieren müssen. So stellen wir etwa einen Antrag auf Abschaffung der Sondervergünstigungen für Hotels.
({3})
Auch das hätte man jetzt korrigieren müssen. Sie alle
wissen, dass dies falsch war. Man kann erkennen, dass
das Nähen mit heißer Nadel nicht immer dazu führt, dass
die Lieferung am Ende gut ist.
Es ist sogar so, dass die Regierung mitunter Dinge
versucht hat, die vernünftig sind, nämlich entlang der
EU-rechtlichen Vorgaben Dinge zu regeln und der
Rechtsprechung Genüge zu leisten. Es kamen, der Hektik geschuldet, teilweise schlechte Regelungen heraus:
Die Volkshochschulen, die Musikschulen und natürlich
die Vereine - auf sie komme ich gleich zurück - mussten
sich aufregen, weil die neuen Regelungen für sie eine
extreme Verteuerung bedeutet hätten. Man muss sagen,
dass es bei der Beratung des Entwurfes ungefähr so lief:
Man entwickelt eilfertig schlechte Regelungen, kämpft
dann eine ganze Weile erfolgreich gegen sich selbst,
streicht diese Regelungen wieder und verkauft das dann
als großen Erfolg für die Bürger.
({4})
Aber diesen Umweg hätte man sich vielleicht auch sparen können.
Ich will es nur an einem Beispiel deutlich machen. Da
gab es eine Regelung zu den Vereinen; ich nenne einmal
die DLRG. Wir wissen, der Verfassungsschutz arbeitet
immer hundertprozentig korrekt - das erleben wir gerade
an allen Ecken und Enden -; aber trotzdem könnte ein
Irrtum passieren. Wenn jetzt so ein Verein irrtümlich im
Lothar Binding ({5})
Verfassungsschutzbericht erwähnt worden wäre, hätte
das dazu geführt, dass er die Gemeinnützigkeit verloren
hätte, und zwar ohne dass der Verein die Chance gehabt
hätte, das zu korrigieren und zu widerlegen. Das heißt,
man wollte den Vereinen sogar den Rechtsweg, den Weg
des Widerspruchs abschneiden. Wie kann man denn
solch eine Regelung treffen? Wir sind froh, dass Sie
auch da den Kampf gegen sich selbst gewonnen haben
und das wieder herausgenommen haben.
({6})
Es ist natürlich völlig klar, dass sich dann auch der Paritätische Gesamtverband aufregt; denn er hatte große
Sorge, was das tatsächlich bedeuten würde.
Wenn man ein bisschen genauer hinschaut, dann
merkt man: Dinge, die man heute hätte regeln können,
sind zum Teil sehr feingliedrig. Ich nenne das Beispiel
der Probleme mit den Selbsthilfeeinrichtungen der Pfarrerschaft. Das ist etwas Kompliziertes; man muss darüber genau nachdenken. Aber diese Probleme sind gar
nicht angepackt worden. Warum? Man war zu eilig, zu
hektisch, zu wenig problemorientiert. Man hat zu stark
auf das Liefern geachtet, aber nicht auf die Qualität.
({7})
Die SPD stellt auch Anträge mit der Ausrichtung,
Steuerschlupflöcher zu schließen. Ich will, weil meine
Redezeit zu Ende ist, es nur kurz erwähnen: Wenn man
erkennt, dass mit dem Kauf oder Verkauf einer Aktie
1,5 Milliarden Euro Steuern gespart werden können, und
erkennt, dass da im Umwandlungssteuerrecht ein Problem besteht, dies aber im Jahressteuergesetz 2013 nicht
anpackt, dann frage ich mich: Was ist das eigentlich für
eine Gesamtlieferung?
Ich würde sagen: Wir kleben auf die Lieferung: Return to Sender. Das wäre eine ganz gute Sache. Deshalb
lehnen wir das Gesetz ab.
({8})
Der Kollege Daniel Volk ist für die FDP-Fraktion der
nächste Redner.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Kollege Binding, was Sie gerade dargestellt haben bezüglich des Jahressteuergesetzes - das ist ja eigentlich Ihr großes Lieblingsprojekt;
Sie sagen immer, wir bräuchten diese Jahressteuergesetze -, entspricht in keiner Weise der Realität.
({0})
Sie wissen ganz genau, dass ein Jahressteuergesetz im
Wesentlichen dadurch entsteht, dass Vorschläge aus der
Verwaltung, aus den Finanzämtern und von den Bundesländern in einem Gesetzentwurf zusammengefasst werden. Dieser wird dann dem Parlament vorgelegt. Es ist
ein ganz normaler Vorgang, dass in einem solchen Gesetzentwurf Punkte geändert oder gestrichen werden.
Das so auszulegen, als habe die Koalition intern miteinander gerungen, ist abwegig.
({1})
Das ist jenseits der Realität, Herr Kollege Binding, und
das wissen Sie selber ganz genau.
({2})
Im Zuge dieses Tagesordnungspunktes beraten wir
nicht nur das Jahressteuergesetz, sondern auch das Verkehrsteueränderungsgesetz. Ich möchte zunächst darauf
hinweisen, dass wir als Koalition in diesem Verkehrsteueränderungsgesetz - im Wesentlichen betreffend das
Versicherungsteuergesetz, aber auch das Kraftfahrzeugsteuergesetz - zusätzlich eine Regelung aufgenommen
haben, die der Tatsache, dass die zu beobachtenden Wetterextreme immer stärker zunehmen, gerecht wird. Das
vorliegende Gesetz ist eben auf der Höhe der Zeit. Es ist
uns gelungen, die sogenannte Hagelversicherung für
Landwirte und Gärtnereien zu einer Mehrgefahrenversicherung auszuweiten, in die auch Elementarschäden wie
Starkfrost oder Überschwemmungen aufgenommen werden. Das ist ein Verdienst dieser Koalition. Wir als Koalition helfen denjenigen, die durch Wetterextreme beeinträchtigt werden.
({3})
Kollege Binding, in Bezug auf das Jahressteuergesetz
haben Sie die Thematik angesprochen, wie wir mit mutmaßlich verfassungsfeindlichen Organisationen im Steuerrecht umgehen sollten. Der Vorschlag, der uns vorgelegt wurde - übrigens unterstützt vom Bundesrat, dem
auch Rot und Grün angehören -, hätte faktisch zu einer
Verkürzung der Rechtsweggarantie geführt. Deswegen
haben gerade wir als FDP gesagt, dass wir es nicht in
Ordnung finden, eine solche Verkürzung der Rechtsweggarantie vorzunehmen; denn der Rechtsstaat ist nur dann
ein starker Rechtsstaat, wenn er wirklich allen dieselbe
Rechtsschutz- und Rechtsweggarantie gewährt. Die von
der Verwaltung vorgeschlagene Regelung war mit uns
nicht zu machen. Wir haben die entsprechenden Punkte
wieder aus dem Entwurf herausgestrichen. Das ist ein
gutes Signal für den deutschen Rechtsstaat.
({4})
Zum Bereich der privaten Bildungsanbieter, aber auch
der Volkshochschulen. Ja, die Regelung, die diesbezüglich von der Verwaltung vorgeschlagen wurde, hat zu eiDr. Daniel Volk
ner erheblichen Unruhe bei den Betroffenen geführt. Wir
haben die Bedenken aufgenommen, weil wir finden,
dass Bildung nicht der Sicherung der Steuereinnahmen
dient; vielmehr dient Bildung der Zukunft unseres Landes. Deswegen haben wir uns dafür eingesetzt, dass die
Umsatzsteuerfreiheit im Zusammenhang mit Bildungsangeboten bestehen bleibt.
({5})
Man muss bedenken: Wir mussten aufgrund europäischer Vorgaben eine Umsatzsteuerregelung im Hinblick
auf Kunst- und Sammlergegenstände vornehmen. Wir
als Koalition haben uns dafür eingesetzt, dass für diese
Steuerpflichtigen, für Galeristen, Münzsammler und
Briefmarkensammler, eine bürokratiefreie, pragmatische
Regelung eingeführt werden wird. Wir können also sagen, dass europäische Vorgaben von uns im Parlament
umgesetzt werden. Allerdings berücksichtigen wir dabei
die Bedenken, die Sorgen und die Nöte der Steuerpflichtigen. Auch das ist eine gute Nachricht für die Betroffenen.
({6})
Der Entwurf des Jahressteuergesetzes 2013 umfasst
viele Punkte. Es ist immer eine Herausforderung, einen
solchen Entwurf in allen Einzelpunkten zu beraten. Die
Koalitionsfraktionen haben die Beratungen im Finanzausschuss verantwortungsvoll und im Interesse der Steuerpflichtigen geführt. Wir legen heute ein Jahressteuergesetz zur Beschlussfassung vor, das eine bürokratiefreie
und für die Steuerpflichtigen günstige Anwendung der
dort vorgesehenen Regelungen ermöglicht.
Abschließend möchte ich noch einen entscheidenden
Punkt erwähnen, die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen. Mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
setzen wir ein Projekt dieser Koalition fort: die Sicherstellung der Durchführung einer zeitnahen Betriebsprüfung. Ein wesentlicher Aspekt beim Bürokratieabbau ist
nämlich, dass steuerpflichtige Unternehmen so schnell
wie möglich durch eine zeitnahe Betriebsprüfung
Rechtssicherheit bekommen. Aus diesem Grund ist die
Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ein ganz entscheidender Punkt in diesem Jahressteuergesetz.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Barbara Höll für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich möchte mich für den Dank, den Herr Gutting
ausgesprochen hat, bedanken, kann ihn aber nicht zurückgeben. Nach allen Beratungen, in denen wir wirklich
entgegenkommend waren, und vor der letzten Beratung
war klar: Es ist, wie es ist. Wir haben Fachgespräche geführt. Die meisten Abgeordneten hatten ihre Vorbereitung für die Ausschusssitzung am Mittwoch bereits am
Dienstagabend beendet. Dann kam das böse Erwachen
am Mittwochvormittag: 37 Änderungsanträge - ich wiederhole: 37 ({0})
hat die Koalition am späten Dienstagabend in die Büros
gemailt. Das ist keine Grundlage für eine ordentliche
Beratung, noch dazu, wenn wir zwei Gesetze ändern, die
sehr viele technische Details enthalten. Das heißt für
uns, dass wir alles kontrollieren müssen, um feststellen
zu können, was sich tatsächlich hinter den Änderungen
verbirgt.
({1})
Das ist keine gute parlamentarische Arbeit. Das zeigt,
dass Sie sich selbst und das, was Sie tun, nicht mehr
ernst nehmen.
Wir begrüßen, dass Sie einige Teile herausgenommen
haben. An dieser Stelle kann man sagen: Okay, die Beratungen haben wenigstens ein bisschen gewirkt. Sie
schlagen aber auch Änderungen vor, die wir nicht begrüßen können. Fangen wir doch einmal mit den Aufbewahrungsfristen an, Herr Volk. Sie verkürzen jetzt also die
Aufbewahrungsfrist und sagen großartig: Das soll Einsparungen von über 1 Milliarde Euro bringen. Es wurde
übrigens nie gesagt, warum das eine Einsparung bringen
soll. Ich meine, dass es ganz egal ist, ob die Akten oder
CDs ein Jahr länger oder kürzer im Keller liegen. Mir
hat sich bis heute nicht erschlossen, wieso dadurch Bürokratiekosten eingespart werden.
({2})
Sie sagen, es solle dann zu zeitnahen Betriebsprüfungen
kommen. Haben Sie das Personal in den Finanzämtern
denn entsprechend aufgestockt? Wurde veranlasst, dass
das personell unterfüttert wird?
({3})
Und wie sieht das eigentlich mit dem Strafrecht aus?
Welche Regelungen haben wir da? Ich sage: Diese Verkürzung der Aufbewahrungsfristen kann dazu führen,
dass der Steuervollzug nicht mehr ordentlich kontrolliert
werden kann. Das lehnen wir natürlich ab.
({4})
Sie haben gesagt - das ist richtig -, dass die Extremismusklausel herausgenommen wurde. Wir haben Ihnen
dazu einen Änderungsantrag vorgelegt. Man muss sich
einmal anschauen, was in der Abgabenordnung zur Gewährung von Vergünstigungen für gemeinnützige Vereine steht: Die Vereine dürfen dem Gedanken der Völkerverständigung nicht zuwiderhandeln. Rassistische
und gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes
gerichtete Bestrebungen sollen natürlich nicht steuerlich
gefördert werden. Bisher ist das von den Finanzämtern
ordentlich überprüft worden. Es hätte weder dieser Regelung jetzt bedurft noch der Änderung der Abgabenordnung 2009. Sie drücken hier wieder unter dem diffusen
Begriff des Extremismus einen Allgemeinverdacht gegen viele engagierte Personen aus, die aktiv gegen
rechtsextremistisches Denken in Deutschland wirken.
Sich dann auch noch auf den Verfassungsschutz zu berufen,
({5})
das spricht den Vorgängen hier und dem Engagement der
Menschen Hohn.
({6})
Dazu, dass Sie daran gedacht haben, eine solche Ungehörigkeit vorzusehen, fehlen einem die Worte.
Ich möchte kurz noch etwas zur Änderung des Verkehrsteuergesetzes sagen. Dass auch die Hagelversicherung für landwirtschaftliche Betriebe der ermäßigten
Besteuerung unterliegen soll, das begrüßen wir. Im Gesetzentwurf ist aber auch - das präsentieren Sie als Erfolg, Herr Gutting - die steuerliche Bevorzugung, die
Subventionierung - sprich: auf Kosten der Allgemeinheit - von Elektroautos vorgesehen. Das ist klimapolitisch aber völlig kurzfristig gedacht. Denn erstens bleiben Sie damit bei der Förderung des Individualverkehrs,
und zweitens wissen wir nicht - wir wissen es vor allem
aufgrund Ihrer Energiepolitik nicht -, wie der Strom erzeugt wird, den die Elektroautos verbrauchen. Bleibt es
bei Kohle, oder ist es tatsächlich grüner Strom? Dann
könnte man eventuell darüber nachdenken. Nein, dies
müssen wir anders anpacken. Wenn wir subventionieren,
dann nachhaltig. Dann müssten wir zum Beispiel etwas
im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs tun.
Ich bedaure es sehr, dass Sie auch den Empfehlungen
des Bundesrates nicht vollständig gefolgt sind. Das trifft,
wie Kollege Binding schon sagte, unter anderem den
Evangelischen Pfarrverein. Da gibt es die Einrichtung
einer solidarischen Selbsthilfe hinsichtlich der Krankenversicherung. Hierzu streichen Sie jetzt Regelungen.
Diese Organisationen wissen nicht, wie es weitergehen
soll. Da fehlen sogar mir als Atheistin die Worte.
Wir können diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Wir unterstützen die Vorschläge der SPD und der Grünen - dies wären sinnvolle Ergänzungen - zur steuerlichen Gleichstellung der Eingetragenen Lebenspartnerschaften
Frau Kollegin.
- und zur Rücknahme der steuerlichen Bevorzugung
bei den Hotelübernachtungen, also der Regelung, in deren Rahmen Sie eine einseitige Bevorzugung Ihrer
Klientel vorgenommen haben. Wir unterstützen diese
Änderungsanträge, aber dem Gesetzentwurf stimmen
wir nicht zu.
({0})
Lisa Paus ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende
des Tages waren es 36 Änderungsanträge von SchwarzGelb.
({0})
Aber eine Änderung durfte einfach nicht dabei sein: die
vollständige Gleichstellung der Eingetragenen Lebenspartnerschaften im Steuerrecht, vor allem nicht bei
der Einkommensteuer. Dabei hat das höchste Gericht in
diesem Lande in den vergangenen zehn Jahren jedes Mal
und ohne Ausnahme festgestellt, dass die steuerliche Ungleichbehandlung von Lebenspartnerschaften im Vergleich zu Ehen verfassungswidrig ist. Mittlerweile gewähren 14 Bundesländer Rechtsschutz in der Frage der
einkommensteuerlichen Gleichstellung, nur die schwarzgelb geführten Länder Bayern und Sachsen tun es nicht.
So geht eine vermeintlich bürgerliche Regierung mit ihren Bürgern und mit den Bürgerrechten in diesem Land
um. Das ist absurd.
({1})
Wir geben Ihnen heute noch eine letzte Gelegenheit,
das zu korrigieren. Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu, in dem gefordert wird, die Gleichstellung endlich vollständig herzustellen.
({2})
Man muss bei diesem Gesetz absurderweise begrüßen, was nicht darin steht. Sie von der Koalition wollten
ernsthaft Babyschwimmkurse besteuern, weil - Zitat bei unter Dreijährigen gar nicht von einer Bildungsleistung gesprochen werden kann - Zitat Ende.
({3})
Dies entspricht der Linie der Familienministerin
Schröder. Dazu fällt mir nur eines ein: das Betreuungsgeld.
({4})
Das Gleiche gilt für die Umsatzsteuerpraxis bei Musik-, Tanz- und Ballettschulen und anderen Bildungsträgern. Diese wollten Sie ändern und damit deren Existenz
gefährden.
({5})
Diesen Quatsch lassen Sie jetzt sein. Auch darüber sind
wir froh. - Herr Volk, Sie wissen, dass ich recht habe.
Sie wollten den Verfassungsschutz künftig entscheiden lassen, welche Organisation gemeinnützig ist und
welche nicht.
({6})
Der Verfassungsschutz zeigt aktuell in einem wirklich
erschreckenden Ausmaß, dass er so jedenfalls überhaupt
nicht funktioniert. Auch hier sind Sie zurückgerudert,
und auch darüber sind wir froh.
({7})
Dennoch konnten Sie nicht aus Ihrer Haut, auch an
diesem Jahressteuergesetz war wieder die MövenpickKoalition zugange. Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes werden - dafür haben Sie sich selber gelobt - die
Aufbewahrungsfristen für Unternehmen verkürzt. Ich
frage die Koalition: Wenn Belege nach sieben Jahren
vernichtet werden dürfen, wie soll dann die Steuerfahndung, wie gesetzlich vorgeschrieben, Steuerhinterziehung noch bis zu zehn Jahre zurückverfolgen können?
Die Betriebsprüfer der Finanzämter sind doch schon
jetzt am Limit. Die Verkürzung der Frist für die Aktenaufbewahrung wird deswegen gerade nicht dazu führen,
dass die Unternehmen schneller geprüft werden, sondern
dazu, dass deutlich weniger Unternehmen geprüft werden. 1 Milliarde Euro weniger an Einnahmen erwarten
die Länder. Einladung zum Steuerbetrug; ich sage: Das
ist absurd.
({8})
Auch bei der Erbschaftsteuer laden Sie weiter zum
Missbrauch ein. Allein durch die Wahl der Rechtsform
kann man steuerlich profitieren. Der Bundesfinanzhof
- nicht die Grünen - hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass Ihre Reform verfassungswidrig ist. Was
braucht es noch, dass Sie endlich aufwachen? Ohne eine
Änderung bleibt es weiterhin möglich, dass zum
Beispiel von einem 73-Millionen-Euro-Geschenk von
Anteilen an einem Medienunternehmen kein einziger
Euro Schenkungsteuer hängen bleibt. Meine Damen und
Herren, das müssen wir dringend ändern.
({9})
Auch was die Energiewende angeht, ist bei Ihnen
Fehlanzeige. Wir alle wissen, dass nur CO2-arme, spritsparende, saubere Autos eine Zukunft haben. Wie diese
Autos genau aussehen werden, wissen wir heute noch
nicht. Gerade deswegen ist eine technologieneutrale Förderung für den Durchbruch emissionsarmer Fahrzeuge
im Massengeschäft so wichtig. Das wissen selbst Sie,
muss ich konzedieren - bis vor einer Woche jedenfalls.
In Ihren Beschlüssen der ganzen letzten Jahre stand, dass
Autos mit einem CO2-Ausstoß von weniger als
50 Gramm pro Kilometer keine Kfz-Steuer zahlen müssen. Wir wollten mehr; aber Sie ersetzen jetzt selbst
diese Position durch ein Placebo mit der Überschrift
„Elektromobilität“. Auch das ist absurd.
({10})
Wir haben dazu Änderungsanträge gestellt. Damit haben Sie jetzt eine letzte Chance, alles auszubessern. Sollten Sie diese Chance nicht wahrnehmen, müssen wir Ihren Gesetzentwurf leider ablehnen.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Patricia Lips das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es geht heute Abend um zwei große Gesetzespakete: zum einen um das Jahressteuergesetz und zum
anderen um ein Gesetzespaket, das Änderungen bei der
Versicherungsteuer und bei der Kraftfahrzeugsteuer
bringt; im Folgenden möchte ich mich ein Stück weit darauf beschränken.
Um was geht es uns grundsätzlich? Es geht uns um
mehr Klarheit bei den Kriterien und damit verbunden um
größere Rechtssicherheit sowie um den Abbau von Bürokratie und die Erhöhung der Transparenz. Hinzu
kommt - wir hörten es bereits; ich komme noch einmal
darauf zurück -, dass Elektrofahrzeuge statt fünf Jahre
nun zehn Jahre von der Steuer befreit werden.
Zur Änderung der Versicherungsteuer. Wir begrüßen
ausdrücklich Punkte wie die Anhebung von Schwellenwerten, die Zusammenfassung von Zeiträumen zur
Veranlagung, die Möglichkeit der elektronischen Anmeldung und vieles andere mehr; ich möchte hier nur einige Beispiele nennen.
An anderen Punkten kamen die Koalitionsfraktionen
im Zuge der Beratungen zu inhaltlich durchaus abweichenden Beurteilungen bzw. zu Ergänzungen. Aus Zeitgründen möchte ich hier nur zwei Schwerpunkte nennen:
In dem Entwurf war ursprünglich vorgesehen, dass künftig auch die verwirklichten Selbstbehalte bei der KfzHaftpflichtversicherung der Besteuerung unterliegen
sollen. Dies würde zwangsläufig zu einer Neukalkulation unzähliger Verträge führen und dazu, dass nun wirklich jeder Schadensfall, der über den Selbstbehalt geregelt wurde, gemeldet werden müsste. Deswegen haben
wir diese Regelung wieder aus dem Entwurf herausgenommen.
({0})
Eine wichtige Neuerung - wir hörten das bereits in
Anklängen - gibt es hingegen in Ergänzung zum Gesetz
für die deutschen Landwirte. Dabei geht es um die sogenannte Mehrgefahrenversicherung. Hagel ist eine der
größten Gefahren für die Landwirtschaft. Deshalb gilt
bereits seit 1922 ein besonderer Steuersatz für die Hagelversicherung. Weitere Elementarschäden wie Frost,
Starkregen und Überschwemmungen - wir alle kennen
sie aus unseren Regionen -, die bisher mit dem regulären
Steuersatz belegt waren, werden nun dem Hagel gleichgesetzt und gemeinsam mit dem besonderen Steuersatz
in Höhe von 0,3 Promille auf die Versicherungssumme
belegt.
Wir kommen damit einer Entwicklung entgegen, die
sich seit Jahren im Zuge des Klimawandels bemerkbar
macht. Gleichzeitig streben wir als Finanzpolitiker aber
auch noch eine Entlastung für die Allgemeinheit an. Der
Abschluss von Mehrgefahrenversicherungen wird attraktiver als bisher, sodass bei einer Verwirklichung des
Risikos, also im Schadensfall, weniger die Steuerzahler
und vermehrt Versicherungen für den Schaden aufzukommen haben. Das ist in mehrerer Hinsicht ein ganz
wichtiger Baustein in diesem Gesetz.
({1})
Darüber hinaus war es uns wichtig, dass in manchen
Bereichen verstärkt für Planungssicherheit gesorgt wird.
Dies gilt beispielsweise für die Versicherung von Windkraftanlagen im Offshorebereich, der nun - analog den
Anlagen an Land - durch das Gesetz ebenfalls der Versicherungsteuer unterliegt. Hier haben wir durch eine
leichte Zeitverzögerung mit Inkrafttreten ab 2014 für
Planungssicherheit gesorgt.
Kommen wir noch einmal zur Kfz-Besteuerung. Im
Rahmen des Gesamtprogramms „Elektromobilität“ wollen wir in der Tat alle Elektrofahrzeuge statt für bisher
fünf nun für zehn Jahre steuerfrei stellen. Neben immer
mehr privaten Nutzern setzen auch Fahrzeugflotten diese
Fahrzeuge ein. Diese Entwicklung wollen wir verstärkt
fördern. Wir haben es heute Abend schon gehört: Es ist
der zweite Baustein - neben einem anderen im Jahressteuergesetz -, durch den wir für die E-Mobilität eine
weitere Förderung vorsehen. Die Förderung der Elektromobilität ist eine Richtung im Gesamtprogramm, die zu
begrüßen ist; auch das war uns wichtig. Es sind am heutigen Abend also zwei Maßnahmen zu nennen, durch die
diese Technik weiter gefördert wird.
({2})
Nun kann man diese Steuerbefreiung - Frau Paus hat
es angesprochen - natürlich auf weitere emissionsarme
Fahrzeuge ausdehnen. Ein entsprechender Änderungsantrag liegt vor. Auch die Stellungnahme des Bundesrates
sieht dies vor. Ich will an dieser Stelle auch nicht die
Formulierung im Regierungsprogramm - Elektromobilität - verschweigen. Ich sage aber auch: Wir haben 2009
die Kfz-Steuer neu geregelt und den Schwerpunkt dabei
auf den CO2-Ausstoß gelegt. Seit dieser Zeit sind
10 Millionen Fahrzeuge neu zugelassen worden, die dieser Regelung unterliegen. Wir haben die Situation, dass
Hybridfahrzeuge und erdgasbetriebene Fahrzeuge in
vielen Fällen wegen des Bezuges auf den CO2-Ausstoß
bereits heute steuerfrei sind. Es bleibt lediglich die
Mindestbelastung beim Hubraum. Das sind in der Regel
20 bis 40 Euro im Jahr. Die können wir jetzt auch noch
streichen. Ich persönlich glaube als Finanzpolitiker aber
nicht, dass wir damit einen noch größeren Anreiz setzen,
als wir ihn bisher an dieser Stelle schon haben. Wir
haben den richtigen Weg eingeschlagen.
Ich möchte zum Abschluss noch einen Punkt erwähnen. Wir werden aus dem Kfz-Steuergesetz auch eine
Regelung herausnehmen. Da geht es um den Bestand der
Altfahrzeuge, die ab 2013 ebenfalls unter diese Neuregelung hätten fallen sollen. Wir mussten feststellen, dass es
keine geeignete und rechtssichere Messtechnik gibt. Wir
reden hier über Millionen von Fahrzeugen. Machen wir
uns nichts vor: Für die meisten wäre das wahrscheinlich
- das liegt in der Natur der Sache - mit einer leichten
Steuererhöhung verbunden. Hier rate ich dringend, dieses Vorhaben erst in Gang zu setzen, wenn wir diese
Rechtssicherheit haben. Das hat nichts mit Verweigerungshaltung oder Ähnlichem zu tun. Das ist nicht
schön. Aber wir haben es zu akzeptieren. Von daher werden wir diese Regelung im Kfz-Steuergesetz streichen.
Das gehört zur Aufrichtigkeit und zur Transparenz des
Gesetzes. Es wäre nur Augenwischerei, etwas darin zu
lassen, was an dieser Stelle dann doch nicht in Kraft treten kann.
Ich darf mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit
bedanken und bitte um Zustimmung.
({3})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Vorredner haben die Gesetzentwürfe
inhaltlich schon zusammengefasst. Deshalb will ich nur
noch einige Worte zum Verfahren sagen: So geht es
nicht!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, wundern Sie sich wirklich, dass die Menschen
Ihre Politik nicht mehr verstehen? Wie soll man auch nur
einem Bürger sinnvoll erklären, dass Sie nicht nur im
Entwurf des Jahressteuergesetzes 2013, sondern auch im
Entwurf des Verkehrsteueränderungsgesetzes fast alles
gestrichen haben, was ursprünglich enthalten war, und
jetzt wesentliche Änderungen aufgenommen haben, die
vorher überhaupt nicht erwähnt waren? Und das alles in
einem Gesetz, das Sie als ein Gesetz zur Klarstellung
von Dingen bezeichnet haben, die eigentlich ganz klar
sind und jetzt nicht mehr klargestellt werden müssen,
weil sie so klar sind. Ich verstehe das nicht mehr.
Was ist eigentlich los bei Ihnen?
({1})
War der Gesetzentwurf der Bundesregierung von Anfang an so schlecht, dass von ihm nichts übrig blieb,
oder war er gut und zielführend, aber Sie trauen sich nur
nicht, ihn umzusetzen, weil Sie schon in den Wahlkampfmodus geschaltet haben und wieder einmal Steuergeschenke verteilen wollen?
({2})
Das Ministerium wollte noch sachlich und fachlich
arbeiten, aber Ihre Botschaft an das BMF war klar:
Unbequeme steuerpolitische Vorhaben sind in dieser
Wahlperiode nicht mehr gefragt.
({3})
Für Sie zählt nur noch Wahlkampf, und deshalb geht es
ans Geschenkeverteilen.
Dieser Verdacht wird auch noch durch das Steuergeschenk an die Landwirte - Stichwort „Mehrgefahrenversicherung“ - gestärkt. Es kann sich nur um ein Geschenk
handeln; denn wenn man die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates liest,
dann sieht man, dass die Bundesregierung darauf hinweist, dass diese Ausweitung abzulehnen ist, da es sich
um eine neue Subvention handelt, die erstens nicht mit
dem Ziel der Haushaltskonsolidierung vereinbar sei und
zweitens neue Begehrlichkeiten wecke. Nun denn, wie
dem auch sein mag, ob Unfähigkeit der Bundesregierung
oder Geschenke vor der Bundestagswahl: Beides ist für
Sie peinlich.
({4})
Es ist aber nicht nur peinlich. Darüber hinaus entsteht
auch ein Schaden für das parlamentarische System,
({5})
wenn 37 Änderungsanträge nicht vollständig beraten
werden können, weil sie erst, wie zur Umsatzsteuerneuregelung für den Kunsthandel, wenige Stunden oder, wie
zur Versicherungsteuer bei Elementarschäden, sogar nur
wenige Sekunden - jawohl: Sekunden! - vor der
abschließenden Beratung in den Finanzausschuss eingebracht werden.
Sie wissen, dass das peinlich ist. Nicht umsonst haben
Sie die Debatten im Ausschuss nach Möglichkeit verkürzen wollen und für die nicht ganz unwichtigen Themen
Jahressteuergesetz 2013 und Verkehrsteueränderungsgesetz nur eine gemeinsame Plenardebatte von gerade
einmal 30 Minuten angesetzt.
({6})
Sie hoffen wohl insgeheim, dass so niemand merkt, dass
Sie beispielsweise davor zurückgeschreckt sind, europarechtskonforme Regelungen für die Umsatzbesteuerung
von Bildungsleistungen zu schaffen.
Tja, und beim Kunsthandel haben Sie uns auch noch
Ihre Arbeit machen lassen; denn ohne unseren Entschließungsantrag und unseren Hinweis darauf, dass das Vertragsverletzungsverfahren der EU bei Ihrer Untätigkeit
fortgesetzt wird, wären Sie davon überrascht worden,
und Deutschland hätte eine empfindliche Strafe erhalten.
Warum das alles? Nur weil Sie schon im Wahlkampfmodus sind. Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Schwarz-Gelb, werden Sie noch ein knappes Jahr arbeiten müssen. Aber keine Sorge, danach entlasten wir Sie
und übernehmen gerne Ihre Regierungsgeschäfte.
Danke.
({7})
Bevor wir zur Abstimmung über den von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurf eines Jahressteuer-
gesetzes 2013 kommen, weise ich darauf hin, dass mir
dazu eine Reihe von schriftlichen Erklärungen zur
Abstimmung von einer weiter wachsenden Zahl von
Kolleginnen und Kollegen vorliegt, die wir alle dem
Protokoll beifügen.1)
Der Kollege Volker Beck hat um das Wort für eine
mündliche Erklärung zur Abstimmung gebeten.
({0})
- Auch das bewegt sich völlig im Rahmen unserer Geschäftsordnung. - Dafür darf ich um Aufmerksamkeit
bitten. Anschließend treten wir in die Abstimmung ein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte Ihnen erklären, warum ich und auch andere
Grüne, die eigentlich keine Fans des Ehegattensplittings
sind, sagen: Ja, wir wollen eine Gleichstellung für Eingetragene Lebenspartnerschaften im jetzigen Einkommensteuerrecht. Dort findet sich nun einmal das Ehegattensplitting. Deshalb heißt es für uns: Übertragung
des Ehegattensplittings auf Eingetragene Lebenspartnerschaften, solange es existiert.
Ich bin da ganz bei Philipp Rösler, der sagt:
Gerade bei der Einkommensteuer ist der jetzige
Rechtszustand verfassungsrechtlich bedenklich:
Lebenspartner haben alle Unterhalts- und Einstandspflichten, aber keine Anerkennung bei der
Steuer.
Da hat er recht. Das muss sich ändern. Dafür bietet die
heutige Entscheidung die Gelegenheit.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns nun in vier
Entscheidungen, bei der Hinterbliebenenversorgung und
bei zwei steuerrechtlichen Entscheidungen, auf den Weg
gegeben, dass der bloße Verweis auf das Schutzgebot der
Ehe keine Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung
zwischen Eingetragener Partnerschaft und Ehe darstellt.
Es hat ferner ausgeführt - ich zitiere -:
Ein Grund für die Unterscheidung von Ehe und ein-
getragener Lebenspartnerschaft kann nicht … darin
gesehen werden, dass typischerweise bei Eheleu-
1) Anlagen 4 bis 10
Volker Beck ({1})
ten … aufgrund von Kindererziehung ein anderer
Versorgungsbedarf bestünde als bei Lebenspartnern … Nicht in jeder Ehe - so das Bundesverfassungsgericht gibt es Kinder. Es ist auch nicht jede Ehe auf Kinder ausgerichtet. Ebenso wenig kann unterstellt
werden, dass in Ehen eine Rollenverteilung besteht,
bei der einer der beiden Ehegatten deutlich weniger
berufsorientiert wäre.
Das Bundesverfassungsgericht sagt auch: Die Rechtsfolgen gründen im Wesentlichen auf der Unterhaltspflicht. - Das ist auch bei allen einkommensteuerrechtlichen Privilegierungen so, wie bei der Grunderwerbsteuer
und wie beim Erbschaftsteuerrecht, was das Hohe Haus
als Gesetzgeber inzwischen leidvoll anerkannt hat, nachdem das Bundesverfassungsgericht es darüber belehrt
hat.
Wir hatten eine umfangreiche Debatte. Aus allen
Fraktionen des Hohen Hauses gab es in der Sommerpause Unterstützung für die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe im Steuerrecht. Frau
Leutheusser-Schnarrenberger hat in einem Brief an
Herrn Schäuble geschrieben, eine entsprechende Gesetzesänderung könne durch das Jahressteuergesetz 2013
erreicht werden.
({2})
Patrick Döring hat gesagt:
Wir wollen diskriminierende Tatbestände im Steuerrecht abbauen. Dazu gehört für die FDP, dass wir
jetzt schnell die Frage des Ehegattensplittings auch
für eingetragene Lebenspartnerschaften im nächsten Jahressteuergesetz klären.
Das war am 26. August dieses Jahres. Das nächste Jahressteuergesetz liegt heute auf dem Tisch.
Herr Mücke hat gesagt, was passiert, wenn diese Regelung nicht kommt:
Wenn die CSU das Ehegattensplitting für Lebenspartnerschaften blockiert, obwohl eine Gleichstellung im Koalitionsvertrag vereinbart ist, werden
FDP-Abgeordnete dem Betreuungsgeld nicht zustimmen, obwohl auch das im Koalitionsvertrag
vereinbart worden ist.
Da bin ich einmal gespannt.
Gleichstellung, gleiche Rechte, Respekt vor allen
Bürgerinnen und Bürgern sind kein Thema für Koalitionsschacher. Das ist ein verfassungsrechtliches Gebot.
Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann können Sie dieses verfassungsrechtliche Gebot heute umsetzen.
({3})
Ab dem ersten Tag der Lebenspartnerschaft muss
Gleichberechtigung gelten.
({4})
Das erwarten die Menschen draußen im Land; zu Recht und das gebietet die Verfassung!
({5})
Nun hat auch der Kollege Michael Kauch um die
Möglichkeit gebeten, eine mündliche Erklärung abzugeben. Ich mache aber schon jetzt darauf aufmerksam:
Falls noch weitere Kolleginnen und Kollegen auf einen
ähnlichen Einfall kommen sollten, werde ich sie nach
der namentlichen Abstimmung aufrufen.
({0})
Herr Kollege Kauch.
Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Beck, ich
möchte Ihnen erläutern, warum meiner Kenntnis nach
acht Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion diesem Antrag zustimmen und sich drei enthalten werden.
({0})
Ich möchte Ihnen aber sehr deutlich sagen, Kollege
Beck: Das, was in dieser Koalition vereinbart ist, was in
dieser Koalition durchgesetzt und entschieden wird,
überlassen Sie den Koalitionsfraktionen.
({1})
Das klären wir intern. Dafür brauchen wir Ihre Nachhilfe
nicht, lieber Kollege Beck.
({2})
Deshalb gilt, meine Damen und Herren: Wer gleiche
Pflichten hat, muss auch gleiche Rechte haben. Eingetragene Lebenspartner haben wechselseitig die gleichen
Unterhalts- und Einstandspflichten wie Ehegatten. Deshalb sind sie auch im Steuerrecht entsprechend anzuerkennen.
Ich sage Ihnen ein Beispiel. Ich lebe in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft. Wenn mein Partner seine
Arbeit verlieren würde und ich einstandspflichtig bin,
dann kann ich laut heute geltendem Steuerrecht etwa
8 000 Euro steuerlich geltend machen, wenn der Lebenspartner quasi auf Hartz IV angewiesen ist.
Es ist aber so, dass Unterhaltspflichten über Hartz IV
hinausgehen. Meine Unterhaltspflicht gegenüber meinem Lebenspartner entspricht der Höhe des Lebensstandards in der Partnerschaft. Das ist genauso wie bei den
vielen Kolleginnen und Kollegen, die verheiratet sind.
Deshalb ist es aus meiner Sicht eine Frage der politischen Fairness, aber auch eine Frage der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung, an dieser Stelle
endlich das zu tun, was im Übrigen das Verfassungsgericht angemahnt hat.
In seiner Entscheidung zur Erbschaftsteuer aus dem
Jahr 2010 stellt das Bundesverfassungsgericht fest:
Geht jedoch die Förderung der Ehe mit einer Benachteiligung anderer Lebensformen einher, obgleich diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zielen
der Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt die bloße
Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe eine solche Differenzierung nicht …
Welches Schutzgebot wird denn an dieser Stelle normiert? Normiert ist hier, dass Unterhalts- und Einstandspflichten in einer Ehe - und aus unserer Sicht eben auch
in einer Lebenspartnerschaft - sich widerspiegeln müssen in der steuerlichen Leistungsfähigkeit dieser Partner.
Das ist aber kein Instrument, um Kinder zu fördern.
Kollegin Reiche hat im Sommer eine solche Argumentation verfolgt. Diese ist aus meiner Sicht aber verfehlt;
({3})
denn das Ehegattensplitting kommt auch den Kolleginnen und Kollegen hier im Haus sowie den Bürgerinnen
und Bürgern im Land zugute, die - gewollt oder ungewollt - keine Kinder haben. Umgekehrt zeugt das folgende Beispiel von einer besonders fragwürdigen Art
von Familienpolitik: Mit mir befreundete lesbische eingetragene Lebenspartner, die zwei Kinder in ihrer Beziehung aufziehen, können sich nicht dazu entscheiden,
dass eine der Partnerinnen zu Hause bleibt, weil es finanziell keine Entsprechung im Steuerrecht gibt und sie
deshalb wie Fremde besteuert werden. Wenn man der
Auffassung ist, dass es Wahlfreiheit für die Betreuung
von Kindern geben muss, dann muss man sich fragen, ob
das die richtigen Anreizstrukturen sind.
({4})
Meine Damen und Herren, deshalb ist das für uns eine
grundsätzliche Frage, eine Frage von Bürger- und Menschenrechten. Deshalb werden wir hier - wohl wissend,
dass der große Teil unserer Fraktion sich nachvollziehbarerweise an den Koalitionsvertrag und die darin festgelegten nicht wechselnden Mehrheiten halten wird anders stimmen als die Mehrheit unserer Fraktion. Wir
würden uns freuen, wenn alle Kolleginnen und Kollegen, die sich auf den Koalitionsvertrag berufen, diesen
dann auch in allen seinen Teilen ernst nehmen.
Vielen Dank.
({5})
Wir kommen nun zu den Abstimmungen.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf den Drucksachen 17/11190 und 17/11220,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 17/10000 und 17/10604 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor,
über die wir zuerst abstimmen. Über zwei Änderungsan-
träge werden wir namentlich abstimmen.
Wir kommen zunächst zu den namentlichen Abstim-
mungen.
Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der Fraktion
der SPD auf der Drucksache 17/11193, über den wir auf
Verlangen der Fraktion der SPD namentlich abstimmen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der
Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Abgeordneter im Saal anwesend, der
seine Stimmkarte für die erste namentliche Abstimmung
zum Jahressteuergesetz nicht abgegeben hat? - Das ist
nicht der Fall. Dann schließe ich die erste namentliche
Abstimmung.1)
Wir kommen nun zu dem Änderungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11196,
über den wir auf Verlangen derselben Fraktion nament-
lich abstimmen.
Ich bitte, die Urnen auszuwechseln und mir zu signa-
lisieren, ob es losgehen kann. - Das sieht jetzt ganz so
aus. Dann eröffne ich die namentliche Abstimmung über
den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Ist mein Eindruck richtig, dass nun alle Anwesenden
ihre Stimmkarte abgegeben haben? Es kennt auch keiner
einen, der eigentlich hätte hier sein müssen und seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist beruhi-
gend. Dann schließe ich auch die zweite namentliche
Abstimmung.2)
Wir kommen nun zur Abstimmung über zwei weitere
Änderungsanträge.
Zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/11194.
Wer möchte für diesen Änderungsantrag stimmen? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/11195 auf.
Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichen
Abstimmungen unterbreche ich die Sitzung, weil wir die
Schlussabstimmung natürlich erst in Kenntnis der Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen über die Änderungsanträge durchführen können, und melde mich
nach Vorliegen der Ergebnisse wieder zu Wort.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
1) Ergebnis Seite 24362 C
2) Ergebnis Seite 24364 C
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich habe zwei gute Nachrichten: Die erste Auszählung ist erfolgt - und auch die zweite.
({0})
Zunächst gebe ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD-Fraktion in der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung zum Jahressteuergesetz 2013 bekannt:
abgegebene Stimmen 550. Mit Ja haben gestimmt 244,
mit Nein haben 306 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine. Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 550;
davon
ja: 244
nein: 306
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({1})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({2})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({3})
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({4})
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({5})
Frank Hofmann ({6})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({7})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({8})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({9})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({10})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({11})
Bernd Scheelen
({12})
Werner Schieder ({13})
Carsten Schneider ({14})
Swen Schulz ({15})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({16})
Uta Zapf
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({17})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({18})
Volker Beck ({19})
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({20})
Ingrid Hönlinger
Präsident Dr. Norbert Lammert
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({21})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({22})
Manuel Sarrazin
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({23})
Wolfgang Wieland
Nein
CDU/CSU
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({24})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({25})
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({26})
Dirk Fischer ({27})
Axel E. Fischer ({28})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({29})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({30})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({31})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({32})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({33})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({34})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({35})
Anita Schäfer ({36})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({37})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({38})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({39})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({40})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({41})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({42})
Peter Weiß ({43})
Sabine Weiss ({44})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
Präsident Dr. Norbert Lammert
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({45})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({46})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({47})
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({48})
Michael Link ({49})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({50})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
({51})
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Serkan Tören
({52})
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({53})
Nun gebe ich zum Änderungsantrag von Bündnis 90/
Die Grünen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: Es hat wiederum 550 abgegebene Stimmen gegeben. Diesem Antrag haben 253 Kolleginnen
und Kollegen zugestimmt. Mit Nein haben 288 gestimmt. 9 haben sich der Stimme enthalten. Damit ist
auch dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 550;
davon
ja: 253
nein: 288
enthalten: 9
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({54})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({55})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({56})
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({57})
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({58})
Frank Hofmann ({59})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({60})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({61})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({62})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({63})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({64})
Bernd Scheelen
({65})
Werner Schieder ({66})
Carsten Schneider ({67})
Swen Schulz ({68})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({69})
Uta Zapf
Brigitte Zypries
Präsident Dr. Norbert Lammert
FDP
Sylvia Canel
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Dr. Peter Röhlinger
Marina Schuster
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({70})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({71})
Volker Beck ({72})
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({73})
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({74})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({75})
Manuel Sarrazin
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({76})
Wolfgang Wieland
Nein
CDU/CSU
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({77})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({78})
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({79})
Dirk Fischer ({80})
Axel E. Fischer ({81})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({82})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({83})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({84})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({85})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({86})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({87})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({88})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({89})
Anita Schäfer ({90})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({91})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({92})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({93})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({94})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({95})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({96})
Peter Weiß ({97})
Sabine Weiss ({98})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({99})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({100})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Patrick Kurth ({101})
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dr. Martin Lindner ({102})
Michael Link ({103})
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Petra Müller ({104})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
({105})
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Johannes Vogel
({106})
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({107})
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Jan-Marco Luczak
Elisabeth WinkelmeierBecker
FDP
Christine AschenbergDugnus
Lars Lindemann
Dr. Birgit Reinemund
Manfred Todtenhausen
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. Das macht einen guten Eindruck. - Wer
stimmt dagegen? - Möchte sich jemand enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf mehrheitlich angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/11197. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 15 b. Hier geht es um die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Verkehrsteueränderungsgesetzes. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/11183 und 17/11219, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/10039 und 17/10424 in der Ausschussfassung
anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt diesem Änderungsantrag auf Drucksache
17/11198 zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Der Gesetzentwurf ist mit erkennbar ausreichender
Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anette Kramme, Hubertus Heil
({108}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Neue Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt
- Drucksache 17/9974 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({109})InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Juratovic für die SPD-Fraktion.
({110})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir hier über Integration debattieren,
sind das oft eher abstrakte Debatten, wie zum Beispiel
zum Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei.
Genauso oft reden wir über Integration im Zusammenhang mit Sprache und Bildung.
Integration ist jedoch viel mehr. Wir müssen konkret
werden und sagen, was Integration tatsächlich bedeutet.
Integration fängt immer mit einem Zugehörigkeitsgefühl
an. Man muss ganz konkret erleben, dass man dazugehört und dass man in der Gesellschaft akzeptiert, respektiert und gebraucht wird.
({0})
Daher ist Integration immer etwas, was von beiden Seiten geleistet werden muss: von denen, die zu uns kommen, aber auch von der Aufnahmegesellschaft.
Aus meiner Zeit am Fließband weiß ich, wie wichtig
der Arbeitsplatz ist, damit Integration gelingt. Wir haben
mit Kollegen aus mehr als 50 Nationen zusammengearbeitet. Viele von meinen Kollegen haben am Fließband
Deutsch gelernt. Durch unsere gemeinsamen Aufgaben
und unsere gemeinsamen Ziele haben wir uns als Team
gefühlt. Wir haben uns mit unserem Betrieb identifiziert
und hatten ein Zugehörigkeitsgefühl.
Unser Ziel muss sein, dass sich alle Menschen in unserem Land - ob mit oder ohne Migrationshintergrund mit unserem Land und seiner Vielfalt identifizieren.
({1})
Aus meiner persönlichen Erfahrung weiß ich, dass wir
eine gute und funktionierende Integration in den Arbeitsmarkt brauchen, um Integration in der gesamten Gesellschaft erfolgreich gestalten zu können.
Vor diesem Hintergrund beraten wir heute einen Antrag der SPD-Fraktion zu neuen Chancen für Menschen
mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt. Denn
leider hat die Integration auf dem Arbeitsmarkt nicht
überall so erfolgreich geklappt wie bei mir im Betrieb.
Das beweisen zahlreiche Statistiken und Studien. Seit
Jahren ist die Arbeitslosigkeit unter Ausländern, also
Menschen ohne deutschen Pass, doppelt so hoch wie von
Deutschen.
Im Jahr 2008 hatten 37,5 Prozent der 25- bis 34-Jährigen mit Migrationshintergrund keinen beruflichen Abschluss. Bei den jungen Menschen ohne Migrationshintergrund waren das „nur“ 10,8 Prozent. Jugendliche mit
Migrationshintergrund haben bei gleichen Qualifikationen geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz als
deutschstämmige Jugendliche. In der Weiterbildung
werden weniger Menschen mit Migrationshintergrund
berücksichtigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt mehrere
Gründe, warum wir daran etwas ändern müssen.
Erstens. Natürlich muss jeder Einzelne, der hier bei
uns lebt, eine Chance auf Integration haben. Dazu gehört
vor allem die Integration auf dem Arbeitsmarkt. Das ist
auch eine entscheidende Frage der Würde jedes Einzelnen.
({2})
Denn niemand will auf staatliche Almosen angewiesen
sein.
Zweitens. Für unseren Staat ist es aus ganz rationalen
Gründen wichtig, dass möglichst alle Menschen in den
Arbeitsmarkt integriert sind. Es gibt eine Studie, die die
Kosten der Nichtintegration berechnet hat. Das Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat dazu die fehlenden Einnahmen durch Steuern und Abgaben sowie
die höheren Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme
berechnet. Diese Studie zeigt: Es lohnt sich auch finanziell, sich für die Integration in den Arbeitsmarkt einzusetzen; denn dadurch kann der Staat später eine ganze
Menge Geld sparen.
Drittens. Für unsere Wirtschaft ist es wichtig, dass
Menschen mit Migrationshintergrund auf unserem Arbeitsmarkt aktiv sind. Wir diskutieren hier seit langem
über die Fachkräfteentwicklung in unserem Land. Wir
alle wissen, dass wir nur dann genügend Fachkräfte ha24368
ben, wenn wir alle Menschen in unserem Land in den
Arbeitsmarkt integrieren.
({3})
Unsere Wirtschaft kann es sich nicht leisten, hier eine
große Gruppe an Menschen auszuschließen. Deshalb
zähle ich darauf, bei der Integration in den Arbeitsmarkt
auch tatkräftige Unterstützung aus der Wirtschaft zu bekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gespräch vor allem mit Jugendlichen, die einen ausländisch klingenden
Namen haben, erfahre ich immer wieder von Diskriminierungen. Die Uni Konstanz hat in einer Studie nachgewiesen, dass Menschen mit ausländisch klingendem Namen bei Bewerbungen diskriminiert werden. Deswegen
ist es eine zentrale Forderung in unserem Antrag, Diskriminierungen abzubauen.
({4})
Ein entscheidender Punkt dafür sind anonyme Bewerbungen. Wenn die Personalabteilung am Anfang ausschließlich die Qualifikation begutachtet, sortiert sie
nicht bewusst oder unbewusst die Menschen mit ausländisch klingendem Namen aus. In einem Modellprojekt
hat sich gezeigt, dass anonyme Bewerbungen denjenigen
Menschen nutzen, die derzeit am Arbeitsmarkt nicht so
viele Chancen haben, vor allem ältere Arbeitnehmer und
Menschen mit Migrationshintergrund. Vom Ergebnis des
Modellprojekts waren auch die Arbeitgeber selbst überrascht. Sie haben zugegeben, dass unterschwellig Diskriminierung stattfand, die durch anonyme Bewerbungen
verhindert wird. Diese Studie sollte uns Ansporn genug
sein, bundesweit anonyme Bewerbungen einzuführen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Arbeitsmarktpolitik stärker darauf ausrichten, dass Menschen mit Migrationshintergrund von den Maßnahmen
erreicht werden. Bei der Arbeitsförderung muss die Förderung von Menschen mit Migrationshintergrund zum
Schwerpunkt werden. Wir brauchen ein Arbeitsmarktprogramm „Perspektive MigraPlus“ ähnlich der „Perspektive 50plus“.
Mir persönlich ist es besonders wichtig, auch das
Schicksal derjenigen zu betonen, die in Deutschland nur
mit Duldung leben. Dahinter stehen viele persönliche
Schicksale, die Menschen in ihren Heimatländern durchgemacht haben. Hier in Deutschland wird ihnen zu lange
der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt.
({6})
Wir brauchen eine gesetzliche Klarstellung, dass Geduldete mit Arbeitserlaubnis von den Agenturen für Arbeit
und Jobcentern beraten werden müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nur einige
der Forderungen, die in unserem Antrag enthalten sind.
Wir haben sorgfältig und durchdacht aufgelistet, welche
Änderungen wir brauchen, damit Menschen mit Migrationshintergrund mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt
haben. Leider herrscht vonseiten der Bundesregierung
ziemlicher Stillstand, was konkrete Maßnahmen angeht.
Es reicht nicht aus, nur anlässlich von Migrationsgipfeln
schöne Worte zu finden; vielmehr müssen wir endlich
konkret handeln.
({7})
Integration ist ein gegenseitiger Prozess, ein Geben
und ein Nehmen. Zu Recht erwarten wir von den Migranten, dass sie sich bemühen und uns etwas geben.
Aber gerade wir von der Politik müssen auch etwas geben, nämlich reale Chancen auf unserem Arbeitsmarkt.
Schließlich sind all die Menschen, von denen ich hier
spreche, Steuerzahler, wenn auch oft ohne Stimmrecht
bei Wahlen. Wir müssen Integration leben und sie im
Alltag und im Arbeitsmarkt umsetzen. Dazu brauchen
wir die Maßnahmen aus unserem SPD-Antrag.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ulrich Lange ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der SPD, lieber Kollege Juratovic, beinhaltet einen großen Strauß von vielen Maßnahmen, die wir an diversen und unterschiedlichsten Stellen hier bereits diskutiert haben, letztmalig im Mai zu dem Thema „Chancen
für Fachkräfte“. Ich gebe Ihnen aber durchaus recht, dass
das Thema „Migration in der Arbeitswelt“ ebenfalls eine
solche Debatte wie die heutige rechtfertigt. Aber wir
wissen um diese Problematik. Man sieht auch in dem
Nationalen Aktionsplan Integration, den die Bundesregierung Ende Januar 2012 vorgestellt hat, dass wir uns
bewusst und konsequent dieser Aufgabe annehmen und
sie als Kernaufgabe verstehen.
Zweifellos ist es richtig, dass insbesondere jugendliche Ausländerinnen und Ausländer eine deutlich höhere
Arbeitslosigkeit als Deutsche haben. Ich bin aber, lieber
Kollege, mit einer Aussage nicht ganz einverstanden,
und das sage ich hier auch sehr deutlich: Dies ist nicht in
erster Linie eine Frage des Passes. Das möchte ich hier
schon angemerkt haben.
({0})
- Die Einbürgerung erleichtert ihn; aber es ist nicht eine
Frage des Passes an sich. Das wollte ich schon richtiggestellt haben.
({1})
Es ist vielmehr - das erlaube ich mir hier schon auch zu
sagen, lieber Kollege - auch eine Frage der Sprachbeherrschung, der Möglichkeit des Zugangs zu Bildung
und auch der Eltern, die die Kinder dann an die Sprache
und an die Bildung heranführen müssen. Ich glaube, dass
dies der Schwerpunkt unserer Aufgabe sein sollte.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung strategische Ziele formuliert. Ein Ziel ist natürlich, die Qualifizierung durch interkulturelle und migrationsspezifische Qualifizierung des Beratungspersonals zu erhöhen,
die betriebliche Integration zu verbessern und die von
mir bereits angesprochene Fachkräftebasis zu sichern.
Mit einer Vielzahl von Programmen und Maßnahmen
- ich glaube, hier haben wir in den letzten Monaten und
Jahren gehandelt - sind wir arbeitsmarktpolitisch aktiv
geworden. Das Ministerium für Arbeit und Soziales hat
seit Mitte 2011 durch das Förderprogramm „Integration
durch Qualifizierung“ gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Bundesagentur für Arbeit eine bundesweite sichtbare Struktur
regionaler Netzwerke aufbauen können. Das sind sicherlich wichtige und entscheidende Schritte. Das IQ will
Handlungsansätze entwickeln; es will helfen, Abschlüsse
anzuerkennen und die Verfahrenssituation transparent
darzustellen.
Auch heute agieren viele Bundesinstitutionen schon
sehr realitätsnah und sehr eng an der Problematik. Ich
nenne das Beispiel Berlin mit dem „Tag der Migration“.
Hier sind auch wieder das Jobcenter, die Ausländerbehörde und viele andere zusammen auf einer Plattform,
um Erfahrungen auszutauschen und Möglichkeiten auszuloten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im
Herbst 2011 ein Fachkräftekonzept beschlossen und dort
auch eine Bedeutungsreihenfolge festgelegt, nämlich
heimisches Potenzial vor Zuwanderung. Hier gehören,
lieber Kollege Juratovic, die Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land zum heimischen Potenzial,
das wir auf jeden Fall stärker und noch besser schöpfen
und ausnutzen müssen.
({2})
Sie sehen also an einigen Beispielen, die ich hier aufgezeigt habe, dass wir uns der Problematik annehmen,
dass wir die Problematik erkannt haben und dass wir unter Federführung unseres Ministeriums und unserer
Ministerin Ursula von der Leyen gute Schritte vorangekommen sind. Ich kann nur appellieren: Unterstützen Sie
uns gemeinsam auf diesem Weg, damit wir die Potenziale heben und damit wir die Arbeitswelt zugunsten der
Menschen mit Migrationshintergrund offener machen
können.
Herzlichen Dank.
({3})
Die Kollegin Dağdelen ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Lange, ich muss doch schon sehr bitten. Sie
haben gesagt, es ist nicht nur der Pass. Nein, es geht um
die Situation, dass allein der Name bereits ausreicht. Der
Kollege führt in dem vorgelegten Antrag ja aus, dass es
eine Studie der Institute zur Zukunft der Arbeit gibt, die
belegt, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die
einen türkischen Namen aufweisen, bei Bewerbungsverfahren allein aufgrund des Namens trotz gleicher oder
sogar besserer Qualifikation als Menschen ohne Migrationshintergrund deutlich weniger zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden. Deshalb bitte ich Sie: Sehen Sie endlich die Realität in Deutschland! Es gibt
Diskriminierung. Diese Diskriminierung ist auch strukturell, und deshalb muss sie auch beendet werden. Deshalb appelliere ich an Sie.
({0})
Ich begrüße insoweit für meine Fraktion den Antrag,
stellt er doch schon auf die Verbesserung der Situation
für Menschen mit Migrationshintergrund ab. Wenn man
die letzten Jahre im Deutschen Bundestag Revue passieren lässt, muss man sich fragen, warum Sie von der SPD
jetzt eigentlich das fordern, was Sie unter Rot-Grün oder
auch Schwarz-Rot, das heißt in sage und schreibe elf Regierungsjahren, immer wieder verhindert haben. Warum
haben Sie das damals nicht gemacht?
({1})
Es geht um Maßnahmen, die schon seit Jahren von uns
gefordert werden: Schaffung eines Zugang zum Arbeitsmarkt, Einführung eines anonymisierten Bewerbungsverfahrens, Anerkennung von Berufsabschlüssen, die im
Herkunftsland erworben worden sind. Noch vor ein paar
Jahren, als Sie an der Regierung waren, haben Sie unsere
Anträge abgelehnt, in denen die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse gefordert wurde. Ich finde es
daher nicht besonders seriös, diese Anträge jetzt zu
kopieren und vorzulegen.
({2})
Ich finde, ein Rückblick schadet nicht. Der Kollege
Juratovic sagt, Menschen mit Migrationshintergrund
brauchten reale Chancen am Arbeitsmarkt. Schauen wir
uns doch die Situation dieser Menschen an. Meine Damen und Herren, ihre Situation ist unerträglich. Ich weiß
das sehr genau, weil ich mit diesen Menschen aufgewachsen bin; ich bin ein Mensch mit Migrationshintergrund und erfahre es tagtäglich, wenn die Menschen zu
mir kommen und sich über ihre Situation beschweren.
Man muss in diesem Zusammenhang auch über
Hartz IV und die Agenda 2010 sprechen.
({3})
Hartz IV war und ist das größte Enteignungs- und
Dequalifizierungsprojekt in diesem Land, gerade im
Hinblick auf Menschen mit Migrationshintergrund. Zu
einer möglichen Revision findet sich in Ihrem Antrag
selbstverständlich nichts. Ursache und Wirkung sind
klar: Jahre-, nein jahrzehntelang sind Menschen mit
Migrationshintergrund im Bildungs- und Ausbildungsbereich dequalifiziert worden. Sie wurden von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen ausgegrenzt
und auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Ich fordere Sie
auf, allein deshalb noch einmal über die Hartz-IVGesetzgebung nachzudenken. Denken Sie vielleicht nur
fünf Minuten darüber nach, anstatt sich hier aufzuregen.
Es ist natürlich so, dass Hartz IV die Menschen bedroht
und sie enteignet.
Das betrifft insbesondere Migrantinnen und Migranten, weil sie überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Sie sind auch von einer Gesetzgebung im
Niedriglohnbereich überproportional betroffen, die Leiharbeit im heutigen Ausmaß erst möglich gemacht hat. Da
tragen Sie Mitverantwortung. Deshalb appelliere ich an
Sie: Denken Sie darüber nach, anstatt in nassforscher
Steinbrück-Manier auch noch Hartz IV und die
Agenda 2010 zu bejubeln.
({4})
- Nein, das ist nicht billig; das ist die Wahrheit. Wenn
Sie ein Stück weit Glaubwürdigkeit gewinnen wollen,
auch bei Menschen mit Migrationshintergrund, dann
sollten Sie sich hier nicht über jene beschweren, die über
die unerträgliche Wirklichkeit in diesem Land berichten,
sondern dann sollten Sie einmal nur fünf Minuten diesen
Menschen zuhören und zur Kenntnis nehmen, was sie
fordern.
Diese fünf Minuten haben wir nicht mehr.
Diese Menschen fordern ein Verbot der Leiharbeit,
einen gesetzlichen Mindestlohn und die Zurücknahme
von Hartz IV. Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken
machen.
({0})
Für die FDP-Fraktion ist der Kollege Johannes Vogel
der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Juratovic! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten! Ihr Antrag zeigt, dass
wir uns gemeinsam um das Thema „Zuwanderung und
Integration“ bemühen. Ich glaube, wir alle sind uns im
Ziel einig. Weil Deutschland ein Einwanderungsland ist
und übrigens eine jahrhundertelange Erfolgsgeschichte
der Einwanderung vorzuweisen hat, ist es richtig, dass
wir diesen Weg weitergehen. Dazu gehört es, sich Gedanken zu machen, wie wir die Integration verbessern
können. Dazu gehört aber auch, klar zu sagen, dass wir
zusätzliche Einwanderung in Deutschland wollen, und
dazu gehört, ein klares Signal zu setzen. Wir wollen
weiterhin ein Einwanderungsland sein. Wir wollen an
unseren Grenzen kein Schild „Warnung vor dem bissigen Hund“ aufstellen. Wir wollen vielmehr einen roten
Teppich ausrollen,
({0})
gerade weil wir vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels im Wettbewerb um die klugen Köpfe noch besser werden müssen; wir müssen sie nach Deutschland
holen. Zu diesem Ziel bekennen wir uns in der Koalition
ganz eindeutig.
({1})
Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass wir die Zuwanderungsregeln gerade vereinfacht haben. Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben das gerade in Zweifel gezogen.
Wir haben diesen Sommer die Zuwanderungshürden
massiv gesenkt. So haben wir zum Beispiel mit breiter
Zustimmung dieses Hauses - es gab auch Zustimmung
vonseiten der SPD-Fraktion; darüber habe ich mich sehr
gefreut - ein Visum zur Arbeitsuche eingeführt und damit endlich für einen Paradigmenwechsel im Bereich
Zuwanderung gesorgt. Ich glaube, dazu bekennen wir
uns alle.
Auch auf die Frage, wie wir eine bessere Integration
der Menschen mit Migrationshintergrund, die bereits
hier leben, gewährleisten können, gibt das Gesetz zur
Anerkennung im Ausland erworbener Berufsabschlüsse, das wir in dieser Legislaturperiode auf den
Weg gebracht haben, eine Antwort. Es gibt eine Dreimonatsfrist, innerhalb der ein solches Verfahren durchgeführt werden muss. Wir haben weiterhin festgelegt,
dass es ein einheitliches Verfahren gibt. All das zeigt,
dass wir uns den Herausforderungen stellen.
Lieber Kollege Juratovic, die Anerkennung von
Berufsabschlüssen halte ich übrigens für die zentrale
Herausforderung, vor der wir stehen, wenn es um die
bessere Integration von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt geht. Sie sehen: Über das
Ziel sind wir uns einig, aber an den zentralen Stellschrauben drehen wir bereits. Dieser Aufgabe stellen wir
uns als Koalition sehr erfolgreich.
({2})
Es gab eine Diskussion darüber, ob Deutschland die
Ausstrahlung hat, ein Einwanderungsland zu sein. Ich
würde mich freuen, wenn wir die Opposition - das ist
Johannes Vogel ({3})
insbesondere an die Adresse der Sozialdemokraten gerichtet - bei der Verfolgung dieses Ziels an unserer Seite
hätten. Lieber Kollege Juratovic, ich weiß, dass Sie sich
schon lange mit diesem Thema beschäftigen und absolut
glaubwürdig sind. Ich habe mich im Zuge der Diskussion über die Öffnung des Arbeitsmarktes für Bürger der
neuen EU-Mitgliedstaaten im Mai 2011 teilweise schon
gewundert, dass ich auch aus den Reihen Ihrer Fraktion
Töne gehört habe,
({4})
die - ich will es einmal zurückhaltend formulieren - mir
nicht den Eindruck vermittelt haben, dass Sie uns dabei
vorangebracht haben, ein Klima zu schaffen, das geeignet ist, den neuen Mitbürgern zu vermitteln, dass sie
unsere Gesellschaft bereichern. Dabei macht Vielfalt
unsere Gesellschaft reicher, gerade auf dem Arbeitsmarkt.
Damals wurde laut das alte Lied gesungen: Moment!
Wir öffnen unseren Arbeitsmarkt. Da könnten ja neue
Mitbürger aus anderen Mitgliedstaaten der EU kommen.
Das ist eine Bedrohung. Das macht auf dem Arbeitsmarkt alles schlechter. - Ich freue mich, dass wir das
jetzt von den Sozialdemokraten nicht mehr hören. Aber
zur Wahrheit gehört, festzuhalten, dass wir in dieser
Legislaturperiode leider solche Töne aus Ihrer Fraktion
gehört haben. Ich finde es gut, dass das jetzt offenbar ein
Ende hat.
({5})
Lassen Sie mich konkret werden und über die zentralen Stellschrauben sprechen. Ich habe eben ausgeführt,
welcher Punkte wir uns mit zwei wegweisenden Gesetzen sehr erfolgreich angenommen haben. Die Kollegin
Dağdelen hat eben kritisiert, dass Sie Dinge fordern, die
Sie, als Sie selber in Regierungsverantwortung waren,
nicht umgesetzt haben. Politik braucht zwar Symbole,
aber an ein oder zwei Stellen empfinde ich Ihren Antrag,
zumindest was den ersten Anschein angeht, als Symbolpolitik. Diese brauchen wir in aller Regel nicht.
Ich gebe Ihnen dazu Beispiele. Sie fordern den
Rechtsanspruch auf Nachholen eines Schulabschlusses.
Dabei gibt es den schon, und zwar im Dritten Sozialgesetzbuch.
({6})
Sie fordern weiterhin, die berufliche Deutschförderung
durch die Bundesagentur für Arbeit zu stärken. Schauen
Sie sich an, wie die konkreten Hinweise für die einzelnen Vermittlerinnen und Vermittler in der Arbeitsagentur
und in den Jobcentern lauten. Daran wird deutlich, dass
auf die Beseitigung von sprachlichen Defiziten explizit
Wert gelegt und auf die Fördermöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Erlernen der Sprache hingewiesen
wird. Das findet also bereits im Rahmen der Bundesagentur für Arbeit statt.
({7})
Auch in Bezug auf die Qualifizierung ist festzustellen, dass wir gerade durch die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente die Möglichkeiten zur Qualifizierung massiv ausgeweitet haben. Kollege Zimmer, der
mit mir für dieses Gesetzgebungsverfahren aufseiten der
Koalition zuständig war, nickt. Wir haben für einen
Paradigmenwechsel gesorgt, damit noch mehr im
Bereich Qualifikation möglich wird.
({8})
- Frau Kollegin Kramme, ich habe diesen Sommer in
meinem Wahlkreis zum Beispiel einen jungen Mann
getroffen, der jetzt die Möglichkeit einer beruflichen
Weiterqualifikation bekommen hat.
({9})
Vor April 2011 wäre er durch das Raster gefallen, er
hätte gar nicht die Möglichkeit gehabt, sich zu qualifizieren. Die Möglichkeit, dass alle Mitarbeiter in kleinen
und mittleren Unternehmen jetzt gefördert werden, haben nicht Sie geschaffen, sondern wir haben sie eröffnet.
({10})
Lassen Sie mich ein letztes Beispiel für Ihre Symbolpolitik anführen. Sie fordern, dass die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung der BA ihren Schwerpunkt
nicht nur auf Akademiker legen sollte. Auch das findet
schon statt. Es werden nicht nur Akademiker angeworben; vielmehr werden jene Menschen angeworben, die
derzeit auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden, aktuell
zum Beispiel im Pflegebereich. So lassen sich mehrere
Beispiele dafür finden, dass Sie in Ihrem Antrag Dinge
fordern, die in der Realität bereits umgesetzt werden. Ich
finde: Eine solche Symbolpolitik hat das Thema nicht
verdient.
Vielleicht können wir darüber bei der Beratung des
Antrags im Ausschuss vertieft diskutieren und uns dann
auch fragen, ob wir diesen Antrag wirklich brauchen, um
hinsichtlich der besseren Integration von Menschen mit
Migrationshintergrund voranzukommen.
({11})
Ich habe daran aus den genannten Gründen meine Zweifel. Dass wir uns über das Ziel einig sind, will ich ausdrücklich begrüßen. Ich freue mich, wenn wir mit Ihnen,
den Oppositionsfraktionen, weitere Schritte in diese
Richtung gehen können.
Vielen Dank.
({12})
Der Kollege Kilic ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Beteiligung am Arbeitsleben hat eine zentrale Bedeutung für die soziale Teilhabe; denn am Arbeitsplatz knüpft man Kontakte und erfährt Wertschätzung. So findet Integration im Alltag statt. Jedoch
werden Menschen mit Migrationshintergrund am
Arbeitsmarkt in hohem Maße diskriminiert. Zu diesem
Ergebnis kommen gleich mehrere wissenschaftliche
Studien, unter anderem eine des Bundesinstituts für
Berufsbildung. In dem Bericht wird dargelegt, dass
Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft in
Deutschland leider weit verbreitet sind. Von einer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt sind nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Frauen und
ältere Menschen haben es ähnlich schwer. Am schwersten haben es Menschen, bei denen diese Faktoren aufeinandertreffen.
Ich bekomme zahlreiche E-Mails von verzweifelten
arbeitsuchenden Migranten. Zuletzt hat mich ein Hochschulabsolvent mit hervorragendem Abschluss kontaktiert. Er hat schon über hundert Bewerbungen verschickt,
jedoch keine einzige Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhalten. Seine Ex-Kommilitonen mit schlechterem Abschluss, aber deutschem Namen sind dagegen
mit Jobs versorgt. Ein Blick in den öffentlichen Dienst
offenbart das Ausmaß dieser Diskriminierung. Dort
erwartet Sie die größte Parallelgesellschaft in Deutschland. Kaum Angestellte mit ausländisch klingenden
Namen sind dort anzutreffen. Dabei müssen gerade
staatliche Stellen mit gutem Beispiel vorangehen.
({0})
Neben den Diskriminierungen gibt es drei weitere
Hauptgründe für die schlechte Lage der Migranten am
Arbeitsmarkt: erstens Chancenungleichheit im Bildungssystem; zweitens hohe Hürden bei der Einbürgerung und
eine unzureichende Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis;
drittens die noch immer mangelnde Anerkennung von
ausländischen Abschlüssen. Das sollte auch der Bundesregierung klar sein. Sie reagiert jedoch zu zögerlich. Sie
muss die Grundvoraussetzungen dafür schaffen, dass auf
dem Arbeitsmarkt alle gleich behandelt werden.
({1})
Anonyme Bewerbungen können präventiv gegen
Diskriminierungen wirken. Das beweist auch ein Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Durch anonyme Bewerbungen wird der Fokus auf die
Qualifikation der Bewerber gelenkt. Deshalb erwarte ich
von der Bundesregierung ein stärkeres Engagement auf
diesem Gebiet.
({2})
Die staatlichen Einrichtungen sollten mit einer neuen
Einstellungspolitik ein Vorbild für den privaten Sektor
sein. Sie sollen folgende zwei Eigenschaften als Pluspunkte werten: erstens interkulturelle Kompetenz und
zweitens zusätzliche Muttersprachen. Diese Fähigkeiten
verdienen eine positive Berücksichtigung bei der Einstellungspolitik.
Einen besonderen Handlungsbedarf sehe ich bei der
Arbeitsverwaltung. Die Jobvermittler müssen interkulturell geschult und die Arbeitsagenturen mit der Migrationsberatung vernetzt werden. Da haben wir noch großen
Nachholbedarf - leider.
({3})
Der SPD-Antrag enthält konstruktive Vorschläge zur
Weiterentwicklung bestehender Ansätze. Im Kern lese
ich ihn jedoch nicht als Grundsatzkritik am schwarzgelben Regierungshandeln. Deshalb nehmen wir den
SPD-Antrag als Verbesserungsansatz wahr.
Um den Missstand endlich zu beenden, soll die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen und entsprechende Initiativen starten. Ich fordere von ihr vor allem ein systematisches Engagement gegen Diskriminierungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Die duale Ausbildung in Deutschland hat an sich schon
eine sehr starke Integrationskraft. Das Lernen in der Praxis für die Praxis sorgt dafür, dass Menschen frühzeitig
eine Chance haben, nach der Ausbildung in einen Beruf
einzusteigen und so ihr Leben zu bestreiten und ihre Familie zu ernähren. Wir haben in Deutschland auch aufgrund der dualen Ausbildung eine Jugendarbeitslosigkeit
- dies bezieht sich auf junge Menschen bis 25 Jahre von nur 7,9 Prozent. In der Europäischen Union liegt die
Jugendarbeitslosigkeit im Schnitt bei 22,4 Prozent, in
Griechenland und Spanien liegt sie über 50 Prozent. Das
heißt, dort, wo es viele Arbeitsplätze gibt, wo es Ausbildungsplätze gibt, gelingt auch Integration besser. In diesem Bereich hat die christlich-liberale Koalition einen
wesentlichen Meilenstein gesetzt.
({0})
Das Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn hat
2010 in einer Schülerbefragung herausgefunden, dass
78 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund
eine duale Ausbildung wollen. Eine Erhebung in 2011
hatte ergeben - auch das müssen wir zur Kenntnis nehmen -, dass 38 Prozent der 25- bis 34-Jährigen mit Migrationshintergrund keinen beruflichen Abschluss hatten.
Das sind gescheiterte Biografien. Diese gibt es, unabhängig davon, wer gerade an der Regierung ist. Wir
müssen gemeinsam Konzepte entwickeln, die langfristig
und dauerhaft eine zweite oder sogar dritte Chance zur
Integration ermöglichen.
Entscheidend ist: Gut hilft, wer früh hilft. Ein wichtiges Programm betrifft die Stärkung der Sprachkompetenz, nämlich die Offensive „Frühe Chancen“ des Familienministeriums. Im Rahmen dieses Programms werden
400 Millionen Euro in 4 000 Kitas in Schwerpunktbereichen investiert, damit Halbtagskräfte, die sich um eine
gezielte Sprachförderung der Kinder in der Kita kümmern, mit 25 000 Euro im Jahr finanziert werden können. So haben diese Kinder später in der Schule bessere
Chancen, und sie können einen Abschluss machen.
Ein ganz wichtiger Erfolg der Bundesregierung ist der
Abbau der Zahl der Altbewerber. Altbewerber sind die
Menschen, die zwölf Jahre nach Beendigung der Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz haben. Vor einigen
Jahren gab es noch 380 000 Altbewerber. Nach dem aktuellen Berufsbildungsbericht liegt die Zahl der Altbewerber derzeit bei 175 000. Das heißt, der Berg der Altbewerber wurde abgebaut; ihre Zahl wurde um circa
200 000 reduziert. Auch hier ist ein Stück weit eine
zweite Chance ermöglicht worden.
({1})
Spannend ist die Initiative der christlich-liberalen Koalition - diese gab es auch schon in der Großen Koalition -, in deren Rahmen in Moscheen über Ausbildungsmöglichkeiten informiert wird. Wir gehen natürlich auch
dorthin, wo es bestimmte Problemkreise gibt. Wir binden auch die Imame ein. In meiner Heimatstadt Willich
am Niederrhein gibt es eine Vereinbarung der Stadt mit
der Moschee bzw. den Imamen, dass auf Deutsch gepredigt wird und dass nach dem Freitagsgebet Informationsveranstaltungen stattfinden, auf denen die Bedeutung der
dualen Ausbildung für Jungen und für Mädchen dargestellt wird. Dort wird auch konkret geholfen, wenn Hilfe
beim Einstieg in die Erwerbstätigkeit notwendig ist. Dieses Miteinander und Füreinander in den Moscheen ist
eine ganz wichtige Aktion, die wir mitfinanzieren und
mit unterstützen. Dabei wird Menschen konkret geholfen, nicht mit Phrasen und mit großen Ideologien, sondern mit sehr konkreten Aktivitäten.
({2})
Entscheidend für eine erfolgreiche Berufsbiografie ist
eine frühzeitige und erweiterte Berufsorientierung. Über
das Konzept der Bildungsketten haben wir mit dafür gesorgt, dass ab dem siebten Schuljahr, also drei Jahre vor
der Entlassung aus der allgemeinbildenden Schule, eine
Potenzialanalyse in den Schulen stattfindet. Man kann
später in überbetrieblichen Werkstätten verschiedene
Berufsfamilien kennenlernen, zum Beispiel Arbeiten mit
Holz und Metall, Hauswirtschaft, Gartenbau und Gesundheitswesen. Man kann herausfinden, wo die eigenen
Potenziale liegen, die man später bei der Berufstätigkeit
einbringen kann. Nach einem Profiling können konkrete
betriebliche Praktika in dem ausgewählten Berufsfeld
organisiert werden.
Da, wo nach wie vor besonderer Hilfebedarf besteht
und wo die Eltern ein Stück weit überfordert sind, finanzieren wir auch aus Bundesmitteln bis zu 3 000 Berufseinstiegsbegleiter, die 30 000 jungen Menschen eine zusätzliche Hilfe bieten, ihnen nicht nur in der Schule und
bei der Bewerbung zur Seite stehen, sondern auch noch
im ersten Ausbildungsjahr. Das ist konkrete menschliche
Hilfe, mit der wir Menschen den Einstieg in die Erwerbstätigkeit erleichtern können.
Der Antrag der SPD ist in einigen Punkten spannend,
aber zum Teil veraltet. Kollege Vogel hat geschildert,
dass viele Anliegen, um die es geht, von der Regierung
bzw. von der christlich-liberalen Koalition längst umgesetzt worden sind.
Ein Beispiel ist das Gesetz für die Anerkennung im
Ausland erworbener Berufsqualifikationen. Wir hatten
gestern ein Gespräch mit den Kammern, in dem uns mitgeteilt wurde, dass allein über die IHK schon mehr als
1 400 entsprechende Anträge bearbeitet worden sind. Im
Handwerk gibt es weitere Aktivitäten. Ein Problem haben wir allerdings bei diesem Gesetz, das am 1. April
dieses Jahres in Kraft getreten ist: Die Länder ziehen
nicht in dem Maße mit, wie es sein müsste. In vielen Fällen geht es um Hochschulabsolventen, aber die Hochschule ist Ländersache.
Es gibt ein Land, in dem, seitdem die Bundesregierung das Anerkennungsgesetz auf den Weg gebracht hat,
noch überhaupt nichts passiert ist, nämlich Baden-Württemberg. Da wäre meine Bitte, Herr Kilic, den Ministerpräsidenten, der ja von den Grünen gestellt wird, sozusagen zum Laufen zu bringen, damit endlich auch in
diesem Bereich Anerkennung stattfinden kann.
({3})
Bei aller Kritik, bei allem, was wir noch leisten müssen, möchte ich sagen: Die OECD hat 2009 festgestellt,
dass es arbeitswillige Einwanderer in Deutschland leichter haben als in den meisten anderen Industriestaaten,
und hat darauf verwiesen, dass jeder fünfte Firmengründer in Deutschland ausländische Wurzeln hat. Das ist
Potenzial, das wir weiter schöpfen wollen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/9974 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und
Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung
und des steuerlichen Reisekostenrechts
- Drucksache 17/10774 24374
Präsident Dr. Norbert Lammert
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 17/11180, 17/11217 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding ({1})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11189 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider ({3})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({4})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verlustverrechnung einschränken - Steuereinnahmen sicherstellen
- Drucksachen 17/5525, 17/11180 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding ({6})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch
für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Das ist offensichtlich einvernehmlich und damit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist sehr schade, dass sich die Opposition nicht dazu durchringen konnte, diesem guten Gesetz
zuzustimmen.
({0})
Ich finde, es ist wirklich ein gelungenes Gesetz. Es besteht aus drei Teilen: Reisekostenrecht, Organschaft,
Verlustrücktrag.
Erster Punkt. Gerade bei den Reisekosten kann man
zu Vereinfachungen kommen. Die Dinge, die wir im
Reisekostenrecht erreicht haben, machen dieses Gesetz
zu einem der wichtigsten Steuervereinfachungsgesetze
dieser Legislaturperiode.
({1})
Hier wurden dramatische Vereinfachungen für die Bürger erreicht. Deswegen ist es sehr bedauerlich, dass sich
die Opposition nicht durchringen will, diesem Gesetz
zuzustimmen.
Wir machen im Reisekostenrecht einige wichtige
Schritte. Bisher sind Verpflegungsmehraufwendungen in
drei Stufen abzurechnen; da kommt es auf Mindestabwesenheitszeiten und Ähnliches an. Das wird in Zukunft
sehr viel einfacher, weil wir bei Verpflegungsmehraufwendungen nur noch zwei Stufen haben werden. Das erleichtert sowohl die Angabe von Reisekosten als auch
die Prüfung von Reisekostenabrechnungen.
In Zukunft wird auch nicht mehr darüber gestritten
werden, welche der verschiedenen Tätigkeitsstätten eines Arbeitnehmers die Haupttätigkeitsstätte darstellt.
Stattdessen wird einfach eine Tätigkeitsstätte zur regelmäßigen Tätigkeitsstätte erklärt.
Darüber finden dann keine weiteren Streitigkeiten und
Auseinandersetzungen mehr statt. Es muss auch nicht
27-mal geprüft werden. Es ist also eine klare Regelung,
die man eigentlich nur begrüßen kann.
Auch bei der doppelten Haushaltsführung kommen
wir zu deutlichen Verbesserungen. Da gab es bisher einen riesigen Verwaltungsaufwand, weil Einzelbelege
beigebracht werden mussten. Vergleichsmieten, Durchschnittsmieten und Ähnliches mehr mussten ermittelt
werden. Hier kommen wir zur Ansetzung von Pauschbeträgen. Demnächst können im Rahmen der doppelten
Haushaltsführung für Wohnung und Unterkunftskosten
bis zu 1 000 Euro angesetzt werden. Das ist eine deutliche Vereinfachung und Verbesserung des gesamten Verfahrens.
({2})
Ich sage es noch einmal: Durch diese Regelungen
werden 35 Millionen Menschen von unnützer Bürokratie, von unnützem Aufwand entlastet. Neben denjenigen,
die diese Reisekostenabrechnungen zu erstellen haben,
gibt es aber auch diejenigen, die diesen Kram prüfen
müssen. Das ist aus meiner Sicht, wie gesagt, eines der
wichtigsten Vereinfachungsgesetze dieser Legislaturperiode.
Zweiter Punkt: Organschaft. Wenn man das Stichwort
hört, könnte man denken, dass es irgendetwas mit Unterleibsproblemen zu tun hat. Es geht aber nicht darum,
sondern es geht um verbundene Unternehmen, die miteinander sogenannte Organschaftsverträge abschließen,
also beispielsweise um eine Mutter- und eine Tochtergesellschaft in einem Konzern, die einen sogenannten Ergebnisabführungsvertrag abschließen. Da hat es in der
Vergangenheit immer wieder große Probleme mit der
Rechtsprechung gegeben, die diese Verträge kassiert hat,
weil irgendwelche kleinen formalen Fehler in den Verträgen enthalten waren oder weil es kleine Fehler bei der
Abwicklung dieser Verträge gegeben hat.
Diese Regelung haben wir jetzt deutlich vereinfacht.
Die Organschaft ist jetzt sehr viel rechtssicherer, als sie
früher war. Das war das Petitum aus dem Bereich der
Wirtschaft. Es ist in zunehmendem Maße auch für immer mehr kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland wichtig, gerade auch für die, die dieses Land innoDr. Mathias Middelberg
vativ vorantreiben und international verwoben sind, dass
sie sich fest darauf verlassen können, dass ihre Unternehmensverträge, die Verbundverträge, wirklich rechtssicher sind und einer Prüfung standhalten. Deswegen
sage ich: Ich finde, auch das ist ein ganz gewaltiger Fortschritt für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
({3})
Dritter Punkt: der Verlustrücktrag. Damit erfüllen wir
eine Konvergenzforderung aus dem deutsch-französischen Grünbuch für Unternehmensbesteuerung. Im Übrigen schaffen wir mehr Liquidität für den Mittelstand.
Eines aber ist mir besonders wichtig - das möchte ich
mit einer allgemeinen Bemerkung verbinden, weil wir ja
auch noch über den Antrag der Linken diskutieren wollen -: Die Verlustverrechnung in Deutschland einzuschränken, hielte ich für einen ganz schweren Fehler;
denn wir müssen daran denken, dass unser Unternehmenssteuerrecht international wettbewerbsfähig sein
muss. Wir können uns hier keine völlig anderen Regeln
erlauben als in anderen Ländern, und in anderen europäischen Ländern sind Unternehmensverluste natürlich mit
Gewinnen verrechenbar. Alles andere wäre auch völlig
schwachsinnig und würde nicht dem Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit entsprechen.
Wenn man zum Beispiel ein Auto bauen will, muss
man dieses Auto erst einmal entwickeln. Man muss
Pläne und Zeichnungen machen und Forschung betreiben. Man muss einen Prototyp bauen und damit arbeiten.
Das heißt, man hat über drei, vier und noch mehr Jahre
erst einmal einen großen Entwicklungsaufwand. Man
sammelt Verluste. Die Verluste in diesen Jahren muss
man später mit Gewinnen verrechnen können. Deswegen sind Verlustvortrag und Verlustrücktrag in einem
vernünftigen Unternehmenssteuerrecht eigentlich eine
Selbstverständlichkeit.
Wir meinen, dass das Steuerrecht in Deutschland mit
den drei Punkten, die ich genannt habe, weiter optimiert
wird. Wir werden, was das Unternehmenssteuerrecht angeht, noch stabiler und noch wettbewerbsfähiger. Mit
den Änderungen bei den Reisekosten tun wir ganz viel
für die normalen Menschen in diesem Land, die beruflich auf Reisen sind, ob als Handwerker, als Monteure,
als Kurierfahrer oder in allen möglichen Varianten von
Dienstfahrten. Das, finde ich, ist ein ganz gewichtiger
Beitrag. Wie gesagt, ich bedaure, dass Sie dem Ihre Zustimmung verweigern wollen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will
in einer freien Form des Zitats den Kollegen Middelberg
zitieren: Es ist sehr schade, dass sich die Regierungskoalition nicht hat durchringen können, auf einen richtig
gravierenden Fehler in diesem Gesetzentwurf zu verzichten. - Das ist ungefähr so, als wenn der Kellner einen schönen Orangensaft bringt und kurz bevor er den
Gast erreicht noch ein Tropfen Arsen hineinkommt. Man
würde ihn nicht trinken. So ist es uns jetzt auch ergangen.
({0})
Das ist auch ein wenig der Hektik geschuldet, die wir erleben.
Ich will es Ihnen ehrlich sagen: Wir finden fast den
gesamten Gesetzentwurf sehr gut, und wir hatten uns
vorgenommen, zuzustimmen. Leider ist aber zwei Tage
vor der Abschlussberatung im Finanzausschuss etwas
passiert, weswegen wir nicht zustimmen können.
Ich finde, man kann ruhig noch einmal sagen, wie tolerant die Opposition im Verfahren war: Wir haben uns
auf wirklich viele Fachgespräche statt Anhörungen eingelassen, wir sind sogar bereit gewesen, die Ausschussprotokolle selbst mitzuschreiben, um den enormen Zeitdruck abbauen zu können,
({1})
und wir haben die Verkürzung der Fachdebatte mitgetragen. - Zur Vorsitzenden, weil sie gerade einen Zwischenruf gemacht hat: Sie musste sogar während der
Ausschusssitzung eine Pressekonferenz durchführen,
weil sie sonst zeitlich nicht dazu gekommen wäre. Also
musste sie sich da vertreten lassen.
({2})
Sie sehen: Es gab einen extremen Zeitdruck.
Die SPD unterstützt übrigens viele Regelungen in
diesem Gesetzentwurf. Ich will jetzt einige vielleicht
langweilige Kleinigkeiten erwähnen:
Die Änderung im steuerlichen Reisekostenrecht, speziell die Einführung der zweistufigen Staffelung beim
Verpflegungsmehraufwand, tragen wir zum Beispiel mit.
Das ist eine wichtige Vereinfachung für Arbeitnehmer,
Arbeitgeber und die Verwaltung. Das ist eine wirklich
gute Sache. Deshalb ist es so schade, dass Sie diesen
kleinen großen Abschlussfehler gemacht haben.
Zur Verpflegungspauschale von 12 bzw. 24 Euro. Ich
weiß, jeder, der das jetzt hört, denkt: Von welchen Kleinigkeiten erzählt er da? Für die, die das betrifft, ist das
aber eine ganz wichtige Sache und eine große Vereinfachung. Die Arbeitnehmer, die eine eintägige auswärtige
berufliche Tätigkeit über Nacht ausüben und zum Beispiel mehr als 8 Stunden vom Wohnort entfernt sind,
können jetzt 12 Euro abrechnen.
Auch die Ersetzung des Begriffs „regelmäßige Arbeitsstätte“ durch „erste Tätigkeitsstätte“ ist sehr gut und
sachgerecht und hilft künftig den Arbeitnehmern, sich
Lothar Binding ({3})
im Fahrkostenrecht sehr gut zurechtzufinden. Sie können ihre Fahrtkosten jetzt komplett über die erste Tätigkeitsstätte abrechnen. Das ist ein sehr großer Vorteil, den
es bisher nicht gab.
Allerdings gibt es auch einen Wermutstropfen, nämlich die Einstufung von Bildungseinrichtungen, die außerhalb eines Dienstverhältnisses zu einer vollzeitigen
Bildungsmaßnahme aufgesucht werden. Das ist nämlich
plötzlich auch die erste Tätigkeitsstätte. Das bedeutet:
Wenn ich vom Jobcenter zu einer Bildungsmaßnahme
geschickt werde, die zum Beispiel weit weg liegt, dann
kann ich meine Fahrkosten nicht so geltend machen, wie
es sich eigentlich gehören würde. Das heißt, hier gibt es
eine Restriktion für die Schwächsten, die ausgerechnet
in einer Lebensphase, in der es ihnen schlecht geht, ein
Problem bekommen.
Wir glauben, hinsichtlich der Entfernungspauschale
hätte man an dieser Stelle großzügiger sein können.
Vielleicht kann sich die Koalition ja noch durchringen,
unseren diesbezüglichen Antrag zu vollzeitigen Bildungsmaßnahmen mitzutragen, um damit weiterhin einen unbegrenzten Reisekostenabzug zu ermöglichen.
({4})
- Macht ihr das mit?
({5})
- Na ja, ihr sagt, ihr wollt es untergesetzlich regeln. Es
war in der Debatte aber nicht ganz klar, ob und wie das
erreicht werden soll.
Zu dem, was wir nicht mitmachen: Das hat etwas damit zu tun, dass wir gelernt haben - und das stimmt -,
dass Verluste im Unternehmensteuerrecht sinnvollerweise immer mit Gewinnen zu verrechnen sein sollen.
Allerdings werden Verluste grenzüberschreitend, weltweit und auf der Zeitachse durch Rück- und Vortrag sehr
stark zur Gestaltung genutzt. Durch diese Möglichkeit
auf der Zeit- und auf der räumlichen Achse kommt es zu
sehr vielen Gestaltungen. Deshalb halten wir die Verdoppelung des Verlustrücktrags für keine sinnvolle Maßnahme.
Jetzt komme ich zu der wichtigsten Sache, die wir unterstützen, nämlich zur Korrektur bezogen auf die Möglichkeiten, bilanzielle Fehler später noch zu korrigieren,
ohne dass die Organschaftsverhältnisse geschädigt werden.
Bisher war es so: Wenn in einem Ergebnisabführungsvertrag ein Komma falsch gesetzt worden ist und
das irgendwann festgestellt wurde, dann war die gesamte
organschaftliche Regelung zunichte gemacht. Das wird
jetzt korrigiert. Das halten wir für eine sehr gute Sache.
Ich habe eben einige Punkte genannt, die prima sind.
Jetzt komme ich zu dem einen Punkt, der kritisch ist.
({6})
- Zu dem Tropfen Arsen.
Zwei Tage vor der Abschlussberatung haben Sie einen Änderungsantrag eingebracht. Er betrifft die Organträger - Sie haben schon erklärt, was das ist - und die
Organgesellschaften mit Sitz in der EU oder im europäischen Wirtschaftsraum.
Nun passiert Folgendes: Ein Unternehmen, dessen
Sitz und Geschäftsleitung räumlich getrennt sind - der
Sitz ist in einem und die Geschäftsleitung in einem anderen Land -, macht einen Verlust geltend. Die von Ihnen
vorgesehene Regelung erlaubt es, diesen einen Verlust
sowohl in dem einen als auch in dem anderen Land geltend zu machen.
({7})
Diese Logik ist natürlich hochgefährlich, weil die doppelte Verlustverrechnung im grenzüberschreitenden Fall
deutlich macht, dass hier viele Gestaltungsmöglichkeiten gegeben sind. Da haben wir als Finanzpolitiker die
Aufgabe, die Einnahmeseite des Staates sicherzustellen,
zu stärken, Steuersubstrat im Lande zu halten, damit die
Haushälter die Chance haben, entsprechende Ausgaben
zu tätigen.
({8})
Ich will auch sagen, warum uns diese Regelung besonders ärgert. Es gibt nämlich die Idee, die Besteuerungsbefugnisse auf die Mitgliedstaaten aufzuteilen.
Herr Wissing hat etwas abgewehrt. Wir können in zwei
Jahren einmal evaluieren, was uns dieser kleine Antrag,
dieser große Fehler gekostet hat. Das ist für den Fiskus
tatsächlich ein großer Nachteil.
Ich glaube, dass man mit diesem Sachverhalt so nicht
umgehen kann. Es ist doch auch nicht logisch, zu sagen:
Ich darf einen Verlust doppelt geltend machen. Wenn
kein besserer Vorschlag vorläge, dann könnte man sagen: Gut, gewisse Fehler müssen nun einmal gemacht
werden. Aber es gibt die Möglichkeit, die Befugnisse auf
die verschiedenen Staaten aufzuteilen. Damit hätte man
eine faire Verlustteilung, eine faire Anrechnung auf den
Gewinn. Das wäre korrekt.
Warum Sie sich dieser Möglichkeit berauben und
diese falsche Konsequenz aus diesem Urteil, bezogen
auf Philips Electronics, ziehen, können wir nicht verstehen; denn Sie wissen genau, dass der EuGH auf die einzelnen Fisci grundsätzlich keine Rücksicht nimmt. Wenn
das so ist, dann haben wir immer ein fiskalisches Problem. Hier hätte man die Chance gehabt, die Unsicherheit im Rechtsraum zu belassen und die Sicherheit beim
Fiskus zu suchen. Sie aber haben es umgekehrt gemacht:
Sie haben den Fiskus in die Unsicherheit gebracht und
die rechtliche Seite in Sicherheit.
Das heißt aber, wir haben an dieser Stelle riesige Verluste, die in einem anderen Fall überhaupt nicht gegeben
wären. Deshalb halten wir dieses Gesetz für gut, aber
wegen dieses Tropfens Arsen leider für nicht zustimmungsfähig.
Vielen Dank.
({9})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Volker Wissing.
({0})
Herr Präsident, ich danke Ihnen. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ihre Argumente, lieber Herr Kollege
Binding, warum Sie diesem Gesetz nicht zustimmen
können, konnte man nicht ganz nachvollziehen. Das lag
wahrscheinlich daran, dass Sie sich lange überlegt haben: Wie kann man die Ablehnung eines so guten Gesetzes begründen?
({0})
Es ist Ihnen wirklich nicht gelungen, das hier überzeugend vorzutragen.
({1})
Ich muss ehrlich sagen: Sie müssen am Ende den
Menschen erklären, was Sie hier machen. Es ist nicht
meine Aufgabe, Ihren Wählern zu erklären, was Sie hier
machen. Aber ich frage mich ernsthaft, ob eine sozialdemokratische Partei hier eine steuerliche Verbesserung
nach der anderen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit an den Haaren herbeigezogenen Begründungen ablehnen kann,
({2})
lieber Herr Kollege Binding.
({3})
Es liegt wieder eine Studie der OECD vor, dass in
Deutschland die Belastungen für untere und mittlere
Einkommen durch die kalte Progression massiv gestiegen sind.
({4})
Wir haben ein Steuergesetz zur Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hier im Deutschen Bundestag eingebracht - die SPD war dagegen.
({5})
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das
Problem, dass sie im Bereich der Reisekosten, der Arbeitsstätte und der doppelten Haushaltsführung erhebliche Bürokratielasten zu tragen haben. Da sind sehr
streitanfällige Begriffe im Gesetz. Das nervt die Menschen.
Davon sind Kraftfahrer betroffen. Sie sind über dieses
Steuerrecht genervt. Sie haben einen harten Job. Sie tun
wirklich alles, was sie können und erbringen enorme
Leistungen für diese Gesellschaft.
({6})
Sie wollen von diesem Steuerrecht nicht unnötig gegängelt werden. Jetzt legen wir Ihnen etwas vor, was diesen
Menschen ihr Leben vereinfacht und eine leichte Entlastungswirkung mit sich bringt - immerhin bewirken diese
Regelungen eine Entlastung von 200 Millionen Euro -,
weil wir nicht wollen, dass die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer die Kosten tragen. Jetzt sagt die Sozialdemokratie: Nein, aus parteitaktischen oder sonstigen Gründen, mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten,
knallen wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
wieder einmal einen vor den Latz. - Das ist doch keine
soziale Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Deswegen fragt man sich doch ernsthaft: Was haben
Ihnen denn die Menschen in Deutschland getan, die
morgens früh aufstehen und hart arbeiten? Warum müssen diese Menschen denn durch die kalte Progression abkassiert werden?
({8})
Warum müssen diese Menschen denn mit Steuerbürokratie gegängelt werden? Wissen Sie überhaupt noch,
wie es draußen im Leben zugeht? Haben Sie einmal mit
einem Kraftfahrer gesprochen? Haben Sie einmal mit
den Leuten gesprochen, die genervt sind, weil sie dem
Finanzamt Stunden und Minuten nachweisen müssen?
({9})
Wissen Sie, was diese Erleichterungen, die dieses Gesetz
mit sich bringt, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Außendienst bedeuten? Warum zeigen Sie als
Sozialdemokraten diesen Menschen die kalte Schulter?
Das hätten wir heute gern einmal von Ihnen gehört.
({10})
Das ist das größte Steuervereinfachungsgesetz für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Legislaturperiode. Selbst die Deutsche Steuer-Gewerkschaft hat
gesagt,
({11})
dass dieser Gesetzentwurf ein sehr guter Gesetzentwurf
ist.
- Ach, die SPD. Sie werden doch nicht daran gemessen,
was Sie draußen faseln. Sie werden doch daran gemessen, wie Sie hier abstimmen. Sie verweigern den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein faireres und gerechteres Reisekostenrecht.
({12})
Das ist sozialdemokratische Realpolitik.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzentwurf ist in enger Abstimmung mit den Betroffenen zustande gekommen. Die Bundesregierung hat das hervorragend vorbereitet. Der Herr Staatssekretär Koschyk hat
sich genauso wie Bundesfinanzminister Schäuble darum
bemüht.
Die Koalition hat gesagt: Hier sind Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen, und für uns
steht von vornherein fest: Dieses Gesetz soll eine echte
Entlastung für die Betroffenen, für die Arbeitnehmer,
aber nicht für die Finanzverwaltung sein. Im Vordergrund standen die Menschen, die hart arbeiten.
Das ist uns auch gelungen. Wir haben in der Anhörung keine kritische Stimme gehört, die sich gegen diesen Gesetzentwurf gewandt hat. Wir haben kein einziges
vernünftiges Argument gegen diesen Gesetzentwurf gehört.
({14})
Die Menschen haben gesagt: So ein Zustandekommen ist vorbildlich. Mit uns reden, unsere wirklichen
Probleme ernst nehmen, all das steht in diesem Gesetzentwurf drin.
Wir haben uns gegen eine knallharte Gegenfinanzierung in schwierigen Zeiten ausgesprochen und wollen es
den Menschen einfacher machen, ohne sie dafür bezahlen zu lassen. Das ist das, was wir hier zustande gebracht
haben.
({15})
Wenn Sie die Sorgen der Menschen wirklich ernst
nehmen würden, dann würden Sie Ihre parteitaktischen
Interessen hintanstellen und nicht alles verhindern und
nicht zu allem Nein sagen.
Deswegen glaube ich, dass die Menschen mit diesem
Gesetz sehr gut zurechtkommen werden. Ich glaube,
dass das ein hervorragendes Gesetz ist. Wir haben künftig eine klare Regelung, was die Arbeitsstätte angeht. Es
wird nicht mehr auf komplizierte streitanfällige Begriffe
ankommen, sondern auf das, was im Arbeitsvertrag
steht. Wir werden einfache Regeln für die doppelte
Haushaltsführung haben. Es wird nicht mehr auf die
ortsübliche Vergleichsmiete ankommen, sondern es wird
einfach auf die tatsächliche Miete ankommen, gedeckelt
auf 1 000 Euro.
Einfacher kann Steuerrecht gar nicht mehr sein. Dann
sagen Sie Nein. Das können Sie den Menschen in
Deutschland nicht ernsthaft antun wollen, was Sie hier
vortragen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({16})
Lassen Sie mich noch etwas zu dem unternehmensteuerrechtlichen Teil sagen. Wir haben in diesem Gesetzentwurf eine Lösung für die Frage der Organschaft
vorgesehen. Das Problem mit dem Gewinnabführungsvertrag wird ebenfalls gelöst. Das ist ein drängendes
Problem für die deutsche Wirtschaft.
Wir hätten uns auch vorstellen können, einen größeren Schritt hin zur Gruppenbesteuerung zu machen.
Dazu gab es keine große Unterstützung vonseiten der
Wirtschaft. Wir haben aber gesagt: Das, was notwendig
ist und was kurzfristig gemacht werden kann und was
wirklich hilft in diesem Bereich, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, das machen wir.
Ich kann auch nicht verstehen, dass Sie den Verlustrücktrag, der eine spürbare Liquiditätsverbesserung
für kleine und mittlere Unternehmen, also für den Mittelstand, mit sich bringen wird, ausgerechnet hier im
Deutschen Bundestag kritisieren. Wir reden die ganze
Zeit von Wachstum. Jetzt schaffen wir mehr Liquidität
für kleine und mittlere Unternehmen. Das ist eine
Chance für Investitionen, für Arbeitsplätze und für
Wachstum. Wer sagt Nein dazu? Die Sozialdemokratie.
({17})
Sie kann man für Wachstumspolitik, Arbeitsmarktpolitik
und Steuerpolitik einfach nur vergessen.
({18})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin
Dr. Barbara Höll.
({0})
Danke, Herr Präsident. - Herr Wissing, die Speerspitze der Arbeiterbewegung?
({0})
Was Sie hier abgeliefert haben, ist einfach plump. Herr
Wissing, Sie können das als Koalition und Regierung,
aber Sie haben ganz bewusst eine gute gesetzliche RegeDr. Barbara Höll
lung, das Reisekostenrecht, einfach mit dem Bereich Unternehmensteuern zusammengepackt, was erst einmal
überhaupt nichts miteinander zu tun hat. Wer möchte,
kann sehr wohl im Protokoll des Finanzausschusses
nachlesen - das spiegelt sich dann auch in dem Bericht
wider -, dass die Opposition den Änderungen im Reisekostenrecht zugestimmt hat.
({1})
- Ja, das haben Sie ordentlich vorbereitet. Das war auch
in der Anhörung so zu hören. Da haben wir tatsächlich
eine Steuervereinfachung erreicht. Rechtlich unbestimmte Begriffe wurden konkretisiert. Das ist schon angesprochen worden. Das geht voll in Ordnung. Aber
wenn Sie jetzt sagen: „Es war alles prima bei der Anhörung“, dann stimmt das nicht.
({2})
Da frage ich mich wieder, Herr Wissing: Machen Sie
dort die Ohren zu? Oder wie war das im weiteren Verlauf, wenn unangenehme Fragen kamen?
({3})
Der zweite große Bereich, den Sie in dem Gesetzentwurf
behandeln, ist die Unternehmensbesteuerung. Dabei geht
es um zwei Dinge. Zum einen haben Sie die Voraussetzungen zur Bildung einer ertragsteuerlichen Organschaft
abgesenkt, obwohl wir alle wissen, dass prinzipiell gerade die Organschaften oftmals gebildet werden, um
Steuergestaltungsmodelle zu nutzen. Zum anderen haben
Sie die Verdoppelung der Höchstbeträge beim Verlustrücktrag vorgesehen. Wenn Sie das als Förderung der
kleinen und mittelständischen Betriebe bezeichnen,
({4})
dann möchte ich noch einmal die Zahlen nennen. Es geht
um eine Summe von 500 000 Euro, die jetzt auf 1 Million Euro erhöht wird. Für die kleinen und mittelständischen Betriebe bei mir in Leipzig gilt: Wenn einer darunterfällt, ist das wahrscheinlich schon viel.
({5})
Das ist wirklich keine breite Förderung der KMU, im
Gegenteil.
Ich habe dazu Kleine Anfragen im Bundestag gestellt,
die das Finanzministerium beantwortet hat. Laut OECDZahlen gibt es in keinem anderen Staat in Europa eine
solch große Anhäufung von Verlustrückträgen wie in
Deutschland. Wenn die alle auf einmal geltend gemacht
würden, dann hätten wir aber Riesenprobleme. Das ist
eine Zeitbombe, insbesondere für die Kommunen. Dagegen hätten Sie etwas tun müssen. Das hätten Sie anpacken müssen. Nein, Sie machen das nicht.
Das ist also mehr als nur ein Tropfen Arsen. Das ist
für mich ein weiterer Grund, warum man dem Gesetzentwurf insgesamt nicht zustimmen kann. Das hat nichts
mit steuerlicher Gerechtigkeit zu tun.
({6})
Ich komme noch einmal zu dem bereits angesprochenen Punkt, wie Sie das EuGH-Urteil zu der Frage aufgenommen haben, wie Unternehmen, die in mehreren Staaten agieren, mit ihren Verlusten umgehen müssen.
({7})
Es stellt doch niemand, auch wir nicht, in Abrede,
dass man Gewinne und Verluste verrechnen können
muss. Aber wenn Sie jetzt zur Steuergestaltung förmlich
einladen
({8})
und sagen: „Bitte schön, jetzt öffnen wir euch das
Tor; ihr könnt jetzt eure Verluste nehmen, erst in Land A
und in Land B nochmals“,
({9})
dann wären doch einige mit dem Klammerbeutel gepudert,
({10})
wenn sie das nicht als Möglichkeit nutzen und ihre wirtschaftliche Tätigkeit dann vielleicht auch entsprechend
ausdehnen.
({11})
Eine solche Umsetzung geht überhaupt nicht. Statt an
dieser Stelle etwas mit der heißen Nadel zu machen, hätten wir uns Zeit nehmen und ordentlich beraten müssen,
damit etwas herauskommt, was nicht zu weiteren Steuerausfällen führen kann, sondern einerseits der Rechtslage
Rechnung trägt, andererseits aber dem Gemeinwesen
nicht schadet.
Etwas Gutes mit zu verpacken und uns dann zu sagen,
dass wir jetzt mit dem guten Reisekostenrecht die große
Kröte im Unternehmensteuerrecht schlucken müssen, ist
ein plumper Versuch. Damit werden Sie nicht durchkommen. Diesen Gesetzentwurf kann man nur insgesamt ablehnen, und das wird die Linke tun.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Thomas Gambke
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen
als Grüne, dass Reformen in der Unternehmensbesteuerung drei Ziele verfolgen: nachhaltig, gerecht, europäisch. Deutschland ist ein attraktiver Wirtschaftsstandort - keine Frage. Die Besteuerung von Unternehmen ist
mit rund 30 Prozent im weltweiten Vergleich durchaus
wettbewerbsfähig. Aber nicht nur deshalb, sondern auch
wegen der Haushaltskonsolidierung sehen wir als Grüne
keinen Spielraum für Reformen im Unternehmensteuerbereich, die zu Einnahmeminderungen führen.
Erfüllt das Gesetz diese Kriterien „nachhaltig, gerecht, europäisch“? Leider erfüllt es sie nicht in jedem
Punkt; denn erstens haben Sie drängende Baustellen im
Bereich der Unternehmensteuern - es ist ein Gesetz auch
zur Unternehmensbesteuerung - gar nicht erst angepackt,
({0})
und zweitens führt das Gesetz zu Mindereinnahmen von
300 Millionen Euro im Jahr. Das ist einfach nicht akzeptabel.
({1})
Aber kommen wir erstens dazu, was dem Gesetz
fehlt. Da fehlt zum Beispiel eine Lösung zur Besteuerung von Streubesitzdividenden. Sie kennen das Urteil
des EuGH. Die Verschleppung dieses Problems kann
richtig teuer werden.
({2})
- Ja, das werden Sie lösen. Aber warum lösen Sie es
nicht jetzt? Rechtssicherheit ist nicht gegeben, aber
Planbarkeit ist eine sehr wichtige Größe bei Unternehmensentscheidungen, bei Entscheidungen über langfristige Investitionen. Hören Sie, was im Moment die Wagniskapitalgeber sagen und was die Gründerszene sagt!
Da ist man stark verunsichert. Ich meine, da hätten Sie
handeln müssen, und zwar jetzt; denn es ist wichtig, dass
man handelt, weil Planungssicherheit für Unternehmen
eine Grundvoraussetzung für das Investieren ist. Da versündigen Sie sich.
({3})
- Wir haben einen Vorschlag, aber darüber rede ich jetzt
nicht.
({4})
Zweitens. Steuerausfälle wären gar nicht nötig. Sie haben im Februar einen 12-Punkte-Plan vorgelegt. Wo ist
der verschwunden? Im Nirwana! Da waren ganz sinnvolle Maßnahmen vorgesehen. Da waren enthalten Vorschläge zur Verhinderung von weißen Einkünften. Da gab
es die Beschränkung der sogenannten Heuschrecken. Sie
haben die Wertpapierleihe beschränken wollen. Zu nennen ist auch die Monetarisierung von Verlusten. Warum
haben Sie das nicht umgesetzt? Es ist Arbeitsverweigerung, wenn Sie die Punkte, die Sie selbst nennen, einfach
vom Tisch nehmen und so tun, als wenn sie gar nicht da
gewesen wären. Das ist nicht in Ordnung.
({5})
Richtig: Beim Reisekostenrecht sind wichtige Ziele
erfüllt, etwa die Verminderung von Verwaltungsaufwand. Es ist Rechtssicherheit gegeben; auch das ist richtig.
({6})
Deshalb begrüßen wir diese Reform, aber
({7})
es bleibt die Frage offen: Warum haben Sie vorher nicht
einmal mit den Oppositionsfraktionen geredet?
({8})
Wir haben es im Berichterstattergespräch gehört. Warum
haben Sie nicht einmal geredet
({9})
und eine Abstimmung zwischen Bund und Ländern gesucht, um eine aufkommensneutrale Lösung anzustreben? Sie haben eine Lösung angestrebt, die einfach für
Sie ist, aber die eine Einnahmeminderung um fast
300 Millionen Euro bedeutet.
({10})
- Warten Sie es doch ab!
({11})
Thema Organschaft. Wir begrüßen die Reform beim
Gewinnabführungsvertrag.
({12})
Sie wissen genauso wie ich, dass das eine Sache ist, die
überfällig war. Wir haben das vor einem Jahr gefordert.
Ich persönlich bin sehr froh, dass Sie sich mit Ihrer modernen Gruppenbesteuerung nicht durchgesetzt haben.
Sie wissen, warum. Das hätte zu massiven Steuerausfällen geführt, und das wäre nicht in Ordnung gewesen.
Wir als Politiker sollten das Thema Unternehmensbesteuerung nicht nur fiskalpolitisch sehen.
({13})
Das bringt mich zu der Frage: Wie müssen denn zukünftige Organschaftsregelungen aussehen, auch im Sinne
von europäischen Lösungen? Da gebe ich Ihnen einmal
zu bedenken, dass es nicht immer gut ist, nur in Richtung Konzerne zu denken; es ist auch einmal an kleine
und mittlere Unternehmen zu denken.
({14})
Ein modernes Gruppenbesteuerungssystem muss auch
kleinen und mittleren Unternehmen helfen. Denken Sie
an die sogenannten Hidden Champions! Das sind die
kleinen Unternehmen, die irgendwann einmal so weit
sind, dass sie unsere Wirtschaft wesentlich stützen.
({15})
- Ja, ich verbessere mich, Herr Flosbach. Es gibt kleine
und mittlere Unternehmen, und aus denen entstehen die
Hidden Champions, und die wollen wir stützen.
Deshalb wollen wir eine Organschaft, die diesen Bedingungen wirklich Rechnung trägt.
({16})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Zusammenfassend heißt das: Wir Grüne können trotz
einiger Übereinstimmungen in den Zielen diesem
Gesetzentwurf insgesamt nicht zustimmen. Wir werden
uns enthalten. Wir können Steuerausfälle in Höhe von
300 Millionen Euro einfach nicht akzeptieren.
Vielen Dank.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Dr. h. c. Hans Michelbach
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
zentrales Ziel unserer Politik ist die Sicherung unseres
Wirtschaftsstandorts Deutschland. Dazu gehören die
Wettbewerbsfähigkeit und neue Arbeitsplätze. Dazu gehören Spitzentechnologie und Industriepolitik. Dazu gehören Bürokratieabbau und Vereinfachung mit einer unternehmensfreundlichen Steuerpolitik. Das ist unser
Ziel. Wir haben schon in vielen Schritten Erfolge. Da
wir auch in Europa am besten dastehen, können wir mit
Stolz feststellen: Diese Ziele werden durch unsere Politik erreicht.
({0})
Zweifellos ist die Steuerpolitik weiterhin die größte
Herausforderung für die Binnenkonjunktur. Deshalb haben wir das Gesetz, über das wir jetzt abstimmen, eingebracht und damit eine weitere wichtige Zielsetzung aus
unserem Koalitionsvertrag umgesetzt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Unternehmensteuerrecht durch zielgenaue Maßnahmen verbessert, vereinfacht und rechtssicherer ausgestaltet werden. Auch sollen durchaus Entlastungen vorgenommen
werden; denn wir haben in diesem Bereich einen sehr
starken Aufwuchs an Steuermehreinnahmen. Das muss
man einmal feststellen.
Wir wissen, dass unsere Politik bei der Opposition natürlich nicht auf Gegenliebe stößt. Sie wollen die Betriebe, insbesondere die mittelständische Wirtschaft, verstärkt weiter abkassieren. Das ist Ihr Thema. Herr
Gabriel möchte das französische Vorbild kopieren. Zusätzlich 22 Milliarden Euro Belastung der Mittelschicht
in Deutschland ist das Ziel der SPD. Das ist die Tatsache, meine Damen und Herren.
({1})
Die Grünen haben gesagt, Sie hätten zwar zugestimmt,
aber es sei keine Aufkommensneutralität vorhanden. Wer
in einem Steuergesetz Aufkommensneutralität anstrebt,
wird letzten Endes keine Strukturveränderungen durchführen können, weil dabei immer wieder eine Entlastung
stattfindet.
Die Entbürokratisierung bei den Reisekosten steht
selbstverständlich mit den Unternehmen in Verbindung;
denn wir und auch die deutsche Wirtschaft wollen motivierte und vor allem mobile Arbeitnehmer. Deswegen ist
es ganz wichtig, dass unsere Arbeitnehmer vereinfachte
Reisekostenabrechnungen machen können. Das ist das
Ziel, und das wird erfüllt.
({2})
Der zweite Punkt, nämlich die Verbesserung beim
Verlustrücktrag, dient insbesondere dem Mittelstand.
Wenn dieser von 500 000 Euro auf 1 Million Euro nahezu verdoppelt wird, dann profitieren insbesondere die
leistungsfähigen mittelständischen Betriebe. Hier wird
Liquidität geschaffen.
Wir wollen möglichst wenig Substanzbesteuerung,
möglichst wenig Substanz aus den Firmen herausnehmen. Dies dient dem Betrieb.
Das System der Verlustnutzung ist betriebssichernd
und entspricht grundsätzlich internationalen Standards.
Wir wollen, dass möglichst keine Verluste anfallen.
Aber in den Konjunkturzyklen ist es nun einmal so:
Zur Erhaltung der Substanz in den Unternehmen gehört
der Liquiditätsausgleich. Man muss immer wieder mit
Konjunktureinbrüchen rechnen. Wir wollen die Betriebe
erhalten. Jeder Betrieb, der wegfällt, kann nicht so
schnell wieder errichtet und erneuert werden. Deswegen
ist der Erhalt der Arbeitsplätze, der Erhalt der Betriebe
ein wesentlicher Faktor für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung.
Das geht insbesondere mit einem Verlustrücktrag.
Deswegen ist das, was wir heute angehen, wichtig.
({3})
Die verbundenen Unternehmen bekommen mit diesem Gesetz mehr Sicherheit. Wir haben in dem Bereich
der Organbesteuerung wachsende Unsicherheit zu verzeichnen. Es ist doch für eine mittelständische Unternehmung zweifellos eine wesentliche Frage, ob bei Investitionen oder Expansionen ins Ausland Unsicherheit
herrscht oder nicht. Deswegen ist es ganz entscheidend,
dass wir Unsicherheit abbauen und den Betrieben gerade
bei der Besteuerung Rechtssicherheit verschaffen. Das
ist unser Ansatz. Wir haben genau das richtige Rezept,
um den Betrieben zu helfen.
Ich bin natürlich sehr enttäuscht,
({4})
dass Sie trotz meiner unerschütterlichen Argumentation
nach wie vor Ihre Zustimmung verweigern.
({5})
- Herr Kollege Binding, die Krokodilstränen, die hier
geflossen sind, sollten letzten Endes Ihre Zustimmungsverweigerung etwas verschönern.
({6})
Ich kann nur sagen: Die Blockadepolitik von RotGrün in der Steuerpolitik wird Ihnen noch auf die Füße
fallen. Davon bin ich fest überzeugt.
({7})
Die Leute werden es Ihnen verübeln, dass Sie letzten Endes die Geringverdiener und die Mittelschicht durch Ihre
Blockade unserer Reform, die zu einer Abmilderung der
Auswirkung der kalten Progression, der heimlichen
Steuererhöhungen, führen soll, nicht entlasten.
({8})
Deswegen ist es ganz klar: Wenn Sie von der SPD die
Blockade in der Steuerpolitik aufrechterhalten, werden
Sie Schiffbruch erleiden. Das gebe ich Ihnen schriftlich;
denn Steuerpolitik ist Gesellschaftspolitik, und die Menschen merken, wer sie entlastet und wer sie belastet.
({9})
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung
der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Rei-
sekostenrechts. Der Finanzausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf den Druck-
sachen 17/11180 und 17/11217, den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/10774 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Lesung angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis wie
zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Verlustverrechnung
einschränken - Steuereinnahmen sicherstellen“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf den Drucksachen 17/11180 und
17/11217, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/5525 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulzugang bundesgesetzlich regeln -
Recht auf freien Zugang zum Master sichern
- Drucksache 17/10861 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das
so beschlossen.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10861 an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 11
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr
- Drucksache 17/9694 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/11182 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Patrick SensburgChristoph SträsserJörg van EssenJens PetermannJerzy Montag
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Patrick Sensburg von der
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Was uns überfraktionell eint, ist die
Tatsache, dass wir hinter unseren Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz stehen, dass wir ihnen Rückhalt geben und dass wir als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages unsere Parlamentsarmee stützen, wenn sie
die schweren Aufgaben im Ausland wahrnimmt.
Deshalb ist es gut, dass wir heute über diesen Tagesordnungspunkt debattieren.
Wir debattieren über den Gerichtsstand bei besonderer
Auslandsverwendung der Bundeswehr. Wir konzentrieren
die Zuständigkeiten für Ermittlungs- und Strafverfahren
gegen Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz;
denn es kommt immer wieder vor, dass unsere Soldatinnen und Soldaten bei Auslandseinsätzen von der Waffe
Gebrauch machen müssen. Dann wird gegebenenfalls
gegen sie ermittelt. Das ist auch richtig so. Denken Sie
an folgende Situation: Eine Patrouille muss sich mit
Waffengewalt verteidigen. Danach wird es Untersuchungen geben. Wir wollen, dass sich diese Untersuchungen
bei einem Gericht und einer Staatsanwaltschaft konzentrieren. Nach dem bisherigen Grundsatz finden Ermittlungen und Untersuchungen am Ort der Stationierung
statt. Wenn man weiß, dass unsere Soldaten im Auslandseinsatz aus vielen Standorten kommen, dann weiß
man auch, dass das zu vielen Gerichtsständen führen
kann. Das wollen wir mit diesem Gesetz ändern.
Im Rahmen des aktuellen ISAF-Kontingents leisten
zurzeit Soldaten aus 14 Bundesländern ihren Dienst. Sie
kommen aus 104 verschiedenen Standorten. Wird beispielsweise gegen Soldaten im Rahmen eines Einsatzes
- im Rahmen eines Operational Mentoring and Liaison
Teams, den sogenannten OMLTs - ermittelt, weil sie
sich verteidigt haben, dann müssten im Grunde die Gerichte in Hamburg, in Düsseldorf, in Frankfurt oder in
München entscheiden, je nachdem, aus welchem Standort die Soldaten kommen. Das wollen wir mit dem Gesetz beheben. Bei Inlandsstraftaten liegt eine ganz andere Situation vor; hier ergibt sich die Zuständigkeit
nach dem Tatort. Bei den Soldaten jedoch, die wir in den
Auslandseinsatz schicken, müssen wir dafür sorgen, dass
dieser Situation auch Rechnung getragen wird. Das
schafft der vorliegende Gesetzentwurf.
({0})
Denken Sie beispielsweise an die Situation vom
Dezember 2009. 300 Bundeswehrsoldaten waren gemeinsam mit 300 Angehörigen afghanischer Streitkräfte
in Gefechte verwickelt. Es gab zwei verletzte deutsche
Soldaten, auch getötete Taliban. Nach der jetzigen Regelung hätte es dazu kommen können, dass Staatsanwaltschaften an 104 verschiedenen Landgerichten ermittelt
hätten. Das führt zu einer unklaren Situation für unsere
Soldaten. Deswegen haben wir diesen Gesetzentwurf
vorgelegt, der hoffentlich Ihre Unterstützung finden
wird.
({1})
Zurzeit leisten jährlich rund 23 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst in elf Einsätzen und
Missionen in Europa, in Asien und in Afrika. Wenn man
sich den Turnus der verschiedenen Einsatzkontingente
anschaut, dann erkennt man, dass sogar noch mehr als
23 000 deutsche Soldaten betroffen sind, die an unterschiedlichen Gerichtsstandorten Verfahren ausgesetzt
sein könnten. Wir orientieren uns nicht mehr wie bisher
am Ort der Stationierung der Soldaten. Diese Sichtweise
hat in den letzten Jahren im Grunde immer mehr an Aktualität verloren, weil unsere deutschen Soldaten immer
häufiger in Auslandseinsätzen ihren Dienst leisten. Wir
orientieren uns an einer Konzentration der Kompetenzen. Das ist in der heutigen Zeit auch richtig so.
Meine Damen und Herren, im Ergebnis schaffen wir
damit Klarheit bezüglich der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft. Wir schaffen auch Klarheit bezüglich der
Zuständigkeit des Gerichts. Außerdem beheben wir die
Unklarheit bei der Bewertung der unterschiedlichen Lebenssachverhalte. Es war nämlich ein großes Problem,
dass verschiedene Gerichte den gleichen Lebenssachverhalt unterschiedlich bewerten konnten. Dieses Problem
lösen wir, indem wir die Sachkompetenzen konzentrieren. Dies ist richtig; das schulden wir unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, meine Damen und Herren.
({2})
Aufgrund unserer Verantwortung gegenüber unseren
Soldatinnen und Soldaten haben wir in den letzten drei
Jahren maßgebliche Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Ich erinnere dabei an die Einsatzbetreuungskommunikation, die wir für unsere Soldatinnen und Soldaten
im Einsatz deutlich verbessert haben. Ich erinnere an das
Einsatzversorgungsgesetz, das die Situation unserer Soldatinnen und Soldaten verbessert hat. Denken Sie nur an
die Weiterverwendung bei Wehrdienstbeschädigung ab
30 Prozent; denken Sie daran, dass wir dies auch auf Zivilpersonal ausgedehnt haben. Denken Sie als weiteres
Beispiel an die Hinterbliebenenversorgung für unsere
Soldatinnen und Soldaten, die wir deutlich verbessert
haben.
Wir kümmern uns um unsere Soldatinnen und Soldaten. Das zeigt auch der vorliegende Gesetzentwurf. Wir
sorgen für rechtliche Klarheit. Wenn unsere Soldatinnen
und Soldaten im Ausland sind, wenn sie in Gefechte verwickelt werden, wenn gegen sie ermittelt wird, dann
wollen wir Klarheit bei der Zuständigkeit der Gerichte
und der Staatsanwaltschaften. Wir wollen die Sachkompetenzen bündeln. Das erreichen wir mit diesem Gesetz.
Mit § 11 a StPO schaffen wir einen Gerichtsstand bei
dem für die Stadt Kempten zuständigen Gericht. Damit
ist klar, wer zuständig ist. Wir konzentrieren hier die Befassung mit allen Straftaten, die von Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz begangen
werden. Dies ist im Kern richtig, weil wir eine Vielzahl
von Voraussetzungen berücksichtigen müssen, die bei
der Ermittlung gegen Soldatinnen und Soldaten eine
Rolle spielen, die aber grundsätzlich bei Gerichten so
nicht bekannt sind. So verfahren wir schon bei den
Staatsanwaltschaften. Wir haben Spezialzuständigkeiten
für Schwerpunktstaatsanwaltschaften beispielsweise in
der Wirtschaftskriminalität, in der Korruptionsbekämpfung, bei der Drogenkriminalität, im Dopingbereich und
bei der Internetkriminalität. In Bezug auf diese Bereiche
haben wir bereits Sachkompetenzen konzentriert. Deswegen ist es folgerichtig, für den jetzt in Rede stehenden
Bereich Sachkompetenzen bei Staatsanwaltschaften zu
konzentrieren - wir haben damit bisher gute Erfahrungen gemacht -, aber auch bei Gerichten; denn die bei einer Staatsanwaltschaft konzentrierten Sachkompetenzen
sollten dann nicht wieder auf viele Gerichte verteilt werden.
Denken Sie einmal daran, wie viele Rahmenbedingungen bei der Bewertung eines Sachverhalts bei
Auslandseinsätzen zu berücksichtigen sind. Da sind die
Rules of Engagement, die konkrete Befehlslage und
viele andere Rahmenbedingungen, die für den Auslandseinsatz eine Rolle spielen, zu berücksichtigen. Die dafür
notwendigen Kompetenzen sind im Zweifel nicht bei jedem Amts- und Landgericht vorhanden; da muss man
sich erst einarbeiten. Das hat die Konzentration bei Gerichten, wo sie stattgefunden hat, schon gezeigt. Wir
wollen eine kompetente Beurteilung der Sachverhalte
durch die Gerichte. Deswegen ist eine Konzentration bei
einem Gericht folgerichtig. Für den Freistaat Bayern hatten wir bereits die Konzentration in Kempten. Deswegen
haben wir uns für diesen Standort entschieden, um die
Voraussetzungen für funktionsfähige, sachkompetente
und schnelle Untersuchungen, aber auch für ebensolche
Ermittlungs- und Gerichtsverfahren an diesem Gericht
zu schaffen.
Ein - wie teilweise behauptet - Verstoß gegen
Art. 101 unseres Grundgesetzes, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, ist
hierin nicht zu sehen. Wir haben hier kein Ausnahmegericht, wie es manchmal behauptet wird, sondern wir
konzentrieren Kompetenzen. Es handelt sich um eine
Sondergerichtsbarkeit; das ist richtig. Sie ist zulässig
und ist schon in vielen Bereichen geschaffen worden.
Denken Sie an ärztliche Berufungsgerichte, Schifffahrtsgerichte, Richterdienstgerichte und Flurbereinigungsgerichte. Angesichts dessen ist doch die Behauptung abwegig, wir würden für unsere Soldatinnen und Soldaten
hier eine verfassungswidrige Gerichtskompetenz schaffen. Im Gegenteil: Wir schaffen etwas Folgerichtiges.
Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten auch
schuldig.
({3})
Gerade vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit
müssen wir mit dem Thema „Militär und Justiz“ meines
Erachtens sehr sorgfältig umgehen. Deswegen schaffen
wir mit dem Gesetz keine Militärjustiz. Wir wollen
nicht, dass Soldaten über Soldaten entscheiden. Meines
Erachtens gebietet es sowohl der Respekt vor der freien
Justiz als auch der Respekt vor den Soldaten, hier genau
zu sein, Begrifflichkeiten nicht zu verwischen. Wir richten Gerichte ein, die unabhängig sind.
Wir haben Kompetenzen bei einem Gericht konzentriert und eben keine Militärjustiz geschaffen. Wir sind
in diesem Gesetzentwurf der historischen Bedeutung gerecht geworden, indem wir Kompetenzen konzentrieren,
aber keine Militärjustiz schaffen und keine Ausnahmegerichte errichten. Wir erreichen an dieser Stelle für unsere Soldatinnen und Soldaten Sicherheit. Wir bündeln
Fachkompetenzen. In absehbarer Zeit werden wir nach
mehreren Verfahren erleben, dass sich diese Fachkompetenz in der Praxis auswirken wird.
Wir haben ausreichend viele Verfahren; dies ist von
Ihnen, Herr Kollege, nachgefragt worden. Die Antwort
lautet, dass es in den letzten Jahren 167 Verfahren gab;
im letzten Jahr 2011 hatten wir, glaube ich, 27 Verfahren.
({4})
Das ist nicht zu wenig, das ist deutlich ausreichend,
um hier eine Konzentration der Kompetenzen zu schaffen. Dies sollten wir auch machen. Wir sollten hoffen,
dass wir nicht mehr Fälle haben, sondern uns um die wenigen Fälle sorgen, die wir zurzeit haben. Wir sollten uns
auch die Chance gönnen, hier durch die Bündelung von
Fachkompetenzen unseren Soldatinnen und Soldaten gerecht zu werden.
Ich danke Ihnen.
({5})
Jetzt hat das Wort der Kollege Christoph Strässer von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Sensburg, Sie haben schon
einige Punkte angesprochen, die nach meiner Meinung
sehr einfach zu widerlegen sind. Wir stimmen an einer
Stelle überein - das ist aber, glaube ich, keine besondere
Erkenntnis -, nämlich darin, dass die Soldatinnen und
Soldaten, die für uns im Auslandseinsatz sind, ein faires,
ein transparentes und ein schnelles Verfahren zu erwarten haben, wenn sie dann in der Situation sind, dass sie
einen gesetzlichen Richter bekommen, und dass ihre
Tatbestände ordentlich geregelt werden.
({0})
Das ist mein Eindruck nach den Diskussionen, die wir
auch mit Sachverständigen hatten. Wir sind - das habe
ich auch im Rechtsausschuss gesagt - in diese Diskussion relativ offen hineingegangen, mit einer Offenheit,
die auch Lösungen ermöglicht hätte, die aber mit diesem
Gesetz nicht geschaffen werden. Ich will dies an den drei
oder vier zentralen Punkten, die Sie aufgeführt haben,
begründen.
Zum einen sagen Sie, eine Zentralisierung der Strafverfolgung von vermeintlichen oder tatsächlichen Straftaten von Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz
an einem Standort führe zu Transparenz und Übersichtlichkeit des Gerichtsverfassungsrechts und des Strafprozessrechts. Genau das Gegenteil ist der Fall. Es bliebe
- das haben die Sachverständigen sehr deutlich gesagt genau bei der Zahl, die Sie genannt haben, nämlich bei
über 100 Fällen, wenn man den neuen § 11 a anwenden
würde. Ich kann die Zahlen, die Sie genannt haben, jetzt
nicht verifizieren. Der größte Teil davon würde jedenfalls nicht unter den Tatbestand des § 11 a StPO fallen,
sondern er würde weiterhin bei den Tatortstaatsanwaltschaften und -gerichten verfolgt werden; denn es handelt
sich um sogenannte Delikte kleinerer und mittlerer Kriminalität. Die Zuständigkeiten dafür verblieben nach Ihrem eigenen Gesetzentwurf am Standort der Stationierung der Soldatinnen und Soldaten.
({1})
Sie würden also nicht nur keine Klarheit schaffen, sondern durch die Schaffung eines neuen Tatbestandes eine
weitere Verunsicherung herbeiführen, und das hilft im
Grunde genommen niemandem. Schon deshalb kann
man diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({2})
Was die Staatsanwaltschaften angeht, ist darauf hinzuweisen, dass Straftaten, die im Zusammenhang mit
Auslandseinsätzen mit Einsatzbezug begangen werden
und beispielsweise unter das Völkerstrafrecht fallen,
selbstverständlich wie bisher in der Zuständigkeit der
Generalbundesanwaltschaft bleiben. Das heißt, Sie haben auch an dieser Stelle keine Erleichterung, sondern es
kommt zu einer noch größeren Unübersichtlichkeit der
Zuständigkeitsregeln. Wir haben drei Zuständigkeiten,
und das kann doch nicht ernsthaft zu einer Konzentration
führen, wie Sie sie vorhaben. Das ist, glaube ich, der
völlig falsche Weg. Deshalb können wir an dieser Stelle
auch nicht mitmachen.
Ein weiterer Punkt ist die Spezialisierung. Wenn es so
ist - ich unterstelle, dass die Sachverständigen uns das
durchaus richtig dargelegt haben -, dass die Fälle, die
nach § 11 a an einer zentralen Staatsanwaltschaft und bei
einem zentralen Gericht angeklagt würden, eine minimale Zahl darstellen, nämlich in den letzten Jahren weniger als 20, dann erklären Sie mir bitte einmal, wie da
eine Spezialisierung und Spezialkenntnisse entstehen
sollen. Das ist einfach eine falsche Einschätzung. Sie
werden mit dieser Fallkonzentration keine Spezialzuständigkeiten begründen können. Bei allem, was Sie genannt haben - Drogenkriminalität, Wirtschaftskriminalität -, geht es um Falldelikte. Da ist es in der Tat richtig,
dass es Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, und zwar
nicht nur eine in einem einzigen Bundesland für die gesamte Republik. Sie haben nicht begründet, warum das
ausgerechnet hier erforderlich sein soll.
Ich glaube, die Spezialisierung berührt nur einen kleinen Teil des Problems. Eines sind Sie nicht angegangen:
Ich bin sicher, dass Staatsanwälte sehr gut in der Lage
sind, zum Beispiel das Wehrdisziplinarrecht oder die
Rules of Engagement zu verstehen und anzuwenden; dafür sind sie ausgebildet. Wir Juristen wissen: Wir können
fast alles, auch das. Uns ist aber immer wieder deutlich
vor Augen geführt worden, dass die Probleme bei der
Sachverhaltsermittlung darin bestehen - das ist ein
Kernproblem -, dass es keine Ermittlungstätigkeiten
deutscher Staatsanwältinnen und Staatsanwälte oder
Richterinnen und Richter im Ausland gibt, also dort, wo
die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind. Ich hätte
mir gewünscht, dass man in einem solchen Gesetzentwurf zumindest ein Interesse daran hätte erkennen lassen, eine Debatte mit den Partnerinnen und Partnern in
den Ländern, in denen unsere Soldatinnen und Soldaten
im Auslandseinsatz sind, zu führen und im Völkerrecht
Regelungen zu verankern, die es ermöglichen, Ermittlungen vor Ort durchzuführen. Denn das hätte eine wirkliche Erleichterung der Ermittlungstätigkeit zur Folge,
im Gegensatz zu dem, was Sie hier vorschlagen. Elf
Fälle in drei Jahren werden nicht zu einer Konzentration
und einer Zuständigkeitsregelung führen, die die Kompetenzen deutlich stärken. Davon müssen wir ausgehen,
und deshalb gehen wir den Weg an dieser Stelle nicht
mit.
Der letzte Punkt ist für mich der krauseste: die fehlende Begründung für den Standort Kempten. Ich habe
überlegt, ob es damit zu tun hat, dass ich selbst 1967 bei
der Ausbildungskompanie 13/8 in Kempten meine
Grundausbildung absolviert habe. Aber die Fußstapfen,
die ich dort hinterlassen habe, reichen wohl nicht aus,
um zu begründen, dass dort jetzt eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft errichtet wird.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist denn die sachliche Begründung für den
Standort Kempten? Eine solche Begründung ist erforderlich, wenn eine Zuständigkeit für das ganze Bundesgebiet geschaffen werden soll. Wir hatten Ansätze, die
Sinn gemacht hätten. Es gab Überlegungen, ein Wehr24386
strafjustizzentrum in der Nähe des Bundesgerichtshofs
in Leipzig oder in der Nähe der Bundesanwaltschaft in
Karlsruhe zu etablieren. Wenn man es tatsächlich an einem Standort konzentrieren wollte, der für die Soldatinnen und Soldaten sinnvoll ist: Warum dann in Gottes
Namen nicht in Potsdam, wo das Einsatzführungskommando der Bundeswehr alle Auslandseinsätze plant und
führt?
({4})
Das hätte irgendwie noch Sinn gemacht; aber der Standort Kempten kann aus meiner Sicht - außer mit einer
Wahlkampfhilfe für wen auch immer dort unten - definitiv nicht begründet werden.
Ich glaube, es gibt ausreichend Gründe, nicht zu versuchen, die Verfahren an einem Standort zu konzentrieren; die Argumente dafür reichen nicht aus. Jenseits dieses Aspekts würde ich gerne eine Debatte über eine
Militärstrafgerichtsbarkeit führen; vor dem Hintergrund
unserer Vergangenheit sollten wir ganz vorsichtig und
sensibel darüber diskutieren.
Ich glaube, mit dem Gesetz, dessen Entwurf Sie vorgelegt haben, wird keines der von Ihnen angegebenen
Ziele erreicht. Deshalb können wir ihm in der Gesamtheit nicht zustimmen. Ich habe gesagt: Wir sind mit einer
skeptischen Offenheit in dieses Verfahren hineingegangen. Übrig geblieben ist eine offene Skepsis, und sie ist
so groß, dass eine Zustimmung der SPD zu diesem Gesetzentwurf nicht denkbar ist.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Stephan
Thomae das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Strässer, Sie haben gerade eben
die Frage gestellt, für wen da Wahlkampfhilfe betrieben
werden solle. Sie hätten mit einem einfachen Blick in
den Kürschner feststellen können, dass mein Wahlkreis
das Oberallgäu ist und somit Kempten zu meinem Wahlkreis gehört. Ich hoffe aber, dass Sie mich jetzt nicht als
befangen ablehnen werden. Ich spreche heute zu diesem
Thema, das für mich besonders angenehm ist, weil ich
den Wahlkreis Oberallgäu hier im Deutschen Bundestag
vertrete. Die Justizbehörden in meiner Heimatstadt
Kempten im Allgäu sollen in Zukunft über Straftaten
entscheiden, die von Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz begangen worden sind. Die Wahl dieses
Standortes bestätigt nicht nur die hervorragende Arbeit
der Kemptener Justizbehörden; sie bedeutet auch einen
Imagegewinn für die Stadt Kempten. Darüber freue ich
mich natürlich sehr, und das ist auch völlig legitim.
Soldaten im Auslandseinsatz befinden sich in einer
Sondersituation; das müssen wir als Gesetzgeber anerkennen. Ich habe mir selber vor etwa zwei Jahren bei einem Truppenbesuch in Afghanistan ein Bild davon machen können, unter welch schwierigen Bedingungen die
Soldatinnen und Soldaten leben und arbeiten. In Afghanistan befinden sie sich in einer ständigen Gefahrensituation. Sie halten sich ständig im Lager auf, weil sie
es kaum verlassen können. Sie sind mit Tod und Verletzungen von Kameraden konfrontiert und sind monatelang von Partnern, Kindern und Familie getrennt. Das
alles sind natürlich keine Entschuldigungen für die Begehung von Straftaten. Natürlich müssen für diese Straftaten genau die gleichen rechtlichen Maßstäbe gelten
wie für andere Straftaten. Das zeigt, wie wichtig es ist,
dass sich die zuständigen Staatsanwälte und Gerichte mit
den Rahmenbedingungen der Soldaten im Auslandseinsatz befassen, und das tun die Gerichte in Kempten bereits.
({0})
Herr Kollege Strässer, die Kemptener Justiz ist bereits
für Soldaten zuständig, die von bayerischen Standorten
aus in den Auslandseinsatz entsandt werden und Straftaten begehen. Wir haben also in Kempten - wo Sie genauso wie ich einen Teil Ihres Wehrdienstes geleistet
haben - mehrjährige Erfahrung mit der Behandlung solcher Straftaten. Diese Kompetenz soll - so sieht es der
Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb vor - für alle deutsche
Soldaten in Auslandseinsätzen genutzt werden. Das
heißt, in Zukunft müssen sich alle deutschen Soldaten,
die straffällig werden, für bestimmte Straftaten vor
Kemptener Gerichten verantworten. Durch diese Erweiterung der Zuständigkeiten können wir bereits vorhandenes Wissen und vorhandene Ressourcen optimal nutzen.
Deshalb halte ich es für die richtige Entscheidung, dass
dieser Gerichtsstand nach Kempten kommt.
Nicht nur die Erfahrungen der Kemptener Justiz sprechen für diese Entscheidung; da stimme ich meinem
Vorredner Patrick Sensburg absolut zu. Vielmehr führt
eine klare Aufgabenverteilung der Gerichte dazu, dass
Straftaten schneller aufgeklärt werden. Gerade wegen
der schwierigen Bedingungen bei Auslandseinsätzen
müssen Verzögerungen bei der Strafverfolgung in Zukunft verhindert werden; denn solche Verzögerungen bedeuten für die Betroffenen eine zusätzliche Belastung,
aber auch für die Geschädigten, die ebenfalls eine
schnelle Behandlung der Fälle wollen.
Auf die Idee, eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft zu
errichten, sind übrigens nicht nur wir gekommen. Schon
2010 haben die Justizminister der Länder auf einer Justizministerkonferenz die Forderung erhoben, dass eine
zentrale Zuständigkeit aufseiten der Gerichte und Staatsanwaltschaften geschaffen werden soll, um eine effiziente und zügige Bearbeitung der Ermittlungs- und
Strafverfahren zu gewährleisten. Diesem Wunsch der
Länder kommen wir mit unserem Gesetzentwurf nun
nach.
Ich räume offen ein - ich schäme mich deswegen
auch nicht -, dass ich Kempten ins Spiel gebracht
({1})
und mich dafür eingesetzt habe. Die Gründe habe ich bereits genannt: Wir in Bayern besitzen dort bereits die nötige Kompetenz. Es ist richtig, dass auch Leipzig im Gespräch war. Aber die Justizbehörden im Freistaat
Sachsen haben das abgelehnt. Deswegen mussten wir
auf die Suche gehen, um herauszufinden, wo sonst eine
solche Kompetenz gebündelt werden kann. Kempten bot
sich an, weil wir in Bayern bereits eine solche Kompetenz besitzen.
Ich halte es für sehr wichtig, noch einmal zu betonen,
dass es sich nicht um die Einführung eines Sondergerichts handelt. Es geht darum, Zuständigkeiten und
Kompetenzen sinnvoll zu bündeln. Wir haben das bereits
in vielen anderen Bereichen getan - es ist schon erwähnt
worden -: bei organisierter Kriminalität sowie bei Wirtschafts- oder Computerstraftaten. Es geht also darum,
für bestimmte Straftaten die Kompetenzen zu bündeln.
Es wird kein Sonderrecht und keine Sondergerichte geben. Es gilt das ganz normale Strafrecht, es ermitteln
ganz normale zivile Staatsanwälte, und es entscheiden
ganz normale Richter am Amts- und Landgericht. Für
Kempten ist diese Aufgabe eine gute Wahl. Ich wünsche
den Kemptener Justizbehörden alles Gute für die Ausübung der neuen Aufgabe.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der von der Regierung vorgelegte Gesetzentwurf wird nicht gebraucht. Wegen des
Eingriffs in Länderkompetenzen ist er verfassungsrechtlich problematisch. Damit wird auch das eigentliche Problem nicht beseitigt: Wie können strafrechtliche Ermittlungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr durchgeführt werden? Außerdem wird die Justiz in eine nicht
angemessene, ja, gefährliche Nähe zum Militär gerückt.
Es geht hier nicht um Militärjustiz - das behaupte ich
nicht -; aber es geht um eine Konstruktion, die nicht
trägt und die gefährlich ist. Deshalb lehnen wir den vorliegenden Gesetzentwurf entschieden ab.
({0})
Seit Jahren beschwören die Betreiber dieses Gesetzesvorhabens eine Regelungslücke, einen Regelungsbedarf bei der Verfolgung und Prüfung möglicher Straftaten im Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
Sie haben keine triftigen Gründe nennen können. Das
hat auch die Anhörung des Rechtsausschusses gezeigt.
Weder gab es ein Kompetenzwirrwarr bei den Länderstaatsanwaltschaften, noch waren die Verfahren unzumutbar lang.
Nehmen wir Ihr Lieblingsbeispiel, den CheckpointFall im August 2008, bei dem wegen des Verdachts auf
Totschlag gegen einen Soldaten ermittelt wurde. Er hatte
an einem Checkpoint in Afghanistan Zivilisten erschossen. Ja, das Verfahren hat länger gedauert. Das lag aber
nicht an inkompetenten Staatsanwälten und Richtern, die
sich im Völkerstrafrecht nicht auskennen. Es lag daran,
dass es nicht möglich bzw. nicht vorgesehen ist, adäquate Ermittlungsverfahren vor Ort, in Afghanistan,
durchzuführen. Deshalb hat man, auch im Interesse des
Angeklagten, den Tathergang in Deutschland aufwendig
rekonstruiert. Ich finde, es liegt gerade im Interesse der
Soldatinnen und Soldaten, dass gründlich und objektiv
ermittelt wird. In diesem Fall führte das zur Einstellung
des Verfahrens.
Das kann man nicht als Beleg dafür nehmen, dass
man eine neue Regelung braucht. Nach Lage der Dinge
würde dieser Fall ohnehin nicht bei der Staatsanwaltschaft Kempten landen,
({1})
wie im Gesetz vorgesehen, sondern bei der Generalbundesanwaltschaft. Das unterschlagen Sie hier ständig. Das
folgt aus den Grundsätzen, die die Generalbundesanwältin 2010 in der Sache „Oberst Klein/Bombenangriff bei
Kunduz“ aufgestellt hat. Vereinfacht gesagt: Wenn es um
Völkerstrafrecht und bewaffnete Konflikte geht, ist die
Generalbundesanwaltschaft am Zuge und nicht Kempten.
Und was soll in Kempten bleiben? Bagatelledelikte
ohne direkten Einsatzbezug, also Diebstahl, Beleidigungen, Verkehrsunfälle? Dafür braucht man weder ein ganz
besonderes Know-how noch eine Spezialisierung. Dann
bleiben noch die Ermittlungsverfahren, in denen es um
Eingriffe in Rechte Dritter geht bei Einsätzen, die unterhalb der Schwelle des bewaffneten Konflikts liegen;
Beispiel: Bosnien nach dem Friedensschluss von Dayton. Sicherlich, auch hier gibt es Einsatzregeln, die man
kennen muss, die auch ein Staatsanwalt kennen muss. Im
Wesentlichen geht es aber darum - wie in Deutschland
-, ob der Einsatz von Schusswaffen in einer konkreten
Situation notwendig und legitim war. Dafür brauchen
wir keinen Sondergerichtsstand. Das können auch die
Staatsanwaltschaften der Länder erledigen.
({2})
Warum wird dieser Gesetzentwurf dennoch vorgelegt? Ein solches Gesetz wird, wie gesagt, nicht gebraucht. Vorgetragen wurde, man brauche Richter und
Staatsanwälte, die mit dem Soldatischen vertraut sind,
die sich besonders gut in militärische Entscheidungssituationen einfühlen können. Worauf das hinausläuft, ist
klar: auf eine Handvoll Staatsanwälte in Kempten, die in
stetigem engem Austausch mit der Bundeswehr stehen.
Sie sollen ermitteln und niemand sonst. Dadurch entsteht
eine strukturelle Nähe, die nicht angemessen, ja, gefährlich ist; denn auch Juristen sind nicht immun gegen orga24388
Paul Schäfer ({3})
nisationssoziologische und organisationspsychologische
Prozesse. Wir sollten nicht so tun, bitte sehr, als ob
Staatsanwälte und Richter übernatürliche Wesen seien,
({4})
denen Korpsgeist völlig fremd ist. So ist das.
({5})
Den Angehörigen von Streitkräften würde mit diesem
Gesetz eine juristische Sonderstellung im Vergleich zu
anderen Bevölkerungsgruppen gewährt werden. Versuche, die in diese Richtung zielen, hat es seit den 50erJahren immer wieder gegeben. Sie sind mit Blick auf die
deutsche Geschichte abgewiesen worden. Es sollte dabei
bleiben.
Richtig ist: Soldatinnen und Soldaten haben einen
Anspruch auf solide, unvoreingenommene, kompetente
Klärung der gegen sie erhobenen Vorwürfe. Dazu würde
dieses Gesetz aber nicht beitragen. Es geht auch - dazu
haben Sie leider nichts gesagt, lieber Kollege Sensburg um Gerechtigkeit gegenüber den Opfern von Gewalttaten. Hier darf keine Schieflage entstehen. Aus genau diesem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
({6})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Katja Keul von Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann Sie beruhigen: Ich komme nicht aus
Kempten.
({0})
Ich habe noch eine weitere gute Nachricht - die guten
Nachrichten zuerst -: Den zweiten Teil des Gesetzentwurfs zur Stärkung der Rechtssicherheit und der Opferrechte im Strafverfahren tragen wir mit.
({1})
Es ist sinnvoll, dass Menschen, die im Ausland Opfer einer Straftat geworden sind, künftig bei ihrer Staatsanwaltschaft zu Hause Anzeige erstatten können.
({2})
Jetzt kommt die schlechte Nachricht.
({3})
Die Einführung einer Bundeswehrsonderjustiz in Kempten ist nicht nur nutzlos, sondern auch schädlich. Das
will ich Ihnen im Folgenden an fünf Punkten aufzeigen.
Erstens geht es Ihnen nach der Gesetzesbegründung
um die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften. Sie ändern hier aber die Zuständigkeit des Gerichtes. Die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften auf Landesebene wäre schon jetzt ohne Weiteres möglich
gewesen. Dafür bedarf es keiner Sonderjustiz in Kempten.
({4})
Schon jetzt hat das Bundesland Bayern alle Verfahren
gegen Soldaten wegen Auslandstaten in Kempten gebündelt. Einen Aufwuchs von Kompetenz durch viele
vergleichbare Verfahren gibt es dort allerdings nicht, da
die Zahl der Fälle viel zu gering ist.
({5})
Zweitens knüpfen Sie für die Zuständigkeit des Gerichts am falschen Kriterium an. Ihr Anknüpfungspunkt
ist nicht eine bestimmte Rechtsmaterie, sondern die Zugehörigkeit des Verdächtigen zu einer besonderen Personengruppe. Der Vergleich zur Wirtschaftskriminalität
hinkt deswegen gewaltig. Wir haben in Deutschland aus
guten Gründen keine besondere Strafgerichtsbarkeit für
bestimmte Berufsstände mehr. Das ist gut so, und das
soll so bleiben; denn vor Gericht sind alle Bürger gleich.
({6})
Drittens wird das eigentliche Problem nicht gelöst.
Das ist nicht die Spezialisierung des Gerichts, sondern
die schwierige Ermittlungsarbeit am Tatort. Die Ermittlungsbehörden des Staates, in dem die Straftat begangen
worden ist, sind meistens durch Immunitätsabkommen
bei der Verfolgung gehemmt. Auch der Feldjäger vor Ort
ist kein Ersatz für die Kripo. Er hat weder eine entsprechende Ausbildung noch die nötigen Befugnisse, und er
ist außerdem selbst Angehöriger der Truppe. Er kann vor
Ort keine Beweismittel beschlagnahmen oder Zeugen
zum Verhör laden. Das erschwert die Beweisführung vor
deutschen Gerichten. Sachverhalte müssen nachgespielt
werden, und wichtige Zeugen sind nicht greifbar. Das
macht die Verfahren kompliziert und unbefriedigend.
Daran ändert sich aber auch in Kempten gar nichts.
({7})
Viertens steht außer Frage, dass Ermittlungsverfahren
für Betroffene immer eine Belastung sind. Das gilt auch,
aber nicht nur, für Bundeswehrsoldaten. Die Behauptung, die Verfahrensdauer sei in diesen Fällen besonders
lang, lässt sich statistisch nicht halten. In der Regel dauern die Verfahren nicht länger als in ähnlich gelagerten
Fällen im Inland. Trotz dieser Belastung für die Betroffenen darf die Justiz also keine Sondergerichte oder
Schnellverfahren für einzelne Gruppen einführen. Die
Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut; das sollten
wir nicht so einfach aufgeben.
Fünftens wird die neue Zuständigkeit kaum einen
sinnvollen Anwendungsbereich finden. Alltagskriminalität von Diebstahl bis Beleidigung im Ausland kann
nach wie vor am Wohnort des Beschuldigten verhandelt
werden, und das sollte auch so bleiben. Hier wird also
eine überflüssige Gerichtstandalternative geschaffen.
Fälle mit Bezug zum Völkerstrafgesetzbuch, bei denen es um mögliche Kriegsverbrechen geht, werden dagegen ohnehin von der Bundesanwaltschaft angeklagt.
Das bezieht sich auf alle Straftaten, die im Krieg begangen werden. Bezogen auf die Bundeswehr heißt das konkret: Afghanistan. Dort geht man seit dem Tod von
100 Zivilisten in 2009 richtigerweise von einem bewaffneten Konflikt aus. Damit ist für weitere Verdachtsfälle
grundsätzlich die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und damit der Oberlandesgerichte gegeben. Wer
sich mit dem umfangreichen Bericht des Kunduz-Untersuchungsausschusses befasst, wird auch hier feststellen,
dass in erster Linie die Sachverhaltsermittlung vor Ort
das Problem war und nicht die Rechtsfindung.
Fazit. Sie erwecken mit Ihrer Gesetzesänderung den
Eindruck, ein Richter oder eine Richterin, der oder die
sich mit der Bundeswehr nicht auskennt, könne keinen
komplizierten militärischen Sachverhalt rechtlich würdigen. Ein wenig mehr Vertrauen in die deutsche Justiz
hätte ich Ihnen schon zugetraut.
({8})
Unsere Richterinnen und Richter sind als Volljuristen
dazu ausgebildet, Fälle, die das Leben schreibt, in ihrer
ganzen Vielfalt unter einem Tatbestand zu subsumieren.
Dabei brauchen sie keinen Führerschein, um einen Verkehrsunfall zu beurteilen, und sie müssen nicht verheiratet sein, um Familienrecht zu sprechen. Die Perspektive
von außen schützt auch stets vor zu großer Nähe und fördert eine objektive Urteilsfindung. Mit Ihrem Gesetzentwurf ist niemandem gedient, schon gar nicht den betroffenen Soldatinnen und Soldaten. Deswegen werden wir
diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes für
einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwen-
dung der Bundeswehr. Der Rechtsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11182,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/9694 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b so-
wie den Zusatzpunkt 7 auf:
16 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Konsequenzen aus dem nationalen Bildungsbericht ziehen - Bildungsblockaden aufbrechen und mehr Teilhabe ermöglichen
- Drucksache 17/11074 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Tourismus-
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Markus Kurth, Katja Dörner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Zusammen lernen - Recht auf inklusive Bildung bundesweit umsetzen
- Drucksache 17/11163 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gemeinsam lernen - Inklusion in der Bildung
endlich umsetzen
- Drucksache 17/11143 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. Gibt
es Widerstand dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11074, 17/11163 und 17/11143 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
1) Anlage 12
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur ({3}) auf Grundlage
der Resolution 1769 ({4}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007
und folgender Resolutionen, zuletzt 2063
({5}) vom 31. Juli 2012
- Drucksache 17/11036 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({6})RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungHaushaltsausschussgemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen.
Trifft das auf Ihr Einverständnis? - Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesaußenminister, Dr. Guido Westerwelle,
das Wort.
({7})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Darfur-Konflikt ist
eine der furchtbarsten Katastrophen des letzten Jahrzehntes. Auch wenn sich die Medien im Augenblick
vielleicht weniger damit befassen, so müssen wir uns
doch ernsthaft und auch nachhaltig mit dieser Lage auseinandersetzen.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen fanden
zwischen 2003 und 2008 in diesem Konflikt 300 000
Menschen den Tod. 2,5 Millionen Menschen waren Opfer von Flucht und Vertreibung. Der Konflikt hat den Sudan weiter destabilisiert, und er hat sich zeitweise auch
auf die Nachbarländer, Tschad und die Zentralafrikanische Republik, ausgeweitet.
UNAMID - das Mandat, dessen Verlängerung wir
heute beantragen und vorschlagen - wird von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union gemeinsam geführt. Unser Engagement ist gewissermaßen ein
unterstützendes Engagement. Deutschland beteiligt sich
an UNAMID derzeit mit zehn Soldaten, die im UNAMID-Hauptquartier eingesetzt sind. Außerdem leisten
derzeit vier deutsche Polizisten Dienst im Rahmen dieser
Mission.
Ich selbst konnte mir vergangenes Jahr ein Bild von
den äußerst herausfordernden Bedingungen vor Ort machen. Deswegen möchte ich mir erlauben, zu sagen - ich
bin sicher, das kann ich im Namen des ganzen Hauses
tun -: Für den wichtigen Dienst, den unsere Soldaten
und Polizisten dort in einem wirklich sehr schwierigen,
auch persönlich sehr fordernden Umfeld leisten, gebührt
ihnen unser Respekt und unser Dank.
({0})
UNAMID - das wissen wir alle - bleibt eine schwierige Mission. Ich möchte weder die Anfangsschwierigkeiten verschweigen noch die Probleme, die mit der
Mission verbunden sind, kleinreden. UNAMID ist immer noch mit diesen Problemen konfrontiert. Die humanitäre Lage bleibt ausgesprochen schwierig: 1,7 Millionen Menschen sind auf Nothilfe angewiesen.
Deutschland hat allein in 2012 humanitäre Hilfe in Höhe
von 4,2 Millionen Euro geleistet. Die Sicherheitslage
bleibt angespannt. Immer wieder flammen Kämpfe auf
zwischen Rebellen und Truppen der sudanesischen Regierung, aber auch zwischen den Rebellengruppen
selbst.
Die Zusammenarbeit mit Khartoum bleibt schwierig.
Visa- und Bewegungsfreiheit für das UNAMID-Personal
werden eingeschränkt. Das kann nicht ignoriert werden.
Sie wissen, dass es in Khartoum in den letzten Wochen
und Monaten auch noch ganz andere Themen gegeben
hat, auf die ich heute allerdings nicht eingehen will.
Aber das ist gewissermaßen auch der politische Rahmen,
in dem wir diese Mission betreiben und die Debatte
heute führen.
Natürlich bleibt die politische Lage problematisch.
Eine Lösung des Darfur-Konflikts steht noch aus, auch
weil das im vergangenen Jahr ausgehandelte Friedensdokument von Doha noch immer nicht von allen anerkannt,
geschweige denn umgesetzt wird. Die Umsetzung dieses
Friedensdokuments geht zwar voran, aber aus unserer
Sicht zu langsam.
Durch UNAMID konnte der Darfur-Konflikt wenigstens eingedämmt werden. Die Gewalt ist zurückgegangen. Flüchtlinge kehren zurück, und die Menschen in
Darfur haben jetzt ein Mitspracherecht, zum Beispiel in
der regionalen Verwaltung. Das klingt in unseren Ohren,
wenn wir das hier debattieren, nicht nach viel. Wenn
man dort gewesen ist und mit den Menschen gesprochen
hat, dann weiß man aber, wie wertvoll diese Verbesserungen sind und wie viel das alles auch für die Menschen bedeutet. Auf diesen ersten Erfolgen - von mehr
kann man nicht reden - wollen wir weiter aufbauen.
UNAMID bleibt also als stabilisierendes Element für
Darfur unverzichtbar. Mit UNAMID können wir die humanitäre Versorgung der Menschen weiter unterstützen.
Mit UNAMID können wir den Schutz der Bevölkerung
weiter organisieren. Mit UNAMID können wir die Sicherheitslage in Darfur weiter verbessern. Nur mit UNAMID können wir die politische Arbeit für ein Ende der
Krise weiter flankieren. Das ist der Grund, warum die
Bundesregierung an der Mission festhält. Wir wollen natürlich weiter daran arbeiten, die Umsetzung des Mandats zu verbessern. Aber das Mandat an sich ist aus unserer Sicht sinnvoll. Es sollte vom Deutschen Bundestag
auch verlängert werden.
Die Mission verfügt über ein robustes Mandat nach
Kap. VII der UN-Charta. Das ist aus unserer Sicht auch
nötig; denn auch wenn es unsere Landsleute glücklicherweise nicht getroffen hat - UNAMID selbst ist immer
wieder das Ziel von Angriffen gewesen. Seit Beginn haben 118 Angehörige der Mission ihr Leben verloren. Allein in diesem Monat kamen fünf UNAMID-Soldaten,
vier nigerianische Soldaten und ein südafrikanischer
Soldat, durch Angriffe ums Leben. Wir verurteilen gemeinsam diese Gewalt auf das Schärfste.
Mit unserem Beitrag zu UNAMID stärken wir afrikanische Peacekeeping-Fähigkeiten. Wir unterstützen die
Afrikanische Union darin, ihre Verantwortung für die Sicherheit in Afrika wahrzunehmen. Zu unseren militärischen und polizeilichen Beiträgen kommt der finanzielle
Beitrag, den Deutschland zur Mission leistet. Allein in
diesem Jahr waren das 120 Millionen US-Dollar. Die
Bundesregierung fördert Projekte zur Unterstützung der
Arbeit von UNAMID. Dazu gehören die Ausbildung
afrikanischer Soldaten und Polizisten am Kofi Annan
Training Centre ebenso wie die Unterstützung des Mediationsteams von Afrikanischer Union und Vereinten Nationen.
Für die Bundesregierung möchte ich bei der Einbringung dieses Mandates die inhaltlich unveränderte Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dieser Hybridoperation in Darfur beantragen.
Im letzten Jahr wurde das Mandat für die deutsche Beteiligung an UNAMID in großer Geschlossenheit von vier
Fraktionen des Deutschen Bundestages getragen. Bei allen Schwierigkeiten hat UNAMID auch in diesem Jahr,
so meinen wir, Geschlossenheit und Unterstützung verdient. Erst recht haben unsere Landsleute, die in Darfur
ihren schwierigen Dienst tun, die starke Rückendeckung
dieses Hohen Hauses verdient. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.
Ich füge hinzu: Ich glaube, eine große Geschlossenheit wäre eine gute und wichtige Unterstützung des
Mandates, aber vor allem auch der Frauen und Männer,
die in diesem Augenblick in der Region, im Land sind
und die eine wirklich aufopferungsvolle Arbeit leisten.
Wer einmal dort gewesen ist, der weiß, unter welchen
Umständen die Arbeit dort geleistet wird. Erlauben Sie
mir, jenseits des Politischen, diesen Zusatz: Das nötigt
wirklich jedem viel Respekt ab.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Christoph
Strässer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dem Respekt, Herr Außenminister, den Sie denjenigen erweisen, die vor Ort im
Einsatz sind, den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten, aber auch den zivilen Helferinnen
und Helfern, schließe ich mich ausdrücklich an.
({0})
Ich würde mir wünschen, meine Damen und Herren,
dass sich dieser Respekt demnächst auch darin ausdrückt, dass Debatten über so wichtige Fragen wie diese
hier zu anderen Zeiten geführt werden als jetzt.
({1})
Wir alle diskutieren über dieses Thema, über Darfur,
seit sehr vielen Jahren. Das UNAMID-Mandat existiert
seit genau fünf Jahren. Zuvor, seit 2004, gab es bereits
eine andere Mission, AMIS. Sie ist bis 2007 aktiv gewesen.
Wir wissen, die Zahlen sind erschreckend: 300 000 Tote
und mehr als 2 Millionen Flüchtlinge. Das Schlimme an
dieser ganzen Situation ist, dass ein großer Teil der
2,5 Millionen Flüchtlinge seit fünf, sechs, sieben, acht
Jahren in Flüchtlingscamps ausharren muss, in Camps,
die eine Dimension angenommen haben, für die sie nicht
gedacht waren. In einem Camp, das ich selber mehrfach
besucht habe, Abu Shok in der Nähe von al-Faschir, und
das vom Deutschen Roten Kreuz für 15 000 Flüchtlinge
konzipiert wurde, leben mittlerweile mehr als 50 000
Flüchtlinge.
Ich habe die Uhrzeit, zu der diese Debatte stattfindet,
auch deshalb erwähnt, weil ich den Eindruck habe, dass
Darfur mehr und mehr zu einem vergessenen Konflikt
wird und mehr und mehr aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit verschwindet.
({2})
Ich finde, die Menschen, um die es hier geht, haben das
nicht verdient. Deshalb sollten wir uns auch weiterhin
sehr engagiert in dieses Thema einmischen und sehen,
dass wir hier in absehbarer Zeit vernünftige Lösungen
zustande bringen.
({3})
Sie haben es angesprochen: Die Situation ist in den
letzten Wochen und Monaten nicht einfacher geworden.
Die Vereinten Nationen sagen zwar, es habe in den letzten Jahren, also bis zu Beginn des Jahres 2012, Verbesserungen der Sicherheitssituation und auch Verbesserungen der Versorgungssituation gegeben; aber das ist nur
die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, dass die Gewalt in diesem Jahr, 2012, wieder
- ich sage es ganz deutlich - mit voller Brutalität zuschlägt.
Es gab gerade in den letzten Tagen und Monaten wieder Attentate auf Flüchtlingslager und Blauhelmsoldaten. In diesem Oktober sind 17 Blauhelmsoldaten bei einer hinterhältigen Attacke getötet worden. Sie waren im
Einsatz, um einen Angriff auf ein Flüchtlingslager aufzuklären, und sind dabei ums Leben gekommen. Ich
glaube, dass man das zur Kenntnis nehmen muss und
dass all dies bei unseren Entscheidungsfindungen eine
ganz wichtige Rolle spielen muss.
Ich frage mich - ich erwarte hier eine breite Diskussion -, ob das, was UNAMID und andere in Darfur in
den letzten Jahren erreicht haben, wirklich ausreichend
ist. Ich sage es ganz offen und deutlich: Ich habe den
Eindruck - ich glaube, das müssen wir uns selbstkritisch
eingestehen -, dass das nicht so ist. Ich denke nicht, dass
wir sagen können: Im Moment ist UNAMID eine Erfolgsgeschichte. - Dergleichen zeichnet sich aus meiner
Sicht leider Gottes auch nicht ab.
Wir haben gestern im Ausschuss für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe eine Anhörung über UN-mandatierte Friedensmissionen durchgeführt. Dabei wurde
auch die Frage gestellt, ob es eigentlich Kriterien dafür
gibt, wann eine UN-mandatierte Mission erfolgreich ist
und welche Evaluierungsmöglichkeiten es hierfür gibt.
Das Ganze ist sehr schwierig, auch international. Alle
Sachverständigen haben gesagt: UNAMID ist eines der
Mandate, die man, jedenfalls gegenwärtig, nicht als erfolgreich ansehen kann. - Deshalb müssen wir uns über
eine ausführliche, ehrliche und offene Evaluation dessen, was in den letzten Jahren dort passiert ist, Gedanken
machen.
({4})
Ich glaube, dass wir diese Diskussion auch mit Blick
auf unsere Verantwortung für diejenigen brauchen, die
dort aktiv sind.
Ich sage noch einmal: Die Zahl unserer Einsatzkräfte
vor Ort - zehn Soldatinnen und Soldaten und vier Polizisten - ist sehr klein. Man könnte diese Zahl ja eigentlich vernachlässigen. Meine Güte, warum reden wir über
so etwas? Ich sage aber auch: Diese Personen zeigen
dort einen hervorragenden Einsatz, und das mit einer
Ausrüstung, mit der sie oftmals nicht in der Lage sind,
die Funknetze zu bedienen, sodass sie sich ihre eigenen
Funkgeräte kaufen müssen, um dort miteinander zu
kommunizieren. Wenn wir diesen Einsatz ernst nehmen,
dann müssen die Leute, die dorthin geschickt werden,
bitte schön auch so ausgestattet werden, dass sie ihren
Job machen können. Das tun wir im Moment nicht. Daran muss gearbeitet werden.
({5})
Nicht dass ich hier falsch verstanden werde: Die Arbeit, die diese 14 Menschen gegenwärtig leisten, ist
wirklich aller Ehren wert. Sie brauchen unsere Unterstützung. Ich glaube, jenseits aller Diskussionen, Probleme und Differenzen, die wir haben, sollten wir in diesem Hohen Hause klar erkennen: Das sind diejenigen,
die für uns viele gute Erfahrungen sammeln und eine
gute Arbeit leisten. Wir sollten sie an dieser Stelle respektieren und unterstützen.
Ich will aber auch sagen, dass wir sehr massiv darüber
nachdenken, wie lange ein solches Mandat hier in diesem Hohen Hause immer wieder unverändert - ich sage
das jetzt einmal etwas flapsig, obwohl das nicht angemessen ist - durchgewunken werden kann.
Ich habe es angedeutet: Die Erfolgsbilanz lässt zu
wünschen übrig. Die Befriedung der Region gelingt nur
sehr rudimentär. Auch die Bemühungen um die Friedensabkommen - Sie haben das angesprochen -, für die
die Implementierung durch UNAMID ebenfalls erfolgen
soll, gehen nur sehr langsam voran. Das Darfur Peace
Agreement von 2006 ist im Wesentlichen Makulatur.
Eine einzige Rebellenorganisation hat sich dieser Vereinbarung angeschlossen. Auch die Vereinbarungen aus
dem letzten Jahr in Doha harren einer Umsetzung.
Ich habe ein wenig Hoffnung: Gestern wurde vom
UNAMID-Einsatzkommando mitgeteilt, dass auch die
JEM, die größte Rebellengruppe in Darfur, in Verhandlungen mit der Regierung in Khartoum steht, um diesem
Friedensabkommen möglicherweise beizutreten. Das
wäre fast schon ein Quantensprung in der Entwicklung
in Darfur.
Ich möchte auch darauf hinweisen - das ist vielleicht
der politische Grund, warum auch wir weiterhin zu diesem Mandat stehen und ihm zustimmen werden -, dass
die jetzige Beendigung dieses Mandats für die Stabilität
in der Region fatale Signale aussenden würde. Denn
Darfur ist - das haben auch Sie gesagt - nicht der einzige Konfliktherd in dieser Gegend. Es gibt dort viele
Konfliktherde. Ein Konflikt, den wir gleich noch hier im
Hohen Hause besprechen werden, ist das Verhältnis von
Sudan zu Südsudan. Auch dieser Konflikt ist noch nicht
gelöst. Trotz der Selbstständigkeit des Südsudans, an die
viele Hoffnungen geknüpft worden sind, geht dieser
Konflikt weiter. Eine ähnliche Situation haben wir
- auch das ist nicht weit weg - in Somalia. Da gibt es
mittlerweile das eine oder andere Element der Stabilisierung, auch über das Mandat von AMISOM. Es gibt da
Erkenntnisse und Entwicklungen, die Mut machen.
Ich bin ganz sicher: Wenn wir jetzt sagen würden:
„Wir zeigen, dass UNAMID gescheitert ist, und stimmen dem Mandat nicht weiter zu“, dann würden wir
auch an andere Mandate in dieser Region genau das falsche Signal senden. Damit würden wir auch das Versagen der Vereinten Nationen und der AU dokumentieren.
Ich glaube, das kann nicht im Sinne derjenigen sein, die
Friedensmissionen der Vereinten Nationen grundsätzlich
für richtig halten.
In diesem Sinne ist es richtig und sinnvoll, dem Mandat auch in diesem Jahr zuzustimmen. Aber, Herr Außenminister, der Deutsche Bundestag wird von Ihnen,
von der Bundesregierung und von der internationalen
Gemeinschaft, aber auch von der Europäischen Union
erwarten, dass man dafür sorgt, dass eine Evaluierung
stattfindet, dass man die Mängel klar benennt, um sie abzustellen. Nur dann, glaube ich, wird auch in den nächsten Jahren eine breite Zustimmung hier im Deutschen
Bundestag zu einem solchen Mandat erfolgen.
In diesem Jahr werden wir dem Mandat zustimmen.
Ich hoffe, dass die Soldatinnen und Soldaten weiter ihren Job gut machen werden und dass dies dem Frieden
und den Menschenrechten in dieser Region dient.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Strässer, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,
dass Mandatsdiskussionen, auch wenn sich eine Übereinstimmung abzeichnet, nicht zu dieser Stunde stattfinden sollten. Es ist nicht Aufgabe der Regierung, die Tagesordnung des Parlaments zusammenzustellen. Aber,
ehrlich gesagt, wünsche ich mir, dass ein solcher Tagesordnungspunkt heute zum letzten Mal so spät - das hatten wir schon einmal beklagt - behandelt wird.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass der Auftrag von UNAMID Unterstützungs- und Überwachungsaufgaben beinhaltet, die Gewährleistung von Sicherheit
und Bewegungsfreiheit für humanitäre Hilfe sowie die
Sicherung und den Schutz der Zivilbevölkerung in Darfur. Der Außenminister und auch Sie, Herr Strässer, haben davon gesprochen, dass dieser Einsatz nicht ungefährlich ist. Erst in der letzten Woche gab es einen
Anschlag auf einen UNAMID-Konvoi. Die Sicherheitslage bleibt insgesamt angespannt und instabil.
Diese Mission hat deswegen auch nach unserer Auffassung eine unverzichtbare stabilisierende Funktion.
Viele Vertriebene lehnen eine Rückkehr in ihre Heimatregionen ab. Wir müssen aber alles daransetzen, dass
Bedingungen geschaffen werden, die eine Rückkehr dieser Menschen ermöglichen. So lange diese Flüchtlingslager jedoch noch bestehen, müssen sie auch weiterhin
dringend geschützt werden. Durch verstärkte Patrouillentätigkeit und Präsenz leistet UNAMID seinen Beitrag
zur Verbesserung der humanitären Lage vor Ort.
Ja, es gibt gewisse Verbesserungen; Sie haben das angesprochen. Es gibt gewisse Kontakte zwischen der Regierung und der Rebellenorganisation. Es gibt auch eine
Annäherung von Sudan und Südsudan nach den Vereinbarungen vom 27. September 2012 in Addis Abeba. Ob
sie aber dauerhaft zu einer Verbesserung der Lage in
Darfur führen, ist noch unklar.
Die Vereinten Nationen haben mit ihrer Resolution
vom 31. Juli das Mandat nicht nur um ein Jahr verlängert, sondern auch zahlenmäßig verringert. Insoweit gibt
es schon ein bisschen Bewegung, nämlich eine Absenkung der Mandatsobergrenze um rund 6 000 auf rund
21 000, allerdings einschließlich der Polizisten. Von den
circa 21 000 sind also etwa 16 200 Soldaten. Wir begrüßen diese Umgliederung. Dadurch wird die Reaktionsfähigkeit und Flexibilität der Mission verbessert. Auswirkungen auf unser Engagement sind damit nicht
verbunden. Wir glauben, dass wir mit den derzeit eingesetzten zehn Soldaten im Hauptquartier in al-Faschir an
verantwortlicher Stelle diese Mission in einem angemessenen Umfang unterstützen.
Liebe Kollegen, die deutsche Beteiligung an
UNAMID ist ein wichtiges Zeichen. Wir dürfen Darfur
nicht vergessen. Schutz und Sicherung der Zivilbevölkerung stehen weiterhin im Zentrum unseres Engagements.
Mit unserem Beitrag unterstützen wir zudem die afrikanischen Peacekeeping-Fähigkeiten.
Das alles - darauf haben dankenswerterweise Herr
Westerwelle und Herr Strässer hingewiesen - leisten unsere Soldaten, bzw. sie leisten einen Beitrag dazu. Dafür
danke ich ihnen aufrichtig. Sie verdienen unseren Respekt, unsere Wertschätzung und eine breite parlamentarische Zustimmung.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Buchholz
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie von
der Bundesregierung streuen der Öffentlichkeit ein weiteres Mal Sand in die Augen. Sie sagen, der Bundeswehreinsatz in Darfur im Rahmen von UNAMID solle
die Umsetzung des Doha-Friedensabkommens fördern.
Solange aber die wichtigsten bewaffneten Gruppen - unter ihnen die JEM und die LRA - dieses Abkommen gar
nicht unterzeichnet haben, bleibt auch dieses Friedensabkommen zum Scheitern verurteilt, wie auch die zahlreichen Friedensabkommen zuvor. Hören Sie also endlich auf mit dieser Schönfärberei.
({0})
Dann sagen Sie, UNAMID solle die Zivilbevölkerung
schützen. Sie unterschlagen aber, dass UNAMID zu weiten Teilen Darfurs überhaupt keinen Zugang hat. Über
die Bewegungsfreiheit von UNAMID entscheidet nämlich nicht UNAMID, sondern die Regierung in Khartoum. UNAMID ist damit vom Goodwill und von den
Interessen der sudanesischen Regierung abhängig. Das
hat dazu geführt, dass die Bevölkerung UNAMID nicht
als Schutz durch eine neutrale Mission erlebt, sondern
als parteiische Militärtruppe am Gängelband der Zentralregierung in Khartoum. Den Menschen in Darfur wird
suggeriert: Wir sind hier zu eurem Schutz. - Doch
UNAMID kann die Menschen nicht schützen. Tagtäg24394
lich kommt es zu Gewalt gegen Flüchtlinge, ohne dass
UNAMID etwas daran ändert.
Ich sage, eine wirkliche Verbesserung der Sicherheitslage kann nur auf der Grundlage einer politischen Lösung und durch Entwicklung erreicht werden, und dabei
hat Militär nichts verloren.
({1})
Der Sudan ist seit der Abtrennung des Südsudan in
eine schwere ökonomische Krise geraten. Die Preise für
Grundnahrungsmittel sind massiv angestiegen. Während
im Südsudan der drohende Staatsbankrott durch internationale Hilfsgelder in Milliardenhöhe zumindest ein
ganz klein bisschen abgemildert werden kann trotz aller
Probleme, die das mit sich bringt, trifft die Krise die
Menschen im Norden mit voller Härte.
({2})
Bis heute verweigert die Bundesregierung die Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit. Daran
ändert auch die Not- und Übergangshilfe nichts. Sie hatten versprochen, wenn der Norden das Ergebnis des
Referendums und die Unabhängigkeit des Südens respektiert, werde die Bundesregierung die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Norden neu beginnen. Dieses
Versprechen haben Sie gebrochen.
({3})
Für einen sinnlosen Militäreinsatz wie UNAMID ist
aber scheinbar immer genug Geld da. UNAMID ist der
teuerste aller UN-Militäreinsätze. UNAMID kostet immer noch 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Doch Maßnahmen zum friedlichen Aufbau des Landes werden verweigert. Meine Damen und Herren, das ist nicht
hinnehmbar.
({4})
Solange es keinen nachhaltigen Frieden zwischen
Nord- und Südsudan gibt, wird es auch keinen Frieden in
Darfur geben; denn beide führen dort einen Stellvertreterkrieg und rüsten gegenseitig Milizen auf. Dass in diesem Konflikt die Bundesregierung wie der gesamte Westen einseitig die Regierung im Südsudan unterstützt,
facht die Flammen weiter an.
({5})
Deshalb kann UNAMID auch keinen Frieden bringen.
Es gibt aber einen Funken Hoffnung im Sudan. Diese
Hoffnung besteht nicht in einem Militäreinsatz. Sie
speist sich aus dem Widerstand gegen die soziale Katastrophe und die politische Unterdrückung, die es auch im
Sudan gibt. Darauf setzen wir. Deswegen werden wir
UNAMID ein weiteres Mal ablehnen.
({6})
Jetzt hat das Wort der Kollege Omid Nouripour von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute die Verlängerung des seit Ende 2007 bestehenden Einsatzes der AU/UN-Hybrid-Mission UNAMID,
basierend auf der Resolution 1769 des Sicherheitsrats
der Vereinten Nationen. Seit über neun Jahren gibt es einen Bürgerkrieg, der 2 Millionen Menschen die Heimat
und über 300 000 Menschen das Leben gekostet hat.
Hauptbetroffene sind Frauen und Kinder. Aber es geht
auch um Nomadenstämme, die ihre Lebensgrundlage
verloren haben.
Das Erste, was ich nicht verstanden habe, Frau Kollegin Buchholz, ist: Was ist Ihr Konzept?
({0})
Wir reden über 20 000 Soldatinnen und Soldaten und
Polizisten, und die Hauptlast dabei trägt die Afrikanische Union. Das darf man nicht vergessen.
({1})
Zehn deutsche Soldaten sind im Stab von UNAMID,
um dort unterstützend tätig zu sein. Wir haben erleben
müssen - die Zahl ist genannt worden -: 118 Soldaten
sind bereits getötet worden. Am 17. Oktober gab es wieder einen Anschlag. Ein Soldat wurde getötet; drei wurden verletzt. Am 2. Oktober wurden vier Soldaten getötet und acht verletzt. Gerade bei solch einem Einsatz in
einer derart extremen Situation ist es völlig richtig, den
Soldaten und ihren Familien zu danken. Ich möchte um
Erlaubnis bitten, dass ich nicht nur den deutschen Soldaten danke, sondern allen Soldaten, auch denen der Afrikanischen Union, die vor Ort einen unglaublich harten
Job machen.
({2})
Meine Damen und Herren, die Situation ist sehr fragil. Es gibt einige neue Entwicklungen, die Grund zur
Sorge geben. Wenn man daran denkt, wie die Zentralregierung im Sudan in der Vergangenheit auf äußeren
Druck reagiert hat und auch wie sie jetzt reagiert, nachdem vorgestern in der Nähe der Hauptstadt des Sudan
eine Waffenfabrik explodiert ist - das ist auch für Darfur
relevant -, dann stellt sich die zentrale Frage: Wohin
führt das? Es steht zu befürchten, dass die Zentralregierung in den nächsten Wochen und Monaten nicht kooperativer mit uns zusammenarbeiten wird. Das ist auch
deswegen relevant, weil in den letzten Wochen die Bewegungsfreiheit wieder massiv eingeschränkt worden
ist.
Damit komme ich zu meiner zweiten Frage an Sie,
Frau Kollegin Buchholz: Ich habe nicht verstanden, warum die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die
Zentralregierung dazu führt, dass die Menschen in DarOmid Nouripour
fur denken, UNAMID wäre eine Unterdrückungs- bzw.
Besatzungsmacht. Das ist mir nicht klar geworden. Dabei ist es, um beim Thema zu bleiben, von zentraler Bedeutung, dort jetzt einzuwirken, wo es geht, damit die
Menschen in Darfur nicht wieder einmal Opfer von Dingen werden, die die Zentralregierung in Khartoum tatsächlich antreiben.
Es ist zu Recht gesagt worden, dass es wenig Leben
im Doha-Prozess gibt. Es gibt viele große Gruppierungen der Rebellen, die nicht dabei sind. Aber es gibt auch
ganz kleine Hoffnungspunkte, die ich noch erwähnen
möchte. Es ist begrüßenswert, dass die Zentralregierung
erstmals wirklich etwas tut, um die Kindersoldaten zu
entwaffnen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Darüber kann man sich nur freuen.
({3})
Es ist gut, dass es den Doha-Prozess gibt, und es ist
gut - das hat der Kollege Strässer vorhin gesagt -, dass
es eine weitere Gruppe gibt, die vielleicht nicht die
wichtigste ist, aber die nun bereit ist, mitzuwirken und
an Verhandlungen teilzunehmen.
Diese kleinen Hoffnungen werden kurzfristig nichts
bringen. Es ist tatsächlich sehr frustrierend, Jahr für Jahr
zu sehen, dass wir nicht vorankommen. Aber diese kleinen Punkte, die nicht vergessen werden dürfen, würde es
nicht geben, wenn es UNAMID nicht gäbe. Deshalb ist
dieser Einsatz so wichtig, und deshalb werden wir zustimmen.
({4})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich kann mich in weiten Teilen eigentlich nur
dem anschließen, was Kollege Nouripour gesagt hat. Ich
fand es beruhigend, dass über die Situation in Darfur
hier im Hause ein breiter Konsens besteht und sie auch
ernst genommen wird. In diese Richtung haben sich ja
fast alle Redner geäußert.
Frau Buchholz, Ihre Ausführungen möchte ich - wie
so häufig bei solchen Themen - einfach nicht weiter
kommentieren. Sie haben uns heute Gott sei Dank Ihren
sonstigen Reigen von antiamerikanischen Verschwörungstheorien erspart. Aber nichtsdestotrotz war das,
was Sie gesagt haben, einfach nicht sachgerecht.
Vor dem Hintergrund mein Kompliment an Herrn
Nouripour für seine Rede! Ich glaube, dass vieles von
dem, was er gesagt hat, das widerspiegelt, was unsere
Fraktion mit Blick auf diesen Einsatz denkt.
Der Prozess der Unabhängigkeit Südsudans ist eine
große Herausforderung gewesen. Das haben wir und das
hat insbesondere Minister Westerwelle politisch sehr
stark begleitet. Wo wir konnten, haben wir versucht, diesen Prozess politisch zu unterstützen. Der Sudan steht
dennoch nach wie vor vor einer großen Zerreißprobe.
Besonders der Wegfall der Einnahmen aus der Erdölförderung gefährdet die wirtschaftliche Stabilität. Hinzu
kommt die Gefährdung der politischen Stabilität. Unkontrolliert hereinströmende Waffenlieferungen aus Libyen beispielsweise erschweren die Lage massiv.
Die Rebellenbewegungen stellen einerseits für die
Regierung in Khartoum eine reale Bedrohung dar. Andererseits sind deshalb inzwischen mindestens 2 Millionen
Menschen von humanitärer Hilfe abhängig. Die humanitäre Lage in der Region bleibt katastrophal; das ist schon
von Herrn Strässer eindrucksvoll geschildert worden.
Die Zahl der Binnenvertriebenen liegt bei rund 1,9 Millionen, sodass es wirklich kein eng begrenzter regionaler
Konflikt ist, sondern tatsächlich eine humanitäre Katastrophe, die man im Blick haben muss. Die Zahl der Toten ist von Minister Westerwelle schon genannt worden.
Dem Ernst der Lage wird es natürlich nicht gerecht, dass
wir um diese Uhrzeit hier diskutieren. Die Lage dort gehört einfach bei uns politisch mehr in den Fokus.
Wenn wir uns das Elend, das im Westsudan an der
Grenze zum Tschad herrscht, vor Augen führen, erschließt sich die Notwendigkeit der Verbesserung der
humanitären Lage in dieser Region. Gerade hierzu leistet
die Bundeswehr einen wichtigen Beitrag. Deshalb werbe
ich seitens unserer Fraktion für eine breite Zustimmung
zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Darfur.
Ich fordere auch diejenigen, die sich damit schwertun,
auf, sich einen Ruck zu geben, sodass der gesamte Deutsche Bundestag das Zeichen setzt, dass er hinter diesem
Mandat steht.
Gemäß dem Antrag der Bundesregierung, den wir
hier beraten, sollen bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr an UNAMID beteiligt werden. Die
neun deutschen Soldaten, die im Hauptquartier von UNAMID ihren Dienst tun, leisten hervorragende Arbeit.
Ihnen ist schon gedankt worden. Dem Dank schließe ich
mich an dieser Stelle an.
({0})
UNAMID bleibt nach wie vor ein stabilisierendes
Element und ist auch ein wichtiger Beitrag, um zu zeigen, dass sich die Weltgemeinschaft der Verbesserung
der Sicherheitslage und der Verbesserung der humanitären Situation annimmt. Das erspart uns allerdings nicht,
gleichzeitig die politischen Bemühungen zu verstärken,
damit die Krise sich nicht weiter zuspitzt, sondern tatsächlich ein politischer Ansatz gefunden wird, der zu
mehr Frieden und zu mehr Sicherheit führt.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Eine politische Lösung des Darfur-Konflikts steht weiterhin aus und ist in
weiter Ferne. Nicht alle Rebellengruppen nahmen an den
Friedensverhandlungen in Doha teil. Sie verweigern
zum Teil bis heute die Unterschrift zum Abkommen zwischen der sudanesischen Regierung und der Rebellenbewegung.
Wie gefährlich die Lage ist, zeigte jüngst - Minister
Westerwelle hat es schon gesagt - der Tod von vier nigerianischen Soldaten. Das sind unsere Partner, die dort
noch mehr Verantwortung übernehmen als wir mit der
Bundeswehr. Unser Mitgefühl gilt deshalb all denjenigen, die dort Soldaten verlieren. Der Tod dieser Soldaten
zeigt, wie gefährlich die Mission insgesamt ist. Mitte
Oktober starb ein weiterer UNO-Soldat in einem Hinterhalt. Damit steigt die Zahl der getöteten UNAMID-Soldaten und -Mitarbeiter innerhalb von fünf Jahren auf 43.
Das ist also keine Kleinigkeit, über die wir dort reden.
Nach Schätzungen sind im Darfur-Konflikt seit 2003
insgesamt 300 000 Menschen umgekommen. Trotzdem
nimmt die Weltöffentlichkeit nur partiell Anteil. Deshalb, glaube ich, ist es richtig, unser Mandat hier auf
eine möglichst breite Unterstützung zu gründen und dem
Ganzen über diese Entscheidung hinaus politisch größeres Gewicht zu verleihen. Wir müssen dafür sorgen, dass
afrikanische Themen insgesamt eine größere Rolle spielen und wir uns in den Ausschüssen wesentlich mehr
damit beschäftigen. Dort, wo wir dies getan haben, insbesondere in den letzten Wochen, ist das häufig überparteilich und mit sehr großer Sachkunde und sehr großem
Engagement geschehen.
Ich glaube, dass der Darfur-Konflikt für uns nach wie
vor ein Beispiel sein sollte, dass wir uns mit solchen Fragen in den Ausschüssen, aber auch in unserer sonstigen
Arbeit stärker auseinandersetzen. So können wir deutlich machen, dass über das Militärische hinaus politische
Lösungen im Mittelpunkt stehen und dass die westliche
Welt und insbesondere Deutschland mit seiner starken
Rolle in Europa bereit sind, sich daran zu beteiligen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11036 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten
Nationen geführten Friedensmission in Südsudan ({0}) auf Grundlage der Resolutionen 1996 ({1}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und 2057
({2}) vom 5. Juli 2012
- Drucksache 17/11037 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({3})RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
erstem Redner wiederum dem Bundesaußenminister
Dr. Guido Westerwelle.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Debatte
eben schon angesprochen worden, aber es ist, so glaube
ich, interessant, sich das noch einmal vor Augen zu führen: Erst vor gut einem Jahr, nämlich am 9. Juli 2011,
wurde Südsudan ein unabhängiger Staat, und zwar - das
möchte ich noch einmal in Richtung der Linken sagen durch eine demokratische Volksabstimmung. Wir haben
in der internationalen Gemeinschaft hart dafür gearbeitet, dass diese Volksabstimmung stattfinden konnte und
dass sie auch von allen Beteiligten respektiert wurde.
Dass das Volkes Wille gewesen ist, mag dem einen oder
anderen aus ideologischen Gründen nicht gefallen.
({0})
Aber dass dieser Wille des Volkes politisch umgesetzt
werden konnte, auch durch die Entscheidung der Vereinten Nationen - wir selbst waren Präsident im Sicherheitsrat, als die Aufnahme erfolgt ist -, ist etwas, was
man bei all dem, was zweifelsohne sehr kritikwürdig ist,
auch einmal anerkennen sollte. Das war ein Erfolg der
Menschen in Südsudan und auch ein Erfolg der internationalen Diplomatie.
({1})
Alles ist sehr schnelllebig. Man vergisst immer alles,
was gelingt, und hat nur immer das im Kopf, was nicht
gelingt. Aber das sollte man sich auch ein Jahr später
noch einmal vor Augen führen.
Seitdem befindet sich Südsudan auf dem Weg hin zu
einer eigenen stabilen Staatlichkeit. Jeder, der dort gewesen ist - viele von Ihnen waren dort und kennen das -,
weiß auch, dass nicht zu erwarten war, dass das ohne
Probleme und ohne Rückschläge geschehen würde. Für
jeden, der einmal dort gewesen ist und von Staatlichkeit
spricht, der Staatlichkeit dort selbst erlebt hat, für den ist
es wohl etwas komisch, das Wort „Staatlichkeit“ dort vor
dem Hintergrund unserer europäischen Empfindungen
und Wahrnehmungen zu verwenden. Uns ist aber nicht
nur die schwierige Ausgangslage des jungen Staates beBundesminister Dr. Guido Westerwelle
wusst, sondern wir halten es auch für richtig, die Entwicklung entsprechend voranzubringen.
Die Lage im Sudan bzw. Südsudan war während der
Mandatslaufzeit sowohl durch innerstaatliche als auch
durch zwischenstaatliche bewaffnete Auseinandersetzungen und eine Verschlechterung der ökonomischen Situation in beiden Staaten gekennzeichnet. Leidtragende
sind die Menschen vor Ort. Niemand ignoriert die soziale Lage der Menschen vor Ort. Wir hören immer wieder von vielen Toten. Manches hat einen politischen
Hintergrund, vieles auch nicht, das darf nicht unterschlagen werden. Aber wir tun unser Bestes: Wir haben die
humanitäre Hilfe für Sudan und Südsudan im Sommer
um 5 Millionen Euro auf jetzt 10,5 Millionen Euro erhöht.
Wir erinnern uns: Durch intensive Bemühungen der
internationalen Gemeinschaft und der Präsenz der Vereinten Nationen vor Ort konnte Mitte des Jahres verhindert werden, dass sich die Konflikte zu einem größeren
zwischenstaatlichen Konflikt ausweiteten. Es gibt die
Probleme noch. Das ist auch in der vorherigen Debatte
angesprochen worden. Das kann man nicht ignorieren.
Wenn man aber sieht, wo wir vor anderthalb Jahren waren und vor welcher Gefährdung wir vor anderthalb Jahren standen, dann, denke ich, sollte man auch anerkennen, was sich vernünftig entwickelt hat. Die Probleme
sind nicht weg. Das kann niemand in dieser Situation erwarten. Ich glaube aber, es sind durchaus Fortschritte zu
sehen.
Wir haben natürlich unsererseits die Konfliktparteien
aufgefordert, ihre Streitigkeiten im Interesse der Menschen beizulegen. Die Bundesregierung begrüßt daher,
dass die Einigung von Addis Abeba vom 27. September
möglich wurde. Diese Einigung bietet die Chance auf
eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Sudan
und Südsudan, auch wenn wesentliche Fragen offenbleiben. Ich will das noch einmal unterstreichen. Niemand in
diesem Hause ignoriert ja die Probleme. Jeder weiß, dass
noch viele Jahre harter Arbeit nicht nur vor den beiden
Staaten, sondern auch vor der internationalen Staatengemeinschaft liegen werden.
Der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission im Südsudan UNMISS - UNMISS mit zwei S
wegen des Südens - kommt dabei eine wichtige Rolle
zu. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat durch
seine Resolution 2057 vom 5. Juli dieses Jahres die völkerrechtliche Grundlage nach Kapitel VII der UNCharta um ein weiteres Jahr verlängert.
Deutschland hat sich an der Mission UNMISS von
Anfang an beteiligt. Derzeit sind 16 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Südsudan eingesetzt. Deutsche Offiziere tragen an wichtigen Entscheidungspositionen
zum Erfolg dieser Mission bei. Dafür möchte ich abermals auch den dort eingesetzten Frauen und Männern,
sei es in Uniform, sei es aber auch ohne Uniform als zivile Helfer, ausdrücklich danken.
({2})
Meine Damen und Herren, für die Bundesregierung
beantrage ich die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan. Das
Mandat wird inhaltlich unverändert fortgeschrieben. Es
bleibt bei denselben Aufgaben, bei demselben Einsatzgebiet und bei derselben Personalobergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten. Ich weise erneut darauf hin:
UNMISS hat ein robustes Mandat, das heißt, die Kräfte
der Mission sind autorisiert, zum Eigenschutz, zur Gewährleistung der Sicherheit der humanitären Helfer und
zum Schutz der Zivilbevölkerung gegebenenfalls Gewalt
anzuwenden.
Kernaufgabe von UNMISS bleibt die Unterstützung
der Regierung bei der Friedenskonsolidierung, beim
Staatsaufbau und bei der Schaffung der Voraussetzung
für wirtschaftliche Entwicklung. Die Mission unterstützt
zudem die Gewährleistung von Sicherheit, die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung des Sicherheits- und Justizsektors. Hierzu tragen neben den
deutschen Soldaten auch die deutschen Polizeibeamten
bei, von denen derzeit sechs vor Ort eingesetzt sind.
Auch ihnen gebührt unser Dank und unser Respekt für
ihre wertvolle Arbeit unter höchst herausfordernden
Umständen.
({3})
Meine Damen und Herren, natürlich nimmt das Sudan-Konzept der Bundesregierung - das ist jedem hier
klar; das will ich nur von der vorherigen Debatte aufgreifen - bewusst Südsudan und Sudan gleichermaßen in
den Blick. Das ist gar keine Frage. Ganz im Sinne unseres Ansatzes der vernetzten Sicherheit greifen dabei
viele Elemente ineinander: Nothilfe, Entwicklungshilfe
und Hilfe beim Aufbau von staatlichen Strukturen.
Wir fördern aber auch zusätzliche Projekte zur Unterstützung der Arbeit von UNMISS. Wir helfen bei Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Soldaten und Milizionären. Wir fördern juristische und
polizeiliche Ausbildung und unterstützen den Verfassungsprozess. All dies trägt dazu bei, das Fundament zu
festigen, auf dem der junge Staat Südsudan aufgebaut
ist.
Ich weiß, dass einige von Ihnen in der letzten Woche
die Gelegenheit gehabt haben, mit der Leiterin der Mission und Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für
Südsudan, Hilde Johnson, bei ihrem Besuch in Berlin zu
sprechen. Sie werden auch von ihr erfahren haben, dass
der Beitrag Deutschlands sehr geschätzt wird.
Ich hoffe, dass das, was bei der letzten Debatte möglich war, dass nämlich vier Fraktionen geschlossen für
das Mandat gestimmt haben, auch dieses Mal wieder gelingen wird, und diesen Eindruck habe ich trotz all der
Schwierigkeiten, die man nicht ignorieren kann. Das
weiß hier auch jeder, da muss man ganz realistisch herangehen. Dieses Mandat ist sinnvoll. Wir sollten unseren Beitrag leisten. Das mehrt nicht nur die Chancen vor
Ort, sondern auch international das Ansehen unseres
Landes. Deswegen bitte ich um eine breite Unterstützung durch das Hohe Haus.
({4})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
stimmen dem Antrag der Bundesregierung zur fortgesetzten Beteiligung an der UN-Friedensmission im
Südsudan, UNMISS, zu; denn die vor einem Jahr mit
dem Mandat erteilten Aufgaben bestehen unvermindert
fort. Es geht um den Aufbau eines funktionierenden demokratischen und pluralistischen Staatswesens. Vor allen Dingen geht es um den Schutz der Zivilbevölkerung.
Über den deutschen Beitrag im Hinblick auf die Anzahl
der beteiligten Soldatinnen und Soldaten ist schon geredet worden.
Ich möchte an dieser Stelle der UN-Sonderbeauftragten für Südsudan, Hilde Johnson, ganz herzlich danken;
denn sie leistet unter äußerst schwierigen Bedingungen
eine hervorragende Arbeit. Sie hat vielen von uns in der
letzten Woche für Gespräche zur Verfügung gestanden.
Ich wünsche ihr viel Erfolg für die Arbeit, die sie dort im
Auftrag der Vereinten Nationen leistet.
({0})
Es ist gut, dass nach den massiven Auseinandersetzungen der letzten Zeit Ende September 2012 in Addis
Abeba eine Übereinkunft zwischen Südsudan und Sudan
zustande gekommen ist. Inhalt dieser Übereinkunft sind
die Wiederaufnahme der Ölförderungen, die im Februar
2012 vom Südsudan gekappt bzw. gestoppt worden sind,
und die Einigung auf eine demilitarisierte Zone entlang
der gemeinsamen Grenze, einschließlich eines Verfahrens der gemeinsamen Grenzüberwachung.
Diese Grenzüberwachung ist ein Fortschritt, weil
beide Seiten, Sudan und Südsudan, beteiligt sind. Es
wäre zu wünschen gewesen, dass hier UNMISS eine
Rolle hätte spielen können. Das ist jedoch nicht der Fall.
Vielmehr werden noch auszubildende internationale Beobachter vor Ort sein, die sich an diesem Joint Border
Verification and Monitoring Mechanism beteiligen.
Die Auswirkungen - wer mit den Beteiligten gesprochen hat, kann das noch einmal bestätigen - des Stopps
der Ölförderung waren und sind katastrophal. Wenn jetzt
die Ölförderung wieder aufgenommen wird, wird erst im
Februar nächsten Jahres daraus Geld in den Haushalt des
neuen Staates fließen. Dabei machen die Erdöleinnahmen etwa 98 Prozent des südsudanesischen Staatshaushalts aus. Von dem geringeren finanziellen Spielraum
sind jedoch vor allen Dingen die Armen betroffen. Die
Bevölkerung aber wartet auf die Unabhängigkeitsdividende, auf die Dividende, die sich mit dem Frieden ergeben sollte. Ich sehe den Prozess immer auch unter einem
optimistischen Aspekt, aber man muss fairerweise sagen, dass sich nach der Euphorie der Unabhängigkeit
doch Ernüchterung und Sorge breitgemacht haben. Der
junge Staat wird noch für lange Zeit auf die internationale Unterstützung angewiesen sein.
Hinter dem fortdauernden Konflikt steht auf der Seite
des Südsudans offensichtlich auch eine Gruppe von Militärs der SPLA-Nord, die die Gelegenheit zum Sturz im
Norden nutzen will. Im Nordsudan gibt es eine massive
Gruppe von Radikalislamisten, die den gesamten Sudan
wieder „islamisieren“ wollen. Das sind übrigens diejenigen, die auch die deutsche Botschaft attackiert und zerstört haben. Es ist völlig unerträglich, dass die Regierung
Baschir den Schutz dieser Botschaft nicht sichern konnte
oder wollte. Wir fordern Sie auf, sicherzustellen, dass
diese Regierung ihren internationalen Verpflichtungen,
nämlich dem Schutz der Botschaften, auch gerecht wird.
({1})
Die südsudanesische Regierung ist aufgerufen, endlich den Aufbau einer unabhängigen Justiz und die Reform der Sicherheitsorgane voranzubringen. Der Bürgerkrieg ist zu Ende, und damit muss auch das durch diesen
Bürgerkrieg geprägte Denken der Sicherheitsorgane und
der Regierung zu Ende sein.
({2})
Das ist die wichtigste Voraussetzung, damit die richtigen Investitionen getätigt werden. Denn man muss sich
angucken: Im Jahr 2011 - ({3})
- Ach, Herr Präsident, hallo! Ich dachte es mir doch; so
laut habe ich Herrn Solms noch nie erlebt.
({4})
- Entschuldigung; ich bitte um Nachsicht.
Ich wollte Folgendes sagen: Die Schwerpunkte der
Investitionen sahen 2011 wie folgt aus: 10 Prozent der
Investitionen flossen in Infrastruktur, 7 Prozent in Bildung, 4 Prozent in Gesundheit, aber 38 Prozent flossen
Militär- und Sicherheitsapparat zu. Das ist unakzeptabel.
Auch deshalb muss sich die internationale Gemeinschaft
stärker beteiligen, nicht nur bei UNMISS, sondern eben
auch hinsichtlich der anderen Fragen; denn noch ist die
Regelung über die Zuordnung der umstrittenen Region
Abyei ungeklärt. Dazu gibt es jetzt den Auftrag der Afrikanischen Union, dass sich beide Seiten innerhalb der
nächsten sechs Wochen einigen sollen, ebenso wie über
einen Teil der Demarkierung der noch nicht beschlossenen fünf weiteren Grenzregionen. Hier muss neben der
Afrikanischen Union auch die internationale Gemeinschaft ihre Aufgaben wahrnehmen.
Es ist gut, dass es auch ein Abkommen bzw. eine Vereinbarung zur humanitären Hilfe für die Menschen gibt,
die in Südkordofan und am Blauen Nil besonders betroffen waren. Dazu gibt es jetzt ein Abkommen; aber bevor
die Hilfe ankommt, dauert es noch einige Zeit.
Zur Rolle von UNMISS. Angesichts dieser Phase, die
wir hier jetzt noch einmal vor Augen haben, angesichts
fortgesetzter massiver Konflikte hatte es UNMISS
schwer, die Aufgaben zu erfüllen. Aber man versucht,
die Zivilbevölkerung zu schützen und die Lösung der
Kapazitätsprobleme der Sicherheitskräfte voranzubringen. UNMISS hat dazu beigetragen, dass ein Versöhnungsabkommen zwischen den ethnischen Gruppen von
der Regierung verhandelt wurde. Aber UNMISS - das
ist auch wahr - kann nicht überall im Südsudan vertreten
sein. 7 900 Soldaten sind autorisiert, aber 5 600 Soldaten
sind real vor Ort. Es fehlen Hubschrauber. Auch das, so
war zu hören, wäre eine wichtige Anforderung an die
Bundesrepublik Deutschland; denn in vielen Fällen sind
die Sicherheitsorgane natürlich auch diejenigen, die gegenüber der Bevölkerung eine gewisse Bedrohung ausüben und Menschenrechtsverletzungen begehen.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine
Betrachtung der Rolle Khartoums, also des Nordsudan.
Die Staatsfinanzen - darauf ist vorhin hingewiesen worden - sind durch die Auseinandersetzungen um die Öleinnahmen drastisch eingebrochen. Proteste, die sich gegen die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik, gegen
Korruption und Vetternwirtschaft richten, lassen sich
zwar nicht mit den Massenbewegungen wie etwa in Tunesien oder Ägypten vergleichen. Das Regime reagiert
aber dennoch mit äußerster Härte und lässt selbst die
friedlichsten Konflikte brutal niederschlagen. Das Regime Baschir hat immer noch nicht verstanden, dass es
massive Anstrengungen unternehmen muss, die realen
Lebenschancen von Menschen in allen Regionen und
eben nicht nur im Zentrum zu verbessern und vor allen
Dingen Chancen auf mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen.
Jenseits der Problematik UNMISS muss die politische Unterstützung, muss die Arbeit der Europäischen
Union, der UN und der Afrikanischen Union tatsächlich
an den noch ungelösten Fragen ansetzen. Denn wir wollen, dass der 193. Staat - er ist vor gut einem Jahr unabhängig geworden - eine Chance hat, sich zu entwickeln,
und damit die Chance hat, die Leistungen für seine Bürgerinnen und Bürger zu erbringen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Minister Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat, der Südsudan ist vor 15 Monaten unabhängig
geworden. Das war ein großer Erfolg. Aber wir dürfen
nicht vergessen, dass 20 Jahre Bürgerkrieg die Vorgeschichte sind. Deswegen kann man natürlich schnelle
Ergebnisse nicht erwarten.
Es gibt gute und schlechte Entwicklungen. Frau
Wieczorek-Zeul hat auf eine gute Entwicklung hingewiesen: Die Wiederaufnahme der Erdölförderung ist
eine wichtige Voraussetzung für dauerhafte Stabilität in
der Region. Es gibt natürlich viele Gründe für Sorge.
Das betrifft den Status der umstrittenen Region Abyei
und eine Einigung über die umstrittenen Teile der
Grenze zwischen Südsudan und Sudan.
Nach wie vor ist die Lage des Südsudan nach innen
und außen äußerst fragil. Die wirtschaftliche Situation
bleibt unbefriedigend. Es gibt weiterhin humanitäre Notlagen. Es herrscht keine Sicherheit im Land. Regionale
Warlords treiben ihr Unwesen. Der Sicherheitssektor
muss von Grund auf aufgebaut werden. Der Prozess hat
begonnen; aber es bleibt viel zu tun.
Vor diesem komplexen Hintergrund kommt der Friedensmission UNMISS eine wichtige Rolle zu. Ich begrüße es, dass der Sicherheitsrat die Friedensmission um
weitere zwölf Monate verlängert hat. Wir sollten das
Gleiche tun.
Nach einem so zerstörerischen Konflikt können die
Wunden nicht so schnell verheilen. Wir haben den
Südsudan bisher begleitet, und wir sollten dies auch weiterhin tun. Die Verantwortung für den Aufbau dieses
jungen Staates trägt die Regierung in Juba. Wir wissen
aber auch: Ohne internationale Unterstützung wird die
Regierung es nicht schaffen. Die verantwortlich handelnden Personen an der Spitze des Südsudan haben
keine Erfahrung in effizienter Verwaltungsarbeit, keine
Erfahrung im politischen Interessensausgleich, keine Erfahrung in Haushaltsführung und keine Erfahrung in demokratischer Kontrolle von Sicherheitsorganen. Die internationale Gemeinschaft und die Regierung in Juba
sollten sich deshalb weiter auf unsere Unterstützung verlassen können.
Die bisherige Mandatsobergrenze für die Beteiligung
deutscher bewaffneter Streitkräfte liegt bei 50 Soldaten.
Daran wollen wir festhalten. Diese Grenze gibt uns auch
genügend Flexibilität.
Zurzeit sind wir mit rund 16 Offizieren dort. Wir haben zwei Schwerpunkte: Informationsgewinnung und
Aufbau der Sicherheitskräfte. Im UNMISS-Hauptquartier stellen Soldaten der Bundeswehr den Leiter Nachrichtengewinnung und Aufklärung, den Leiter Ausbildung und den stellvertretenden Leiter der militärischen
Verbindungsorganisation - allesamt Positionen von zentraler Bedeutung für den Gesamterfolg der Mission.
Unsere Soldaten vor Ort sind an den wichtigen militärischen Entscheidungen beteiligt, und das soll auch so
bleiben. Sie tragen dazu bei, dass allmählich leistungsfähige staatliche Institutionen entstehen können und der
Prozess der Friedenskonsolidierung vorangeht. Unsere
Soldaten leisten im Auftrag der Vereinten Nationen und
im Interesse Deutschlands einen wichtigen Beitrag zum
Wohle des Südsudan. Einige - Herr Nouripour und andere - haben beim vorigen Tagesordnungspunkt darauf
hingewiesen, dass die Stabilität im Herzen Afrikas in unserem Interesse liegt.
({0})
Deswegen sagen wir Ja zu der weiteren Unterstützung. Herr Westerwelle und ich bitten das Parlament um
breite Zustimmung für diesen Einsatz. Unser Dank und
Respekt gilt unseren Soldaten, den Polizisten und allen,
die für UNMISS Dienst tun.
({1})
Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung behauptet, der Bundeswehreinsatz im
Südsudan schütze die Bevölkerung. Er zeige - ich zitiere
Ihre Antragsbegründung - eine „glaubhafte Perspektive
zur Verbesserung der Lebensbedingungen“ auf.
({0})
Ich halte beides für falsch.
Herr Westerwelle, Sie sagen, UNMISS habe die Ausweitung des zwischenstaatlichen Konfliktes zwischen
Nord und Süd verhindert. Sie sollten lesen, was UNMISS selbst sagt: Wir haben kein Mandat, um Zivilisten
im Grenzkonflikt zwischen Nord- und Südsudan zu
schützen. Wer im Bundestag etwas anders suggeriert,
täuscht die Bevölkerung.
({1})
In Wirklichkeit geht es bei dem Bundeswehreinsatz
im Rahmen von UNMISS ausschließlich um die einseitige Unterstützung des Südsudan, und das haben wir von
Anfang an kritisiert.
({2})
Mit dieser einseitigen Unterstützung haben Sie letztendlich die südsudanesische Regierung zu dem Angriff und
zur Besetzung der Ölfelder des Nordens im April dieses
Jahres ermutigt. Und ich frage: Was muss die südsudanesische Regierung noch tun, damit Sie die Politik der einseitigen Unterstützung endlich aufgeben?
({3})
Sie sagen, im Bundesstaat Jonglei sei es der südsudanesischen Regierung mit Unterstützung von UNMISS
gelungen, „ein Versöhnungsabkommen zwischen den
ethnischen Gruppen … zu verhandeln“. Ich sage Ihnen:
Uns alle beunruhigen die Nachrichten über ethnisch aufgeladene Konflikte im Südsudan. Aber das Versöhnungsabkommen, von dem Sie sprechen, wurde nie
nachhaltig umgesetzt. Ende September ist in Jonglei eine
neue bewaffnete Revolte der Murle ausgebrochen. Sie
ist die Reaktion auf das Vorgehen der Regierungstruppen
der SPLA gegen diese ethnische Minderheit. Die SPLA
- ich zitiere Human Rights Watch - tötet, vergewaltigt,
schlägt und foltert.
({4})
Die Situation in Jonglei zeigt nur eines: dass UNMISS
keinen Frieden im Südsudan implementieren kann.
({5})
Sie sprechen davon, dass die Einrichtung eines Frühwarnsystems wichtig ist, damit die Bevölkerung rechtzeitig vor Angriffen fliehen kann. Ja, ein Frühwarnsystem ist wichtig; aber meines Erachtens braucht es dazu
keine bewaffneten Soldaten und keine Kapitel-VII-Mission. Ein Frühwarnsystem ist auch mit zivilen Mitteln zu
leisten. Hören Sie endlich auf, Ressourcen einseitig in
militärische Kapazitäten zu stecken.
({6})
Was ist das überhaupt für ein Staat, den Sie mit Hilfe
von UNMISS aufbauen? Jüngst kam heraus: 75 hohe
Funktionsträger des neuen Staates Südsudan haben Gelder in Höhe von 4 Milliarden US-Dollar veruntreut 4 Milliarden US-Dollar! Gleichzeitig ist mehr als die
Hälfte der Bevölkerung unterernährt. Und nun begrüßt
UNMISS in ihrem Jahresbericht ein Austeritätsprogramm der neuen Regierung, das massive Einsparungen
vorsieht. Das ist ein Armutszeugnis.
({7})
Die Inflation beträgt bei einigen Grundnahrungsmitteln 300 Prozent. Aufgrund der massiven Präsenz der
UNO kosten einfache Wohnhäuser in Juba inzwischen
um die 2 000 US-Dollar Monatsmiete. Das, meine Damen und Herren, schafft nicht die „glaubhafte Perspektive zur Verbesserung der Lebensbedingungen“, von der
die Bundesregierung in ihrem Antrag spricht.
({8})
Der Sudan braucht eine wirkliche wirtschaftliche und
soziale Perspektive. Lesen Sie unseren Entschließungsantrag aus dem letzten Jahr.
({9})
Darin sind wichtige Antworten genannt. Ich sage Ihnen:
Die Bundeswehr hat im Südsudan nichts zu suchen,
nichts im Norden, nichts in Somalia, nichts in Mali und
auch sonst nirgendwo.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({10})
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat: Ob der am 9. Juli letzten Jahres aus der Taufe
gehobene neue Staat Südsudan ein lebensfähiger Staat
wird oder ob es am Ende nicht doch die Geburtsstunde
eines sogenannten gescheiterten Staates war, das wissen
wir heute nicht; das muss die Geschichte erst noch zeigen. Aber die Situation ist sehr fragil.
Liebe Frau Kollegin Buchholz, liebe Kollegen von
der Linken, gerade wenn man ein Scheitern verhindern
will, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Friedensmission UNMISS im Lande ist. Sie ist übrigens auf ausdrücklichen Wunsch der Südsudanesen und der Afrikanischen Union im Lande; die Nordsudanesen wollten auf
ihrer Seite keine Friedenstruppen. Das ist nicht am Süden und nicht an der internationalen Gemeinschaft gescheitert.
({0})
Ich habe hier ein schönes Zitat. Frau Buchholz, Sie
können nachher die Frage beantworten, von wem es
stammt.
({1})
Das Zitat lautet:
Was UNMISS betrifft, so wird behauptet, dass allein die Präsenz der Soldatinnen und Soldaten … in
der Fläche zur Beruhigung der Gewaltkonflikte beitrage. … Dafür spricht in der Tat Einiges.
Das ist ein Zitat von Ihrem Kollegen Paul Schäfer. Es
stammt aus seinem letzten Reisebericht.
({2})
Das hat auch die Leiterin der UNMISS, Frau Johnson,
erzählt; die Kollegin Wieczorek-Zeul hat es eben erwähnt. Die Kollegin Johnson hat von dem Konflikt in
Jonglei berichtet, der enorm eskalierte und bei dem der
Frieden zwischen Nord- und Südsudan wirklich auf
Messers Schneide stand. Davon hat heute auch der Chef
des DPKO gesprochen. Es ist ein Verdienst von UNMISS, dass dieser Konflikt zunächst beruhigt werden
konnte.
Auch hierzu schreibt der Kollege Schäfer - Hört!
Hört! -:
Damit
- dass UNMISS die Zivilbevölkerung rechtzeitig gewarnt hat und ihrem Auftrag, die Zivilbevölkerung zu
schützen, gerecht wurde wurden hunderte, wahrscheinlich sogar tausende
Menschenleben gerettet.
({3})
Sie sollten den Leuten zuhören, die im Lande waren
und deshalb über die Situation vor Ort berichten können.
Natürlich ist UNMISS kein Garant dafür, dass es im
Südsudan Frieden gibt, aber es ist eine Conditio sine qua
non, eine Bedingung dafür, dass das Land überhaupt
eine Chance hat, sich zu stabilisieren. Deshalb müssen
wir heute der Verlängerung dieses Mandats zustimmen.
({4})
Für mich steht fest, dass wir die historische Chance
haben, generell ein neues Kapitel in den Beziehungen zu
Afrika aufzuschlagen, es sozusagen einmal richtig zu
machen, und zwar zusammen mit unseren afrikanischen
Partnern. Ich hoffe, dass wir diese Chance nicht verspielen.
Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass
es zurzeit einige Entwicklungen gibt, die in die falsche
Richtung gehen. Wir haben das gemeinsam in zwei interfraktionellen Anträgen sehr deutlich gemacht. Damit
meine ich vor allem die sogenannten Post-CPA Issues,
also noch offene Fragen aus dem alten Friedensvertrag,
etwa: Man hat sich jetzt zwar auf die Wiederaufnahme
von Öllieferungen geeinigt, aber es fehlt immer noch ein
umfassendes Wirtschaftsaufbauprogramm mit klaren sozialen Standards. Herr de Maizière, es ist keineswegs so,
dass die Wiederaufnahme der Öllieferungen eine Garantie ist. Wir kennen viele Länder, in denen das eher Fluch
als Segen ist. Deshalb ist es fraglich, ob der Südsudan
tatsächlich davon profitieren kann.
Auch die Buffer Zone ist sehr wichtig. Es ist aber völlig unklar, wer sie überwachen wird. In Bezug auf die
Entwaffnung der SPLM-Nord ist noch gar nichts passiert, und es wird so lange nichts passieren, bis nicht etwas in den strittigen Regionen Abyei, Nuba-Berge und
Blue Nile passiert ist.
Ich möchte die grassierende Korruption erwähnen;
auch das muss man hier zur Sprache bringen. In erster
Linie ist natürlich die südsudanesische Regierung dafür
verantwortlich, aber auch wir haben Fehler gemacht.
Man hat zugelassen, dass die Petrodollars ins Land kamen, ohne dass es irgendwelche Institutionen gab, die
das hätten kontrollieren können und müssen, ohne dass
es irgendwelche Banken gab. Das war zumindest fahrlässig.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir als Deutscher Bundestag könnten der UN 50 Soldaten der Bundeswehr - das ist die Höchstgrenze - zur Verfügung stellen. Es ist wichtig, dass wir diesen Beitrag leisten, das
heißt, dass wir diese Soldaten der UN wirklich zur Verfügung zu stellen. Frau Johnson hat auch klargemacht:
UNMISS befindet sich erst am Anfang. Deutschland als
Kerstin Müller ({5})
eine Nation, die die UN unterstützt, könnte und müsste
hier eigentlich noch mehr leisten. Ich hoffe, dass die
Bundesregierung das in Zukunft tut.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner in der heutigen Debatte ist Kollege
Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Frau Müller, ich bin Ihnen sehr
dankbar, dass Sie mit deutlichen Worten zumindest die
Würde dieser Debatte wiederhergestellt haben; denn das,
was wir vorhin erlebt haben, das kann man wirklich nur
als groben Unfug bezeichnen.
({0})
Die Ursachen des Konflikts komplett zu ignorieren,
Frau Buchholz, und dann die Mittel, die wir anwenden
können - natürlich können wir darüber diskutieren, ob
man vielleicht zu spät eingegriffen hat, ob man nicht
vielleicht mehr hätte tun können und ob das, was wir
jetzt machen, ausreicht -, als die Gründe für die dortige
Situation darzustellen, das halte ich nun wirklich für
falsch. Was Sie eben gemacht haben, war unredlich und
in der Sache nicht richtig.
({1})
Beide Mandate, die wir gerade beraten, sind gute Beispiele für unsere wertegeleitete Außenpolitik.
({2})
UNMISS führt dazu, dass wir die Bewegungsfreiheit der
Helfer vor Ort gewährleisten können. Das ist ein ganz
vitaler, humanitärer Beitrag.
({3})
Das passt sehr gut zu den zivilen Maßnahmen, die wir
im Großen und Ganzen ergreifen. Ich habe vorhin in
meiner Rede zu dem anderen Mandat bereits zur politischen Aufgabe und den daraus resultierenden Herausforderungen ausgeführt: Damit der Südsudan nicht von Anfang an zu einem Failed State wird, müssen wir politisch
mehr tun. Ich glaube, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben sollten.
Es ist zum Beispiel eine gute Nachricht, dass das Parlament in Khartoum am 17. Oktober 2012 bei nur zwei
Gegenstimmen den Kooperationsvertrag beschlossen
hat. Frau Wieczorek-Zeul hat es ja gesagt: Nicht alles
geht so schnell, wie wir das haben wollen; aber es ist
doch trotzdem bemerkenswert, dass man es schafft, eine
Pufferzone einzurichten, und dass man es schafft, den
Streit über die Verteilung der Ölvorkommen beizulegen.
Damit hat man die Grundlagen für ein funktionierendes
Staatswesen gelegt. Die Ölförderung kann wieder beginnen. Damit kann wieder Geld ins Land kommen und etwas Wohlstand entstehen. Damit kann überhaupt erst
wieder von einem funktionierenden wirtschaftlichen Gefüge die Rede sein. Das war in den letzten neun Monaten
überhaupt nicht der Fall, weil jegliche ökonomische
Grundlage weggebrochen ist, da kein Erdöl gefördert
werden konnte. Gerade die Beilegung dieses Streits ist
ein politisch wichtiges Signal, das wir mit den Möglichkeiten, die wir haben, politisch unterstützen sollten.
({4})
- Hier hat doch kein Redner behauptet, in keiner der beiden Debatten - das habe ich auch von keinem anderen
Redner jemals gehört, wenn wir hier über Mandate diskutiert haben -, dass wir glauben, dass ein Konflikt irgendwo auf der Welt militärisch gelöst wird. Konflikte
werden immer nur politisch gelöst. Manchmal ist es aber
notwendig, militärische Optionen nicht auszuschließen,
weil man sich überhaupt erst durch militärische Optionen den für politische Lösungen notwendigen Spielraum
verschaffen kann. Hier sagt kein Redner, überhaupt niemand, Militär sei eine Lösung.
({5})
Aber Sie brauchen mitunter Militär, um Humanität
durchsetzen zu können.
Die Herausforderungen sind klar: Das Staatsgebiet ist
kaum erschlossen. Es mangelt überall an Infrastruktur.
Die Zentralregierung - auch Minister de Maizière hat es
gesagt - ist nicht in der Lage, die einfachsten administrativen Aufgaben auszuführen.
Aufgrund der andauernden Konflikte konnten Fragen,
die die Grundfesten eines Staates betreffen, zum Beispiel
Fragen des Budgets, gar nicht erst angegangen werden.
Etwa 50 Prozent des offiziellen südsudanesischen Haushalts flossen im Jahr 2011 in den Militäretat und den Etat
der Polizei. Das heißt, dass sich ein Staat, der hinsichtlich der Infrastruktur eigentlich erst aufgebaut werden
müsste, zumindest vor dem Hintergrund unseres Staatsverständnisses, in erster Linie um die Bewältigung von
Konflikten kümmert. Deshalb ist es notwendig, dass von
außen geholfen wird. Das tun wir mit diesem Mandat,
und deshalb halten wir dieses Mandat nach wie vor für
richtig. Wir betten es ein in unsere gesamtpolitische
Konzeption, um den Menschen dort die Hoffnung zu geben, dass dieser Staat kein Failed State wird, sondern
eine gute Zukunft hat.
({6})
Ich möchte für dieses Mandat werben. Das wird unsere Fraktion weiterhin tun.
Zum Abschluss möchte ich Ihnen, liebe Soldatinnen
und Soldaten - Sie sind stellvertretend hier, wurden aber
noch gar nicht begrüßt, obwohl Sie zu so später Stunde
anwesend sind -, herzlich danken für die Aufgaben, die
Sie übernehmen, und für die Pflicht, die Sie für unser
Land tun.
({7})
- Herr Gehrcke, Sie finden das vielleicht peinlich. Es
gab auch einmal Zeiten, da haben Sie NVA-Soldaten begrüßt. Das kann man alles über Sie nachlesen. - Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen, liebe Soldatinnen und
Soldaten: Ich finde es gut, dass Sie sich zu dieser Uhrzeit
anschauen, wie wir diese Frage beraten. Hier ist nicht alles Licht; bei diesen Diskussionen gibt es auch viel
Schatten. Ich finde es wichtig, dass Sie wissen, dass wir
mit großer Ernsthaftigkeit den politischen Rahmen für
Ihren Einsatz setzen, damit wir politische Lösungen finden können;
({8})
denn das, was Sie leisten, liebe Soldatinnen und Soldaten, ist von sehr großem Wert.
({9})
- Jetzt beruhigen Sie sich einmal; denn ich möchte noch
eine persönliche Anmerkung im Namen meiner Fraktion
machen.
Ich möchte von dieser Stelle aus - ich glaube, im Namen aller -, dem lieben Ernst-Reinhard Beck, dem es
diese Woche gesundheitlich gar nicht gut ging, alles
Gute wünschen. Unsere Gedanken sind auch am heutigen Abend bei ihm.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11037 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Nun folgen eine ganze Reihe von Abstimmungen,
von Entscheidungen ohne Debatte. Ich bitte Sie um Ihre
freundliche Aufmerksamkeit.
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Johannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute
Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eine kohärente Gesamtstrategie für Pakistan Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 17/11033 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({1})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union-
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/11033 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 17/10750 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
- Drucksache 17/11176 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Josip Juratovic
Auch hier ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu
geben. - Sie sind damit einverstanden.2)
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11176, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10750 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf so zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstim-
mig angenommen.
1) Anlage 13
2) Anlage 14
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten SteffenClaudio Lemme, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Betroffenen Frauen nach dem Anti-D-Hilfegesetz zu mehr Verfahrenssicherheit und
Transparenz verhelfen
- Drucksache 17/10645 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({3})Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Eines will ich gleich an den Anfang stellen: Im Ergebnis teile ich das Ziel des Antrages, die Entschädigung
der betroffenen Frauen so gut wie möglich sicherzustellen. Ich bin mit den Antragstellern der Ansicht, dass die
Umsetzung in einigen Ländern sehr zu wünschen übrig
lässt. Allerdings ist das BMG mit den Ländern im Gespräch, und ich will hier nicht diejenigen an den Pranger stellen, die sich kümmern. Ausschließlich deshalb
können wir dem Antrag nicht folgen.
Ich fasse nochmals kurz zusammen: Bei dem Gesetz
über die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit
dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen, kurz: Anti-DHilfegesetz, geht es um die Hilfe für Frauen, die zur Immunprophylaxe zwischen dem 2. August 1978 und dem
14. März 1979 in der ehemaligen DDR geimpft wurden.
Die Impfung war damals bei bestimmten Gesundheitsrisiken nach der Schwangerschaft vorgesehen. Sie diente
dazu, bei Rhesusfaktor-Unverträglichkeiten nach Geburten Schäden bei den Kindern zu verhindern.
Innerhalb des genannten guten halben Jahres wurden
6 773 Frauen mit Anti-D-Immunglobulinen behandelt.
Weil ein Teil der Impfchargen im Institut für Blutspende- und Transfusionswesen in Halle schuldhaft mit
Hepatitis-C-Viren verseucht worden war, wurden rund
4 700 Personen, Stand heute, also die behandelten
Frauen, etliche Kinder und weitere Kontaktpersonen aus
deren familiärem Umfeld, kontaminiert. Nach dem aktuellen Stand sind 2 615 Personen als Schadensfälle
nach dem Anti-D-Hilfegesetz anerkannt.
Den Opfern gehört auch heute unser Bedauern und
Mitgefühl. Und wir sollten dabei auch nicht vergessen,
dass diese Frauen letztlich zweimal geschädigt wurden:
Zum einen durch die kriminellen Machenschaften im Institut in Halle. Arzt und Apotheker wurden damals auch
verurteilt. Zum anderen durch die Einordnung lediglich
als Impfschaden. Denn zu DDR-Zeiten durfte es schlicht
keinen Arzneimittelskandal geben. Also hat man die
Frauen wie bei Impfschäden entschädigt und ihnen damit den Anspruch auf eine höhere Rente, eben nicht nur
nach den Sätzen des Bundesversorgungsgesetzes, ebenso
versagt wie die Ermöglichung einer Zahlung von
Schmerzensgeld. Denn mit der Einordnung als Impfschaden sind die Frauen nach der deutschen Einheit
auch in unser Rechtssystem übernommen worden.
Um die humanitäre und soziale Lage dieser infizierten Frauen und Kinder zu verbessern, hat der Bundestag
im Jahr 2000 nach vielen Verhandlungen zwischen
Bund und Ländern ein eigenständiges Gesetz, eben das
Anti-D-Hilfegesetz, AntiDHG, beschlossen. Ein eigenständiges Gesetz auch wegen der Parallelen zum Gesetz
über die Errichtung eines Hilfswerkes für behinderte
Kinder und dem HIV-Hilfegesetz.
Meine Fraktion hat bereits im März 2004 die Frage
nach der Rechtsqualität der Entschädigungszahlungen
gestellt. Die damalige Bundesregierung stellte ausdrücklich und eindeutig klar, dass es sich bei den Regelungen im Anti-D-Hilfegesetz nicht um einen Bestandteil
des sozialen Entschädigungsrechtes handelt, sondern
dass es sich um eine eigene Rechtsgrundlage handelt.
Zugunsten der Opfer, um die höhere Rente zu ermöglichen und um überhaupt Einmalzahlungen gewähren zu
können, ist damals aber ausdrücklich der Weg über
Schadenersatzleistungen und nicht über die Entschädigung eingeschlagen worden.
Laufende Geldleistungen erhalten ab einem Grad der
Behinderung von 30 Prozent heute 906 Personen. Anspruch auf medizinische Behandlung haben alle anerkannten Personen. 2 615 der im Raum stehenden Schadensfälle, rund zwei Drittel, sind anerkannt.
Übrigens ist es aufgrund dieser guten medizinischen
Versorgung, Gott sei Dank, in weniger Fällen als erwartet zu Verschlimmerungen und Folgeerkrankungen gekommen. Zudem wurde in den letzten Jahren die medikamentöse Therapie der chronischen Hepatitis C stetig
verbessert. Durch die Entwicklung und kassenärztliche
Zulassung, durch den Gemeinsamen Bundesausschuss,
der sogenannten Proteaseinhibitoren, Telepravir und
Boceprevir, zur Therapie der Hepatitis C stehen hochpotente neue Medikamente mit dem „Schlüssel-SchlossPrinzip“ zur Behandlung zur Verfügung. So haben sich
die sogenannten Heilungsraten gemäß der vorgestellten
Studien auf der 43. Versorgungsmedizinischen Fortbildungstagung 2012 für Versorgungsärzte der Länder für
erfolglos vorbehandelte Patienten, auf 30 Prozent, und
Betroffene mit einem Rückfall, auf 79 Prozent bis
83 Prozent, deutlich verbessert. Nach Aussage der Referenten ist mit einer weiteren Verbesserung der Therapiemöglichkeiten in den kommenden Jahren zu rechnen.
Zuständig für das Anti-D-Hilfegesetz ist federführend
das Bundesministerium für Gesundheit, BMG, und mitberatend für versorgungsmedizinische Fragen das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, die
Durchführung allerdings obliegt den Ländern. Das
Anti-D-Hilfegesetz wird von den Ländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als Auftragsverwaltung im
Sinne von Art. 104 a Abs.3 GG ausgeführt. An den Kosten sind auch die übrigen Länder nach einem Kostenschlüssel beteiligt. Zur Ausübung der Bundesaufsicht
lädt das BMG regelmäßig alle Akteure ein und stellt vor
allem auch die einheitliche Durchführung sicher.
Mit dem Oppositionsantrag wird nun gefordert, dass
die Versorgungsmedizin-Verordnung geprüft und auf Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen konkretisiert wird. Die Folgeerkrankungen, die sich
im Rahmen dieser Behandlung ereignet haben, sind in
der Versorgungsmedizin-Verordnung zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Auch soll darauf hingewirkt
werden, dass der Austausch der betroffenen Bundesländer verbessert wird. Dem Ausschuss für Gesundheit
und dem Ausschuss für Arbeit und Soziales soll in sechsmonatigen Abständen ein Bericht über die Evaluation
des Anti-D-Hilfegesetzes im Rahmen von Bund-LänderKonsultationen vorgelegt werden, um die Bedarfe zeitnah zu erfassen und auf sie einwirken zu können.
Im Ergebnis teile ich das Ziel des Antrages, die Entschädigung der betroffenen Frauen so gut wie möglich
sicherzustellen. Ziel ist es, einen einheitlichen Verwaltungsvollzug unter sachgerechter Anwendung der Versorgungsmedizin-Verordnung zu erreichen. Dazu fand,
anders als im Antrag dargestellt, die letzte Bund-LänderBesprechung am 27. September 2012 im BMG unter Beteiligung des BMAS statt, im Rahmen derer offenbar der
Verwaltungsvollzug mit den Ländern ausführlich erörtert wurde.
Es wurde - so die Information - festgestellt, dass
extrahepatische Manifestationen seit 2001 gemäß der
Versorgungsmedizin-Verordnung zu berücksichtigen und
zwingend Bestandteil der Begutachtung sind. Grundsätzlich sind bei der versorgungsärztlichen Begutachtung die Leitlinien der Fachgesellschaften zu beachten,
hier S3-Leitlinie zur chronischen Hepatitis C. Diese geben den aktuellen evidenzbasierten wissenschaftlichen
Stand in dem jeweiligen Fachgebiet wieder, den die Gutachter zu berücksichtigen haben. Das von der Vielzahl
der Geschädigten benannte Problem der angeblich missverständlichen Formulierung der VersorgungsmedizinVerordnung, die zu ihrer fehlerhaften Anwendung führt,
und zwar sowohl bei der Bewertung des histologischen
Leberbefundes als auch bei der Gesamtbewertung der
Hepatitis-C-Virusinfektion und ihrer Schädigungsfolgen
wurde, so wurde ich informiert, angesprochen. Bei dem
Treffen ist man daher zu dem Ergebnis gekommen, dass
nun im Verlauf der begonnenen grundsätzlichen Gesamtüberarbeitung der Versorgungsmedizin-Verordnung
auch die Begutachtungsgrundsätze zur chronischen Hepatitis durch eine Expertengruppe auf ihre weitere Gültigkeit überprüft werden. Allerdings gilt ja bereits der
Grundsatz, dass bei der versorgungsärztlichen Begutachtung die Leitlinien der Fachgesellschaften zu beachten sind. Ein Termin hierfür steht allerdings noch nicht
fest.
Ein Protokoll liegt zu der Besprechung noch nicht
vor. Ich gehe aber davon aus, dass wir auf einem guten
Weg sind. Uns allen ist es schließlich ein Anliegen, den
Frauen zu helfen.
„Nur eine Spritze!“, so der Titel der Dokumentation,
die sich mit dem größten Medizinskandal der DDR befasst, ausgestrahlt im Oktober 2012 im RBB und MDR.
Mit großem medialen Aufsehen und begleitenden Veranstaltungen ist der Eklat um die kontaminierten Antikörperpräparate im Rahmen einer Anti-D-ImmunglobulinBehandlung in den Jahren 1978 und 1979 nun wieder
verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit geraten. SPD
und Bündnis 90/Die Grünen haben schon vor mehr als
zehn Jahren für die Unterstützung und Entschädigung
der Betroffenen gesorgt.
Nur eine Spritze, die das Leben von den Betroffenen
und deren Familien radikal verändert hat - und das bis
heute. Lassen Sie mich noch einmal kurz die Geschichte
der Tragödie aufzeigen:
Zwischen dem 2. August 1978 und dem 14. März 1979
wurden circa 4 700 Frauen mit dem Hepatitis-C-Virus
infiziert. Die damals in der DDR vorgeschriebene Behandlung von Frauen mit negativem Rhesusfaktor sollte
bei Geburten eine Schädigung des Nachwuchses verhindern. Doch für die betroffenen Frauen kam alles ganz
anders.
Der große Skandal rührt daher, dass die Infektionen
nicht etwa durch einen mangelnden Grad wissenschaftlicher Kontrollierbarkeit der Präparate verursacht wurden, sondern dass die Verabreichungen mit dem Wissen
um die Folgen einer Hepatitis-C-Infektion - und damit
vorsätzlich - geschehen sind.
Wie gesagt, die gesundheitlichen und lebensweltlichen Folgen sind immens. Denn Hepatitis-C-Viren verursachen eine Form der Leberentzündung, die im
schlimmsten Fall einen chronischen Verlauf bis hin zum
Tod durch Leberversagen nehmen kann. Folglich müssen
die Betroffenen bis zum Ende ihres Lebens mit der Krankheit ausharren. Ein tiefer Einschnitt für die Frauen, deren Familien und Lebenspläne! Für mich persönlich sind
die Auswirkungen nur schwer nachzuempfinden und
letztlich zu begreifen! Besonders belastend ist dabei beispielsweise die stete Gefahr der Übertragung der Krankheit etwa auf den Partner, die Partnerin oder Familienangehörige. All jene Herausforderungen machen es
notwendig, dass wir den Betroffenen weiterhin zur Seite
stehen.
Eine Entschädigungsregelung hat die damalige Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Anti-D-Hilfegesetz, AntiDHG, geschaffen, um diesen Frauen ein Mindestmaß an Unterstützung erfahren
zu lassen. Meine Fraktion hat sich nun erneut der Nöte
der Betroffenen angenommen. In unserem Antrag „Betroffenen Frauen nach dem Anti-D-Hilfegesetz zu mehr
Verfahrenssicherheit und Transparenz verhelfen“ wollen
wir mögliche nachgelagerte Probleme bei der Begutachtung der Betroffenen beseitigen und mehr Transparenz schaffen. Im Folgenden möchte ich kurz darauf eingehen.
Mehrfach wurde in der Öffentlichkeit die Uneinheitlichkeit der Anwendung des Anti-D-Hilfegesetzes in den
Ländern bezweifelt. Meine Fraktion hat in der Kleinen
Anfrage „Dokumentation des Anti-D-Hilfegesetzes und
vorangegangener Gesetze“ auf Drucksache 17/9071
von der Bundesregierung statistisches Material zur Bewilligungspraxis abgefordert. Die Zahlen in der Antwort
Zu Protokoll gegebene Reden
der Bundesregierung auf Drucksache 17/9277 konnte
die Spekulationen jedoch nicht erhärten.
Um das Vertrauen der Betroffenen in Bund und Ländern zu stärken, muss in Zukunft für eine transparente
Dokumentation der Bewilligungspraxis Sorge getragen
werden. Daher fordern wir die Bundesregierung erneut
auf, weiterhin jeden Zweifel an einer einheitlichen Anwendung des AntiDHG auszuräumen, den Austausch mit
den Bundesländern weiter zu verbessern und in Zukunft
die Zahlen der Betroffenenstatistik im Interesse größtmöglicher Transparenz der Öffentlichkeit regelmäßig
zur Verfügung zu stellen.
Weiterhin wird der Vorwurf erhoben, dass aufgrund
der Fülle unterschiedlicher Schädigungen die Begutachtungen des Gesamtzustandes der Betroffenen unzureichend erscheinen. Denn das gesamte Erkrankungsbild durch die und infolge der Hepatitis-C-Infektion
erstreckt sich sowohl auf die Leber selbst, manifestiert
sich aber auch außerhalb des Organs. Eine umfassende
Bewertung könne gegenwärtig so nicht erbracht werden.
In diesem Zusammenhang wurde die Aktualität der Versorgungsmedizin-Verordnung oder auch die Fachkompetenz der Gutachterinnen und Gutachter in Abrede gestellt. Zur Sprache kam diese Kritik in Beratungen mit
Sachverständigen, den Betroffenen, der Sozialgerichtsbarkeit und Einzelexpertinnen und Experten im Vorfeld,
während und nach der Anhörung des Ausschusses für
Gesundheit vom 28. September 2011.
Daher erheben wir die Forderung nach dringender
Prüfung der Notwendigkeit einer Überarbeitung der
Versorgungsmedizin-Verordnung durch die medizinischen Sachverständigen des Bundesarbeitsministeriums.
Denn es ist zu vermuten, dass die jetzige Ausgestaltung
der Versorgungsmedizin-Verordnung Gefahren einer unzureichenden Berücksichtigung sogenannter extrahepatischer Manifestationen sowie eines missverständlichen
Gebrauchs birgt. Der Ärztliche Sachverständigenbeirat
Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit
und Soziales, BMAS, muss daher zeitnah prüfen, ob und
wie die Versorgungsmedizin-Verordnung überarbeitet
und konkretisiert werden muss. Kernpunkt des Prüfauftrags sollte die Frage der Notwendigkeit einer zwingenden Berücksichtigung und expliziten Erwähnung extrahepatischer Manifestationen in der Verordnung sein.
Letztlich muss der Deutsche Bundestag zeitnah über die
Einschätzungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats
Versorgungsmedizin beim Bundesarbeitsministerium unterrichtet werden.
Die Begutachtung der Betroffenen setzt darüber hinaus eine besondere Fachkompetenz für Hepatitis-C-Infektionen sowie den Umgang mit der VersMedV voraus.
Dies kann nach einhelliger Meinung von Expertinnen
und Experten sachgerecht nur durch ausgewiesene
Fachärztinnen und Fachärzte für Leberkrankheiten, sogenannten Hepatologen, geleistet werden. Nur von ihnen ist zu erwarten, dass sie die hinreichende Spezialkenntnis im Hinblick auf eine Begutachtung einer
Hepatitis-C-Infektion und ihrer Vielzahl von Folgeerkrankungen haben. Um unzureichende Begutachtungen
möglichst zu vermeiden, müssen alle Gutachterinnen
und Gutachter durch das BMAS erneut auf die Besonderheiten der Begutachtung hingewiesen werden. Hier
ist auf die 2001 erfolgten Präzisierungen durch das damalige Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
hinzuweisen, die den Stellenwert extrahepatischer Manifestationen unterstreichen.
Demnach lautet unsere Forderung, im Einvernehmen
mit den Ländern dafür zu sorgen, dass alle ärztlichen
Gutachterinnen und Gutachter nochmals gesondert mit
allen in der Vergangenheit erarbeiteten Spezifikationen
für eine Begutachtung und den gegebenenfalls novellierten Kriterien einer Beurteilung von HCV-Infektionen
und ihrer Folgeerkrankungen hinreichend vertraut gemacht wurden.
Ein besonderes Augenmerk unseres Antrags liegt
auch auf der Transparenz und dem Berichtswesen der
Vergangenheit. Im Zuge dessen fordern wir, dem Ausschuss für Gesundheit und dem Ausschuss für Arbeit und
Soziales in einer Sechsmonatsfrist einen chronologischen Bericht über die Evaluierung des Anti-D-Hilfegesetzes im Rahmen der Bund-Länder-Konsultationen vorzulegen.
Es war und ist offenkundig erklärtes Ziel der Mehrheit
der Abgeordneten des Deutschen Bundestages sowie aller Bundesregierungen seit Inkrafttreten des Anti-D-Hilfegesetzes, die betroffenen Frauen in ihrem nunmehr
über 30 Jahre währenden Leidenskampf zu unterstützen
und ihnen im Rahmen des Anti-D-Hilfegesetzes zu ihrem
Recht zu verhelfen. Mit den hier vorgestellten Maßnahmen werden wir hier - hoffentlich erneut gemeinsam einen wichtigen Beitrag leisten.
Zum wiederholten Male befasst sich der Bundestag
mit Einzelheiten der Umsetzung des Anti-D-Hilfegesetzes, diesmal auf der Basis eines SPD-Antrags. Dieser
ist, wie so oft bei den Sozialdemokraten, gut gemeint,
aber nicht gut gemacht, und unterliegt einer Reihe von
Missverständnissen, ohne die es diesen Antrag überhaupt nicht hätte geben können.
Es ist zwischen den Parteien vollkommen unstreitig,
dass den 1978 und 1979 in der damaligen DDR vorsätzlich mit dem Hepatitis-C-Virus infizierten Frauen umfassende und transparente Hilfe zuteilwerden muss.
Demgemäß wurde das Anti-D-Hilfegesetz als eigenständige Entschädigungsregelung eingeführt, welche den
Betroffenen höhere Renten als im Sozialen Entschädigungsrecht üblich zuweist.
Der SPD-Antrag ist offensichtlich aus einigen Aussagen in der Sachverständigenanhörung vom September
2011 hervorgegangen, welche wiederum von der Fraktion Die Linke initiiert wurde; diese hatte eine vollständige Beweislastumkehr hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen
Schädigungsfolgen und der Hepatitis-C-Virusinfektion
gefordert. Dieser Vorschlag wird von der SPD nicht aufgegriffen. Die derzeit gültige, im Anti-D-Hilfegesetz
festgelegte Beweiserleichterung, nach der Behörden und
Sozialgerichte den Sachverhalt von Amts wegen aufzuZu Protokoll gegebene Reden
klären haben, wird allgemein als ausreichend angesehen. Der SPD-Antrag erwähnt selbst, dass die betroffenen Frauen hinsichtlich Zielsetzung, Umfang und
Reichweite des Gesetzes mit der Situation generell zufrieden sind. Allerdings gebe es Zweifel an einer einheitlichen Anwendung des Gesetzes in den betroffenen Bundesländern. Diese sollen nach dem Willen der SPD
ausgeräumt werden.
Dabei übersieht der Antrag, dass es mit den Länderreferentenbesprechungen zum Anti-D-Hilfegesetz bereits ein funktionierendes Instrument zur Kontrolle der
einheitlichen Anwendung gibt. Das Bundesgesundheitsministerium führt hierüber die Aufsicht und lädt regelmäßig zu Gesprächen mit den Ländern ein. Dabei werden Erfahrungen ausgetauscht und evaluiert. Außerdem
wird die einheitliche Durchführung des Gesetzes sichergestellt, indem Darstellungen zu möglicherweise ungleichen Behandlungsweisen in den Ländern immer wieder
aufgegriffen werden. In den letzten beiden Runden konnten Anhaltspunkte für Versäumnisse und Bearbeitungsmängel nicht festgestellt werden.
Insoweit geht der SPD-Vorschlag, den Austausch mit
den Bundesländern zu verbessern, ins Leere, weil er redundant ist. Ein Vorschlag, mit dem sich die Sozialdemokraten hervortun möchten, der aber die schon bewährte Praxis ignoriert.
Des Weiteren unterstellt der Antrag, die Begutachtung der Leiden sei unzureichend. Dabei bezieht er sich
insbesondere auf extrahepatische Manifestationen, also
Schädigungen außerhalb der Leber, die auch nach dem
Ausheilen der Infektion weiter vorliegen können. Um
hier die Feststellung eines kausalen Zusammenhangs zu
verbessern, solle die Versorgungsmedizin-Verordnung
geändert werden. Auch dieser Vorschlag ist jedoch vollkommen unnötig. Diese Manifestationen sind bereits
jetzt in der aktuellen Version der Verordnung zusätzlich
zu bewerten. Die SPD-Forderung, die Verordnung zu
konkretisieren und extrahepatische Maßnahmen zwingend zu berücksichtigen, übersieht eine simple medizinische Tatsache: Zahlreiche Störungen wie zum Beispiel
eine Depression können verschiedene Ursachen haben;
die extrahepatische Manifestation einer Hepatitis-C-Infektion ist nur eine dieser Möglichkeiten. Pauschalierungen sind hier fehl am Platze. Nur die individuelle
Einzelfallbegutachtung kann hier in medizinisch sinnvoller Weise weiterhelfen.
Ohnehin erfolgt zurzeit eine Gesamtüberarbeitung
der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Eine Reihe
von Expertengruppen haben ihre Arbeit bereits aufgenommen. In diesem Rahmen werden auch die Versorgungsmedizinischen Grundsätze für chronische Hepatitiden auf ihre weitere Gültigkeit hin überprüft und
gegebenenfalls optimiert.
Auch hier also wieder das gleiche Phänomen: Der
Antrag missdeutet die Realität um des Effektes willen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch unterstreichen,
dass Betroffene, die an der Kausalität der Begutachtung,
der Kausalität zwischen festgestellten Gesundheitsstörungen und einer Gabe des kontaminierten Serums,
Zweifel haben, jederzeit die Möglichkeit haben, gegen
die Entscheidungen der Verwaltungsbehörde Rechtsmittel einzulegen oder ein Verfahren vor den Sozialgerichten anzustrengen.
Schließlich fordert die SPD, dass alle ärztlichen Gutachterinnen und Gutachter mit den Spezifikationen für
eine Begutachtung hinreichend vertraut gemacht werden. Die Zweifel an der Kompetenz der Gutachter scheinen aus Klagen einzelner Geschädigter in der genannten Anhörung über deren Auswahl hervorgegangen zu
sein. Natürlich hat sich die SPD diese Einzelmeinungen
gerne zu eigen gemacht. Denn dies passt ins Bild, das
die Sozialdemokraten in ihren Anträgen der letzten
Jahre von Ärzteschaft und medizinischen Gutachtern
zeichneten: wenn schon nicht potenziell korrupt und
dem Patientenwohl abgewandt, dann wenigstens inkompetent. Es besteht kein erkennbarer Anlass, daran zu
zweifeln, dass die in diesen Fällen angesprochenen Gutachter ausgewiesene Fachleute sind und über die notwendigen Spezialkenntnisse verfügen.
Als i-Tüpfelchen beantragt die SPD nun auch noch
chronologische Berichte in Sechsmonatsfristen und weitere Unterrichtungen des Deutschen Bundestages über
die Überarbeitung der Versorgungsmedizin-Verordnung.
Letzteres mag noch angehen, aber die erste Forderung
macht wieder deutlich, dass das schönste Hobby der Sozialdemokratie im gesundheitspolitischen Bereich die
Aufblähung der Bürokratie und der Ruf nach noch viel
mehr Dokumentationen ist und bleibt.
Zu Recht führt der Antrag aus, dass es erklärtes Ziel
der Mehrheit der Abgeordneten ist, die vom DDR-Unrecht betroffenen Frauen in ihrem nunmehr über
30 Jahre währenden Leidenskampf zu unterstützen. Leider ist der vorliegende Antrag bei der Begleitung dieses
Kampfes nicht zielführend, überflüssig und reine Spiegelfechterei. Die Liberalen werden ihn daher nicht unterstützen.
Zunächst einmal möchte ich mich bei der SPD bedanken, dass auch sie an diesem Thema dranbleibt und sich
für Verbesserungen bei der Entschädigungspraxis der
Frauen mit Hepatitis C aufgrund der Anti-D-Prophylaxe
einsetzt. Das Bemühen ist erkennbar und lobenswert,
und vielleicht ist der Antrag nur durch eine Art vorauseilende Selbstbeschränkung so blutarm, um ihn mehrheitsfähig zu machen. Sie sehen: Meine Hoffnung ist,
dass dieser Antrag ein vorweggenommener Kompromiss
sein soll. Stellt er allerdings die Forderungen der SPD in
Reinkultur dar, dann hätte ich deutlich mehr erhofft.
Mir schwebte eigentlich eine fraktionsübergreifende
Initiative vor, für deren Vorbereitung ich unter anderem
den wissenschaftlichen Dienst um eine Auskunft über die
Einflussnahme auf die Versorgungsmedizin-Verordnung
gebeten habe. Mir geht es um konkrete Verbesserungen
für diese Frauen. Dazu sollten sich alle Fraktionen auf
konkrete Schritte einigen, damit endlich etwas auf den
Weg kommt. Dafür ist es immer noch nicht zu spät. Und
vielleicht können wir gemeinsam mehr erreichen als
das, was uns nun als Antrag vorliegt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vielleicht wäre aber auch eine Einigung zwischen den
Fraktionen ähnlich ausgefallen wie dieser Antrag. Ich
wäre enttäuscht gewesen, aber ich hätte es als Kompromiss mitgetragen, so wie meine Fraktion das Anliegen
dieses Antrages mitträgt und ihn trotz seiner Schwächen
wohlwollend betrachtet. Lassen Sie mich darlegen, warum ich von diesem Antrag enttäuscht bin.
Dieser Antrag bleibt sehr vage. Er bekundet zumindest teilweise, dass die Probleme wahr- und ernstgenommen werden. Aber im Grunde bleibt er dabei stehen, die Bundesregierung aufzufordern, sich gegenüber
dem Beirat für die Versorgungsmedizin-Verordnung einzusetzen, sich gegenüber den Ländern einzusetzen, Berichte vorzulegen etc.; er bleibt jegliche greifbare oder
gesetzliche Verbesserung für die betroffenen Frauen
schuldig. Dabei erinnern Sie zum Beispiel selbst in Ihrer
Feststellung daran, dass es längst einen Entschließungsantrag gab, der die Bundesregierung aufforderte, für die
einheitliche Umsetzung des Anti-D-Gesetzes in den Ländern zu sorgen. Hätte dies etwas genützt, bräuchten wir
den hier vorliegenden Antrag nicht. Dies zeigt doch,
dass solche Aufforderungen nicht ausreichen.
Die Linke fordert deutlich klarere und weitreichendere Verbesserungen für die Betroffenen der Anti-DProphylaxe:
Erstens. Die Anrechnung der Renten auf Sozialleistungen muss unterbleiben. Hier geht es um Entschädigungsleistungen. Warum sollte jemand mit Anspruch auf
Sozialleistungen geringer entschädigt werden als jemand ohne solche Ansprüche?
Zweitens. Die Forderung, die Gutachter zu schulen,
nimmt sich für mich etwas weltfremd aus. Die Sachverständigen haben deutlich gemacht, dass die Beurteilung
der Folgeschäden allein durch entsprechende Spezialisten erfolgen muss. Ich denke, eine Schulung macht aus
einem Allgemeinarzt noch keinen Hepatologen. Die
Linke fordert daher, dass die Begutachtung allein durch
Fachärzte, wie Hepatologen und eventuell Internisten,
vorgenommen wird.
Drittens. Es muss dringend eine Anerkennung der
Folgen der Therapien stattfinden. Während die Versorgungsmedizin-Verordnung lediglich und, wie wir alle
wissen, unzureichend auf die Folgen der Hepatitis eingeht, leiden die Frauen auch an den Folgen der Therapien. Die negativen Folgen der Therapien sind aber
ebenso Folge der Anti-D-Prophylaxe wie die Hepatitis
selbst.
Viertens. Den Frauen, die 30 Jahre an den Folgen
dieser Anti-D-Prophylaxe physisch und psychisch gelitten haben, sollte man die Möglichkeit zu Verschlechterungsanträgen geben, aber die Leistungen bei Verbesserungen der Erkrankung nicht niedriger festsetzen,
entsprechend § 62 Absatz 3 BVG. Den Frauen würde damit endlich erspart, dauernd erneut ihre Ansprüche
nachweisen zu müssen.
Fünftens. Die Versorgungsmedizin-Verordnung muss
an die neuesten wissenschaftlichen Verhältnisse angepasst werden. Es liegt eine S3-Leitlinie zur Hepatitis C
vor. Dies hat Eingang in die Versorgungsmedizin-Verordnung zu finden. Das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales kann zudem nach § 1 BVG eine Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkennen,
wenn die Anerkennung nicht erfolgt, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Meines Erachtens ist
das BMAS hier in der Pflicht, zu handeln.
Sechstens. Zuletzt muss ich auf die Forderung in unserem Gesetzentwurf zu sprechen kommen. Wir haben
diesen Entwurf nicht weiterverfolgt, weil klar ersichtlich
ist, dass er keine Mehrheiten im Parlament finden wird.
Trotzdem bleibt das Ziel unseres Gesetzentwurfs berechtigt. Diesen Frauen wurde großes Unrecht angetan; sie
wurden mit verseuchtem Blut behandelt. Letztlich sollten
sie für alle Symptome, die nicht nur wahrscheinlich,
sondern allein geeignet sind, durch eine Hepatitis C entstanden zu sein, eine Entschädigung erhalten. Die
Frauen sollten nur ihre Symptome nachweisen müssen,
und die zuständigen Stellen der Landesregierungen müssen nachweisen, dass diese Symptome nicht durch eine
Hepatitis C entstanden sein können. Solange dies nicht
erfolgt, erhalten die Frauen entsprechend ihrer Schädigungen ihre Rente. Wir erleben eine gnadenlose Verzögerungstaktik seitens der zuständigen Ämter und Gerichte. Die Justiz und der Amtsschimmel der Länder
brauchen teilweise Jahrzehnte, um Entscheidungen zu
treffen. Die Frauen können das nicht beschleunigen die Landesregierungen sehr wohl. Warum soll die Zeit
gegen die geschädigten Frauen laufen? Einige Frauen
haben erst nach mehr als zehn Jahren Gerichtsverhandlungen ihre Ansprüche durchsetzen können. Dies muss
beendet werden.
Alles in allem hätte dieser Antrag das eher klägliche
Ergebnis eines Kompromisses sein können. Leider bleibt
er weit hinter dem zurück, was getan werden müsste. Ich
würde mich freuen, wenn durch eine fraktionsübergreifende Initiative, die ich gerne anstoßen möchte, mehr
herauskäme.
Die Verseuchung von Blutprodukten mit Hepatitis-CViren hat uns in diesem Hause bereits mehrfach beschäftigt. Dies betraf nicht nur die Frauen, die in der DDR
zwischen 1978 und 1979 durch eine verunreinigte
Charge von Anti-D-Immunglobulinen infiziert wurden.
Es betraf auch jene an Hämophilie Erkrankten, die sich
in den 80er-Jahren mit Hepatitis C infizierten, weil sie
verunreinigte Blutprodukte erhalten hatten, obwohl den
staatlichen Behörden die Risiken bereits hinlänglich bekannt waren.
Für die Frauen aus der ehemaligen DDR gibt es mit
dem sogenannten Anti-D-Hilfegesetz immerhin eine
gesetzliche Entschädigungsregelung. Infizierte Frauen
erhalten eine Entschädigung als Einmalzahlung oder
monatliche Rente, wenn eine Folgeerkrankung der
HCV-Infektion mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 Prozent bzw. 30 Prozent vorliegt.
So weit die gesetzliche Regelung.
Zu Protokoll gegebene Reden
In der Praxis kommt es jedoch häufig zu Problemen.
Das wurde zuletzt in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses im September des vergangenen Jahres deutlich. Dies betrifft vor allem die Frage, ob die gesundheitliche Schädigung in einem ursächlichen
Zusammenhang mit der Infektion steht, insbesondere
dann, wenn die Viruslast nach der Therapie unter der
Nachweisgrenze liegt.
Diese Ursächlichkeit nachzuweisen, obliegt derzeit
den betroffenen Frauen. Wir wissen heute, dass eine
Reihe unterschiedlicher Krankheitssymptome und Schädigungen durchaus auch - aber nicht nur - auf eine
Infektion mit Hepatitis C zurückzuführen sein kann.
Dazu zählen neben den Leberentzündungen mit Fibrosen auch Leberkrebs, Zuckerkrankheit, Lungen- und Gelenkerkrankungen und neuropsychiatrische Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen.
Der von der Linken im vergangenen Jahr vorgetragene Vorschlag einer Beweislastumkehr war deshalb
aus meiner Sicht vor diesem Hintergrund nicht zielführend. Er hat aber zumindest die Möglichkeit eröffnet,
das Thema im Gesundheitsausschuss vertieft zu behandeln.
In der Anhörung des Gesundheitsausschusses wurde
sehr klar, dass das Problem sehr komplex ist und den
Gutachterinnen und Gutachtern manchmal leider die
Empathie oder die Fachkenntnisse fehlen, sich sachgerecht mit der Symptomatik der infizierten Patientinnen
zu beschäftigen.
Der vorliegende Antrag der SPD spiegelt diese
Komplexität wider. Er zeigt auch, dass es den einen das
Problem umfassend lösenden Ansatz nicht gibt und auch
nicht geben kann.
Von den Vorschlägen des vorliegenden Antrags
möchte ich dennoch einen näher beleuchten. Es wird
beantragt, eine Überarbeitung der VersorgungsmedizinVerordnung zu prüfen. Das kann man sicher noch deutlicher formulieren, aber im Kern ist das ein guter Vorschlag. Dazu gab es ja in der Anhörung schon Stellungnahmen, die eine Ergänzung dieser Verordnung
empfohlen haben. Konkret wurde beispielsweise von der
BAG-Selbsthilfe vorgetragen, unter anderem die sogenannten gutachterlichen Anhaltspunkte zu ändern und
sie stärker an die neuesten Behandlungsleitlinien der
medizin-wissenschaftlichen Fachgesellschaften anzupassen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die gutachterliche Praxis besser mit dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu verknüpfen. Und es würde
darüber hinaus auch dazu beitragen, die gutachterliche
Praxis ein Stück weit zu vereinheitlichen.
Ich habe vor einigen Jahren in MecklenburgVorpommern als Arzt selbst im Rahmen einer ständigen
Arbeitsgruppe an der Begutachtung solcher Fälle mitgewirkt. Sowohl ich als auch die Kolleginnen und Kollegen, die daran beteiligt waren, haben es sich bei diesen
Entscheidungen nicht einfach gemacht. Und wir haben
versucht, den Frauen auch in den Fällen gerecht zu werden, wo nur eine eher unspezifische Symptomatik wie die
schon beschriebenen Depressionen oder Müdigkeitssymptome vorgelegen hat.
Vor diesem Hintergrund unterstützen wir diesen
Antrag und sind gespannt auf die Beratungen im
Ausschuss.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10645 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 28:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 17/10146 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/11184 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Maria Michalk
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11184, den Gesetzent-
wurf des Bundesrates auf Drucksache 17/10146 in der
Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir selbstverständlich zuerst abstim-
men. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag auf Druck-
sache 17/11226? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der Linken abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP, Grünen gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der SPD angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist in dritter Beratung mit den gleichen Stimmen-
verhältnissen wie zuvor angenommen.
1) Anlage 15
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren
Maßnahmen spürbar verbessern
- Drucksache 17/11041 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Lebenssituation contergangeschädigter Menschen hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Die Opfer des Conterganskandals aus den 60erJahren sind heute im Durchschnitt 50 Jahre alt. Sie haben heute ganz andere Bedarfe als noch vor 20 oder
30 Jahren. Dem müssen und dem wollen wir auch Rechnung tragen.
In der vergangenen Legislaturperiode ist es zu einem
grundsätzlichen Umdenken in der Politik gekommen,
was die Lebenssituation dieser Menschen anbetrifft. Das
ist eine positive Entwicklung im Sinne der Betroffenen.
Mit der zweiten Änderung des Conterganstiftungsgesetzes 2008 war aber bereits klar, dass der Weg noch
lange nicht zu Ende ist. In einem gemeinsamen Antrag
haben CDU/CSU, SPD und FDP beschlossen, insbesondere die akuten Bedarfe der Contergangeschädigten in
einer Längsschnittstudie wissenschaftlich untersuchen
zu lassen. Dieses Forschungsvorhaben war auch deshalb so wichtig, weil wir sehen wollten, wie sich die
Erfordernisse dieser Männer und Frauen im Alltag verändert haben, wo spezielle Bedarfe sind, wo Versorgungsdefizite.
Die Zwischenergebnisse des Gerontologischen Instituts Heidelberg liegen uns seit Juli dieses Jahres vor. Sie
zeigen, wie dramatisch sich die Lebensqualität in Folge
von Spätschäden verschlechtert hat. Die Fehlbelastungen des Bewegungsapparates, der Zähne, Gelenke,
Muskulatur haben dazu geführt, dass in vielen Fällen
die Ausübung des Berufes nur eingeschränkt oder gar
nicht mehr möglich ist. Und die Anzahl derer, die davon
betroffen ist, wächst zunehmend.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Assistenzbedarf
von Contergangeschädigten, der häufig von Familienangehörigen geleistet wird. Oft geht der Assistenz- und
Pflegebedarf mit zunehmendem Alter über die gesetzlichen Leistungen hinaus, und die Betroffenen und ihre
Familien müssen zuzahlen.
Das Ausmaß der Spät- und Folgeschäden der vorgeburtlichen Schädigungen durch das Mittel Contergan
drängt also zum Handeln. Darüber sind sich alle Fraktionen einig.
Das Erste und Zweite Conterganstiftungsgesetz
konnte nur ein erster Schritt sein, der aber einige Verbesserungen gebracht hat. Ich erinnere gern an die
wichtigsten Punkte im Einzelnen: Die Conterganrenten
wurden zum 1. Juli 2008 verdoppelt, die Renten wurden
dynamisiert; deshalb gab es weitere Erhöhungen im Juli
2009, im Juli 2011 und auch im Juli 2012. Conterganrenten werden nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet. Seit 2009 erhalten die Opfer jährliche Sonderzahlungen je nach Schweregrad ihrer Beeinträchtigung.
Die Ausschlussfrist zur Geltendmachung von Leistungen
wurde aufgehoben. Die Sach- und Personalkosten werden seit 2008 vollständig aus dem Bundeshaushalt getragen, sodass das Stiftungsvermögen der Conterganstiftung den Opfern voll zugutekommen kann. Der
Stiftungszweck ist verändert worden, sodass ausschließlich Projekte finanziert werden, die die Contergangeschädigten unterstützen. Die Zusammensetzung des Stiftungsrates wurde verändert. Zwei Posten im Stiftungsrat
werden von Vertretern aus Betroffenenverbänden besetzt. 2011 wurden Gleichgewichtsstörungen neu in die
medizinische Punktetabelle aufgenommen. Die Fraktionen haben Parkerleichterungen beschlossen. Die Fraktion Die Linke hat in ihrem heutigen Antrag die historische Entwicklung des Conterganskandals sowie die
Lebenssituation der Opfer korrekt dargestellt, aber die
Forderungen sind aus unserer Sicht nicht zielführend.
Die Linksfraktion weckt hier Hoffnungen bei den Betroffenen, die die Wirklichkeit nicht treffen. Das halten wir
nicht für seriös.
Wir wollen eine gemeinsame Lösung finden, die auf
einem Beschluss über möglichst alle Fraktionen hinweg
basiert. Die breite Einigung in der letzten Legislaturperiode war ein gutes Zeichen, und wir werden alles daran
setzen, bei den jetzt notwendigen Beratungen wieder mit
einer starken Stimme zu sprechen.
Deshalb werden wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem heutigen Antrag der Linksfraktion nicht zustimmen.
Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie werden
zwar endgültig Ende dieses Jahres vorliegen, aber die
vorliegenden Handlungsempfehlungen bestätigen uns
jetzt schon, dass die Lebensqualität infolge der Schädigung durch Contergan mit zunehmendem Alter abnimmt
und die Assistenzbedarfe immer größer werden. Die Ergebnisse haben insbesondere gezeigt, dass die zusätzlichen finanziellen Ausgaben für medizinische und therapeutische Versorgung für die Betroffenen belastend sind.
Hier sehen wir Nachholbedarf, und wir freuen uns,
dass die Bundesregierung bereits angekündigt hat, uns
zu unterstützen.
Deshalb müssen in einem ersten Schritt Ergänzungen
im Gesundheitsbereich kommen. Es ist ein großes Ärgernis, dass bestehende Verordnungsmöglichkeiten von
Heil- und Hilfsmitteln nicht im Sinne der ContergangeThomas Jarzombek
schädigten ausgeschöpft werden. Sowohl die Conterganstiftung als auch die Ministerien drängen seit langem darauf, den Heilmittelkatalog so zu ändern, dass
bestimmte Rehabilitationsmaßnahmen durch die gesetzlichen Krankenkassen abgedeckt sind. Die Ergebnisse
können uns nicht zufriedenstellen.
In einem zweiten Schritt wollen wir als Koalition uns
mit den anderen Fraktionen auf einen gemeinsamen Weg
verständigen, weitere Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation der Geschädigten vorzunehmen.
Ich will aber betonen, dass die Betroffenen uns in vielen Gesprächen sehr deutlich gemacht haben, dass die
Zeit drängt; deshalb müssen wir jetzt schnell, zielgerichtet und sachgerecht helfen. Es ist politischer Konsens,
eine Änderung noch in dieser Legislaturperiode durchzusetzen.
Die zuständigen Ministerien stehen bereits im intensiven Kontakt, und wir werden als Fraktionen diese Arbeit
intensiv unterstützen und weiter forcieren. Es muss eine
schnelle und sachgerechte Lösung gefunden werden.
Dabei gibt es verschiedene Modelle, die uns die Möglichkeit geben, unbürokratisch zu helfen. Das wird jetzt
geprüft.
Mit den Betroffenen selbst und den Verbänden stehen
wir als Parlamentarier in engem Kontakt. Insbesondere
sind hier auch meine Kollegin Maria Michalk, die Behindertenbeauftragte unserer Fraktion, sowie Hubert
Hüppe, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, sehr engagiert. Viele von
ihnen haben bereits die Gelegenheit genutzt, im Rahmen
der Ausschusssitzungen, aber auch außerhalb mit uns zu
sprechen und uns auf ihre sich schnell verändernde Situation aufmerksam zu machen. Das ist wichtig, um zu
einem positiven Ergebnis in den Beratungen zu kommen.
Ich bin optimistisch; dass uns das im Sinne der Betroffenen gelingt.
Ende der 50er-Jahre bis Anfang der 60er-Jahre kamen
weltweit über 10 000 Kinder mit zum Teil schwersten
Fehlbildungen der äußeren Gliedmaßen sowie Schädigungen der inneren Organe zur Welt. Ursache war die
Einnahme eines thalidomidhaltigen Medikaments - ein
Schlafmittel, in Deutschland unter dem Namen Contergan bekannt - durch schwangere Frauen. Heute leben in
Deutschland noch etwa 2 700 Menschen mit Conterganschädigungen.
Ende 1961 erfolgte der Verkaufsstopp des Arzneimittels
in Deutschland. Die Pharmafirma Grünenthal GmbH
wurde von vielen Eltern betroffener Kinder verklagt.
1971 zahlte das Unternehmen im Rahmen eines Vergleichs eine Entschädigungssumme von 100 Millionen
D-Mark in den deutschen Conterganfonds ein. Mit diesem Vergleich wurde die Haftungsverpflichtung der
Firma Grünenthal GmbH abschließend geklärt. Für die
Opfer wurde im Oktober 1972 die Stiftung „Hilfswerk
für behinderte Kinder“ als öffentlich-rechtliche Stiftung
gegründet, die 2005 mit dem Conterganstiftungsgesetz
ihren heutigen Namen erhielt.
Mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Gründung der
Stiftung 1972 übernahm die Bundesrepublik Deutschland die finanzielle Gesamtverantwortung für die Conterganrenten in der Bundesrepublik Deutschland.
Die contergangeschädigten Menschen haben sich in
bewundernswerter Weise ihren Platz im Berufs- und Privatleben mit großem eigenen Engagement und Selbstbewusstsein erkämpft. Ihrer Haltung und ihrer Lebensleistung gebühren unsere hohe Anerkennung und unser
größter Respekt.
Sie haben sehr unspektakulär und von der Öffentlichkeit relativ unbemerkt ihr Leben gemeistert. Die überwiegende Mehrheit der Geschädigten war und ist trotz
der Behinderung erwerbstätig.
Der Öffentlichkeit ist nicht wirklich bewusst, wie
schwer ihr tägliches Leben ist und zunehmend wird.
Schmerzhafte Spät- und Folgeschäden schränken die
Lebensqualität der Betroffenen erheblich ein. Jahrzehntelange Fehlbelastungen von Wirbelsäule, Gelenken und
Muskulatur bringen diese Spät- und Folgeschäden mit
sich. Die Lebenssituation der Betroffenen ist heute, nach
50 Jahren, zunehmend durch diese sehr schmerzhaften
Auswirkungen ihrer Behinderung geprägt; ihre Lebensqualität ist zusätzlich erheblich eingeschränkt. Oft drohen
Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. Das belastet
die Menschen, die sich unter größten Mühen jahrzehntelang Unabhängigkeit erkämpft und behauptet haben,
sehr.
Für diese neuen Herausforderungen mussten Lösungen gefunden werden. In der vergangenen 16. Legislaturperiode haben wir fraktionsübergreifend bereits viel
erreicht. Der Bundestag fasste drei Beschlüsse zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Conterganschädigungen:
Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes haben wir zum 1. Juli 2008 die Conterganrenten verdoppelt. Der Höchstsatz lag damit 2008
bei 1 090 Euro statt wie vorher bei 545 Euro. Außerdem
haben wir geregelt, dass die Conterganrenten nicht auf
andere Zahlungen, wie zum Beispiel Erwerbsminderungsrenten, SGB-II-Zahlungen oder Sozialgeld, angerechnet werden.
Seit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Conterganstiftungsgesetzes am 30. Juni 2009 werden die Conterganrenten zudem automatisch an die gesetzlichen Renten angepasst. Dank dieser Dynamisierung liegt die Höchstrente derzeit bei 1 152 Euro. Die
monatliche Durchschnittsrente beträgt 982 Euro.
Wir haben die Ausschlussfrist, das heißt die Frist, zu
der sich Betroffene spätestens bei der Conterganstiftung
melden müssen, um Ansprüche geltend zu machen, abgeschafft und damit eine zentrale Forderung der Betroffenenverbände erfüllt.
Mit dem Gesetz wurde der Weg freigemacht für die
Auszahlung weiterer 100 Millionen Euro über 25 Jahre
({0}). So erhalten
Zu Protokoll gegebene Reden
Marlene Rupprecht ({1})
Menschen mit Conterganschädigungen seither, gestaffelt nach Schwere der Behinderung, zusätzlich zu den
monatlichen Conterganrenten jährliche Sonderzahlungen. Durchschnittlich betragen diese Sonderzahlungen
derzeit 2 206 Euro.
Der Stiftungszweck der Conterganstiftung wurde dahin gehend geändert, dass nur noch Menschen mit Conterganschädigungen gefördert werden statt wie bisher
auch Menschen mit anderen Behinderungen. Außerdem
wurden die Strukturen der Stiftung gestrafft.
Viele Forderungen unseres fraktionsübergreifenden
Antrags „Angemessene und zukunftsorientierte Unterstützung der Contergan-Geschädigten sicherstellen“ vom
3. Dezember 2008 wurden im Zweiten Änderungsgesetz
aufgenommen. Darüber hinaus hatten wir erforderliche
Maßnahmen in Bezug auf Folge- und Spätschäden, Erleichterungen bei der Gewährung von Leistungen, die
Sicherstellung qualifizierten ärztlichen und anderen
Fachpersonals sowie ein geeignetes Beratungs- und Informationsangebot gefordert. Eine zentrale Forderung
unseres Antrags war, einen Forschungsauftrag in Form
einer partizipativ angelegten Längsschnittstudie zur
Lebenssituation von Menschen mit Conterganschädigungen im Hinblick auf Spät- und Folgeschäden zu vergeben.
Mit der Erstellung dieser Studie wurde das Institut für
Gerontologie der Universität Heidelberg beauftragt.
Am 27. Juni 2012 wurden das Zwischenergebnis und
daraus folgend die Ableitung erster Handlungsempfehlungen der Studie mit dem Titel „Wiederholt durchzuführende Befragungen zu Problemen, speziellen Bedarfen
und Versorgungsdefiziten“ im Familienausschuss vorgestellt.
Der Zwischenbericht zeigt deutlich Handlungsbedarf
und gibt bereits erste Empfehlungen. So sind die Folgeschäden wohl noch gravierender als bisher vermutet.
Auch bei der medizinischen Versorgung muss nachgebessert werden. Wir warten nun auf die Vorlage des Abschlussberichts und erörtern dann in einer öffentlichen
Anhörung mit Betroffenen, was wir tun können.
Nach Vorlage des Abschlussberichts der Studie - voraussichtlich Ende dieses Jahres - werden wir eine öffentliche Anhörung durchführen, zu der wir alle Verbände
und Betroffene einladen werden. Inhalt wird der Umsetzungsstand der beiden Änderungsgesetze zum Conterganstiftungsgesetz und des Antrags sowie der Handlungsempfehlungen der Studie sein. Im Anschluss
werden wir die Anhörung auswerten und Schlussfolgerungen für das parlamentarische Handeln ziehen.
Dieses Vorgehen war im Familienausschuss so besprochen und gutgeheißen worden. Es ist sehr schade,
dass die Fraktion der Linken mit dem vorliegenden Antrag unser gemeinsames, fraktionsübergreifendes Vorgehen aufkündigt und die Arbeit mit den zum Teil völlig
unrealistischen Forderungen unnötig erschwert.
Weitere Verbesserungen für Menschen mit Conterganschädigungen zu erreichen, ist unser aller Ziel. Dieses Thema ist zur parteipolitischen Profilierung gänzlich ungeeignet. Die große Mehrheit des Deutschen
Bundestages wird sich davon nicht beirren lassen, an
dem vereinbarten Vorgehen festhalten und mit aller gebotenen Sorgfalt und Gründlichkeit an weiteren Verbesserungen für die Lebenssituation der betroffenen Menschen arbeiten und diese zügig - noch in dieser
Legislaturperiode - umsetzen.
Die Politik der letzten Jahrzehnte im Bereich Contergan ist von Versäumnissen geprägt. Die Verärgerung
und der verständliche Frust bei den Betroffenen über die
Politik sind enorm. Trotzdem sollten wir auch einen
Moment innehalten und das seit 2008 im Sinne der
Conterganopfer - mit der überwiegenden Mehrheit des
Hauses - Erreichte betrachten. Diese im Kern von CDU/
CSU, SPD und FDP getragenen Entscheidungen waren
bereits ein großer Schritt, die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern.
Dabei ist sich die FDP stets bewusst, dass alle Leistungen den enormen Schaden für die Gesundheit sowie
die seelische Belastung der Betroffenen nicht ausgleichen können.
Am 22. Januar 2009 hat der Deutsche Bundestag
einem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD
und der FDP zur Sicherstellung einer angemessenen
und zukunftsorientierten Unterstützung der contergangeschädigten Menschen zugestimmt ({0}). Die Forderungen der FDP gingen über
diesen gemeinsam mit der damaligen Großen Koalition
beschlossenen Antrag hinaus.
Die FDP wollte sowohl die Dynamisierung der
Conterganrenten als auch die Streichung des Fristausschlusses. Beides wurde mit der Verabschiedung des
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes umgesetzt.
Anders als der Antrag der Linken suggeriert, war die
Lebenssituation der Contergangeschädigten den
Antragstellern aus CDU/CSU, SPD und FDP sehr wohl
bekannt, was zu den deutlichen Verbesserungen für die
Betroffenen - verglichen mit der Situation vor dem
1. Juli 2008 - führte. Um die Lebenssituation der
Contergangeschädigten in finanzieller Hinsicht zu verbessern, wurden die Conterganrenten zum 1. Juli 2008
verdoppelt. Zusätzlich zu den Renten aus der Conterganstiftung stehen den Contergangeschädigten die Ansprüche auf Leistungen aus den Sozialversicherungen wie
Kranken-, Renten- oder Pflegeversicherung bzw. die
Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, SGB XII, anrechnungsfrei zu. Außerdem
wird die von der Grünenthal GmbH eingebrachte
Spende von 50 Millionen Euro in die Conterganstiftung
zusammen mit 50 Millionen, die aus der Kapitalisierung
des Stiftungsvermögens stammen werden, genutzt, um
eine jährliche Sonderzahlung für den besonderen Bedarf
der contergangeschädigten Personen auszuschütten.
Vor der Verdoppelung der Conterganrenten zum
1. Juli 2008 erfolgte die letzte Rentenerhöhung für Conterganopfer zum 1. Juli 2004. Diese Zeiträume waren
Zu Protokoll gegebene Reden
unbefriedigend, da die Inflation die Rentenerhöhung
aushöhlte. Den Dynamisierungsfaktor der Altersbezüge
auf die Conterganrenten zu übertragen, war ein naheliegender und unbürokratischer Weg der Dynamisierung
und der damit einhergehenden Rentenerhöhung.
Die FDP trat gleichzeitig dafür ein, die Rentenhöhe
in geeigneten Zeiträumen grundlegend zu überprüfen,
da mit fortschreitendem Alter der Contergangeschädigten auch der Hilfebedarf weiter zunimmt. Als Zeitraum
für eine solche regelmäßige Überprüfung hatten wir fünf
Jahre angeregt, also bis 2013.
Die FDP steht zu diesem Wort und tritt weiterhin für
eine solche grundlegende Neujustierung der Rente noch
vor dem Ende der laufenden Legislaturperiode ein.
Um die Hilfen für die Betroffenen möglichst passgenau zu entwickeln, wurde vom zuständigen Familienministerium die Erarbeitung einer Studie des Instituts
für Gerontologie der Universität Heidelberg in Auftrag
gegeben. Die Studie widmet sich wissenschaftlich den
speziellen Bedarfen sowie den Versorgungsdefiziten
contergangeschädigter Menschen. Eine Studie, deren
Erstellung von der Linken übrigens abgelehnt wurde.
Inzwischen liegen erste Zwischenergebnisse vor, die
auch bereits von Professor Kruse am 27. Juni 2012 im
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
des Deutschen Bundestages vorgestellt wurden. Mehrmals ist die Fraktion Die Linke drauf hingewiesen
worden, dass dieser Bericht des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ein zusammenfassender
Bericht über die ersten Untersuchungsergebnisse und
die daraus erarbeiteten ersten Handlungsempfehlungen
war. Der Zwischenbericht hat daher vorläufigen
Charakter. Der endgültige Abschlussbericht wird zum
Jahresende 2012 vorliegen. Die Bundesregierung prüft
zurzeit die Empfehlungen und wird nach der Vorlage des
Endberichts entscheiden, welche konkreten Maßnahmen
zu ergreifen sind.
Gemeinsam mit CDU/CSU und SPD haben die Liberalen Anfang 2009 in dem bereits mehrfach erwähnten
Antrag formuliert: „Die Contergangeschädigten leiden
heute an schmerzhaften Spätfolgen, die durch jahrelange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken,
Muskulatur, aber auch durch die Überbeanspruchung
der Zähne entstanden sind. Die körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzzustände haben darüber
hinaus erhebliche negative psychische Belastungen zur
Folge. Bei Berufstätigen führt das häufig zur Frühverrentung mit erheblichen Einbußen für die Altersversorgung und die gesellschaftliche Teilhabe. Erschwerend für die persönliche Situation der Conterganopfer
kommt hinzu, dass mit ihrem Älterwerden auch ihre
Familienangehörigen älter werden, auf deren Hilfe und
Unterstützung sie angewiesen sind. Mit zunehmendem
Alter der Betroffenen sind sie daher immer stärker auf
außerhäusliche Hilfe angewiesen.“
Diese Situation ist weiterhin gegeben. Ich, aber auch
die gesamte FDP sehen die Politik in der Verantwortung
und wollen weitere Hilfestellungen für die Betroffenen
noch vor Abschluss dieser Legislatur erreichen.
Täterschutz statt Opferunterstützung - das ist die
Bilanz von 55 Jahren Conterganskandal und 40 Jahren
Conterganstiftung. Schuldig ist nicht nur die Firma
Grünenthal und deren Besitzer, die Familie Wirtz, sondern auch die Politik und die bundesdeutsche Justiz. Ein
schwerwiegender Vorwurf? Ich meine ja und möchte ihn
- auch im Namen vieler contergangeschädigter Menschen und ihrer Angehöriger - hier bekräftigen.
Was hat die Herstellerin des Schlafmittels Contergan,
die Firma Grünenthal GmbH, und deren Eigentümer, die
Milliardärsfamilie Wirtz, nach dem Conterganskandal,
der Zehntausende Opfer im In- und Ausland forderte,
getan? Sie hat - mithilfe von Politik und Justiz - mit
Druck auf die Eltern der contergangeschädigten Kinder
alles getan, um einer gerechten Verurteilung zu entgehen. Das Ergebnis: Vor 40 Jahren, am 31. Oktober 1972,
nahm die Conterganstiftung - sie hieß bis 19. Oktober
2005 Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ - ihre
Tätigkeit auf. Nachdem die Firma Grünenthal
100 Millionen D-Mark, rund 51 Millionen Euro, an die
Conterganopfer zahlte, welche in die Stiftung überführt
wurden, erließ der deutsche Staat faktisch ein Enteignungsgesetz ({0}). Aber damit
enteignete er nicht die Täter - Grünenthal -, sondern
die Opfer. Sämtliche Ansprüche der Contergankinder
gegen die Schädigungsfirma Grünenthal, ihre Eigentümer und Angestellten wurden per Bundesgesetz zum Erlöschen gebracht. Seither liegt die finanzielle Gesamtverantwortung für die Contergangeschädigten bei der
Bundesrepublik Deutschland.
Und in den nachfolgenden 40 Jahren? Eine Entschuldigung bei den Opfern und ihren Angehörigen steht bis
heute aus. Die Rede vom Vorsitzenden des GrünenthalKonzerns, Dr. Harald F. Stock, anlässlich der Einweihung des Contergandenkmals am 31. August 2012 in
Stolberg, in der er sagte: „Im Namen Grünenthals mit
seinen Gesellschafterinnen und Gesellschaftern und allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, heute anlässlich dieser Stunde des
Gedenkens unser großes Bedauern über die Folgen von
Contergan und unser tiefes Mitgefühl für die Betroffenen, ihre Mütter und ihre Familien zum Ausdruck zu
bringen. Wir sehen sowohl die körperlichen Beschwernisse als auch die emotionale Belastung, die die Betroffenen selbst, ihre Familien und besonders ihre Mütter
aufgrund von Contergan erleiden mussten und auch
heute täglich ertragen … Darüber hinaus bitten wir um
Entschuldigung, dass wir fast 50 Jahre lang nicht den
Weg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefunden haben.
Stattdessen haben wir geschwiegen, und das tut uns sehr
leid“, war keine Entschuldigung in der Sache, zumal
Grünenthal nicht nur geschwiegen hat.“
Der Druck auf ihre Opfer ging weiter. Hochbezahlte
Rechtsanwälte überzogen protestierende Conterganopfer mit Klagen, und auch der Film „Eine einzige Tablette“ konnte erst nach erbittertem Rechtsstreit 2007 in
der ARD gesendet werden. Anstatt sich mit den erzielten
Unternehmensgewinnen und dem vorhandenen Vermögen angemessen an der Entschädigung der Opfer zu beZu Protokoll gegebene Reden
teiligen, legt Grünenthal nun noch einen eigenen, völlig
intransparenten Hilfsfonds auf, bei dem jetzt die Opfer
um Hilfe betteln dürfen. Hier werden - die unzureichende Versorgung der Menschen mit Conterganschäden und ihrer Angehörigen durch den Staat und die dafür zuständige Stiftung ausnutzend - die Betroffenen
zusätzlich gedemütigt, es wird Ungleichheit geschaffen
und Missgunst geschürt. Und die Bundesregierung? Sie
schweigt und lässt Grünenthal gewähren. Das ist, so
meine ich, skandalös.
Die Linke fordert, dass die Firma Grünenthal bzw.
die Familie Wirtz endlich zur Entschädigung herangezogen wird. Denkbar ist zum Beispiel die Einzahlung von
30 Prozent des Jahresgewinns der Unternehmen der Familie Wirtz an die Conterganstiftung sowie die Einzahlung von Erlösen aus Unternehmensveräußerungen bis
zur Höhe der durch den Bund seit 1972 geleisteten Zahlungen.
Auch eine offizielle Entschuldigung durch Bundestag,
Bundesregierung und Justiz gegenüber den Contergangeschädigten, ihren Eltern und weiteren Angehörigen
steht bis heute aus. Deswegen schlägt die Linke vor, dass
der Deutsche Bundestag endlich alle contergangeschädigten Menschen und ihre Angehörigen für das ihnen
angetane Unrecht und Leid um Entschuldigung bittet.
Aus der Übernahme der Gesamtverantwortung durch
die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich - das hat
das Bundesverfassungsgericht bestätigt - ein Anspruch
der geschädigten Personen und ihrer Angehörigen nach
dem Sozialen Entschädigungsrecht. Diesem Recht wird
bisher nur unzureichend entsprochen, unter anderem mit
dem „Argument“, sie hätten ja keine „Sonderopfer für
den Staat“ erbracht.
Katastrophal ist die derzeitige Lebenssituation der
Conterganopfer und ihrer Angehörigen. Bereits in der
Beschlussempfehlung des Bundestages vom 20. Januar
2009 ({1}) hieß es: „Heute leiden die
Betroffenen zunehmend an schmerzhaften Spätfolgen
durch die jahrelange Fehlbelastung von Wirbelsäule,
Gelenken und Muskulatur und auch eine Überbeanspruchung der Zähne. Hinzu kommen psychische Belastungen und berufliche Beeinträchtigungen.“ Die Lebenssituation der Betroffenen ist also seit mindestens vier
Jahren bekannt. Und sie hat sich seitdem weiter verschärft. Das ist mit der Studie des Gerontologischen Instituts der Universität Heidelberg inzwischen auch wissenschaftlich belegt.
Eine Ursache für die katastrophale Situation ist, dass
das Behindertenrecht in Gänze nicht auf Selbstbestimmung, umfassende Teilhabe, freie Persönlichkeitsentfaltung und ein Leben in Würde ausgerichtet ist, obwohl
das Grundgesetz, das Bundesgleichstellungsgesetz, das
Sozialgesetzbuch IX und vor allem die seit dem 26. März
2009 in Deutschland geltende UN-Behindertenrechtskonvention dies gesetzlich garantieren müssten. Je
nachdem wann und in welchem Zusammenhang man
seine Behinderung erwarb, werden gesundheitliche Versorgung, soziale Absicherung, Kompensationen in der
Kinder- und Jugendzeit während der Erwerbstätigkeit
und im Alter eher willkürlich „gewährt“.
Die zweite Ursache ist, dass die Bundesregierung und
die dafür vor 40 Jahren extra geschaffene Conterganstiftung ihre Pflichten nicht erfüllen.
Die bisher gezahlten „Conterganrenten“ und weitere
finanzielle Leistungen reichten nicht, um das Leben einigermaßen erträglich zu gestalten und bestehende Nachteile zu kompensieren. Finanzielle Nachteile - zum Beispiel Verdienstausfälle - für die Betroffenen und ihre
Angehörigen kamen zu den direkten Schädigungen in
Folge von Contergan hinzu. „Schmerzensgeld“ wurde
bisher nicht gezahlt. Es mangelt auch an Beratung und
Hilfe zur Selbsthilfe. Alles, was die Bundesregierung
und die in ihrem Auftrag handelnde Stiftung in den letzten 40 Jahren tat, war die mehr schlechte als rechte Erfüllung von gesetzlichen Pflichten. Eigene Initiativen zur
Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen?
Fehlanzeige! Alles, was in den letzen Jahren an positiven
Veränderungen erreicht wurde, war mühsamer Kampf
der Betroffenen.
Inzwischen wird wenigstens kein Stiftungsgeld mehr
in Projekte gesteckt, die mit den Conterganopfern nichts
zu tun haben. Inzwischen sitzen wenigstens zwei von den
Betroffenen selbst gewählte Vertreter im Stiftungsrat.
Aber noch sind Menschen mit Conterganschäden und
ihre Interessenvertretungen in den Gremien der Conterganstiftung unterrepräsentiert. Die Vertreterinnen
und Vertreter der Bundesregierung haben die Mehrheit
im Stiftungsrat und Stiftungsvorstand und üben die
Rechtsaufsicht/Kontrolle über die Stiftung aus. Das
Ministerium kontrolliert sich selbst und „mauert“, wo es
nur kann, wenn es um Transparenz und Mitbestimmung
der Betroffenen geht.
Dass es auch anders geht, beweist die Arbeit von
zahlreichen anderen Stiftungen mit Bundesbeteiligung
({2}). Die Linke fordert deswegen: Die Stiftung
muss ({3}) in die Hände und Füße der Conterganopfer, und die Vertreter des Bundes sollten vom Bundestag gewählt werden.
Die im vorliegenden Antrag vorgeschlagenen Änderungen im Conterganstiftungsgesetz sowie die weiteren
Maßnahmen hat sich die Linke nicht am Schreibtisch
ausgedacht. Sie sind das Ergebnis umfassender Diskussionen mit den Betroffenen und ihren Organisationen;
sie finden sich wieder in den Empfehlungen der Universität Heidelberg, die im Auftrag des Bundestages und
der Conterganstiftung eine umfassende Studie zur Lebenssituation der Conterganopfer erstellte; sie basieren
auf detaillierten Analysen und seriösen Berechnungen
der Betroffenen. Ich verweise hier auf die Stellungnahme
von Udo Herterich im Gespräch mit dem Familienausschuss des Bundestages am 17. Oktober 2012.
Die wesentlichsten Vorschläge bzw. Forderungen
möchte ich hier noch einmal nennen:
Erstens sind Conterganrenten und Kapitalentschädigungen, die nach § 12 Abs. 2 des Conterganstiftunsgesetzes beantragt wurden bzw. werden, rückwirkend zu
zahlen; denn die Schädigung durch Contergan gibt es
Zu Protokoll gegebene Reden
bei allen nicht mit Antragstellung, sondern seit der Geburt.
Zweitens werden die monatlichen Entschädigungsleistungen rückwirkend zum 1. Januar 2012 um 300 Prozent erhöht.
Drittens sind behinderungsbedingte Nachteilsausgleiche sowie Kosten für bedarfsgerechte Assistenz- und
Pflegeleistungen sowie Umbaumaßnahmen in der Wohnung und am Pkw durch zusätzliche einkommens- und
vermögensunabhängige Leistungen aus der Conterganstiftung zu erstatten, solange diese nicht durch die Leistungen aus den Sozialgesetzen kompensiert werden.
Maßstab ist dabei das Soziale Entschädigungsrecht.
Viertens müssen Folgeschäden im Sinne der ersten
Handlungsempfehlung der Universität Heidelberg anerkannt werden. Die „medizinische Punktetabelle“ zur
Bewertung der Körperschäden ist entsprechend zu überarbeiten und auf maximal 200 Punkte zu erweitern.
Fünftens ist ein Schmerzensgeld, abgestuft nach dem
aktuellen Punktesystem, ausgehend von 1 Million Euro
= 100 Schadenspunkte, zu zahlen.
Ich meine, der Antrag der Linken ist eine gute Grundlage, um in der geplanten öffentlichen Anhörung des Familienausschusses im Januar 2013 nicht nur den Antrag
und den Bericht über die Studie der Universität Heidelberg zu beraten, sondern auch über einen gemeinsamen
Gesetzentwurf für ein Drittes Conterganstiftungsänderungsgesetz.
Abschließend noch ein letzter Gedanke. Auch wenn
die Lebenssituation der Betroffenen vor allem den Blick
bzw. Aktivitäten nach vorn verlangen, brauchen wir eine
angemessene Aufarbeitung der Geschichte. Die bisherigen Weigerungen der Bundesregierung und der Conterganstiftung sind nicht länger hinnehmbar. Deswegen
fordern wir die Bundesregierung auf, einen Forschungsauftrag zur Geschichte und Herkunft des in Contergan
verwendeten Wirkstoffes sowie zur Geschichte des Conterganskandals unter aktiver Einbeziehung bzw. Mitwirkung der Betroffenen auszulösen. Das sind wir den noch
lebenden und vor allem den vielen bereits verstorbenen
Conterganopfern sowie ihren Müttern, Vätern und weiteren Angehörigen schuldig.
Die Firma Grünenthal produzierte und vertrieb Ende
der 50er-Jahre insgesamt 22 thalidomidhaltige Medikamente, darunter das als ungiftig beworbene Contergan.
Innerhalb weniger Jahre machten diese Medikamente
insgesamt 50 Prozent des Gesamtumsatzes des Unternehmens aus. Obwohl es bereits in dieser Zeit eine politische und fachliche Diskussion über schädigende Auswirkungen von Medikamenten bei Einnahme während
der Schwangerschaft gab, hatte der Staat zu Beginn der
Debatte um mögliche schädliche Auswirkungen von
Contergan in diesem Zusammenhang keine Interventionsbefugnis. Erst durch öffentlichen Druck konnte
Grünenthal dazu gezwungen werden, das Medikament
vom Markt zu nehmen.
Der Conterganskandal hat unsere Gesellschaft verändert. Er hatte, wenn auch zeitlich verzögert, erst in
den 70er-Jahren Konsequenzen für das Arzneimittelrecht. Die Vorgaben zur Arzneimittelsicherheit wurden
verbessert.
Während Grünenthal erhebliche Gewinne machte,
wurde und wird den Geschädigten in mehrfacher Hinsicht Unrecht getan: Zeit ihres Lebens wurden sie von
medizinischer Forschung objektiviert, sie wurden als
„Missgeburten“ bezeichnet und wahrgenommen. Für
den Verlust an Lebensqualität, den sie erleben, sind sie
bis heute nicht angemessen entschädigt worden. Sie
müssen bis heute mit Krankenkassen um die Finanzierung ihrer Heil- und Hilfsmittel kämpfen. Mit zunehmenden Alter nehmen auch ihre Schmerzen zu, während
gleichzeitig soziale Unterstützungsnetzwerke, etwa durch
den Tod der Eltern, wegbrechen.
Als wir hier das letzte Mal über die Situation Contergangeschädigter gesprochen haben, war uns klar, dass
die Zahlungen, die sie zur Deckung ihrer Bedarfe erhalten, nicht ausreichend sind. Im Wissen um die unangemessene Versorgungssituation der Betroffenen wurden
damals unter anderem die sogenannten Conterganrenten verdoppelt. Die Forderung der Grünen-Fraktion,
im Rahmen einer Studie die Bedarfe genau zu ermitteln,
damit auf dieser Grundlage über weitere Verbesserungen entschieden werden kann, wurde von der damaligen
Bundesregierung aufgegriffen und eine Studie an der
Universität Heidelberg in Auftrag gegeben.
Die Ergebnisse, die uns aus dieser Studie vorliegen,
sind zwar erst vorläufig, dafür aber um so deutlicher:
Ungedeckte Bedarfe belasten Contergangeschädigte in
einem Ausmaß, das fast nicht vorstellbar ist, wenn man
nicht täglich damit lebt. Fast 85 Prozent der Befragten
leiden an Schmerzen, ihre Bedarfe an Medikamenten,
Hilfsmitteln, rehabilitativen Maßnahmen und physikalischer Therapie sind in großen Teilen nicht gedeckt.
Nur wenige sind finanziell in der Lage, sie in Eigenleistung zu finanzieren. Der Bedarf an Assistenz im Alltag
wird zunehmen, er ist bereits jetzt nicht ausreichend gedeckt. Ein bemerkenswerter Teil der Geschädigten kann
aufgrund der Schädigung und mangelnder Versorgung
nicht mehr arbeiten, entsprechend bestehen Verdienstausfälle.
Für uns kann das nur eins bedeuten: Wir müssen handeln, und zwar jetzt! Die Betroffenen werden immer älter, ihre Schmerzen nehmen zu. Ihre Bedarfe werden
steigen. Deswegen müssen wir jetzt den Schadensausgleich verbessern und regelmäßig überprüfen.
Es wurde bereits diskutiert, inwiefern die Versorgung
der Contergangeschädigten über das System der Sozialversicherungen geleistet werden kann. Ich habe schon
von den Kämpfen gesprochen, die sich die Geschädigten
mit den Krankenkassen immer wieder liefern müssen.
Die Kassen weigern sich hartnäckig, Kosten für nötige
Heil- und Hilfsmittel zu übernehmen. Zahnimplantate
werden nicht gezahlt, selbst wenn Geschädigte sich aufgrund verkürzter Arme Prothesen nicht selbstständig
einsetzen können. Das ist nicht das einzige Beispiel, es
gibt zahlreiche. Auch die explizite Aufforderung des
Zu Protokoll gegebene Reden
Ministeriums an die Krankenversicherungen, im Falle
Contergangeschädigter unbürokratisch zu agieren, konnte
daran nichts ändern. Auch wenn nachvollziehbar ist,
dass die Kassen Leistungen zum Ausgleich der Folgen
einer Schädigung nicht aus Versicherungsbeiträgen finanzieren möchten, hätte ich mir angesichts der Situation Contergangeschädigter eine konstruktivere Zusammenarbeit und weniger Rücksichtslosigkeit gewünscht.
Für uns ist die Konsequenz aus diesen Erfahrungen allerdings eindeutig: Wir müssen die Finanzierung anders
absichern als über die gesetzliche Krankenversicherung. Die Frage, wie man grundsätzlich damit umgeht,
dass Krankenkassen scheinbar unbeeindruckt von politischen Entscheidungen ihre eigenen Ziele verfolgen, ist
eine, die wir dringend angehen müssen, aber nicht im
Rahmen der Entschädigung von Conterganopfern regeln
können.
Ich habe es schon gesagt: Wir müssen schnell handeln. Aus meiner Sicht ist es bereits jetzt möglich, auf
der Grundlage der Ergebnisse der Heidelberger Studie
die Conterganrenten zu erhöhen. Selbst wenn bisher
keine detaillierten Zahlen vorliegen: Sollte bei der Berechnung eine Unschärfe zugunsten der Betroffenen entstehen, so ist das vor dem Hintergrund der vergangenen
Jahre ohne Frage hinnehmbar.
Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Haftungsnachfolge der Firma Grünenthal. Die Finanzierung von notwendiger Assistenz und von Hilfen im Alltag, von Pflege, von rehabilitativen und therapeutischen
Maßnahmen, von Umbaumaßnahmen zur Steigerung der
Barrierefreiheit im Wohnbereich und die Finanzierung
eines Kraftfahrzeugs über die „Rente“ ist systematisch
gerechtfertigt. Das sollte uns nicht davon abhalten, weiterhin auf Grünenthal einzuwirken, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Dass die Firma moralisch in der
Pflicht steht, ist wohl schwerlich zu widerlegen.
Natürlich ist eine Nachbefragung durch die Universität Heidelberg zur Ermittlung der tatsächlichen Verluste, die den Betroffenen durch die Conterganschädigung entstanden sind, weiterhin geboten. Ich halte es
weiterhin für nötig, auch nach der jetzt durchzuführenden Erhöhung der Renten weiter darüber zu sprechen, in
welcher Höhe den Geschädigten eine finanzielle Kompensation für den Verlust an Lebensqualität geleistet
werden kann. Wie hoch eine solche zusätzliche Zahlung
ausfallen sollte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ich bin der Überzeugung, dass wir darüber mit
Blick auf die Entschädigungszahlungen, die Opfer von
Medikamentenskandalen heute bekommen, weiter diskutieren müssen.
Abschließend möchte ich mich bei allen Betroffenen
bedanken, die uns noch immer konstruktiv darin unterstützen, die Situation zu verbessern. Ich kann Ihren Ärger darüber, wie lange nichts oder zu wenig getan
wurde, verstehen: Er ist gerechtfertigt - genau wie das
Ende der Geduld. Es ist nun Aufgabe dieses Parlaments,
zügig einen Beschluss zu fassen, der Ihnen ein Leben in
Würde ermöglicht.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11041 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 30:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksachen 17/10749, 17/10962 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/11185 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß ({1})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/11188 Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer ({3})Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({4})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Im Jahr 2008 wurde in Deutschland das sogenannte
Schornsteinfegermonopol abgeschafft. Man wollte damit europäischen Vorgaben entsprechen. Bis dato hatte
jeweils ein Bezirksschornsteinfegermeister für einen der
rund 8 000 Kehrbezirke in Deutschland das alleinige
Überwachungs- und Kehrrecht. Nach Ablauf einer
Übergangszeit sind die Bezirksschornsteinfegermeister
ab dem 1. Januar 2013 anderen Handwerksberufen
gleichgestellt. Das neue Berufsrecht der Schornsteinfeger hat mittel- bis langfristig Auswirkungen auf die gesetzliche Zusatzversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister. Bislang war ihre Alterssicherung durch eine
sich über das gesamte Arbeitsleben erstreckende
Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung und im Zusatzversorgungssystem der Versorgungsanstalt der deutschen Bezirksschornsteinfegermeister
sichergestellt. Die Beibehaltung der bisherigen Pflichtversicherung wird jedoch durch die Gleichstellung der
Bezirksschornsteinfegermeister mit den übrigen Handwerksberufen aus praktischen und rechtlichen Gründen
höchst problematisch. Mit dem Gesetz zur Neuordnung
der Altersvorsorge bevollmächtigter Bezirksschornsteinfeger, das wir heute im Deutschen Bundestag beschließen, regeln wir die Altersversorgung der Schornsteinfeger in verlässlicher Weise neu. Damit zeigen wir
durch konkretes Handeln: Das deutsche Handwerk
Peter Weiß ({0})
- auch das Schornsteinfegerhandwerk - kann sich auf
die Koalition von CDU/CSU und FDP verlassen.
Grundsätzlich gilt für die Zukunft: Die Handwerkerregelung in der deutschen Rentenversicherung greift auch
für Schornsteinfeger.
Es ist unstrittig, dass mit der folgerichtig einhergehenden Schließung des umlagefinanzierten Versorgungswerks der Bezirksschornsteinfegermeister Ende
2012 das Altersversorgungssystem überdacht und angepasst werden muss. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
stellen wir sicher, dass die bisher geleisteten Beiträge an
das Versorgungswerk nicht verloren gehen, sondern in
der neuen Pflichtversicherung gutgeschrieben werden.
Die bisherigen Renten der circa 6 500 Rentenempfänger
werden fortgezahlt, und die bis zum Stichtag erworbenen
Anwartschaften der circa 7 700 Bezirksschornsteinfegermeister sollen weitgehend erhalten bleiben. Der Gesetzentwurf sieht ferner vor, dass nach dem 31. Dezember 2012 keine neuen Anwartschaften in dem System
mehr erworben und keine neuen Beträge mehr erhoben
werden.
Im parlamentarischen Verfahren sind einige zunächst
anvisierte Regelungen überdacht und zugunsten der
Schornsteinfeger entsprechend geändert worden. Ich bin
froh, dass wir in Abstimmung mit dem Berufsstand der
Schornsteinfeger eine gute Lösung gefunden haben.
Lassen Sie mich dies an zwei Neuregelungen verdeutlichen:
So haben wir dem Umstand, dass Jungmeister erst in
den letzten fünf Jahren vor Schließung des Zusatzversorgungswerks dessen Pflichtmitglieder geworden sind,
Rechnung getragen. Ihnen drohte eine Versorgungslücke. Wegen der allgemein geltenden fünfjährigen Wartezeit hätten sie noch keinen Anspruch auf Ruhegeld gehabt, obwohl sie Beitragszahlungen geleistet haben. Es
wäre höchst ungerecht gewesen, würden ihre Anwartschaften mit der Schließung des Zusatzversorgungssystems verloren gehen - zumal die Jungmeister aufgrund
des Systems zu den Beitragszahlungen verpflichtet waren. Zwar bleibt die Fünf-Jahres-Frist auch künftig bestehen - und da keine neuen Anwartschaften in diesem
System aufgebaut werden können, kann sie im Einzelfall
nicht mehr erfüllt werden -, doch haben wir eine Klausel
geschaffen, mit der die Anwartschaften für Ruhegeld,
Witwen-, Witwer- und Waisengeld aufrechterhalten werden können. Wie bei der freiwilligen Versicherung in der
gesetzlichen Rentenversicherung sollen entsprechende
Beiträge in die Zusatzversorgung nachgezahlt werden
können. Bis 30. Juni 2013 müssen dabei die Beiträge
von 605 Euro für jeden fehlenden Monat, im Beitrittsgebiet 532 Euro, entrichtet werden.
Wichtig war uns insbesondere auch die Neuregelung
des Ruhegelds der Bezirksschornsteinfegermeister bei
Berufsunfähigkeit. Wer berufsunfähig wird, muss sich
darauf verlassen können, durch seine entrichteten Beiträge im vereinbarten Umfang abgesichert zu sein. Der
Gesetzentwurf sah den Bestand dieses Vertrauensschutzes zunächst ausschließlich für Bezirksschornsteinfegermeister vor, die zum Stichtag 1. Januar 2013 50 Jahre
oder älter sind. Diese Regelung hätte jedoch zu kurz gegriffen. Sie hat nicht berücksichtigt, dass es für viele Bezirksschornsteinfeger unter 50 Jahren gar nicht mehr
möglich sein kann, überhaupt oder unter angemessenen
Bedingungen eine adäquate Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen. Auch jene Versicherten, die jahrelang Beiträge für ihren Berufsunfähigkeitsschutz eingezahlt haben, würden nicht berücksichtigt werden. Im
parlamentarischen Verfahren haben wir auch hier Verbesserungen erlangen können und den Kreis der Versorgungsberechtigten erweitert. So wird der Vertrauensschutz der Berufsunfähigkeitsversicherung auf alle
40-jährigen und älteren betroffenen Bezirksschornsteinfeger ausgedehnt. Diese Altersgrenze von 40 Jahren ist
keinesfalls willkürlich gesetzt, sondern ergibt sich zum
einen aus einem Vergleich mit dem parallelen Systemwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung 2000/
2001. Hier hatte der Gesetzgeber bei der Reform der
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für über
40-jährige Personen eine Vertrauensschutzregelung geschaffen. Zum anderen ist es für unter 40-jährige Personen durchaus machbar, zu angemessenen Bedingungen
eine adäquate Versicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit abzuschließen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden: Es ist gelungen, eine wirklich zufriedenstellende Lösung für die
Altersvorsorge der Schornsteinfegermeister zu finden.
Und wir haben die Anliegen des Berufsstandes in gelungener Weise aufgegriffen und im Gesetz verankert.
Kurzum: Heute ist ein guter Tag für das deutsche Handwerk.
Im Jahr 2008 wurde das deutsche Schornsteinfegermonopol wegen Europarechtswidrigkeit abgeschafft.
Nach einer Übergangszeit, die noch bis Ende dieses Jahres andauert, unterliegen die Bezirksschornsteinfegermeister weitgehend dem freien Wettbewerb und sind damit anderen Handwerksberufen gleichgestellt. Vor diesem
Hintergrund war es erforderlich, dass die bisherige spezifische Alterssicherung der Bezirksschornsteinfegermeister an die neuen Gegebenheiten angepasst wird.
Nach einem über Jahre geführten intensiven Diskussionsprozess konnte im Spätsommer 2012 endlich eine
Einigung auf ein konkretes Neuordnungskonzept erzielt
werden. Diese Einigung darf als Erfolg gewertet werden auch und gerade für den Berufsstand. Dieser hat jetzt
nach Jahren der Ungewissheit endlich Planungssicherheit.
Was sind die zentralen Regelungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung?
Die Bezirksschornsteinfegermeister werden künftig in
der gesetzlichen Rentenversicherung sonstigen selbstständigen Handwerkern gleichgestellt; sie erhalten also
eine Befreiungsmöglichkeit in Bezug auf die Versicherungspflicht nach 18 Pflichtbeitragsjahren. Das umlagefinanzierte Zusatzversorgungssystem wird Ende 2012
geschlossen. Die bisherigen Zusatzrenten werden fortgezahlt. Die bis zum Stichtag erworbenen Anwartschaften bleiben erhalten. Die Leistungen werden künftig wie
in der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert. Zur
Zu Protokoll gegebene Reden
Finanzierung der Leistungen wird zunächst das in der
Zusatzversorgung aufgebaute Kapitalpolster in Höhe von
circa 240 Millionen Euro aufgebraucht. Anschließend
übernimmt der Bund die Leistungen.
Alle Beteiligten sind sich einig, dass die Neuordnung
der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister erforderlich und der Gesetzentwurf der Bundesregierung im Grunde sachgerecht ist. Auch der Berufsstand
und der Bundesrat sind grundsätzlich einverstanden. Allerdings gab es noch weitergehende Forderungen. Das
ist nicht überraschend und auch das gute Recht der Betroffenen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich festhalten,
dass es sich das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales nicht leicht gemacht hat. Es hat die
Forderungen des Berufsstandes intensiv geprüft und
langwierige Verhandlungen mit dem Bundesministerium
für Finanzen geführt. Am Ende des Tages aber hatten
sich die Kassenwarte durchgesetzt mit der Begründung,
die Schmerzgrenze für den Bund sei erreicht, die Abwicklung des Zusatzversorgungssystems werde circa
1,6 Milliarden Euro im Barwert kosten.
Dieselben Verhandlungen ums liebe Geld haben wir
im Deutschen Bundestag mit den Haushaltskollegen geführt. Auch diese Gespräche waren alles andere als einfach. Es gab einen Dissens zur künftig erwarteten
Anzahl von Berufsunfähigkeitsfällen, der nicht lösbar
erschien und von dem die prognostizierte Belastung des
Bundes abhing. Auch hier möchte ich dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales danken, das uns bei diesen Gesprächen mit Rat und Tat zur Seite stand. Ende
gut, alles gut. Letztlich haben wir uns mit den Haushaltskollegen einigen können.
Die zentrale Verbesserung für die Schornsteinfeger
ist der erweiterte Berufsunfähigkeitsschutz. Wir stellen
sicher, dass der Berufsunfähigkeitsschutz im Zusatzversorgungssystem für die 40-jährigen und älteren Bezirksschornsteinfegermeister weiter gilt. Damit greifen wir
einen ausdrücklichen Wunsch des Berufsstandes und
eine entsprechende Forderung des Bundesrates auf. Der
Regierungsentwurf sah Vertrauensschutz erst ab einem
Alter von 50 Jahren vor.
Für über 40-jährige Versicherte ist es auf dem freien
Markt aber nahezu ausgeschlossen, sich zu angemessenen Konditionen privat gegen das Risiko der Berufsunfähigkeit zu versichern. Eine entsprechende Vertrauensschutzregelung gibt es zudem auch in der gesetzlichen
Rentenversicherung. Vor knapp zwölf Jahren hat die rotgrüne Bundesregierung den Berufsunfähigkeitsschutz in
der gesetzlichen Rentenversicherung mit Wirkung zum
1. Januar 2001 privatisiert. Vertrauensschutz gab es lediglich für Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren waren, die also zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
der Reform 40 Jahre alt waren. Was für die Versicherten
der gesetzlichen Rentenversicherung gilt, muss auch
für die Bezirksschornsteinfegermeister gelten. Gleiches
Recht für alle. Deshalb haben wir gestern im Ausschuss
für Arbeit und Soziales mit einem Änderungsantrag den
erforderlichen gesetzlichen Gleichklang hergestellt.
Diese Verbesserung gibt es aber nicht zum Nulltarif.
Den Berufsunfähigkeitsschutz gibt es vielmehr nur, wenn
die Betroffenen nicht von ihrem Befreiungsrecht in der
gesetzlichen Rentenversicherung Gebrauch gemacht haben und nicht später als zwei Jahre nach Aufhebung der
Bestellung berufsunfähig geworden sind. Andernfalls
müsste die Zusatzversorgung aufgrund der Gesamtversorgungssystematik die komplette Absicherung des Berufsunfähigkeitsschutzes übernehmen. Außerdem muss
der nachlaufende Berufsunfähigkeitsschutz in einem
zeitlichen Zusammenhang mit der spezifischen Tätigkeit
als Bezirksschornsteinfegermeister stehen. Ansonsten
stünde dieser Schutz unter Umständen auch Personen
zu, die lange zuvor aus dem Beruf ausgeschieden sind.
Beides aber kann niemand wollen, und beides hat auch
der Berufsstand zu keinem Zeitpunkt gefordert. Mit unserem Änderungsantrag haben wir dies nunmehr gesetzlich klargestellt.
Und in einem weiteren Punkt haben wir es für sinnvoll gehalten, den Schornsteinfegern entgegenzukommen. Für diejenigen, die wegen der Schließung des
Zusatzversorgungssystems noch nicht die fünfjährige
Wartezeit erfüllt haben, schaffen wir die Möglichkeit,
Beiträge nachzuzahlen, damit die Anwartschaften nicht
verloren gehen. Auch dies haben wir gestern mit unserem Änderungsantrag sichergestellt.
Beide Änderungen stoßen beim Berufsstand der Bezirksschornsteinfegermeister auf viel Wohlwollen. Das
zeigt: Die christlich-liberale Koalition steht für eine Sozialpolitik mit Augenmaß.
Die im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehene Neuordnung der Altersversorgung der
Bezirksschornsteinfegermeister ist notwendig. Mit
Ablauf des Jahres 2012 endet aus europarechtlichen
Gründen das deutsche Schornsteinfegermonopol. Die an
das Monopol anknüpfende Alterssicherung muss ab
2013 neu geregelt werden. Darüber hinaus enthält der
Gesetzentwurf auch Regelungen zur Arbeitsförderung.
Wir hatten uns gewünscht, dass die Bundesregierung
ihren Entwurf hinsichtlich der Neuordnung der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister in
Bezug auf einzelne Vertrauensschutzregelungen noch
einmal überprüft, zumal die entsprechenden Innungen
und Verbände sowie der Bundesrat auf Probleme hingewiesen haben, die die Umstellung der Alterssicherung
vor allem für Existenzgründer birgt. In Teilen sind Sie
diesem Wunsch auch nachgekommen, trotzdem bleibt
Ihr Änderungsantrag leider unzureichend.
Während der Beratung im Ausschuss für Arbeit und
Soziales hatten wir vorgeschlagen, Einzelheiten noch
einmal in einem Berichterstattergespräch zu erörtern.
Leider gingen weder die Koalitionsfraktionen noch die
Bundesregierung auf unseren Vorschlag ein. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist daher nicht zustimmungsfähig. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich ihrer Stimme enthalten und Ihren Änderungsantrag
ablehnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Jahr 2008 mussten wir auf ein durch die EUKommission eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren
reagieren. Der Entwurf eines „Gesetzes zur Neuregelung des Schornsteinfegerwesens“ sieht - nach einer
Übergangszeit bis Ende 2012 - vor, das Schornsteinfegermonopol aufzuheben - die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben wird auf ein Minimum reduziert. Damit
muss auch die Umstellung von einer Gesamtversorgung
in der Alterssicherung zu einem beitragsäquivalenten
System erfolgen.
Gegenwärtig sind Bezirksschornsteinfegermeister als
Handwerker in der gesetzlichen Rentenversicherung
pflichtversichert. Im Gegensatz zu allen anderen Handwerkern endet die Versicherungspflicht aber nicht nach
18 Jahren; sie sind während des gesamten Erwerbslebens in der Rentenversicherung pflichtversichert.
Daneben besteht für sie eine Zusatzversorgung, die aus
Mitteln der Versorgungsanstalt und Beiträgen finanziert
wird. Die Alterssicherung dieses Personenkreises ergibt
sich also aus einer Gesamtversorgung. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung regelt nun für die Zeit nach
Aufhebung des Monopols die Schließung der Zusatzversorgung.
Ab nächstem Jahr unterliegen die Bezirksschornsteinfegermeister dem freien Wettbewerb und sind damit
anderen Handwerksmeistern gleichgestellt. Eine zusätzliche verpflichtende Versorgung neben der gesetzlichen
Rentenversicherung ist daher nicht mehr begründbar.
Die Aufrechterhaltung der Zusatzversorgung erscheint
auch aus finanziellen Gründen nicht sinnvoll. Zum einen
geht die Zahl der Beitragszahler kontinuierlich zurück
- derzeit kommen auf 6 500 Rentenempfänger
7 700 aktive Bezirksschornsteinfegermeister -, zum anderen können die Beiträge nicht mehr aus den öffentlichrechtlichen Kehrgebühren finanziert werden.
Die rechtlichen Anpassungen erfolgen nach dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung im Schornsteinfeger-Handwerksgesetz: Die Schließung der Zusatzversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister bedeutet,
dass zum Stichtag 31. Dezember 2012 keine neuen Anwartschaften mehr erworben werden können, Bestandsrenten aber weiter gezahlt werden. Zur Finanzierung
der Leistungen wird das vorhandene Vermögen der
Versorgungsanstalt eingesetzt. Im Anschluss werden die
Leistungen vom Bund übernommen. Die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgt
nunmehr zu gleichen Bedingungen wie die der Handwerksmeister. Das heißt, die erwerbslebenslange Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung
endet nach 18 Jahren.
Die Übergangsvorschriften beinhalten versorgungsrechtliche und Regelungen zum Vertrauensschutz: Bestandsrenten werden weiter gezahlt; sie werden jedoch
nicht mehr den Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst
angepasst, sondern werden entsprechend den Steigerungen in der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert.
Die bis zum Stichtag erworbenen Anwartschaften der
aktiven Bezirksschornsteinfegermeister werden in eine
„Startgutschrift“ umgerechnet, die Basis der individuellen Rentenberechnung beim Renteneintritt ist. Zunächst
sollte der Vertrauensschutz bei Berufsunfähigkeit erst ab
dem 50. Lebensjahr gelten. Mit dem Änderungsantrag
wird der Vertrauensschutz nun jedoch auch auf jüngere
Bezirksschornsteinfegermeister ab dem 40. Lebensjahr
ausgedehnt. Gezahlte Beiträge können zurückerstattet
werden, soweit noch kein Versorgungsanspruch besteht
bzw. die fünfjährige Wartezeit noch nicht erfüllt ist. Dies
betrifft vor allem die Jüngeren, die dem Zusatzversorgungssystem erst vor kurzem beitreten mussten.
Im Detail betrachtet, verlangen die vorgesehenen
Übergangsregelungen unseres Erachtens aber dringend
eine Nachbesserung, weil die umstandslose Übertragung von Regelungen der gesetzlichen Rentenversicherung auf die Zusatzversorgung deren Bedingungen nur
unzureichend abbilden kann.
Insofern sehen wir noch Änderungsbedarf in Bezug
auf die im Gesetzentwurf vorgesehene Reduzierung der
Dynamisierung der Bezüge und Kappung der Beitragsrückerstattung.
Zum einen werden in Zukunft die Versorgungsbezüge
nicht mehr nach den Tarifentwicklungen im öffentlichen
Dienst, sondern in Höhe der jährlichen Rentenanpassung der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert.
Zum anderen erfolgt eine schrittweise Reduzierung in
Form einer Halbierung zukünftiger Dynamisierungen
um die in den Jahren seit 2009 erfolgten Erhöhungen
der Versorgungsbezüge um insgesamt 5,2 Prozent. Die
schrittweise Reduzierung erscheint nur schwer nachvollziehbar und ungerechtfertigt, weil die Systemumstellung erst ab 2013 tatsächlich erfolgt.
Die Existenzgründer unter den Bezirksschornsteinfegermeistern sind dazu verpflichtet, in die Zusatzversorgung einzutreten und Beiträge zu entrichten. Sie
können aber womöglich wegen der Schließung der Zusatzversorgung ab 2013 die fünfjährige Wartezeit nicht
mehr erfüllen. Die gezahlten Beiträge können zwar
zurückerstattet werden, nach der ab 2013 geltenden
Vorschrift des § 210 SGB VI jedoch nur zur Hälfte analog zum Arbeitnehmeranteil. Eine Beitragsrückerstattung führt dann unter Umständen zu hohen finanziellen Verlusten.
In der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung lediglich angekündigt,
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob neben der Beitragsrückerstattung die Möglichkeit einer
Nachzahlung fehlender Beiträge in das Zusatzrentensystem eröffnet werden soll.
Überraschenderweise löst Ihr Änderungsantrag nun
zwar das Problem des unzureichenden Vertrauensschutzes bei Berufsunfähigkeit - die Regelung gilt nun schon
ab Jahrgang 1973 und nicht erst ab Jahrgang 1963 -,
die Rückerstattung von Beiträgen ist aber weiterhin unzureichend geregelt. Sie räumen zwar eine zeitlich befristete Möglichkeit für die Nachentrichtung fehlender
Beiträge ein, um Anwartschaften zu erwerben, die
Bedingungen der Beitragsrückerstattung aber bleiben
unverändert. Zudem sehen Sie keine Rücknahme der
ungerechtfertigten Kürzungen bei zukünftigen DynamiZu Protokoll gegebene Reden
sierungen der Versorgungsbezüge vor. Daher sind die
Nachbesserungen insgesamt ungenügend.
Das traditionsreiche Handwerk der Schornsteinfeger
befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Ab dem
nächsten Jahr werden die Schornsteinfeger ihre wichtige Arbeit in einer aufgrund von Europarecht veränderten Wettbewerbsordnung auszuüben haben. Eine Wettbewerbsordnung, die neue Chancen und ungewohnte
Herausforderungen mit sich bringt. Mit Folgewirkungen
auch für das berufsständische Altersversorgungssystem,
das nun für die Zukunft befähigt und neu ausgerichtet
werden muss.
Dabei gilt es, Nachteile und Ungerechtigkeiten für
die Versicherten zu vermeiden. Bis in die letzten Tage
haben wir daher an Änderungen des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfes gefeilt und Anregungen des Berufsstandes diskutiert und in wichtigen
Teilen übernehmen können.
Die Schließung eines bewährten Systems zur Altersvorsorge und die Überführung von circa 7 700 aktiven
Bezirksschornsteinfegern und circa 6 500 Rentenempfängern in ein anderes System ist alles andere als eine einfache Aufgabe. Mir scheint aber, dass es gut gelungen
ist, den Interessen der Betroffenen letztendlich gerecht
zu werden.
Das galt schon weitgehend für den Regierungsentwurf. Das gilt aber insbesondere für die von den Koalitionsfraktionen im Ausschuss noch vorgenommenen Änderungen.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt die Eröffnung der Möglichkeit, fehlende Beiträge für die Zusatzversorgung nachzuzahlen, wenn die vorgesehene fünfjährige Wartezeit nicht erfüllt werden konnte. Ein
Verfallen von Anwartschaften aus diesem Grund wäre
schwer zu akzeptieren gewesen.
Und wir unterstützen die Änderung gegenüber dem
Regierungsentwurf, den Berufsunfähigkeitsschutz auf alle
über 40-Jährigen auszuweiten. Das ist für diese Berufsgruppe sicher sachgerecht, und es orientiert sich an einer ähnlichen Regelung, die seinerzeit beim Wegfall der
Berufsunfähigkeitsrente in der gesetzlichen Rentenversicherung vorgenommen wurde.
Mit diesen Änderungen steht die Altersvorsorge des
Schornsteinfegerhandwerks nach unserer Auffassung
auch in Zukunft auf einer sicheren Basis.
Das Gesetz enthält noch weitere Regelungen aus dem
Bereich der Arbeitsförderung. Ausdrücklich erwähnen
will ich die Verlängerung der Erprobungsphase innovativer Instrumente der Arbeitsmarktpolitik um weitere
drei Jahre. Möglichst individuelle Lösungen zu ermöglichen, ist das zentrale Anliegen unserer Arbeitsmarktpolitik. Die Herausforderungen an eine erfolgreiche
Arbeitsmarktpolitik in Zeiten annähernder Vollbeschäftigung sind nicht gering. Flexibilität und Kreativität der
Entscheider vor Ort sind gefragt und werden von uns
politisch gefördert.
Ebenso positiv sehen wir die Regelung der Berufsorientierungsmaßnahmen für Schüler allgemeinbildender Schulen. Konkrete Einblicke ins Berufsleben sind ein
wichtiger Schritt der berufsvorbereitenden Bildung. In
Zeiten des Fachkräftemangels ist es gut, schon Schüler
gezielt ans Berufsleben heranzuführen und ihre Entscheidungen bereits vor Antritt einer Ausbildung zu unterstützen.
Im Jahr 2008 wurde mit dem Gesetz zur Neuregelung
des Schornsteinfegerwesens das deutsche Schornsteinfegerhandwerk für den Wettbewerb geöffnet. Hintergrund war ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission. Diese hatte seinerzeit behauptet,
dass das deutsche Schornsteinfegergesetz gegen die EURegeln der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit
verstoße. Die Bundesregierung hatte damals nicht alle
Möglichkeiten genutzt, die Tätigkeiten des Schornsteinfegerwesens umfassend als hoheitliche Aufgabe zu
schützen, geschweige denn darauf gedrängt, das
Schornsteinfegerwesen vom Geltungsbereich der
Dienstleistungsrichtlinie auszunehmen. Sie hat mit der
Liberalisierung des Schornsteinfegerwesens billigend in
Kauf genommen, dass die in einem bisher gesicherten
Berufsstand rund 7 700 beschäftigten Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen prekären Beschäftigungsverhältnissen ausgesetzt werden. Zugleich führt die Freigabe
dieser bisher hoheitlichen Aufgabe für den Wettbewerb
zu Abstrichen bei Sicherheit und Umweltschutz sowie zu
Mehrkosten für die Verbraucher und Verbraucherinnen.
Die Fraktion Die Linke hat deshalb seinerzeit gegen die
Abschaffung des Schornsteinfegerprivilegs gestimmt. An
dieser Position halten wir nach wie vor fest.
Da Schornsteinfeger durch die Abschaffung des
Schornsteinfegerprivilegs hinsichtlich ihrer Marktbedingungen jetzt mit anderen selbstständigen Handwerkern gleichgestellt sind, ist die rentenrechtliche
Gleichstellung folgerichtig: Auch Die Linke will alle
Berufsgruppen in die gesetzliche Rentenversicherung
einbeziehen und diese zu einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung ausbauen, um so gleiche Bedingungen für alle zu schaffen.
Zugleich bin ich hocherfreut, dass es dem Bundesarbeitsministerium gelungen ist, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, ohne auf die Beratertätigkeit der Beratungsgesellschaft McKinsey zurückgreifen zu müssen. Ich erinnere daran, dass im Mai dieses Jahres bekannt wurde,
dass Ihr Ministerium, Frau von der Leyen, eine Machbarkeitsstudie zur Einbeziehung von Selbstständigen in
die gesetzliche Rentenversicherung in Auftrag gegeben
hatte. Kostenpunkt: stattliche 1 Million Euro. Begründet
wurde der aus Steuergeldern finanzierte Privatauftrag
damit, dass im Ministerium die notwendigen Kenntnisse
im Detail nicht vorhanden seien. Ich bin gespannt, ob
Frau von der Leyen vorhat, nach Beendigung ihrer
Ministertätigkeit im nächsten Jahr gut dotierte Vorträge
bei McKinsey zu halten.
Umso bemerkenswerter ist es, dass der Frau Ministerin in ihrem Hause scheinbar doch noch ein paar fähige
Zu Protokoll gegebene Reden
Mitarbeiter zur Verfügung stehen, die in der Lage sind,
ein Gesetz ohne millionenteure Beraterverträge zustande zu bekommen. Mit dem hier nun vorliegenden
Gesetz beweisen sie zugleich, dass es möglich ist, einen
Systemwechsel in der Altersvorsorge zugunsten der gesetzlichen Rentenversicherung zu organisieren.
Frau Ministerin von der Leyen, ich erwarte, dass Sie
jetzt endlich ein tragfähiges Konzept zur Einbeziehung
aller Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung vorlegen. Wenn Sie dabei ohne millionenschwere
Beraterverträge auskommen, umso besser.
Ich möchte zunächst die Bundesregierung loben: Sie
hat es geschafft, rechtzeitig einen Gesetzentwurf für die
Neuregelung für Bezirksschornsteinfeger vorzulegen.
Bis Ende des Jahres muss eine Neuregelung vorliegen.
Und das wird jetzt geschafft. Ich möchte die Bundesregierung auch loben, dass sie eine Lösung innerhalb der
Rentenversicherung gesucht hat. Wir begrüßen eine
vollständige Eingliederung der Bezirksschornsteinfeger
in die Rentenversicherung und eine Auflösung des Berufsversorgungswerkes. Ich muss jedoch hinzufügen:
Die Art der Eingliederung ist überhaupt nicht zufriedenstellend.
Ich bekomme immer wieder den Eindruck, dass die
Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen mit
gespaltener Zunge sprechen. Einerseits werden bei der
von der Bundesministerin für Arbeit und Soziales vorgeschlagenen Zuschussrente kontinuierliche Beitragsbiografien verlangt und zur Norm erhoben, auf der anderen
Seite reißt sie neue Lücken in unsere Altersvorsorge und
damit in die Rentenbiografien der Menschen. Auf der einen Seite will die Bundesregierung die bisher nicht
pflichtversicherten Selbstständigen pflichtversichern,
auf der anderen Seite entlässt sie bisher pflichtversicherte Selbstständige aus der Versicherungspflicht. Das
ist ein Zickzackkurs und keine klare Vision und Zielvorgabe für die Weiterentwicklung unserer Alterssicherung.
Worum geht es? Die Bezirksschornsteinfeger sollen
in die gesetzliche Rentenversicherung eingegliedert
werden. So weit, so gut. Gleichzeitig sollen jedoch die
Bezirksschornsteinfeger die Möglichkeit erhalten, nach
18 Jahren mit Versicherungsbeiträgen aus der gesetzlichen Rentenversicherung auszutreten. Die Folge davon
ist, dass man den Bürgerinnen und Bürgern bei Eintritt
eines nicht abgesicherten Risikofalles sagen wird: Selber schuld! Was passiert denn, wenn ein Bezirksschornsteinfeger aus der gesetzlichen Rentenversicherung ausgetreten ist, weil er dachte, da spare ich mir doch die
monatlichen Beiträge, und dann Rückenprobleme bekommt und eine Reha bräuchte? Die Rentenversicherung zahlt dann jedenfalls nicht. Was passiert denn,
wenn ein Bezirksschornsteinfeger nach seinem Austritt
aus der Rentenversicherung eine Erwerbsminderung erleidet? Er wird ein Sozialfall; denn auf die Erwerbsminderungsrente der gesetzlichen Rentenversicherung hat
er den Anspruch verloren.
Wiederholt hat diese Bundesregierung Lücken in die
Altersvorsorge gerissen. Sie hat die Rentenbeiträge für
Arbeitslose gestrichen. Jetzt wiederholt sie den Fehler
bei der Befristung der Versicherungspflicht für Bezirksschornsteinfeger.
Unsere Zielrichtung ist eine andere. Wir haben eine
Vision, eine Zielrichtung für die Weiterentwicklung der
Rentenversicherung: die Bürgerversicherung. Wir sind
der Überzeugung, dass wir die kontinuierliche Vorsorge
von allen Menschen während der Erwerbsphase brauchen, nicht nur für das Alterseinkommen, sondern auch
für den Fall der Erwerbsminderung und bei Rehabedarfen.
Wir sind der Überzeugung, dass eine gesetzliche Rentenversicherung, die alle einbezieht, Ausdruck einer solidarischen und inklusiven Gesellschaft ist. Wir sind der
Überzeugung, dass es auch eine Frage der ökonomischen Vernunft ist, dass in der Alterssicherung alle, die
sich in der gleichen wirtschaftlichen Situation befinden,
gleich behandelt werden. Der heute existierende gesetzgeberische Flickenteppich, der eher willkürlich und unsystematisch bestimmte Gruppen von Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezieht und andere
freistellt, ist allenfalls historisch, nicht aber systematisch
zu begründen und führt zu erheblichen Problemen der
rechtlichen Gleichbehandlung und zu ökonomischen
Fehlanreizen.
Schritte in Richtung einer Bürgerversicherung sind
dringend notwendig. Nur so kann unsere Alterssicherung
dem Anspruch, eine solidarische Alterssicherung zu
sein, gerecht werden. Deswegen haben wir in dieser Legislaturperiode einen Antrag auf die Wiedereinführung
von Mindestrentenbeiträgen für Arbeitslose gestellt.
Und deswegen wollen wir die kontinuierliche Versicherung von bisher nicht pflichtversicherten Selbstständigen in der Rentenversicherung. Und deswegen werden
wir den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen. Wir
schlagen erste, ganz konkrete Schritte hin zu einer Bürgerversicherung vor. Die Bundesregierung hingegen
reißt neue Lücken in die Versicherungsbiografien.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11185, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10749
und 17/10962 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Grünen bei
Enthaltung der SPD angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und Lin24422
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
ken gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wertstoffsammlung verbessern - Mehr Ressourcen aus Abfällen zurückgewinnen
- Drucksache 17/11161 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologie
Die Reden sind auch hier, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Ein Antrag zur Unzeit ist es, weil doch alle Beteiligten wissen, dass der neue Bundesumweltminister mit einem durchaus innovativen Verfahren die Öffentlichkeit
und die Fachleute dazu eingeladen hatte, sich bis Ende
August an einem sehr transparent gestalteten Fachaustausch im Internet zu beteiligen. Dieses Angebot von
Bundesminister Altmaier wurde in hervorragender
Weise angenommen.
Über diese Internetkonsultation hinaus haben natürlich alle Seiten den Minister, andere Minister, das BMU,
das Bundeskanzleramt, die EU, die Bundesländer und
auch uns als Abgeordnete kontinuierlich mit ihren jeweiligen Vorstellungen vertraut gemacht. Wir als Abgeordnete sind seit langem und in dieser Phase besonders intensiv im Gespräch mit Beteiligten auf allen Ebenen.
Der Minister selbst hat während und nach Ende der
öffentlichen Konsultation mit den Koalitionsfraktionen,
mit den Ländern und mit vielen Beteiligten fundierte Gespräche geführt, um in offener Weise alle Möglichkeiten
für eine optimale Regelung zur Einführung eines Wertstoffgesetzes auszuloten.
Wir sind also, das kann man fast „anfassen“, mitten
im Konsultationsprozess für einen möglichen Kompromiss mit den Beteiligten. Wenn man das mit Händen
greifen kann, dann sollten auch die Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen begreifen, dass eine solche
Phase nicht der optimale Zeitpunkt ist, mit einseitigen
Festlegungen den Bundestag als Gesetzgeber festlegen
zu wollen, und damit mögliche Kompromisse, zum Beispiel mit den im Vollzug wichtigen Bundesländern und
den Kommunen wie der privaten Recyclingwirtschaft,
unmöglich zu machen Solche Festlegungen sind so ungeeignet wie der Versuch einzelner selbst Berufener, die
sich als Bote für die Papiere und die Interessen Dritter
aufmachen. Wir werden schon auf einem geordneten
Verfahren und der sorgfältigen Berücksichtigung der
verschiedenen Positionen bestehen müssen. Dies ist der
Weg, den Bundesumweltminister Altmaier eingeschlagen hat, und es ist genau der richtige Weg.
Es wäre vielleicht verdienstvoller und effektiver für
die weitere Verbesserung der Wertstofferfassung und für
den Weg in eine ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft, wenn die Grünen mit den Parteifreunden und
Parteifreundinnen in den Ländern dafür sorgen würden,
dass wir uns bei der Wertstoffsammlung nicht schon wieder so lange im Kreise drehen müssen wie beim Kreislaufwirtschaftsgesetz: wir alle haben in schlechter Erinnerung, dass die dort gefundenen Kompromisse
zwischen Bund, Kommunen und privater Recyclingwirtschaft von der Länderseite zerlegt wurden. Im Ergebnis
haben wir in mühsamen Verhandlungen ein Gesetz erhalten, dass die vorherige Balance nicht mehr beachtet
und das nun vor der EU-Kommission rechtlich angegriffen wird. Natürlich setzen wir darauf, dass dieses Gesetz
europarechtlich Bestand hat; dennoch sind wir alle miteinander klug beraten, wenn wir beim Wertstoffgesetz
nicht in das nächste „tote Rennen“ um Kompromisse gehen, die am Ende nicht halten, weil manche ihre gegebenen Zusagen nicht halten.
In der Sache wäre in Bezug auf den Antrag viel zu
kommentieren. Vieles ist sicher konsensfähig, aber einiges nicht. Ich will hier nicht in die Erörterung eintreten,
ob die Wertstoffsammlung vor Ort in kommunaler, dualer oder privater Trägerschaft erfolgen soll. Auch kann
die sicher notwendige Höherwertigkeit der stofflichen
Verwertung und die Priorisierung der Vermeidung von
Abfällen auf verschiedenen Wegen erreicht werden; hier
hat der Antrag erkennbar nicht den besten Weg vorgezeichnet.
Zur Konstruktion der Rückführung von Wertstoffen
aus Elektro- und Elektonikschrott weist der Antrag einerseits Lücken auf und macht an anderer Stelle falsche
Vorgaben. Die Zukunft der Verpackungsverordnung, so
viel scheint gesichert, ist die, dass sie hoffentlich bald
Vergangenheit ist. Kaum eine Verordnung hat eine solche, teils unselige Tradition, verschiedenste, umstrittene
Inhalte, eine kaum gesicherte Datenbasis ganz zu
schweigen von Schlupflöchern und deren Ausnutzung
und von mangelndem Schutz der eigentlich zu wahrenden Ziele, wie zum Beispiel der Mehrwegquote oder der
stofflichen Verwertung. Für Verbraucher, Produzenten,
Recycler und auch für die politisch Verantwortlichen ist
die Verpackungsverordnung wahrlich keine vergnügungssteuerpflichtige Veranstaltung. Es ist oftmals ein
Hauen und Stechen, und dies oftmals hinter den Kulissen. Hier kann uns der neu aufgesetzte, transparente
Prozess des Bundesumweltministers nur helfen.
Wir wollen die Produktverantwortung als Element für
die Verankerung des Verursacherprinzips verankert sehen, und wir wollen den Missbrauch der Verpackungsentsorgung auf den verschiedensten Ebenen beendet sehen. Wir wollen auch den Kampf um Kampfbegriffe wie
„Fehlwürfe“, „Trittbrettfahrer“ und andere durch eine
solide Validierung von Daten ersetzen. Wir wollen die
Systemfrage ohne Scheuklappen stellen und das beste
System zur Wertstofferfassung der Zukunft etablieren hier darf es keine Denkverbote, keine Erbhöfe und auch
keine Ideologie geben. Es zählt der Beitrag zur Ressourcenschonung, und es zählt das für die Umwelt effizienteste System. Welche Art von Ausschreibung von wie vieMichael Brand
len Teilnehmern, ob mit oder ohne zentrale oder
gemeinsame Stelle oder dezentraler Ausschreibung ohne
oder mit kommunaler Beteiligung mit oder ohne Inhouse-Vergaben - das alles sind Fragen für eine fachliche Erörterung, die wir derzeit durchführen.
Was wir nicht wollen, das ist ein falsch angelegtes
Beratungsverfahren mit schlechter Analyse und falschen
Ergebnissen. Deswegen lehnen wir als CDU/CSU diesen Antrag ebenso ab wie die vielen Versuche, uns vor
dem Ende der Konsultationen des Bundesumweltministers schon vorprogrammieren zu wollen. Wir stehen vernünftigen Vorschlägen unvoreingenommen gegenüber.
Alte Vorschläge in neuer Verpackung sind dann nicht
ratsam, wenn mangelnde Transparenz nur die Eigeninteressen verdecken soll. Alle bleiben eingeladen, sich bei
den laufenden Beratungen einzubringen. Bundesminister Altmaier wird zu gegebener Zeit seine Schlussfolgerungen mit den Betroffenen und innerhalb wie außerhalb der Koalition erörtern. Wir hoffen auf einen
belastbaren Kompromiss zwischen Kommunen, Privatwirtschaft, Bund und Ländern. Das alles muss einem
Ziel dienen: einer effizienten, ressourcenschonenden Lösung. Vorfestlegungen wie dieser Grünen-Antrag helfen
da wenig: die Kompromissfähigkeit von Rot und Grün in
den kommenden Wochen entscheidet mit darüber, ob wir
eine solche Lösung erreichen, oder ob sie diese blockieren, zulasten der Umwelt. Wir bleiben erwartungsvoll
gespannt.
Ich begrüße, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag zur Wertstoffsammlung vorgelegt haben.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die SPD ist für eine
einheitliche Wertstofferfassung. Wir sind für eine Stärkung des vorrangigen Ziels der Abfallvermeidung.
Wir sind für einheitliche Regelungen für die Wertstoffsammlung und deren Anwendung auch für hausmüllähnliche Gewerbesammlungen.
Wir sind für höhere Recyclingquoten ebenso, wie wir
für zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung des Mehrweganteils bei Getränkeverpackungen sind.
Sie merken, dass wir in vielen Punkten mit den Forderungen meiner grünen Kolleginnen und Kollegen übereinstimmen. Lassen Sie mich daher einige grundsätzliche Ausführungen zu einem möglichen Wertstoffgesetz
und zur Verpackungsverordnung machen.
Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert völlig zu Recht die zeitnahe Einführung der Wertstoffsammlung. Bereits in der letzten Novelle der Verpackungsverordnung wurde das Thema problematisiert.
Wir hatten damals durchgesetzt, dass die freiwillige Einführung einer Wertstofftonne und Probeversuche möglich wurden.
Außerdem wurden Gutachten über Inhalt und Ausgestaltung einer Wertstofferfassung in Auftrag gegeben.
Union und FDP haben in ihrer Koalitionsvereinbarung
ein Wertstoffgesetz vereinbart. Das Bundesumweltministerium hat seit Beginn der Legislaturperiode versprochen, noch in dieser Periode ein Wertstoffgesetz zur
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung vorzulegen. Bundesumweltminister Peter Altmaier hat in seinem Zehn-Punkte-Programm die Weiterentwicklung der
Verpackungsverordnung zu einem Wertstoffgesetz als eines seiner Ziele für den Rest der Legislaturperiode angekündigt.
Wenn alle - Union, FDP, Grüne, SPD, Linke, BMU,
Wirtschafts- und Kommunalverbände, Umwelt- und Verbraucherverbände - für eine einheitliche Wertstofferfassung sind, und dies seit vielen Jahren, dann stellt sich
die Frage: Warum haben wir noch kein Wertstoffgesetz?
Warum gibt es keinen Gesetzentwurf des BMU? Die Antwort ist klar: Es war und ist das gleiche Problem wie
beim Kreislaufwirtschaftsgesetz - die unterschiedlichen
Auffassungen innerhalb der Regierung bezüglich der
Zuständigkeit für die Hausmüllentsorgung. Teile der Regierungskoalition und Teile der privaten Entsorgungswirtschaft wollen ein Wertstoffgesetz nutzen, um die
Hausmüllentsorgung weiter zu privatisieren.
Die Hausmüllentsorgung, die Sammlung und Verwertung von Siedlungsabfällen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Daseinsvorsorge. Für uns Sozialdemokraten ist eines ganz klar: Die Hausmüllentsorgung
unterliegt der kommunalen Verantwortung und Zuständigkeit. Dies gilt auch für die Wertstofferfassung. Wir
sind für die einheitliche Wertstofferfassung, aber in
kommunaler Zuständigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von
der FDP, Sie sind bereits beim Kreislaufwirtschaftsgesetz mit dem Versuch einer weiteren Privatisierung gescheitert. Akzeptieren Sie das! Inzwischen sind selbst
Teile der privaten Entsorgungswirtschaft und große
Teile der Union für die kommunale Zuständigkeit bei einer einheitlichen Wertstofferfassung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
wenn Sie Ihren internen Streit über Zuständigkeiten in
der Abfallwirtschaft beilegen, dann gibt es eine gute
Möglichkeit, zügig ein Wertstoffgesetz zu verabschieden.
Dafür ist allerdings auch ein weiteres Eingeständnis
vonnöten. Immer wieder lese ich, auch im 10-PunkteProgramm von Herrn Altmaier und im Thesenpapier des
BMU, die Verpackungsverordnung sei ein Erfolg. So
heißt es in dem Thesenpapier - ich zitiere -: „Mit der
Einbeziehung der produzierenden Wirtschaft in die Entsorgungslast zielt der Verordnungsgeber auf eine Internalisierung der Entsorgungskosten und daraus resultierende Anreize zur Verpackungsvermeidung sowie zum
Einsatz verwertungsfreundlicher Verpackungen. Die
Strategie war erfolgreich: so ist es seit 1991 nicht nur
gelungen, die Entwicklung der Verpackungsmenge vom
allgemeinen Wirtschaftswachstum zu entkoppeln.“ So
weit das Thesenpapier.
Ja, die Verpackungsverordnung hat Erfolge erzielt.
Erstmals wurden Hersteller finanziell an der Entsorgung für ihre Produkte beteiligt. Die Getrenntsammlung
im Haushalt hat sich durchgesetzt. Die Recyclingquoten
Zu Protokoll gegebene Reden
sind stark angestiegen, und eine leistungsfähige Recyclingindustrie ist entstanden.
Aber schauen wir doch einmal genauer hin. In dem
alten und im neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz, in der alten und neuen europäischen Abfallrahmenrichtlinie
steht die Abfallvermeidung an oberster Stelle der Abfallhierarchie. Und, ist es gelungen, die Zahl der Verpackungsabfälle zu senken? Nein.
Nach einem kurzen Rückgang in den 90er-Jahren
stieg die Verbrauchsmenge an Verpackungsmaterialien,
insbesondere bei Kunststoff. Die Gesamtmenge an Verpackungen lag 2010 um fast 400 Kilotonnen höher als
1991, Tendenz steigend. Ebenso ist die Mehrwegquote
eingebrochen. Dies liegt daran, dass Abfallvermeidung
als oberstes Ziel zwar im Gesetz steht, aber nicht in der
Realität.
Die Entsorgungswirtschaft lebt davon, dass die
Menge der von ihr zu entsorgenden Abfälle wächst. Abfallvermeidung ist nicht ihr Ziel, kann es nicht sein.
Auch der Anreiz für die Hersteller, die Zahl der Verkaufsverpackungen zu verringern, sinkt bei billiger werdenden Lizenzgebühren.
Wenn wir es ernst meinen mit der Abfallvermeidung,
dann kann eine „einfache“ Fortführung der Verpackungsverordnung mit Ausweitung des Systems auf stoffgleiche Nichtverpackungen kein zielführendes Konzept
sein.
Betrachten wir weiter die angeblichen Erfolge der
Verpackungsverordnung. So heißt es unter anderem vonseiten der Bundesregierung: „Ausgehend von den Erfahrungen mit der Verpackungsverordnung hat sich der
Wettbewerb mehrerer Anbieter von Erfassungs- und Verwertungsleistungen als effektives Mittel zur Kostensenkung und zur Etablierung effizienter Strukturen erwiesen.“
Diese Aussage des BMU - ähnliche Äußerungen gibt
es von der FDP und aus der privaten Wirtschaft - ist
reine Ideologie. Sie stimmt nicht mit den Fakten überein.
Sicherlich, vor allem durch Lohndumping, sind Lizenzgebühren für die Hersteller gesunken. Aber ist der gesamtwirtschaftliche Aufwand „günstiger“ geworden?
Es gibt mehrere Gutachten, die dies verneinen. Jüngst
hat noch das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut allein
die mit der Komplexität verbundenen Verwaltungskosten
für alle Beteiligten auf 168 Millionen Euro pro Jahr geschätzt. Ein komplexer, kaum nachzuvollziehender Verwaltungsaufwand, doppelte Strukturen bei der Erfassung und langwierige Verhandlungen zwischen allen
Beteiligten. Will angesichts dieser Zustände wirklich jemand von einem kostengünstigen System im volkswirtschaftlichen Sinn sprechen? Und darüber hinaus auch
noch von einem effizienten System? Ein System, in dem
aufgrund der Trittbrettfahrerproblematik niemand - ich
betone: niemand - wirklich weiß, wie viel Verpackungen
lizenziert und verwertet werden. Ein System, in dem die
Angaben der lizenzierten Verpackungsmenge bei den
dualen Systemen ständig schwanken. Ein System, in dem
die dualen Systeme untereinander sich Lug und Betrug
vorwerfen und gegenseitig verklagen. Ein System, in
dem es trotz zahlreicher Änderungen und Korrekturversuche zahlreiche Schlupflöcher gibt. Ein System, dessen
Vollzug vor allem durch eine riesige Anzahl von Gerichtsverfahren gekennzeichnet ist: ÖRE gegen duale
Systeme, duale Systeme untereinander, ÖRE gegen private Entsorger, private Entsorger gegen duale Systeme
usw.
Ja, dieses System ist effizient - für die sich mit Abfallrecht befassenden Rechtsanwaltskanzleien. Für sie ist
die wettbewerbsorientierte Verpackungsverordnung eine
Goldgrube.
Meine Damen und Herren von Union und FDP, es
reicht nicht aus, die jetzige Verpackungsverordnung auf
stoffgleiche Nichtverpackungen auszudehnen und einige
kleinere Veränderungen, wie die Einführung einer zentralen Stelle, vorzunehmen. Damit sind die Fehler der
jetzigen Verordnung - kaum Abfallvermeidung, undurchsichtiger Vollzug, hoher bürokratischer Aufwand und geringe stoffliche Verwertung - nicht aufgehoben.
Auch immer größere Teile der Privatwirtschaft stehen
dem jetzigen System der Verpackungsverordnung skeptisch gegenüber. Bereits im Januar 2010 haben kommunale Spitzenverbände, VKU und der bvse ein gemeinsames Positionspapier vorgelegt. Darin wird eine
Weiterentwicklung der Verpackungsverordnung zur
Wertstofferfassung unter kommunaler Zuständigkeit bei
gleichzeitigem Erhalt des Wettbewerbs aufgezeigt. Diese
Vorschläge wurden in den letzten Jahren, zum Beispiel
durch Berücksichtigung eines Standardkostenmodells,
weiterentwickelt - allerdings nicht von der Bundesregierung. Die Vorschläge des BMU orientierten sich immer
am derzeitigen Wettbewerbsmodell.
Dieses sture Festhalten an einem fehlerhaften System
bringt uns nicht weiter. Wir Sozialdemokraten sind nicht
gegen Wettbewerb. So, wie der Wettbewerb durch die
jetzige Verpackungsverordnung jedoch organisiert ist,
ist er volkswirtschaftlich schädlich. Ökologische Verbesserungen, mehr Ressourcenschutz und mehr Abfallvermeidung sind damit nicht zu erreichen.
Die Grünen zeigen mit diesem Antrag die künftige
Zielstellung auf. Leider sind die Umsetzungsvorschläge
zum Teil naiv - nicht nur, dass diese wirkungslos wären,
sie würden die Zielerreichung noch erschweren.
Wenn man den Antrag zum ersten Mal liest, gerät
man in Versuchung, den sich hübsch anhörenden Vorschlägen Glauben zu schenken. Wenn man dagegen den
Versuch unternimmt, die Vorschläge rechts- und umweltpolitisch nachzuvollziehen, offenbaren sich innere
Widersprüche. Und diese sind so groß, dass alle gutgemeinten Ziele des Antrags verfehlt werden würden.
Die Grünen stellen für ein Wertstoffgesetz eine Vorbedingung: „Die Sammlung und Verwertung von Siedlungsabfällen ist ein wesentlicher Bestandteil der
Daseinsvorsorge und unterliegt der kommunalen Verantwortung.“ Erst daran anschließend werden weitere,
vornehmlich ökologische Bedingungen aufgestellt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit der identischen Grundbedingung einer Vollkommunalisierung ist Rot-Grün auch beim Kreislaufwirtschaftsgesetz in die Bundesratsverhandlungen gegangen. Die Grünen haben dafür neben der beabsichtigen
Schwächung der privaten Wirtschaft auch den Kollateralschaden umweltunfreundlicherer Regelungen in Kauf
genommen. Offenkundig haben die Grünen aus ihren
Fehlern nicht gelernt und lassen sich in ihren politischen Entscheidungen nach wie vor von einer lautstarken und polemischen Minderheit beeinflussen. Die moderateren Töne der Mehrzahl der Kommunen bleiben
dabei ungehört.
Eine generelle und ausnahmslose Zuweisung der
Sammlung, Verwertung und Aufbereitung an die Kommunen hätte eine verheerende Wirkung für die Kreislaufwirtschaft und widerspricht selbst der kommunalen Beschlusslage. Warum? Im Unterschied zur Sammlung von
Abfällen und Rohstoffen - seit jeher ein klassisches Betätigungsfeld der Kommunen - besteht im Bereich der
Verwertung und Aufbereitung von Wertstoffen auf kommunaler Seite nur eine geringe Expertise. Fast die gesamte Wertschöpfungskette, die sich an die Sammlung
anschließt, wird von einem breiten Mittelstand und einigen größeren Unternehmen durchgeführt. Die Fortentwicklung der eingesetzten Technologien geht zum größten Teil auf Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre
zurück, in denen innovative und kreative Unternehmen
Umwelttechnologien geschaffen haben, die zum Exportschlager geworden sind und die heutigen Recyclingzahlen überhaupt erst möglich machen.
Wenn die Grünen jetzt auf die Idee kommen, die Vernichtungsstrategie der privaten Kreislaufwirtschaft auf
die Spitze zu treiben, dann sollten sie wenigstens so ehrlich sein, den Wissens- und Technologieverlust - und damit einhergehenden ökologischen Nachteil - ehrlich und
offen einzugestehen.
Dass die Bedeutung der Privatwirtschaft am Recycling nicht kleingeredet werden kann, will ich Ihnen
dazu anhand von einigen einfachen Zahlenbeispielen erläutern: Bevor der Verpackungsbereich 1991 privatisiert worden war, lagen die Verwertungsquoten bei circa
53,7 Prozent für Glas, 28 Prozent für Papier und Karton
und 3,1 Prozent für Kunststoff. 20 Jahre später liegen
diese Zahlen bei 87,2 Prozent für Glas, 85 Prozent für
Papier und Karton und 90,3 Prozent für Kunststoff.
Dass eine große Bedeutung der Privatwirtschaft für
die Kreislaufwirtschaft besteht, soll nicht schmälern,
dass auch die kommunale Leistung eine entsprechende
Würdigung erfährt. Nur muss klar sein, dass gesetzliche
Lösungen die Fähigkeiten und Möglichkeiten beider Seiten berücksichtigen sollten und faire und ausgewogene
Rahmenbedingungen die Grundlage für eine Weiterentwicklung der Kreislaufwirtschaft sind.
Die Grünen glauben, alleine mit ökologischen Lenkungsvorgaben diesen Nachteil wettzumachen. Festlegung von Quoten, Mindestanforderung, neue Statistiken,
Weiterentwicklung der Pfandregelungen usw. Nur übersehen sie dabei leider, dass mit der Grundvorgabe, Innovationen und neue Technologien wegzudrücken, alle
diese Festlegungen zu bloßen Hüllen verkommen.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Wir haben bereits
jetzt in den abfallrechtlichen Vorschriften ein Problem
mit zu vielen unklaren - und sich teilweise widersprechenden - Vorschriften. In den Bundesländern sind die
Vollzugsbehörden aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten personell meist unterbesetzt. Anstatt das Dickicht
auf die maßgeblichen Vorschriften herunterzufahren und
auch unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebots darauf zu achten, vollziehbare Vorschriften herzustellen, setzt der Antrag der Grünen einen falschen
Schwerpunkt durch eine unausgewogene und unkoordinierte Vorschriftenflut.
Das bedeutet nicht, dass jeder einzelne Vorschlag an
der Sache vorbeigeht: Die Forderung nach einer deutlichen Anhebung der Recylingquoten wird von uns beispielsweise geteilt. Dies gründet darauf, dass zu viele
der recyclingfähigen Mischkunststoffe in Sortieranlagen
auf direktem Weg in die Verbrennung gehen und der
größte Teil der Verwertungsquoten mittlerweile problemlos erfüllbar ist.
Wir wollen die Fortentwicklung des rechtlichen Rahmens zu einem Wertstoffgesetz. Das ist für uns keine
Frage. Wir haben uns im Koalitionsvertrag dafür eingesetzt, haben gegenüber unserem Koalitionspartner immer wieder darauf gedrängt und in zahlreichen Anträgen
die Festlegung auf ein Wertstoffgesetz in der Koalition
beschlossen. Wir sehen vor allem die Notwendigkeit, die
zweifelsfrei bestehenden Mängel an der Verpackungsverordnung zu beseitigen und die bestehenden Regelungen neu und zeitgemäß zu bündeln. Auch hat eine Wertstofftonne gegenüber der bestehenden Sammelrealität
große Vorteile, und wir sehen dadurch auch vor allem die
Möglichkeit, dem Bürger einfach und nachvollziehbar
ein Sammelsystem zu erklären, das momentan nicht mehr
zu verstehen ist. Kunststoff und Metall in die Wertstofftonne, Lebensmittel und Grünzeug in die Biotonne, Papier in die Papiertonne und der Rest in den Restmüll.
Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz haben wir die Basis für dieses Projekt geschaffen. Gerne würden wir es in
dieser Legislatur abschließen. Nachdem bereits jetzt
aber klar ist, dass wir ohne die Zustimmung des Bundesrats kein Gesetz werden beschließen können, sind wir
auf die Kompromissbereitschaft der Opposition angewiesen.
Ihr Antrag verdeutlicht, dass Sie diese Kompromissbereitschaft nicht mitbringen. Wenn Sie sich unabhängig
von den Zuweisungen an Private oder Kommunen auf
eine sachliche Diskussion einlassen würden, würde ich
Ihrem Schaufensterantrag noch etwas abgewinnen können. Mit der von Ihnen eingenommenem Hardlinerposition werden wir aber leider nicht zusammenfinden.
Sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, gehen Sie noch einmal in sich und überlegen Sie sich
gründlich, was die Zielstellung des Wertstoffgesetzes eigentlich sein muss. Wir sind der Überzeugung, dass sich
das Zitat einer Anwältin anlässlich eines Fachgesprächs
mit Beteiligung aller Fraktionen in diesem Sommer
nicht bestätigt. Die Dame, die regelmäßig kommunale
Unternehmen zum Kreislaufwirtschaftsgesetz berät, ließ
sich zu folgendem Satz hinreißen: „Die meisten kommuZu Protokoll gegebene Reden
nalen Unternehmen halten Kunststoffrecycling für
Quatsch.“
Gerade den Grünen ist zu empfehlen, sich von dieser
kommunalen Minderheit zu distanzieren und offen für
parteiübergreifende Vorschläge zu sein, die für alle Beteiligten Wege und Möglichkeiten anhand einer sachgeleiteten Umweltpolitik eröffnen.
Oma Müller sortiert ihren Müll gründlich, da gibt es
das Gefäß für alte Batterien, den gelben Sack für Verpackungen, die Tüte für Papier, den Behälter für Essensreste und den für Restmüll. Flaschen werden sortiert
nach Farben eingeworfen, und alte Kleidung und
Schuhe gehen zur Kleidersammlung, oder wenn die Sachen zu abgenutzt sind, dann werden sie als Putzlappen
eingesetzt, um nach dieser Weiterverwendung dann im
Müll zu landen. Der neue Fernseher gab schon nach
knapp drei Jahren seinen Geist auf und wird vom Handwerker mitgenommen - reparieren wird teurer als ein
neues Gerät. Der vorherige Fernseher hatte zehn Jahre
gehalten, genau wie die erste Westkaffeemaschine nach
der Wende, die zwölf Jahre gute Dienste tat. Wenn sie
mit derselben Kaffeemaschine heute mehr als zwei Jahre
ihre Käffchen brühen kann, hat Oma Glück. Das ärgert
sie, denn es ist schlecht für die Umwelt, und man muss
doch sparsam sein. Wenn Oma Müller wüsste, dass ihr
mühsam getrennter Müll dann doch verbrannt wird - sie
würde es nicht verstehen.
Der Antrag unserer grünen Kollegen zeigt die Probleme auf und nennt erstrebenswerte Ziele für eine bessere Abfallwirtschaft. Denen kann niemand widersprechen, aber für die Linke ist das zu wenig.
Mit diesem Antrag wird nicht klar, wie verhindert
werden soll, dass 70 Prozent des gesammelten Kunststoffes im Ofen landet, zwar nicht in der Müllverbrennungsanlage, aber eben in den Brennkammern im Zementwerk. Die Linke schlägt vor, die Mitverbrennung
von Kunststoffen zu verbieten und stattdessen die Entwicklung von Produkten aus recyceltem Kunststoff zu
fördern, damit wir echtes Recycling erhalten.
Statt allgemeiner Vorgaben für Langlebigkeit und Reparaturfähigkeit schlägt die Linke vor, dass die Garantiezeiten verlängert werden. Fünf Jahre Garantie für den
Fernseher und alle Großgeräte, aber auch für Pkw und
Möbel, drei Jahre für Elektrokleingeräte und Haushaltswaren, zwei Jahre für Kleidung. Wir meinen Garantie
und nicht die Gewährleistung. Bei Gewährleistung steht
der Kunde vor dem Problem, dass er Produktionsfehler
beweisen muss - dies gelingt selten. Wir verlangen echte
Garantie, die den Händler verpflichtet, bei Ausfall seiner Ware Reparatur, Ersatz oder Erstattung des vollen
Kaufpreises zu leisten.
Warum die Grünen das bürokratische duale System,
bei dem von 1 000 Euro Einnahmen 600 Euro in die Verwaltung, die Lizenzierung und als Gewinne an Aktionäre
fließen und Betrug die Regel ist, jetzt noch auf weitere
Bereiche ausdehnen wollen, erschließt sich mir nicht.
Eine bessere Erfassung von Wertstoffen gelingt für die
Linke, wenn wir erstens die dualen Systeme abschaffen
und zweitens die Lizenzgebühren in eine Verpackungsabgabe umwandeln. Die Verantwortung dafür liegt bei
einer zentralen Stelle, diese legt je nach Aufwand für Erfassung, Wiederverwendung, Entsorgung und absoluten
Ressourcenverbrauch der Verpackung die Verpackungsabgabe fest. Diese muss jeder Hersteller oder Händler
entrichten.
Darüber wird dann ein Erfassungs- und Verwertungssystem in Verantwortung der Kommunen finanziert.
Drittens sollte ein Pfandsystem für Elektrogeräte eingeführt werden - zum Beispiel 5 Euro Pfand zahle ich
beim Erwerb meines neuen Handys, und wenn ich es
dann ein paar Jahre später beim kommunalen Wertstoffhof abgebe, bekomme ich die 5 Euro wieder.
Eine Ausdehnung der Pfandpflicht auf alle Getränkeverpackungen unterstützt die Linke - nicht nur aus Wiederverwertungsgründen, sondern weil damit auch die
Vermüllung der Landschaft reduziert wird. Ob eine
Mehrwegverpackung in ihrer ökologischen Gesamtbilanz besser ist , ist nicht immer sicher. Aber mit der von
der Linken bereits geforderten Verpackungsabgabe, die
ja nach ökologischen Gesichtspunkten festgelegt wird,
kann dann über finanzielle Anreize die umweltfreundlichere Verpackung preislich bevorzugt werden. Wenn
dies die Mehrwegglasflasche ist, dann haben wir sogar
noch etwas gegen die Weichmacher in Lebensmitteln erreicht.
Für die Linke ist die Abfallwirtschaft Bestandteil der
Verringerung des Ressourcenverbrauches und dient damit dem Umweltschutz. Ein überflüssiges Produkt ist
auch bei 100 Prozent Recycling eine unnötige Umweltbelastung; da hilft die Recyclingquote nur, den Umweltschaden einzudämmen, verhindert ihn aber nicht. Wir
fordern daher die Bundesregierung auf, sich für so ehrgeizige Ziele der Verringerung des Rohstoffverbrauchs
einzusetzen, dass zusätzliche Quoten im Abfallrecht
überflüssig werden.
Folgen Sie unseren Vorschlägen, dann hat Oma
Müller nicht nur das Gefühl, umweltbewusst zu sein,
sondern sie ist es auch, und ganz nebenbei stellen wir sicher, dass auch die Enkel von Oma Müllers Enkeln noch
genügend Ressourcen und eine intakte Umwelt haben
werden.
Dorothea Steiner ({0}):
Die Versorgung mit Rohstoffen zählt zu den strategisch wichtigsten Themen für die deutsche Wirtschaft.
Die Industrie ist bei fast allen metallischen Rohstoffen
von Importen abhängig. Kein Laptop, kein Mobiltelefon
und keine Solarzelle kommen ohne Metalle wie Kobalt
und Platin oder Seltene Erden aus. Für eine grüne, also
eine klimaneutrale und ressourceneffiziente Ökonomie,
müssen wir nachhaltiger mit den Ressourcen der Erde
umgehen.
Wir können es täglich lesen: Der Abbau von Rohstoffen und die Bedingungen des Rohstoffhandels sind für
Länder mit Rohstoffreserven oft verheerend. Die Gewinnung der Rohstoffe zerstört Natur und Landschaft, hat
Zu Protokoll gegebene Reden
Dorothea Steiner
gravierende soziale Folgen und ist begleitet von Menschenrechtsverletzungen.
Um die Abfallpolitik umweltverträglich zu betreiben,
müssen mehr Wertstoffe als bisher zurückgewonnen und
verwertet werden. Die Wiederverwertung von Rohstoffen schont primäre Rohstoffquellen, vermeidet Transporte über weite Strecken, verhindert die Zerstörung von
Ökosystemen durch den Abbau und spart CO2 ein.
Dieses Potenzial müssen wir entwickeln.
Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz hat die Bundesregierung den Ressourcenschutz und die Wiederverwertung von Ressourcen nicht vorangebracht. Deutschland
kann seine Importabhängigkeit und seine Abhängigkeit
vom Weltmarkt nur beschränken, wenn knappe Rohstoffe
effizient verwendet werden, sie wiederverwendet und
zum Teil durch andere Stoffe ersetzt werden.
Klar ist: Wir müssen mehr Wertstoffe sammeln und
sie wiederverwerten, statt sie in Abfalltonnen oder
Schubladen und Schränken verrotten zu lassen. Will man
echte Kreislaufwirtschaft, muss man die Rahmenbedingungen verändern. Die Recyclingwirtschaft braucht
bessere Bedingungen und mehr Material, um mehr wiederzuverwerten und einen größeren Beitrag zum Schutz
von Umwelt und Ressourcen zu leisten. Es kann nicht
angehen, dass manche Kunststoffe nicht recycelt
werden, weil die Entsorgung über die Müllverbrennung
billiger ist. Das ist eine wahre Verschwendung.
Der Bundesumweltminister hat noch im Sommer in
seinem Zehn-Punkte-Programm angekündigt, im zweiten Halbjahr 2012 einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Dieser sollte die Wertstoffsammlung verbessern. Von
einem Gesetzentwurf ist weit und breit aber nichts zu
sehen. Bisher gibt es nur große Ankündigungen, Lösungen werden nicht präsentiert.
Der Grünen-Antrag „Wertstoffsammlung verbessern - Mehr Ressourcen aus Abfällen zurückgewinnen“
formuliert die Ansätze, um die Abfallpolitik hin zu mehr
Ressourcenschutz weiterzuentwickeln. Wir brauchen
klare Vorgaben und Regeln für die gesamte Abfallwirtschaft.
Ein Aspekt sind größere Anstrengungen bei der Abfallvermeidung. Müll, der nicht entsteht, schont Umwelt
und Klima. Eine eigene Studie des Bundesumweltministeriums hat die Klimaschutzpotenziale in der Abfallwirtschaft beindruckend belegt. Der Bundesumweltminister
bleibt untätig - eine echte Fehlleistung.
Wir Grüne fordern die flächendeckende Einführung
einer Wertstofferfassung. Notwendig sind bundesweit
einheitliche Regeln, wie Wertstoffe im Hausmüll sortiert
und gesammelt werden. Das bunte Nebeneinander
unterschiedlicher Sammelsysteme ist verwirrend für
Verbraucherinnen und Verbraucher. Das führt nicht zum
Erfolg. Wir brauchen hohe und strikte Recyclingquoten,
orientiert an der jeweils besten vorangegangenen Verwertungsleistung. Können Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen von den Regierungsfraktionen, uns erklären,
warum die Sammel- und Verwertungsziele nur für den
Hausmüll gelten sollen, aber nicht für den Gewerbeabfall?
Ich komme jetzt zu einem besonderen Aspekt, zur
Verpackungsverordnung und den Getränkeverpackungen. Ein Mehrweganteil von 80 Prozent ist das festgeschriebene Ziel der Regierung. Dieses wird seit Jahren
verfehlt. Letzte Woche wurde dem Bundeskabinett mitgeteilt, dass der Anteil von Mehrwegflaschen inzwischen
auf 50 Prozent gefallen ist - Tendenz weiter sinkend.
Der Fehlentwicklung muss gegengesteuert werden. Wir
brauchen größere Anstrengungen als bisher, um die
Mehrwegquote wieder zu steigern. Ein Nebeneinander
von Einweg, Mehrweg, umweltschädlichen Dosen und
Ausnahmen für Fruchtsäfte machen das jetzige System
intransparent und anfällig für Betrug. Wer kann noch
verstehen, was ökologisch vorteilhaft ist und wie man
einkaufen soll? Hier werden deutlich klarere Regeln
benötigt, zum Beispiel eine Kennzeichnungspflicht.
Und für Ressourcenschutz besonders wichtig: Elektronikschrott. In Europa werden lediglich 40 Prozent des
Elektronikschrotts recycelt, der Rest landet im Müll oder
wird - häufig illegal - in die Länder des Südens
verschifft. Obwohl die europäischen Länder zu den
weltgrößten Konsumenten Seltener Erden zählen, funktioniert das Recycling von Seltenen Erden bisher kaum.
Unser Augenmerk liegt auf den Sammelsystemen. Wenn
mehr Elektronikschrott gesammelt wird, kann auch
effektives Recycling ermöglicht werden.
Nehmen Sie unsere Vorschläge zur Kenntnis und
arbeiten Sie damit. Wenn wir alle uns dafür einsetzen,
können wir noch in diesem Jahr ein Wertstoffgesetz
beschließen. Das wird der Umwelt nützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11161 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Gewerbeordnung und anderer Gesetze
- Drucksache 17/10961 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 17/11164 Berichterstattung:Abgeordnete Andrea Wicklein
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Seit im Dezember 2010 die Evaluierung der Spielverordnung vorgelegt wurde, hat sich der Deutsche Bundestag immer wieder damit befasst. In der Spielverordnung
sind die Aufstellung und Zulassung der Geldspielgeräte
geregelt. Diese findet man in Gaststätten, in Spielhallen,
an Flughäfen oder auch in Spielcasinos. Da das Automatenspiel leider das höchste Suchtpotenzial bietet,
steht der Jugend- und Spielerschutz im Vordergrund der
gesetzlichen Regelungen wie der Spielverordnung.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat die Federführung bei der Spielverordnung. Im Jahr 2006 wurde sie
letztmalig novelliert und zur Überprüfung dieser Schutzziele wurde 2010 vom Bundeswirtschaftsministerium
eine Studie in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse zeigen, dass trotz der relativ engen Vorschriften und Zulassungsauflagen die illegalen und unübersichtlichen
Spielabläufe bei Geldspielautomaten nicht verhindert
werden konnten. Hinzu kommt, dass dies zu hohen Ausgaben der Spieler führt, was in extremen Einzelfällen sogar in vollständiger Verschuldung endete. Diese Fehlentwicklungen stehen eindeutig fest. In den Bereichen
Jugendschutz, Spielerschutz und Spielsucht muss also
gegengesteuert werden. Hier ist nicht nur der Verordnungsgeber BMWi gefordert, sondern auch der Gesetzgeber.
Der Handlungsbedarf aufgrund der Evaluierung der
Spielverordnung wird noch verstärkt durch die europäische Rechtsetzung und Rechtsprechung. Der Europäische Gerichtshof hat beispielsweise entschieden, dass
ein Glücksspielmonopol des Staates nur dann zulässig
ist, wenn die Spielsucht entsprechend bekämpft wird.
Der wesentliche Punkt für die Legitimität eines staatlichen Wettmonopols war in der europäischen Rechtsprechung also stets der Gesichtspunkt der Kohärenz
der Maßnahmen zur Bekämpfung der Spielsucht. In
Deutschland besteht nach wie vor ein Monopol des Staates.
Das heißt, unsere in Deutschland getroffenen Maßnahmen gegen Spielsucht müssen schlüssig sein im Verhältnis zum Monopol. Aber auch die Verhältnismäßigkeit
der gesetzlichen Schutzmaßnahmen wird von der EU
kontrolliert. Es wird in erster Linie abgeglichen, ob die
Dienstleistungsfreiheit, die gemäß der Dienstleistungsrichtlinie vereinbart ist, berührt oder gar eingeschränkt
ist. Aktuell hat die EU bereits ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der Verletzung der Dienstleistungsfreiheit eingeleitet. Begründet wird das mit Benachteiligungen für bestimmte Einrichtungen. Auch hier besteht also
Handlungsbedarf.
Im Zusammenhang mit der Neuregelung des Glücksspielstaatsvertrages, den daraus resultierenden Regelungen zu Sportwetten in Deutschland und auch den
Spielhallengesetzen wurden die europäischen Grundsätze bezüglich der Kohärenz noch einmal deutlich. Problematisch sind bei uns die verschiedenen Zuständigkeiten zwischen den Bundesländern und dem Bund. Eine
gemeinsame Linie ist dennoch erkennbar, da der Jugend- und Spielerschutz gemeinsames und übergreifendes Ziel ist. Erste Erfolge der Spielhallengesetze, die
von den Ländern verabschiedet werden, sind bereits
messbar. Das betrifft vor allem die Dichte und Anzahl
der Spielhallen.
Auch bei den öffentlichen Anhörungen zu den Themen
Sportwetten und Spielsucht wurde deutlich, dass alle Beteiligten einen Handlungsbedarf sehen. Das sind also
nicht nur die Forschung und die Suchtberatung, sondern
auch die Automatenwirtschaft, welche durchaus gesprächsbereit ist.
Die Zuständigkeit des Bundes erstreckt sich auf das
gewerbliche Automatenspiel, und hier kommen wir den
Ergebnissen der Evaluierung nach. Um in der Spielverordnung geeignete Maßnahmen umzusetzen, sind zuvor
im Gewerberecht einige Änderungen und Ermächtigungsregelungen notwendig. Folgende inhaltlich schwerwiegende Punkte stehen im Mittelpunkt der Änderung der
Gewerbeordnung.
Der Aufsteller von Spielgeräten muss eine grundsätzliche Zuverlässigkeit vorweisen. Diese orientiert sich an
einer eventuellen kriminellen Vergangenheit, an direkten
Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz und auch an
Geldwäsche, die wir auf Wunsch des Bundesrates als
Kriterium der Zuverlässigkeit einfügen.
Die antragstellenden Gewerbetreibenden müssen
auch einen Unterrichtsnachweis von der IHK erbringen.
Darin wird belegt, dass der Aufsteller und - das ist uns
sehr wichtig - auch das angestellte Personal die Rechtsvorschriften zum Spieler- und Jugendschutz kennen.
Der Aufsteller muss außerdem über ein Sozialkonzept
einer öffentlich anerkannten Institution der Suchthilfe
verfügen. Damit soll gewährleist werden, dass das Personal hinreichend geschult ist, um gefährdete Spieler
und Spielweisen zu erkennen und darauf angemessen
reagieren zu können. Es müssen Hinweise für
Beratungsangebote für Spieler vorhanden sein, mit deren Hilfe sie ihre Gefährdung einschätzen können, um
dann letztlich Angebote der Suchtberatung in Anspruch
zu nehmen.
Um den Beteiligten, zum Beispiel den Industrie- und
Handelskammern, genügend Zeit für die Umsetzung des
Angebotes zu geben, tritt dieser Teil des Gesetzes erst etwas später in Kraft.
Außerdem wird eine Ermächtigungsgrundlage für die
Einführung einer Spielerkarte in der Spielverordnung
geschaffen. Diese Spielerkarte ist vorerst personenungebunden, das heißt automatengebunden. Der Spieler
muss beim Betreten der Spielhalle eine solche Karte
beim Aufsichtspersonal erbitten und nachher zurückgeben. Maximal eine Karte wird ausgegeben, um das Bespielen mehrerer Automaten zu verhindern. Es ist kein
maximaler Spieleinsatz per Karte vorgesehen.
Die Einführung einer personengebundenen Karte,
wie sie der Bundesrat vorschlägt, wäre sicherlich zu bevorzugen. Das ist auch unser Ziel, für das erst jedoch
noch etliche datenschutzrechtliche und technische Fragen geklärt werden müssen. Ein Schnellschuss bringt
uns hier nicht weiter. Daher ist die personenungebundene Karte derzeit die beste Lösung. Eine personengebundene Spielerkarte werden wir aber nicht aus den
Augen verlieren.
Wichtig ist, dass bei allen Regelungen und Verpflichtungen zur Sachkunde auch das Personal eingebunden
ist. Das gilt auch für die Bußgeldandrohung bei Verstößen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ein Punkt betrifft insbesondere die Internetcafés. Bislang müssen Einrichtungen, die nur Unterhaltungsspielgeräte ohne Gewinnmöglichkeit anbieten, die gleichen
Antragsvoraussetzungen wie Spielhallen erfüllen. Die
EU-Kommission hat das kritisiert und ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Da der Jugendschutz hier
auch durch Filterprogramme und Alterskontrollen gewährleistet werden kann, sind die strengen Auflagen unverhältnismäßig. Daher wird bei diesem Gewerbe, eben
vor allem Internetcafés, die Erlaubnispflicht gestrichen.
Alles in allem sind das Elemente eines ausgewogenen
Konzeptes. Sicherlich werden die Wirkungen der Maßnahmen zu beobachten sein. Außerdem werden in der
Spielverordnung selbst noch weitere Verschärfungen
festgelegt. Ob zukünftig beispielsweise stringenter gegen das Punktespiel vorgegangen werden muss, wird
sich zeigen. Wir wollen eine ausgewogene Mischung
zwischen dem Wunsch der erwachsenen Bevölkerung
nach Unterhaltung, einer florierenden Wirtschaft und
den Maßnahmen zur Bekämpfung der Spielsucht.
In seinem Bericht zur Evaluierung der Novelle der
Spielverordnung vom 6. Dezember 2010 hat das Bundes-
wirtschaftministerium eindeutig Handlungsbedarf bei
der Verbesserung des Spieler- und insbesondere des Ju-
gendschutzes festgestellt. Die zentrale Ursache für diese
Expansion des gewerblichen Automatenspiels ist die Lo-
ckerung der Spielverordnung im Jahre 2006.
Daher ist auch die derzeitig diskutierte Novellierung
der Spielverordnung dringend notwendig. Der vorlie-
gende Gesetzentwurf zur Änderung der Gewerbeord-
nung schafft den rechtlichen Rahmen dafür.
Fakt ist: Zwischen den Jahren 2006 und 2012 ist die
Zahl der Geldgewinnspielgeräte in Spielhallen drama-
tisch gestiegen: Die Anstiege reichen von 35 Prozent wie
beispielsweise in Thüringen bis hin zu 150 Prozent wie
in Berlin.
Fakt ist: In Deutschland gibt es rund 500 000 patho-
logische Glücksspieler. Hinzu kommen rund 800 000 so-
genannte problematische Spieler. Das macht 1,3 Millio-
nen Menschen in Deutschland, für die das Spielen an
Geldspielgeräten die Merkmale einer Sucht erfüllt.
Fakt ist ebenfalls, dass laut einer Studie der Universi-
tät Bielefeld 78 Prozent der Befragten unter 18-jährigen
Geldautomatenspieler den Jugendschutz umgehen und
somit unbehelligt spielen konnten.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt daher aus-
drücklich, dass die Bundesregierung in ihrem Gesetzent-
wurf zur Änderung der Gewerbeordnung von Automa-
tenaufstellern und dem damit befassten Personal die
Vorlage eines Sozialkonzepts sowie eines Unterrich-
tungsnachweises fordert. Somit soll gewährleistet wer-
den, dass dieser Personenkreis über die erforderliche
Sachkunde verfügt.
Es ist wichtig, der Suchtgefahr bei Spielerinnen und
Spielern aktiv zu begegnen und auch präventiv entge-
genzuwirken.
Daher ist es nur logisch, dass der Bericht des Bun-
deswirtschaftsministeriums neben den Punkten „Sach-
kunde der Aufsteller“ und „Sozialkonzept“ ausdrück-
lich die Vorteile einer sogenannten Spielerkarte betont.
Eine Spielerkarte ist ein Identifikationsmittel, das a) die
Volljährigkeit des Spielers belegt und b) durch seine Vorlage überhaupt erst den Spielbeginn am Gerät möglich
machen soll. Nun hat die Bundesregierung diesen Vorschlag aufgegriffen und in dem Gesetzentwurf die
Grundlage für die Einführung einer personenungebundenen Spielerkarte formuliert. So weit, so gut. Doch die
Bundesregierung schränkt durch die Formulierung der
personenungebundenen Spielerkarte die angestrebte
Schutzfunktion maßgeblich ein. „Personenungebunden“
bedeutet in der Praxis nichts anderes, als dass nicht
nachprüfbar ist, ob derjenige, der die Karte vorlegt,
auch wirklich derjenige ist, auf den sie zugelassen
wurde. Anders ausgedrückt: Es ist nicht belegbar, dass
der Spieler, der die Karte vorlegt, volljährig ist. Hinzu
kommt, dass mit einer personenungebundenen Spielerkarte mehrere Geldgewinnspielgeräte gleichzeitig bespielt werden können. Damit werden die Handlungsempfehlungen des Berichtes „Jugend- und Spielerschutz“
schlichtweg konterkariert.
Der Bundesrat hat genau das in seiner Stellungnahme kritisiert und als - wie ich finde - vernünftige
Lösung vorgeschlagen, hinter dem Wort „personenungebundene“ einfach den Zusatz „oder personengebundene“ einzufügen. Das hätte zudem den Vorteil, dass
eine spätere Überarbeitung der Gewerbeordnung unnötig wäre. Das wäre einmal eine effektive Vermeidung von
unnötiger Bürokratie. Doch was tut die Bundesregierung? Sie lehnt diese Ergänzung ab. Dies überrascht
umso mehr, als die Bundesregierung sich ausdrücklich
in ihrer Begründung zum Gesetz zur Einführung einer
personengebundenen Spielerkarte als mittelfristiges
Projekt bekennt. Selbstverständlich müssen die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen geprüft und entwickelt werden. Dies braucht Zeit und Sorgfalt. Da stimmen wir der Bundesregierung zu; aber dennoch sollte
und könnte man den Zusatz der personengebundenen
Spielerkarte schon jetzt als zukünftige Alternative mit in
den Gesetzentwurf aufnehmen. Also meine konkrete
Frage an Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition: Warum nehmen Sie die Formulierung
nicht als Alternative in den Gesetzentwurf auf? Da, wo
sie aktiv Jugend- und Spielerschutz betreiben könnten,
zieren Sie sich plötzlich. Warum? Meine Fraktion hat
bereits im letzten Jahr in unserem Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ klar gefordert, eine personengebundene Spielerkarte einzuführen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, um es
klar zu sagen, Sie bleiben weit hinter Ihren Möglichkeiten zurück und verkennen den akuten Handlungsbedarf.
Und trotz einiger guter Ansätze im Gesetzentwurf wird
sich daher die SPD-Bundestagsfraktion enthalten und
ihm nicht zustimmen.
„Game over - Beim Glücksspiel haben Sie Automatisch Verloren!“ - diesen treffenden Titel trug eine InforZu Protokoll gegebene Reden
mationskampagne der Hamburgischen Landesstelle für
Suchtfragen e. V., die über die Risiken und Folgen von
Glücksspielen aufklärte.
Tatsächlich verursacht ein problematisches Spielverhalten oder Glücksspielsucht ein großes persönliches
Leid natürlich für die Betroffenen selbst, aber auch für
ihr Umfeld. Dem müssen wir durch effektiven Jugendund Spielerschutz entgegenwirken.
Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung weist insgesamt 1 Prozent der deutschen Bevölkerung - bundesweit also schätzungsweise
540 000 Betroffene - im Alter von 16 bis 65 Jahren ein
problematisches oder sogar pathologisches Glücksspielverhalten auf.
Sehr kritisch entwickelt sich das Spielen an Geldspielautomaten: 13 Prozent der 18- bis 20-Jährigen haben im letzten Jahr ihr Glück an Geldspielautomaten
versucht. Besonders besorgniserregend ist, dass das
Spielen an Geldspielgeräten auch in der Altersgruppe
der 16- und 17-Jährigen, die nach dem Jugendschutzgesetz überhaupt keinen Zugang zu Glücksspielangeboten
haben dürften, zunimmt.
Auch der Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Evaluierung der Novelle der
Spielverordnung vom 6. Dezember 2012 hat gezeigt,
dass es Handlungsbedarf hinsichtlich der Verbesserung
des Jugend- und Spielerschutzes gibt.
Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, besonders
bei Glücksspielen mit vergleichsweise einfachem Zugang und großem Suchtpotenzial gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen, die einen ausreichenden Jugend- und
Spielerschutz gewährleisten und zur Verhinderung von
Glücksspielsucht beizutragen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist meines Erachtens
ein richtiger Schritt hin zu einem effektiven Jugend- und
Spielerschutz im Hinblick auf Spielgeräte mit Gewinnmöglichkeit, sprich Glücksspielautomaten. Kernpunkt des
Entwurfs ist die Einführung einer sogenannten Spielerkarte, die zukünftig vom Aufsichtspersonal der Spielhalle bzw. dem Gastwirt ausgehändigt wird. Mit ihr
kann sich der Spieler an den Glücksspielautomaten in
Spielhallen oder Gaststätten autorisieren und sie freischalten. Dies ermöglicht zum einen eine Alterskontrolle
und verhindert somit, dass Minderjährige, die noch
nicht an den Geräten spielen dürfen, keinen Zugang zu
den Glücksspielautomaten erhalten. Zum anderen erschwert die Ausgabe der Spielerkarte das gleichzeitige
Spielen an mehreren Geräten. Die Spielerkarte bietet einen erheblich besseren Jugend- und Spielerschutz. Ob
dieser letztlich ausreichend ist, wird sich nach der Evaluation der vorliegenden Änderung zeigen.
Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Gesetzentwurf möglicherweise nur eine „Zwischenetappe“ auf
dem Weg zu einer noch effektiveren Prävention von
Glücksspielsucht und vor allem einem noch umfassenderen Jugend- und Spielerschutz.
Sollten die Evaluationsergebnisse später zeigen, dass
die personenungebundene Spielerkarte keinen ausreichenden Jugend- und Spielerschutz gewährleistet, sind
wir durchaus bereit, über die Einführung eines personengebundenen Identifikationsmittels zu reden. Dies ist
jedoch ein mittelfristiges Projekt, zumal dazu zunächst
noch einige technische und datenschutzrechtliche Fragen geklärt werden müssen. Wir werden uns aber dafür
einsetzen, dass dies bei Bedarf schnellstmöglich geschieht.
Zunächst aber schafft der vorliegende Gesetzentwurf
eine Ermächtigungsgrundlage für die Regelung eines
datenschutzrechtlich unproblematischen, nicht personengebundenen Identifikationsmittels in der Spielverordnung. Dadurch wird bereits jetzt ein weitergehender
Jugend- und Spielerschutz ermöglicht, der den zuvor beschriebenen Entwicklungen der Zahlen zum Glücksspielverhalten in Deutschland entgegenwirkt. Angesichts
der Tatsache, dass das Glücksspielverhalten besonders
unter Jugendlichen zunehmend problematischer wird,
war es uns sehr wichtig, möglichst schnell zu reagieren
und eine vernünftige und effektive Lösung im Rahmen
unserer gegenwärtigen technischen und datenschutzrechtlichen Möglichkeiten zu schaffen. Die Praxis wird
zeigen, ob die ergriffenen Maßnahmen wie gewünscht
greifen oder nur eine Übergangslösung sind, auf die
möglicherweise eine personengebundene Spielerkarte
folgt.
Aber nicht nur die Einführung der Spielerkarte ist
eine gute und wichtige Maßnahme, um Jugendliche,
aber auch Erwachsene vor den negativen Folgen des
Glücksspiels zu schützen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf zwei weitere
Maßnahmen zum Jugend- und Spielerschutz hinweisen,
die im Rahmen der Änderung der Gewerbeordnung ergriffen werden:
Die Bedeutung der Sachkunde der Aufsteller über Jugend- und Spielerschutz für die Prävention von Spielsucht und ihre negativen Folgen ist entscheidend. Diesen Aspekt greift der vorliegende Gesetzentwurf dadurch
auf, dass er als weitere Schutzmaßnahme für Jugendliche und - potenziell - Spielsüchtige vorsieht, dass
Spielhallenbetreiber und Gastwirte zukünftig Kenntnisse des Jugend- und Spielerschutzes nachweisen müssen, um überhaupt Spielgeräte aufstellen zu dürfen. Sollten sie gegen diese Vorgabe verstoßen, werden zukünftig
signifikant höhere Strafzahlungen fällig. Das Ziel dieser
Maßnahme ist, die Risiken in Bezug auf den Jugend- und
Spielerschutz, die aus der mangelnden Sachkenntnis der
Aufsteller resultieren, zu reduzieren.
Darüber hinaus müssen die Unternehmen, die Glücksspielautomaten aufstellen, zukünftig ein Sozialkonzept
vorhalten, in dem sie darlegen, wie sie den negativen
Folgen des Glücksspiels an Gewinnspielgeräten vorbeugen bzw. diese beheben wollen, beispielsweise durch
Hinweise auf Beratungsangebote für - potenziell Glücksspielsüchtige oder die Schulung ihres Personals.
Uns ist sehr wichtig, dass die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter vor Ort dezidiert in das Sozialkonzept einbezogen werden und somit in Sucht- und Präventionsfragen geschult sind; denn so entsteht die Möglichkeit,
Zu Protokoll gegebene Reden
gefährdete Spieler noch frühzeitiger zu erkennen und
entsprechend zu reagieren.
In der Aufstellerbranche werden Sozialkonzepte gegenwärtig bereits auf freiwilliger Basis eingesetzt - das
möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich lobend erwähnen -; aber eine flächendeckende und somit effektive
Verbreitung der Sozialkonzepte kann letztlich nur durch
eine gesetzliche Vorgabe erreicht werden.
Es freut mich sehr, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf alle Beteiligten zufriedenstellen konnten:
Sowohl die Drogenbeauftragte der Bundesregierung,
Mechthild Dyckmans, als auch die Automatenherstellerbranche können sich mit der personenungebundenen
Spielerkarte anfreunden.
Auch ich bin angesichts der aufgezeigten Maßnahmen davon überzeugt, dass der vorliegende Gesetzentwurf bereits jetzt eine Grundlage für einen besseren Jugend- und Spielerschutz mit Blick auf das Glücksspiel an
Gewinnspielautomaten gewährleistet.
Über weitergehende Maßnahmen diskutieren wir
selbstverständlich gerne, sobald wir die Ergebnisse der
Klärung der noch offenen datenschutzrechtlichen, technischen sowie infrastrukturellen Fragen hinsichtlich einer personengebundenen Spielerkarte haben.
Nichtsdestotrotz möchte ich an dieser Stelle noch einmal deutlich machen, dass die Politik sicherlich in der
Verantwortung ist, mit gesetzlichen Regelungen für einen ausreichenden Jugend- und Spielerschutz zu sorgen.
Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass es - wie
bei jedem Spiel mit Suchtgefahr - auch beim Glücksspiel
an Gewinnspielautomaten auf das richtige Maß und die
Eigenverantwortung des Spielers ankommt, und somit
die gesetzlichen Regelungen gar nicht mehr zum Tragen
kommen müssen.
Die Bundesregierung lässt sich mal wieder die Gesetze von der Wirtschaft diktieren - in diesem Fall von
der Automatenwirtschaft. Anstatt die Menschen vor
Spielsucht zu schützen, schützt die Bundesregierung lieber die Gewinne der Automatenwirtschaft und tut ein
bisschen so, als würde sie sich auch um das Wohl der
Menschen sorgen. Die von ihr hier eingebrachten Änderungen werden nichts an der Situation oder der Zahl der
Spielsüchtigen ändern. Die Einführung einer sogenannten Spielerkarte ist absolut ineffektiv. Spielsüchtige
werden durch die Karte nicht vom exzessiven Spielen abgehalten, Jugendliche können die Kontrolle leicht umgehen. Dabei ist eine Ursache für das rapide Wachstum
der Spielsucht, besonders bei Jugendlichen, die Entwicklung von Unterhaltungsspielautomaten zu reinen
Glücksspielautomaten, die aus der 2006 beschlossenen
Novellierung der Spielverordnung resultierte. Seitdem
ist die Zahl der süchtigen Spieler, die sich an Suchtberatungsstellen wendeten, um 160 Prozent gestiegen. Demgegenüber hat sich der Bruttospielertrag der Automatenbetreiber in derselben Zeit fast verdoppelt. Zurzeit
kämen etwa 56 Prozent der Einnahmen von Spielautomaten von Spielsüchtigen, und 40 Prozent der Leute, die
spielten, seien süchtig, so Experten. Eine viel wirkungsvollere Maßnahme gegen die Spielsucht wäre zum Beispiel die vorherige Identifizierung durch den Fingerabdruck. Aber die Automatenwirtschaft hat kein Interesse
daran, die Zahl der Spielsüchtigen zu verringern. Kein
Wunder, wenn sie die Hälfte ihrer Einnahmen mit dieser
Gruppe erzielt. Und die Bundesregierung spielt das
Spiel mit.
Die Probleme der Spielsucht lassen sich auf individueller Ebene - also bei den Aufstellern der Geräte, den
Betreibern von Spielhallen und deren Personal - nicht
lösen. Die hier über die Gewerbeordnung gestellten
fachlichen Qualifikationen und Nachweise sind zwar
richtig, reichen aber nicht aus. Neben der verpflichtenden Identifikation müssen die Geldspielautomaten auf
60 Sekunden pro Spiel entschleunigt werden. Der maximale Verlust pro Stunde muss gesenkt und die Höchstzahl von Automaten in gastronomischen Einrichtungen
begrenzt werden. Besonders die Entschleunigung ist neben der Reduzierung der Verfügbarkeit entscheidend für
die Suchtbekämpfung und -prävention und Spielerkarten
oder anderen Veränderungen am Gerät vorzuziehen.
Von der FDP können wir aufgrund der offensichtlich guten Beziehungen zu der Automatenlobby sowieso keine
Änderungen zum Schutz vor den Suchtgefahren durch
das Automatenspiel erwarten. So berichtete die ARD
am 10. September 2012, dass an FDP-Tochterunternehmen vom Glücksspielautomatenhersteller Gauselmann
2,5 Millionen Euro geflossen und diese teilweise an die
Partei weitergeleitet worden sind.
Leider bekleckert sich die Bundesregierung auch bei
den Änderungen für die Vermittlung von Finanzanlagen,
die hier ebenfalls mit verhandelt wird, nicht mit Ruhm.
Das ist zugegebenermaßen schwierig, denn das Gesetz
zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts krankt an den falschen Voraussetzungen. Es lässt weiterhin alle Formen der Geldanlage
zu, die nicht ausdrücklich verboten sind. Ein neu geschaffenes Produkt fällt so automatisch nicht unter das
Gesetz. Damit ist kein Verbraucherschutz möglich!
Dabei gibt es gute Vorschläge! Die Linke fordert seit
langem einen Finanz-TÜV. Nur das Produkt, das den Finanz-TÜV besteht, darf in den Verkehr gebracht werden.
Parallel dazu muss die Abhängigkeit von Provisionen
verschwinden - und damit auch der Druck, möglichst
viele Produkte mit hohen Provisionen zu verkaufen. Nur
so kann sich der Verbraucher sicher sein, dass die Produkte, die er kaufen kann, auch tatsächlich in seinem Interesse sind.
Die Bundesregierung verpasst mit diesem Gesetz also
wieder einmal zahlreiche Chancen, Fehler aus der Vergangenheit gutzumachen. Nicht, weil sie es nicht besser
wüsste. Sondern weil ihr Wirtschaft und Profite viel näher stehen als Menschen. Das wird auch in diesem Gesetzentwurf überdeutlich.
Greifen Sie unsere Vorschläge auf!
Zu Protokoll gegebene Reden
Immer mehr Menschen in Deutschland sind spielsüchtig. Fast 300 000 Menschen leiden daran. Nach der
Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten, der ICD-10, spricht man von einer Sucht bei häufigem und wiederholtem Glücksspiel, das das Leben von
diesen Menschen vollkommen beherrscht. Langfristig
kann Spielsucht zum Verfall der sozialen, beruflichen,
materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen
führen.
Dazu auch noch ein anderer Aspekt: Viele Gemeinden
und Städte beklagen bereits seit längerem die zunehmende Ausbreitung von Spielhallen. Dies führt in bestimmten Stadtteilen - nicht zuletzt aufgrund negativer
Begleiterscheinungen - zu einem „Trading-down“-Effekt. Die Viertel werden unattraktiv für Mieter und andere Geschäftsbetriebe und führen so zu einer negativen
Entwicklung des Stadtteils insgesamt. Genug Grund
also, endlich tätig zu werden und einzugreifen.
Die Bundesregierung hat dem nichts Vernünftiges zu
entgegnen. Das zeigt ja schon deren Ansatz bei der
Spielverordnung: Viele Regelungen des Entwurfs sind
aus meiner Sicht nichts als heiße Luft. Die wirklichen
Probleme im Bereich der Spielautomaten werden nicht
im Geringsten angegangen. Der Entwurf enthält keine
wirksame Entschärfung der Geräte und keine Verminderung ihrer Suchtgefährdung. Stattdessen verhindert die
Bundesregierung zukünftig, dass die Länder Vor-OrtKontrollen durchführen können. Das heißt de facto:
Eine wichtige Möglichkeit, Spielhallen und Geldspielgeräte zu kontrollieren, entfällt.
Der vorliegende Entwurf für die Gewerbeordnung
soll nun ins selbe Horn stoßen: Bei dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung geht es unter anderem um den Bereich Spielhallen und Geldspielgeräte. Geldspielgeräte
bringen unumstritten die meisten Spielsüchtigen hervor.
Wichtigste Neuerung soll eine Karte sein, mit der sich
Spieler an den Geräten anmelden sollen, die sogenannte
Spielerkarte. Dem Automatenspieler wird vom Wirt oder
den Mitarbeitern der Spielhalle eine Karte übergeben,
mit der er sich an den Spielgeräten anmelden kann. Dadurch soll verhindert werden, dass Spielerinnen und
Spieler an mehreren Geräten gleichzeitig zocken. Außerdem sollen dadurch Kinder und Jugendliche von den
bunten Automaten ferngehalten werden.
Soweit die Theorie. Die schwarz-gelbe Spielerkarte
wird diese Ziele nämlich definitiv verfehlen. Das Bundeswirtschaftsministerium plant die Einführung einer
Spielerkarte, die personenungebunden ist. Das Ministerium befindet sich damit übrigens in wohliger Einigkeit
mit der Automatenindustrie. Lobbypolitik vom Feinsten!
Fakt ist nämlich: Die personenungebundene Spielerkarte ist aus suchtpolitischer Sicht komplett nutzlos.
Wenn die Karte nicht auf eine Person beschränkt ist,
kann sie ja einfach weitergereicht werden - an Spielsüchtige, an Kinder oder Jugendliche, an wen auch immer.
Genauso ist die finanzielle Begrenzung und die zeitliche Pause der Spielerkarte viel zu leicht zu umgehen:
Wenn die Karte nicht personengebunden ist, kann ein
Spieler doch einfach einen anderen Namen angeben.
Selbst wenn ein Kasino oder eine Spielhalle von sich aus
den Zutritt verwehrt: Es ist doch ein Kinderspiel für die
Spieler, sich einfach in der nächsten Halle die nächste
Karte zu holen. Ich wiederhole noch einmal: Es handelt
sich um Süchtige - Menschen, die um jeden Preis ihr
Verlangen nach dem Spiel bedienen wollen. Eine
personenungebundene Karte ist für die Betroffenen doch
der reinste Witz.
Man kann kaum glauben, dass die Bundesregierung
dermaßen kurz gedacht hat. Selbst in den eigenen Reihen hält man den Vorschlag der Bundesregierung für zu
kurz gegriffen. Bundesdrogenbeauftragte Mechthild
Dyckmans, FDP, hält die Gesetzesvorlage lediglich für
eine „Übergangslösung“.
Ganz einig scheint man sich tatsächlich auch innerhalb des Kabinetts gar nicht zu sein. Das Bundesministerium für Gesundheit favorisiert nämlich die Einführung einer personengebundenen Karte. So wären
Jugendschutz und Spielerschutz tatsächlich schon eher
gewährleistet. Andere Länder haben bereits Erfahrungen mit einer solchen Karte gesammelt, sodass eine Einführung nach Abklärung der datenschutzrechtlichen und
technischen Fragen generell durchaus möglich wäre.
Ich sage es mit den Worten meines geschätzten Kollegen Harald Terpe, der es besser nicht hätte auf den
Punkt bringen können: Eine personenungebundene
Karte ist nichts als ein Geschenk an die Industrie. Mit
Suchtbekämpfung und -prävention hat das rein gar
nichts zu tun. Ich schließe mich dem Fachverband
Glücksspielsucht an: Wir brauchen eine gut überdachte
und vor allem wirksame Lösung mit einer personalisierten Karte. Außerdem muss die Systematik der
Geräte entschärft werden, sodass Verluste begrenzt
werden.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11164, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10961 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und Grünen bei
Enthaltung der SPD angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie
in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 27:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Wolfgang
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Gunkel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht
- Drucksache 17/9187 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruht das im Grundgesetz verankerte Grundrecht
auf Asyl nach Art. 16 a GG auf dem Zufluchtgedanken
und setzt daher grundsätzlich einen Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Der Betroffene muss mithin in eine erfolglose Lage gebracht
werden, die grundsätzlich alle Lebensbereiche betreffen
kann.
Eine Verfolgung liegt allerdings erst dann vor, wenn
die Beeinträchtigungen eine die Menschenwürde verletzende Intensität erreichen, es sei denn, es werden gezielt
Leben, Leib oder persönliche Freiheit verletzt.
Zudem begründen Nachteile, die jemand aufgrund
der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch
bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen und
Kriegen, keine Verfolgung. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgestellt.
Mir ist wichtig, dies gleich zu Beginn meiner Rede
noch einmal deutlich hervorzuheben, da wir seit Ende
Juli 2012 einen stark erhöhten Zugang von Asylbewerbern, Kinder und Erwachsene, aus den Herkunftsländern Serbien und Mazedonien erleben.
Allein im September sind beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 6 691 Asylerstanträge gestellt worden, 1 395 von serbischen Staatsangehörigen und 1 040
von mazedonischen Staatsangehörigen. Dieser Trend
setzt sich im laufenden Monat fort.
Bei den Antragstellern handelt es sich nach den
Erkenntnissen des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge zu 90 Prozent um Personen mit der Volksgruppenzugehörigkeit der Roma. Sie begründen ihre
Asylanträge überwiegend mit wirtschaftlichen Gründen.
Folglich werden ihre Anträge zu 99 Prozent abgelehnt.
Gleichzeitig haben uns in den letzten Wochen Berichte über überfüllte Aufnahmelager in mehreren Ländern erreicht. Aufgrund des starken Zustroms aus Serbien und Mazedonien sind die bisher zur Verfügung
stehenden Kapazitäten bereits vielerorts außerordentlich stark angespannt.
Ich wundere mich daher, dass die SPD-Fraktion sich
nicht dieses drängenden Problems annimmt und stattdessen mit ihrem Gesetzentwurf sogar noch für eine weitergehende Öffnung des deutschen Asylrechts eintritt.
Dies ist schlicht Realitätsverweigerung.
Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiative des
Bundesministers des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich
MdB, nach angemessenen Lösungen für eine Begrenzung des starken Zustroms von Asylbewerbern aus Serbien und Mazedonien zu sorgen. Offensichtlich handelt
es sich bei den von mir angesprochenen Personen eben
nicht um Asylberechtigte im Sinne des Art. 16 a GG, sondern um klassische Wirtschaftsflüchtlinge, die zumindest
auch angelockt von der finanziellen Unterstützung nach
Deutschland reisen.
Selbstverständlich darf niemand in Europa hungern,
aber es obliegt zunächst einmal den Regierungen in Serbien und Mazedonien, für eine entsprechende Versorgung der eigenen Bevölkerung zu sorgen.
Sollte dies aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten
nicht möglich sein, ist die Europäische Union mit Sicherheit kurzfristig bereit, Unterstützung vor Ort zu leisten. Dies setzt jedoch auch die Bereitschaft der jeweiligen Länder voraus, entsprechende Anträge zu stellen
und die angebotenen Hilfsleistungen dann auch abzurufen.
Solange dies nicht erfolgt, ist aus meiner Sicht eine
Abschaffung der Visumsfreiheit für beide Länder eine logische, sich aufdrängende und auch mögliche Konsequenz.
Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion lässt all dies
unberücksichtigt und fordert stattdessen eine Ausweitung des Schutzes für unbegleitete Minderjährige in den
bestehenden aufenthalts- und asylrechtlichen Regelungen.
Er geht dabei irrig davon aus, dass die vorgeschlagenen Änderungen aufgrund der Rücknahme zuvor eingelegter Vorbehalte bei der Zeichnung der UN-Kinderrechtskonvention erforderlich seien.
Im Begründungsteil des Gesetzentwurfs gesteht die
SPD-Fraktion dann allerdings doch ein, dass die vorgeschlagenen Änderungen zwar nicht zwingend vorgegeben seien, „gleichwohl aber für einen sachgerechten
Umgang mit den besonderen Bedürfnissen von Kindern
sachlich geboten sind“, vergleiche Bundestagsdrucksache 17/9187, Seite 5.
Hierdurch wird deutlich, dass es eben doch keine unmittelbare Handlungspflicht des Gesetzgebers gibt, aufgrund der Rücknahme der Vorbehalte tätig zu werden,
sondern dass die UN-Kinderrechtskonvention lediglich
als „Rettungsanker“ für überzogene Forderungen herhalten muss.
Im Übrigen sieht auch die verwaltungsgerichtliche
Rechtsprechung keine Veränderungen aufgrund der
Rücknahme der erklärten Vorbehalte durch die Bundesregierung.
In seiner Entscheidung vom 10. Februar 2011 führt
das Bundesverwaltungsgericht - Az. 1 B 22.10 - zur
Ausstrahlungswirkung der UN-Kinderrechtskonvention
auf das nationale Ausländer- und Asylrecht aus:
Zu Protokoll gegebene Reden
Stephan Mayer ({0})
An der Notwendigkeit einer jeweils einzelfallbezogenen Abwägung hat sich durch das nunmehr auch
in Deutschland unmittelbar geltende Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November
1989, BGBl II 1992 S. 121, - UN-Kinderrechtskonvention, KRK, - und dessen Art. 3 Abs. 1 nichts Wesentliches geändert, da schon bisher gemäß Art. 8
EMRK bzw. Art. 6 GG das besondere Gewicht der
familiären Bindungen und insbesondere das Kindeswohl minderjähriger Kinder zu berücksichtigen
waren. Art. 3 Abs. 1 KRK sieht vor, dass bei allen
Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des
Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
Weitere Oberverwaltungsgerichte, zum Beispiel OVG
Lüneburg, Beschluss vom 29. März 2011 - Az. 8 LB 121/
08, und Verwaltungsgerichtshöfe, zum Beispiel Bayerischer VGH, Beschluss vom 8. Juli 2011 - Az. 10 ZB
10.3028, haben sich längst dieser Rechtsprechung angeschlossen.
Zuvor hatte das Oberlandesgericht Karlsruhe in seiner Entscheidung vom 2. Dezember 2010 - Az. 2 UF
172/10 - bereits herausgestellt, dass Art. 22 KRK nicht
unmittelbar im deutschen Recht anwendbar sei, da er
auf ein vereinbartes Ziel, die „Sicherstellung angemessenen Schutzes und humanitärer Hilfe bei der Wahrnehmung von Rechten“, abstelle. Die Formulierung „Die
Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen“ verdeutliche zudem, dass es der Handlungsfreiheit der Vertragsstaaten überlassen bleibe, welche Maßnahmen sie zur
Erreichung der Ziele ergreifen würden. Auch der Zweck
der UN-Kinderrechtskonvention gebiete keine andere
Auslegung. Schließlich seien nur geeignete Maßnahmen
gefordert. Die UN-Kinderrechtskonvention würde kein
Recht enthalten, welches eine Vertretung durch einen
Rechtsanwalt im Asylverfahren erfordere.
Aufgrund der Rücknahme der Vorbehalte zur UNKinderrechtskonvention durch die Bundesregierung besteht somit kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
Auch aufgrund der ebenfalls im Gesetzentwurf aufgeführten EU-Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über
gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in nationales Recht besteht kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Die SPD-Fraktion übersieht in
ihrer Darstellung, dass die EU-Richtlinie längst in nationales Recht umgesetzt worden ist.
Durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 sind die Vorgaben der
Richtlinie bereits nationales Recht geworden.
Hierzu gehören auch die besonderen Vorgaben, die
die Situation unbegleiteter Minderjähriger betreffen,
wie zum Beispiel Art. 10 der Richtlinie.
So wurde beispielsweise in § 58 AufenthG ein neuer
Absatz aufgenommen, der festschreibt, dass sich vor der
Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers die Behörde zu vergewissern hat, dass dieser im
Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zur
Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.
Zudem ist durch die Ergänzung des § 62 AufenthG die
Berücksichtigung des Wohles des Kindes bei der Abschiebungshaft noch einmal gesondert hervorgehoben
worden.
Die Vorgaben des Art. 10 der Richtlinie wurden bereits zuvor in Deutschland durch § 42 SGB VIII umgesetzt und kamen auch bereits in der Praxis zur Anwendung.
Ein weitergehender Umsetzungsbedarf besteht daher
aus meiner Sicht auch bezüglich der EU-Richtlinie
2008/115/EG nicht.
Abschließend kann somit festgehalten werden, dass es
keine rechtliche Verpflichtung gibt, für den Gesetzgeber
tätig zu werden und die bestehenden Regelungen des
Aufenthaltsgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes zugunsten von unbegleiteten Minderjährigen zu verändern.
Angesichts der fortlaufend steigenden Zahlen von
Asylbewerbern aus Serbien und Mazedonien sollte es
aus meiner Sicht eher Aufgabe des Gesetzgebers sein,
wirksame Maßnahmen gegen den offensichtlichen Missbrauch des Grundrechts auf Asyl anzugehen. Hierzu
würde ich mich auch auf Vorschläge der Oppositionsfraktionen freuen.
Dies setzt aber natürlich voraus, dass man endlich
akzeptiert, dass weder die EU-Grundrechtecharta noch
die UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf Einreise
nach Deutschland allein wegen der Minderjährigkeit
gewähren.
Zweieinhalb Jahre ist es her, dass das Kabinett am
3. Mai 2010 den Beschluss zur Rücknahme des Vorbehalts gegen die Kinderrechtskonvention fasste. Zwei
Tage später kommentierte die Bundesjustizministerin
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Plenum diesen
Kabinettsbeschluss als einen „wirklich guten Tag für die
Kinderrechte“. Weiter sagte sie: „... natürlich brauchen
minderjährige Flüchtlinge einen ganz besonderen
Schutz“ und: „Natürlich ist es richtig, im Asylverfahren
nicht nur Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr, sondern
bis zum 18. Lebensjahr einen angemessenen Rechtsbeistand zur Seite zu stellen …“
Das sehen wir genauso. Allerdings hat die Bundesjustizministerin an gleicher Stelle auch gesagt, dass allein
die Länder nun zu prüfen und zu überdenken hätten, wie
sie das Kindeswohl stärker bei ihren Entscheidungen berücksichtigen könnten. Auf Bundesebene sei keine Notwendigkeit gegeben, gesetzgeberisch tätig zu werden.
Das ist widersprüchlich: Einerseits sagte die Ministerin, es sei „natürlich“ notwendig, minderjährige Flüchtlinge ganz besonders zu schützen, andererseits wollte sie
die bestehenden Gesetze nicht dahin gehend ändern,
dass dieser Schutz auch gewährt wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
In meiner Rede vom 28. Oktober 2010 habe ich ausführlich aufgezeigt, wo überall dringender Handlungsbedarf im Asylverfahrensgesetz, im Aufenthaltsgesetz
und im Sozialrecht gegeben ist. Diese Änderungen sind
notwendig, um den besonderen Bedürfnissen von minderjährigen ausländischen Kindern gerecht zu werden.
Heute stelle ich leider fest, dass die schwarz-gelbe
Koalition es mit der tatsächlichen Umsetzung der Kinderrechte im Ergebnis nicht ganz so ernst meinte und es
bei dem symbolischen Akt der Rücknahme der Vorbehaltserklärung belassen hat.
Da wollen wir aber nicht stehen bleiben. Mit unserem
heute eingebrachten Gesetzentwurf wollen wir die
Rechte von Minderjährigen im Aufenthalts- und Asylverfahren tatsächlich konkret stärken. Zentraler Gedanke
unserer vorgeschlagenen Gesetzesänderung ist die Heraufsetzung der Handlungsfähigkeit von minderjährigen
Ausländern von bisher 16 Jahren auf 18 Jahre, also auf
die allgemeine Grenze für die Volljährigkeit.
Gemäß Art. 1 der Kinderrechtskonvention, KRK, ist
„ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr
noch nicht vollendet hat“. Laut Art. 22 KRK müssen die
Vertragsstaaten sicherstellen, dass ein Kind, das die
Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt, angemessenen
Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der
Rechte erhält, die mit der KRK oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte gewährt
werden, und zwar unabhängig davon, ob sich das
Flüchtlingskind allein oder in Begleitung seiner Eltern
oder anderer Personen befindet.
Bislang galt ein unbegleitetes Flüchtlingskind schon
ab 16 Jahren als verfahrensfähig und damit als fähig,
das Asylverfahren alleine durchzuführen. Das Asylverfahren ist ein kompliziertes Verfahren, bei dem sich persönliches Tun und Unterlassen schnell zuungunsten des
Antragstellers bzw. der Antragstellerin auswirken kann,
und sei es nur durch das Verstreichenlassen von Fristen.
Dass Minderjährige in diesem Verfahren, in dem sie
Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention geltend
machen, bislang auf sich allein gestellt sind, ist ein Verstoß gegen Art. 1 KRK in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1
KRK. Dies ist ein Verfahren, das eben nicht sicherstellt,
dass ein Flüchtlingskind Schutz und humanitäre Hilfe
bei der Wahrnehmung seiner Rechte erhält.
Ein solcher Schutz kann nur gegeben sein, wenn dem
Flüchtlingskind ein Vertreter zur Seite gestellt wird, der
es davor bewahrt, Fehler zu machen.
Hinzu kommt, dass Art. 22 Abs. 2 KRK bestimmt, dass
ein unbegleitetes Flüchtlingskind den gleichen Schutz
erhalten muss wie jedes andere Kind, das seine Eltern
und/oder Familie verloren hat. Kindern wird, wenn sie
keine gesetzlichen Vertreter haben, grundsätzlich eine
Vertretung beigeordnet, die für ihre rechtlichen Interessen sorgt. Allein im Asylverfahren gilt das bislang nicht.
Durch die asylrechtliche Verfahrensfähigkeit erhalten
16- und 17-jährige Asylbewerber im Asylverfahren nicht
den gleichen Schutz wie sonstige Minderjährige in anderen Verfahren. Das allerdings verstößt gegen Art. 1 KRK
in Verbindung mit Art. 22 Abs. 2 KRK. Die Konsequenz:
§ 12 Abs. 1 AsylVfG muss abgeschafft werden. Dann
gelten gemäß § 12 Abs. 2 AsylVfG - der dann zu § 12
Abs. 1 AsylVfG wird - die allgemeinen Vorschriften über
die Volljährigkeit nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch.
Danach hat dann das Jugendamt unverzüglich einen
Vormund für das Flüchtlingskind zu bestellen, der dann
auch im Asylverfahren tätig wird.
Von der Aufhebung der Verfahrensfähigkeit von 16- und
17-Jährigen erhoffen wir uns auch ein Ende der leider
manchmal immer noch rechtswidrigerweise erfolgenden
Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Aufnahmeeinrichtungen, § 44 AsylVfG, und Gemeinschaftsunterkünften, § 53 AsylVfG. Nach den Vorschriften des SGB muss das Jugendamt unbegleitete
Minderjährige in Obhut nehmen. Ist dies geschehen,
muss das Flüchtlingskind in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer sonstigen geeigneten Wohnform wohnen.
So soll es auch sein. Weder in Erstaufnahmeeinrichtungen noch in Gemeinschaftsunterkünften kann das
Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden, wie es
Art. 3 Abs. 1 KRK fordert. Zudem legt Art. 20 KRK fest,
dass ein Kind, das aus seinem familiären Umfeld gerissen ist, Anspruch auf besonderen Schutz und Beistand
des Staates hat. Die Unterbringung muss in einer „geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung“ erfolgen.
Allerdings geschieht es immer wieder, dass Jugendämter aus der asylverfahrensrechtlichen Handlungsfähigkeit schließen, dass eine Inobhutnahme nicht notwendig
ist, und das Kind dann eben doch in der Erstaufnahmeeinrichtung landet. Durch die Streichung des § 12 Abs. 1
Asylverfahrensgesetz kann es nicht mehr zu diesem Missverständnis kommen.
Die Berücksichtigung des Kindeswohles ist schließlich der Maßstab, an dem sich Handlungen gegenüber
Kindern vorrangig messen lassen müssen. So steht es in
Art. 3 Abs. 1 KRK. Dies wollen wir in einem neuen
Abs. 3 des § 12 AsylVfG festschreiben ebenso wie in § 1
AufenthG. Es mag zwar sein, dass das Kindeswohl auch
über Art. 6 GG und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK, bei Handlungen und Entscheidungen Kindern und Familien gegenüber mit berücksichtigt wurde; Art. 3 KRK ist demgegenüber jedoch
die speziellere Vorschrift. Zudem konkretisiert die KRK
gerade kinderspezifische Rechte.
Wie wichtig und durch die KRK geboten eine Kindern
und Jugendlichen angemessene Unterbringung ist, habe
ich bereits dargelegt. Im Flughafenasylverfahren erfolgt
grundsätzlich eine Unterbringung auf dem Flughafengelände. Dies ist keine Flüchtlingskindern angemessene
Unterbringung. Schon deswegen müssen sie aus dem
Anwendungsbereich des Flughafenverfahrens herausgenommen werden, wie wir es mit unserem Gesetzentwurf
vorschlagen. Außerdem ist bei unbegleiteten Kindern
und Jugendlichen ein sogenanntes Clearingverfahren bei dem im Sinne des Kindeswohls und anhand des Einzelschicksal überlegt wird, welches aufenthaltsrechtliche Ziel den Interessen des Kindes am ehesten gerecht
wird - nach Einreise durchzuführen. Ein solches Verfahren kann nur in einer geeigneten Einrichtung gelingen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Damit es keinen Zweifel mehr daran geben kann, dass
unbegleitete Flüchtlingskinder vom Jugendamt in Obhut
zu nehmen und nicht in Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen sind, muss dies schließlich ausdrücklich so
ins Gesetz geschrieben werden. Daher fordern wir die
Anfügung eines Satzes 3 in § 53 Abs. 1 AsylVfG, der
ebendies klarstellend sagt.
Wir fordern, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht an der Grenze zurückgeschoben werden. Das
wollen wir ausdrücklich so in § 15 AufenthG, der die Zurückweisung regelt, festlegen. Zwar dürfen Flüchtlinge,
die einen Asylantrag gestellt haben, gemäß § 15 Abs. 4
Satz 2 AufenthG nicht zurückgewiesen werden, was natürlich auch für Flüchtlingskinder gilt. Allerdings fällt es
gerade dieser Personengruppe schwer, ein Asylbegehren
unmittelbar und spontan an der Grenze vorzutragen. Es
bedarf auch hier eines Clearingverfahrens, was, wie bereits dargestellt, nur in einer „geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung“, Art. 20 KRK, durchgeführt werden
kann.
Lassen Sie mich nun zu der sogenannten Altersfeststellung von Jugendlichen kommen. Eine solche wird immer dann notwendig, wenn Zweifel an dem Lebensalter
eines jugendlichen Flüchtlings bestehen. Hier gibt es
mehrere Methoden. Ausgangspunkt ist zumeist eine medizinische Untersuchung. Umstritten ist vor allem die
Röntgenuntersuchung der Handwurzelknochen, bei der
es zu Abweichungen von bis zu einem Jahr nach oben
und nach unten kommen kann, einen gesunden, normal
ernährten Jugendlichen vorausgesetzt. Leider kann dies
jedoch nicht immer der Maßstab sein; Vorerkrankungen
und Mangelernährung der Flüchtlingskinder können zu
Abweichungen von mehreren Jahren führen. Wenn jedoch Zweifel an dem Ergebnis bestehen, muss unserer
Ansicht nach das Jugendamt eingeschaltet werden. Dieses hat die notwendige Kompetenz, um das Alter des Jugendlichen herauszufinden. Und selbstverständlich muss
der Jugendliche in die Maßnahmen eingewilligt haben.
Um schließlich noch weiter umfassend dafür Sorge zu
tragen, dass ein Flüchtlingskind nicht in einer Erstaufnahmeeinrichtung oder einer Gemeinschaftsunterkunft
im Sinne des AslyVfG landet, schlagen wir die Einfügung eines ergänzenden Satzes in § 42 SGB VIII vor, der
die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen durch
das Jugendamt regelt. Wir wollen deutlich in das Gesetz
schreiben, dass die genannten Unterkünfte für volljährige Asylbewerber keine für unbegleitete Minderjährige
geeigneten Wohnformen darstellen, und zwar auch dann
nicht, wenn das zuständige Jugendamt Kapazitätsprobleme geltend machen sollte.
Das Asyl- und Aufenthaltsrecht ist eine hochkomplizierte Materie. Kenntnisse auf diesem Rechtsgebiet sind
jedoch unerlässlich für denjenigen Rechtsbeistand, der
einen jugendlichen Flüchtling bei der Geltendmachung
seiner Rechte unterstützen will. Bereits heute beantragen viele Jugendämter als Vormund eines minderjährigen Flüchtlings im Ausländer- und Asylrecht erfahrene
Rechtsanwälte als Verfahrenspfleger, § 1909 BGB, für
die Durchführung eines Verfahrens in diesen Rechtsgebieten, da ihnen selbst hier meistens die nötige Sachkunde fehlt.
Wir wollen dies zur Regel machen. Und in der ganz zu
Anfang meines Beitrags zitierten Rede von Frau
Leutheusser-Schnarrenberger betonte ja auch die Frau
Ministerin, dass Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr natürlich einen angemessenen Rechtsbeistand erhalten
sollen. In unserem Gesetz schlagen wir eine diesbezügliche Änderung in § 42 SGB VIII vor.
Dies sind die Änderungen im Detail. Doch fordern
wir nicht nur Detailregelungen, sondern eine umfassend
kinderfreundliche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Integrationspolitik. Wir zeigen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, dass die Rücknahme des Vorbehalts Wirkungen zeigen muss, statt nur symbolisch zu wirken. Wir
stehen mit umfassenden Vorschlägen zum Bleiberecht
dafür ein, dass auch geduldete Kinder und Jugendliche
die Chance auf einen legalen Aufenthalt bekommen.
Und wir verdeutlichen mit unserer Forderung nach Abschaffung der Optionspflicht, dass es für uns keine deutschen Kinder erster und zweiter Klasse gibt.
Damit setzen wir eine Politik fort, die wir bereits früher begonnen haben. Ich erinnere daran, dass meine
Fraktion die Rücknahme des Vorbehalts gemeinsam mit
dem damaligen Koalitionspartner schon in der 14. und
15. Wahlperiode angemahnt hat. Aus dieser Tradition
heraus bitte ich Sie im Interesse und zum Wohle unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge: Stimmen Sie diesem Gesetz zu.
Die Situation von minderjährigen Flüchtlingen in den
Blick zu nehmen, ist ein grundsätzlich ehrenwertes Anliegen. Auch einzelne Vorschläge des SPD-Gesetzentwurfs sind aus unserer Sicht diskutabel. Unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge müssen ihren Bedürfnissen
entsprechend behandelt werden. Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge müssen ihren Schutzbedürfnissen
entsprechend behandelt werden. Für uns gehört dazu
auch das Recht auf Bildung. Das Kindeswohl muss im
Zentrum stehen.
Ob eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften hier abträglich sein kann, sollten die Länder sich
überlegen. Überhaupt ist zu sagen, dass vieles bereits
von den Ländern gemacht werden könnte. Da könnte die
SPD selber viel von dem gestalten, was sie hier im Bundestag vorträgt - wenn sie es denn ernsthaft wollte.
Warum macht die SPD den Gesetzentwurf - ausgerechnet jetzt? Sie hat elf Jahre im Bund mitregiert und
nichts in diesem Bereich geschafft. Aber in der Opposition will sie allen zeigen, wo es langgeht. Ich habe den
Eindruck, dass die SPD-Bundestagsfraktion sich hier
nicht mit ihren Landesregierungen abgestimmt hat. Von
dort würden wohl eher kritische Töne kommen. Insofern
ist der Gesetzentwurf eher ein billiger, aber wenig überzeugender Anbiederungsversuch an die entsprechenden
Interessengruppen.
Im Unterschied zu elf Jahren SPD haben drei Jahre
Regierungsbeteiligung der FDP sehr viel mehr bewirkt Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
gerade im Bereich des humanitären Ausländerrechts.
Wir haben in den letzten drei Jahren geschafft, während
die SPD in ihrer Regierungszeit versagt hat: Wir haben
dafür gesorgt, dass im Rahmen des sogenannten Richtlinienumsetzungsgesetzes das Kindeswohl einen zentralen
Platz im Ausländerrecht erhält. Die Koalition aus Union
und FDP hat eine neue Integrationspolitik auf den Weg
gebracht: Wir erschließen die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser und stärken den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft. Fördern und Fordern gehören zusammen.
Wir haben die Residenzpflicht für Geduldete und
Asylbewerber gelockert, um ihnen die Aufnahme einer
Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. Damit
steigern wir die Chancen von jungen Migranten, auf
dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in unserer Gesellschaft weiter zu entwickeln.
Die christlich-liberale Koalition eröffnet so Perspektiven für Menschen, die in unser Land gekommen sind.
Multikultiromantik oder Desintegration durch Wegschauen helfen uns nicht weiter. Die Koalition aus FDP
und CDU/CSU geht dagegen ohne Scheuklappen bestehende Defizite der Integrationspolitik an.
Es gilt, die Möglichkeiten der Zuwanderung für unser
Land besser zu nutzen. Mit unseren bisherigen Gesetzesinitiativen wurden in ausgewogener Weise Maßnahmen
zur Förderung der Integration und zur humanitären
Besserstellung von Ausländern, die in Deutschland Hilfe
und Schutz suchen, ergriffen. Wir haben erstmals für
minderjährige und heranwachsende geduldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges
Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Die rotgrüne Koalition hatte das nicht zustande gebracht.
Auch in anderen Bereichen der Zuwanderungssteuerung haben wir längst viel mehr geleistet, als die SPD in
den elf Jahren ihrer letzten Regierungsbeteiligung: Wir
helfen Frauen in Not. Zwangsheirat wird jetzt explizit
als Straftat benannt. Wir haben auch den Opfern von
Zwangsverheiratungen eine Perspektive mit einem eigenständigen Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht gegeben.
Jetzt erhalten sie eine Chance, sich zu befreien. Dem
dient auch die Verlängerung der Antragsfrist für die
Aufhebung der Ehe.
Die Ausländerbehörden haben wir verpflichtet, vor
Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis festzustellen,
ob einer Pflicht zur ordnungsgemäßen Integrationskursteilnahme nachgekommen wurde. Damit können die Integrationskurse besser fokussiert und aktive Integrationspolitik gestaltet werden. Das erhöht die Chancen
für Menschen, die nach Deutschland kommen, auch in
Deutschland wirklich anzukommen und sich eine Existenz aufzubauen. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP
verbessert tatkräftig die Integration ausländischer Menschen in Deutschland und eröffnet ihnen Perspektiven.
Wir fördern und fordern! So kommt Deutschland - und
alle, die hier leben wollen - voran. Der Schlüssel für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist erfolgreiche Integration. Wir stellen die Weichen dafür!
Unter diesem Aspekt werden wir auch die jetzt vorgelegten Wünsche der SPD prüfen. Schon jetzt lässt sich
aber sagen, dass ihre Wünsche, etwa Zurückweisungen
an der Grenze oder das Flughafenverfahren generell
auszuschließen, solcherart sind, wie sie die SPD selbst
in ihrer Regierungszeit nie auch nur versucht hat.
Sicherlich ist die SPD einverstanden, dass wir deshalb solche Vorschläge, denen näherzutreten sie selbst
in Regierungszeiten nicht geneigt war, nicht zu unseren
Hauptprioritäten bei der Diskussion um besseren
Flüchtlingsschutz machen.
Die SPD-Fraktion legt hier heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem endlich die Kinderrechtskonvention
der Vereinten Nationen im deutschen Aufenthalts- und
Asylrecht umgesetzt werden soll. Mit Unterzeichnung
dieser Konvention im Jahr 1991 hatte die damalige Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern einen
Vorbehalt eingelegt, mit dem sich die Bundesrepublik
Deutschland eine schlechtere Behandlung von ausländischen Kindern vorbehalten hatte. Die von der Fraktion
Die Linke bereits zu Beginn der Wahlperiode geforderte
Rücknahme des Vorbehalts ist mittlerweile erfolgt. Die
von der SPD nun vorgeschlagenen Gesetzesänderungen
entsprechen weitgehend dem, was die Linke ebenfalls in
ihrem Antrag im Jahr 2009 gefordert hatte ({0}).
Im Zentrum der Kritik steht die Asylverfahrensmündigkeit bereits mit 16 statt mit 18 Jahren. Einige der
minderjährigen Asylsuchenden werden also zumindest
im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Das soll
mit diesem Gesetzentwurf geändert werden. Der Gesetzentwurf sieht eine Reihe weiterer Verbesserungen im
Asylverfahren und bei den Aufnahmebedingungen vor.
So sollen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht
mehr in Sammelunterkünften untergebracht, sondern
nur noch in Obhut der Jugendämter genommen werden
und entsprechend in kinder- und jugendgerechten Einrichtungen leben.
Die Linke begrüßt diesen Gesetzentwurf; an einigen
Stellen müsste er allerdings deutlich weiter gehen. So
sollen nach dem Gesetzentwurf unbegleitete Minderjährige aus dem Flughafenasylverfahren herausgenommen
werden. An dieser Stelle wäre es nicht falsch gewesen,
das rechtsstaatswidrige Schnellverfahren im Flughafentransitbereich ganz zu streichen. Mindestens hätte man
aber auch die Familien dort herausnehmen müssen;
denn für Kinder ist eine solche Umgebung generell
ungeeignet, ob nun die Eltern dabei sind oder nicht.
Ähnliches gilt bei der Abschiebungshaft. Unbegleitete
Minderjährige sollen nach dem Willen der SPD nicht in
Sammelunterkünften und nicht im Flughafentransit untergebracht werden. Es wäre nur konsequent gewesen,
dann auch die Abschiebungshaft für Minderjährige, unbegleitet oder nicht, zu untersagen. Neben der Inobhutnahme durch die Jugendämter sollte es außerdem einen
Anspruch auf eine Rechtsvertretung für unbegleitete
Minderjährige geben. Wir alle wissen, dass es sich beim
Asyl- und Aufenthaltsrecht in Deutschland um eine
Zu Protokoll gegebene Reden
hochkomplexe Rechtsmaterie handelt. Dafür brauchen
Kinder und Jugendliche entsprechende Unterstützung,
die selbst von engagierten Vormündern nicht geleistet
werden kann.
An einem Punkt widersprechen wir dem Gesetzentwurf der SPD allerdings deutlich. Sie wollen medizinische Eingriffe zur Altersfeststellung mit Einschränkungen weiter zulassen. Dabei handelt es sich meist um eine
Röntgenuntersuchung der Handwurzelknochen. Wir lehnen so etwas generell ab und fordern stattdessen, im
Zweifel auf die Aussagen der Betroffenen zu vertrauen.
Einen weiteren Punkt vermissen wir im Gesetzentwurf der SPD. Bei weitem nicht alle EU-Staaten haben
das Niveau der Fürsorge für unbegleitete Minderjährige, das in Deutschland glücklicherweise bereits erreicht ist. Das gilt besonders für jene Staaten, die ohnehin die EU-Vorgaben zu den Aufnahmebedingungen für
Schutzsuchende unterlaufen. Doch wenn festgestellt
wird, dass die minderjährigen Flüchtlinge bereits in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben,
versucht man sie ihm Rahmen der Dublin-Zuständigkeitsregeln schnell wieder dorthin loszuwerden. Dabei
wird auch wenig Rücksicht darauf genommen, welche
psychischen Konsequenzen eine solche Behandlung für
die Kinder und Jugendlichen hat oder ob es in dem betreffenden EU-Staat überhaupt ein angemessenes System für die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen gibt. So droht jungen Flüchtlingen weiter
die Abschiebung nach Italien, auch wenn sie dort auf
der Straße leben müssen. Das ließe sich nur mit einem
generellen Verzicht auf Überstellungen von Minderjährigen im Dublin-Verfahren verhindern. Und auch an
diesem Punkt gilt: Minderjährige im Familienverbund
dürfen nicht schlechter gestellt sein als unbegleitete
Minderjährige. Auch sie müssen davor geschützt werden, im europäischen Zuständigkeitsdschungel hin- und
hergeschoben zu werden.
Bündnis 90/Die Grünen haben sich stets für eine vorbehaltlose Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention
eingesetzt und dies auch in mehreren parlamentarischen
Initiativen zum Ausdruck gebracht. Nach der Rücknahme des deutschen Vorbehalts müssen nun auch die
bundesrechtlichen Konsequenzen durch Gesetzesanpassungen insbesondere im Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetz gezogen werden.
Die Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums
und des Bundesjustizministeriums, aus der Rücknahme
der deutschen Vorbehaltserklärung ergebe sich, insbesondere mit Blick auf das Asyl- und Aufenthaltsrecht,
„kein legislativer Handlungsbedarf“, ist nicht nachzuvollziehen, da dann völlig unverständlich ist, warum die
Bundesregierung seit 18 Jahren mit allen Mitteln versucht hat, die Rücknahme einer angeblich völlig folgenlosen Vorbehaltserklärung zu verhindern.
Es trifft nicht zu, dass ausländischen Kindern schon
heute alle sich aus der UN-Kinderrechtskonvention tatsächlich ergebenden Rechte gewährt werden. Auch
wenn einzelne Regelungen der Verwaltungspraxis Spielräume bieten, ist der Gesetzgeber trotzdem selbst gefordert. Andernfalls besteht die Gefahr uneinheitlicher
Standards innerhalb Deutschlands. Dies gilt insbesondere für die zentrale Frage der Handlungsfähigkeit von
Minderjährigen.
Der SPD-Gesetzentwurf greift diese zentrale Forderung auf und verankert erfreulicherweise im vorliegenden Gesetzentwurf das Prinzip des Kindeswohls als vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt. Beim
Flughafenasylverfahren schlägt die SPD vor, unbegleitete Minderjährige von diesem Schnellverfahren auszunehmen, das im Flughafentransit unter Bedingungen der
Kasernierung durchgeführt wird. Dies begrüßen wir,
wenngleich die Forderung hinter der grünen Initiative
zurückbleibt, die eine vollständige Abschaffung des
Flughafenverfahrens vorsieht.
Eine Klarstellung sieht der SPD-Gesetzentwurf bei
der Inobhutnahme von minderjährigen Flüchtlingen vor.
So müsste schon heute eine Inobhutnahme flächendeckend erfolgen - also eine jugendgerechte Unterbringung, statt einer in Gemeinschaftsunterkünften mit
Erwachsenen - ebenso wie die Bestellung eines Vormundes. Da diese Vorgaben in der Praxis immer wieder unterlaufen werden, ist eine solche Klarstellung hilfreich.
Andere dringend notwendige Verbesserungen für
Flüchtlingskinder werden allerdings durch den Gesetzentwurf nicht gelöst:
Minderjährige Asylsuchende sollten nicht länger aufgrund der EU-Zuständigkeitsverordnung Dublin II in
Abschiebehaft genommen und in andere EU-Länder abgeschoben werden. Die Rückschiebung von Minderjährigen widerspricht dem Kindeswohl.
Solange die Pflicht zur Wohnsitznahme in Gemeinschaftsunterkünften für Flüchtlinge nicht abgeschafft
ist, sollte es zumindest für Familien mit Kindern Ausnahmen geben, um eine geschützte und kindgerechte
Entwicklung der Minderjährigen zu ermöglichen.
Die schwarz-gelbe Koalition muss sich nun endlich
auch der Rechte von Flüchtlingskindern annehmen. Es
darf nicht sein, dass die Rücknahme der Vorbehalte zur
Kinderrechtskonvention folgenlos bleibt. Wer Kinderrechte ernst nimmt, muss die Rechte von Flüchtlingskindern stärken und darf deren Situation nicht länger
ignorieren.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9187 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 33:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/10746 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/11105 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({1})Ulla JelpkeMemet Kilic
Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
Freizügigkeit ist ein hohes Gut innerhalb der EU. Der
Gesetzgeber in Deutschland achtet dies. Trotzdem ist
seitens der Kommission offenbar der Eindruck entstanden, dass wir in der Bundesrepublik die entsprechende
EU-Richtlinie zur Freizügigkeit nicht angemessen
umgesetzt hätten. Mit diesem Gesetz, das wir heute in
zweiter und dritter Lesung abschließend beraten, wird
dieser mögliche Fehler geheilt.
Einer der Kernpunkte dieses Gesetzes ist, dass Lebenspartner von Unionsbürgern beim Recht auf Einreise
und Aufenthalt Ehegatten gleichgestellt werden.
Zweitens erreichen wir eine erhebliche Entlastung
der Kommunen von Bürokratiekosten durch die Abschaffung der rein deklaratorischen und kostenfrei auszustellenden Freizügigkeitsbescheinigung für Unionsbürger. Dieses Dokument erinnert etwas an den von
Reinhard Mey in einem Lied beschriebenen Antrag zur
Erteilung eines Antragsformulars. Als Nachweis für den
rechtmäßigen Aufenthalt reichen in der Tat Pass und
Meldebescheinigung völlig aus.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass wir dieses
Gesetz in einer Zeit beschließen, in der der Migrationsdruck nach Deutschland wieder deutlich höher ist als
noch vor zwei oder drei Jahren. Das beweisen auch die
sprunghaft gestiegenen Asylbewerberzahlen. Insofern
ist es nur zu begrüßen, dass Vorschriften in das Gesetz
Eingang gefunden haben, die zur Bekämpfung von
Scheinehen und eines Missbrauchs des Rechts auf Freizügigkeit geeignet sind. Es ist jetzt vorgesehen, dass
Freizügigkeitsrechte widerrufen werden können, wenn
nachträglich das Vorliegen einer Scheinehe festgestellt
wird. Mein Kollege Stephan Mayer hat bereits in der
ersten Lesung zu diesem Gesetz darauf hingewiesen,
dass es nach Erkenntnissen der Innenministerkonferenz
jährlich mindestens 1 000 Fälle von Scheinehen in
Deutschland geben dürfte. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch höher.
Typische Fallkonstellationen sind das nur formale
Eingehen einer Ehe sowie die Anerkennung einer Vaterschaft ohne das Ziel, tatsächlich eine familiäre Lebensgemeinschaft zu führen. Hinzu kommen unterschiedliche
Formen des Gebrauchs von verfälschten Dokumenten
sowie die Täuschung über den Wohnsitz oder das
Arbeitsverhältnis, insbesondere um Einreise- und Aufenthaltsrechte für Angehörige zu erschleichen.
Wenn man sich vor Augen führt, welche Konsequenzen die Einräumung des Rechts auf Freizügigkeit hat,
dann kann sich die Zahl der Personen, die sich insoweit
einen Aufenthalt in Deutschland erschleichen können,
schnell verdoppeln und verdreifachen. Deshalb muss
hier konsequent ein Riegel vorgeschoben werden. Wir
haben schon zu Beginn der Legislaturperiode mit der
Anhebung der Ehebestandszeit für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht von zwei auf drei Jahre einen wichtigen
Schritt im Kampf gegen die Scheinehen unternommen.
Jetzt folgt ein weiterer wichtiger Baustein gegen den
Missbrauch unseres Aufenthaltsrechts. Und es ist schon
bezeichnend, dass die Fraktion Die Linke und die Grünen diesen Kampf gegen Scheinehen nicht mitmachen
und uns für diese Gesetzesinitiative kritisieren. Zu einer
gelingenden Integration gehört die Aufnahmebereitschaft der einheimischen Bevölkerung. Es ist unbestreitbar, dass die Fälle von Scheinehen insgesamt zu Vorurteilen gegenüber unseren ausländischen Mitbürgern
führen. Insoweit muss es gerade im Interesse einer gelingenden Integrationspolitik sein, Scheinehen konsequent
entgegenzuwirken.
Der von mir angesprochene erhöhte Migrationsdruck
ist auch der Hintergrund für die Frage, ob wir im Rahmen dieses Gesetzes die Einreise von weiteren Familienangehörigen zu Unionsbürgern näher regeln müssen,
insbesondere wenn der Unionsbürger mit diesem Familienangehörigen im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. Wir haben im Zuwanderungsrecht
eine Härtefallklausel für diese Fälle des Familiennachzugs. Wir gehen davon aus, dass es sich dabei um eine
europarechtskonforme Regelung handelt, und sehen
jetzt keinen Nachbesserungsbedarf.
Nicht unerwähnt lassen will ich, dass quasi im „Omnibusverfahren“ an das Gesetz eine klare gesetzliche
Regelung für eine Prüfungsverordnung in Bezug auf
Abschlusstests bei Sprach- und Orientierungskursen
vorgenommen wurde, die bisher nur in der Integrationskursverordnung geregelt waren und auf eine saubere gesetzliche Grundlage gestellt werden sollen.
Ich nehme das zum Anlass, darauf zu verweisen, dass
die verbindliche Prüfungsordnung die Qualität der
Kurse weiter verbessert hat und wir einen transparenteren Einblick haben, wie erfolgreich die einzelnen Träger
bei ihren Integrationskursen sind. Das ist auch für ausländische Mitbürger, die in einer Kommune mit mehreren Anbietern leben, eine wichtige Orientierungshilfe,
um den möglichst besten Integrationskurs zu finden.
Abschließend will ich darauf hinweisen, dass der
Bundesrat eine positive Stellungnahme zu unserem
Gesetz abgegeben und keine Änderungen verlangt hat.
Die Praktiker des Freizügigkeitsrechts vor Ort sehen die
Sache also offenbar genauso wie wir. Auch vor diesem
Hintergrund bitte ich um Zustimmung zu unserem
Gesetzentwurf.
Wie schon in der ersten Lesung zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf der Bundesregierung dargelegt, begrü24440
ßen wir die mit dem Entwurf angestrebte Gleichstellung
von Lebenspartnern mit Ehegatten von Unionsbürgern
ebenso wie das mit dem Entwurf verfolgte Ziel, Bürokratiekosten abzubauen und das Verfahren zu vereinfachen.
Die Einführung einer Missbrauchsklausel erachten
wir nicht als notwendig. Sie ist in der Richtlinie 2004/
38/EG nicht zwingend, sondern als Möglichkeit vorgesehen. In den Beratungen des Gesetzentwurfes wurde
diese Neuregelung besonders kontrovers diskutiert. Insbesondere die Fraktion Die Linke befürchtet, dass es
aufgrund der Einführung der Missbrauchsklausel zu
einer verschärften Überprüfung binationaler Ehen kommen könne, die dadurch stark belastet und einem generellen Missbrauchsverdacht ausgesetzt werden könnten.
Zudem gebe es keine verlässlichen Hinweise darauf,
dass es im Bereich des freizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs zu vermehrten Missbräuchen kommt.
Derartige empirische Nachweise sind auch uns nicht bekannt, und wir halten die Argumente der Fraktion Die
Linke für nachvollziehbar. Allerdings kommen wir andererseits nicht umhin, die diesbezüglichen Sorgen der
Bundesländer ernst zu nehmen.
Nach wie vor wollen wir jedoch freizügigkeitsrechtliche Visaerleichterungen für nachziehende Ehegatten
und sonstige Familienangehörige. Solche haben wir in
unserem Gesetzentwurf auf Drucksache 17/8921, „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des aufenthalts- und
freizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs“, vorgeschlagen. Dazu gehört die Erteilung eines Ausnahmevisums an der Grenze an Familienangehörige, die nicht
Unionsbürger sind, aber einen solchen begleiten oder
ihm nachziehen, wenn sie die familiäre Verbundenheit
mit dem Unionsbürger ebenso nachweisen wie ihre eigene Identität. Außerdem wollen wir eine gesetzliche
Klarstellung dahin gehend, dass der Besitz einer Aufenthaltskarte eines Mitgliedstaates der Europäischen
Union von der Visumspflicht befreit und den Inhaber/die
Inhaberin zur Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte innerhalb der Europäischen Union berechtigt,
und zwar unabhängig davon, ob der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger diesen Familienangehörigen
ständig begleitet oder nicht.
Die Fraktion Die Linke hat in den Beratungen zu dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung einen Änderungsantrag ({0}) gestellt, dem
wir zugestimmt haben. Darin fordert sie, dass Familienangehörigen, die nicht Verwandte auf- bzw. absteigender Linie sind, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit die Einreise erlaubt werden können muss;
insbesondere, wenn ihnen vom primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger Unterhalt gewährt wird, aber
auch in weiteren Fällen.
Dieser Änderungsantrag setzt Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG um. Außerdem zieht er die Konsequenz
aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, EuGH,
vom 5. September 2012, wonach zwar eine Unterscheidung vorgenommen werden kann zwischen Familienangehörigen von Unionsbürgern ({1}) und den sonstigen Angehörigen
hinsichtlich ihrer aufenthaltsrechtlichen Behandlung,
aber dass „Anträge auf Einreise … von Personen, die zu
einem Unionsbürger in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber den Anträgen anderer
Drittstaatsangehöriger in gewisser Weise bevorzugt zu
behandeln“ sind.
Wie schon in dem Votum zur ersten Lesung des
Gesetzentwurfs stellen wir fest, das der Entwurf die eingangs erwähnten positiven Regelungen enthält, wir allerdings weitergehende Regelungen, vor allem Visumerleichterungen für Familienangehörige, wollen.
Wir werden uns daher der Stimme enthalten.
Es freut mich sehr, dass sich alle Fraktionen des Hauses in der ersten Lesung zur Freizügigkeit in der Europäischen Union bekannt haben. Die Kritik an dem Gesetzesvorhaben, die von Teilen der Opposition geäußert
worden ist, kann ich nicht nachvollziehen. Zuwanderung
in die Europäische Union und damit auch Zuwanderung
nach Deutschland bedürfen klarer Regeln, die für alle
Menschen transparent und nachvollziehbar sind. Zuwanderung muss zudem gesteuert werden, damit sich
Einwanderer erfolgreich in unsere Gesellschaft einfügen
können. Das sind wir nicht nur unseren Bürgern schuldig, sondern auch den Einwanderern selbst. Ihnen ist
nicht geholfen, wenn sie keine wirtschaftliche Perspektive in Deutschland haben.
Die Linkspartei fordert Abrüstung an den Grenzen
und verschweigt, dass die christlich-liberale Koalition
Deutschland zu einem attraktiven Einwanderungsland
gemacht hat. Mit der Bluecard ist Deutschland in die gesteuerte Zuwanderung eingestiegen. Menschen von außerhalb der EU können zu uns kommen, wenn sie über
einen Hochschulabschluss verfügen und ein Einkommen
von 44 800 Euro pro Jahr erzielen - für eine Tätigkeit in
einem Mangelberuf reichen sogar 34 900 Euro aus. Wir
schließen damit die Lücke bei Ärzten, Ingenieuren und
IT-Experten, um unseren Wohlstand und unsere Lebensqualität langfristig zu sichern.
Heute haben wir im Bundestag mit den Stimmen der
Koalition beschlossen, dass wir künftig mit bis zu 4 Millionen Euro pro Jahr die Sprachförderung von Zuwanderern fördern. Diese Sprachförderung kommt nicht nur
den Zuwanderern aus Drittstaaten zugute, sondern auch
allen EU-Bürgern, die nach Deutschland kommen. Dies
ist vor allem deshalb besonders wichtig, da mittlerweile
jeder zweite Zuwanderer nach Deutschland aus anderen
EU-Ländern stammt. Wir haben uns damit erneut zur
Freizügigkeit in der EU bekannt. Wir fördern nicht nur
die Freizügigkeit als theoretische Möglichkeit, sondern
auch deren Umsetzung in der Praxis. Wir ermöglichen
Menschen, sich in unserem Land und in unserer Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen.
Deutschland ist ein offenes Land, aber nicht grenzenlos. Zuwanderung bedarf der Steuerung. Dazu gehört
auch, dass Scheinehen kein legitimes Mittel zur Erlangung eines Aufenthaltsstatus sind und dass Familiennachzug - den wir nachdrücklich befürworten - ein
vertretbares Maß umfasst. Die Akzeptanz von EinwanZu Protokoll gegebene Reden
derung und Einwanderern in unserer Gesellschaft hängt
auch davon ab, ob für alle die gleichen Regeln gelten.
Das liegt auch gerade mir als Einwanderer besonders
am Herzen.
Bereits bei der ersten Lesung des vorliegenden
Gesetzentwurfs zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes habe ich erklärt, dass die Linke es selbstverständlich
begrüßt, wenn künftig Lebenspartnerinnen und Lebenspartner von Unionsangehörigen mit Ehegatten aufenthaltsrechtlich gleichgestellt werden. Diese Korrektur
war allerdings auch überfällig.
Auch dass künftig keine sogenannten Freizügigkeitsbescheinigungen mehr beantragt werden müssen, ist im
Prinzip eine Erleichterung. Jedoch erwarte ich von der
Bundesregierung, dass sie die Behörden, die Öffentlichkeit und die Betroffenen über diese Änderung umfassend
informiert, auch wenn diese Änderung rein rechtlich
betrachtet minimal ist, weil diese Bescheinigung schon
immer nur einen deklaratorischen Wert hatte. Doch im
bürokratiegeprägten bundesdeutschen Alltag ist es
schon eine kleine Revolution, wenn Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit über ihr Aufenthaltsrecht in
Deutschland keinerlei behördliche Bescheinigung mehr
vorweisen müssen - bzw. nicht können. Und das ist auch
das Problem: Zumindest einzelne Behördenvertreter,
etwa in den Sozialämtern, aber auch Privatpersonen,
wie Vermieter und Arbeitgeber, und die Betroffenen
selbst werden verunsichert sein, wenn es kein Papier
mehr gibt, das Unionsbürgerinnen und -bürgern bestätigt, dass sie sich hier legal aufhalten. Deshalb halte ich
eine systematische und breite Bekanntmachung dieser
Rechtsänderung für dringend erforderlich, damit sie
sich für Unionsangehörige nicht nachteilig auswirkt.
Auch soll sich damit im allgemeinen Bewusstsein festsetzen, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger grundsätzlich
keine Aufenthaltserlaubnis und auch keine amtliche Bescheinigung brauchen, wenn sie in Deutschland leben
wollen.
Die Gründe, aus denen Die Linke den Gesetzentwurf
ablehnt, hatte ich ebenfalls bereits bei seiner Einbringung benannt. Sie gelten verstärkt fort, weil die Koalition im Gesetzgebungsverfahren keinerlei Änderungen
mehr vorgenommen und auch unseren beiden Änderungsanträgen nicht zugestimmt hat.
Dabei hätte die Koalition zumindest unserem Antrag
zur Umsetzung des sogenannten Rahman-Urteils des
Europäischen Gerichtshofs, EuGH, vom 5. September
2012 eigentlich zwingend zustimmen müssen. Inhaltlich
geht es darum, dass ein Nachzug von entfernten Verwandten nach derzeit geltendem Recht in Deutschland
nur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nach Maßgabe des Aufenthaltsgesetzes möglich ist, § 36 Abs. 2
AufenthG. Meines Wissens nach kommt diese Regelung
in der Praxis kaum zur Anwendung. Dies wird dem genannten Urteil nicht gerecht, wonach Unionsangehörige
gegenüber Drittstaatsangehörigen „in gewisser Weise
bevorzugt“ behandelt werden müssen - wie auch immer
man eine solche Ungleichbehandlung politisch bewertet. Und weiter forderte der EuGH, dass die Einreisebedingungen für diese Gruppe wirksam erleichtert werden müssen - die überaus hohen Hürden eines
außergewöhnlichen Härtefalls entsprechen dem nicht.
Dass die Bundesregierung Urteile des EuGH ignoriert, wenn diese nicht in ihr politisches Konzept passen,
ist im aufenthaltsrechtlichen Kontext leider kein Einzelfall. Auch beim EWG-Türkei-Assoziationsrecht, beim
Familiennachzug und bei Regeln zu EU-Binnengrenzkontrollen ist dies festzustellen, nun also auch beim
Freizügigkeitsrecht. Wie ist eigentlich die Haltung der
Bundesjustizministerin zu diesem inakzeptablen Umgang mit dem Europäischen Gerichtshof? Ich erinnere
daran, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet
hat wegen unzureichender Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie, unter anderem wegen der Zuzugsbestimmungen von entfernteren Verwandten. Die Bundesregierung hatte bislang erklärt, dass sie das Urteil des EuGH
zu dieser Frage abwarten wolle, um dann hieraus die
Konsequenzen zu ziehen. Nun liegt dieses Urteil vor, und
ich frage Sie: Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie das
nationale Recht endlich den europäischen Vorgaben
anpassen? Die Frist zur Umsetzung ist bereits im Jahr
2006 verstrichen.
Unfassbar ist vor diesem Hintergrund die gestrige
Antwort der Bundesregierung auf meine Frage nach der
fehlenden Umsetzung des Rahman-Urteils: „Derzeit
wird geprüft, inwieweit sich gegebenenfalls Rechtsänderungsbedarf aus dem EuGH-Urteil in der Rechtssache
Rahman ergibt.“ Da ist die Bundesregierung zwar
schlauer als die CDU/CSU-Fraktion, die im Innenausschuss noch erklärt hatte, dass alles mit der EuGHRechtsprechung vereinbar sei. Aber wenn ein Bundesministerium auch nach sieben Wochen noch nicht dazu
in der Lage ist, die notwendigen Schlüsse aus einem gerade einmal neunseitigen Urteil zu ziehen, dann ist das
mehr als ein Armutszeugnis.
Leider fand auch unser Änderungsantrag, auf die
neue ausdrückliche Missbrauchsregelung zu verzichten,
keine Mehrheit im Ausschuss. Nur die Grünen stimmten
zu. Die SPD enthielt sich, weil sie den in der Gesetzesbegründung zitierten - aber nicht im geringsten belegten - Angaben der Länder folgte, wonach es angeblich
„eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen“ gebe. Dabei
haben wir mehrfach darauf hingewiesen, dass es keinerlei empirische Belege für eine verbreitete oder gestiegene Missbrauchspraxis gibt. Selbst die im staatlichen
Auftrag erarbeiteten Studien bestätigen dies. Die Zahl
der polizeilich registrierten Verdachtsfälle von ({0}) „Scheinehen“ ist in den letzten zehn Jahren massiv zurückgegangen, die Zahl von bundesweit 734 entsprechenden Verdachtsfällen im Jahr 2011 lag um ein
Viertel unterhalb des Vorjahreswerts. Auch das MetockUrteil des EuGH aus dem Jahr 2008 war kein „großes
Einfallstor für Rechtsmissbrauch“, wie Bundesinnenminister Schäuble auf EU-Ebene gewarnt hatte. Infolge
des Urteils gab es schlicht keinen signifikanten Anstieg
des Familiennachzugs. Doch zu den rechtspopulistischen Tönen von damals passt, was nun die CDU/CSUFraktion im Innenausschuss zu unserem ÄnderungsanZu Protokoll gegebene Reden
trag erklärte: Dieser sei eine „Unterstützungsaktion für
Scheinehen“.
In diesem Zusammenhang möchte ich aber schon darauf hinweisen, dass sogenannte Scheinehen - andere
nennen sie „Schutzehen“ - für viele wegen des restriktiven bundesdeutschen Rechts, verstärkt durch europarechtswidrige Haltung der Bundesregierung, und einer
mitunter auch feindseligen Praxis in den Ausländerbehörden der einzige Weg sein kann, Menschlichkeit und
Menschenrechte in der Praxis für sich in Anspruch zu
nehmen.
Doch unabhängig davon ist und bleibt auch jener
Einwand der CDU/CSU schlicht falsch, dass in Missbrauchsfällen bislang ein Freizügigkeitsrecht entstand.
Das ist völlig absurd, wie den einschlägigen Verwaltungsvorschriften zum Gesetz zu entnehmen ist. Einer
besonderen Regelung hat es also keinesfalls bedurft. Wir
befürchten, dass die Neuregelung von den Behörden als
ein Warnsignal verstanden ({1}) und zu einer
verschärften Prüfpraxis führen wird. Die Folgen dieses
staatlich gesäten Misstrauens könnten dann unzulässige
Verdächtigungen, Denunziationen, Ausspähungen und
Be- oder Verhinderungen des Zusammenlebens vieler binationaler Paare sein. Deshalb lehnen wir diese Verschärfung ab!
Abschließend lassen Sie mich noch einmal sagen:
Wenn Sie schon ein Gesetz beschließen, das das Wort
„Freizügigkeit“ im Titel führt, dann stellen Sie bei dieser Gelegenheit doch endlich auch die Freizügigkeit für
alle Menschen in Deutschland her - und beenden Sie die
menschenrechtswidrige und diskriminierende Residenzflicht für Asylsuchende und Geduldete! Sie reden von
Freizügigkeit, aber drangsalieren Flüchtlinge und
schränken ihre Bewegungsfreiheit gnadenlos ein. Die
Linke ist solidarisch mit den Flüchtlingen, die vor drei
Wochen nach einem 600 Kilometer langen Protestmarsch aus Würzburg in Berlin eingetroffen sind und
nun ihren Protest gegen die Residenzpflicht, Abschiebungen und die Lebensbedingungen von Asylbewerbern
in Deutschland durch ein Protestcamp am Oranienplatz
in Berlin-Kreuzberg und durch einen gestern begonnenen Hungerstreik auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor zum Ausdruck bringen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie enthält Licht und
Schatten. Deswegen werden wir uns heute bei der
Abstimmung enthalten.
Ich beginne mit den positiven Seiten des Gesetzentwurfs. Wir begrüßen, dass die Regierung Lebenspartnerinnen bzw. Lebenspartner von Unionsbürgerinnen bzw.
-bürgern beim Recht auf Einreise und Aufenthalt den
Ehegatten gleichstellt. Es erstaunt allerdings, dass es
für eine solche Selbstverständlichkeit mehrerer Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts bedurfte. Anstatt unzählige Gesetze zu ändern, könnten wir natürlich
den viel einfacheren Weg der Öffnung der Ehe gehen.
Wir stimmen auch dem Wegfall der nur deklaratorischen Freizügigkeitsbescheinigung zu. Die Minderung
des Bürokratieaufwands sowie die Kosteneinsparungen
sind sinnvoll. Allerdings muss sichergestellt werden,
dass die Betroffenen hinreichend über die Neuregelung
informiert werden und ihnen keine Nachteile im Alltag
entstehen, weil sie ihr Aufenthaltsrecht nicht mehr
schriftlich belegen können.
Nun komme ich zu unseren Kritikpunkten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vernachlässigt eine
Reihe von Rügen der Kommission und verfehlt somit
sein Ziel, die Freizügigkeitsrichtlinie vollständig in
deutsches Recht umzusetzen. Ich hatte erwartet, dass wir
im Innenausschuss eingehend über das laufende
Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland debattieren würden. Die Regierungsfraktionen erschienen
aber nicht gut vorbereitet zur Ausschusssitzung, wollten
zunächst sogar ohne Debatte über den Gesetzentwurf
abstimmen und gingen schließlich nicht auf die Kritikpunkte der Oppositionsfraktionen ein.
Ich möchte im Folgenden auf eine Gesetzesverschärfung eingehen, die überhaupt nicht zur Umsetzung der
Richtlinie notwendig war, sowie auf zwei europäische
Vorgaben, die die Bundesregierung außer Acht gelassen
hat.
Kritisch sehen wir die neue Regelung zum Rechtsmissbrauch. Die Regelung erscheint überflüssig, weil
schon heute das Freizügigkeitsrecht im Falle des
Rechtsmissbrauchs gar nicht erst entsteht. Darüber
hinaus bleibt die Bundesregierung eine Begründung für
die Notwendigkeit der Regelung schuldig. In der Gesetzesbegründung wird lediglich vage darauf verwiesen,
dass Abfragen unter den Ländern eine nicht unerhebliche Zahl von Missbrauchsfällen ergeben hätten. Konkrete Anhaltspunkte für ein regelungsbedürftiges
missbräuchliches Verhalten der Unionsbürgerinnen und
-bürger sowie ihrer Angehörigen werden nicht genannt
und sind auch nicht anderweitig bekannt. Ich befürchte,
dass die Regelung nur dazu führen wird, dass die Betroffenen in unzulässiger Weise stärker kontrolliert werden
und dadurch - entgegen dem Ziel des Gesetzes - der
Verwaltungsaufwand noch erhöht wird.
Des Weiteren ist nicht zu verstehen, dass die Bundesregierung keine Ergänzungen bezüglich der Rechte von
Familienangehörigen im Sinne von Art. 3 Abs. 2a der
Freizügigkeitsrichtlinie vorgenommen hat. Zu diesem
Personenkreis gehören pflegebedürftige Personen und
solche, denen der Unionsbürger im Herkunftsland
Unterhalt gewährt hat oder die mit ihm in häuslicher
Gemeinschaft gelebt haben. Nach § 36 Abs. 2 AufenthG
wird einem Großteil dieser Familienangehörigen in der
Regel der Aufenthalt verwehrt.
Im Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Deutschland hat die Bundesregierung immer wieder
argumentiert, die Vorschrift der Richtlinie habe nur deklaratorischen Charakter und begründe keine neuen
Rechte. Dieser Argumentation hat der EuGH eine klare
Absage erteilt. In seiner Entscheidung vom 5. September
2012 in der Sache Rahman hat er klargestellt, dass die
Mitgliedstaaten diese Personen, die zu einem UnionsZu Protokoll gegebene Reden
bürger in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis
stehen, gegenüber anderen Drittstaatsangehörigen
bevorzugt behandeln müssen. Insbesondere müssen die
persönlichen Umstände, wie der Grad der Verwandtschaft und die finanzielle oder physische Abhängigkeit,
eingehend untersucht werden.
Aus der privilegierten Stellung der genannten Familienangehörigen folgt, dass ihnen auch nach der Einreise die Rechte aus der Richtlinie zustehen, wie etwa
die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre,
Gleichbehandlung, der Ausweisungsschutz und das
Recht auf Zugang zur Beschäftigung.
Schließlich rügt die Kommission zu Recht die in § 7
Abs. 2 FreizügigkeitsG/EU geregelte unbefristete
Wiedereinreisesperre, die nur auf Antrag beschränkt
wird. Nach Maßgabe des europäischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss die Wiedereinreisesperre
aber von Amts wegen befristet werden.
Obwohl der Gesetzentwurf positive Änderungen
enthält, können wir wegen der genannten Mängel dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Änderung des
Freizügigkeitsgesetzes/EU legt die Bundesregierung
eine ausgewogene Ergänzung zum Freizügigkeitsgesetz
vor. Der Gesetzentwurf hat drei maßgebliche Ziele:
Erstens. Wir schaffen eine eindeutige Rechtsgrundlage im Freizügigkeitsgesetz, um Missbrauch und Betrug - etwa durch Scheinehen - auch in Zukunft wirkungsvoll entgegentreten zu können.
Zweitens. Eingetragene Lebenspartner werden Ehegatten gleichgestellt: Damit gelten für Lebenspartner
von Unionsbürgern nun in vollem Umfang die Regelungen des Freizügigkeitsrechts bei Einreise und Aufenthalt
im Bundesgebiet.
Drittens. Mit dem Entwurf senken wir Bürokratiekosten: Durch die Abschaffung der deklaratorischen Freizügigkeitsbescheinigung für Unionsbürger entlasten wir
die Kommunen von Verwaltungskosten und die Betroffenen von Bürokratieaufwand.
Eine Überprüfung hat ergeben, dass einzelne Vorschriften der Europäischen Freizügigkeitsrichtlinie
noch nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt
worden sind. Das betrifft insbesondere die Gleichstellung von Lebenspartnern mit Ehegatten in Bezug auf ihr
Recht auf Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügigkeitsgesetz sowie die Vorschrift der Richtlinie 2004/38/
EG zur Bekämpfung von Rechtsmissbrauch und Betrug,
zum Beispiel durch das Eingehen von Scheinehen.
Mit der Änderung des Freizügigkeitsgesetzes gelten
für Lebenspartner von Unionsbürgern nun - wie für
Ehegatten auch - in vollem Umfang die Bestimmungen
des Freizügigkeitsrechts zum Familiennachzug. Bislang
waren auf Lebenspartner von Unionsbürgern die Regelungen des nationalen Aufenthaltsgesetzes anzuwenden.
Darüber hinaus wird Art. 35 der Freizügigkeitsrichtlinie umgesetzt: Danach können die Staaten der EU die
erforderlichen Maßnahmen erlassen, um das Freizügigkeitsrecht im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug zu
verweigern oder aufzuheben. Auch die Kommission hat
die Mitgliedstaaten wiederholt aufgefordert, Art. 35 umzusetzen, um Missbrauch und Betrug zu bekämpfen.
Wie eine Reihe anderer Mitgliedstaaten sieht sich
auch Deutschland mit einer nicht unerheblichen Zahl
von Fällen von Rechtsmissbrauch und Betrug im Zusammenhang mit dem europäischen Freizügigkeitsrecht
konfrontiert. Typische Fallkonstellationen sind insbesondere das Eingehen von Scheinehen oder Scheinvaterschaftsanerkennungen. Dazu kommen verschiedene
Formen der Verwendung gefälschter Dokumente sowie
die Vortäuschung falscher Tatsachen über das Vorliegen
der Voraussetzungen für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts.
Auch andere Mitgliedstaaten beobachten eine wachsende Zahl von Missbrauchsfällen und ein Ausweichen
auf die sogenannte European Route, also eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts
zur Umgehung nationaler Einwanderungsvorschriften.
Mit der Neuregelung im Freizügigkeitsgesetz wird
eine klare Rechtsgrundlage geschaffen, um Betrug und
Missbrauch im Zusammenhang mit dem europäischen
Freizügigkeitsrecht auch künftig effektiv entgegentreten
zu können.
Die erforderliche Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU wird zugleich genutzt, um Bürokratiekosten zu
verringern, indem die gebührenfrei auszustellende, rein
deklaratorische Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht für Unionsbürger - die sogenannte Freizügigkeitsbescheinigung - abgeschafft wird. Damit trägt der
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur finanziellen
Entlastung der Kommunen und zur Verringerung von
Bürokratieaufwand für die Betroffenen bei.
Derzeit überprüft die EU-Kommission die Umsetzung
der Freizügigkeitsrichtlinie in allen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union und hat in diesem Zusammenhang
gegen Deutschland - wie gegen eine Reihe weiterer
EU-Mitgliedstaaten auch - ein Vertragsverletzungsverfahren wegen teilweise unzureichender Umsetzung dieser Richtlinie eingeleitet.
Eines der Hauptmonita der Kommission bezog sich
auf die Gleichstellung von Lebenspartnern mit Ehegatten
im Freizügigkeitsgesetz. Daneben hatte die Kommission
einige eher technische oder sprachliche Gesetzesänderungen erbeten, die insgesamt von geringer praktischer
Bedeutung sein dürften, darunter beispielsweise die genaue Typologie der Krankheiten, die eine Beschränkung
des Rechts auf Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit rechtfertigen können.
Diese Punkte werden mit dem nun vorliegenden
Gesetzentwurf zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU ausgeräumt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11105, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10746 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der
SPD und der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 29:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Griese, Dr. Eva Högl, Michael
Roth ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Nationales Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ berücksichtigen
- Drucksachen 17/9154, 17/9480 Berichterstattung:Abgeordnete Lena Strothmann
Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
In diesen Tagen begehen wir das 20-jährige Jubiläum
des europäischen Binnenmarktes. Die Errungenschaften
sind unbestritten und hoch einzuschätzen. Deutschland
hat sich hervorragend darauf eingestellt und profitiert
davon. Das bildet sich auch in unserer Wirtschaftskraft
ab. Sie ist das Rückgrat unseres Wohlstandes. Und unser
aktueller Wohlstand ist auch Grundlage für den Wohlstand und den sozialen Frieden der kommenden Generationen. Deshalb müssen wir die europäische Idee bewahren,
aber auch weiterentwickeln und für Herausforderungen
wappnen. Die Auswirkungen, die wir gerade bei der
Schuldenkrise zu bewältigen haben, sind an Landesgrenzen nicht zu stoppen. Insbesondere wirken sie auf
die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Deutschland
steht innerhalb Europas stark dar. Wir sind die stärkste
Volkswirtschaft und eine gesunde Volkswirtschaft. Unsere Wirtschaft wächst; sie sichert und schafft Arbeitsplätze. Das ist kein zufälliges Ergebnis. Bereits lange
vor der Schuldenkrise haben wir in Deutschland wichtige Reformen auf den Weg gebracht. Dies sind die
Strukturreformen, die viele andere Länder damals nicht
durchgeführt haben. Diese Länder haben gerade heute
während der Krise einen Nachholbedarf.
Die Erkenntnis, dass Wachstum ein Motor zur Weiterentwicklung ist, hat sich auch in der EU-2020-Strategie
durchgesetzt. Die EU hat dazu den Wachstumsbegriff
definiert und festgelegt auf intelligentes Wachstum,
nachhaltiges Wachstum und integratives Wachstum. Die
Mitgliedstaaten sind aufgefordert, ihre diesbezüglichen
nationalen Pläne im Rahmen des Europäischen Semesters nach Brüssel zu übermitteln. Kurz-, mittel- und
langfristige Maßnahmen sollten hierbei aufeinander abgestimmt sein. Kein planloses Durcheinander, sondern
durchdachte Strategien mit schlüssigen Zeitplänen sind
hier gefragt. Diese Maßnahmen müssen auch die notwendigen Strukturreformen beinhalten.
Europa wacht über die Vorhaben und bewertet sie.
Das hilft grundsätzlich allen Staaten, über den Tellerrand zu schauen. Das ist genauso bedeutsam wie die
Notwendigkeit, dass alle Länder mitmachen und am
gleichen Strang ziehen. Das ist auch eine der Lehren aus
der Krise und der nicht erreichten Ziele der LissabonStrategie. Die Strategie Europa 2020 formuliert klare
Ansprüche. Unser gemeinsames Ziel ist es, Stabilität,
Wachstum und Beschäftigung zu erzeugen. Und wir sind
auf einem guten Weg. Die Lage in Deutschland ist gut.
Denn Deutschland erfüllt die vereinbarten Kernziele der
EU. Das belegen die Zahlen und die Bewertung durch
die EU. Unsere Maßnahmen, sowohl die Strukturreformen früherer Jahre als auch aktuelle wie zum Beispiel
die Finanzmarktregulierungen oder die Schuldenbremse, wirken. Gerade die Schuldenbremse macht
deutlich, was beste Sozialpolitik und soziale Gerechtigkeit heißt, nämlich nicht auf Kosten der nächsten Generationen zu leben. Sozialausgaben zu steigern, bedeutet
nicht ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, sondern ein
Anwachsen des Schuldenbergs.
In Deutschland hat die unionsgeführte Bundesregierung bereits vor Jahren etliche Reformen durchgesetzt.
Diese Reformen haben die sozialen Sicherungssysteme
gestärkt und zukunftsfester gemacht. Das wirkt sich jetzt
aus und bildet gerade jetzt in der größten Krise eine
Grundlage für unsere Stabilität. Unsere Hausaufgaben
haben wir damals erfüllt. Dazu zählen die Reformen im
Gesundheitswesen zur Begrenzung der Ausgaben, mehrmalige Nullrunden bei Löhnen und Renten oder auch
der spätere Renteneintritt, also Rente mit 67. Es gehören
auch arbeitsmarktpolitische Reformen, welche auch auf
den rot-grünen Arbeitsmarktgesetzen aufbauen, dazu.
Auch diese wirken positiv, aber leider distanziert sich
die SPD davon.
Viele unserer Maßnahmen waren und sind unpopulär.
Aber sie sind Teil des jetzigen Erfolges: Die Ausgaben
im Gesundheitswesen sind kontrollierbar, die aktuellen
Rücklagen bei den Krankenkassen belegen das. Die
Nullrunden haben Arbeitsplatzabbau verhindert. Die
Rente mit 67 ist allein schon wegen des demografischen
Wandels notwendig. Die Arbeitsmarktreformen haben
die Arbeitslosigkeit verringert. Es wird erwartet, das
auch im nächsten Jahr die Arbeitslosenzahlen unter
3 Millionen liegen werden. Auch die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich deutlich verringert. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland ist so hoch wie nie zuvor. Insgesamt stiegen die Löhne und Gehälter im Jahr 2011
erheblich. Davon profitieren auch die Ruheständler.
Zum 1. Juli sind die Renten in Westdeutschland um
2,18 Prozent und in Ostdeutschland um 2,26 Prozent
gestiegen.
Das alles wäre ohne eine funktionierende Wirtschaft
nicht denkbar. Die Wirtschaft brummt immer noch. Trotz
der Delle ist die Lage immer noch ausgezeichnet. Vielfach sind die Auftragsbücher voll. Die Betriebe mit Weitsicht und gutem Management haben ihre Mitarbeiter gehalten oder stellen sogar neue ein. Auch das ist das
Ergebnis erfolgreicher Wirtschafts- und Sozialpolitik
der christlich-liberalen Koalition.
Brüssel erkennt an, dass die Strukturreformen in
Deutschland für den wirtschaftliche Erfolg und vor allem die Stabilität mitverantwortlich sind. Auch die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist die geringste in
Europa. Die Ursache dafür ist zwar auch unbestritten,
es mangelt aber leider an der öffentlichen Wahrnehmung.
Deutschland hat ein weltweit anerkanntes Ausbildungssystem, das top ausgebildete Fachkräfte hervorbringt:
unsere duale Ausbildung. Der Berufsbildungsbericht 2012
hat es im Mai bestätigt: dem dualen Ausbildungssystem
wurde erneut eine hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit bescheinigt.
Erfolgsindikator ist die niedrige Jugendarbeitslosigkeit in unserem Land. Es ist gegenwärtig die niedrigste
Quote in der Europäischen Union mit 7,9 Prozent im
März 2012. Der EU-Durchschnitt betrug im gleichen
Monat 22,6 Prozent. Die spanische Quote liegt bei
50 Prozent. Das duale System wirkt sich somit eindeutig
positiv auf den Arbeitsmarkt aus. Das bestätigt nicht nur
der Berufsbildungsbericht, sondern auch die Europäische Kommission. Ich zitiere: „Das gut ausgebaute System der beruflichen Bildung gilt traditionell als Garant
für die Heranziehung qualifizierter Arbeitskräfte und
eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit“. Das duale System erweist sich also als beste Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit. Daher sind die Absichten Spaniens
und anderer europäischer Staaten, das deutsche duale
System als Vorbild zu prüfen, der richtige Weg. Wir bestärken und unterstützen sie darin, damit das duale System ein Exportschlager wird. Das kann uns auch dadurch
gelingen, indem wir bei den anstehenden Beratungen
zur Überarbeitung der BerufsqualifikationsanerkennungsRichtlinie im europäischen Parlament darauf drängen,
unser duales System zu definieren und anschließend als
Grundlage für Ausbildungsordnungen zu nehmen.
Reformen brauchen jedoch Zeit, bis sie wirken. Daher ist der Ruf nach anderen, scheinbar schnelleren Lösungen laut, sehr laut. Aber die Lautstärke entscheidet
eben nicht über die Richtigkeit. Schuldenfinanzierte
Wachstumsprogramme sind jedenfalls keine Lösung. In
einer konjunkturellen Krise können sie helfen, daher waren unsere Konjunkturprogramme so erfolgreich. Bei
strukturellen Krisen helfen sie schlichtweg nicht. Der
Ruf nach gesetzlichen Mindestlöhnen in Deutschland ist
ebenso falsch. Eine Ursache für die hohe spanische
Quote bei der Jugendarbeitslosigkeit liegt auch in den
dortigen Mindestlöhnen. Die Opposition fordert in ihrem Antrag Maßnahmen, die in anderen Ländern für die
Krise mitverantwortlich sind. Das lehnen wir ab. Wir
stehen zur Tarifautonomie in Deutschland. Das ist die
bessere Lösung für den sozialen Frieden, als künstlich
eine soziale Spaltung herbeizureden. Wenn wir die Wirtschaft nun mit einem allgemeinen Mindestlohn belasten,
bricht gerade für viele Geringqualifizierte die letzte
Möglichkeit fort, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Eine Weiterqualifizierung steht hierbei ja auf einem
ganz anderen Blatt.
Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt sind immer
möglich, das ist keine Frage. Aber die Lage schlechtreden und Katastrophenszenarien an die Wand malen,
bringt uns nicht voran. Die Armutsgefährdung in
Deutschland ist bei weitem nicht so, wie Sie es darstellen. Die Langzeitarbeitslosen werden stetig weniger, und
unsere hohen Investitionen in Bildung sprechen für sich.
Die sozialen Ziele der EU-2020-Strategie sind in unserer Politik nicht unterrepräsentiert. Schauen Sie sich die
Kernbereiche und unsere Zielvorgaben sowie das Erreichte doch genau an. Bei der Beschäftigtenquote liegen
wir im Plan, die Innovationsquote haben wir fast erreicht. Beim Klimaschutz werden wir unsere Ziele erreichen. Aber es wäre ein Zeichen der Verantwortung,
wenn die Bundesländer beispielsweise bei der energetischen Sanierung hier stärker mitziehen würden.
Im Kernbereich Armut definieren wir anders, als Sie
es gerne hätten. Wir orientieren uns an der Realität und
dem vorhandenen sozialen Frieden in unserem Land, Sie
hingegen am alten Klassenkampf.
Im Bereich Bildung möchte ich noch einmal vehement
auf die hohe Bedeutung der dualen Ausbildung hinweisen. Sie ist untrennbar mit dem Erfolg der Wirtschaft
verbunden und somit für unseren Wohlstand mitverantwortlich.
Deutschland steht innerhalb Europas gut da. Wir
sollten alle daran arbeiten, dass es so bleibt.
Es ist wirklich sehr schade und bedauerlich, dass in
diesem Hause keine Debatte über das Nationale Reformprogramm 2012 der Bundesregierung stattfindet.
Eine solche Debatte wäre angemessen gewesen. Leider
hatten die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung daran so wenig Interesse wie am Nationalen Reformprogramm selbst. Während die Bundesregierung
andere EU-Staaten auffordert, die Vorgaben der europäischen Institutionen eins zu eins und ohne zu murren
umzusetzen, bleibt sie im eigenen Land untätig. Am
Dienstag dieser Woche hat das Statistische Bundesamt
veröffentlicht, dass jeder Fünfte in Deutschland von
Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist. Darauf
haben wir bereits in unserem Antrag vom März 2012
hingewiesen. Und was haben Bundesregierung und
Koalition seitdem gemacht? Nichts.
Dazu fällt mir Heinrich Heine ein, ich zitiere:
Sie sang das alte Entsagungslied, Das Eiapopeia vom Himmel,Womit man einlullt, wenn es greint,Das Volk, den großen Lümmel.Zu Protokoll gegebene Reden
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,Ich kenn auch die Herren Verfasser;Ich weiß, sie tranken heimlich WeinUnd predigten öffentlich Wasser.
So schrieb Heinrich Heine in seinem Werk „Deutschland. Ein Wintermärchen“ im Januar 1844. Die Beschreibung Heines trifft leider auch auf die Bundesregierung zu: Sie predigt Griechenland Wasser und trinkt
selbst Wein. In Deutschland steigen die Steuereinnahmen, und der Wirtschaft geht es vergleichsweise gut.
Verglichen mit den Sparanstrengungen Griechenlands
hätte Deutschland 300 bis 500 Milliarden Euro einsparen müssen - bei einem Bundeshaushalt 2012 in Höhe
von rund 313 Milliarden Euro! Stattdessen hat die Bundesregierung einen zweiten Nachtragshaushalt für 2012
beschlossen. Wasser für Griechenland, Wein für die
Bundesregierung.
Auch Spanien rutscht immer tiefer in die Rezession.
Und was sagt die Bundeskanzlerin dazu? In ihrer Regierungserklärung vom 18. Oktober 2012 bemerkte sie lediglich lapidar: „Wir wissen, dass den Menschen in
Spanien, in Griechenland und in den anderen betroffenen Mitgliedstaaten außerordentlich viel abverlangt
wird.“ Mit anderen Worten: Die Bundesregierung hat
die dramatische soziale Lage in den Ländern zur Kenntnis genommen, tut aber nichts, um Abhilfe zu schaffen.
Zum Beispiel hat sie immer noch keine Vorschläge vorgelegt, wie sie die immens hohe Jugendarbeitslosigkeit
in Europa bekämpfen will. Eine Studie bezifferte in dieser Woche die Kosten der Jugendarbeitslosigkeit in der
EU auf 153 Milliarden Euro jährlich. Und was macht
die Bundesregierung dagegen? Nichts.
Statt die gestiegenen Steuereinnahmen sinnvoll zu investieren, beabsichtigt die Bundesregierung immer noch,
das Betreuungsgeld einzuführen. Sie will immer noch
rund 1,3 Milliarden Euro in eine Maßnahme stecken, die
bekanntermaßen dem Ziel der Strategie „Europa 2020“
zuwiderläuft, die Beschäftigungsquote der Frauen zu erhöhen. Sogar die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat in ihrer Stellungnahme festgestellt, dass das Betreuungsgeld kontraproduktiv ist. Dem
ist nichts hinzuzufügen.
Die langwierige Debatte um das Betreuungsgeld
zeigt, was die Bundesregierung von den Empfehlungen
der Europäischen Kommission hält. Denn auch die
Kommission hat das Betreuungsgeld im Rahmen der
länderspezifischen Empfehlungen für Deutschland kritisiert. Allerdings folgenlos. Denn während Griechenland
und Co. den europäischen Vorgaben folgen sollen, ignoriert die Bundesregierung die Empfehlungen der EUKommission. Während Griechenland und Co. die Sparanforderungen der Troika nach Meinung der Bundesregierung eins zu eins umsetzen sollen, scheint die Bundeskanzlerin es nicht für nötig zu halten, ihre Politik
anzupassen. Es geht ja nicht nur um die Verirrung des
Betreuungsgeldes. Es geht auch um die mangelnden Bemühungen der Bundesregierung, Langzeitarbeitslose in
Arbeit zu vermitteln. Auch hier hat die Europäische
Kommission größeres Engagement gefordert. Was hat
die Bundesregierung gemacht? Sie hat wichtige Fördermöglichkeiten der aktiven Arbeitsmarktpolitik gestrichen.
Nächstes Beispiel: Die Bundesregierung solle das
Bildungsniveau benachteiligter Bevölkerungsgruppen
anheben, empfiehlt die Kommission in Brüssel. Und was
hat die Bundesregierung getan, um dieses Ziel zu erreichen? Nichts. Schließlich hat die Europäische Kommission der Bundesregierung empfohlen, die „steuerlichen
Fehlanreize für Zweitverdiener“, mit anderen Worten:
das Ehegattensplitting, abzuschaffen. Doch die Bundesregierung bleibt untätig, obwohl sie sich im Jahre 2010
verpflichtet hat, die Ziele der Strategie „Europa 2020“
zu erreichen. Es gibt bei keinem dieser Ziele Fortschritte, weder bei dem so wichtigen Ziel, die Armut und
soziale Ausgrenzung in Deutschland zu verringern, noch
bei dem Ziel, das Bildungsniveau und die Beschäftigungsquote in Deutschland nachhaltig zu erhöhen.
Unklar ist auch weiterhin, wie die Bundesregierung die
Klimaziele von „Europa 2020“ erreichen will.
Seit Neuestem will die Bundesregierung die sozialpolitischen Ziele aus dem Nationalen Reformprogramm
ausgliedern und parallel zum Reformprogramm einen
Nationalen Sozialbericht erstellen. Ich mache mir Sorgen, dass dadurch in der Europapolitik die sozialpolitischen Ziele vernachlässigt werden. Deshalb bezweifle
ich auch, dass der Nationale Sozialbericht, der der Europäischen Kommission längst vorliegen sollte, einen
Kurswechsel beinhalten wird. Hätte die Bundesregierung Ideen, mit welchen konkreten Maßnahmen sie die
Situation in den Bereichen Armutsbekämpfung, soziale
Inklusion, Rente, Pflege und Gesundheit verbessern
wollte, hätte sie diese Ideen bereits bis April 2012 an die
Europäische Kommission senden und damit die Frist
einhalten können.
Es bleibt zu hoffen, dass das Nationale Reformprogramm und die damit im Zusammenhang stehenden Berichtspflichten nach der Bundestagswahl 2013 die angemessene Aufmerksamkeit hier im Hause und durch die
Bundesregierung finden werden.
Die von den EU-Mitgliedstaaten zu erstellenden Nationalen Reformprogramme, NRP, sind ein Element der
stärker abgestimmten Wirtschafts- und Haushaltspolitik
auf EU-Ebene. Das deutsche NRP ist geprägt durch die
Kontinuität der Agenda-2010-Politik, die in Deutschland zu massivem Lohndumping für die Mehrheit der
Erwerbstätigen geführt hat. Die gleichen neoliberalen
Ansätze sind es, die unsere europäischen Partner in einen Teufelskreis aus staatlichen Kürzungen, wachsender
Arbeitslosigkeit, sozialem Ruin, sinkender Wirtschaftsleistung und weiteren Kürzungen getrieben haben.
Insofern ist es bemerkenswert, wenn die SPD in ihrem
Antrag nun eine soziale Dimension für das NRP fordert,
gleichwohl sich im Antrag positiv auf die Agenda 2010
und auf die Schuldenbremse bezieht. Mit dem Antrag bekennt sich die SPD also weiterhin zur Haushaltskonsolidierung als oberstem Ziel und zur Stabilisierung des
Finanzsektors. Andererseits werden keine einnahmeseitigen Verbesserungen angesprochen. Dies kommt einem
Zu Protokoll gegebene Reden
Bekenntnis zu weiteren Kürzungen in den öffentlichen
Haushalten gleich.
Die SPD bleibt sich treu; dies wird auch an anderer
Stelle deutlich. Statt sich endlich von der Rente mit 67 zu
verabschieden und die Absenkung des Rentenniveaus in
der gesetzlichen Rentenversicherung zu verhindern,
wird im Antrag die Bundesregierung nebulös aufgefordert, „im Nationalen Reformprogramm 2012 Maßnahmen aufzuzeigen, mit denen die Beschäftigungsdefizite
von älteren Menschen sowie derer in verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit verbessert werden können. Außerdem sollte die Bundesregierung das Problem der zunehmenden Altersarmut im Nationalen Reformprogramm
berücksichtigen“.
Im Antrag wird zu Recht von der Vernachlässigung
der Altersarmut im NRP gesprochen, gleichzeitig aber
einen Mindestlohn von 8,50 Euro gefordert. Dabei
müsste auch der SPD bekannt sein, dass selbst nach
Aussagen der Bundesregierung ein Mindestlohn von
mindestens 10 Euro vonnöten ist, um selbstständig wenigstens das Grundsicherungsniveau im Rentenalter zu
erreichen.
Wieder einmal bleibt die SPD auf halbem Weg stehen.
Eine andere wirtschaftliche und soziale Entwicklung,
welche möglich ist, kann nicht durch ein paar soziale
Feigenblätter, wie es die SPD versucht, hergestellt
werden. Schon gar nicht mit den zu klein geratenen Feigenblättern à la SPD. Das gesamte NRP müsste vom
Kopf auf die Füße gestellt werden. Freilich müssten
hierzu auch die zugrunde liegenden Verordnungen und
Leitlinien, wie die EU-Strategie 2020, der Euro-PlusPakt sowie die Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung, geändert werden. Eine soziale und friedliche EU
ist letztlich nur durch eine Neugründung zu haben.
Doch auch sofort wäre einiges zu tun; allerdings liest
man hiervon nichts, weder im NRP noch im Antrag der
SPD. Die deutsche Binnennachfrage muss umgehend
angekurbelt werden. Zur Belebung der Binnennachfrage
sind ein Zukunftsinvestitionsprogramm für den sozialökologischen Umbau in Höhe von 125 Milliarden jährlich sowie der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn
von zunächst 10 Euro dringend notwendige Schritte. Mit
einer gerechten Besteuerung von Spitzenverdienern und
Superreichen ist dies auch ohne Neuverschuldung zu
haben.
Wir diskutieren den vorliegenden Antrag heute in
zweiter Lesung. Das Europäische Semester 2012 wurde
mit der Annahme der länderspezifischen Empfehlungen
durch den Europäischen Rat offiziell aber schon abgeschlossen. Das Nationale Reformprogramm der Bundesregierung für 2012 ist damit mit all seinen Mängeln
geschrieben, kommentiert, bewertet und verabschiedet.
Es greift also zu kurz, sich über den formalen Antragsinhalt der SPD auszulassen. Die Kernkritik aber,
dass die sozialen Ziele der EU-2020-Strategie in den
Reformprogrammen der Bundesregierung schlicht immer zu kurz kommen, bleibt nach wie vor richtig. Auch
wir Grünen kritisieren das. Und wenn man die länderspezifischen Empfehlungen der Kommission gründlich
durchliest, dann erkennt man dort auch viel Kritik. Die
Bundesregierung hat also keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit.
Das beginnt schon beim Verfahren: Kommunen, Parlamente und Sozialpartner wurden entgegen der Ankündigung eben nicht von der Bundesregierung „in enger
Zusammenarbeit“ einbezogen - im Gegenteil. Sie hatten
gerade einmal eine Dreitagefrist zur Rückmeldung von
Anregungen. Das haben wir auch im Ausschuss heftig
kritisiert.
Das unzureichende Verfahren führte dann auch zu einem schlechten Reformprogramm. Die im Rahmen der
Europa-2020-Strategie vereinbarten Ziele zur Armutsbekämpfung, zur Integration benachteiligter Gruppen
auf dem Arbeitsmarkt und zur Reduzierung der Schulabbrecherquote wurden eben nicht im nötigen Maße
berücksichtigt und eingearbeitet. Unsere Bewertungen
in den Debatten waren dementsprechend kritisch, und
das zeigt auch der vorliegende Antrag der SPD. In der
Folge überrascht auch nicht die Kritik der Europäischen
Kommission an der Bundesregierung und deren halbherzigen Reformbemühungen; denn ein Vergleich zeigt,
dass die Empfehlungen für die Reformperiode 2012 des
Europäischen Semesters weitgehend identisch sind mit
denen der ersten Reformperiode. Ein ernsthafter Umgang mit den sozialen Zielen in Europa sieht anders aus.
Die Kommission stellt erneut fest, „von der guten
Arbeitsmarktlage in Deutschland“ habe „nicht die gesamte Erwerbsbevölkerung gleichermaßen profitiert“.
Damit bestätigt sie die Kritik der Grünen, dass bestimmte Gruppen von den vermeintlichen Erfolgen auf
dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. Die Kommission benennt auch einmal mehr die „fiskalischen
Fehlanreize“, die die „Eingliederung besonders von
Geringverdienern in den Arbeitsmarkt behindern“ - gemeint ist beispielsweise das Ehegattensplitting. Laut
Kommission führen diese Fehlanreize - neben einer
mangelnden Kinderbetreuung - zu dem geringen Frauenanteil an den Vollzeitbeschäftigten. Deutliche Worte
gibt es auch zu den Minijobs auf dem deutschen Arbeitsmarkt. So wird der „weitverbreitete Rückgriff auf
Minijobs“ und die Hindernisse beim „Übergang von
Minijobs zu stabileren Arbeitsverhältnissen“ kritisiert.
Schließlich bescheinigt die Kommission der Bundesregierung erneut, dass die Löhne in Deutschland nicht
der Produktivitätsentwicklung entsprechen. Das bedeutet auch, dass die Binnennachfrage mangelhaft entwickelt ist.
Alles zusammen zeigt - und da sehen wir uns von der
Kommission bestätigt -, dass die Bundesregierung keinerlei Maßnahmen ergreift, um die wirtschaftlichen
Überschüsse zu reduzieren. Mehr noch: Die Bundesregierung ist weiterhin der Ansicht - das zeigen auch die
Diskussionen im Ausschuss -, dass Überschüsse weniger schädlich seien als Defizite. Damit wird meiner
Meinung nach ein Überschussland wie Deutschland zu
einem Problem für Europa.
Zu Protokoll gegebene Reden
Weiter zeigt dieses wenig ambitionierte Nationale
Reformprogramm von Deutschland auch eine geringe
Wertschätzung für die sozialen Ziele, die sich Europa
gegeben hat. Die Bundesregierung geht schon gar nicht
mit gutem Beispiel und engagierten Zielen voran. In der
Folge können die EU-2020-Ziele auch EU-weit nicht
erreicht werden, zumal die Sparauflagen den Krisenstaaten keinerlei Spielraum lassen, zumindest ihre eigenen Ziele zur Armutsbekämpfung zu erreichen.
Europa hat sich soziale Ziele gegeben, und diese
müssen auch ernst genommen werden. Gerade in Zeiten
der Euro-Krise darf dieser Anspruch nicht vernachlässigt werden - insbesondere nicht von Deutschland. Also
hoffe ich auf das Europäische Semester 2013 - Deutschland bekommt damit eine weitere Chance. Die Damen
und Herren der Bundesregierung können sicher sein:
Ich werde sie rechtzeitig daran erinnern.
Das deutsche Nationale Reformprogramm 2012 belegt es klar: Deutschland hat seine Verpflichtungen eingehalten. Auch die Europäische Kommission bescheinigt uns, dass wir vergleichsweise gut dastehen. Sie
hatte uns für das Nationale Reformprogramm ambitionierte Vorgaben gemacht und einen sehr engen Zeitplan
gesetzt.
Wir haben die Länder intensiv an der Erarbeitung
beteiligt und die Stellungnahmen der Verbände und Sozialpartner berücksichtigt. Bundestag und Bundesrat
hatten im Laufe des Prozesses Gelegenheit, Stellung zum
Bericht zu nehmen. Die Bundesregierung hat das Nationale Reformprogramm pünktlich in Brüssel abgegeben.
Ich hatte es bereits im März hier im Bundestagsplenum dargelegt: Wir haben bei der Umsetzung der
Europa-2020-Strategie konkrete, sichtbare Fortschritte
gemacht und damit einen wichtigen Beitrag für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung in Europa geleistet.
Dies gilt für alle fünf Kernzielbereiche der Europa2020-Strategie: Beschäftigung, Innovationen, Klimaschutz und Energie, Bildung sowie soziale Eingliederung bzw. Verringerung der Armut.
Mit ihrem Antrag, das Nationale Reformprogramm
noch stärker auf soziale Ziele zu fokussieren, hinkt die
SPD wieder einmal der Realität hinterher.
Wir haben vor kurzem die Herbstprojektion veröffentlicht. Viele Länder Europas befinden sich in einer Rezession. Auch die aufstrebenden Schwellenländer in Asien
und Amerika erleben derzeit eine konjunkturelle
Abschwächung. Wir müssen mit einer Abschwächung
der wirtschaftlichen Dynamik auch in Deutschland
rechnen.
Vor diesem Hintergrund ist es genau der falsche Weg,
den Faktor Arbeit zusätzlich zu belasten und damit die
Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu gefährden. Dabei geht
es nicht nur um finanzielle Mehrbelastungen, sondern
auch um ordnungspolitisch falsche Weichenstellungen.
Ich denke hier zum Beispiel an die Mindestlohndebatte.
Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa und darf
- gerade in dieser Vorbildfunktion - das Verteilen nicht
vor das Erwirtschaften stellen. Vielmehr sollte die wirtschaftspolitische Strategie darauf abzielen, die Wettbewerbsfähigkeit und die Widerstandskraft der deutschen Wirtschaft weiter zu stärken. Dies ist der beste
Weg, die Wohlfahrt aller Bürger zu steigern, soziale Teilhabe zu ermöglichen und die Armut zu bekämpfen.
Der Antrag der SPD geht hingegen in die völlig falsche Richtung. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9480, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9154 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 35:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates
über die Erweiterung des Geltungsbereichs
der Verordnung ({0}) Nr. 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den
gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euroraums
- Drucksache 17/10759 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 17/11186 Berichterstattung:Abgeordnete Peter AumerMartin Gerster
Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.
Seit der Einführung unserer gemeinsamen Währung,
des Euro, hat sich auch die Nachfrage nach grenzüberschreitenden Straßentransporten von Bargeld deutlich
erhöht. Es ist Bestandteil unseres einheitlichen Währungsraumes, dass Bargeld frei zirkulieren kann. So lassen viele Mitglieder der Euro-Zone heute ihre Banknoten und Münzen im Ausland herstellen oder haben in
Aussicht gestellt, dies in Zukunft zu tun.
Aufgrund diverser Unterschiede in den nationalen
Gesetzen ist es außerordentlich schwierig, Euro-Bargeld
gewerbsmäßig zwischen den Euro-Staaten zu transportieren. Dies entspricht jedoch nicht dem Grundprinzip
der Europäischen Union des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs.
Mit dem Vorschlag für die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung ({0}) Nr. 1214/2011 wird nun
der Tatsache Rechnung getragen, dass die auf Art. 133
des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen
Union, AEUV, gestützte Verordnung ({1}) Nr. 1214/2011
nur eine Regelung für die Mitgliedstaaten des EuroRaums geschaffen hat. Hierbei wird Art. 133 AEUV
nicht als Ermächtigungsgrundlage für Regelungen gesehen, die Umstände vor der Euro-Einführung eines Mitgliedstaates tangieren.
Von besonderer Bedeutung ist die Erweiterung des
Geltungsbereichs der Verordnung also für Länder, die
kurz vor der Euro-Einführung stehen und über keine eigene Notendruckerei oder Münzstätte im Land verfügen.
Ihnen wird mit der Erweiterung ermöglicht, Euro-Bargeld gewerblich zu transportieren und zu importieren.
Um dies gesetzlich zu ermöglichen, wird eine Verordnung des Rates nach Art. 352 AEUV benötigt.
Die Verordnung hat also zum Ziel, diesen gewerbsmäßigen und grenzüberschreitenden Straßentransport von
Euro-Bargeld zwischen den derzeitigen Mitgliedstaaten
der Euro-Zone und den Mitgliedstaaten, die kurz vor der
Einführung der Euro-Währung stehen, zu erleichtern.
Wie bereits angesprochen, ist die Gesetzeslage auf
nationaler Ebene sehr detailliert und von Land zu Land
unterschiedlich. Das Ziel kann mit einer rein nationalen
Gesetzgebung nicht erreicht werden und ist daher aufgrund des Umfangs und der Wirkung der Maßnahme auf
Ebene der Europäischen Union zu verwirklichen. Die
Verordnung entspricht damit den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit.
Für das weitere Verfahren bedarf es nach § 8 des Integrationsverantwortungsgesetzes vom 22. September
2009, das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 1. Dezember 2009 geändert worden ist, eines Gesetzes gemäß
Art. 23 Abs. 1 des Grundgesetzes, um die Zustimmung
des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Union
zu ermöglichen.
Dieses Gesetz behandeln wir heute abschließend in
der zweiten und dritten Lesung im Bundestag. Wir schaffen damit die innerstaatlichen Voraussetzungen, damit
der deutsche Vertreter im Rat die Zustimmung für die
Erweiterung der Verordnung erklären darf.
Neben der Schaffung dieser Voraussetzung ist dem
Gesetz ein weiterer Umdruck angehängt, in dem es inhaltlich vor allem um Änderungen in den Bereichen des
Güterkraftverkehrsgesetzes und des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes geht. Im Folgenden möchte ich Ihnen
diese gerne näher erläutern:
In der Sache geht es um notwendige, zeitlich unaufschiebbare Regelungen über die nationale Behördenzuständigkeit der am 30. November 2012 in Kraft tretenden Verordnung.
Durch eine Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
wird das Bundesamt für Güterverkehr, BAG, zur nationalen Lizenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde zur
Durchführung der EU-Verordnung bestimmt. Darüber
hinaus führt das BAG die vorgeschriebenen zentralen
nationalen Register und übermittelt und empfängt Informationen an die und von der Kommission und anderen
Mitgliedstaaten des Euro-Raums.
Mit den Regelungen in Art. 1 c wird die EU-Verordnung Euro-Bargeldtransport rechtstechnisch einer Verordnung nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz gleichgestellt. Hintergrund ist, dass grenzüberschreitende
Straßenbargeldtransporte bereits dem Arbeitnehmerentsendegesetz unterliegen. Laut Verordnung zum EuroBargeldtransport bestimmt sich mit deren Inkrafttreten
die Höhe des Mindestentgelts für den gesamten Arbeitstag nach dem Recht desjenigen vom Transport betroffenen Mitgliedstaates, für den der betragsmäßig höchste
Mindestentgeltsatz gilt. Ist dies nicht Deutschland, beruht der zu kontrollierende Anspruch des Arbeitnehmers
nicht auf der Mindestlohnverordnung für das Bewachungsgewerbe, sondern auf der unmittelbar anzuwendenden EU-Verordnung.
Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung ({2}) Nr. 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von
Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des EuroRaums schaffen wir zum einen die innerstaatlichen Voraussetzungen für die Zustimmungserklärung des deutschen Vertreters im Rat und setzen zum anderen die nötigen Verwaltungsanweisungen um.
Ich bitte Sie, dem Gesetz zuzustimmen.
Der eher spröde Titel deutet es an: Der „Entwurf eines
Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates
über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung ({0}) Nr. 1214/2011 des Europäischen Parlaments
und des Rates über den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euroraums“ ist kein Projekt,
das in der politischen Debatte besondere Sprengkraft
entfaltet. Dementsprechend haben sich Regierung und
weite Teile der Opposition - einschließlich der SPDBundestagsfraktion - bereitgefunden, den mit dem Gesetz verbundenen Regelungen zuzustimmen.
Bei der 2011 erlassenen EU-Verordnung, deren Geltungsbereich erweitert werden soll, geht es um den
Transport von Euro-Bargeld innerhalb der Euro-Zone.
Festgelegt wird beispielsweise, welche Voraussetzungen
ein Unternehmen erfüllen muss, um solche Geldtransporte durchführen zu dürfen, und welche spezifischen
Anforderungen für das beteiligte Personal oder die verwendete Ausrüstung gelten sollen.
Nun gilt es, diese Verordnung auf Staaten zu erweitern, die den Euro als Währung einführen wollen und
beispielsweise das entsprechende Bargeld aus einem anderen Staat der Euro-Zone beziehen müssen, weil sie
nicht über eigene Notendruckereien und Münzstätten
verfügen. Die in der Europäischen Union vereinbarten
Regeln machen es notwendig, dafür in den einzelnen
Zu Protokoll gegebene Reden
Mitgliedstaaten eine gesetzliche Grundlage zu schaffen.
Erst nach Verabschiedung des Gesetzes durch den Bundestag darf der deutsche Vertreter im Rat die Zustimmung zum Vorschlag für die vorgenannte Verordnung erklären.
Darüber hinaus müssen auch mit Blick auf Deutschland kleinere Gesetzesänderungen vorgenommen werden, um der Ende November in Kraft tretenden Verordnung gerecht zu werden. So wird mit dem Gesetz das
Bundesamt für Güterverkehr, BAG, zur nationalen Lizenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde für das EuroBargeld-Transportwesen. Das BAG soll Informationen
an die und von der Europäischen Kommission und anderen Mitgliedstaaten des Euro-Raums übermitteln und
empfangen. Da entsprechende Transporte durch bewaffnetes Personal gesichert werden, sieht die Verordnung
vor, dass die Mitgliedstaaten zentrale Kontaktstellen für
waffenrechtliche Anträge schaffen müssen, die im Falle
der Bundesrepublik auf Ebene der Länder eingerichtet
werden, da diesen die Ausführung des Waffengesetzes
obliegt. Im Zusammenhang mit dem Waffenrecht wird
eine weitere EU-Verordnung umgesetzt, und das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, erhält die Zuständigkeit für die Erteilung von nunmehr erforderlichen Genehmigungen zur Ausfuhr bestimmter
Feuerwaffen.
Überdies wird mit dem Gesetzentwurf die zu erweiternde EU-Verordnung 1214/2011 mit einer Verordnung
nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, AEntG, gleichgestellt, damit der Zoll über eine Rechtsgrundlage für
seine Kontroll- und Sanktionstätigkeit verfügt, wenn es
um die Einhaltung der Entlohnung des Sicherheitspersonals geht, das grenzüberschreitende Geldtransporte
durchführt. Denn nach Art. 24 der Verordnung muss sich
mit deren Inkrafttreten die Höhe des dem Sicherheitspersonal zustehenden Mindestentgelts für den gesamten
Arbeitstag nach dem Recht desjenigen vom Transport
betroffenen Mitgliedstaates richten, für den der betragsmäßig höchste einschlägige Mindestentgeltsatz gilt. Das
ist im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu begrüßen.
Der vorliegende Entwurf ermöglicht dem deutschen
Vertreter die Zustimmung im Rat der Europäischen
Union zur Verordnung des Rates über die Erweiterung
des Geltungsbereichs der Verordnung ({0}) Nr. 1214/
2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über
den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten
des Euro-Raums.
In der Praxis bedeutet es, dass, wenn neue Länder
dem Euro-Raum beitreten, aber selbst noch über keine
passenden Notendruckereien und Münzprägeanstalten
verfügen, die Noten und Münzen aus anderen Mitgliedsländern, welche den Euro als Währung haben, eingeführt werden können. Die Zuständigkeit für die hierfür
nötigen Straßentransporte sowie die bürokratischen
Anforderungen der Verordnung werden an das Bundesamt für Güterverkehr übertragen. Es agiert dabei als
Lizenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde. Durch diese
Regelung werden die komplexen bürokratischen Anforderungen somit in einer Behörde konzentriert und
ermöglichen eine effiziente Überwachung des grenzüberschreitenden Transports.
Eine Ausnahme bildet hierbei lediglich die dem
Arbeitnehmer-Entsendegesetz unterliegende Kontrolle
der Einhaltung der Entlohnung des Sicherheitspersonals. Hier obliegt es nach geltendem Recht der Zollverwaltung, sicherzustellen dass sich die Höhe des
Mindestlohns für den gesamten Arbeitstag nach dem
Recht desjenigen vom Transport betroffenen Mitgliedstaates richtet, in dem der betragsmäßig höhere Mindestentgeltgesetz gilt. In diesem Sinne wünsche ich dem
Personal zahlreiche Arbeitstage mit Fahrten über die
deutsch-luxemburgische Grenze.
Ein weiter Rechtsbereich, der durch die Verordnung
tangiert wird, findet sich im Waffenrecht, da das bei den
Transporten benötigte Sicherheitspersonal selbstverständlich bewaffnet die Grenze passieren muss. Die Mitgliedstaaten werden daher verpflichtet, eine zentrale
Kontaktstelle für waffenrechtliche Anträge einzurichten,
wobei es föderalen Mitgliedstaaten auch freisteht, dem
auf Ebene der Gliedstaaten nachzukommen. Des Weiteren muss ein Übereinkommen der Vereinten Nationen
bezüglich Herstellung, Handel und Ausfuhr von Feuerwaffen, Waffenkomponenten und Munition in nationales
Recht umgesetzt werden. Hierdurch wird das Bundesamt
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle als zuständige
Instanz zur Erteilung der Ausfuhrgenehmigung bestimmt, da das Außenwirtschaftsrecht in Deutschland
grundsätzlich durch diese Behörde vollzogen wird. Bisher wurden durch das Waffengesetz nur militärisch nicht
erhebliche Waffen wie Flinten, also Feuerwaffen mit
glattem Lauf, mit denen meistens Schrot zur Jagd verschossen wird, oder Einzellader-Feuerwaffen für Munition mit Randfeuerzündung noch nicht in das außenwirtschaftliche Kontrollregime einbezogen. Um möglichst
unbürokratisch vorzugehen, eine Verwaltung aus einem
Guss zu schaffen und damit auch unnötige Kosten zu
vermeiden, ist es daher naheliegend, dem Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle auch diese Genehmigungsverfahren zu übertragen. Hierbei wird ein einheitlicher und klarer Vollzug gewährleistet.
Ich bitte Sie daher, diesem - zugegebenermaßen über
einige Strecken sehr technischen, aber nichtsdestotrotz
notwendigen - Entwurf zuzustimmen.
Für einen reibungslosen Zahlungsverkehr sind regelmäßige Bargeldtransporte notwendig. Weil 17 Staaten den Euro als Währung haben, sind in der Euro-Zone
auch häufiger grenzüberschreitende Bargeldtransporte
notwendig - insbesondere weil nicht jeder Euro-Staat
eine eigene Geldscheindruckerei oder Münzprägeanstalt unterhält. Die Transporte setzen hohe Sicherheitsvorkehrungen voraus. Für grenzüberschreitende Transporte ist es deswegen sinnig, gemeinsame Standards für
alle Euro-Staaten zu haben. Dies ist in einer Verordnung
bereits geregelt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Demnächst wollen weitere Länder den Euro einführen. Zum Zeitpunkt der Umstellung müssen die Scheine
und Münzen natürlich bereits im Land sein. Deswegen
soll die für die Euro-Staaten geltende Verordnung zu
Euro-Bargeldtransporten auch auf die neuen Euro-Beitrittsländer ausgedehnt werden. Dieses Gesetz ermächtigt die Bundesregierung dazu, einer entsprechenden Erweiterung zuzustimmen - das ist auch schon alles.
Gegen diese Erweiterung haben wir keine Einwände.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich der Bundesregierung aber eines mit auf den Weg nach Brüssel geben:
Der Staat hat nicht nur das Geldmonopol, was ihn als
Einzigen befugt, über die Zentralbank neue Münzen und
Scheine in Umlauf zu bringen. Er hat auch das Gewaltmonopol, und zur Sicherung von Geldtransporten werden bewaffnete Sicherheitskräfte gebraucht. Zwar folgt
daraus nicht zwingend, dass nur der Staat Geldtransporte organisieren kann. Allerdings gibt es gute Gründe
dafür, dass öffentliche, gemeinwohlorientierte Dienstleister dies besser tun sollten als gewerbliche Unternehmen. Ein Negativbeispiel für Letzteres war das Geldtransportunternehmen Heros, welches Dumpingpreise
verlangte, dafür aber über lange Jahre Gelder in großem Umfang veruntreut hat.
In den letzten Jahren galt oft pauschal die Devise:
Staat ist pfui, Private sind hui. So wurde auch die Bundesdruckerei, welche Banknoten und Ausweise druckt,
um die Jahrtausendwende privatisiert und an einen Investor verkauft. Dummerweise ging dieser pleite, und
die Bundesdruckerei musste aufgefangen werden. Inzwischen gehört sie wieder dem Staat.
In vielen Staaten ist es auch heute noch selbstverständlich, dass der Staat hoheitliche Aufgaben selbst
übernimmt. In Deutschland tun sich viele mit dieser Vorstellung leider sehr schwer.
Zweifellos: Die Euro-Zone steckt in einer tiefen
Krise. Die Toptagesnachrichten unserer Tage sind geprägt von vermeidbar tiefen Wirtschafts- und Bankenkrisen in Euro-Mitgliedstaaten, Abwendung von Staatspleiten und der Notwendigkeit tiefgreifender institutioneller
Reformen zur Verhinderung des Zerfalls des gemeinsamen Währungsraums.
Erst gestern hatten wir deshalb erstmals EZB-Chef
Mario Draghi zu Gast in einer gemeinsamen Sitzung von
Haushalts-, Finanz- und Europaausschuss. Ebenfalls
gestern haben wir mit Sorge aus Spanien vernommen,
das Land stecke noch tiefer in der Rezession, als bisher
gedacht. Und ebenso gestern wurde bekannt, dass Griechenland mehr Zeit für die Umsetzung von Reformen
und die Erreichung von Sparzielen erhalten soll.
Kurzum: Spricht man zurzeit vom Euro, geht es meist um
Krisenszenarien, wackelnde Banken und Schuldenberge,
unter denen die Gemeinschaftswährung auseinanderzubrechen droht.
Vor diesem Hintergrund ist es in gewisser Weise doch
sehr erfreulich, dass wir heute einmal nicht die Krisenpolitik debattieren, wenn wir vom Euro reden. Heute
geht es um sehr viel Harmloseres, nämlich den zwischenstaatlichen Straßentransport von Euro-Bargeld.
Der vorliegende Gesetzentwurf will die rechtlichen
Voraussetzungen dafür schaffen, dass Mitgliedstaaten,
die den Euro einführen möchten und über keine eigenen
Notendruckereien oder Münzstätten verfügen, das benötigte und außerhalb des Landes produzierte Bargeld einführen und sich hierzu gewerblicher Geldtransportunternehmen bedienen können.
In der Existenz dieses Gesetzentwurfs steckt damit
eine Botschaft, die wir bei der tagesaktuellen und allgegenwärtigen Krisenrhetorik zum Euro nicht vergessen
dürfen: Es gibt Staaten, die den Euro einführen möchten! Denn trotz aller Probleme des Währungsraums in
seiner jetzigen Verfasstheit und trotz aller berechtigten
Sorgen, die uns im Zusammenhang mit der Währungsunion umtreiben, ist der Euro nach wie vor eine Erfolgsgeschichte. Warum sonst möchten Länder wie Bulgarien, Tschechien oder auch Litauen und Lettland den
Euro einführen? Doch nicht, um sich neue Probleme ins
Land zu holen. Doch nicht, weil die Lage tatsächlich so
ausweglos ist, wie sie in manchen Tagen erscheinen
mag. Sondern weil der Euro ein wichtiges Zukunftsprojekt ist und bleibt. Weil die Probleme lösbar sind, wenn
die Verantwortlichen in der Politik - allen voran die
deutsche Bundesregierung! - sich endlich dazu durchringen. Weil mit dem Euro eine der wichtigsten Handelsregionen der Welt geschaffen wurde, dem sich andere
Länder anschließen und an dem sie teilhaben möchten.
Und weil sich die beitrittswilligen Länder von der EuroEinführung unterm Strich Vorteile versprechen, die sie
ansonsten nicht realisieren könnten und die uns und unseren Unternehmen inzwischen selbstverständlich geworden sind. Diese Erkenntnis sollten wir alle in die Tages- und Krisenpolitik zum Euro mitnehmen.
Zum Gesetzentwurf selbst: Wir Grüne unterstützen
wie der Bundesrat die Ziele dieses Gesetzentwurfs. Länder sollten zum Euro beitreten können, wenn sie die
erforderlichen Beitrittsvoraussetzungen erfüllen, ohne
über eigene Notendruckereien und Münzprägestätten
verfügen zu müssen. Dem Gesetz werden wir daher zustimmen.
Das etwas chaotische Verfahren der Koalition, hier in
aller Eile dem Gesetzentwurf noch Veränderungen im
Waffenrecht anzuhängen, fanden wir etwas seltsam. In
der Sache haben wir aber auch dort keine Einwände und
haben deshalb dem holprigen Verfahren, bei dem noch
nach der Schlussabstimmung im Ausschuss Änderungsanträge zusätzlich eingebracht wurden, zugestimmt.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11186, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10759 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist bei Enthaltung der Linken von den anderen Fraktionen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, sich zu erheben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mineralölhaltige Druckfarben bei wiederverwendbarem Papier und Lebensmittelverpackungen verbieten
- Drucksachen 17/7371, 17/10661 Berichterstattung:Abgeordnete Mechthild HeilElvira Drobinski-WeißDr. Erik SchweickertKarin BinderNicole Maisch
Wie ausgewiesen, sind auch hier die Reden zu Protokoll genommen worden.
Wir sprechen heute über ein wichtiges verbraucherpolitisches Thema: die mögliche Gesundheitsgefährdung durch den Übergang von Mineralöl aus Verpackungsmaterialien auf Lebensmittel. Wie kommt
dieser zustande?
Erstens. Lebensmittelverpackungen werden zu Informations- und Werbezwecken bedruckt. Die verwendeten
Druckfarben sind Mischungen verschiedenster chemischer Verbindungen. Diese Verbindungen können auf
Lebensmittel übergehen und dann beim Verzehr von den
Verbrauchern aufgenommen werden.
Zweitens. Untersuchungen haben ergeben, dass Recyclingkartons hohe Mineralölanteile enthalten können,
die auf Lebensmittel übergehen können. Die Mineralöle
kommen aus Druckfarbenrückständen im Recyclingpapier, zum Beispiel aus dem Zeitungsdruck. Wir sind uns
darüber einig, dass wir aus ökologischen Gründen
Papier recyceln wollen. Nun ist die berechtigte Frage:
Inwieweit kann dies gesundheitsschädlich für die Konsumenten sein? Wir nehmen die bis jetzt gewonnenen
Erkenntnisse und die Sorgen der Verbraucherinnen und
Verbraucher sehr ernst. Es herrscht hier aber noch erheblicher Forschungsbedarf.
Die vorgeschlagene Lösung der Linken, mineralölhaltige Druckfarben bei wiederverwendbarem Papier
und Lebensmittelverpackungen zu verbieten, ist nicht
durchdacht. Es nutzt dem Verbraucher jedenfalls nicht,
wenn die Linke Verunsicherung sät, nur um Wählerstimmen zu ernten. Wir müssen dieses Problem mit Augenmaß angehen. Der Antrag klingt beim ersten Hören ganz
sinnvoll, aber, wieder einmal, wird ein komplexes
Problem der Schlagzeile wegen vereinfacht. Die Linke
fordert in ihrem Antrag unter anderem, der Zeitungsindustrie zu verbieten, mineralölhaltige Druckfarben zu
verwenden. Mal ganz abgesehen davon, dass die Zeitungsindustrie große Probleme hätte, ihre Druckverfahren entsprechend umzustellen, ergäben sich viel größere
Schwierigkeiten: Eine solche nationale Lösung ignoriert
die Tatsache, dass Altpapierkreisläufe global verlaufen.
Außerdem müssen Mineralöle in Lebensmitteln nicht
ausschließlich in den Druckfarben ihren Ursprung haben. Mineralöle sind weit verbreitet und gelangen auf
unterschiedlichen Wegen in Lebensmittel, beispielsweise
aufgrund der Transport-, Verarbeitungs- und Lagerbedingungen von Lebensmittelrohmaterial. Wir brauchen
bessere Erkenntnisse, woher Mineralöl, das auf Lebensmittel übergegangen ist, tatsächlich kommt, und welche
Auswirkungen es auf den menschlichen Organismus hat.
Die Bereitschaft vonseiten der Industrie, mit uns gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, ist groß. Die deutschen Wirtschaftsverbände der Papierverarbeitung beispielsweise haben ihren Mitgliedern längst empfohlen,
nur mineralölfreie Druckfarben zur Bedruckung von
Verpackungen aus Papier, Karton und Pappe einzusetzen. Wir wollen das Problem auf diese Weise, gemeinsam mit Wirtschaft und Forschung, lösen. Staatlicher
Zwang hilft dem Verbraucher nicht immer, denn die
Lösungen müssen sinnvoll und auch umsetzbar sein.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat einen Verordnungsentwurf zur nationalen Regulierung von Druckfarben vorgelegt, der zurzeit überarbeitet wird. Es werden unter
anderem Höchstmengen für den Übergang von Mineralöl aus Lebensmittelverpackungen auf Lebensmittel
festgelegt. Außerdem sieht der Verordnungsentwurf eine
Positivliste vor, also eine Liste mit Stoffen, die in Druckfarben bei der Herstellung von Lebensmittelbedarfsgegenständen verwendet werden dürfen. In dieser Liste
werden nur solche Stoffe aufgeführt, die vom Bundesinstitut für Risikobewertung auf ihre Unbedenklichkeit
geprüft wurden.
Kurzfristige Lösungen, wie zum Beispiel die Verwendung von Innenverpackungen, halte ich für sinnvoll. So
können Mineralölübergänge auf Lebensmittel reduziert
werden. Wie notwendig und sinnvoll das ist, muss aber
weiter geprüft werden.
Um langfristige Lösungen finden zu können, brauchen wir belastbare Zahlen und nicht nur Theorien. Bisher beruhen die Diskussionen nämlich hauptsächlich
auf Vermutungen und Interpretationen.
Wir erkennen die potenziellen Risiken durch Mineralölübergänge auf Lebensmittel. Ich betone aber auch:
Momentan liegen keine Erkenntnisse über eine konkrete
Gefährdung der Verbraucher vor. Es besteht erheblicher
Bedarf an Studien und Forschung, um die Risiken tatsächlich identifizieren zu können. Nur wenn wir die
Risiken wirklich kennen und verstehen, können wir sinnvollen Verbraucherschutz betreiben.
Seit mehr als zwanzig Jahren ist das Problem bekannt: Mineralöle, die durch den Recyclingprozess in
Lebensmittelkontaktmaterialien gelangen, verdampfen
während der Lagerung und belasten damit Lebensmittel - und nicht nur die Lebensmittel, die damit verpackt
sind, nein, alle in diesem Raum gelagerten Lebensmittel
sind potenziell gefährdet!
Das Bundesinstitut für Risikoforschung beschreibt
das Mineralöl als sehr komplexe Mischung aus gesättigten und aromatischen Kohlenwasserstoffen. Bekannt ist:
Insbesondere die kurzkettigen gesättigten Kohlenwasserstoffe werden vom Körper leicht aufgenommen, und
deren Ablagerungen können zu Organschäden führen.
Bekannt ist auch, dass zu den aromatischen Kohlenwasserstoffen auch krebserregende Substanzen gehören.
Jedoch gibt es aufgrund der meist unbekannten Zusammensetzung der Stoffgemische leider keine wissenschaftlichen Daten zur Wirkung der Mischungen selbst leider, aber aufgrund der Vielzahl von Mischungen
nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar ist für mich,
warum Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU
und FDP, nicht trotzdem ernsthaft den Austausch mineralölhaltiger Druckfarben im Zeitungsdruck angehen.
Im Sinne eines vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes muss der Übergang von Mineralöl in
Lebensmittel so gering wie möglich gehalten werden.
Doch leider auch in diesem Jahr bilanziert der BfRJahresbericht: Für die Klasse der gesättigten Kohlenwasserstoffe - für die es temporäre Grenzwerte gibt werden diese Grenzwerte sehr oft weit überschritten.
Keine Lösung nach zwanzig Jahren in Sicht?
Ich möchte nicht die bisherigen Bemühungen der Industrie zur Reduzierung der Übergänge von Mineralöl
aus Recyclingkartonverpackungen gering schätzen.
Aber es reicht offensichtlich nicht, die Druckfarben für
den Karton selbst mineralölfrei zu gestalten. Und Umverpackungen kann ich nur als Zwischenlösung akzeptieren; sie sind weder ökologisch noch ökonomisch auf
lange Zeit tragbar. Wir brauchen dauerhafte Lösungen.
Um Verbraucherinnen und Verbraucher wirklich effektiv zu schützen, muss der Einsatz mineralölhaltiger
Druckfarben sowohl bei den wiederverwendbaren
Papier- als auch bei den Kartonmaterialien so weit wie
möglich gesenkt werden. Eine Positivliste für Druckfarben, die eine gesundheitliche Unbedenklichkeit
nachweisen können, unterstütze ich voll und ganz.
Aber um wirklich effektiv vor Mineralölen in Lebensmittelkartonen zu schützen, müssen wir vor allem den
Recyclingprozess selbst überprüfen. Wir wissen: Große
Mengen Altpapier werden importiert. Wir wollen auch
weiterhin Recyclingmaterial einsetzen. Aber kann während der Herstellung mehr für die Entfernung der Mineralöle getan werden? Wo können konkrete Grenzwerte
für den Gehalt an Mineralölen gesetzt werden? Und
welche Analysemethoden gibt es, um diesen Grenzwert
zu kontrollieren?
Den Grenzwert sinnvoll zu setzen, ist für mich der
Ansatzpunkt, um die Recyclingindustrie wirklich zum
Umdenken zu bewegen. Dann kommt sicher auch Bewegung in die Entscheidungsfindung der Zeitungsdruckhäuser; denn mineralölfreie Zeitungsfarben sind laut
Verbandsaussage machbar, aufgrund mangelnder Nachfrage jedoch aktuell am Markt nicht verfügbar.
Der Antrag der Linken geht in die richtige Richtung,
ist jedoch leider nicht weitgehend genug. Deswegen
enthält sich die SPD-Fraktion.
Das Problem von mineralölhaltigen Druckfarben in
Lebensmittelverpackungen wird von der schwarz-gelben
Bundesregierung bereits angegangen. Nachdem das
Bundesinstitut für Risikobewertung eine Minimierung
von Mineralölrückständen in Lebensmittelverpackungen
angemahnt hat, haben wir gehandelt.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat eine Verordnung erarbeitet, welche den Anliegen der Linkspartei in weiten
Teilen Rechnung trägt.
Die christlich-liberale Koalition verfolgt ein Minimierungskonzept, um den Übergang von Mineralölrückständen in Lebensmitteln zu vermeiden. Zum Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher vor möglichen
Gesundheitsgefahren werden Höchstmengen für den
Übergang von gesättigten und aromatischen Kohlenwasserstoffen aus Lebensmittelverpackungen, die unter
Verwendung von Altpapier hergestellt sind, auf Lebensmittel festgelegt.
Auch enthält der Verordnungsvorschlag eine Positivliste mit Stoffen, die in Druckfarben bei der Herstellung
von Lebensmittelbedarfsgegenständen verwendet werden dürfen. Die Aufnahme der Stoffe auf die Positivliste
erfolgt in enger Abstimmung mit dem Bundesinstitut für
Risikobewertung, welches diese auf ihre gesundheitliche
Unbedenklichkeit überprüft.
Der Antrag der Linken schießt allerdings in manchen
Forderungen weit über das erreichbare Ziel hinaus. Ein
grundsätzliches Verbot der Verwendung von mineralölhaltigen Druckfarben träfe vor allem die Zeitungsindustrie. Zeitungsverleger würden vor erhebliche Probleme
gestellt, da sie zu einer Umstellung ihrer Drucktechnik
gezwungen wären. Dabei trägt der Zeitungsverleger
keine Verantwortung dafür, dass sich Zeitungen als Recyclingprodukte in Lebensmittelverpackungen wiederfinden.
Hinzu kommt, dass Zeitungsdruckfarben nach europäischem Recht der REACH-Verordnung und dem Chemikaliengesetz unterliegen. Sie sind demnach nicht an
das Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch, LFGB, gebunden.
Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, auch
Zeitungsdruckfarben dem LFGB unterwerfen zu wollen wie die Linken dies anstreben. Das, so meine ich, ist weder zielführend noch effizient. Denn zum einen würde
dies deutsche Zeitungsverleger im europäischen Wettbewerb benachteiligen. Zum anderen würde das Problem
nicht gelöst, da aus dem Ausland nach wie vor Verpackungen und Altpapier mit mineralölhaltigen Druckfarben nach Deutschland gelangen würden und dementsprechend auch in der Altpapierverwertung landen
Zu Protokoll gegebene Reden
würden. Angesichts dieses Recyclingkreislaufs wäre ein
nationaler Alleingang keine sinnvolle Lösung des Problems.
Aus einem nationalen Alleingang würden stattdessen
Handelshemmnisse und Wettbewerbsverzerrungen resultieren, die insbesondere für unsere deutschen Unternehmen nicht gerechtfertigt werden können. Denn, wie
gezeigt, stünden diesen Wettbewerbsverzerrungen keine
Verbesserungen beim Gesundheitsschutz gegenüber.
Notwendig ist deshalb auf jeden Fall ein EU-einheitliches Vorgehen.
Es gibt inzwischen Vorschläge, die darauf zielen, Zeitungen zukünftig separat zu recyceln, um einen Eintrag
von Mineralölen in Lebensmittelverpackungen zu vermeiden. So gut dieser Vorschlag auf den ersten Blick
klingt, so problematisch ist dann aber auch seine Realisierung: Denn eine Trennung von Zeitungen und anderen Papierprodukten bei der Altpapiererfassung stellte
den gesamten Prozess des in Deutschland vorbildlichen
Papierrecyclings infrage. Und wie eben bereits aufgezeigt, sind nicht nur Zeitungen ein Problem, sondern
auch Verpackungen von importierten Produkten aus
dem Ausland.
Im Übrigen ist die Verpackungsindustrie in Deutschland bereits selbst dabei, auf das vorliegende Problem
zu reagieren. Die Wirtschaftsverbände Papierverarbeitung, WPV, und die angeschlossenen Mitgliedsverbände
haben beispielsweise eine Selbstverpflichtung erarbeitet, beim Bedrucken von Verpackungen aus Papier, Karton und Pappe nur noch mineralölfreie Druckfarben einzusetzen, die auf dem Markt verfügbar sind. Das ist ein
ausgezeichneter Ansatz.
Statt nach ineffizienten nationalen Alleingängen und
Verboten zu rufen, lassen sich aus meiner Sicht vor allem durch technische Maßnahmen auf der Verpackungsebene die Einträge von mineralölhaltigen Druckfarben
in Lebensmitteln minimieren. Beispielsweise kann durch
die Verwendung von Innenverpackungen mit Barrierewirkung der Übergang von Mineralölrückständen aus
Verpackungen minimiert werden. Ein Müsli kann zum
Beispiel in einen Innenbeutel verpackt werden, sodass es
mit der Umverpackung gar nicht mehr in Berührung
kommt.
Durch Vorkehrungsmaßnahmen der Lebensmittelindustrie, gepaart mit der von dieser Bundesregierung in
Angriff genommenen Minimierungsstrategie, welche
auch eine Positivliste von Stoffen umfassen wird, werden
wir den Eintrag von mineralölhaltigen Druckfarben auf
ein gesundheitlich unbedenkliches Maß reduzieren.
Gleichzeitig bleiben wir mit dieser Lösung im Einklang
mit geltendem EU-Recht.
Der Antrag der Linken wiederum schießt weit über
das Ziel hinaus. Daher lehnen wir diesen ab.
Mineralölrückstände haben in unserem Essen nichts
zu suchen. Dennoch gelangen sie in zum Teil gesundheitsbedenklichen Mengen in die Lebensmittel. Der
Grund sind hauptsächlich Druckfarbenrückstände in
Verpackungen aus Altpapier. Die neuen Werbeaufdrucke
auf den Lebensmittelverpackungen machen nur einen
geringen Teil der Belastung aus.
Die Gesundheitsgefahr steckt also im Recyclingpapier. Das Material besteht zum größten Teil aus bedrucktem Altpapier, wie beispielsweise Zeitungen. Die
schädlichen Mineralölbestandteile können im Recyclingkreislauf jedoch nur zum Teil „herausgewaschen“
werden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung kommt
daher zu dem Schluss, „dass der Übergang von Mineralölen auf Lebensmittel dringend minimiert werden
sollte“.
Die Bundesregierung kommt ihrer Verantwortung
aber nur teilweise nach. Sie sieht lediglich ein Verbot
gesundheitsbedenklicher Mineralölbestandteile in den
Farben für Verpackungsaufdrucke vor. Das Recyclingpapier als die eigentliche Schadstoffquelle findet bisher
keine Berücksichtigung.
Für die Linke stelle ich fest: Die Maßnahmen der
Bundesregierung sind für einen wirksamen Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher unzureichend. Auch
die Fraktion der CDU/CSU drückt sich vor der Verantwortung. Statt zu handeln, schlug sie „Studien zur Klärung des Sachverhaltes“ im Ausschuss vor. Das ist völlig
überflüssig. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat bereits in zwei Expertenrunden zwölf Fachleute und Wissenschaftler befragt.
Über den zwingenden Schutz der Verbraucherinnen und
Verbraucher gibt es keinen Klärungsbedarf mehr. Ich
frage nun: Hat Schwarz-Gelb die Studien schon in Auftrag gegeben, und gibt es schon Ergebnisse?
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ohne
Recycling geht in der Papierindustrie heute gar nichts
mehr. Die Wiederverwendung von Altpapier ist aus
Gründen des Umweltschutzes und der Wirtschaftlichkeit
unverzichtbar. Der Anteil von Recyclingmaterial für
Verpackungen in der Lebensmittelindustrie beträgt bereits 70 Prozent.
Die Linke sagt: Um den hohen Recyclinganteil in der
Papierindustrie unter wirtschaftlich tragbaren Bedingungen zu sichern, muss sofort bei allen Druckerzeugnissen auf mineralölhaltige Druckfarben verzichtet werden. Das bedeutet natürlich auch, dass beim Import von
Altpapier auf gesundheitsschädliche Rückstände geachtet werden muss und im Zweifelsfall bestimmte Chargen
nicht in der Produktion von Lebensmittelverpackungen
eingesetzt werden dürfen.
Bis der Altpapierkreislauf frei von schädlichen Mineralölbestandteilen ist, sollten kartonverpackte Lebensmittel durch zusätzliche Folien im Karton geschützt werden. Zudem sollten Außenfolien, die eine Kartonverpackung mit einschließen, vermieden werden, denn sie
verstärken den Übergang der Chemikalien auf die Lebensmittel. Dazu muss die Bundesregierung unverzüglich einen Verordnungsvorschlag auf den Tisch legen.
Grundsätzlich ist aber die Druckfarbenindustrie als
Verursacher in die Verantwortung zu nehmen: Der Einsatz von Mineralöldruckfarben muss bei allen Druckerzeugnissen untersagt werden, denn auf einen saubeZu Protokoll gegebene Reden
ren Recyclingkreislauf für Papier können wir nicht
verzichten. Ohnehin ist es im Sinne der Nachhaltigkeit
sinnvoll, Mineralöl durch unbedenkliche Stoffe zu ersetzen. Die Bundesregierung ist gefordert, den Verzicht auf
Mineralölfarben EU-weit durchzusetzen, um den Recyclingpapiermarkt zumindest europaweit sauberzubekommen.
Die Linke fordert: Der Einsatz mineralölhaltiger
Druckfarben muss bei allen wiederverwendbaren Papier- und Kartonmaterialien verboten werden; Durchsetzung einer Positivliste für unbedenkliche Druckfarben, die für Lebensmittelbedarfsgegenstände verwendet
werden dürfen. Zum Schutz der Verbraucherinnen und
Verbraucher sollte für Verpackungen das anerkannte
ALARA-Prinzip gelten, As Low As Reasonably Achievable. Danach muss eine Schadstoffbelastung so niedrig
sein, wie dies vernünftigerweise möglich ist.
Verschiedene Forschungsprojekte haben gezeigt,
dass Lebensmittel zum Teil deutlich zu hoch mit Mine-
ralöl belastet sind. Das Bundesinstitut für Risikobewer-
tung, BfR, hat bereits 2009 vor der Verunreinigung von
Lebensmitteln durch Verpackungen aus Recyclingpapier
gewarnt. Quelle für die Verunreinigung sind nach
Studien des BfR vor allem mineralölhaltige Druck-
farben, die für den Zeitungsdruck verwendet werden und
sich nach dem Recycling in Lebensmittelverpackungen
wiederfinden.
Mineralöle enthalten gesundheitsschädliche Kohlen-
wasserstoffe, die sich im Körper anreichern und zu
Schäden an inneren Organen oder zu Krebs führen kön-
nen. Solche Mineralölreste finden sich nun in unseren
Lebensmitteln - und das in viel zu hohen Mengen.
In verschiedenen Lebensmitteln, die in Papier oder in
Karton verpackt waren, wurden deutlich zu hohe
Gehalte an mineralölhaltigen Kohlenwasserstoffen fest-
gestellt. Bei Studien in Deutschland und in der Schweiz
wurden Überschreitungen des von einer Expertenkom-
mission der Weltgesundheitsorganisation, WHO, auf-
gestellten vorläufigen Grenzwerts von 0,6 Milligramm
pro Kilogramm an mineralölhaltigen Kohlenwasserstof-
fen in Lebensmitteln um den Faktor 10 bis 100 gefunden.
Dabei muss noch bedacht werden, dass der Grenzwert
für einen durchschnittlichen erwachsenen Menschen
gilt. Kinder haben also deutlich schneller die kritische
Menge überschritten.
Es müssen also schnellstmöglich gangbare Wege ge-
funden und umfassende Regelungen geschaffen werden,
die den Verbraucher vor weiteren Schäden bewahren.
Das BMELV hat dazu im letzten Jahr endlich einen
Entwurf zur Änderung der Bedarfsgegenständeverord-
nung vorgelegt. Da die Mühlen aber hier offensichtlich
sehr träge laufen, soll die Einführung der Verordnung
bis 2015 hinausgezögert werden. Geregelt werden sollen
dabei auch nur die Druckfarben, die direkt bei der
Herstellung von Lebensmittelbedarfsgegenständen ein-
gesetzt werden. Die Farben, die beim Druck von Zeitun-
gen und Zeitschriften verwendet werden, sollen nicht
reguliert werden. Doch gerade hier liegt der Knack-
punkt. Denn durch die Lebensmittelverpackungen aus
Recyclingpapier - allen voran Zeitungspapier - werden
die darin verpackten Lebensmittel häufig verunreinigt.
Die Verwendung von Recyclingpapier ist ökonomisch
und ökologisch aber sinnvoll und notwendig. Alle Ver-
packungen aus Frischfasern herzustellen, wäre unter
ökologischen Gesichtspunkten hochproblematisch.
Der Weg, alle Verpackungen mit einer Plastikhülle
als Innenbeutel oder einer Barrierebeschichtung auszu-
kleiden, durch die die Lebensmittel vor ihrer eigenen
giftigen Verpackung geschützt werden sollen, ist akut
notwendig, greift aber das Problem nicht an der Wurzel
und führt zu weiteren ökologischen Problemen etwa bei
der Mülltrennung. Darüber hinaus können nicht alle
Lebensmittel durch eine sogenannte Barriere geschützt
werden. Das geht zum Beispiel nicht bei Produkten, die
in ihrer Packung „atmen“ müssen, oder bei bereits offe-
nen Packungen. Hier bemüht sich die Verpackungsbran-
che um Lösungen.
Das finde ich gut. Gemeinsam mit allen beteiligten
Industriezweigen, also mit Druckfarbenherstellern, Zei-
tungsbranche, Erfassung von Altpapier, Papierherstel-
lung, Verpackungsindustrie, Lebensmittelabfüllung,
müssen ökologisch vertretbare Lösungen gefunden wer-
den, die den rechtlichen Bestimmungen zum Schutz der
Konsumenten gerecht werden.
Der Gesundheitsschutz muss dabei höchste Priorität
haben. Wenn die Grenzwerte akut nicht ohne Innenbeu-
tel einzuhalten sind, ist das vorübergehend hinzuneh-
men; das kann aber nicht die dauerhafte Lösung des
Problems sein.
Ich bin davon überzeugt, dass man an der Wurzel des
Problems ansetzen muss, und das sind die mineralölhal-
tigen Druckfarben. Letztlich hilft nur und am effektivs-
ten, mineralölhaltige Druckfarben durch gesundheitlich
unbedenkliche zu ersetzen. Hier muss die Bundesregie-
rung Vorgaben machen und auch den Einsatz von
Druckfarben bei der Herstellung von Zeitungen und
Werbeprospekten regulieren. Die Branche hat deutlich
gemacht, dass das Ersetzen der mineralölhaltigen
Druckfarben grundsätzlich möglich ist. Doch bisher
fehlt der Anreiz, umzustellen.
Deshalb stimmen wir dem Antrag der Linken zu und
fordern die Bundesregierung auf, entsprechende Rege-
lungen auf den Weg zu bringen - wünschenswerterweise
auf EU-Ebene, aber wenn sich hier nichts tut, erst
einmal auf nationaler Ebene. Die Gesundheit der
Verbraucherinnen und Verbrauchern darf nicht länger
durch stark belastetes Verpackungsmaterial gefährdet
werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/10661, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/7371 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD ange-
nommen.
Tagesordnungspunkte 37 a und 37 b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
und anderer Gesetze ({0})
- Drucksache 17/8802 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})-
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Vollzugs im Unterhaltsvorschussrecht
- Drucksache 17/2584 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})Rechtsausschuss
Wie ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll genommen worden.
Wir behandeln heute in erster Lesung die Vorschläge
von Bundesregierung und Bundesrat zu Verbesserungen
und Bürokratieabbau im Unterhaltsvorschuss.
Der Unterhaltsvorschuss ist ein besonderes familienpolitisches Instrument für alleinerziehende Eltern. Wenn
sie wegen des Ausfalls der Unterhaltszahlungen des
anderen Elternteils nicht nur selbst für die Betreuung
des Kindes sorgen, sondern auch für den ausfallenden
Barunterhalt aufkommen müssen, ist der Unterhaltsvorschuss eine große Hilfe und hat armutsreduzierende
Wirkung. Derzeit hat ein Kind unter zwölf Jahren, das
von seinem getrennt lebenden Elternteil - in der ganz
überwiegenden Anzahl sind es Väter - keinen oder keinen regelmäßigen Unterhalt erhält, Anspruch auf eine
monatliche Zahlung der Unterhaltsvorschussstellen. Er
beträgt für ein Kind unter sechs Jahren 133 Euro und für
ein Kind unter zwölf Jahren 180 Euro und gilt für längstens 72 Monate, also sechs Jahre. Im Jahr 2009 bezogen
über 480 000 Kinder diese Ersatzleistung. Wir unterstützen mit dieser Leistung die Alleinerziehenden in der
schwierigen Situation eines Konflikts um den Kindesunterhalt.
Die Unterhaltschuldner werden durch die Zahlung
des Unterhaltsvorschusses keineswegs entlastet. Die
Unterhaltsansprüche der Kinder gehen auf das jeweilige
Land über, das dann Rückgriff beim Unterhaltsverpflichteten nimmt. Zur Durchsetzung dieses Rückgriffsanspruchs und zur Erleichterung der Antragstellung hat
die Bundesregierung Verbesserungsvorschläge unterbreitet, die wir in den anstehenden Beratungen noch genauer unter die Lupe nehmen werden.
Ich bedaure sehr, dass die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag, die Altersgrenze auf 14 Jahre anzuheben, im Gesetzentwurf nicht aufgegriffen worden ist. Gerade aus dem Blickwinkel der Alleinerziehenden wäre
uns die Anhebung der Altersgrenze ein sehr wichtiges
Anliegen, denn wir wissen um die besondere Belastung
der Alleinerziehenden. Leider konnten aus dem Haushalt des BMFSFJ für dieses Anliegen keine zusätzlichen
finanziellen Mittel berücksichtigt werden.
Die Aspekte der Entbürokratisierung, die der Gesetzentwurf aufgreift, gehen auf die Wünsche der Länder
zurück. Die Länder setzen über die Kommunen das Unterhaltsvorschussgesetz um; insbesondere für die Kommunen ist das mit einem hohen finanziellen und bürokratischen Aufwand verbunden. Sie wünschen sich
insbesondere die Erleichterung beim Rückgriff. Zu dessen Durchsetzung stehen den Unterhaltsvorschussstellen zwar Auskunfts- und Anzeigepflichten zur Seite;
diese sind aus den Erfahrungen der Praxis aber oftmals
nicht ausreichend. Die Rückgriffquote lag im deutschen
Durchschnitt im Jahr 2008 bei lediglich 19,5 Prozent.
Den Ausgaben in Höhe von circa 850 Millionen Euro
standen Einnahmen in Höhe von nur circa 160 Millionen Euro gegenüber. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schlägt hier eine Reihe von Verbesserungsmaßnahmen vor, unter anderem bessere Möglichkeiten zur
gerichtlichen Durchsetzung von Rückgriffsansprüchen,
neue Informationspflichten und erweiterte Auskunftspflichten für Kreditinstitute und Verwaltung sowie die
Evaluierung der Auswirkungen der erweiterten Auskunftspflicht.
Die Vereinfachung der Verwaltung, vor allem aber
die Verbesserung des Rückgriffs sind nachvollziehbare
Anliegen, die wir grundsätzlich unterstützen. Ein funktionierender Rückgriff ist auch deshalb besonders wichtig, weil er die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen
im Anschluss an die Zahlung von Unterhaltsvorschuss
gut vorbereitet und dadurch nachhaltig hilft. Hier kann
zum Beispiel auch die Idee des Bundesrates, die Informationsquellen zur Durchsetzung des Rückgriffs für die
Unterhaltsvorschussstellen durch die Einführung eines
automatisierten Datenabgleichs und Kontenabrufs auszuweiten - wie es beim BAföG und Wohngeld bereits
möglich ist -, ein guter Ansatzpunkt sein. Darüber sollten wir diskutieren.
In diesem Zusammenhang muss die ursprüngliche
Zielsetzung des Unterhaltsvorschusses wieder stärker in
den Blick genommen werden. Ursprünglich war er als
eine reine Übergangsregelung angelegt zur Hilfe in einer besonders schwierigen Situation der Alleinerziehenden und ihrer Kinder. In der Praxis ist dies zum Teil aus
dem Blick geraten; mittlerweile ist der Unterhaltsvorschuss eine meist von vornherein auf den gesamten Zeitraum von sechs Jahren angelegte Ersatzleistung. Es
muss wieder mehr in den Blick geraten, ({0}) die
Mutter darin zu unterstützen, den Anspruch des Kindes
gegen den ({1}) Vater geltend zu machen. Der Unterhaltspflichtige muss wieder verstärkt in die Verantwortung genommen werden. Es gibt viel zu viele Fälle,
bei denen sechs Jahre Unterhaltsvorschuss gezahlt wird,
ohne dass in dieser Zeit das Verfahren für den UnterElisabeth Winkelmeier-Becker
haltsanspruch an den Vater vorbereitet wird und darüber hinaus der Mutter auch nicht die praktische Hilfe
bei der Umsetzung ihres Anspruchs gegeben wird.
Denn es muss weiter als Normalfall empfunden werden, dass der Unterhaltspflichtige den Unterhalt an sein
Kind selbst zahlt. Es ist auch eine wichtige Botschaft für
das Kind, dass die Eltern für seinen Unterhalt zahlen
und nicht eine Behörde. Auf dieser Linie liegt, dass wir
bei der anstehenden Reform der Verbraucherinsolvenz
bei der Restschuldbefreiung auch Verbindlichkeiten aus
rückständigem Unterhalt ausnehmen wollen. Wir stellen
damit die vorsätzliche Nichtleistung des Unterhalts einer unerlaubten Handlung gleich. Damit unterstreichen
wir, dass Unterhaltsschulden keineswegs als Kavaliersdelikt zu betrachten sind, sondern dass Unterhaltspflichtverletzungen einen Straftatbestand darstellen.
Überhaupt muss das öffentliche Bewusstsein dafür gesteigert werden, dass Kindesunterhalt ein Anspruch des
Kindes ist, der seine Existenz sichert und nicht verhandelbar ist.
Bei einigen Vorschlägen aus dem Gesetzentwurf habe
ich allerdings meine Zweifel, ob sie nicht zu unnötigen
und ungerechtfertigten Verschlechterungen für die Alleinerziehenden führen könnten. Ich denke hier zum
Beispiel an die im Gesetzentwurf geplante Regelung zur
Anrechnung von Leistungen an Dritte auf Unterhaltszahlungen. Demzufolge sollen Unterhaltszahlungen an
Dritte, die unmittelbar dem Kind zugutekommen, zum
Beispiel für Kinderbetreuung, Sportkurse, Musikunterricht, auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet werden.
Es wäre dann in das Belieben des Unterhaltspflichtigen
gestellt, wie er den Unterhalt zahlt. Konflikte zwischen
dem betreuenden und dem unterhaltspflichtigen Elternteil sind damit vorprogrammiert. Gerade für den betreuenden Elternteil ist es ein qualitativer Unterschied,
ob Geld zur eigenverantwortlichen Verfügung erhalten
wird oder faktisch nur eine Sachleistung infolge der
Zahlung an Dritte. Hier sollten wir uns um eine bessere
Regelung bemühen, die den Barunterhalt sichert und
nicht für zusätzliches Konfliktpotenzial sorgt.
Des Weiteren wünschen sich die Länder den Verzicht
auf rückwirkende Auszahlung des Unterhaltsvorschusses für einen Monat. Diese beschränkte Rückwirkung
soll wegfallen und der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss erst ab dem Monat der Antragstellung bestehen.
Zur Begründung wird der hohe Verwaltungsaufwand
aufgeführt, der gerade bei der Prüfung der Anspruchsgrundlagen für den Monat vor Antragstellung besonders
hoch ist; im Gesetzentwurf ist die Rede von einer Verringerung der Belastung von 92 500 Arbeitsminuten für die
Verwaltung. Auf der anderen Seite bedeutet die Streichung der Rückwirkung für den Monat vor Antragstellung in vielen Fällen den Verlust einer monatlichen Unterhaltsvorschusszahlung in der besonders schwierigen
Trennungsphase der Eltern. Das müssen wir sorgsam
gegeneinander abwägen; beide Seiten werden im Gesetzgebungsverfahren hierzu noch Stellung nehmen können.
Aus meiner Sicht ist wichtig, dass mögliche Effizienzgewinne im Bereich Unterhaltsvorschuss bleiben müssen. Frei werdende Gelder müssen weiter diesem Zweck
zugeführt werden und zum Beispiel in die Verlängerung
der Bezugsdauer fließen.
Nicht selten entzieht sich der von der Mutter des Kindes getrennt lebende Vater der Verantwortung. Er kümmert sich um nichts und zahlt auch keinen Unterhalt für
das Kind und schon gar nicht den Betreuungsunterhalt
für die Mutter. Die Mutter muss deshalb eine Arbeit aufnehmen, um für sich und das Kind den Lebensunterhalt
bestreiten zu können. So wachsen Kinder von alleinerziehenden Müttern oft unter erschwerten Bedingungen
auf. Der Anteil der alleinerziehenden Elternteile nimmt
zu. 17 Prozent der minderjährigen Kinder in Deutschland wohnen bei nur einem Elternteil. Für die Mütter
dieser Kinder wird es immer schwieriger, Beruf und
Betreuung zu vereinbaren. Die Mutter ist auf die Unterhaltsleistung des Vaters des Kindes angewiesen. Da
diese Unterstützung sehr oft ausfällt, muss der Staat entsprechend dem Unterhaltsvorschussgesetz eintreten und
den vom Vater zu leistenden Unterhalt als Vorschuss
zahlen. Es handelt sich dabei um den Mindestunterhalt,
der sich nach § 1612 a BGB nach dem sachlichen Existenzminimum des Kindes richtet. Maximal zahlt der
Staat für 72 Monate den Unterhaltsvorschuss, wenn
nicht der Vater in der Zwischenzeit seine Unterhaltsverpflichtungen erfüllt. Nach diesen 72 Monaten ist das
Kind auf die Sozialhilfe angewiesen. Es werden gemäß
§ 1612 a BGB drei Altersstufen unterschieden. Die erste
Stufe reicht bis zum 6. Lebensjahr. Die zweite Stufe vom
7. bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres und die dritte
Stufe für die Zeit ab dem 13. Lebensjahr.
Die Mutter musste bislang, um die Unterhaltsleistungen vom Staat zu erhalten, bürokratische Hürden überwinden. Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt deshalb
das Ziel der Entbürokratisierung des Unterhaltsvorschussgesetzes. Insbesondere wird die Antragstellung
für alleinerziehende Elternteile und für die Verwaltung
der Aufwand für die Leistungsgewährung vereinfacht.
Außerdem wird durch die Verbesserung der Auskunftsrechte der zuständigen Stellen der Rückgriff beim
Schuldner erleichtert. Dies dient auch der zukünftigen
Sicherung des Unterhaltsanspruches des Kindes für
Zeiten, für die kein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss
besteht. Allerdings sind die vorgesehenen Maßnahmen
nicht unumstritten.
Im Entwurf erfolgt eine Klarstellung, welche Unterhaltsleistungen im Sinne des UVG als Einkommen des
Kindes anzusehen und deshalb von der Vorschusszahlung abzusetzen sind. Die Rechtsprechung hatte den bisherigen Wortlaut des UVG für nicht eindeutig gehalten.
Die Klarstellung hat zum Ziel, dass alle Zahlungen des
Vaters, die unmittelbar zum Nutzen des Kindes erfolgen,
auf den Unterhalt anzurechnen sind, selbst wenn sie zum
Beispiel an Dritte gezahlt werden, etwa die Kitagebühr.
Wenn also der Vater Beiträge für die Betreuung in
Kindertageseinrichtungen zahlt, wird diese Leistung von
dem Anspruch nach dem UVG vorab abgezogen. Ein
solcher Abzug ist jedoch für viele alleinstehende Frauen
nicht hinnehmbar. Immerhin ist zu bedenken, dass der
Zu Protokoll gegebene Reden
Mindestunterhalt, den das Kind gemäß § 1612 a im Rahmen des UVG erhält, vor allem dazu dient, die grundlegenden Bedürfnisse abzudecken, wie zum Beispiel Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, anteilige Wohn- und
Heizkosten. Wenn nun aber der Vater für den Kindergartenbesuch Zahlungen leistet und diese Zahlungen nach
dem UVG von der Vorschussleistung abgesetzt werden,
bleibt die alleinerziehende Mutter weitgehend auf den
Kosten des täglichen Bedarfs für das Kind sitzen. Die
Mutter und das Kind profitieren kaum von der Zahlung
des Vaters an die Kita. Die Mutter muss aber das tatsächliche Existenzminium des Kindes dennoch sicherstellen. Es ist daher im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob diese Regelung so beibehalten werden
kann.
Das Gesetz verfolgt weiterhin eine Klarstellung bei
zu Unrecht gezahlten Vorschussleistungen. Diese Regelung erfasst den Fall, dass zunächst aufgrund von
falschen Angaben zu Unrecht Unterhaltsvorschussleistungen ausgezahlt wurden. Deshalb sollen diese
Monate, in denen die Unterhaltsvorschussleistungen zu
Unrecht erbracht wurden, von der maximalen Leistungsdauer von 72 Monaten abgezogen werden. Der Entwurf
berücksichtigt dabei nicht den Fall, dass diese zu Unrecht empfangenen Leistungen später zurückgezahlt
werden. In einem solchen Fall sollte kein Abzug von der
Höchstleistungsdauer erfolgen.
Weiter sieht der Entwurf vor, dass bei Beantragung
des Vorschusses die Rückwirkung auf den Monat vor der
Antragstellung wegfallen soll. Dadurch, so der Entwurf,
entfallen besondere Nachweispflichten für den Antragsteller und die Prüfpflichten für die Bewilligungsbehörde, die sich auf den Rückwirkungszeitraum beziehen. Allerdings ist nicht ganz verständlich, weshalb eine
Prüfung der Voraussetzungen, die für die Zahlung des
Unterhaltsvorschusses gegeben sein müssen, für den
Vormonat nicht möglich sein soll und dass eine solche
Prüfung unverhältnismäßigen Aufwand verursachen
würde. Deshalb ist auch diese Neuregelung zu überdenken.
Weiter ist eine Verbesserung der Auskunftsrechte der
UV-Stellen vorgesehen. Die Erweiterung der Auskunftspflichten gegenüber den UV-Stellen ist zu begrüßen.
Dadurch werden die Rückgriffsbemühungen unterstützt.
Auch wenn dies im Einzelfall zu einem geringfügigen
höheren Verwaltungsaufwand führen kann, ist insgesamt
mit einer Entlastung für die Behörden zu rechnen, da die
Unterhaltsverpflichteten bereits durch die Androhung
der Geltendmachung der Auskunftsansprüche eher zu
einer freiwilligen Unterhaltszahlung bereit sind.
Weiter ist vorgesehen, dass der Unterhaltsanspruch
dynamisiert wird. Diese Regelung ist ebenfalls begrüßenswert. Sie führt zu einer Reduzierung von Abänderungsklagen von Unterhaltstiteln. Eine Abänderung ist
nämlich nicht mehr notwendig, wenn das Kind künftig
die nächst höhere Altersstufe erreicht hat und damit
einen höheren Mindestunterhalt bezieht oder die
Vorschusszahlung sich aufgrund der Dynamisierung erhöht hat.
Außerdem wird die Beurkundungsbefugnis der
Jugendämter erweitert. Dadurch werden gerichtliche
Verfahren vermieden, wenn der Unterhaltspflichtige den
bereits auf das Land übergegangenen Unterhaltsanspruch anerkennt. Bisher war dies den Jugendämtern
nicht möglich, die Anerkennung solcher Ansprüche zu
beurkunden. Diese Regelung ist ebenfalls zu begrüßen.
Trotz mancher Kritikpunkte ist der Entwurf alles in
allem zu begrüßen.
Nun kommt sie doch noch, die erste Lesung des Unterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetzes. Es sollte ja bereits am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten. Daraus ist
nichts geworden. Aber das kann ich nicht wirklich bedauern. Bereits im Vorfeld hat es berechtigte Kritik unter
anderem von Verbänden und Juristen an dem Entwurf
der Bundesregierung gegeben. Bereits im Februar gab
es einen offenen Brief an die Bundesministerin Schröder
unter der Überschrift „Kinder von Alleinerziehenden
stärken statt Unterhaltsvorschuss kürzen“. Die Bundesregierung hätte besser im Vorfeld auf die fachliche Kritik hören sollen. Diese Vorlage ist jedenfalls für die
SPD-Bundestagsfraktion ohne Änderungen nicht zustimmungsfähig.
Wir werden diese Woche auch noch eine Debatte über
zwei Anträge der SPD-Bundestagsfraktion zum Thema
Alleinerziehende haben. Diese Anträge sollten die Bundesregierung und die Regierungskoalitionen sorgfältig
lesen, um sich ein Bild davon zu machen, wie und womit
man Alleinerziehende und ihre Kinder besser unterstützen könnte. Erneut wird deutlich: Diese Bundesregierung hat einfach kein Gesamtkonzept - auch nicht in der
Familienpolitik!
Was aber plant die Bundesregierung mit diesem Gesetz? Die Antragstellung soll vereinfacht werden, den
zuständigen Stellen soll der Rückgriff auf den Unterhaltsschuldner bzw. die Unterhaltsschuldnerin erleichtert
werden. Der Bundesrat hält dazu in seiner Stellungnahme fest, dass er sich von der Reform eine Vereinfachung und Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens
sowie eine Verminderung von Gerichtsverfahren erhofft.
Er hält aber gleichzeitig fest, dass, sollten sich diese Erwartungen nicht erfüllen, weitere Reformschritte geprüft
werden müssen. Weiter erinnert der Bundesrat an die
Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen
und daran, dass damit auch der Unterhaltsvorschuss als
wichtige familienpolitische Leistung untersucht wird.
Warten und hoffen - sind das Grundlagen für eine sinnvolle gesetzgeberische Gestaltung?
Eines muss doch wohl ganz unstrittig sein: Eine Reform des Unterhaltsvorschusses darf nicht auf Kosten
der betroffenen Kinder gehen. Und daran haben wir als
SPD - und nicht nur wir - begründete Zweifel. Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass die Möglichkeit, den Unterhaltsvorschuss rückwirkend zu beantragen, wegfallen soll. Dies wird der realen Situation von
alleinerziehenden Eltern nicht gerecht und bürdet ihnen
zusätzliche Schwierigkeiten auf. Nicht nur, dass in der
Trennungssituation jeder Euro zählt; in dieser Zeit hat
Zu Protokoll gegebene Reden
der betreuende Elternteil auch die gesamte Situation allein zu schultern.
Und wie argumentiert die Bundesregierung? „Durch
den Wegfall der rückwirkenden Beantragung, § 4 UVG neu, verringert sich der Aufwand für die Antragstellerinnen und Antragsteller um 5 Minuten je Fall, in dem
bisher eine rückwirkende Beantragung erfolgt; dies ist
bisher in 10 Prozent der jährlichen Neuanträge der Fall,
also in 18 500 Fällen, sodass sich auf die Gesamtzahl
der jährlichen Neuanträge eine Verringerung der Belastung von 92 500 Minuten ergibt.“
Diese Argumentation ist zynisch und entlarvend zugleich. Es geht dieser Regierung eben nicht um die Betroffenen und deren Situation. Verwaltungsvereinfachung im Minutentakt - wie absurd ist diese Argumentation
eigentlich! Aber ein Ziel ist damit erreicht: das Sparziel.
Mit dem Wegfall der rückwirkenden Beantragung werden 90 000 Euro eingespart - Geld, das die Kinder dringend benötigen.
Im Koalitionsvertrag dieser Regierungskoalition
wurden Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss angekündigt. Diese sucht man im Gesetzentwurf bisher
vergebens. Zu möglichen Verbesserungen würde auch
eine Erweiterung der Altersgrenze über das 12. Lebensjahr hinaus zählen. Im Koalitionsvertrag steht, dass die
Altersgrenze auf 14 Jahre angehoben wird. Davon findet
sich nichts im Gesetzentwurf wieder. Hier ist die
schwarz-gelbe Bundesregierung wie so oft auf halber
Strecke stehen geblieben.
Nach einer Antwort von Staatssekretär Dr. Kues vom
Dezember 2011 wären von einer Ausdehnung des Unterhaltsvorschusses auf das 14. Lebensjahr 82 000 Kinder
betroffen. Die Mehrausgaben lägen bei etwa 240 Millionen Euro für Bund und Länder zusammen.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung in ihrem Antrag zu den Alleinerziehenden auf,
eine Anhebung der Altersgrenze zu prüfen und das Ergebnis der Prüfung umgehend vorzulegen - vor Beginn
der parlamentarischen Beratungen!
Zumindest für die anstehenden Ausschussberatungen
zum Gesetzentwurf bzw. zu der sicher anstehenden Anhörung sollten die Ergebnisse vorliegen. Wir werden die
Bundesregierung hier nicht aus der Pflicht entlassen.
Wir werden dafür sorgen, dass das Gesetz gründlich und
mit der nötigen Öffentlichkeit beraten wird.
Insgesamt bedarf es einer finanziellen Entlastung
durch den Unterhaltsvorschuss und nicht einer Mehrbelastung für die Alleinerziehenden. Eine Entlastung wäre
schon vorhanden, wenn die Hälfte des Kindergeldes
beim betreuenden Elternteil verbliebe und nicht vom
Unterhaltsvorschuss abgezogen würde. Denn Alleinerziehende, die keinen Unterhalt erhalten, werden damit
schlechtergestellt. Diese Ungleichbehandlung zu beseitigen, wäre ein sinnvolles Unterfangen.
Und so gibt es noch weitere Regelungen im Gesetzentwurf, die einer intensiven Beratung und Veränderung
bedürfen. Wie heißt es so schön im Begründungsteil des
Entwurfs? „Alleinerziehende Elternteile und ihre Kinder sind … besonders zu unterstützen und finanziell zu
entlasten. Die Unterhaltsleistung nach dem UVG, die als
Vorschuss oder als Ausfallleistung gezahlt wird, hat dabei auch armutsreduzierende Wirkung.“
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen wieder
einmal Welten bei dieser schwarz-gelben Bundesregierung.
Heute besprechen wir in erster Lesung den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes und anderer
Gesetze sowie den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf zur Verbesserung des Vollzugs im Unterhaltsvorschussrecht.
Die Unterhaltsleistung nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, UVG, unterstützt alleinerziehende Elternteile vorübergehend, weil alleinerziehende Elternteile
ihre Kinder in der Regel unter erschwerten Bedingungen
erziehen und bei Ausfall von Unterhaltsleistungen des
anderen Elternteils auch im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit für den von dem anderen Elternteil fehlenden
Unterhalt aufkommen müssen. Bei unregelmäßigen oder
ausbleibenden Unterhaltszahlungen hat das Kind eines
alleinerziehenden Elternteils Anspruch auf Leistungen
des Staates nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, UVG.
Unterhaltsvorschuss nach der noch geltenden Rechtslage wird bis zum Höchstalter von 12 Jahren für maximal 72 Monate gezahlt. Der Unterhaltsvorschuss ist
keine Sozialleistung, sondern eine Familienleistung, die
im Falle der Notlage greifen soll. Ziel ist es, in der Zeit,
bis der alleinerziehende Elternteil den Unterhalt vom
unterhaltspflichtigen Elternteil eintreiben kann, staatlicherseits eine Überbrückung zu bieten. Das Kind
braucht Unterhalt; sein Wohl, seine Bedürfnisse müssen
erfüllt werden.
Im Koalitionsvertrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der FDP-Bundestagsfraktion heißt es: „Wir
werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahingehend ändern, dass der Unterhaltsvorschuss entbürokratisiert
und bis zur Vollendung des vierzehnten Lebensjahres eines Kindes gewährt wird.“
Damit haben wir als Koalition unterstrichen, dass
wir auch die Situation der Alleinerziehenden besonders
im Blick haben und sie in dieser schwierigen Lebensphase eines Konfliktes um den Kindesunterhalt unterstützen wollen. Zugleich haben wir eine starke Erwartungshaltung geschaffen, an der eine Reform des
Unterhaltsvorschussgesetzes nun politisch gemessen
wird.
Der Gesetzentwurf zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes und anderer Gesetze sieht unter anderem
vor, dass alleinerziehende Elternteile zukünftig weniger
Nachweise erbringen müssen. Den Unterhaltsvorschussstellen wird die Anspruchsprüfung und Anspruchsbewilligung erleichtert. Darüber hinaus werden
Regelungen zur Klarstellung, zum Beispiel zur Anrechnung von erbrachten Unterhaltsleistungen des familienfernen Elternteiles, getroffen. UnterhaltsvorschussstelZu Protokoll gegebene Reden
len erhalten ein höheres Maß an Klarheit zur
gerichtlichen Durchsetzung der Rückgriffsansprüche.
Als gesetzliche Maßnahme zur Verbesserung des Rückgriffes plant die Bundesregierung, im Rahmen der
Entbürokratisierung des Unterhaltsvorschusses die
Auskunftsmöglichkeiten der für den Vollzug des UVG
zuständigen Stellen über die Verhältnisse der familienfernen Elternteile zu erweitern. Insgesamt enthält der
Gesetzentwurf einige Erleichterungen hinsichtlich des
Verfahrens. Es ist auch zu begrüßen, dass der Rückgriff
auf die Unterhaltsschuldner erleichtert wird. Eine spürbare materielle Verbesserung für die betroffenen Kinder
und die alleinerziehenden Elternteile gibt es aber nicht.
Der vorliegende Gesetzentwurf, der den Wünschen
des Bundesrates entspricht, wird dem Koalitionsvertrag
aber nicht vollends gerecht. Das zentrale Element, eine
Ausweitung der Bezugsberechtigten von 12 auf 14 Jahre,
ist nicht enthalten. Deswegen gehe ich davon aus, dass
das Gesetz in dieser Form nicht verabschiedet werden
kann. In jedem Fall wären substanzielle Änderungen erforderlich, die ich sowohl sachlich als auch politisch für
wichtig halte. Die kostenneutrale Anhebung der Altersgrenzen bei gleichzeitiger Kürzung der Anspruchsdauer
- also die Rückführung des Unterhaltsvorschusses auf
seine ursprüngliche Funktion als „Übergangshilfe“ wäre eine Möglichkeit. Die Erhöhung der Altersgrenze
auf das vollendete 14. Lebensjahr würde zu Mehrkosten
von circa 240 Millionen Euro führen. Diese Mehrkosten
könnten gegebenenfalls durch eine Reduzierung der
Höchstbezugsdauer, gegenwärtig 72 Monate, gegenfinanziert werden. Davon wäre ein Drittel vom Bund, zwei
Drittel von den Bundesländern zu tragen. Die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen würden aber auch zu
Mehreinnahmen durch die Verbesserung der Rückholquote führen. Die Umsetzung erfordert die Zustimmung des Bundesrates. Die Bundesländer haben ein
hohes Interesse an einer Entlastung ihrer Unterhaltsvorschussstellen, die gegen die Mehrkosten abgewogen
werden kann.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass das Nichtbezahlen von Unterhalt kein Kavaliersdelikt ist, sondern
einen Strafbestand darstellt. Zu Zeiten, in denen wir die
Stärkung der Rechte von Vätern im Deutschen Bundestag diskutieren, dürfen wir deren Pflichten - meist sind
die Väter unterhaltspflichtig - nicht vernachlässigen.
Der Unterhaltsvorschuss soll die finanzielle Situation
von Alleinerziehenden und ihren Kindern verbessern,
wenn der unterhaltspflichtige Elternteil seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht oder nicht ausreichend nachkommen kann. Der Unterhaltsvorschuss kommt damit
unmittelbar den Kindern von Alleinerziehenden zugute
und unterstützt alleinerziehende Elternteile vorübergehend.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es bei
der Problembeschreibung, dass diesen Elternteilen deshalb diese Unterstützung so effektiv wie möglich zukommen soll und die Antragstellung deshalb zu vereinfachen
sei.
Das klingt erst einmal schön und verständlich.
Schlimm wird es allerdings, wenn man sich den Lösungsteil anschaut. Dort steht lediglich: Entbürokratisierung der Unterhaltsleistung für Eltern und Verwaltung. Aber wie soll entbürokratisiert und vereinfacht
werden?
Der Gesetzentwurf sieht vor, die Möglichkeit der
rückwirkenden Auszahlung für den Monat vor der Antragstellung zu streichen. Kurios wird es, wenn anschließend festgestellt wird, dass durch den Wegfall der
rückwirkenden Beantragung jeder Antragsteller 5 Minuten spart und dies in der Summe aller Antragsteller
92 500 Minuten ausmacht.
Diese „gesparten“ 5 Minuten bedeuten für den antragstellenden Elternteil die Einbuße eines vollen Monatsbetrages des Unterhaltsvorschusses. Ob damit die
finanzielle Situation Alleinerziehender verbessert wird,
wagt die Linke begründet zu bezweifeln und lehnt deshalb diese geplante Neuregelung ab.
Statt der Streichung der rückwirkenden Auszahlung
sollte die Darlegungspflicht der „zumutbaren Bemühungen“ zur Durchsetzung der Unterhaltsansprüche gegenüber dem unterhaltspflichtigen Elternteil deutlich erleichtert werden. Das wäre wirklich eine Vereinfachung
und Entbürokratisierung sowohl für die Verwaltung als
auch für die Alleinerziehenden - ohne die Folge einer
möglichen finanziellen Notsituation.
Aber da steht ja wieder die Sorge der Bundesregierung vor einem möglichen Missbrauch der gesetzlichen
Regelungen vor; denn wie anders lässt es sich sonst erklären, dass beim Unterhaltsvorschuss Geldleistungen
künftig auch durch Sachleistungen ersetzt werden dürfen?
Unterhalt muss aber durch direkte Zahlungen gesichert sein. Zahlungen an Dritte sind für den betreuenden
Elternteil weniger verlässlich und weitaus schwerer
nachprüfbar als direkte Leistungen. Zudem verlieren Alleinerziehende und ihre Kinder durch indirekte Leistungen einen Teil ihrer Entscheidungskompetenz und möglicherweise auch den bedarfsdeckenden Unterhalt.
Man stelle sich einmal vor, der unterhaltsverpflichtete Elternteil holt im Rahmen seines Umgangs sein
Kind ab und bringt es dann zum Sportverein, dessen Mitgliedsbeiträge er auch von seinem Einkommen, das unter dem Selbstbehalt liegt, bezahlt. Diese Beiträge kann
dann das Jugendamt vom Unterhaltsvorschuss als Sachleistung abziehen, obwohl der unterhaltsberechtigte Elternteil sein Kind nicht zum Sportverein bringen würde,
da das Geld dafür nicht übrig ist. Nun wird der Beitrag
gleichwohl abgezogen, von Amts wegen, nur aus der
Angst heraus, dass das Unterhaltsvorschussrecht missbraucht werden könnte.
Nicht zuletzt hat der BGH in seinem Urteil aus dem
Jahr 2007 deutlich gemacht, dass etwa Kitagebühren
oder vergleichbare Aufwendungen für die Betreuung des
Kindes nicht zum Barunterhalt zu rechnen sind. Und wie
die Behörden derartige Leistungen letztlich überprüfen
und in Abzug bringen wollen, ohne den Verwaltungsund Bürokratieaufwand zu erhöhen, wird wohl immer
Zu Protokoll gegebene Reden
das wohlgehütete Geheimnis dieser Bundesregierung
sein. Ich kann nur vermuten, wie diese Regierung ständig auf die Gedanken kommt, dass Menschen Vorschriften missbrauchen. Es gibt da ein schönes Sprichwort:
„Was ich selber denk und tu, das trau ich jedem anderen
zu.“
Eines allerdings an diesem Gesetzentwurf ist - und
das sollte auch erwähnt werden - richtig: die Koppelung
des Unterhaltsvorschusses an den Mindestunterhalt
nach § 1612 BGB. Allerdings wird nur ein Schritt gedacht und dann wieder einmal angehalten, ohne weiterzudenken.
Bar- und Betreuungsunterhalt sind als gleichwertig
anerkannt. Daher ist es notwendig, dass beim Unterhaltsvorschuss nicht länger das volle Kindergeld angerechnet wird, sondern stattdessen - wie beim „normalen“ Unterhalt - nur das halbe Kindergeld angerechnet
wird und die andere Hälfte beim betreuenden Elternteil
verbleibt.
Hier ist wieder einmal ein Gesetzentwurf auf den berühmt-berüchtigten Weg gebracht worden, ohne den Bedürfnissen der Realität gerecht zu werden. Ich kann deshalb nur hoffen, dass dieses Gesetz durchdacht und im
Interesse der Betroffenen vernünftig diesen Weg und
auch das Parlament verlassen wird. Die Linke wird aktiv
daran mitgestalten, um Alleinerziehenden wirklich vereinfacht und effektiv zu ihrem Anspruch zu verhelfen.
Als die Bundesregierung im Herbst letzten Jahres einen Gesetzentwurf zum Unterhaltsvorschuss angekündigt hat, war ich - trotz der bis dato mageren Bilanz der
Familienministerin - hoffnungsvoll, dass die Pläne aus
dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag umgesetzt würden. Dort heißt es: „Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahin gehend ändern, dass der Unterhaltsvorschuss entbürokratisiert und bis zur Vollendung des
vierzehnten Lebensjahres eines Kindes gewährt wird.“
Zwei durchaus sinnvolle Vorschläge. Diese Hoffnung
auf Umsetzung dieser Ankündigungen habe ich mit den
Familien- und Wohlfahrtsverbänden geteilt, die seit Jahren die gesetzliche Grundlage, aber auch die Praxis des
Unterhaltsvorschusses als verbesserungswürdig einstufen.
Doch der Gesetzentwurf, den das Kabinett verabschiedet hat, ist eine große Enttäuschung. Entbürokratisierend werden sich die vorgeschlagenen Änderungen
auch nicht auswirken. Kinder von Alleinerziehenden haben ein deutlich höheres Armutsrisiko als Kinder, deren
Eltern zusammenleben. Ausbleibende Unterhaltszahlungen sind ein Grund für dieses höhere Armutsrisiko. Hier
einen Ausgleich zu schaffen und die größte Not bei unterbleibenden Zahlungen zu lindern, ist Ziel des Unterhaltsvorschusses. Dass ausbleibende Unterhaltszahlungen kein Einzelfall sind, zeigen die Statistiken deutlich:
Jährlich nimmt rund eine halbe Million Kinder den Unterhaltsvorschuss in Anspruch. Doch der Bedarf ist weitaus höher; denn bislang sind ältere Kinder von der Leistung ausgenommen. Kinder, die älter sind als zwölf
Jahre, bekommen keinen Unterhaltsvorschuss mehr. Dabei steigt mit dem Alter der Kinder nachweislich auch
deren Bedarf - in der Grundsicherung ist genau dieses
Prinzip sichtbar. Doch im Fall des Unterhaltsvorschusses soll genau die gegenteilige Argumentation gelten.
Absurd! Damit werden die vollen finanziellen Lasten des
Aufwachsens dem alleinerziehenden Elternteil, zu rund
90 Prozent handelt es sich um Mütter, übergeholfen.
Die Altersgrenze zu verschieben - wie im Koalitionsvertrag vorgesehen -, wäre absolut richtig und würde
gerade Alleinerziehenden und ihren Kindern in einer
schwierigen Lebenssituation tatsächlich helfen. Leider
wird sich die Hoffnung wohl unter dieser Ministerin
nicht erfüllen. Doch warum unternimmt die Bundesregierung nichts in diese Richtung? Weil für diese Maßnahme angeblich kein Geld da ist. Es ist absolut widersinnig, dass Schwarz-Gelb die wenigen sinnvollen
Maßnahmen, die die Koalition im Koalitionsvertrag
vorgesehen hat, mit der Begründung auf Eis gelegt hat,
es sei kein Geld da. Gleichzeitig sollen aber für eine absurde Maßnahme wie das Betreuungsgeld mindestens
1,2 Milliarden Euro ausgegeben werden. Und in diesen
1,2 Milliarden Euro sind noch nicht einmal die Kosten
der Tauschgeschenke für die Zustimmung der FDP enthalten: Praxisgebühr, Riester-Sparen, Teilauszahlung
des Betreuungsgeldes.
Der Unterhaltsvorschuss ist eine wichtige Familienleistung für besonders von Armut und Benachteiligung
betroffene Kinder. Es ist gut und richtig, dass die staatliche Gemeinschaft hier mit einer Geldleistung einspringt. Richtig ist aber auch, dass die Verwaltung dieser Leistung aufwendig und ineffizient, die Gewährung
parallel zu anderen Leistungen zum Teil widersprüchlich und die Rückholquote des Vorschusses mit rund
30 Prozent deutlich ausbaufähig ist. Die Baustellen, die
zu bearbeiten sind, liegen auf der Hand. Doch statt sich
den Problemen zu widmen, schafft die Bundesregierung
mit ihrem Gesetzentwurf neue: Geld- und Sachleistungen werden rechtswidrig gegeneinander aufgerechnet,
und die rückwirkende Antragstellung wird gestrichen.
Unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung werden
Kürzungen und Verschlechterungen für armutsgefährdete Kinder geplant und dabei neue Verwaltungshürden
geschaffen. Das ist völlig inakzeptabel.
Wenn das schwarz-gelbe Familienpolitik ist, dann
bleibt im Sinne der Familien in diesem Land nur zu hoffen, dass die Ministerin wie bisher weitestgehend untätig bleibt und so zumindest keinen noch größeren Schaden anrichtet.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/8802 und 17/2584 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es, wie ich sehe, keine anderweitigen Vorschläge. Dann haben wir das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 39:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fa24462
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
kultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes
betreffend ein Mitteilungsverfahren
- Drucksache 17/10916 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})Rechtsausschuss
Wie vereinbart, sind die Reden zu Protokoll genommen.
Heute ist ein erfreulicher Tag für die Kinder in
Deutschland und der Welt. Es ist uns allen ein Anliegen,
die Rechte der Kinder und damit ihre Stellung in der Gesellschaft zu verbessern. Häufig ist es vielerorts noch
immer so, dass Kinder zwar Rechte auf dem Papier haben. Leider haben sie häufig nicht die Möglichkeit, diese
Rechte dann auch tatsächlich durchzusetzen. Was aber
bringen uns Rechte auf dem Papier, wenn es keine effektive Instanz gibt, die dafür Sorge trägt, dass diese Rechte
auch individuell durchgesetzt werden können.
Mit der Ratifikation des Fakultativprotokolls zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes in möglichst vielen Ländern in der Welt steigt der internationale Schutz der Rechte der Kinder - auch in Deutschland. Das bisherige Übereinkommen über die Rechte
der Kinder sah bislang lediglich ein Berichtsprüfungsverfahren vor. Mit dem Fakultativprotokoll schließen
wir diese Lücke. Denn das Fakultativprotokoll regelt ein
Individualbeschwerdeverfahren, mit dem Kinder und Jugendliche Verletzungen ihrer Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention und den beiden ersten Fakultativprotokollen beim VN-Ausschuss für die Rechte des
Kindes rügen können.
Deutschland hat die Resolution für das Individualbeschwerdeverfahren gemeinsam mit sieben anderen Staaten in die Generalversammlung eingebracht. Wir tragen
damit großen Anteil an der Einführung dieses Beschwerdeverfahrens. Und dies ist ein großer Erfolg für die internationale Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik
Deutschland. Wir sind der Familienministerin daher
sehr dankbar, dass sie sich persönlich für dieses Anliegen stark engagiert hat.
Es ist sehr erfreulich, dass Deutschland einer der
Vorreiter ist und international eine Vorbildfunktion
übernimmt. Deshalb ist es auch ganz wichtig, dass wir
das Protokoll zeitnah ratifizieren und somit international auch ein Signal senden, dass uns die Einhaltung der
Kinderrechte und deren Durchsetzung sehr wichtig ist.
Bisher gab es fünf völkerrechtliche Übereinkommen,
die mit einem Individualbeschwerderecht ausgestattet
sind: Dies ist neben dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem Übereinkommen gegen Folter und
andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Strafe, den Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, sowie der Internationalen Konvention zum
Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer
Familienangehörigen insbesondere auch ein Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau.
Dieses sechste Beschwerdeverfahren wird es Kindern
künftig ermöglichen, vor dem UN-Ausschuss für die
Rechte des Kindes in Genf zu klagen, wenn ihre Rechte
massiv verletzt werden und der eigene Staat nichts dagegen unternimmt. Beispiele dafür sind etwa der Einsatz
von Kindersoldaten oder die Situation von sexuell ausgebeuteten Kindern auf individueller Ebene. Damit wird
der Schutz der Kinder praktisch und konkret.
Der zuständige Ausschuss der Vereinten Nationen
kann in solchen Fällen dann Handlungsempfehlungen
an das entsprechende Land aussprechen. In besonders
schweren Fällen kann ein Untersuchungsverfahren eingeleitet werden. Das unterstreicht, dass die Vereinten
Nationen es mit dem Kinderschutz sehr ernst meinen.
Damit können die Staaten deutlich effektiver als bislang
in die Pflicht genommen werden. Die Vereinten Nationen
können wesentlich besser als bislang internationalen
Druck ausüben, was die Einhaltung der Kinderrechtskonvention dann auch absichert. Die einzelnen Staaten
kommen dadurch unter einen stärkeren Druck, den
Rechten der Kinder schon auf nationaler Ebene zur Geltung zu verhelfen, um Blamagen auf internationaler
Ebene zu vermeiden. Der eine oder andere Staat wird
sich auch fragen müssen, ob das eigene Schutzinstrumentarium ausreichend ist, und es besteht damit zugleich die Chance, dass dies zu einer Verbesserung des
Schutzniveaus durch nationale Instrumente führt.
Zudem kann durch das Fakultativprotokoll besser gewährleitstet werden, dass mit dem Verstoß gegen Kinderrechte angemessen umgegangen wird. Denn das Protokoll stärkt die Zusammenarbeit der unterzeichnenden
Staaten mit dem zuständigen Ausschuss, in dem Experten zusammensitzen, die besondere Sensibilität für diese
Sachverhalte mitbringen.
Ein weiterer Aspekt ist wichtig: Durch die Möglichkeit der Feststellung einzelner Menschenrechtsverletzungen wird es durch die Betroffenen wesentlich einfacher, gegen den betreffenden Staat die Zuerkennung
eines Anspruchs auf Wiedergutmachung durch ein internationales Gremium durchzusetzen. Dies ist gerade für
die Betroffenen ein zentraler Aspekt, um eine Kompensation für erfahrenes Leid zu erhalten.
Aber auch in Deutschland steigt durch das Protokoll
das Schutzniveau, da Betroffenen auf internationaler
Ebene eine zusätzliche Möglichkeit an die Hand gegeben wird, nach Erschöpfung unseres nationalen Rechtsweges die Durchsetzung ihrer Rechte zu erstreiten.
Es ist nun wichtig, dass möglichst viele Staaten das
Fakultativprotokoll ratifizieren. Deutschland geht mit
einem guten Beispiel voran, und wir alle können nun
hoffen, dass dies der Auftakt für eine weltweite Bewegung zur umfassenden Stärkung der Rechte der Kinder
wird. In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere parlamentarische Beratung.
Recht auf Schutz vor Gewalt. Recht auf freie Meinungsäußerung. Recht auf Freizeit, Ruhe und Spiel. Besonderer Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung und
gefährlicher Arbeit. Das alles sind einzigartige Rechte
von Kindern, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention
als breitangelegter völkerrechtlicher Vertrag garantiert
sind. Über all diesen verbrieften Kinderrechten schwebt
das Kindeswohlprinzip, das es bei allen Maßnahmen zu
berücksichtigen gilt, und zwar vorrangig.
Was aber nützen diese Rechte, wenn Kinder erstens
ihre Rechte gar nicht kennen oder zweitens ihre Rechte
zwar kennen, aber diese nicht einfordern können? Denn
wie heißt es sprichwörtlich so schön: Recht haben und
Recht bekommen sind zwei verschiedene Paar Schuhe.
Die Rechte von Kindern dürfen aber keinesfalls ausgehöhlt werden. Aus diesem Grund freue ich mich sehr,
dass Deutschland als einer der Erstunterzeichnerstaaten am 28. Februar 2012 das Zusatzprotokoll zur UNKinderrechtskonvention zur Errichtung eines Individualbeschwerdeverfahrens für Kinder unterzeichnet hat.
Danach können Kinder und Jugendliche Verletzungen
ihrer Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention beim
UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes rügen.
Da mir die Rechte von Kindern durch meine Arbeit in
der Kinderkommission sowie im Familienausschuss des
Deutschen Bundestages besonders am Herzen liegen,
habe ich unsere Bundesfamilienministerin Kristina
Schröder als Vertreter meiner Fraktion gern zur Unterzeichnungszeremonie nach Genf begleitet. Für mich war
das eine ganz besondere persönliche Erfahrung, an diesem feierlichen Akt teilnehmen zu dürfen und damit einen weiteren wichtigen Meilenstein bei der Stärkung
und Durchsetzung der Rechte von Kindern zu besiegeln.
Die Einrichtung eines Individualbeschwerdeverfahrens fügt sich als weiterer Mosaikstein in die erfolgreiche Kinder- und Jugendpolitik der christlich-liberalen
Koalition zur Stärkung der Kinderrechte in Deutschland
ein.
Als bedeutende Erfolge können wir unter anderem die
Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention sowie die Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes verbuchen.
Ich bin stolz darauf, dass Deutschland bei den Verhandlungen zur Einrichtung eines Individualbeschwerdeverfahrens eine konstruktive und aktive Rolle eingenommen
hat und mit dem nun eingeleiteten Ratifikationsprozess
das Inkrafttreten des Fakultativprotokolls vorantreiben
möchte.
Das Individualbeschwerdeverfahren tritt erst in
Kraft, wenn es in Deutschland selbst und insgesamt in
mindestens zehn Staaten ratifiziert worden ist.
Mit der Ratifikation des Zusatzprotokolls setzen wir
unser Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zur aktiven Mitwirkung an der Ausgestaltung eines Individualbeschwerdeverfahrens um, schließen wir die noch
vorhandene Rechtslücke im internationalen Menschenrechtsschutzsystem, erlangen die Bestimmungen rechtliche Bindungswirkung für Deutschland und geben wir
Kindern als schutzbedürftigsten Mitgliedern der Gesellschaft ein effizientes Werkzeug zur Durchsetzung ihrer
Rechte an die Hand.
Die besten Kinderrechte nützen wenig, wenn sie nur
auf dem Papier stehen. Als Bundestagsabgeordneter und
Familienpolitiker ist es mein persönliches Anliegen, dieses neue Recht auf Individualbeschwerde in den Kindergärten, Grundschulen, weiterführenden Schulen, Behörden und Einrichtungen in meinen Landkreisen LüchowDannenberg und Lüneburg und darüber hinaus bekannt
zu machen.
Denn nur wer ausreichend über seine Rechte informiert ist, kann diese auch ausüben.
Die Stärkung der Kinderrechte war und ist ein besonderes Anliegen der SPD-Bundestagsfraktion und liegt
mir als Kinderbeauftragter natürlich besonders am Herzen. Starke Kinderrechte müssen durchsetzbar sein. Wir
haben ein Individualbeschwerderecht für Kinder lange
gefordert und freuen uns ausdrücklich über die nun anstehende Ratifizierung des entsprechenden Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskonvention. Dieses Instrument ist ein Rechtsmittel zur Durchsetzung der UNKinderrechtskonvention, denn Betroffene könnten sich
an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden,
um auf die Verletzung ihrer Rechte aufmerksam zu machen.
Bei anderen UN-Abkommen wie dem UN-Zivilpakt
oder der UN-Frauenrechtskonvention gab es ein solches
Beschwerderecht bereits. Endlich gibt es auch zur UNKinderrechtskonvention ein ergänzendes Beschwerdeverfahren.
Die Einführung dieses Instrumentes in Deutschland
ist weltweit ein wichtiges Signal für starke Kinderrechte.
Ein Beschwerderecht hilft dabei, darauf hinzuwirken,
dass die Vertragstaaten ihr Rechtssystem konsequenter
den in der Konvention anerkannten Kinderrechten anpassen und auf deren Einhaltung achten.
Recht haben alleine reicht nicht aus - Rechte müssen
auch durchsetzbar sein. In einem Beschwerdeverfahren
kann sich das Kind selbst oder eine Person in seinem
Namen an den Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden, der die Menschenrechtsverletzung untersucht. Auch
wenn die Entscheidung des Ausschusses rechtlich nicht
bindend sein wird, kann er auf Abhilfe drängen und für
den Kläger gegebenenfalls eine Entschädigung fordern.
Wie bei allen internationalen Beschwerdemechanismen
muss vorher der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft sein. Was sich bei Erwachsenen mit einem etablierten System von Beschwerdemöglichkeiten bewährt
hat, muss für Kinder erst mit Leben erfüllt werden.
Auf allen Ebenen brauchen Kinder altersgerechte
Möglichkeiten der Partizipation und auch der Beschwerde. So setze ich mich auf Bundesebene für einen
unabhängigen Kinderbeauftragten ein. Auf kommunaler
Ebene wollen wir Ombudschaftsstellen für Kinder etaZu Protokoll gegebene Reden
Marlene Rupprecht ({0})
blieren, um den Kindern direkt da, wo sie leben, beim
Vertreten ihrer Interessen beizustehen.
Kinderrechte müssen stärker bekannt gemacht werden. Wer nicht um die eigenen Rechte weiß, kann sich
bei einem Verstoß gegen diese Rechte auch nicht beschweren. Hier ist noch viel zu tun. Wir hätten uns eine
Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention gewünscht.
Ich hoffe, dass die Bundesregierung die Stärkung der
Kinderrechte auch auf einem anderen Gebiet voranbringt. Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ist im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention
ebenso sinnvoll und geboten wie das Individualbeschwerdeverfahren.
Bisher scheiterte die Stärkung der Kinderrechte im
Grundgesetz leider am Widerstand der Union. In letzter
Zeit habe ich jedoch erfreuliche Signale vernommen,
und ich hoffe, dass es uns gemeinsam gelingt, unsere
Verfassung im Interesse unserer Kinder zu modernisieren. Kinder sind Rechtssubjekte und sollten als solche
auch im Grundgesetz genannt und behandelt werden.
Wer Kinderrechte wirklich stärken will, kann sich dieser
Forderung nicht verschließen.
Hinter dem sperrigen Namen dieses Gesetzentwurfs
steckt nichts Geringeres als ein echter Meilenstein in der
Geschichte der Kinderrechte. Als letztes von allen
Menschenrechtsabkommen bekommt die UN-Kinderrechtskonvention jetzt ihren eigenen Beschwerdemechanismus. Damit gewinnen die Kinderrechte international
deutlich an Durchsetzungskraft.
Deutschland ist hier ein echter Vorreiter: Am 28. Februar 2012 hat Deutschland - vertreten durch die Familienministerin Dr. Kristina Schröder - das Fakultativprotokoll als einer der ersten Staaten überhaupt
gezeichnet. Wir haben es aber nicht nur früh unterzeichnet, sondern seine Entstehung auch aktiv vorangetrieben. Ohne Deutschlands Werbung für diese Angelegenheit wäre das Protokoll kaum noch im Jahr 2011 von der
UN-Generalversammlung angenommen worden. Ich
war im Februar 2012 bei der Unterzeichnung in Genf
dabei. Dort konnte ich live erleben, wie bei den anderen
Staaten noch gerungen wurde, ob man unterschreibt
oder nicht. Letztendlich haben dann 20 Staaten unterzeichnet - ein Riesenerfolg auch für Deutschland und
die schwarz-gelbe Regierung.
Ich kämpfe seit langem für die bessere nationale und
internationale Durchsetzung von Kinderrechten. Das
Individualbeschwerdeverfahren halte ich für einen ganz
zentralen Baustein. Deshalb haben wir Liberale vor drei
Jahren darauf bestanden, diese Forderung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Jetzt ist es so weit: Der Weg
ist frei, das Gesetz noch in diesem Jahr zu ratifizieren.
Das Kabinett hat den Entwurf gebilligt, der Bundesrat
hat keine Einwände. Ich gehe fest davon aus, dass wir
bei diesem Thema einen überfraktionellen Konsens auch
hier im Bundestag haben.
Sobald insgesamt zehn Staaten das Fakultativprotokoll ratifiziert haben, tritt es in Kraft. Je schneller wir
hier also sind, desto schneller verhelfen wir den Kinderrechten zu ihrer vollen Wirkung.
Was ändert sich durch das Protokoll? Kinder oder
ihre Fürsprecher haben in jedem Land, das das Protokoll verabschiedet hat, die Möglichkeit, sich direkt an
den Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des
Kindes zu wenden, zumindest solange sie den nationalen
Rechtsweg ausgeschöpft haben.
In dringenden Fällen kann der Ausschuss dem betreffenden Vertragsstaat eine sofortige Überprüfung auftragen. Darüber hinaus kann er bei schwerwiegenden und
systematischen Verletzungen ein Untersuchungsverfahren einleiten. Zwar sind die Empfehlungen des Ausschusses für die Nationalstaaten nicht bindend. Aber die
entsprechenden Staaten werden sich nichtsdestotrotz
verpflichtet fühlen, die entsprechende Kinderrechtsverletzung zu untersuchen.
Die Überzeugung, dass Kinder Träger eigener Rechte
sind, wird dadurch international noch einmal deutlich
zunehmen. Dies wird umso mehr zutreffen, als der
Ausschuss alle zwei Jahre an die Generalversammlung
berichten muss. Außerdem sind die unterzeichnenden
Staaten zu deutlicher Öffentlichkeitsarbeit verpflichtet;
denn die Kinder im jeweiligen Land sollen auch wissen,
dass es den Ausschuss für die Rechte des Kindes gibt.
Damit haben wir unsere Regierungsarbeit für Kinderrechte um einen weiteren wichtigen Erfolg erweitert.
Er reiht sich ein in unsere anderen Erfolge: Wir haben
die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen. Keine andere Regierung seit
1992, auch nicht Rot-Grün, hat diese Chance genutzt.
Kinderlärm ist kein Grund zur Klage mehr. Wir haben
dafür gesorgt, dass die Geräusche von spielenden Kindern nicht mehr mit Industrielärm gleichgesetzt werden
können. Das hilft den Kindern in diesem Land ganz
konkret; denn jedes Kind hat das Recht auf Spielen. Und
wir haben Deutschlands erstes Kinderschutzgesetz
verabschiedet. Es vernetzt alle Akteure im Kinder- und
Jugendschutz und stärkt dadurch die Aspekte Prävention und Intervention im Kinderschutz. Auch die Institution der Familienhebammen wird massiv gefördert.
Unsere Bilanz bei den Kinderrechten ist also hervorragend. Das ist auch der FDP zu verdanken; denn für
Liberale stehen Kinder im Mittelpunkt der Familienpolitik. Das haben wir so angekündigt - und das haben wir
in dieser Legislaturperiode auch genau so umgesetzt.
Dass die Bundesrepublik das nunmehr dritte Fakultativprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert,
ist sehr zu begrüßen: Das darin vereinbarte Individualbeschwerderecht ist wichtig für die Stärkung der
Belange der Kinder.
Die durch das Zusatzprotokoll geschaffene Möglichkeit, dass sich Kinder - nach Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtswege - an das zuständige UN-Gremium
Zu Protokoll gegebene Reden
wenden und dort beschweren können, wird von der
Linken als ein weiteres wichtiges Instrument zur Sicherung der Rechte von Kindern gesehen. Das Beschwerderecht auf Basis der UN-Kinderrechtskonvention war
längst überfällig. Anders als beispielsweise bei der UNBehindertenrechtskonvention ist es nicht gleich bei der
Ratifizierung der Konvention geregelt worden.
Die bloße Ratifizierung reicht allerdings nicht aus,
um Kindern und Jugendlichen endlich einklagbare
Rechte zu geben. Bis heute klaffen auch in der Bundesrepublik die Anerkennung der Kinderrechte und ihre
Umsetzung weit auseinander.
Wer es mit den Kinderrechten ernst meint, gibt ihnen
Grundgesetzcharakter. Die Bundesregierung hat mit ihrer Unterschrift selbst ein weiteres Argument für einen
solchen Schritt geliefert. Jetzt muss sie den Unterschriften noch Taten folgen lassen. Eine weitere Verweigerung, überhaupt über die Frage der Verankerung von
Kinderrechten im Grundgesetz zu reden, geschweige
denn sie mit einem entsprechenden Gesetzentwurf zu untermauern, wird immer unverständlicher. Zumal die
vollzogene Ratifizierung viele offene Fragen in Bezug
auf die Auswirkung auf einfaches nationales Recht der
Bundesrepublik neu aufruft bzw. diese sogar verschärft.
Für die Umsetzung eines wirklichen Beschwerderechtes braucht es aber nun konkrete rechtliche Schritte
und Maßnahmen, die ein solches Recht auch im Alltag
der in Deutschland lebenden Kinder realisierbar machen. Denn auch dieses Beschwerdeverfahren wird den
Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik erst
nach Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtswege ermöglicht.
Dafür brauchen wir ein flächendeckendes Netz von
Beschwerdestellen, die auf die Bedürfnisse von Kindern
und Jugendlichen zugeschnitten sind und die den ganz
besonderen Anforderungen entsprechen, die eine solche
hochsensible Arbeit erfordert. Von einem solchen Netzwerk aber sind wir in Deutschland meilenweit entfernt.
Wir brauchen ein solches Netzwerk eben auch, um Beratungsangebote vor Ort vorzuhalten, um Kinder über ihre
Rechte zu informieren. Wir brauchen Unterstützungsangebote, die ihnen helfen, diese Rechte auch wahrzunehmen, und eine erkennbare Aufnahme der Rechte von
Kindern in die deutsche Gesetzgebung.
Darüber hinaus muss aus Sicht der Linken genau aus
dem Grund, dass Kinder und Jugendliche erst alle
Rechtsinstanzen durchlaufen müssen, der Rechtsanspruch auf unabhängige Beratung und Hilfe auf Kinder
und Jugendliche ausgeweitet werden. Ein solcher
Rechtsanspruch darf nicht erst greifen, wenn sie sich in
einer besonderen Notsituation befinden. Die Chance
dazu hätte es bereits mit der Verabschiedung des Kinderschutzgesetzes gegeben.
Dass Sie diese notwendige Grundlage auch jetzt nicht
schaffen wollen, ist in dem vorgelegten Gesetz nachzulesen. Wenn dort steht: „Ein etwaiger Mehrbedarf bei
Bund, Ländern und Kommunen ist geringfügig“, ist eindeutig klargestellt, worum es sich für die Bundesregierung bei der Unterzeichnung des Fakultativprotokolles
handelt: um einen bloßen symbolischen Akt.
Somit unterzeichnet ein reiches Industrieland wie
Deutschland erneut ein verbindliches UN-Dokument,
ohne für die notwendigen Rechtsgrundlagen gesorgt zu
haben.
Darum bleiben wir dabei: Eine Entscheidung zur
Rechtsstellung von Kindern in unserer Gesellschaft ist
längst überfällig - mit der Schaffung eines Individualbeschwerdeverfahrens wird sie jetzt zwingend notwendig.
Die Vereinten Nationen haben ein Individualbeschwerdeverfahren konzipiert, das für Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern die Möglichkeit vorsieht,
sich wegen der Verletzung ihrer Rechte auf der Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention mit schriftlichen
Beschwerden an den UN-Ausschuss für die Rechte des
Kindes zu wenden. Am 28. Februar 2012 haben die ersten Staaten das entsprechende Zusatzprotokoll der UNKinderrechtskonvention in Genf unterzeichnet. Ich freue
mich, dass Deutschland zu den ersten Staaten gehörte,
die dieses mit unterzeichnet haben.
Das Individualbeschwerdeverfahren ist ein wichtiger
Beitrag zur Verbesserung der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Es ist eine wirkungsvolle Ergänzung zu den regelmäßigen Berichtspflichten, den sogenannten Staatenberichten und den sogenannten
Schattenberichten der Nichtregierungsorganisationen.
Es ist zu begrüßen, dass Deutschland nun auch bei der
noch notwendigen Ratifizierung vorangeht und damit
für andere Staaten vorbildlich ist.
Was aber nicht geht - und so, wie wir die Bundesregierung kennen, ist die Gefahr hierfür sehr groß -, ist,
dass Schwarz-Gelb sich nun auf der Ratifizierung des
Zusatzprotokolls ausruht. Wir sind hier gebrannte Kinder; denn auch die Rücknahme der Vorbehaltserklärung
haben wir alle gelobt. Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist aber zur reinen Symbolpolitik verkommen,
weil die Bundesregierung sich weigert, echte Konsequenzen, beispielsweise in Fragen des Asyl- und Aufenthaltsrechts, zu ziehen.
Deshalb will ich den Blick wieder von außen nach innen richten. Hier gibt es einige dringliche Aufgaben, die
die Bundesregierung angehen muss. Wer in seinen Rechten verletzt wird, muss diese kennen, um sich beschweren zu können. Das verlangt deutliche Anstrengungen
zur Bekanntmachung der Kinderrechte. Die sicherlich
wichtigste Maßnahme zur Bekanntmachung und Stärkung der Kinderrechte ist eine Änderung des Grundgesetzes, damit die Rechtsträgerstellung von Kindern deutlicher herausgearbeitet und klargestellt wird. Als
flankierende Maßnahme fordern wir Sie auf, den Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ fortzusetzen bzw. neu aufzulegen und diesen mit
konkreten termingebundenen und messbaren Zielen und
Vorgaben zur Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland zu versehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Als völkerrechtlich bindende Konvention ist die UNKinderrechtskonvention keineswegs nur „ein wichtiger
Leitfaden“ für die nationale Politik, wie die Bundesregierung es in unserer Kleinen Anfrage zur Stärkung
der Kinderrechte ausführt. Sie enthält vielmehr objektive und subjektive Rechte, deren Achtung und Umsetzung ein rechtsstaatliches Gebot sind. Zur Überprüfbarkeit, ob die Kinderrechte in Deutschland eingehalten
werden und ob die Konvention auch tatsächlich umgesetzt wird, bedarf es eines verbindlichen Monitoringsystems. Es ist längstens an der Zeit, den Dialog mit
Verbänden und Organisationen aufzunehmen, um ein
solches Monitoring zu etablieren.
Ich würde mir wünschen, dass jährlich in zeitlicher
Nähe zum Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention,
dem 20. November, eine Generaldebatte im Bundestag
zum Stand der Umsetzung von Kinderrechten stattfindet.
Hier ist es an uns allen - und die Unterstützung der Bundesregierung hierfür wäre sehr hilfreich -, an geeigneter Stelle darauf hinzuwirken, dass dem 20. November
und den Kinderrechten auch in der parlamentarischen
Debatte der Platz eingeräumt wird, der ihnen gebührt.
Die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Individualbeschwerde ist ein wichtiger Schritt. Wir sind sehr froh,
dass er so schnell erfolgt. Er entbindet die Bundesregierung nicht, bei der Umsetzung der Kinderrechte in
Deutschland endlich Taten erkennen zu lassen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 17/10916 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es
gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann haben wir
das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 34:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Transparenz als verbindliches Grundprinzip
in der öffentlich finanzierten Wissenschaft
verankern
- Drucksache 17/11029 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir debattieren heute einen Antrag der Grünen zur
Steigerung der Transparenz in der öffentlich finanzierten Forschung. Im Kern soll die Bundesregierung
aufgefordert werden, gemeinsam mit Ländern, Wissenschaftsorganisationen und Hochschulen eine Umsetzungsstrategie zur Verankerung von Transparenz als
umfassendem Grundprinzip im öffentlich finanzierten
Wissenschaftssystem verbindlich zu verankern.
Hierzu schlagen die Grünen eine Reihe von Maßnahmen vor: Die Vergabe öffentlicher Mittel soll künftig an
die Bedingung geknüpft werden, in frei zugänglichen
Datenbanken „das Forschungsprojekt, die Ziele und die
wesentlichen Resultate … darzulegen und über den
Umfang und die Dauer der öffentlichen Förderung sowie die beteiligten Kooperationspartner Auskunft zu
geben“. Die Offenlegung vertraglicher Kooperationen
zwischen öffentlich finanzierter Forschung und Dritten
im Internet soll mittels gesetzlicher Regelungen erzwungen werden. Codes of Conduct sollen Forscher an Hochschulen und Forschungseinrichtungen künftig dazu verpflichten, alle öffentlich und privat finanzierten
Drittmittelprojekte - einschließlich der Auftraggeber zu veröffentlichen. Hochschulprofessoren sollen verpflichtet werden, Nebentätigkeiten sowie deren Umfang
und Art zu veröffentlichen.
Ich halte diese Vorschläge aus mindestens drei Erwägungen heraus für grundsätzlich verfehlt.
Erstens gibt es nach unserer Auffassung keine gravierenden Fehlentwicklungen, die solch weitreichende
Maßnahmen rechtfertigen würden. Zur Begründung
Ihres Antrags verweisen Sie auf „vereinzelt aufgetretene
Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens im Rahmen von
Kooperationsbeziehungen und bei Nebentätigkeiten von
Professoren“. Nach meiner Überzeugung reichen diese
vereinzelten Fehltritte jedoch nicht aus, um zusätzliche
Instrumente für die gesamte deutsche Wissenschaftslandschaft zu fordern. Vielmehr vertrete ich die Auffassung, dass die Träger der öffentlich finanzierten
Forschung in Deutschland ganz überwiegend hervorragende Arbeit leisten und den Vertrauensvorschuss, den
die christlich-liberale Koalition ihr seit langem einräumt, rechtfertigen. In diesem Geist haben wir erst in
der letzten Sitzungswoche das Wissenschaftsfreiheitsgesetz verabschiedet. Zusätzliche Kontrollinstrumente sind
mit dieser Grundüberzeugung nicht vereinbar. Dem
grundsätzlichen Misstrauen der Grünen setzt die CDU/
CSU Vertrauen in die Integrität unserer Wissenschaftler
und in die bestehenden Kontrollmechanismen entgegen.
Zur Begründung Ihres Antrags verweisen Sie weiter
auf den Anspruch der Bürger, „auf nachvollziehbare
Weise zu erfahren, welche Wissenschaftler welche
Forschung mit welchen Ergebnissen und mit welchen
öffentlichen Fördermitteln durchführen und welche
Kooperationspartner dabei einbezogen werden“. Diesen Ansatz halte ich für sehr einseitig und deshalb nicht
statthaft. Zwar stimme ich Ihnen zu, dass Bürger ein
Recht auf Informationen zur Verwendung öffentlicher
Forschungsgelder haben. Andererseits sind jedoch auch
Forscher und Forschungseinrichtungen, beteiligte
Unternehmen und Private ebenfalls Grundrechtsträger.
Bereits heute haben wir umfangreiche Informationsvorschriften sowie Nebentätigkeitsvorschriften für Wissenschaftler. Ich erinnere aber daran, dass gerade das
Personalrecht primär im Verantwortungsbereich der
Bundesländer liegt. Sollte es hier Nachholbedarf geben,
so muss man an konkreten Fällen Lösungsansätze erörtern. Hier findet sich jedoch im Antrag der Grünen
nichts.
Wir haben bereits ausreichend Instrumente zur
Kontrolle der Verwendung öffentlicher Gelder und zur
Partizipation der Bevölkerung am Forschungsprozess
bestehen. Sie verweisen in Ihrem Antrag zurecht auf
bereits bestehende Datenbanken wie GEPRIS der Deutschen Forschungsgemeinschaft und den Förderkatalog
der Bundesregierung. Hinzu kommen parlamentarische
Kontrollrechte wie der umfangreiche jährliche Bericht
der Forschungseinrichtungen im Rahmen des Pakts für
Forschung und Innovation. Darin legen die Forschungseinrichtungen ausführlich Rechenschaft über
die Verwendung öffentlicher Gelder ab.
Drittens ist für uns die Freiheit der Wissenschaft ein
hohes Gut, das durch die von Ihnen vorgeschlagenen
zusätzlichen bürokratischen Hürden und neuen Verwaltungsaufgaben infrage gestellt würde. Die von Ihnen
geforderten Codes of Conduct in den Wissenschaftsorganisationen existieren bereits. Soweit die Hochschulen
derartige Regelungen nicht haben, liegt dies im Zuständigkeitsbereich der Länder.
Ein weiteres Problem sehe ich in der konkreten Ausgestaltung der von Ihnen geforderten Offenlegungspflichten. Insbesondere bei der Forschung in Kooperationsverbünden mit Unternehmen gibt es zahlreiche sensible Daten, die nicht ohne Weiteres offengelegt werden
können. Auf dieses Problem weisen Sie auch zu recht hin
und nennen als Beispiele „patentrelevante Informationen, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie sonstige
Rechte der beteiligten Akteure“. Mir ist beim Lesen Ihres Antrags jedoch nicht klar geworden, wo nach Ihrer
Vorstellung künftig die Grenze zwischen dem Recht der
Bürger auf Information und dem Recht der Forscher auf
die Sicherheit ihrer Daten eigentlich genau verlaufen
soll. Dieser Punkt wird nach meiner Auffassung nicht
ausreichend problematisiert.
Wir lehnen Ihren Antrag aus den dargelegten grundsätzlichen Überlegungen ab. Es gibt nach meiner Überzeugung keinerlei Entwicklungen, die solch weitreichende bürokratische Eingriffe rechtfertigen würden.
Die bestehenden Instrumente zur Sicherstellung der
Transparenz im Forschungsprozess reichen aus und stellen einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Informationsrechten der Bürger und der Freiheit der Forschung
dar. Insbesondere aber sind weiter reichende Kontrollinstrumente mit unserem grundsätzlichen Vertrauen in die
Träger der öffentlich finanzierten Forschung nicht
vereinbar.
Wir diskutieren heute einen druckfrischen Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Transparenz als verbindliches Grundprinzip in der öffentlich finanzierten Wissenschaft verankern“. Wir finden diesen
Antrag der Grünen zunächst einmal unterstützenswert.
Dies darf nicht verwundern, da sie damit nicht nur eine
grundsätzliche Position der Sozialdemokratie treffen,
sondern weil wir vor einiger Zeit einen ähnlichen Antrag auf den Weg und in den Bundestag eingebracht haben, der sich mit der Frage der Transparenz hinsichtlich
der Kooperation von Hochschulen und Unternehmen
befasst ({0}).
Viele der im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen beschriebenen Ansätze halten wir für richtig. Es
ist richtig und wichtig, dass Kooperationsbeziehungen
zwischen Forschungseinrichtungen und Hochschulen
mit Dritten - also meistens der Wirtschaft - transparent
sind, und zwar in einer Weise, dass die interessierte Öffentlichkeit nachvollziehen kann, mit welchen Unternehmen die jeweiligen Einrichtungen zusammenarbeiten
bzw. von wem sie Geld bekommen. Damit können mögliche Interessenkonflikte transparent gemacht werden.
Diese Forderung entspricht dem, was wir in unserem
Antrag auf Drucksache 17/9168 bereits formuliert haben.
Auch hinsichtlich der im Antrag angesprochenen
Frage des wissenschaftlichen Fehlverhaltens können
wir darauf hinweisen, dass die SPD-Bundestagsfraktion
einen Antrag zu diesem Thema bereits im letzten Jahr
auf der Drucksache 17/5758 - „Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhalten aufnehmen - Verantwortung
des Bundes für den Ruf des Forschungsstandortes
Deutschland wahrnehmen“ - in den deutschen Bundestag eingebracht hat. Das ist also auch schon abgehandelt.
Wir halten weiterhin das Ziel für richtig, dass die
Hochschulen und Forschungseinrichtungen in eigener
Verantwortung sogenannte Codes of Conduct aufstellen,
da dies nicht gesetzlich geregelt werden kann, und künftig alle öffentlichen oder privat eingeworbenen Drittmittelprojekte - einschließlich der Auftraggeber - offenlegen, zum Beispiel auf der Homepage der Institute und
Einrichtungen. Gleiches sollte unbedingt auch für Publikationen gelten. Wir halten es für sehr sinnvoll, wenn
in Veröffentlichungen ein Hinweis zu finden ist, wie selbige finanziert worden sind.
Auch die Forderung in dem hier vorliegenden Antrag,
dass es eine Datenbank geben sollte, die über das bestehende Angebot des Bundes und der Deutschen Forschungsgemeinschaft hinausgeht, wo eben Informationen über Projekte und deren Finanzierung abgerufen
werden können, ist grundsätzlich sinnvoll und unterstützenswert.
Allerdings finden wir, dass im Detail doch noch einige Fragen offen bleiben, die geklärt werden müssen,
wo der Antrag möglicherweise auch zu früh gekommen
ist.
Die Grünen beziehen sich auch auf eine Empfehlung
der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, die grundsätzlich richtig ist, dass Ziele, wesentliche Resultate und veröffentlichte Forschungsergebnisse und Daten in allgemeinverständlicher Form
dargelegt werden sollten und auch der Umfang und die
Dauer einer öffentlichen Förderung und die Kooperationspartner nachvollziehbar sein müssen.
Dennoch taucht im Detail die Frage auf, wie detailliert und zu welchem Zeitpunkt der Arbeiten beispielsweise ein Ziel oder Forschungsergebnisse und Daten
angegeben werden müssen. So stellt sich doch die
Frage, ob nicht ein Kern von grundgesetzlich garantierZu Protokoll gegebene Reden
ter Wissenschaftsfreiheit und Freiheit von Forschung
durch solch eine Vorgehensweise berührt oder möglicherweise beeinträchtigt ist, indem man Wissenschaftler
tatsächlich dazu verpflichtet, ihre Daten gegen ihren
Willen zu veröffentlichen. Es ist nicht ausgeschlossen,
dass es Situationen, Ergebnisse und Resultate gibt, die
eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler bewegen, nicht zu veröffentlichen. Allerdings gilt es an dieser
Stelle, die jeweilige Motivlage genau zu prüfen. So muss
unter allen Umständen ausgeschlossen werden, dass
eine Forscherin oder ein Forscher die von ihr oder von
ihm generierten Ergebnisse - etwa im Rahmen einer klinischen Studie - nur selektiv veröffentlicht, um etwa bestimmte unerwünschte Ergebnisse für die eigene Forschung oder den Finanzier derselben zu verschleiern.
Dessen ungeachtet sind Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler hinsichtlich ihrer Präferenz, von einer
Veröffentlichung abzusehen, in ihrer Entscheidung zu
respektieren, sei es aus möglicherweise ethischen oder
anderen Gründen oder vielleicht deshalb, weil die
gewonnenen Erkenntnisse sich noch in einem Stadium
befinden, wo die Veröffentlichung - anders als das im
Antrag der Grünen auch für Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse formuliert worden ist - nicht angebracht ist,
zum Beispiel deshalb, weil sie aus wissenschaftlichen
Gründen den Status oder den Zeitpunkt für eine Veröffentlichung für nicht gerechtfertigt ansehen.
Wir werden in der nächsten Sitzung des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
im Anschluss an die geplante Anhörung zum Thema
„Umgang mit sicherheitsrelevanten Forschungsergebnissen“ eine Diskussion führen müssen, wo es tatsächlich darum geht, ob Ergebnisse zu Sequenzen eines
hochpathogenen Erregers veröffentlicht werden sollen
oder nicht. Diese Anhörung findet am 7. November 2012
statt, und ich hätte es für sinnvoll gehalten, sich erst
nach dieser Anhörung ein endgültiges Meinungsbild zu
schaffen und dann einen solchen Antrag wie den hier
vorliegenden vorzulegen. Und ein wenig merkt man
auch an der Sprache des Antrags, dass tatsächlich die
bestehenden Unschärfen möglicherweise gewollt sind,
weil solche wie die eben genannten Fragen noch nicht
abschließend geklärt sind.
Was soll zum Beispiel im Detail damit gemeint sein,
wenn die Pflicht zur Veröffentlichung zurücktreten soll,
wenn gesetzlich geschützte Interessen unverhältnismäßig beeinträchtigt werden? Dies bleibt nach meiner Lesart des Antrags jedenfalls unbeantwortet. Für die erste
Lesung des Antrags bleibt also das Fazit: Ein Teil der
Themen ist bereits behandelt durch unsere SPD-Anträge; beim anderen Teil - so sinnvoll die Forderungen
auch sind - hätten wir uns gewünscht, dass man noch
die Ausschussanhörung abwartet. Grundsätzlich allerdings geht der Antrag in die richtige Richtung.
Um es vorweg zu sagen, für uns Liberale ist die Freiheit von Wissenschaft und Forschung ein überaus hohes
und kostbares Gut. Wir sind für die Unabhängigkeit der
Wissenschaft, und wir Liberale sind für den Schutz der
Wissenschaftsfreiheit. Das haben wir stets unterstrichen
und nun auch mit dem sogenannten Wissenschaftsfreiheitsgesetz verankert.
Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Transparenz als verbindliches Grundprinzip in der öffentlich finanzierten Wissenschaft verankern“ lehnen wir aber ab;
denn die in dem Antrag geforderte Unabhängigkeit der
Wissenschaft ist nicht in Gefahr. In dem Antrag der Grünen steht es selbst, schwarz auf weiß. Es gibt „vereinzelt
aufgetretene Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens im
Rahmen von Kooperationsbeziehungen und bei Nebentätigkeiten von Professoren“. Vereinzelte Fälle! Und
weiter heißt es im Antrag, dass den vereinzelten Fällen
„ein ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber einer
weitgehend integren Wissenschaft“ gegenübersteht. Ungerechtfertigtes Misstrauen! Wenn das der Anlass und
die Rechtfertigung dieses Antrags ist, haben die Grünen
bislang nicht verstanden, was ihre Aufgabe im Parlament ist. Dann haben die Grünen einen Antrag vorgelegt, der in sich obsolet ist.
Aber was viel schlimmer ist, die Grünen haben einen
Antrag formuliert und vorgelegt, der weiteres Misstrauen schürt und die Wissenschaft in ihren Kooperationsbeziehungen und in ihrer eigenverantwortlichen
Verwendung von öffentlichen Geldern unter einen Generalverdacht stellt. Ein Generalverdacht, den die Grünen
in ihrem Antrag mit ihrer Forderung nach mehr Transparenz noch weiter befördern. Denn was kommt bei den
Bürgern und in der Gesellschaft für eine Botschaft an,
wenn sich der Deutsche Bundestag fortwährend mit der
Frage auseinandersetzt, wie man die Wissenschaft und
Forschung von wissenschaftlichem Fehlverhalten befreien kann, das es - laut Antrag der Grünen - ja nur in
wenigen Einzelfällen gibt? Der Antrag ist keine Ausnahme, sondern reiht sich ein in eine Vielzahl von
Schaufensteranträgen zum angeblichen Schutze der
Wissenschaft. Anträge von Grünen und Linken können
mittlerweile mit demselben Wortlaut aus vorangegangenen Reden abgelehnt werden.
Für uns Liberale ist die Unabhängigkeit der Wissenschaft - im Gegensatz zum Verständnis der Grünen eine selbst auferlegte Verpflichtung eines jeden Wissenschaftlers. Es gehört zur Aufgabe des Wissenschaftlers,
Verantwortung zu übernehmen und die Überparteilichkeit seiner Forschung zu sichern. Das unterstreicht auch
die Resolution des Deutschen Hochschulverbandes
„Zur Unparteilichkeit von Wissenschaft“. Jene Resolution, die von den Grünen ins Feld geführt wird, um staatlich verordnete Transparenz und Regeln zu fordern, sagt
mit keinem einzigen Wort, dass der Staat Regeln schaffen muss. Vielmehr verpflichtet die Initiative des Deutschen Hochschulverbandes jeden Forschenden und die
Wissenschaft insgesamt, aus sich heraus die Drittmittelprojekte und ihre Auftraggeber offenzulegen. Wir Liberale begrüßen deshalb jene Initiative des Deutschen
Hochschulverbandes, lehnen aber die falschen Schlussfolgerungen der Grünen ab, die Offenlegung von Drittmittelprojekten und ihren Auftraggebern vorzuschreiben. Denn für uns Liberale sind autonome Hochschulen
kein pauschales Schlagwort, sondern in ihrer SelbstZu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
ständigkeit und Eigenverantwortung ernst zu nehmende
Institutionen.
Ein weiterer Kritikpunkt an dem Antrag ist die Widersprüchlichkeit in der Zielsetzung des Antrags. Dem Titel
nach soll Transparenz lediglich in der öffentlich finanzierten Wissenschaft hergestellt werden. In der Begründung des Antrags aber zeigt sich bereits, dass es den
Grünen auch um die privaten Drittmittelgeber geht. In
den Forderungen wird deutlich, dass die Wissenschaftler ebenso dazu verpflichtet werden sollen, die privaten
Auftraggeber und ihre Absichten offenzulegen. Konkret
soll nach Auffassung der Grünen nicht nur die Identität
des Auftraggebers, sondern auch der Förderumfang öffentlich gemacht werden; Ausnahmen müssen dann begründet werden.
Wohlgemerkt, alles geht von der einleitenden Feststellung aus, dass es „vereinzeltes Fehlverhalten“ in der
sonst „integren Wissenschaft“ gibt. Mit dem Antrag
wird deutlich, welch Geisteskind die Grünen sind: Misstrauen gegenüber den privaten Forschungsauftraggebern besteht ebenso wie gegenüber den Wissenschaftseinrichtungen und den Forschenden. Die Grünen sind in
Wahrheit nicht an der Unabhängigkeit der Wissenschaft
interessiert. Das Lieblingswort der Grünen drückt es bereits aus. „Transparenz“ steht für Konformität. Durch
die völlige Entkleidung des Wissenschaftlers und der
Einrichtungen wird Konformitätsdruck ausgeübt. Derjenige wird an den öffentlichen Pranger gestellt, der Forschungsaufträge und Themen von Dritten annimmt, die
nicht in das zivilgesellschaftliche Bild der Grünen passen. Das beste Beispiel ist die Gentechnik und Genomforschung an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Es gibt zahlreiche Beispiele, in
denen Wissenschaftler bedrängt und Forschungsprojekte eingestellt werden mussten, weil Aktivisten gegen
die Forschung zur Gentechnik vorgegangen sind. Dabei
war es auch egal, dass es im überwiegenden Teil der
Projekte nur um die Sicherheitsforschung ging.
Deutlich wird die Entmündigung des Wissenschaftlers in der letzten Forderung im Antrag von den Grünen.
Dem Ansinnen nach soll die Hochschulrektorenkonferenz allgemeine Standards für die Nebentätigkeit des
wissenschaftlichen Personals entwickeln. Gleich angefügt wird auch, in welche Richtung die Standards gehen
sollen. So soll festgeschrieben werden, welche Art und
welcher Umfang an Nebentätigkeiten gewollt sind und
ab wann ein Interessenkonflikt vorliegt. Dass aber ein
Interessenkonflikt eine rein subjektive, eine persönliche
Entscheidung ist, widerspricht dem ganzen Ansinnen
der Grünen.
Wir Liberale nehmen den Wissenschaftler ernst.
Transparenz muss von den Wissenschaftlern und der
Wissenschaft gewollt und aus sich selbst heraus vorangetrieben werden. Der Staat kann diesen Prozess begleiten, jedoch nicht vorzeichnen. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird dem Anspruch an Wissenschaftsfreiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft in
keinster Weise gerecht und wird aus diesem Grund abgelehnt.
Wenn das Thema Transparenz auf der Tagesordnung
steht, ist offensichtlich mehr Durchblick vonnöten. Das
ist der Fall aktuell bei Nebeneinkünften von Abgeordneten, die aus meiner Sicht vollständig offengelegt werden
müssen. In der Forschungspolitik brauchen wir in jedem
Fall mehr Durchblick im Dschungel der öffentlichen
Forschungsförderung. Jedes Bundesministerium, jedes
Bundesland und jede Wissenschaftseinrichtung haben
eigene Vorstellungen davon, wie sie die Öffentlichkeit
über ihre geförderten oder durchgeführten Forschungsprojekte informieren. Wir Parlamentarier, zivilgesellschaftliche Interessengruppen, an den Ergebnissen interessierte Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und
Bürgerinnen und Bürger brauchen aber einen Überblick
darüber, wozu schwerpunktmäßig geforscht wird, wer
das mit welchen Einflussmöglichkeiten bezahlt und wo
blinde Flecken der Forschungslandschaft liegen.
Es geht vor allem darum, den Durchblick bei den Interessen, die leitend für Forschungsfragen sind, zu behalten. Denn Kooperationen mit Unternehmen oder
Regierungsstellen können zwar wissenschaftlich befruchtend sein, innovative Methoden erschaffen und die
Praxistauglichkeit der Projekte steigern. Gerade bei der
angewandten Forschung und Entwicklung versuchen
Kooperationspartner aber nicht selten, besonderen Einfluss auf Projektdesign oder Ergebnisverwertung gegenüber der Wissenschaft geltend zu machen. Immerhin
stammt heute bereits ein knappes Drittel aller Drittmittel an deutschen Hochschulen von gewerblich tätigen
Unternehmen oder Stiftungen. Und das schränkt nicht
nur die Souveränität der Öffentlichkeit beim Umgang
mit Forschungsergebnissen ein, sondern schränkt auch
die Autonomie der Forschenden ein.
Deshalb ist der offene Umgang mit Vorfällen so wichtig wie der nur zufällig publik gewordenen Finanzierung
von Stiftungsprofessuren an Berliner Universitäten
durch die Deutsche Bank, die dafür Vetorechte bei Personalbesetzung und der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen erhielt. Damit das eine Ausnahme
bleibt, braucht es für Entscheidungen über Kooperationen verbindliche Kriterien einer guten Praxis, die in demokratischen Verfahren an den Einrichtungen überprüft
werden. Wie ein solcher Kriterienkodex zustande kommen kann - dazu hat die Linke im Mai einen Antrag im
Bundestag vorgelegt. Die Grünen schlagen heute zudem
gesetzliche Regelungen für eine einheitliche Veröffentlichungspraxis der Wissenschaftseinrichtungen über ihre
Projekte, Fördersummen und Projektpartner vor. Auch
das unterstützen wir ausdrücklich.
Ich freue mich, dass inzwischen die Presse dieses
Thema regelmäßig in ihre Berichterstattung aufnimmt
und dass mit dem Antrag der Grünen schon die zweite
parlamentarische Initiative dazu eingereicht wird. Auch
der Anfang einer akademischen Debatte ist gemacht. Im
August dieses Jahres hat der Verein für Socialpolitik, die
größte Vereinigung von Wirtschaftswissenschaftlern in
Deutschland, einen Ethikkodex verabschiedet. Darin
verpflichten sich die Mitglieder, in ihren Gutachten und
Publikationen „alle in Anspruch genommenen Finanzierungsquellen, Infrastruktureinrichtungen und sonstigen
Zu Protokoll gegebene Reden
externen Unterstützungen anzugeben“ sowie kenntlich
zu machen, wenn diese „ nicht ohne vorherige Einwilligung Dritter veröffentlicht werden“. Eingesetzte Vertrauensleute und eine Ethikkommission sollen über die
Umsetzung wachen.
Ich bin optimistisch, dass weitere Fachgesellschaften
diesem Beispiel folgen werden.
Wir treten in unserem Antrag dafür ein, dass Transparenz als Grundprinzip im öffentlich finanzierten Wissenschaftsbereich verbindlich verankert wird. Hier ist auch
die Politik gefragt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu
beizutragen, dieses Grundprinzip durchzusetzen davon profitieren nicht nur die Bürgerinnen und Bürger
und die interessierte Öffentlichkeit. Mehr Transparenz
bei der öffentlich finanzierten Forschungsförderung unterstützt auch die wissenschaftliche Arbeit, so zum Beispiel durch die verbesserte Weiternutzung von Ergebnissen, und erhöht die Sichtbarkeit und Legitimation von
Wissenschaft.
Im Kern geht es uns in unserem Antrag um zwei Themen: Erstens, das prinzipielle Recht der Bürgerinnen
und Bürger, zu erfahren, welche Forschenden und welche Projekte mit welchen veröffentlichten Ergebnissen
durch öffentliche Mittel finanziert werden. Zweitens geht
es um die Transparenz, die nötig ist, um unangemessenen Einflussnahmen und Interessenkonflikten im Bereich
öffentlich finanzierter Forschung vorzubeugen beziehungsweise diese überhaupt erst einer kritischen Bewertung und Beurteilung zugänglich zu machen. Ziel ist es,
am Ende die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit von
Wissenschaft insgesamt zu stärken.
Das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf nachvollziehbare Informationen über die Verwendung öffentlicher Forschungsmittel muss nicht mehr näher begründet
werden. Verbesserungswürdig ist allerdings die Umsetzung dieses Prinzips. Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat in diesem Sommer
einstimmig eine Handlungsempfehlung verabschiedet,
die eine für Bürgerinnen und Bürger verständliche Datenbank fordert. Wir haben die Umsetzung dieser Empfehlung bei den aktuellen Haushaltsberatungen eingefordert. Auch die Regierungskoalitionen sollten darauf
achten, dass die Bundesregierung hier tätig wird. Laut
der Empfehlung soll die Datenbank - ähnlich der Datenbank GEPRIS der DFG - die wesentlichen Informationen zu öffentlich geförderten Forschungs- und Entwicklungsvorhaben enthalten und die Zuwendung
öffentlicher Mittel für Forschungsprojekte generell an
die verpflichtende Bedingung geknüpft werden, seitens
der Mittelempfängerinnen und -empfänger in frei zugänglichen, möglichst zentralen sowie untereinander
vernetzten Datenbanken das jeweilige Forschungsprojekt, dessen Ziele und wesentliche Resultate, einschließlich der nach dem Open-Access-Prinzip veröffentlichten
Forschungsergebnisse und -daten, in allgemeinverständlicher Form darzulegen. Darüber hinaus soll über
den Umfang und die Dauer der öffentlichen Förderung
Auskunft gegeben werden. Hierbei sollten auch die beteiligten Kooperationspartnerinnen und -partner erwähnt werden. Die Ressortforschung ist sinnvollerweise
dabei umfassend einzubeziehen.
Bei unserer Forderung nach mehr Transparenz im
Interesse der Glaubwürdigkeit und der Unabhängigkeit
von Wissenschaft und Forschung geht es nicht um ein
Misstrauen gegenüber der Wissenschaft. Es geht darum - angesichts des hohen Ansehens, das die Wissenschaft in unserer Gesellschaft genießt, eine Beschädigung der Wissenschaft durch Einzelne abzuwenden.
In letzter Zeit wurden in der Öffentlichkeit verschiedene Fälle von wissenschaftlichem Fehlverhalten, zum
Beispiel im Rahmen von Kooperationen und Nebentätigkeiten, sowie gravierende Verstöße gegen Transparenz
und wissenschaftliche Unabhängigkeit kritisch diskutiert. Es ist im Interesse der gesamten Wissenschaft gegen solche Fälle entschieden vorzugehen, denn die
Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen
lässt sich nicht von der Glaubwürdigkeit und der Integrität der Forschenden und ihren Einrichtungen trennen. Zweifel an der Integrität von Forschenden und ihren Einrichtungen führt berechtigterweise zu Zweifeln
an der Qualität bestimmter wissenschaftlicher Ergebnisse und unterminiert das Vertrauen in Forschung und
Wissenschaft jenseits der kritischen Überprüfung und
Hinterfragung, der wissenschaftliche Arbeit ohnehin
stets unterliegen muss.
Natürlich operieren Wissenschaft und Forschung
nicht im luftleeren Raum. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind sowohl auf öffentliche oder private
Mittel als auch in vielfältiger Weise auf Kooperationen
mit Dritten angewiesen. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Diese Kooperationen sind in der
Regel außerordentlich produktiv für alle Beteiligten. Sie
fördern den gesamtgesellschaftlich produktiven Wissensund Technologietransfer. Ob dabei die Unabhängigkeit
von Wissenschaft und Forschung tangiert wird und ob es
zu Interessenkonflikten kommt, das ist keine objektiv
messbare Größe. Die Gesellschaft muss aber die Möglichkeit haben, sich davon ein Bild zu machen. Hierfür
bedarf es der Transparenz über Kooperationsbeziehungen im Wissenschaftsbereich. Diese muss natürlich
grundlegende Rechte wie Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse sowie datenschutzrechtliche Regelungen
berücksichtigen. Unser Ansatz zielt vor diesem Hintergrund ausschließlich auf die verbindliche Veröffentlichung wesentlicher Daten, das heißt Daten zu Laufzeit,
Umfang, beteiligten Institutionen und Personen. Wer öffentliche Mittel bezieht, sollte offenlegen, mit wem er kooperiert und von wem er seine Mittel erhält. Deshalb
muss die Veröffentlichung auch die Drittmittelforschung
betreffen. Der genaue Gegenstand der Kooperation ist
Sache der Vertragsparteien und soll dies auch bleiben.
Flankiert werden soll diese Offenlegung durch die
Entwicklung von - durch wissenschaftliche Akteure
selbst erarbeitete - Codes of Conduct für verschiedene
Kooperationsformen. Solche Codes können von vornherein unterstützen, dass Kooperationen auf Augenhöhe
und fair stattfinden. Die verschiedenen zuständigen
Wissenschaftsorganisationen sollten entsprechende verbindliche Handlungsrahmen für Kooperationen erarbeiten und diese öffentlich kommunizieren. Die potenziellen
Zu Protokoll gegebene Reden
Kooperationspartner sollten sich in Zukunft zur Einhaltung entsprechender Regeln verpflichten.
Neben dem Thema Kooperationen kommt es jedoch
auch darauf an, die Glaubwürdigkeit im Wissenschaftsbereich durch weitere Maßnahmen für mehr Transparenz zu stärken und zum Beispiel unberechtigte Vorwürfe
zu entkräften. Hierzu zählt die Offenlegung von möglichen Interessenkonflikten bei Publikationen: Entsprechend dem Singapore Statement on Research Integrity
von 2010 sollen wissenschaftliche Autorinnen und Autoren bei Publikationen verbindlich die Finanzierung bzw.
Unterstützung ihrer Forschung und möglicherweise bestehende Interessenkonflikte offenlegen und diese Informationen zusammen mit der jeweiligen Publikation veröffentlichen. Einige wissenschaftliche Zeitschriften
weisen hier bereits heute den richtigen Weg.
Transparenzanforderungen müssen auch an die Nebentätigkeiten des hauptberuflichen wissenschaftlichen
Personals gestellt werden. Deshalb sollen Bund und
Länder in Kooperation mit den Wissenschaftsorganisationen einheitliche Regelungen mit dem Ziel erarbeiten,
dass anzeigen- und genehmigungspflichtige Nebentätigkeiten von Hochschulprofessorinnen und -professoren
an öffentlich geförderten Hochschulen veröffentlicht
werden. Entsprechende Regelungen sollen auch für das
leitende wissenschaftliche Personal an den außeruniversitären Forschungseinrichtungen entwickelt werden.
Nebentätigkeiten dürfen der Integrität und Glaubwürdigkeit von Wissenschaft nicht entgegenstehen. Deshalb wollen wir die Hochschulrektorenkonferenz darum
bitten, allgemeine Standards für die Nebentätigkeit des
hauptberuflichen wissenschaftlichen Personals an öffentlich finanzierten Hochschulen zu entwickeln. Für
das hauptberuflich tätige wissenschaftliche Personal an
außeruniversitären Forschungseinrichtungen sollte Entsprechendes von der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen erbeten werden.
Mehr Transparenz im Wissenschaftsbereich stärkt die
Glaubwürdigkeit und Integrität und trägt dazu bei, dass
nicht eine kleine Gruppe schwarzer Schafe am Ende ein
Zerrbild in der Öffentlichkeit produzieren kann.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11029 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 41:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. November 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/10753 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/11104 Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeDr. Volker WissingDr. Thomas Gambke
Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.
Dem Deutschen Bundestag liegt heute ein Gesetzentwurf zur Ratifikation eines neuen Doppelbesteuerungsabkommens mit dem Fürstentum Liechtenstein vor.
Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen
dazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten
für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden.
Damit können die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit verbessert und Investitionshemmnisse aufgrund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden.
Deutschland ist Liechtensteins wichtigster Exportmarkt. Die liechtensteinische Industrie trägt circa
40 Prozent zum gesamten Bruttosozialprodukt des
Fürstentums bei. Jeder zweite Arbeitnehmer in Liechtenstein ist ein Einpendler aus Österreich, der Schweiz
oder Deutschland. Liechtensteins Unternehmen haben
über 5 000 Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen das bekannteste unter ihnen ist sicherlich der Werkzeugmaschinenhersteller Hilti.
Liechtenstein hat in den letzten Jahren in seiner
nationalen und internationalen Steuerpolitik und Steuerkooperationspolitik einen umfassenden Reformprozess
eingeleitet und umgesetzt. Das am 1. Januar 2011 in
Kraft getretene neue liechtensteinische Steuergesetz erfüllt die europarechtlichen Standards uneingeschränkt
und ist auch international kompatibel und anerkannt.
Dieses kann damit als nationale Basis für den Abschluss
von bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen angesehen werden. Es entspricht insbesondere den europarechtlichen Bestimmungen über das Verbot staatlicher
Beihilfen, welche auch für Liechtenstein aufgrund des
Abkommens zur Errichtung eines Europäischen Wirtschaftsraums, EWR-Abkommen, verbindlich sind. Die
zuständige europäische Überwachungsbehörde hat die
Europarechtskonformität des liechtensteinischen Steuerrechts ausdrücklich in einer entsprechenden Entscheidung bestätigt.
Weiterhin hat sich das Fürstentum mit der Liechtenstein-Erklärung vom 12. März 2009 zur Umsetzung des
geltenden internationalen OECD-Standards zur Transparenz und zum Informationsaustausch in Steuersachen
verpflichtet. Die seither mit derzeit 25 Partnern unterzeichneten und größtenteils in Kraft getretenen Abkommen folgen vollumfänglich diesem Standard. Liechtenstein ist bestrebt, sein Netzwerk an Steuerabkommen
stetig auszuweiten, hat bereits mit weiteren Partnern
Abkommen abgeschlossen und steht in Verhandlungen
mit einer Reihe weiterer Staaten innerhalb und außer24472
halb Europas. Gleichzeitig hat sich Liechtenstein bereit
erklärt, umfassende Regelungen zur Regularisierung
und zur Sicherstellung der legitimen Steueransprüche
anderer Staaten in der Vergangenheit und für die
Zukunft zu entwickeln und abzuschließen. Liechtenstein
erfüllt die OECD-Standards zur Steuerkooperation. Dies
hat das Global Forum on Transparency and Exchange
of Information for Tax Purposes, GFTEI, in seinem
Peer-Review-Verfahren bestätigt.
Sie sehen also, dass Liechtenstein viel unternommen
hat, und das hat es auch in dem Fachgespräch im Deutschen Bundestag glaubwürdig dargelegt. Wir sollten
deshalb von den Klischees der Vergangenheit Abstand
nehmen.
Mit der Ausgestaltung des DBA wollen Deutschland
und Liechtenstein die bestehenden Wirtschaftsbeziehungen stärken und die direkten Wirtschaftsbeziehungen
zum beiderseitigen Vorteil ausbauen. Damit wird auch
der Verbundenheit in einem gemeinsamen europäischen
Regulierungsrahmen und der Förderung des europäischen Binnenmarktes Rechnung getragen. Liechtenstein
ist aufgrund des EWR-Abkommens wie Deutschland Teil
des EU-Binnenmarktes.
Das DBA entspricht den Standards der OECD und
trägt zugleich den Bedürfnissen und Wünschen beider
Vertragsstaaten umfassend und innovativ Rechnung. In
Art. 10 wurde für das Besteuerungsrecht des Quellenstaates bei Dividenden ein Nullsatz vereinbart. Im
Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Dividenden,
Zinsen, Lizenzen und Veräußerungsgewinnen ist die
Reduktion des Quellensteuersatzes an bestimmte
Voraussetzungen geknüpft. So ist bei Schachteldividenden die Quellensteuerreduktion auf 0 Prozent an eine
Mindestbeteiligung in Höhe von 10 Prozent und an eine
Mindesthaltedauer in Höhe von zwölf Monaten gekoppelt. Dies entspricht der Regelung im Abkommen zwischen Deutschland und der Schweiz und vermeidet die
unangemessene Inanspruchnahme und den Missbrauch
derartiger Quellensteuerreduktionen. Nur wer an langfristigen und stetigen Investitionen interessiert ist, dem
wird eine Quellensteuerfreiheit gewährt.
Das Abkommen zwischen Deutschland und Liechtenstein enthält besondere Aktivitäts- und Substanzerfordernisse zur Vermeidung von Missbrauchskonstellationen sowie von abkommensrechtlichen
Wettbewerbsnachteilen für aktiv tätige Wirtschaftsunternehmen, die sogenannte Realwirtschaftsklausel, die
erstmals in dieser Form so vereinbart wurde. Hierdurch
wird die Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, nicht aber in Form von funktions- und substanzschwachen Unternehmen, gefördert.
Art. 31 des DBA schränkt die Anwendung der Abkommensvergünstigungen, insbesondere Quellensteuerreduktionen, in bestimmten Fällen ein. Grundsätzlich geht
es darum, sicherzustellen, dass nur tatsächlich in einem
Staat ansässige Personen die Abkommensvorteile nutzen
können.
Ferner sind zur Vermeidung „ungerechtfertigter
Steuervorteile“ Strukturen, welche nur der liechtensteinischen Mindestertragsteuer unterliegen, nicht abkommensberechtigt, sogenannte Privatvermögensstrukturen. Der Gründung von Scheinfirmen oder anderen
„Konstruktionen“ zur Erlangung von steuerrechtlichen
Vorteilen wird damit ein Riegel vorgeschoben.
Mit dem Abkommen zwischen Deutschland und
Liechtenstein wird nicht nur der gegenseitige Austausch
von Steuerinformationen nach Art. 26 OECD-Musterabkommen vereinbart, welche im anwendbaren TIEA
bereits verwirklicht ist, sondern auch Amtshilfe bei der
Steuererhebung, sogenannte Beitreibung von Steuerforderungen, vorgesehen. Diese Bestimmungen sind im
aktuellen OECD-Musterabkommen enthalten, werden
aber in Europa und weltweit erst in wenigen bilateralen
DBA verwendet. Als weiteres, neues Element wird Amtshilfe bei der Zustellung von Steuerforderungen und Steuerbescheiden vereinbart. Demnach enthält das Abkommen zusätzlich zum existierenden TIEA eine umfassende
Informationsklausel, die sämtliche Steuerarten umfasst.
Nicht zuletzt ist ein verbindliches Schiedsverfahren
vorgesehen, sofern mithilfe eines Verständigungsverfahrens keine Lösung erzielt werden kann.
Das Fürstentum Liechtenstein hat sich in den letzten
Jahrzehnten zu einem wichtigen Handelspartner der
Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Wir möchten die
wirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder stärken und verabschieden deshalb heute Doppelbesteuerungsabkommen.
Wir beraten heute in abschließender Lesung über ein
Gesetz, mit dem das zwischen Liechtenstein und
Deutschland ausgehandelte Abkommen über die Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen umgesetzt wird. Die SPD-Fraktion stimmt
dem Gesetzentwurf zu, auch wenn einige Regelungen
enthalten sind, die wir uns anders gewünscht hätten. Ich
denke dabei an die Ausgestaltung der Quellenbesteuerung von Dividenden aus Schachtelbeteiligungen, an
Regelungen zum steuerlichen Informationsaustausch
und zur Vermeidung grenzüberschreitender Steuergestaltungen. Mit Blick auf die Vielzahl von Briefkastenfirmen und intransparenten Rechtskonstruktionen, mit denen sich Vermögen und Einkünfte am deutschen Fiskus
vorbeischleusen ließen und die zum bislang schlechten
Ruf Liechtensteins als Steuer- und Verdunkelungsoase
beigetragen haben, ist es bedauerlich, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen mit Liechtenstein keine
Lösung für diese unversteuerten Altvermögen angestrebt
hat. Die von Liechtenstein angekündigte und begrüßenswerte sogenannte Weißgeldstrategie wäre noch deutlich
glaubwürdiger, wenn wir auch eine Lösung für die Erfassung und Besteuerung bislang nicht erfasster Altfälle
hätten. Dabei denke ich nicht allein an Liechtenstein.
Das ist wie bei der Schwarzarbeit: Zu jedem Schwarzarbeiter gehört ein Schwarzarbeitgeber. Wollen wir da
nur einer Seite die ganze Schuld geben?
Wenn man sich die Art und Weise und das schlechte
Ergebnis der Verhandlungen über die „Regularisierung“
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({0})
bislang unversteuerter Altvermögen anschaut, die Finanzminister Schäuble im ähnlich gelagerten Fall der
Schweiz erreicht hat, habe ich wenig Hoffnung, dass wir
hier in absehbarer Zeit zu einer guten Regelung mit
Liechtenstein kommen. Wir werden damit wohl auch in
Zukunft große Schwierigkeiten haben, Erkenntnisse
über rechtswidrig nach Liechtenstein verbrachtes Vermögen, daraus entstehende Vermögenspositionen und
Erträge oder über intransparente Rechtskonstruktionen
ohne steuerlich identifizierbare Begünstigte zu gewinnen,
bei denen der Treuhänder - Trustee - im Ausschüttungsbzw. Fälligkeitszeitpunkt über ein „Entscheidungsrecht“
bei der Zuweisung der Erträge an Begünstigte verfügt.
Wenn wir dem Abkommen mit Liechtenstein trotz dieser Mängel zustimmen, liegt dies an den Fortschritten
bei der Weiterentwicklung eines internationalen Abkommensnetzes, das unsere Besteuerungsrechte gegenüber
anderen Staaten wirksamer als in einem abkommenslosen Zustand abgrenzt und schützt und unsere Kenntnisse über Einkünfte deutscher Steuerpflichtiger aus diesen Staaten verbessert. Langfristig streben wir eine
Änderung des OECD-Musterabkommens an, um den automatischen Informationsaustausch automatisch in allen Vereinbarungen zu implementieren und seine Akzeptanz zu erhöhen.
Bislang hatten wir kein Doppelbesteuerungsabkommen mit Liechtenstein; der Vertrag beendet also einen
abkommenslosen Zustand mit einem Staat, der von der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, OECD, bislang auf der Liste der Steuerund Regulierungsoasen geführt worden war. Die damit
verbundene Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen
zwischen Liechtenstein und Deutschland und die Fortschritte bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung
sind nicht denkbar ohne die Vorarbeiten von Peer
Steinbrück, der sich in seiner Zeit als Bundesfinanzminister für die Umsetzung der OECD-Standards für
Transparenz und effektiven Informationsaustausch in
steuerlichen Angelegenheiten eingesetzt hat. Das neue
Abkommen führt zu einem wirksameren Schutz unserer
legitimen Besteuerungsansprüche und ermöglicht - über
die Regelung im deutsch-liechtensteinischen Steuerinformationsaustauschabkommen hinaus - auch einen
freiwilligen spontanen und automatischen Informationsaustausch; zumindest dies, wenn schon unsere bevorzugte
Lösung eines obligatorischen Informationsaustauschs
über alle Steuerarten hinweg mit der Möglichkeit zu
Gruppenanfragen nicht erreichbar war.
Das Abkommen übernimmt die neuen Grundsätze der
Betriebsstättenbesteuerung gemäß OECD-Musterabkommen, die Betriebsstätten wie selbstständige Unternehmenseinheiten behandelt, Art. 7, und damit die formale
Voraussetzung für die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes für die Verrechnungspreislegung konzerninterner Transaktionen schafft.
Die Quellenbesteuerung zwischengesellschaftlicher
Dividenden lehnt sich an die entsprechenden Regelungen im deutsch-schweizerischen Abkommen an. Damit
gilt ein Steuersatz von 0 Prozent, wenn der Nutzungsberechtigte eine Gesellschaft ist, die über einen Zeitraum
von wenigstens zwölf Monaten einen Anteil von mindestens 10 Prozent an dem ausschüttenden Unternehmen
hält. Die Koalitionsfraktionen verteidigen diese Lösung
und verweisen auf die Schutzklauseln in Art. 31 des Abkommens, die sogenannte Aktivitäts- und Substanzerfordernisse definieren, um die ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Abkommensvorteilen zu vermeiden
und deutsche Besteuerungsinteressen zu wahren. Im Zusammenwirken mit der Freistellungsmethode, die eine
Doppelbesteuerung vermeiden soll, unterliegen diese
Einkünfte in Deutschland nicht mehr der Besteuerung.
Diese Freistellung gilt allerdings nur für Einkünfte aus
aktiver Tätigkeit, um eine Verlagerung von Steuersubstrat durch Verwaltungsgesellschaften ins Ausland zu
vermeiden, und unter Anwendung des Progressionsvorbehalts; die in Deutschland von der Besteuerung freigestellten Einkünfte aus Liechtenstein werden dann bei der
Ermittlung der steuerlichen Belastung des übrigen Einkommens fiktiv hinzugerechnet, es kommt zu einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und einer höheren
durchschnittlichen Steuerbelastung der in Deutschland
zu versteuernden Einkommen.
Die Bundesregierung begründet ihre Verhandlungsposition der Freistellung im Allgemeinen damit, dass für
Unternehmen, die Einkünfte im Ausland erzielen, die
gleichen steuerlichen Rahmenbedingungen wie für ihre
Konkurrenz gelten sollen. Dieses Argument hat mit Blick
auf die starke internationale Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen zwar seine Berechtigung; die SPDFraktion spricht sich allerdings im Grundsatz - und mit
Rücksicht auf den konkreten Einzelfall - für die Anrechnungsmethode aus, um die Besteuerungsrechte des
Staates zu erhalten und keine Schlupflöcher für Gestaltungen zulasten der öffentlichen Haushalte zu öffnen.
Die im Abkommen vereinbarte Switch-over-Klausel, die
es Deutschland erlaubt, im Fall des Missbrauchs der
Freistellungsmethode einseitig auf die Anrechnungsmethode umzuschalten, kann den strukturellen Unterschied
zwischen Freistellung- und Anrechnungsmethode nicht
vollständig „kompensieren“, da eine solche Entscheidung auf spezielle Fälle beschränkt ist und keine allgemeine, grundsätzliche Lösung darstellt.
Es geht uns nicht um eine konfiskatorische Besteuerung von Einkünften, die aus Ausschüttungen bei verbundenen Unternehmen mit grenzüberschreitenden Beteiligungen entstehen. Angesichts der Tatsache, dass die
von der Bundesregierung verhandelten Doppelbesteuerungsabkommen der letzten Zeit einen immer weiter sinkenden Steuersatz vorsehen und im aktuellen Abkommen
sogar eine Nullbesteuerung vereinbart wurde, würde es
sich für Deutschland mit seinem weitverzweigten Netz
an Doppelbesteuerungsabkommen allerdings lohnen,
über einen höheren Steuersatz nachzudenken, auch um
als Vorbild für eine internationale Trendumkehrung zu
dienen.
Die zur Anhörung des Finanzausschusses eingeladenen Sachverständigen aus Deutschland und Liechtenstein bewerteten das Abkommen mit Blick auf die
Unterbindung von Steuerhinterziehung und Gestaltungsmöglichkeiten, den Ausschluss der doppelten ({1})Besteuerung und die Verbesserung des InformationsausZu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({2})
tausches zwischen Steuerverwaltungen überwiegend
positiv. Gleichwohl konnten in der theoretischen Erörterung mit den Sachverständigen einige Aspekte nicht
vollständig aufgeklärt werden. Ich halte es deswegen für
eine gute Idee - und habe das auch bei heftigem Nicken
des Parlamentarischen Staatssekretärs im Ausschuss
vorgeschlagen - , das Abkommen in einigen Jahren daraufhin zu überprüfen, ob es sich in der Praxis des Steuervollzugs für die Steuerpflichtigen und die Steuerverwaltung bewährt haben wird und die Ziele des Abkommens
erreicht wurden.
Das Fürstentum Liechtenstein wird viel zu häufig
- auch von Mitgliedern dieses Hauses - auf die Tätigkeit
der dort ansässigen Banken und die Politik, mit der die
liechtensteinische Regierung diese bis vor kurzem unterstützt hat, reduziert. Liechtenstein ist aber auch ein produzierendes und exportierendes Industrieland mit einem
modernen Dienstleistungssektor. Mit seinen rund
36 500 Einwohnern würde Liechtenstein in Deutschland
zwar nur als Kleinstadt gelten, es beherbergt aber mit
Unternehmen wie Hilti, Thyssen-Krupp Presta, Hilcona
oder der Ospelt-Gruppe zahlreiche auf dem Weltmarkt
aktive und teilweise sogar führende produzierende Firmen.
Mit 41 Prozent der Beschäftigten spielt das produzierende Gewerbe sogar eine deutlich wichtigere Rolle als
bei uns in Deutschland, wo Sie nur 24 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Werken und Fabriken antreffen.
Während mit rund 58 Prozent der Arbeitsplätze der
Dienstleistungssektor den größten Jobmotor in Liechtenstein darstellt, sind davon entgegen der landläufigen
Meinung nur 17 Prozent Stellen in der Finanzwirtschaft
zu finden. Die Wirtschaft ist stark auf den Außenhandel
konzentriert, und Deutschland bildet dabei den mit Abstand wichtigsten Abnehmermarkt. Ungefähr die Hälfte
der rund 33 000 in Liechtenstein arbeitenden Personen
pendelt jeden Tag in das Fürstentum. Ein Zehntel dieser
Pendler kommt dabei aus Deutschland. Ganz besonders
für diese Personen ist eine klare Regelung und Koordination der Besteuerung in beiden Ländern besonders
wichtig.
Die Wirtschaftsstruktur und ein Paradigmenwechsel
der liechtensteinischen Regierung bezüglich der Versteuerung ausländischen Kapitals, welches in Liechtenstein angelegt wird, waren die Basis, auf der unsere Verhandlungen gefußt haben. Die neue Weißgeldstrategie
Liechtensteins ermöglicht ein Abkommen, welches im
Wesentlichen dem OECD-Musterabkommen entspricht.
Nennenswerte Modifikationen entstammen ursprünglich
den Abkommen mit Österreich und der Schweiz.
Hierbei handelt es sich um die Gewinnabgrenzung für
Betriebsstätten und den Verzicht einer Quellenbesteuerung für zwischengesellschaftliche Dividendenzahlungen, wenn die Beteiligung über 10 Prozent liegt und bereits mindestens ein Jahr andauert, so wie es schon mit
der Schweiz geregelt ist. Zudem wurde nach Vorbild des
Abkommens mit Österreich ein Quellenbesteuerungsrecht für die Erträge aus der Vermarktung von Persönlichkeitsrechten durch Künstler und Sportler festgeschrieben, damit das Geld auch dort versteuert wird, wo
es erwirtschaftet wurde.
Ich bitte Sie, die gute Zusammenarbeit mit Liechtensteins Regierung zu würdigen und diesem Abkommen zuzustimmen.
Wir behandeln heute das Doppelbesteuerungsabkommen, das die Bundesregierung mit dem Fürstentum
Liechtenstein ausgehandelt hat. Viele verbinden mit dem
Namen Liechtenstein eine der Steueroasen in Europa.
Dies leider nicht zu Unrecht. Sie erinnern sich an den
damaligen Postchef Klaus Zumwinkel und die Vorfälle
im Jahr 2008? Richtig: In Liechtenstein lag das Geld gut versteckt.
Liechtenstein steht aber für mehr als ein Geschäftsmodell der Steuerhinterziehung. Liechtenstein ist ein
kleines schönes Land mitten in Europa, verfügt über
eine Industrie, die ihre Produkte weltweit exportiert, und
hat viele kluge Menschen hervorgebracht. Mein Eindruck nach zahlreichen Gesprächen in und außerhalb
von Liechtenstein mit den politisch Verantwortlichen
war, dass man erkannt hat, dass das „Geschäftsmodell
Steuerhinterziehung“ das Land in die Sackgasse geführt
hat und man daher auch im Interesse der heimischen Industrie neue Wege gehen will, um sich nicht in Europa zu
isolieren.
Bei dem jetzt vorliegenden Abkommen geht es zwar
nur um die Verhinderung der Doppelbesteuerung, nicht
um die Nachbesteuerung von bisher unversteuerten Kapitalanlagen deutscher Steuerpflichtiger in Liechtenstein, auch nicht um die Einführung eines Verfahrens für
eine Besteuerung von Kapitaleinkünften. Daher ist das
vorliegende Abkommen nicht mit dem Schweizer Steuerabkommen zu vergleichen. Doch ein Abkommen über die
Vermeidung der Doppelbesteuerung mit einer früheren
Steueroase ist nicht unproblematisch, denn es kann den
ruinösen Steuerwettbewerb zwischen den Staaten weiter
anheizen. Das ist dann der Fall, wenn die Steueroase
von einer direkten Steueroasenpolitik zu einer Niedrigsteuerpolitik wechselt. Das trifft auf Liechtenstein zu.
Zwar hat Liechtenstein versprochen, zukünftig eine
sogenannte Weißgeldstrategie zu verfolgen, also versprochen, dass seine Banken nur noch Geld von den
Kunden annehmen dürfen, die zuvor schriftlich erklären,
ihre Vermögenswerte korrekt versteuert zu haben. Sosehr ich die Botschaft gerne höre, die mir von den politisch Verantwortlichen aus Liechtenstein übermittelt
wird, es fehlt mir doch der Glaube.
Es ist die fehlende Bereitschaft zum automatischen
Informationsaustausch, die ich vermisse. Für mich ist
das nach der Vorgeschichte jedoch ein wesentlicher
Baustein für eine Aufarbeitung und einen Neuanfang.
Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Sie erlaubt
einem Teil der Bevölkerung, sich aus der Finanzierung
der Gesellschaft zu verabschieden, und das auch noch
zu einem Zeitpunkt, wo die braven Steuerbürgerinnen
und -bürger für die Spekulationsverluste der Zocker einstehen müssen.
Daher lehnen wir als Linke gegenwärtig das Abkommen ab.
Zu Protokoll gegebene Reden
Alternativen zu diesem Abkommen liegen auf der
Hand - Deutschland könnte erstens gemeinsam mit seinen europäischen Partnern auf die schnelle Verabschiedung und Umsetzung der erweiterten EU-Zinsrichtlinie
hinwirken; zweitens gemeinsam mit den USA ein
FATCA-ähnliches Gesetzespaket verabschieden sowie
drittens ähnlich wie Großbritannien eine Offenlegungseinrichtung mit Liechtenstein aushandeln, um sicherzugehen, dass künftig alle Konten und Wirtschaftsstrukturen deutscher Steuerpflichtiger in Liechtenstein dem
deutschen Fiskus gemeldet werden.
Wenn Sie das heute vorliegende Abkommen mit Ihrer
Koalitionsmehrheit beschließen, müssen unseres Erachtens weitere Schritte folgen: nämlich - wie bereits erwähnt - die Nachbesteuerung von bisher unversteuerten
Kapitalanlagen deutscher Steuerhinterzieher in Liechtenstein sowie die Einführung eines Verfahrens für eine
Besteuerung von Kapitaleinkünften. Dass sich das lohnt,
haben wir bei den USA gesehen: Über 98 Prozent der
US-Konten in Liechtenstein waren nicht deklariert und
damit Schwarzgeld.
Wir beraten heute abschließend über das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Liechtenstein und
Deutschland. Letzte Woche hat sich der Finanzausschuss auf Anregung unserer Fraktion auch im Rahmen
eines Fachgesprächs intensiv mit dem Abkommen befasst. Es ist das erste Mal, dass Deutschland mit Liechtenstein ein Doppelbesteuerungsabkommen abschließt.
Wichtigstes Kriterium für die Beurteilung dieses
Abkommens ist für uns das Thema Transparenz. Wir begrüßen, dass sich Liechtenstein im Jahr 2009 zu einer
Transparenzinitiative entschlossen hat. Wir erkennen
die Bemühungen Liechtensteins an, sich von einer
Steueroase mit 20 000 Briefkastenfirmen zu einem seriösen Steuerstandort zu entwickeln. Für uns ist jedoch
entscheidend, dass ein solcher Paradigmenwechsel mit
vertrauensbildenden Maßnahmen vonseiten Liechtensteins begleitet wird. Wir halten es für essenziell, dass
sich Liechtenstein offen zu den Transparenzzielen der
EU in Form eines automatischen Informationsaustausches bekennt. Dies ist leider im Abkommen ausgeblieben - es sieht lediglich die Möglichkeit dazu vor, ohne
jedoch zu verpflichten. Auch im Fachgespräch ist ein
Bekenntnis des Fürstentums zum automatischen Informationsaustausch ausgeblieben. Im Gegenteil: Weitergehender Transparenz, wie sie Liechtenstein mit den
USA vereinbart hat, erteilte Liechtenstein im Fachgespräch eine Absage. Daher werden wir Grüne diesem
Doppelbesteuerungsabkommen nicht zustimmen.
Auch andere Elemente des Gesetzes sehen wir
kritisch: Liechtenstein ist im EU-Vergleich ein absolutes
Niedrigsteuerland. Daher lehnen wir die Freistellungsmethode im Abkommen ab und plädieren hier für die
Anrechnungsmethode. Wir begrüßen jedoch das Bestreben des Bundesfinanzministeriums, zur Sicherung
des deutschen Steuersubstrates eine Realwirtschaftsklausel im Doppelbesteuerungsabkommen festzuschreiben. Diese soll verhindern, dass Unternehmen, die nur
eine funktions- oder substanzschwache Präsenz im Land
haben, das Abkommen mit seinen Quellensteuerermäßigungen nutzen können. Hier muss sich jedoch noch zeigen, wie wirksam mit diesem Instrument Missbrauch
verhindert werden kann.
Schließlich ist der Zeitpunkt das Abkommens fragwürdig. Das Abkommen enthält keine Lösung für die
unversteuerten Altvermögen deutscher Staatsbürger in
Liechtenstein, und auch in einem parallelen Prozess
dazu ist noch kein Ansatz gefunden worden. Dies sollte
jedoch zumindest zeitgleich mit einem Doppelbesteuerungsabkommen passieren, wie dies auch zwischen
Liechtenstein und Großbritannien mit der sogenannten
Disclosure Facility der Fall ist.
Wir werden den Weg Liechtensteins weg vom Status
einer Steueroase weiter kritisch und konstruktiv begleiten. Wir hoffen, dass das Fürstentum in Zukunft deutliche Signale in Richtung Transparenz senden wird, die
unser Vertrauen in den Prozess stärkt.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11104, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10753 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 36:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Johannes Pflug, Karin Roth ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Myanmar auf dem Weg zur Demokratie begleiten und unterstützen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof
Schmidt, Ute Koczy, Dr. Thomas Gambke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Myanmar - Den demokratischen Wandel
unterstützen
- Drucksachen 17/9727, 17/9739, 17/10903 Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeEdelgard BulmahnPatrick Kurth ({2})Stefan LiebichDr. Frithjof Schmidt
Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.
Der Deutsche Bundestag diskutiert in diesem Jahr
bereits zum vierten Mal über die vielen positiven Entwicklungsschritte des südostasiatischen Landes. Dies
zeigt, dass wir derzeit in Echtzeit miterleben, wie sich
ein Land mithilfe von ehemaligen Diktatoren zu einer
Demokratie wandelt.
Allen Unkenrufen zum Trotz geht es Monat für Monat
weiter voran, und selbst in den zwei Monaten nach der
letzten Debatte im Bundestag haben wir wieder beachtliche Schritte im Rahmen der Verbesserung von Menschenrechten bei Wirtschaftsreformen und in der außenpolitischen Orientierung erlebt.
Beachtlich, denn diese Entwicklungen strafen gerade
die Kritiker hier aus dem Bundestag Lügen, die immer
noch anhaltend misstrauisch sind. Natürlich sind es die
Grünen.
Sie sind misstrauisch, weil eben nicht oberlehrerhafte
westliche Sanktionen zur Demokratie geführt haben.
Diese ewig misstrauischen Grünen müssen endlich lernen, dass die von ihnen über Jahrzehnte geforderten
Sanktionen in Myanmar nachweislich nichts gebracht
haben. Vertrauen Sie endlich auf die heilende Kraft der
Freiheit und nicht auf ihren kleinkarierten Demokratiedirigismus als Grundpfeiler Ihrer Außenpolitik.
Die Regierungsfraktionen jedenfalls unterstützen
weiter die höchst erfreulichen Entwicklungen in Myanmar und halten sich nicht mit dauernden ermüdenden
Ermahnungen auf.
Besonders erfreulich ist derzeit für mich, wie aktiv die
deutschen Stiftungen den politischen Frühling nutzen,
um wieder in Myanmar umfangreich aktiv zu sein. Die
Böll-Stiftung im Bereich der Kultur, die Adenauer-Stiftung im Rahmen des Demokratieaufbaus, natürlich aus
guter Tradition die Ebert-Stiftung in allen politischen
Bereichen und neuerdings auch stark die Freiheitsstiftung, die einen wichtigen politischen Besuch vonseiten
Myanmars in letzter Zeit organisiert hat.
Auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung hat
eine Delegation des Industrieministeriums sowie der
Handelskammer von Myanmar Deutschland besucht.
Die Reise fand im Rahmen einer Kooperation der Stiftung mit dem Industrieministerium statt, durch die kleine
und mittlere Unternehmen - KMU - in Myanmar gefördert werden. Ein wichtiger Beitrag, um die gemeinsamen Wirtschaftsbeziehungen wieder neu zu starten.
Die Delegation wollte sich in Hamburg und Berlin
ein Bild von Deutschlands Mittelstandsförderung machen. Wichtig, denn aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Reformen in Myanmar stehen die Menschen
an einem Neuanfang mit großen Herausforderungen.
Kleine und mittlere Unternehmen müssen dort zukünftig
wichtige Rollen einnehmen. Sie müssen zum Aufschwung beitragen und ihn stabilisieren. Welches Land,
wenn nicht Deutschland, kann in diesem Bereich weiterhelfen?
Ganz besonders freut mich, dass auch im Bereich des
für Myanmar wichtigen Finanzsektors die schwierigen
Reformen angegangen werden. So hat Myanmar jüngst
eine staatliche Bank in eine KMU-Bank umgewandelt,
die bald Kredite an Kleinunternehmer vergeben soll.
Daran beteiligt ist auch der Dachverband der Handelskammern in Myanmar - UMFCCI -, dessen Generalsekretärin Khine Khine Nwe als Mitglied der eben benannten Delegation nach Deutschland reiste. Die
Delegation traf zudem in einer erweiterten Sitzung mit
dem Regionalarbeitskreis Asien der Handelskammer
Hamburg und dem Ostasiatischen Verein.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Regierung und
das Parlament in Myanmar mittelfristig weiter vorankommen. Hierzu hat die Unionsfraktion Ideen, die wir
gemeinsam mit unseren Gesprächspartnern in Myanmar
vorantreiben wollen. Vorantreiben, ohne erhobenen Zeigefinger.
Wir arbeiten dafür, dass die Parteien in Myanmar vor
den Wahlen von 2015 Änderungen an der Verfassung
von 2008 vornehmen, durch die das Militär seine Rolle
in der Politik verliert, insbesondere seine Sitze in beiden
Kammern des Parlaments.
Wir begrüßen weitere gegenseitige Annäherungen
zwischen Präsident U Thein Sein und Daw Aung San
Suu Kyi sowie den Dialog zwischen der Regierung und
der Opposition.
Wir freuen uns über die internationalen Bemühungen
auf hoher Ebene, die darauf abzielen, Impulse für den
demokratischen Wandel in Birma/Myanmar zu geben.
Es ist zu begrüßen, dass die Freilassung einer beträchtlichen Anzahl politischer Gefangener und die
stark verbesserte Medien- und Internetfreiheit immer
weiter vorankommen. Besonders erfreulich sind auch
die neuen Rechtsvorschriften zur Versammlungsfreiheit
und die Berichten zufolge erkennbaren Fortschritte bei
der Abschaffung der Zwangsarbeit durch gesetzliche
Vorschriften. Hier wollen wir gemeinsam weiterarbeiten.
Trotzdem fordern wir die Regierung Birmas/Myanmars auf, alle verbleibenden politischen Gefangenen
unverzüglich und bedingungslos freizulassen und dem
IKRK und internationalen Menschenrechtsgremien
freien Zugang zu Gefängnissen in Birma/Myanmar zu
gewähren.
Es ist zudem wichtig, dass das Gesetz über die Staatsbürgerschaft von 1982 geändert wird, damit das Recht
auf Staatsbürgerschaft der ethnischen Minderheit der
Rohingya gebührend anerkannt wird.
Wichtig sind auch Reformen im Rechtswesen, um ein
wirklich unabhängiges und unparteiisches Justizsystem
sicherzustellen und ein Verfahren einzurichten, mit dem
in Bezug auf in der Vergangenheit begangene Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit hergestellt und
Rechenschaftspflicht eingefordert wird.
Final würden wir uns für die nächsten Monate einen
genauen Reformzeitplan der Regierung in Myanmar
wünschen. Ich denke, dies ist ein wichtiger Aspekt, den
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit fördern
Zu Protokoll gegebene Reden
sollte, da nur so der demokratische und wirtschaftliche
Aufschwung verstetigt werden kann.
Trotz der noch vielen Reformschritte bin ich weiterhin
sehr positiv gestimmt und der festen Überzeugung, dass
das Land in den nächsten Jahren zu einem Vorbild werden kann.
Die CSU unterstützt den Kurs der Bundesregierung,
durch eine „Politik der ausgestreckten Hand“ die politische Führung Myanmars zu weiteren Reformen zu ermutigen. Außenpolitische Zurückhaltung, wie von der
Opposition gefordert, wäre der falsche Weg.
Nach über 20 Jahren Militärregierung verfolgt die
Regierung in Myanmar unter Präsident Thein Sein einen
Reformkurs, der in den letzten Monaten dem Land viele
lang ersehnte Fortschritte gebracht hat.
Dass die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu
Kyi im Rahmen der Nachwahlen im April dieses Jahres
in das Parlament einziehen konnte, ist ein großer Sieg
für die Demokratiebewegung in Myanmar, den noch vor
einem Jahr keiner vorauszusagen gewagt hätte. Nach
über 15 Jahren unter Hausarrest ist Frau Suu Kyi nun
endlich in der Lage, als Abgeordnete aktiv die Politik
ihres Landes mitzugestalten. Mit der Wiederzulassung
ihrer Partei, der National League for Democracy, NLD,
der wichtigsten nationalen Oppositionskraft, ist der
Grundstein für einen fairen Wettbewerb um Meinungsbildung und Wählerstimmen gelegt.
Zu den weiteren Reformen gehören beispielsweise die
Freilassung vieler politischer Gefangener sowie die
Abschaffung der Zensur, ebenfalls Meilensteine auf dem
Weg zu einer Demokratisierung.
Myanmar hat sich auf den Weg in Richtung Demokratie gemacht. Diesen gilt es nun zu unterstützen und zu
verstetigen. Hierzu erachten wir den Ansatz der EU, als
Zeichen der Anerkennung der bereits erzielten Fortschritte sowie als Anreiz für weitere Reformen die Sanktionen mit Ausnahme des Waffenembargos auszusetzen,
als richtigen und wichtigen Schritt.
War die Wirkung der EU-Sanktionen bereits unter
dem Militärregime umstritten, wäre deren Beibehaltung
zu diesem Zeitpunkt nicht nur das falsche politische,
sondern auch das falsche wirtschaftliche Signal.
Denn vor dem Hintergrund des in Myanmar in den
letzten Monaten Erreichten geht es jetzt darum, diese
Fortschritte zu sichern. Dazu gehört auch, wie Bundesminister Westerwelle anlässlich seines Besuchs in
Myanmar im April sagte, eine Friedensdividende für die
größtenteils arme Bevölkerung. Nach den Entbehrungen
der Militärdiktatur ist es jetzt wichtig, eine Zivilgesellschaft in Myanmar aufzubauen, die am politischen und
wirtschaftlichen Leben teilhaben kann. Diese Entwicklung kann nach dem Aussetzen der EU-Sanktionen leichter in Gang kommen und auch seitens der Bundesregierung besser gefördert werden.
Dementsprechend begrüßen wir auch die Entscheidung der Bundesregierung, unmittelbar nach der
Aussetzung der EU-Sanktionen die Entwicklungshilfe
für Myanmar wieder aufzunehmen und 2012 insgesamt
über 16 Millionen Euro für den Demokratisierungsprozess in Myanmar bereitzustellen.
Aung San Suu Kyi begrüßte dieses schrittweise Vorgehen der EU und der Bundesrepublik in ihrem Treffen
mit Bundesminister Westerwelle im April dieses Jahres
ebenfalls. Es gelte, die Reformen durch internationale
Hilfe abzusichern, aber gleichzeitig den Reformprozess
auch weiter voranzutreiben.
Insofern kritisierte sie in ihrer Antrittsrede im Parlament die neue Verfassung dahin gehend, dass sie immer
noch etliche Vorrechte für Militärs festschreibe. So
müsse beispielsweise ein Viertel der Sitze an Angehörige
des Militärs gehen.
Natürlich wird Myanmar nach über 20 Jahren Militärherrschaft nicht von heute auf morgen zu einem
demokratischen Musterstaat. Aber die demokratischen
Errungenschaften der letzten Monate zeigen, dass in
diesem Land vieles in Bewegung geraten ist, was unsere
Anerkennung und unsere Unterstützung verdient.
Nach der Aussetzung der Sanktionen und der Aufnahme von Entwicklungshilfe herrscht nun auch ein
politisches Klima, das einen Dialog mit den politischen
Akteuren in Myanmar erleichtert. Im Rahmen dieses
Dialogs werden wir die Umsetzung der Reformen genauestens verfolgen und wenn nötig weitere Fortschritte
in Richtung Demokratie anmahnen.
Erste Schritte hierzu hat die internationale Staatengemeinschaft bereits im April dieses Jahres mit Besuchen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, der
EU-Außenbeauftragten sowie der Bundesminister
Niebel und Westerwelle getan. Außerdem eröffnete die
EU ein Delegationsbüro in Rangun. Die Wege der
Diplomatie stehen somit nach Jahrzehnten der Isolation
offen.
Lassen Sie mich abschließend die Hoffnung ausdrücken, dass Myanmar diese auch weiterhin beschreiten
und sich der Demokratisierungsprozess in den kommenden Monaten stabilisieren wird.
Myanmar hat in den vergangenen eineinhalb Jahren
unter Präsident Thein Sein beachtliche Reformschritte
eingeleitet. Nach 50 Jahren Militärdiktatur und weitgehender internationaler Isolation ist Myanmar dabei, in
die internationale Völkergemeinschaft zurückzukehren.
Ein großer Teil der politischen Gefangenen wurde
freigelassen, die politische Betätigung von Parteien wie
der Nationalen Liga für Demokratie wieder erlaubt. Wir
haben die ersten weitgehend freien Wahlen erlebt. Die
Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi darf wieder öffentlich auftreten, wurde ins Parlament gewählt
und führt die Opposition an. Mit den ethnischen Minderheiten wurden Verhandlungen zur Überwindung von
Diskriminierung und über die Beilegung der bewaffneten Auseinandersetzungen eingeleitet. Die Beschränkungen der Pressefreiheit und der freien MeinungsäußeZu Protokoll gegebene Reden
rung wurden gelockert. Die politische Liberalisierung
wurde durch Reformen des Wirtschaftssektors ergänzt.
Private wirtschaftliche Betätigung wurde wieder erlaubt, die Privatisierung der staatlichen Betriebe eingeleitet, ausländische Investitionen wieder zugelassen.
Das Land hat sich gegenüber ausländischen Touristen
und Hilfsorganisationen wieder geöffnet.
Zweifellos: Dies alles waren wichtige Reformschritte,
Schritte und Maßnahmen, die viele von uns vor wenigen
Monaten kaum für möglich gehalten hätten. Doch noch
immer sind Menschenrechtsverstöße wie Zwangsarbeit,
Zwangsumsiedlung, Folter, Vergewaltigungen oder die
Rekrutierung von Kindersoldaten zu verzeichnen. Noch
immer sitzen Hunderte politische Gefangene hinter Gittern. Noch immer beherrschen ethnische Konflikte
ganze Regionen, und sie werden auf blutige Art und
Weise ausgetragen. Noch immer verschlingt der Militärapparat den größten Teil des Staatshaushaltes. Noch immer verfügen die Militärs über eine Sperrminorität im
Parlament. Noch immer ist Korruption an der Tagesordnung. Noch immer nimmt die kriminelle Schattenwirtschaft mit Drogen- und Waffenhandel und dem illegalen
Export von Edelsteinen oder exotischen Tieren einen
großen Raum ein. Und keine Frage: Es gibt im Land,
insbesondere im Militärapparat, einflussreiche Gegner
des neuen Kurses, die nicht bereit sind, auf ihre politischen wie wirtschaftlichen Privilegien zu verzichten.
Wir, die EU und Deutschland, sollten deshalb alles
daransetzen, dem eingeleiteten Reformprozess zum
Durchbruch zu verhelfen. Es gilt einerseits, die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern, andererseits
aber auch, das Land nicht wieder in die Isolation zu treiben. Wir sollten deshalb die politischen Kontakte und
Beziehungen mit Myanmar auf Regierungs- und Parlamentsebene weiter ausbauen und verstärken. Wir sollten
unseren Beitrag für den Aufbau und die Entwicklung einer funktionierenden Zivilgesellschaft leisten. Myanmar
braucht Hilfe und Unterstützung bei dem Aufbau einer
leistungsfähigen Zivilverwaltung. Es hat keine Erfahrungen mit der Etablierung und Durchsetzung rechtsstaatlicher Gesetzgebung und Verfahren. Es braucht Expertinnen und Experten, die das Land beraten und die
nötigen Fachkräfte ausbilden und unterstützen.
Der Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen um
eine Demokratisierung des Landes ist die Einleitung einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung. Nur wenn sich
die desolate wirtschaftliche Situation der Bevölkerung
wahrnehmbar bessert, wird die Etablierung einer stabilen Demokratie gelingen.
Myanmar zählt zu den ärmsten Ländern der Erde.
Noch immer arbeiten mehr als zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Weitgehend als Subsistenzwirtschaft mit unzureichenden Mitteln betrieben, ist sie
nicht in der Lage, das Land ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Es fehlt an Dünger, leistungsfähigem Saatgut, Maschinen und Know-how. Unter- und
Mangelernährung sind weit verbreitet.
Entwicklungshemmend sind auch die Besitzverhältnisse. Das Land gehört dem Staat, nicht den den Boden
bebauenden Bauern und Bäuerinnen. Und schließlich ist
ein Großteil der Landbevölkerung bei illegalen Geldverleihern hochverschuldet. Wir sollten deshalb das Land
wieder in die staatliche Entwicklungszusammenarbeit
einbeziehen und zu einer nachhaltigen Entwicklung des
ländlichen Raums beitragen.
Diktatur, Isolation und Misswirtschaft haben eine desaströse Infrastruktur hinterlassen, die zugleich die bittere Armut des Landes in erschreckender Art und Weise
verdeutlicht. Nur etwa ein Viertel der Bevölkerung hat
Zugang zu Elektrizität, sanitäre Anlagen sind Mangelware, und nur jede fünfte Straße ist für die Nutzung bei
schlechtem Wetter gebaut.
Myanmar braucht dringend Investitionen, Investitionen in die Infrastruktur, in die Landwirtschaft, Investitionen im völlig daniederliegenden verarbeitenden Sektor, aber auch in Bildung und Ausbildung. Mit seinem
Ressourcenreichtum, seinen großen Erdgasvorräten,
Hölzern, seinem Kupfer, seinen Edelsteinen und anderen
Rohstoffen sowie seinen Wasserkraftreserven, verfügt es
über ein enormes wirtschaftliches Potenzial. Die Einnahmen aus diesen Rohstoffvorkommen könnten eine
wertvolle Basis für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes sein.
Tatsächlich sind die beträchtlichen Einnahmen aus
dem Export in den vergangenen Jahrzehnten jedoch in
die Ausrüstung und den Unterhalt der größten Armee
Südostasiens gesteckt worden. Sie trugen zur Entwicklung von Prestigeprojekten wie den Aufbau der neuen
Hauptstadt bei oder flossen in die Taschen von Oligarchen und der militärischen Führungselite.
Deshalb wird es entscheidend darauf ankommen,
dass die Einnahmen aus den Rohstoffexporten künftig
für den Aufbau des Landes verwandt werden. Es gilt deshalb, darauf zu drängen, eine möglichst große Transparenz über die Verwendung dieser Einnahmen zu schaffen. Die Bundesregierung sollte sich daher gegenüber
Myanmar nachdrücklich dafür einsetzen, dass das Land
sich an internationalen Transparenzstrukturen, wie zum
Beispiel der Extractive Industries Transparency Initiative, EITI, beteiligt und gleichzeitig Initiativen für eine
nachhaltige Nutzung der Rohstoffeinnahmen für das
Gemeinwohl entwickelt. Die Einrichtung eines Zukunftsfonds, wie unter anderem in Ghana praktiziert, ist hier
beispielhaft.
Trotz neuer gesetzlicher Regelungen wie dem Verbot
der Zwangsarbeit oder einem neuen Gewerkschaftsgesetz gibt es in Myanmar noch immer eine Vielzahl von
Arbeitnehmerrechtsverletzungen. EU und Bundesregierung sollten deshalb auf die weitere Verbesserung der
Rahmenbedingungen für die Arbeit der Gewerkschaften
drängen und Myanmar zur Umsetzung der ILO-Konvention, zur Durchsetzung des Verbots der Zwangsarbeit
und zur Ratifizierung der ILO-Kernarbeitsnormen anhalten und das Land hierbei tatkräftig unterstützen.
Hierzu zählt auch eine finanzielle Unterstützung des
Ausbaus des Büros der ILO in Myanmar.
Noch investieren deutsche und europäische Unternehmen sehr verhalten in Myanmar. Hier gilt es, mehr
Rechtssicherheit für die Investitionen zu schaffen. InvesZu Protokoll gegebene Reden
toren, die sich langfristig engagieren wollen, müssen
sicher sein, dass diese nicht nur befristet zulässig sind
und dass die erzeugten Produkte auch exportiert respektive importiert werden dürfen. Mit anderen Worten: Die
derzeitige Aussetzung von Sanktionen für ein Jahr hilft
hier nicht weiter. Wir werden uns entscheiden müssen,
ob wir eine Doppelstrategie von Unterstützung und Einforderung von Reformen wählen oder ob wir die Durchsetzung eines Mindestmaßes zur Vorbedingung für die
vollständige Aufhebung der Sanktionen machen wollen.
Bei alledem sollten wir nicht außer Acht lassen, dass
die Zukunft des Staates Myanmar keinesfalls gesichert
ist. Bisher ist es nicht gelungen, die ethnischen Konflikte
dauerhaft beizulegen. Die Aktionen der Militärs, die
Unterdrückung von Minderheitenrechten, Zwangsumsiedlungen und militärische Gewalt, haben erheblich
zum offenen Ausbruch der Konflikte beigetragen. In Teilen Myanmars sind es inzwischen bewaffnete Verbände
regionaler Machthaber, die die Macht ausüben und
nicht die Zentralregierung.
Auch in diesem Zusammenhang sollten wir unsere
Unterstützung anbieten und unsere Erfahrungen mit
ziviler Konfliktbearbeitung und Mediation einbringen.
Eine Instabilisierung Myanmars oder gar seine Entstaatlichung hätte schließlich aufgrund seiner strategischen Lage gravierende Auswirkungen auf den gesamten südostasiatischen Raum.
Für die weitere Gestaltung unserer Politik gegenüber
Myanmar liegen dem Plenum mittlerweile neben dem
von meiner Fraktion eingebrachten Antrag zwei weitere
Anträge vor. Bei genauerer Betrachtung gibt es meines
Erachtens einen hohen Grad an Gemeinsamkeit. Es
würde die Position der deutschen Politik gegenüber
Myanmar und unser Eintreten für Demokratie und Menschenrechte sicherlich stärken, wenn es uns gelänge, in
den weiteren Beratungen ein gemeinsam getragenes
Votum zu erreichen. Ich bin jedenfalls zuversichtlich,
dass wir dies erreichen können.
Der Transformationsprozess in Myanmar von einer
jahrzehntelang andauernden Militärdiktatur hin zu einer Demokratie ist ein ganz besonderer. Wir beobachten
eine atemberaubende historische Entwicklung. Das
Bemerkenswerte daran: Es handelt sich um ein rares
Beispiel dafür, dass sich eine Diktatur aus sich heraus
wandelt. Auch wir Deutsche in unserer langen Diktaturgeschichte haben dies in dieser Form nie geschafft.
Myanmars Machthaber selbst haben Reformen auf den
Weg gebracht. Diese Entwicklung sollte alle ermutigen,
den Wandel zu unterstützen.
Noch vor nicht allzu langer Zeit war Myanmar bekannt für massive Menschenrechtsverletzungen, für die
Unterdrückung und Verhaftung Oppositioneller, für die
gewalttätige Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie für ein restriktives Wahlgesetz.
Ethnische Minderheiten wurden unterdrückt, Medien
zensiert. Die Militärjunta hielt die Zügel fest in der
Hand. Internationale Proteste blieben weitgehend ohne
Erfolg.
Umso erstaunlicher und bemerkenswerter ist es, dass
sich der am 4. Februar 2011 ernannte Regierungschef
Thein Sein, der selbst lange Zeit führendes Mitglied der
Militärdiktatur war, so stetig um diesen Reformprozess
bemüht. Auch Parlamentspräsident Shwe Mann ist eine
der zentralen Triebfiguren der Transformation.
Die Regierung hat bereits wichtige demokratische
Reformen in die Wege geleitet: Die oppositionelle Nationale Liga für Demokratie, NDL, wurde im Januar 2012
wieder als Partei zugelassen und hat erstmals seit 1990
wieder an den Parlamentswahlen im April 2012 teilgenommen. Entgegen den Behauptungen im Antrag der
Grünen waren dies im Grundsatz weitgehend freie und
faire Wahlen. Diese erste Bewährungsprobe ist aus unserer Sicht bestanden worden. Außerdem wurde der Aussöhnungsprozess mit den ethnischen Minderheiten in
Myanmar angestoßen und wird nach wie vor mit großen
Bemühungen verfolgt. Lösungsansätze zur Bewältigung
von bislang als tabu geltenden Themen wie Armut und
Korruption werden entwickelt und umgesetzt. Außerdem
wurden politische Gefangene freigelassen. Die Bundesregierung hat den Machthabern in Myanmar bereits
früh ihre Unterstützung für diese Reformschritte signalisiert: Bundesminister Niebel reiste sehr frühzeitig nach
Myanmar. Außenminister Westerwelle besuchte das
Land als erster Außenminister der Bundesrepublik seit
25 Jahren.
Als Zeichen unserer Wertschätzung von Myanmars
Entwicklung wurden auch die meisten EU-Sanktionen
ausgesetzt. Dies war die richtige Antwort auf die Demokratisierungsbemühungen. Andererseits ist es richtig,
dass einige Sanktionen fortbestehen - gerade im militärischen Bereich. Sanktionen stellen ein wichtiges Instrument für den weiteren Wandel dar, da ansonsten der
Druck genommen wird, der für weitere Reformen unerlässlich ist. Statt voreilig in Freunde auszubrechen, müssen wir Myanmar konstruktiv und kritisch auf seinem
Weg begleiten und nachhaltig unterstützen.
Denn: Bei aller Freude über die bisherigen Entwicklungen ist es wichtig, dass wir dem Reformprozess auch
weiterhin mit einer gesunden Skepsis begegnen. Die
Transformation Myanmars ist nicht unumkehrbar. Nach
wie vor gibt es Gegner des Reformprozesses, auch innerhalb der Regierung. Auch das Militär bleibt ein Unsicherheitsfaktor und könnte versuchen, wieder den alten
Weg zu gehen. Außerdem waren bestimmte Reformschritte in den vergangenen Monaten halbherzig. Ein
Beispiel: Zwar wurde die Pressezensur aufgehoben und
so die Presse- und Meinungsfreiheit weiter gestärkt.
Dennoch bleibt die Zensurbehörde an sich weiter bestehen; regierungskritische Veröffentlichungen sind weiterhin mit Strafe bedroht. Der Regierung in Naypyidaw
muss klar sein, dass wir nachhaltige Rückschritte nicht
akzeptieren werden.
Entscheidend für den Erfolg des Transformationsprozesses in Myanmar ist, dass auch das Volk einen direkten
Nutzen aus der Öffnung des Landes ziehen kann. Die
Reformen bergen die Chance für neuen wirtschaftlichen
Erfolg und damit eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen. Die Voraussetzungen dafür sind
Zu Protokoll gegebene Reden
Patrick Kurth ({0})
gut: Myanmar besitzt reichlich natürliche Ressourcen,
vor allem Erdgas, Hartholz und Fischereiprodukte.
Diese wurden in Zeiten der Militärdiktatur jedoch nicht
für den eigenen Industrieaufbau genutzt. Myanmar muss
seine Wirtschaft daher heute von Grund auf neu aufbauen: Dies gilt für die industrielle Produktion, das produzierende Gewerbe, den Mittelstand, aber auch den
kleinen Einzelhandel. Dazu gehören auch die Stärkung
der Selbstorganisation der Wirtschaft, die Aufspaltung
von Monopolen sowie eine funktionierende Wettbewerbskontrolle. Ohne diese Maßnahmen kann der
wirtschaftliche Aufholprozess Myanmars nicht gelingen.
Auch in dieser Hinsicht müssen wir Myanmar unterstützen und die gemeinsamen Handelsbeziehungen stärken.
Geradezu haarsträubend ist vor diesem Hintergrund die
Formulierung im Grünen-Antrag, die Handelsbarrieren
hätten zunächst nur graduell abgebaut werden sollen.
Ein „neoliberaler Duktus“ solle bei der Öffnung des
Landes verhindert werden. Wer die wirtschaftliche Entwicklung Myanmars wie die Grünen in ihrem Antrag
vernachlässigt, erweist den Reformbemühungen einen
Bärendienst.
Gefahren für den ökonomischen Aufstieg Myanmars
gibt es indes nicht nur im Inneren, sondern gerade auch
von außen. Myanmar darf nicht als Billiglohnland oder
schlichter Rohstofflieferant gesehen werden. Wir wehren
uns entschieden dagegen, dass eine so junge Demokratie, die Myanmar jetzt wahrscheinlich wird, eine Goldgräberstimmung bei anderen Staaten auslöst, die aus
diesem Land in erster Linie einiges herausholen wollen.
Die Öffnung Myanmars darf keine Postkolonialisierung
nach sich ziehen. Vielmehr muss uns vor allem die weitere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklung ein zentrales Anliegen bleiben.
Genau dies spiegelt sich im politischen Handeln der
Bundesregierung. Wir unterstützen Myanmar bei seinem
Transformationsprozess nachhaltig. Die wirtschaftliche
Partnerschaft ist tiefgreifend. Auf parlamentarischer
Ebene fördern wir den Informationsaustausch mit den
neuen Abgeordneten im myanmarischen Parlament, die
in einer Demokratie gerade zum ersten Mal selbst mitgestalten können.
Besonders wichtig sind unsere Maßnahmen im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.
Durch einen Ausbau der Bildungszusammenarbeit helfen wir Myanmar dabei, seine bislang katastrophale
Bildungssituation zu verbessern. Ein wichtiger Schritt
ist auch die geplante Eröffnung eines neuen GoetheInstituts, das erste dort seit 1965. Es dient dem Kulturaustausch zwischen Myanmar und Deutschland und
setzt ein positives Signal, dass die Demokratiebemühungen Myanmars unsere größte Anerkennung finden.
Außerdem wecken wir so das Interesse an Deutsch als
Fremdsprache. Die Sprache ist die Basis für eine
vertrauensvolle Kooperation und ein erfolgreiches
Miteinander.
Bei aller Unterstützung müssen wir aber darauf achten, Myanmar nicht mit einer überheblichen Erwartungshaltung zu überfordern. Tatsächliche Hilfe ist gefragt und nicht Besserwisserei oder westliche Arroganz.
Diese Haltung liegt aber den vorliegenden Anträgen
zugrunde. Dass die Grünen die Durchsetzung von „Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards“ genau in
dieser Reihenfolge fordern, spricht Bände. Der Feinstaub in Rangun gehört sicherlich zu den geringeren
Problemen des Landes. Auch die SPD verfällt in ihrem
Antrag ideologischen Reflexen und fordert die Förderung der „Geschlechtergleichstellung“ in Myanmar.
Unsere primäre Aufgabe muss es sein, die basalen demokratischen Reformen des Landes zu unterstützen und
dem Land wirtschaftlich auf die Beine zu helfen. Der
Versuch, westliche Gleichheitsideologien einzuimpfen,
entspringt hingegen einem überheblichen Sendungsbewusstsein und ist mit uns Liberalen nicht zu machen.
Die Bundesregierung wird weiterhin den Fokus auf
die grundlegenden Reformen legen. Myanmar ist auf
dem richtigen Weg. Die Bundesregierung wird das Land
auf diesem auch weiterhin konstruktiv und tatkräftig unterstützen.
Der Präsident Myanmars, General Thein Sein, hält
erstmals eine Pressekonferenz ab und stellt sich den
Fragen der in- und ausländischen Presse, die HannsSeidel-Stiftung eröffnete gestern ein Büro in Myanmar.
General Thein Sein kann sich Aung San Suu Kyi als
seine Nachfolgerin vorstellen, die südostasiatischen
Franchise-Unternehmen betrachten Myanmar als einen
potenziellen Markt, winken doch Steuerbefreiungen, die
erst kürzlich von drei auf fünf Jahre erhöht wurden. All
das sind Nachrichten der letzen zwei Wochen aus und
über Myanmar.
Nach der vorsichtigen Öffnung der einstigen Militärdiktatur plant die EU die Aufhebung der Sanktionen gegen Myanmar. Das finden wir richtig. Häufig treffen Import- und Exportverbote für zivile Waren die Bevölkerung
und nicht die Regierenden. Die einfachen Menschen leiden unter den wirtschaftlichen Folgen, wie Arbeitslosigkeit und Armut. Selbst in den Zeiten der internationalen
Sanktionen konnte sich der damalige Diktator leisten,
eine Hochzeit für seine Tochter auszurichten, die mehrere Hunderttausend US-Dollar gekostet haben soll. Die
Veröffentlichung des Videos im Netz führte damals - berechtigt - zu Unruhen im Land.
Nun haben die Militärs die Uniform ausgezogen und
einen Reformprozess in Gang gebracht. Die Opposition,
zu den Wahlen 2010 noch nicht zugelassen, gewann die
Nachwahlen zum Parlament des Landes im Frühjahr
dieses Jahres. 43 von 44 Sitzen fielen an die Partei der
Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die Nationale Liga für Demokratie. Grund genug für die USA
und jetzt auch für die EU, die Sanktionen, bis auf das
Waffenembargo, aufzuheben.
Die Abkehr Myanmars von der Diktatur und die begonnene Demokratisierung des Landes unterstützt die
Linke selbstredend. Dass auch die EU-Sanktionen aufgehoben wurden, trifft ebenfalls auf unser volles Einverständnis. Dass ein Goethe-Institut in der Wirtschaftsmetropole Rangun eröffnet werden soll, begrüßen wir
Zu Protokoll gegebene Reden
ebenso wie den verstärkten Wissenschaftsaustausch zum
Beispiel über neue Stipendien.
Aber ist nun alles auf einem guten Weg? Gerade im
Antrag der SPD wurde der Finger in die Wunde gelegt.
Frau Suu Kyi hat erst im Juni in Genf darauf aufmerksam gemacht, dass die Arbeitsbedingungen in Myanmar
katastrophal sind. Zwangsarbeit ist an der Tagesordnung. Freie Gewerkschaften sind ein Fremdwort in einem Land, das sich gerade auf den Weg zur Demokratie
macht. Der jetzt zur Ablehnung empfohlene Antrag fordert dagegen politische Initiativen der Bundesregierung, um den Prozess der demokratischen Transformation in Myanmar zu unterstützen. Dazu gehört auch aus
unserer Sicht die Unterstützung der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, bei ihren Bemühungen, Myanmar zu bewegen, die ILO-Konventionen gegen Zwangsarbeit und Kinderarbeit zu unterzeichnen und umzusetzen. Hilfreich dazu ist sicher eine Unterstützung
der Bundesregierung, ein ILO-Büro in Myanmar einzurichten.
Zu den Folgen einer rasch wachsenden Wirtschaft gehört im rohstoffreichen Myanmar aber auch das Umweltproblem. Bündnis 90/Die Grünen weisen zu Recht
auf schmutzige Industrien hin, die als erste den Sprung
in das bislang isolierte Land gefunden haben. Neben den
Auswirkungen der wirtschaftlichen Öffnung des Landes
gilt es aber auch, Korruption zu bekämpfen.
Unser Ziel ist es, dass die Menschen im Land endlich
etwas von ihren Bodenschätzen haben und sich nicht internationale Konzerne oder einige wenige Eliten die Taschen füllen. Zudem muss der nationale Friedensprozess
fortgeführt - die Militärs haben im Vielvölkerstaat auch
einen Krieg gegen nationale und religiöse Minderheiten
geführt - und das in Myanmar immer drängender werdende Problem Aids angegangen werden.
Aus unserer Sicht folgte die schlichte Aufhebung der
Sanktionen keinem Konzept, außer dem Prinzip Hoffnung. Das reicht aber nicht. Aung San Suu Kyi sagte
dazu: „Ich glaube nicht an Leute, die nur hoffen. Wir arbeiten für das, was wir wollen. Wir sagen immer, dass
man kein Recht hat, ohne Anstrengung zu hoffen, also
versuchen wir, die Situation zu erarbeiten, die notwendig für das Land ist. Und wir sind überzeugt, dass wir
früher oder später an den Verhandlungstisch kommen
werden.“
Ich denke, ich spreche für alle Mitglieder des Deutschen Bundestages, wenn ich sage, dass wir uns über die
Öffnung von Myanmar hin zu einem Prozess der Demokratisierung und zur internationalen Gemeinschaft
freuen. Das wird sicher ein langer und schwieriger Prozess sein. Wir werden ihn kritisch begleiten und ihn, so
gut es geht, unterstützen.
Dabei steht Myanmar nach dem bemerkenswerten
Paradigmenwechsel, der mit den Wahlen 2010 begonnen hat, vor großen Herausforderungen. Schon der vom
neuen Präsidenten Thein Sein ausgesprochene Anspruch einer umfassenden Transformation des Landes
zeigt, dass die anstehenden Aufgaben ernst genommen
werden müssen. Wichtig für uns Grüne ist, dass die ökonomische Öffnung nicht nur wachstumsgetrieben sein
wird, sondern dass Wohlstand und Lebensqualität der
Bevölkerung vor Ort steigen werden. Der Reformprozess
muss ökologisch und sozial nachhaltig sein und demokratisch erfolgen.
Mit der begonnenen Liberalisierung des Wirtschaftssektors und von Teilen der Medien hat die Militärregierung erste positive Maßnahmen zur Öffnung des Landes
eingeleitet. In beiden Bereichen gibt es gleichwohl weiter Handlungsbedarf. Ähnliches gilt für den zentralen
Baustein der Demokratie, die Wahlen. Während 2010
noch Wahlen stattfanden, die von großen Teilen der heutigen Opposition im Land boykottiert wurden, fanden im
April 2102 Wahlen statt, bei denen es zwar immer noch
zu Behinderungen der Opposition gekommen war, die
aber dennoch zu einem Erfolg der größten Oppositionspartei um Aung San Suu Kyi, der Nationalliga für
Demokratie, NLD, führten. Dabei dürfen Klagen der
NLD über einzelne Schikanen nicht unerwähnt bleiben.
Die Nachwahlen waren aber auch deshalb ein Erfolg,
weil ihnen direkte Gespräche zwischen Thein Sein und
Aung San Suu Kyi vorausgingen.
Politiker aus anderen Staaten, da schließe ich besonders die westlichen Demokratien ein, dürfen aber nicht
den Fehler machen, die Opposition in Myanmar auf
Aung San Suu Kyi und ihre Partei zu beschränken.
Unterstützung verdienen auch die vielen ethnischen
Parteien des Landes, die sich oft nicht angemessen von
der NLD vertreten fühlen. Der Dialog sollte auch mit
diesen Parteien gesucht werden. Nur so lassen sich die
ethnischen Konflikte im Land lösen. Dazu muss bei der
Regierung wie bei der NLD dafür geworben werden, die
ethnischen Konflikte nicht zu ignorieren und einen freien
Staat für alle Volksgruppen zu schaffen. Erste Anstrengungen zur Befriedung des Landes, etwa durch Gespräche mit den Minderheiten im Norden des Landes, erkennen wir an.
Beim Thema Wirtschaft ist für uns Grüne zentral,
dass wir die Entwicklung Myanmars und das Wohl der
Bevölkerung in den Vordergrund stellen und das Feld
nicht internationalen Unternehmen überlassen, die auf
Kosten von Beschäftigten und Umwelt ihre Produktivität
steigern wollen. Das Land braucht ein Gesetz, das faire
und ausgewogene Investitionen ermöglicht und Fehlentwicklungen verhindert. So ist zum Beispiel Land Grabbing, also die aggressive Übernahme von Land durch
Oligarchen oder Konzerne, ein sehr ernstes Problem. In
Kambodscha sehen wir, welche negativen Folgen die
Landnahme für die einfache Bevölkerung, oft Bauern,
haben kann. Hier müssen wir Strategien entwickeln und
Hilfestellung geben, die diese Entwicklung in Myanmar
verhindert. Zunächst fordern wir die Regierung von
Myanmar auf, bekannte Fälle von Landnahme zu untersuchen und im Sinne ihrer Bevölkerung zu lösen.
Auch die Ausbeutung der Rohstoffe in Myanmar ist
für uns Grüne ein zentrales Thema. Der Rohstoffreichtum von Myanmar darf nicht zu einem Fluch für das
Land werden. Besonders hier können die internationale
Staatengemeinschaft und die Bundesrepublik Einfluss
Zu Protokoll gegebene Reden
nehmen, um eine positive Entwicklung für Myanmar und
seine Bevölkerung zu ermöglichen. Wir sollten nicht
Staatskonzernen aus Schwellenländern das Feld überlassen, die häufig die Ausbeutung von Rohstoffen als
erstes Ziel verfolgen und die keine Rücksicht auf Umwelt
und Bevölkerung nehmen.
Wir können Myanmar dadurch unterstützen, dass wir
weitere Wertschöpfungsstufen im Land ermöglichen und
aufbauen. Dazu können beispielsweise die deutschen
Außenhandelskammern beitragen. So würden vor Ort
Arbeitsplätze geschaffen und die Rohstoffe könnten regional verwertet werden. Die Einhaltung von Umweltstandards ist auch hier unerlässlich. Ansonsten würde
der Rohstoffabbau zwar zu einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung führen, die aber durch Umweltschäden und den Verlust an Lebensqualität kompensiert
würde. Positiv zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass die
Regierung von Myanmar angekündigt hat, sich an der
Initiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft,
EITI, zu beteiligen.
Weitere Möglichkeiten zur Unterstützung des Reformprozesses bestehen in der Förderung der Bildung vor
Ort. Die Hilfe beim Aufbau eines funktionierenden Bildungssystems ist dabei klassische Aufgabe von Entwicklungszusammenarbeit. Vor dem Hintergrund des dualen
Ausbildungssystems in der Bundesrepublik können wir
hier wertvolle Hinweise zu geeigneten Ausbildungsstrukturen geben. Außerdem können wir einzelne Projekte fördern, die vor Ort Schulen unterstützen oder aufbauen.
Beim Thema Bildung muss auch der Austausch zwischen den Ländern angesprochen werden. Bei der Vergabe von Visa wird in der Bundesrepublik eher auf die
Herkunft einer Person geachtet, weniger auf den Grund
seines Aufenthaltswunsches. Es wäre begrüßenswert,
wenn wir mehr Menschen eine Ausbildung hier ermöglichen könnten. So können neue Erfahrungen mit anderen
demokratischen Systemen ermöglicht werden, und
erworbenes Wissen kann in Myanmar weitergegeben
werden. Leider ist die Visavergabe der Bundesrepublik
hier noch immer zu restriktiv.
Ich möchte entschieden für eine stärkere Rolle der
Bundesrepublik beim Reformprozess in Myanmar werben. Dieser wurde durch die Kabinettsumbildung im
August bestätigt. Wir sollten das an dieser Stelle würdigen und den Prozess kritisch begleiten. Wir haben eine
Vielzahl von Möglichkeiten zur Unterstützung der Menschen vor Ort und zur Hilfe beim Aufbau demokratischer Strukturen, die ökologische und soziale Belange
berücksichtigen. Deswegen kann ich nicht verstehen,
warum weder die Koalition noch die Partei Die Linke
unseren Antrag oder den der SPD unterstützt. Deswegen
stimmen wir gegen die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses, die eine Ablehnung unserer Anträge fordert.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/10903.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9727. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9739.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 38:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Ingo Egloff, Dr. Hans-Peter Bartels,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kein Port Package III auf Kosten von Arbeitsplätzen und Sicherheit
- Drucksache 17/11147 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.
Als Abgeordneter des Wahlkreises, in dem der einzige
deutsche Tiefwasserhafen liegt, danke ich meinen sozialdemokratischen Kollegen herzlich für die Gelegenheit,
hier einige Missverständnisse zu beseitigen und Fakten
zu nennen. Mögen auch Sie, meine Damen und Herren
von der SPD, davon profitieren!
In den letzten Jahren hat die Europäische Kommission zwei Entwürfe von Richtlinien vorgestellt, die tief in
die deutsche Hafenwirtschaft eingegriffen hätten. Mit
diesen Vorhaben konnte sich die Europäische Kommission - meiner Meinung nach völlig zu Recht - nicht
durchsetzen.
Ziel dieser Entwürfe war es, den Wettbewerb zu steigern: einerseits den Wettbewerb zwischen den großen
europäischen Häfen, andererseits aber auch den Wettbewerb innerhalb der Häfen. Mit diesen Entwürfen wollte
die EU-Kommission die Effizienz erhöhen, die Preise reduzieren und so den Im- und Export verbilligen. Dies
sind Ziele, denen man als Ordnungspolitiker nur zustimmen kann.
Dennoch lohnte sich - wie immer im Leben - ein intensiver Blick auf das Kleingedruckte: Diese Ziele sollten durch die Ausschreibung von Leistungen und die befristete Vergabe von Konzessionen erreicht werden.
Grundsätzlich sind dies sicherlich Maßnahmen, die in
vielen Fällen zur Erreichung der genannten Ziele sehr
geeignet sind. Fraglich ist aber, ob das, was auf anderen
Gebieten gut ist, auch der Hafenwirtschaft, das heißt
den Unternehmen und den Beschäftigten, und der Volkswirtschaft nützt. Wir müssen genau hinschauen, damit
das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird.
Auf deutscher Seite gab und gibt es breiten Konsens
darüber, dass es hier keines Eingriffs der Europäischen
Kommission bedarf. Dieser Konsens wird von der Bundesregierung, den Küstenländern - hier insbesondere
Niedersachsen -, der Hafenwirtschaft und den Gewerkschaften getragen.
Die damaligen Überlegungen der Kommission sahen
vor, dass Hafengebiete, so zum Beispiel die Terminals,
maximal für 46 Jahre verpachtet werden sollten.
Danach sollte dann eine neue Ausschreibung erfolgen,
sodass auch Dritte die Chance erhalten sollten, unternehmerisch in Häfen aktiv zu werden, in denen sie bisher
nicht vertreten waren.
Diese Überlegungen sind grundsätzlich zwar recht
vernünftig, bergen im konkreten Fall aber enorme Risiken: Als zentrales Glied der weltumspannenden Logistikkette müssen die deutschen Häfen immer auf dem neuesten Stand der Technik sein. Wer nicht modernisiert,
verliert!
Wären die damaligen Überlegungen der Kommission
realisiert worden, hätte die Gefahr bestanden, dass
Pächter in den letzten Jahren ihrer Pachtperiode nicht
oder nicht mehr ausreichend in die Anpassung der Hafenanlagen an den Stand der Technik investiert hätten.
Unsere Häfen wären daher im internationalen Wettbewerb zurückgefallen. Dies hätte nicht nur dem Hafenstandort Deutschland, sondern unserer Volkswirtschaft
insgesamt nachhaltigen Schaden zugefügt.
Zweifelhaft ist aus meiner Sicht noch heute, ob diese
Vorschläge zu einer Verbilligung des Güterumschlags
geführt hätten. Am Ende der Pachtperiode hätte der
Pächter die von ihm finanzierte Infrastruktur gratis oder
zu einem moderaten Preis dem Nachfolger überlassen
müssen. Diesen finanziellen Nachteil hätte ein wirtschaftlich handelndes Unternehmen natürlich über die
Jahre auf die Kunden abgewälzt.
Ferner überlegte die Kommission damals, den Reedern zu gestatten, ihre Schiffe selbst abzufertigen. Dies
brachte damals nicht nur die Gewerkschaften auf, sondern wurde schon in der Behandlung im Europäischen
Parlament gestrichen.
Die damaligen Vorstöße der Kommission firmierten
unter den Begriffen Port Package I und Port Package II.
Vielen der Beteiligten ist heute noch der Begriff Port
Package in schlechter Erinnerung, bei einigen weckt er
sogar soziale Horrorvorstellungen.
Nichts liegt näher, als den eisigen Wind des Kapitalismus und der zügellosen Liberalisierung zum Antrieb eines ansonsten lahmen Oppositionsschiffs zu nutzen. Das
ist auch sehr verständlich, wenn man sonst weder Argumente noch Ideen hat.
Auch wenn es in Oppositionskreisen unpopulär ist, so
muss doch eines klargestellt werden: Port Package III
gibt es nicht und wird es auch nicht geben. Wer diesen
Begriff heute noch für seine politische Arbeit nutzt, verunsichert die Menschen. Es ist aber nicht seriös, Ängste
zu schüren, um im politischen Wettbewerb mithalten zu
können.
Worum geht es in Wahrheit? Die Kommission möchte
nach wie vor Rahmenbedingungen schaffen, um das
Wachstum der europäischen Seehäfen und ihrer Hafenwirtschaft zu unterstützen. Vor etwas mehr als einem
Jahr hat Verkehrskommissar Kallas in Rotterdam angekündigt, im Jahr 2013 neue Vorschläge für den Hafensektor vorzulegen.
Diese Vorschläge betreffen den Bürokratieabbau in
den Häfen, die Verbesserung der Transparenz bei der
Finanzierung von Häfen im Interesse eines fairen Wettbewerbs, die Schaffung einer Grundstruktur für die Ausbildung der Hafenarbeiter, administrative - insbesondere zollrechtliche - Erleichterungen.
Diese Punkte werden in dem Antrag der SPD entweder gar nicht angesprochen oder mit einem weiteren,
den ich bisher noch nicht genannt habe, vermengt. Die
Kommission möchte in Bezug auf die Erbringung von
Hafendienstleistungen ein wettbewerbsorientiertes und
offenes Umfeld gewährleisten. Dies soll auch für technisch-nautische Dienste, so das Seelotsenwesen, gelten.
Es ist daher auch nur natürlich, dass die Überlegungen
der Kommission schon im Vorfeld Lobbyisten aktivieren.
Ich finde es immer sehr bedauerlich, wenn sich politische Parteien zu Handlangern einer kleinen Gruppe
von Pfründeinhabern machen. Klientelparteien sind
Randgruppenvertreter. Dies zeigt sich an den Umfragewerten der SPD deutlich.
Bezeichnend dafür ist der Reflex der SPD, jede Veränderung mit einer Verschlechterung gleichzusetzen. In
dem Antrag wird folgerichtig auch ausgeführt, dass
durch die Einführung des Wettbewerbs im Lotsendienst
Kostennachteile und ein Verlust an Sicherheit und
Schutz für die Küstengewässer und die maritime Umwelt
drohen. Dumpinglöhne und eine Verschlechterung der
Arbeitsqualität gingen zulasten von Qualitätsmerkmalen
wie Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Arbeitsqualität.
Dies ist zu einfach. Gute Bezahlung allein bewirkt noch
lange keine hochwertige Arbeit. Das beste Beispiel dafür ist Ihr Kanzlerkandidat.
Charakteristisch ist auch, dass Sie in Ihrem Antrag
zwischen dem kleinteiligen Lotswesen in Deutschland
und privaten Unternehmen unterscheiden. Das sind
keine Gegensätze - auch die freiberuflich tätigen Lotsen
sind private Unternehmer. Das sollen sie auch bleiben.
Ich selbst komme von der Küste und weiß, dass die
deutschen Lotsen gute Arbeit, ja, verdammt gute Arbeit
leisten. Ich weiß auch, dass sie sich der Sicherheit der
Schifffahrt und dem Schutz von Mensch und Umwelt
verpflichtet sehen. Das ist so; darüber kann man nicht
diskutieren.
Etwas befremdend finde ich allerdings, dass in diesem Antrag - wie auch schon in der Stellungnahme des
Bundesverbandes der See- und Hafenlotsen vom April suggeriert wird, dass die Seelotsen die Mutter Theresa
Zu Protokoll gegebene Reden
der Schifffahrt und der Umwelt seien. Ich denke, dass
dies kein guter Tipp aus dem Buch „Lobbyismus für Anfänger“ war.
Die zentrale Frage, die wir uns bei der Behandlung
dieses Komplexes stellen müssen, haben sich die Kollegen von der SPD gar nicht gestellt: die Unabhängigkeit
der Lotsen. Es ist klar, dass Berufe, die in einem so großen Maße wie der des Lotsen sowohl der Aufrechterhaltung der Sicherheit im Seeverkehr als auch der Sicherung desselben dienen, im Interesse der Allgemeinheit
nicht weisungsgebundene Dienstleister ihrer Auftraggeber sein dürfen. Die fachliche Autorität und Unabhängigkeit des Lotsen aufgrund seiner Qualifikation muss
gegenüber dem Auftraggeber, den Hafenbehörden und
den Reedereien auf jeden Fall gewährleistet sein. Daran
kann es keinen Zweifel geben!
Wir werden in einem intensiven Diskussionsprozess
herausarbeiten müssen, ob diese Unabhängigkeit tatsächlich nur durch die gegenwärtige Struktur des Lotswesens garantiert werden kann oder ob nicht auch auf
diesem Gebiet andere Organisationsformen möglich
sind. Sie sehen, ich stehe der Frage sehr offen gegenüber.
Die Materie ist komplex. Ich denke, dass eine sachliche Diskussion erst dann zielführend ist, wenn die
Vorschläge der Kommission ausgearbeitet sind. Dann
wissen wir alle, worüber wir eigentlich sprechen.
Für uns ist klar, dass wir konstruktiv und kritisch bei
der Gestaltung von Einzelmaßnahmen zur Verwirklichung der Pläne der Kommission mitwirken werden. Die
Bundesregierung wird auf jeden Fall auch weiterhin in
Zusammenarbeit mit den Küstenländern und den Betroffenen starke nationale Impulse auf europäischer Ebene
setzen, damit ausgewogene, zukunftsfähige Lösungen
mit dem erforderlichen Augenmaß gefunden werden.
Die dem Thema gebührende intellektuelle Differenziertheit und Unabhängigkeit geht diesem Antrag, der in
seiner Diktion doch sehr an die Stellungnahme des Bundesverbandes der See- und Hafenlotsen erinnert, leider
völlig ab. Wäre er eine Doktorarbeit, beschäftigte er mit
Sicherheit die Plagiatsjäger.
Was so kurz greift, kann nur abgelehnt werden.
Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion spricht
sich im Wesentlichen gegen das Port Package III aus.
Gemäß der Auffassung der Sozialdemokraten würde ein
Port Package III Arbeitsplätze und auch die Sicherheit
der Hafenmitarbeiter wesentlich gefährden. Da es die
SPD - wie üblich - mit der Angst zu tun bekommt,
sobald sie das Wort „Liberalisierung“ liest, hört oder
sobald sie auch nur gemeint hätte, jemand hätte solcherlei Absichten, bittet sie nun in ihrem Antrag darum, etwas abzulehnen, von dem wir in konkreter Form noch
gar nicht wissen, was darin stehen wird.
Denn nachdem die Port Packages I und II in der Vergangenheit - zurecht - an dem Veto des Europaparlamentes scheiterten, ebbten Stimmen, die eine einheitliche
Rechtsschaffung zu den Themen der Dienstleistungskonzessionen im Bereich der Hafenwirtschaft fordern, trotzdem nicht ab. Die Kommission hat sich bisweilen in
verschiedenen Workshops und Konsultationsverfahren
notwendige Meinungen und Eckdaten der Betroffenen
eingeholt, um die Ideen zur Liberalsierung des Marktzugangs zu verbessern. Ob dies gelungen ist, kann natürlich erst dann beurteilt werden, wenn die Maßnahmen
auch vorliegen. Nachdem die EU-Kommission bereits
im Jahr 2011 angekündigt hatte, ihre Vorschläge zu
überarbeiten, ist nun beabsichtigt, ein Bündel von Maßnahmen im nächsten Jahr vorzustellen. Diese sollen sodann vor allem den Bürokratieabbau in Häfen, eine bessere
Transparenz bei der Finanzierung sowie eine Grundstruktur zur Ausbildung von Mitarbeitern enthalten.
Solange diese konkreten Vorschläge nicht vorliegen,
werden wir nichts ablehnen können. Der Antrag der
SPD-Fraktion ist dementsprechend vollkommen unangebracht und soll lediglich ihre Klientel beruhigen. Dabei kann ich Ihnen fest versichern, dass wir die Bedenken der Küstenländer, der Hafenmitarbeiter und des
Zentralverbandes der deutschen Seehafenbetriebe sehr
ernst nehmen. Ich kann Ihnen ebenso versichern, dass
wir ein Port Package III ablehnen werden, wenn es
im Wesentlichen so gestaltet sein sollte wie die Port
Packages I und II. Denn weder aus Sicht der Hafenwirtschaft noch aus Sicht der Bundesregierung ist eine
Regulierung des Wettbewerbes der Häfen momentan
zwingend und unter allen Umständen notwendig. Einwände und Bedenken zur Konzessionsregelung müssen
und werden daher auch Berücksichtigung finden.
Dennoch begrüße ich den grundsätzlichen Ansatz dahin gehend, faire und transparente Wettbewerbsbedingungen in und zwischen den Häfen schaffen zu wollen.
Ich stehe den für 2013 vorgesehenen Beihilfeleitlinien
durch die Kommission daher von Grund auf offen gegenüber. Allerdings lehne ich jedweden Vorschlag, der
dazu führt, die Dienstleistungsqualität und den Arbeitsschutz der Häfen zu verschlechtern, ab.
Es ist unsere Aufgabe, uns für eine nachhaltige Hafenpolitik innerhalb der Europäischen Union einzusetzen. Daher bitte ich Sie, abzuwarten, bis die Kommission
das Port Package III überhaupt vorstellt. Momentan bin
ich persönlich allerdings noch nicht davon überzeugt,
dass es ein Port Package III in dem Sinne überhaupt geben wird. Davon einmal abgesehen, wird die Kommission im nächsten Jahr einige Vorschläge vorlegen. Sobald uns eine konkrete Initiative vorliegt, werden wir
uns konstruktiv, gewissenhaft und kritisch damit auseinandersetzen und diese zum entsprechenden Zeitpunkt
beraten. Momentan sollte der Deutsche Bundestag aber
nichts ablehnen, das noch nicht existiert und was wir
alle noch nicht kennen. Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion ist daher in jedem Fall abzulehnen.
Nach zwei vergeblichen Anläufen startet die Europäische Kommission jetzt - entgegen ihren bisherigen
Bekundungen - erneut eine Initiative zur Liberalisierung der Hafendienste in Europa - obwohl Port
Zu Protokoll gegebene Reden
Package I und II in den Jahren 2003 und 2006 am vereinten Widerstand von Hafenwirtschaft, Gewerkschaften
und SPD kläglich gescheitert sind. Auch im dritten
Anlauf hält die Kommission an ihrem Ziel fest: Wettbewerb, Qualität und Flexibilität fördern - und nebenbei auch noch Kosten senken.
Doch mit der angekündigten Initiative wird Brüssel
nur das Gegenteil erreichen: Wettbewerbsverzerrungen,
Qualitätseinbußen, mangelnde Planbarkeit und erhöhte
Kosten.
Mit der erneuten Initiative der Generaldirektion
Mobilität und Verkehr sowie Wettbewerb sollen unter
anderem der Marktzugang für die Hafenarbeit sowie die
technisch-nautischen Dienste neu geregelt werden: Konzessionen für den Hafenumschlag, für Lotsendienste
oder Schlepper könnten damit künftig nur noch befristet
vergeben werden. Entsprechende Vorschläge sollen
noch in diesem Jahr auf dem Tisch liegen.
Dabei gibt es keinen Regelungsbedarf, weder im
Umschlagsbereich noch bei den Lotsendiensten. Das ist
auch das Ergebnis einer Fragebogenaktion der Kommission unter Vertretern der Hafenwirtschaft. Mehr
noch: Die Kommissionspläne sind schädlich, stellen sie
doch einen massiven Eingriff in bewährte Strukturen
dar.
Die Wertschöpfung in den Seehäfen hängt ganz
wesentlich von der Ausbildung und Qualifizierung der
Arbeitskräfte in der Hafenwirtschaft ab. Dazu leisten in
Deutschland die Gesamthafenbetriebsvereine einen
wichtigen Beitrag - moderne Personaldienstleister, die
mit gut ausgebildetem Personal alle im Hafen anfallenden Tätigkeiten übernehmen, die Situation vor Ort
genau kennen und Beschäftigte je nach Bedarf qualifizieren.
Noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war es üblich, dass die Stauer erst beim Einlaufen eines Schiffes
stunden- oder tageweise für die Arbeit im Hafen anheuerten. Die Folge: Einige Schiffe mussten warten, weil
sich alle Stauer zunächst auf ein oder zwei Schiffe
konzentrierten. Diese Unsicherheit auf beiden Seiten ist
längst Vergangenheit. An die Stelle der ungelernten
Hafenarbeiter sind längst Hafenfacharbeiter getreten,
und der Wandel im Hafenumschlag und die Einrichtung
der Hafenbetriebsvereine hat auch dazu geführt, dass
die Unfallgefahren bei der Hafenarbeit - traditionell
eine der unfallträchtigsten Tätigkeiten - deutlich abgenommen haben. Diese Errungenschaften gilt es zu
bewahren.
Wenn die Kommission künftig die Selbstabfertigung
durch Land- und Bordpersonal der Reeder zulassen will,
heißt das nichts anderes, als das Monopol von Hafenarbeitern auf das Be- und Entladen von Schiffen abzuschaffen. Die Pläne der Europäischen Kommission
würden dazu führen, dass die Zahl der Hafendiensteanbieter in Europa abnimmt und verstärkt Dienstleister
aus Häfen außerhalb der EU in die Märkte eindringen.
Die Folge: ein knallharter Verdrängungskampf durch
Monopolisten, in dem die europäischen Seehäfen und
vor allem die Beschäftigten der Hafenwirtschaft das
Nachsehen hätten. Doch Dumpinglöhne und schlechte
Arbeitsbedingungen in den Häfen, die am Ende zulasten
von Zuverlässigkeit, Schnelligkeit, Sicherheit und Arbeitsqualität und auf Kosten der Beschäftigten gehen,
können wir uns nicht leisten.
Teuer könnten am Ende auch die Kommissionspläne
zur Öffnung der Lotsdienste werden. Die Einführung
von Wettbewerb in diesem sensiblen Bereich würde die
Lotsen dazu zwingen, ihre Aufgaben künftig allein unter
kommerziellen Aspekten zu erledigen. Das kann nicht im
Interesse der maritimen Sicherheit und des Meeresschutzes sein. Der Nutzen der Seelotsen lässt sich nur
schwer bemessen. Klar ist jedoch: Die Kosten einer
maritimen Katastrophe wären immens.
Gerade die Revierfahrt im sensiblen Küstengewässer
macht die Begleitung durch gut ausgebildete, ortskundige Lotsen unverzichtbar. Sie bilden ein wichtiges
Glied der Sicherheitskette in unserem Verkehrssystem.
Eine Kommerzialisierung der Lotsdienste und eine
Ausschreibung und Vergabe der Dienste an private
Unternehmen würde diese Sicherheitsarchitektur infrage stellen. Sicherheit auf See darf aber nicht einem
vermeintlichen Kostendruck zum Opfer fallen. Eine
Politik der uneingeschränkten Privatisierung, wie sie
die Kommission offenbar verfolgt, ist der falsche Weg.
Für eine zukunftsgerichtete maritime Politik gibt es
aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion klare Leitlinien und daran muss sich auch die Europäische Kommission
bei ihren weiteren Schritten messen lassen:
Öffnung des Marktes ja, aber kein Ausverkauf des
europäischen Standorts.
Wettbewerb ja, aber nur dort, wo er ökonomisch sinnvoll, sozial verträglich und sicherheitspolitisch vertretbar ist.
Die Bundesregierung muss auf europäischer Ebene
darauf hinwirken, dass eine entsprechende Initiative der
Kommission diese Kriterien berücksichtigt - im Interesse des maritimen Standorts und der Beschäftigung in
den deutschen Häfen.
Bereits in den letzten Jahren hat es vonseiten der
Europäischen Kommission Initiativen gegeben, ein Port
Package I und II als Instrument europäischer Wettbewerbspolitik einzuführen. Schon bei diesen beiden
Versuchen gab es heftigen Widerspruch von der Bundesregierung und den Küstenländern, unabhängig von der
politischen Färbung. Beide Initiativen wurden letztendlich und richtigerweise vom Europäischen Parlament
gestoppt. Schon heute arbeiten die Häfen der Nordrange
unter den schärfsten Wettbewerbsbedingungen der Welt.
Hier gibt es aus unserer Sicht keinen zusätzlichen Handlungsbedarf.
Die Kommission aber scheint bis heute an ihren Bestrebungen zur wirtschaftlichen Regulierung des Hafensektors festzuhalten. Aktuell arbeitet sie an Vorschlägen
zur Hafenpolitik, die im Laufe des nächsten Jahres vorgestellt werden sollen. Es ist immer noch offen, in welZu Protokoll gegebene Reden
http://de.wikipedia.org/wiki/Stauer
http://de.wikipedia.org/wiki/Einlaufen
http://de.wikipedia.org/wiki/Stauer
cher Rechtsform diese Vorschläge kommen werden: entweder als verbindlicher Gesetzesvorschlag oder nur als
Leitlinie oder Mitteilung.
Wir als FDP vertreten in dieser Frage seit Jahren eine
eindeutige Meinung. Wir haben Port Package I und II
immer abgelehnt und wollen auch kein drittes Paket geschnürt sehen. Insbesondere lehnen wir ein verpflichtendes Ausschreibungsverfahren für Dienstleistungen des
Hafenumschlags ab und wollen nicht, dass das Lotswesen als nichtkommerzielle Dienstleistung von der Kommission reguliert wird. Auch ein Bestandsschutz laufender Verträge muss gewährleistet bleiben.
Für uns war in dem Zusammenhang immer wichtig,
dass, wenn ein Betreiber nach Ablauf seiner neu vergebenen Lizenz im Rahmen der dann notwendigen Ausschreibung unterliegt und die Lizenz verliert, der Neubetreiber an den Altbetreiber eine Abfindung bezahlen
muss. Diese muss auf den Grundsätzen der betriebswirtschaftlichen Unternehmensbewertung beruhen und unter Einschluss des Goodwill.
Die Kommission sah in ihren vorherigen Anläufen
hier keine Abfindung vor, und dies wäre ein Eingriff in
den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gewesen, mithin ein enteignungsgleicher Eingriff.
Im Moment sieht es aber so aus, dass die Kommission
erst einmal Informationen sammelt und den Dialog mit
den Interessenvertretern sucht. Das finde ich grundsätzlich erst einmal positiv.
Aber dennoch habe auch ich bei der Eröffnungsrede
von Herrn Kallas anlässlich der Hafenkonferenz letzten
Monat ganz genau zugehört. Seine Bemerkung, dass bei
Hafendienstleitungen die mangelnde Auswahl an Anbietern für den Hafenumschlag ein Problem sei - vor allem
weil oft nur ein Anbieter zur Verfügung stünde -, hat
mich hellhörig gemacht.
Sehr geehrte Damen und Herren der SPD, in Ihrem
Antrag stehen viele richtige Sachen, die ich absolut unterstütze. Dennoch halte ich nicht viel davon, Anträge
über Sachverhalte zu beraten, deren konkreten Inhalt
wir heute noch gar nicht kennen. Aber auch wir werden
die Entwicklungen in Brüssel im Sinne unserer deutschen Häfen ganz genau beobachten.
50 000 Hafenarbeiter in zwölf europäischen Ländern
protestieren gleichzeitig gegen die „Europäische Richtlinie über den Marktzugang für Hafendienstleistungen“
und legen ihre Arbeit nieder. Das war 2006. Am 10. und
11. Januar standen in den europäischen Häfen die
Kräne still. Es war der Höhepunkt einer europaweit koordinierten Streikserie, die eine Woche später zum
Scheitern des sogenannten Port Package II führte. Das
Europäische Parlament lehnte die marktradikalen Pläne
der Kommission mit großer Mehrheit ab. Verdi bezeichnete die geplante Richtlinie als Frontalangriff auf die
Hafenarbeiter, sie gefährde die Leistungsfähigkeit der
Häfen und bedrohe Tausende Hafenarbeitsplätze. Darin
war unter anderem vorgesehen, dass die Seeleute künftig
selbst die Ladung ihrer Schiffe löschen sollten, Lotsen-,
Schlepper- und Abfertigungsdienste nur noch an zeitlich
befristete Konzession gebunden werden, die europaweit
ausgeschrieben werden sollten. Damit würde ein europaweiter sozialer Dumpingwettbewerb in Gang gesetzt.
Bereits Anfang 2001 unternahm die Kommission hierzu
einen ähnlichen Versuch, der nach den damals größten
Demonstrationen in der Geschichte der europäischen
Hafenarbeiter am 20. November 2003 scheiterte.
Eine erneute Initiative der Kommission in diesem
Bereich halten auch Wirtschaftsverbände wie der Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe, ZDS, für
völlig unverständlich. Auch die Stellungnahmen der
Bundesregierung und der deutschen Küstenländer sprachen sich gegen eine Deregulierung in der Hafenwirtschaft aus. EU-Generaldirektor Matthias Ruete hat
kürzlich erklärt, dass Verkehrskommissar Siim Kallas
bis zum 15. November konkrete Vorschläge zur europäischen Hafenpolitik präsentieren werde, ein Port Package III aber nicht beabsichtigt sei. Falscher Alarm?
Leider nicht. Auch wenn es ein Port Package III offiziell
nicht geben soll, heißt das nicht, dass die EU Kommission von ihren Plänen Abstand genommen hätte im Gegenteil. Sie hat nur gelernt, dass sie mit einer dritten
Neuauflage dieses Hafenpaktes erneut gegen die Wand
laufen würde. Daher sollen die gleichen Ideen einfach
unter anderem Namen umgesetzt werden. Eines davon
ist die EU-Richtlinie für die Konzessionsvergabe. In verschiedensten Dienstleistungsbereichen, auch der öffentlichen Daseinsvorsorge, soll hier die Vergabe von Konzessionen europaweit geregelt werden, auch im Bereich
der Häfen. Damit droht der Konkurrenzkampf zwischen
den Hafenstädten der EU nun auch in die einzelnen Häfen getragen zu werden. Damit soll zum Beispiel erreicht
werden, dass die Flächen auf den Kais in den Häfen regelmäßig öffentlich ausgeschrieben werden müssen, um
mehr Konkurrenz unter den Umschlagsbetrieben zu erreichen. Die jeweils unterlegenen Terminalbetreiber
müssten dann jedoch ihre dort errichteten Anlagen an
die siegreichen Konkurrenten verkaufen.
Ähnliche Konsequenzen würden auf Lotsen,
Schlepperbetriebe und andere Dienstleister zukommen.
Derartige Regelungen würden Investitionen hemmen,
Arbeitsplätze gefährden und den Seehafenstandort
Europa schwächen. Die deutschen Häfen sind bislang
mit einem blauen Auge davongekommen, da deren Fläche meist via Miet- und Pachtverträge und nicht über
Konzessionen vergeben werden. Die Richtlinie würde
dort nicht greifen, doch dies kann jederzeit verschärft
werden.
In Südeuropa wird bereits gestreikt. Seit Ende letzten
Monats haben Hafenarbeiter der staatlichen portugiesischen Häfen die Arbeit niedergelegt. Der Protest richtet
sich gegen die umstrittenen Pläne der konservativen
Regierung unter Pedro Passos Coelho und die ihr unterstehende Hafenbehörde, die Arbeitsbedingungen in den
Häfen zu liberalisieren. Die Europäischen Transportarbeiter-Föderation, ETF, warnte davor, dass der Angriff
auf die Hafenarbeit in Portugal ein Vorgeschmack auf
die künftigen Entwicklungen sei und einen konzertierten
Versuch der EU-Kommission zur weiteren Liberalisierung des europäischen Hafensektors darstelle. Sie erZu Protokoll gegebene Reden
klärten der Kommission am runden Tisch zu maritimen
Angelegenheiten in Casablanca ({0}), dass sie die
Einführung eines Hafenpakets III durch die Hintertür
nicht dulden werde. Der aktuelle Streik könne demnach
noch bis Dezember andauern, wenn keine Einigung mit
der Regierung gefunden wird. Für den 14. November ist
ein länderübergreifender Generalstreik in Spanien und
Portugal angekündigt, als Protest gegen die europäische Wirtschaftspolitik und die verhängten Sozialkürzungen.
Ein Port Package III durch die Hintertür darf es
nicht geben. Alle bisherigen Erfahren haben gezeigt,
dass jegliche Versuche, Regelungen auf europäischer
Ebene gegen die Interessen der Beschäftigten in den
Häfen durchzusetzen, auf den erbitterten Widerstand der
Betroffenen treffen und scheitern. Eine Liberalisierung
von Hafendienstleistungen, führt zu nichts anderem als
weiterem Lohndumping. Was wir brauchen, sind verbindliche soziale Mindeststandards und verlässliche
Rahmenbedingungen für die Hafenbetriebe. Wir brauchen eine intelligente Kooperation zwischen den einzelnen Hafenstandorten und keine blinde Konkurrenz um
Güterumschlagsmengen. Dafür bedarf es einer stärkeren nationalen Koordinierung, um einen zielgenauen
Ausbau der Hafenhinterlandinfrastruktur zu erreichen
und um die zukünftige Güterumschlagsentwicklung und
Spezialisierung der Seehäfen stärker zu lenken.
Die Linke fordert: keine weiteren Deregulierungen
und Liberalisierungen unserer Häfen, insbesondere
keine Neuregelungen von Konzessionsvergaben für
Hafenumschlag, Schlepper- und Lotsendienste sowie
andere technisch-nautische Dienstleistungen.
Bei der Diskussion um das Port Package, also Rege-
lungen für Dienstleistungen in den Seehäfen Europas,
habe ich ein Déjà-vu: In regelmäßigen Abständen ver-
sucht die EU-Kommission immer wieder, insbesondere
die Wettbewerbsbehörde, mit großer Energie, den Mit-
gliedstaaten Gesetzespakete aufzudrücken.
Bereits in den Jahren 2003 und 2006 sind die Gesetzes-
vorhaben der EU-Kommission bei den entscheidenden
Abstimmungen im EU-Parlament gescheitert, zu Recht,
wie ich finde.
Jetzt prescht die SPD-Fraktion mit einem Antrag vor.
Dieser kommt viel zu früh, Herr Kollege Beckmeyer von
der SPD; denn wir wissen ja noch gar nicht, welche Vor-
schläge die EU-Kommission uns diesmal unterbreitet.
Die Debatte um ein Port Package III muss deswegen
zwangsläufig im Ungefähren bleiben. Wir können der-
zeit nur spekulieren, was uns die Kommission vorlegen
wird.
Daher kann ich an dieser Stelle nur hypothetische
Vermutungen anstellen, nach dem Motto: Was wäre,
wenn?
Wir müssen abwarten, was uns die EU-Kommission
vorlegt. Aber für mich gilt: Ein neues Port Package zu-
lasten der Bedingungen der Hafenarbeiter und zulasten
der Seesicherheit wird unsere Zustimmung nicht bekom-
men!
In den bisherigen Port Packages ging es jedes Mal
um vergleichbare Inhalte. Bliebe es bei den alten Vor-
schlägen, wären viele Bereiche in den Häfen betroffen.
Zwar ist es die bekannte und auch nachvollziehbare
Absicht der EU-Kommission, einen einheitlichen
Rechtsrahmen zu schaffen. Aber sie stellt damit alle be-
reits bestehenden, auch historisch gewachsenen Struktu-
ren in den Häfen unter Vorbehalt - und dies in den meis-
ten Fällen ohne Notwendigkeit.
Nach Ansicht der EU-Kommission gibt es derzeit Oli-
gopole in europäischen Häfen. Doch ob diese durch ein
Port Package aufgebrochen werden können, ist zu be-
zweifeln.
In den europäischen Seehäfen wurden in den vergan-
genen Jahrzehnten viele Investitionen getätigt. Häfen
sind ein Bereich, in dem Investitionen langfristig getä-
tigt werden müssen. Die Hafenanlagen, also die Schiffs-
anlegestellen und Hafenflächen zum Umschlagen, werden
für eine Lebensdauer von Dekaden geschaffen. So wur-
den für den Bau der Infrastruktur am neuen Container-
hafen JadeWeserPort in Wilhelmshaven 600 Millionen
Euro investiert. Hinzu kommen private Mittel in Höhe
von 350 Millionen Euro für die sogenannte Suprastruk-
tur auf den Hafenflächen, zum Beispiel Kräne und Hafen-
ausstattungen. Diese großen Beträge zeigen, dass Aus-
schreibungen für eine Dauer von acht bis zwölf Jahren,
wie durch bisherige Vorschläge bereits vorgesehen, zu
deutlich höheren Umschlagskosten in den Häfen führen
werden. Die Investitionen müssten in deutlich kürzeren
Zeiträumen refinanziert werden als bisher. Außerdem
würde sich die Planungssicherheit der Hafenunterneh-
men deutlich reduzieren. Wer will bzw. kann dann noch
Häfen in Europa betreiben?
Trotz der bestehenden hohen Kosten für die Hafenbe-
treiber sind die Umschlagskosten pro Container im welt-
weiten Vergleich immer noch relativ niedrig: So kostet
das „Anfassen“ eines Containers im Durchschnitt in eu-
ropäischen Häfen zwischen 150 und 200 Euro, in den
Häfen Asiens bzw. Nordamerikas fällt hier schon einmal
das Doppelte bis Dreifache an.
Die Frage, die meiner Auffassung nach direkt an ein
neues Port Package geknüpft werden soll, ist: Werden
durch ein neues Regelungspaket die Dienstleistungen
für den Kunden wirklich besser bzw. billiger?
Stichwort „Lotsen“: Meiner Auffassung nach soll es
im Lotswesen keinen Kostendruck zulasten der Seesi-
cherheit geben. Aber auch hier müssen wir die weitere
Entwicklung abwarten und genau beobachten, was die
Kommission vorschlägt.
Begrüßenswert wären in einem neuen Port Package
endlich einheitliche Regelungen für transparentere öf-
fentliche Finanzierungsflüsse in die europäischen Hä-
fen. Hier herrscht zwischen den Häfen der EU-Küsten-
länder nicht nur starke Konkurrenz, sondern auch ein
starker wirtschaftlicher Druck und die Tendenz zur Ver-
schleierung über die Verwendung öffentlicher Gelder.
Um hier den Druck herauszunehmen, wären endlich
Zu Protokoll gegebene Reden
Vorschläge für Transparenzleitlinien zur Finanzierung
von Häfen zu begrüßen.
Alle Fraktionen auf Bundes- und Länderebene haben
die bisherigen Planungen zu Port Package I und II kate-
gorisch abgelehnt. Sollte uns beim Port Package III wie-
der alter Wein in neuen Schläuchen aufgetischt werden,
wird die Reaktion wohl genauso ausfallen. Wir werden
die Entwicklungen genau beobachten und kritisch be-
gleiten.
Die Kommission hat die Vorstellung ihres neuen, drit-
ten Vorschlags für November 2012 angekündigt. Es
bleibt also zu hoffen, dass dieser sich nicht gegen die
Bedingungen europäischer Hafenbetreiber und die Mit-
arbeiter in den Häfen richtet, sondern vor allem ver-
stärkte Transparenz zwischen den Häfen verlangt.
Ich fordere daher auch die Bundesregierung auf, sich
die Regelungen eines neuen Port Package III ganz ge-
nau anzusehen und kritisch zu begleiten. Doch sind
meine Erwartungen an diese Bundesregierung schon
lange äußerst niedrig. Ich freue mich allerdings immer
über positive Überraschungen. Warten wir ab.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11147 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Keine Einwände.
Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 40 a und 40 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller ({0}), Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Anwendung der Administrativhaft und
willkürliche Festnahmen durch israelische
und palästinensische Sicherheitskräfte verurteilen
- Drucksache 17/11166 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({2})Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})-
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller ({4}), Volker Beck
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Gaza-Blockade beenden
- Drucksache 17/11167 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({6})Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7})Federführung strittig
Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
Die beiden uns vorliegenden Anträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, die Gegenstand unserer heutigen Beratungen sind, lassen den Schluss zu, die Bundesregierung bemühe sich nicht um Menschenrechte in dem
betroffenen Gebiet. Bei allem Verständnis und aller
Akzeptanz für die Rolle der Opposition muss ich hier in
aller Deutlichkeit feststellen, dass die beiden Anträge
erstens zur Unzeit kommen und zweitens den Verhandlungsspielraum der Bundesregierung unnötig einengen,
wenn nicht gar schwächen.
Ich möchte die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen an unseren fraktionsübergreifenden Antrag
vom 30. Juni 2010 erinnern. Es war ein Beispiel für
Konsensfähigkeit des Hohen Hauses. In der sehr sachlichen Diskussion und der parteiübergreifenden Einigung
sind wir der Tradition deutscher Außenpolitik und unseren Grundsätzen treu geblieben, was die Ausrichtung
der Politik gegenüber dem Staat Israel angeht. Wir
haben die besonderen Beziehungen zu Israel nicht in
Worthülsen gekleidet, sondern die legitimen Sicherheitsinteressen Israels im Blick gehabt. In der Diskussion haben wir aber auch betont, dass hinsichtlich des Zugangs
von und nach Gaza ein grundlegender Politikwechsel
Israels erforderlich ist, der umfassenden Wiederaufbau
und nachhaltige wirtschaftliche Erholung bei gleichzeitiger Wahrung der Sicherheitsinteressen Israels ermöglicht.
Die aktuellen Anträge stellen diesen Konsens infrage.
In der Frage der Administrativhaft haben wir eindeutige
Beschlüsse im Deutschen Bundestag gefasst. Diese Beschlüsse sind nicht aufgehoben - nein, sie sind weiterhin
Bestandteil des Auftrages an die Bundesregierung. Und
ich weise darauf hin, dass die Bundesregierung sich zu
all diesen Fragen im Austausch mit der israelischen
Regierung und der palästinensischen Behörde befindet.
Es wird nachhaltig auf die Einhaltung internationaler
Rechtsnormen gedrängt.
Gestern haben wir den 10. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik zur Kenntnis genommen. Die Menschenrechtssituation in den palästinensischen Gebieten blieb in ihren Grundzügen durch
die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen und durch die
Besatzung Israels mit der einhergehenden Einschränkung der Souveränität der palästinensischen Behörde
geprägt. Es sind dennoch positive Fortschritte erzielt
worden: So weist der Bericht darauf hin, dass die palästinensische Behörde am 15. Januar 2011 bekanntgab,
die Praxis der Anwendung der Militärgerichtsbarkeit
auf Zivilisten einzustellen. Feststellen müssen wir aber
auch, dass es bei diesem Prozess zu Verzögerungen kam.
Der Bericht spricht auch eindeutig aus, dass die
sogenannte Administrativhaft als problematisch einzustufen sei. In Bezug auf den Gazastreifen weist der Bericht darauf hin, dass das Gebiet seit der gewaltsamen
Machtübernahme der Hamas im Juni 2007 weitgehend
abgeriegelt bleibt und dass die humanitäre Lage prekär
sei. Schwere Menschenrechtsverletzungen unter der Defacto-Herrschaft der Hamas sind zu verzeichnen, neben
massiven Einschränkungen von grundlegenden Freiheitsrechten insbesondere auch Folter und der Vollzug
der Todesstrafe. Niemand in diesem Hause wird das
bestreiten und niemand - da schließe ich auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich mit ein - stellt
sich gegen die Bemühungen der Bundesregierung, die
Situation nachhaltig zu verändern.
Es gibt auch bereits erste Fortschritte. Die Zahl der
palästinensischen Häftlinge geht zurück. Es ist auch ein
Rückgang der Anzahl palästinensischer Häftlinge in
sogenannter Administrativhaft zu verzeichnen. Im Frühjahr 2011 haben wir eine zaghafte Steigerung bei den
Genehmigungen der von UNRWA beantragten Projekte
für den Gazastreifen erfahren. Die Energiekrise im
Gazastreifen konnte abgemildert werden: seit April diesen Jahres werden wieder bis zu einer halben Million
Liter Treibstoff für das Kraftwerk in Gaza geliefert. Die
Lieferungen erfolgen aus Israel. Auch Ägypten hatte den
Grenzübergang Rafah kurzfristig für einen größeren
Personenkreis geöffnet, bis die Öffnung durch einen
Anschlag im August wieder revidiert wurde.
Wir bemühen uns nachdrücklich um Sicherheit und
wirtschaftliche Entwicklung im Gazastreifen. Auch die
Bundesregierung betonte auf Anfrage, dass dies Bedingung und Ausfluss der Achtung von Menschenrechten
sei, zu denen universelle Werte wie die menschliche
Würde gehören.
In der Tradition der CDU/CSU-Außenpolitik betone
ich nachdrücklich die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung und der Schaffung eines palästinensischen Staates. Zuletzt hat dies unser Bundespräsident Joachim
Gauck bei seiner Nahostreise unterstrichen. Egal wie
sprachlos die beiden Seiten miteinander sind, deutsche
Bemühungen sind stets auf die Wiederaufnahme direkter
Verhandlungen gerichtet. Bevor jedoch die Zweistaatenlösung kommen kann, müssen die Palästinenser mit einer Stimme sprechen. Auch dort bemühen wir uns um
Versöhnung.
Die Bundesrepublik und die EU befinden sich zu allen
geforderten Punkten in Verhandlungen. Darüber hinaus
sorgen wir für humanitäre Hilfe. Wir sorgen für Unterbindung des illegalen Waffenhandels. Wir fördern seit
der Berliner PALSEC-Konferenz den Aufbau rechtsstaatlicher Sicherheitskräfte und Justiz in den palästinensischen Gebieten. Wir befürworten die Öffnung der
Grenzübergänge und den Wiederaufbau des Gazastreifens. Das sind alles langwierige Prozesse, und die
Bundesrepublik nimmt hier auf sämtlichen Wegen und
Kanälen Einfluss auf die Geschehnisse und nimmt
Verantwortung wahr. Wir erkennen das Recht Israels an,
seine Staatsbürger vor Angriffen zu schützen. Unsere
Fraktion und die von uns getragene Regierung bemüht
sich um Deeskalation im Konflikt.
Die Europäische Union hat sich ebenfalls vielfach
zur Situation in den palästinensischen Gebieten geäußert. Der Rat der Europäischen Union hat mehrfach
seine tiefe Besorgnis hinsichtlich der Situation im Gazastreifen zum Ausdruck gebracht und forderte einen
grundlegenden politischen Kurswechsel, der den Wiederaufbau und das wirtschaftliche Gedeihen von Gaza
ermöglicht bei gleichzeitigen legitimen Sicherheitsanliegen des Staates Israel.
Deswegen sind ihre Anträge abzulehnen, weil diese
Forderungen bereits an die Bundesregierung herangetragen wurden und sich in der Umsetzung befinden. Die
Verantwortlichen müssen sich auf dieses Haus verlassen
bei solch sensiblen Themen, und wir alle sollten den
Umsetzungen der Forderungen offenen Verhandlungsspielraum bieten und die Bundesregierung in diesen
Fragen nicht unnötig schwächen.
Gegenstand der heutigen Debatte ist die Frage der
Administrativhaft, welche von israelischen und palästinensischen Behörden angewandt wird. Administrativhaft bedeutet die Inhaftierung von Menschen aufgrund
behördlicher Anordnung ohne richterlichen Beschluss
und ohne die Einleitung eines förmlichen Strafverfahrens. Sie verstößt massiv gegen geltendes internationales Recht, insbesondere gegen Art. 9 des Paktes über
bürgerliche und politische Rechte, den Israel im Jahre
1991 ratifiziert hat. Es ist in keiner Weise hinnehmbar,
dass Gefangene und ihre Anwälte in keiner Form über
Beweise oder Gründe hinsichtlich des Tatvorwurfs
informiert werden. Auch die Verlängerung von Administrativhaft durch Anordnung kann nicht akzeptiert
werden und steht nicht in Einklang mit dem von Israel
anerkannten internationalen Recht.
Ebenso irritierend ist die Tatsache, dass Israel weiterhin Kinder und Jugendliche inhaftiert und nach Militärrecht verurteilt. Israel begründet dies damit, dass die
Kinderrechtskonvention, die es ebenfalls ratifiziert hat,
in den palästinensischen Gebieten nicht anwendbar sei.
Damit ergeben sich für palästinensische Kinder, die mit
den israelischen Sicherheitsbehörden zusammentreffen,
gänzlich andere Voraussetzungen. So werden Kinder
und Jugendliche vor dem Militärgericht schon mit 16
- nicht wie in Israel erst mit 18 Jahren - als Erwachsene
behandelt; zudem muss nach Militärrecht erst nach acht
Tagen eine richterliche Anhörung der Betroffenen erfolgen. Die Familien der Kinder und Jugendlichen leben so
lange oft in Ungewissheit über den Verbleib ihrer Angehörigen. Wissen Angehörige dann über den Verbleib
ihrer Kinder, ist ein Kontakt oftmals nur eingeschränkt
und in großen zeitlichen Abständen möglich. Dies ist
laut UN-Kinderrechtskonvention, die auch Israel ratifiziert hat, nicht zulässig. Zugleich halte ich es für menschenrechtlich und im Sinne der Kinderrechtskonvention
nicht vertretbar, dass die Kinder und Jugendlichen gemeinsam mit Erwachsenen inhaftiert werden. Kinder
brauchen in besonderem Maße Privatsphäre und können
keinesfalls in den gleichen Räumlichkeiten untergebracht werden wie erwachsene Gefangene.
Es gilt weiterhin und nachhaltig: Israel hat das
Recht, seine Bevölkerung zu schützen und Sicherheit für
sein Staatsgebiet herzustellen. Gleichwohl muss dies immer unter Beachtung und Einhaltung internationalen
Rechts geschehen, im Besonderen, wenn sich Israel
diesem durch Ratifizierung von Verträgen ausdrücklich
angeschlossen hat. Es ist nicht akzeptabel, dass mit
zweierlei Maß gemessen wird und Israel die Anwendung
internationaler Abkommen für einen Teil der Betroffenen oder bestimmte geografische Einheiten selbstständig aussetzt.
Ich glaube, dass mit der derzeit angewandten Praxis
der Administrativhaft sowie weiterer nicht mit dem inZu Protokoll gegebene Reden
ternationalen Recht in Einklang stehenden Maßnahmen
ein wesentliches Hindernis für eine zukünftige friedliche
Koexistenz beider Völker besteht. Insbesondere wenn
man den Umgang mit Jugendlichen betrachtet, zeichnen
sich langfristige Konsequenzen eines derartigen
Handelns ab. Welche Vorstellung sollen palästinensische Jugendliche von Israel und seiner Bevölkerung haben, die unter den geschilderten Bedingungen inhaftiert
werden? Was werden sie zu Hause erzählen? Welches
Bild haben Palästinenser von den israelischen Behörden
und Institutionen, mit denen sie in hoffentlich naher Zukunft wieder in einen konstruktiven Dialog zum Friedensprozess eintreten werden? Es steht zu vermuten,
dass sich mit den negativen Erfahrungen und Schilderungen der Jugendlichen auch eine entsprechende
Haltung ihrer Familien herausbildet. Nach meiner
Einschätzung ist dies keine gute Basis für eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses, sondern spielt vielmehr den radikalen Kräften in die Hände.
Diese negative Haltung und Hinwendung zu radikalen politischen Tendenzen wird auf der anderen Seite
forciert durch die aktive Beteiligung palästinensischer
Sicherheitskräfte an den Maßnahmen. Oftmals geschieht
dies schlicht aus Rache am politischen Gegner. So werden Anhänger der Hamas in den von der Fatah dominierten Gebieten oftmals willkürlich verhaftet; umgekehrt lässt die Hamas mutmaßliche Sympathisanten der
Fatah verhaften.
Die Betroffenen fühlen sich von den eigenen Behörden verraten und vertrauen diesen in keiner Form. Vielmehr kommt es zu einem Machtkampf zwischen den rivalisierenden Gruppen, bei denen die Administrativhaft als
probates Mittel angesehen wird - mit negativen Folgen
innerhalb der palästinensischen Gebiete, aber auch
darüber hinaus. Auf Basis dieser Erfahrungen werden
sie auch ihre eigenen Behörden und politischen Institutionen kaum bei den Bemühungen hinsichtlich des
Friedensprozesses unterstützen. Insofern hat die Anwendung der Administrativhaft nachhaltige Folgen in der
palästinensischen Gesellschaft und wird sich langfristig
auf den Friedenprozess mit Israel auswirken.
Mit der Anwendung der Administrativhaft wird auf
israelischem wie palästinensischem Territorium gegen
international geltendes Recht und elementare Menschenrechte verstoßen. Aber neben dem juristischen
Aspekt ergibt sich eine wesentlich weitergreifende, zukunftsbezogene Dimension. Sowohl auf eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse innerhalb der palästinensischen Gebiete wirkt sich diese Form der
Rechtsanwendung negativ aus als auch auf einen hoffentlich in naher Zukunft wieder auflebenden Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern.
Ein weiterer Debattenpunkt ist die Blockade des
Gazastreifens durch Israel. Dies beschäftigt uns in diesem Hohen Haus seit geraumer Zeit. Leider währt der
Zustand, bei dem die israelische Regierung Warenimporte und -exporte blockiert und auch den Personenverkehr erheblich behindert, seit fünf Jahren. In dieser
Zeit haben sich die Bedingungen für die Menschen in
Gaza erheblich verschlechtert. Und dies betrifft sowohl
die wirtschaftlichen wie humanitären Lebensumstände.
Unter den Blockadebedingungen können kein wirtschaftliches Wachstum und keine soziale Entwicklung
stattfinden. Die Arbeit internationaler Organisationen
und von Nichtregierungsorganisationen, aber auch
bilaterale Hilfe und Unterstützung zur Entwicklung des
Gazastreifens sind unter den derzeitigen Bedingungen
nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich.
Dabei würden sie dringend gebraucht. Niemand bestreitet die desaströsen Bedingungen, unter denen die
Menschen im Gazastreifen leben müssen. Für eine ernsthafte Verbesserung der Lebenssituation braucht es
freien Zugang zu dem Gebiet und einen freien Personenverkehr. Dies gilt im Übrigen nicht nur für den Gazastreifen, sondern auch für die Westbank, wo der teilweise
willkürliche Bau einer „Schutzmauer“ in Bereichen, die
nicht dem vereinbarten Grenzverlauf - grüne Linie entsprechen, die Menschen in ihrem Alltag einschränkt
und behindert.
Die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in den
abgeriegelten Gebieten ist erheblich behindert und kann
teilweise nicht vollumfänglich realisiert werden. Aus humanitärer Sicht ist dies inakzeptabel. Gerade mit Blick
auf die medizinische Versorgung ist dies katastrophal,
da es den Menschen im Gazastreifen am Nötigsten fehlt
- zugleich aber ein Ausweichen auf Krankenhäuser in
der Westbank durch die verhängte Sperre des Personenverkehrs unmöglich ist. Persönlich, aus humanitärer
und menschenrechtlicher Sicht empfinde ich es als
furchtbar, dass selbst einfache medizinische Versorgung
wie die Assistenz bei einer Geburt oder die schnellstmögliche Versorgung von Brandverletzungen nicht
möglich sind und die Menschen sich selbst überlassen
bleiben.
Durch die verhängte Blockade wird auch die wichtige
Aufbauarbeit im Gazastreifen unterbunden. Einerseits
weil die internationalen Organisationen vor Ort nicht
mehr frei tätig sein können und andererseits weil es an
wichtigen Materialien fehlt, um die Infrastruktur wieder
aufzubauen. Der Wiederaufbau von Schulen oder medizinischen Versorgungseinrichtungen, die in den Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee zerstört
wurden, kann ohne die Anlieferung von Baumaterialien
nicht realisiert werden. Die Aufhebung der Blockade ist
keine Frage von Politik; sie ist eine dringend gebotene
Notwendigkeit, ein humanitäres Erfordernis.
Gleichwohl, und dies ist bei aller Kritik ebenso wichtig zu betonen, stehen wir an der Seite Israels. So wichtig wie eine Aufhebung der Blockade ist, so wichtig ist
es, die Sicherheit Israels zu garantieren. Es muss unmissverständlich klar sein, dass die Öffnung des Gazastreifens auf keinen Fall dazu genutzt werden darf, Waffen
in die Region zu transportieren und damit die Sicherheit
Israels zu gefährden. Zudem muss sichergestellt werden,
dass terroristische Organisationen den Gazastreifen
nicht nutzen, um in den durchaus undurchsichtigen
Verhältnissen ihre gewalttätigen Aktionen zu planen und
durchzuführen. Der fortdauernde Raketenbeschuss von
israelischen Städten wie Sderot aus dem Gazastreifen ist
menschenrechtswidrig und zu verurteilen. Die derzeitige
Praxis der Abriegelung des Gazastreifens hat allerdings
Zu Protokoll gegebene Reden
offenkundig nicht zu einer Beendigung dieser Angriffe
geführt und ist deshalb auch mit diesem Argument nicht
zu rechtfertigen.
Wir werden uns an der Beratung der beiden Anträge
in den Ausschüssen konstruktiv beteiligen.
Die Lage im Gazastreifen und in Israel stand in dieser Woche wieder im Fokus der Weltöffentlichkeit. Seit
heute, Donnerstag, 0:00 Uhr gilt eine Waffenruhe. Das
wurde zwischen Israel und der im Gazastreifen herrschenden Hamas vereinbart. Aber die Lage bleibt weiter
fragil. Am Dienstagabend, nach dem Besuch des Emir
von Katar, hat ein Angriff aus dem Gazastreifen auf Israel begonnen. Innerhalb von 24 Stunden schlugen mehr
als 80 Raketen und Mörsergranaten auf israelischem
Gebiet ein. Israel hat darauf mit Luftangriffen auf Ziele
im Gazastreifen reagiert und mit einer Bodenoffensive
gedroht. Jetzt gilt, wie gesagt, eine Waffenruhe, und wir
hoffen alle, dass sie hält.
Allerdings zeigt diese Entwicklung auch, warum Israel die Warenströme in den Gazastreifen kontrolliert.
Da es immer wieder zu Angriffen aus dem Gazastreifen
auf Israel kommt, muss der Waffenschmuggel in den Gazastreifen unterbunden werden. Die strengen Kontrollen
und die Beschränkungen des Warenverkehrs führen allerdings zu Versorgungsschwierigkeiten im Gazastreifen, unter denen die Zivilbevölkerung leidet. Dieses Problem haben wir thematisiert und konnten auch schon
Erfolge erzielen.
Die israelische Regierung hat 2010 die Einfuhrbeschränkungen in den Gazastreifen gelockert. Die vorherige Positivliste von erlaubten Gütern wurde durch eine
Negativliste von verbotenen Gütern ersetzt. Diese Negativliste von Gütern, die in den Gazastreifen nicht eingeführt werden dürfen, enthält Waffen, Kriegsmaterial und
Dual-Use-Güter. Dieser Wechsel von einer Positivliste
zu einer Negativliste hat zu einer erheblichen Verbesserung der gesamten Warenzufuhr geführt. Das bestätigt
auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, UNRWA. Dennoch
bleibt die Warenversorgung im Gazastreifen weiterhin
verbesserungsbedürftig. Daher muss überprüft werden,
ob wirklich alle Güter auf der Negativliste eine Gefahr
für Israel darstellen.
Verantwortlich für die schlechte Warenversorgung im
Gazastreifen ist aber nicht allein Israel, sondern auch
die Hamas, die in den Schmuggel in den Gazastreifen involviert ist und davon profitiert. Versorgungsengpässe
werden genutzt, um den Hass auf Israel zu schüren, während gleichzeitig Waffen in den Gazastreifen geschmuggelt werden, mit denen Israel angegriffen wird.
Unser Ziel bleibt daher die vollständige Umsetzung
der Resolution 1860 des VN-Sicherheitsrates aus dem
Jahr 2009. Dazu gehört die Öffnung der Übergänge von
und nach Gaza für Im- und Exporte, die Bekämpfung des
Waffenschmuggels in den Gazastreifen, die dauerhafte
Beendigung des Raketenbeschusses israelischen Territoriums und ein dauerhafter Waffenstillstand. Dafür setzen wir uns sowohl bilateral als auch multilateral ein,
zum Beispiel mit den Ratsschlussfolgerungen vom
14. Mai 2012 und mit der Erklärung des Nahost-Quartetts vom 11. April 2012. Ganz konkret unterstützt die
Europäische Union die Palästinensische Behörde beim
Ausbau des Grenzübergangs Kerem Shalom, um eine
Verbesserung beim Warenverkehr zu erreichen.
Sie haben außerdem einen zweiten Antrag vorgelegt zum Thema Administrativhaft. Ich teile Ihre Einschätzung, dass diese Praxis aus menschenrechtlicher Sicht
äußerst problematisch ist. In Anbetracht der massiven
Bedrohungslage und der damit verbundenen Angst in Israel kann man zwar verstehen, warum zu dieser Maßnahme gegriffen wird, aber man muss sie deswegen
nicht gutheißen. Man kann von Israel erwarten, dass
sich der Umgang mit Gefangenen an den menschenrechtlichen Standards orientiert, die auch in Israel gelten. Deshalb spreche ich und sprechen wir das Thema
Menschenrechte bei Treffen mit israelischen und palästinensischen Vertretern offen an und finden dabei auch
Gehör.
Die Menschenrechtslage wird ja nicht nur von außen
kritisiert. Auch in Israel selbst gibt es viele Menschen,
die die Menschenrechtslage kritisch sehen. Und israelische Menschenrechtsorganisationen kritisieren offen die
Haftbedingungen und die Anwendung der Administrativhaft. Eine derart offene Diskussionskultur gibt es im
Gazastreifen übrigens nicht, weil die Hamas keine Kritik
zulässt. Die Administrativhaft wurde auch von der Bundesregierung gegenüber israelischen und palästinensischen Vertretern bereits mehrfach thematisiert. Dabei
hat die Bundesregierung stets ihre Sorge über die umfassende Anwendung der Administrativhaft zum Ausdruck
gebracht.
Das Thema ist auch Gegenstand des EU-Israel-Dialogs. Unter dem Eindruck von Gefangenenprotesten und
internem sowie internationalem Druck hat sich Israel im
Mai 2012 bereit erklärt, die Anwendung der Administrativhaft zu reduzieren. Diese Entscheidung zeigt auch bereits Wirkung. In Ihrem Antrag steht noch, dass die Zahl
der palästinensischen Gefangenen in Administrativhaft
bei über 300 läge. Das zeigt mir, dass Sie diesen Antrag
im Mai 2012 oder früher verfasst haben müssen. Inzwischen ist die Zahl auf 184 gesunken. Die Situation hat
sich also leicht verbessert.
Beide Entwicklungen, die Anwendung der Administrativhaft und den Warenverkehr in den Gazastreifen,
werden wir weiterhin genau beobachten. Allerdings sind
beide Themen nur Einzelaspekte eines größeren Problemfeldes in Nahost. Eine wirklich nachhaltige Lösung
kann nur im Rahmen eines Gesamtfriedensschlusses gefunden werden, und dazu brauchen wir Fortschritte bei
den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern. Das müssen wir auch bei unseren Beratungen in
den Ausschüssen beachten.
In den letzten Tagen wurde der Gazastreifen wiederholt durch israelisches Militär aus der Luft beschossen,
es gab mehrere Tote und viele Verletzte. Dies ist in unseZu Protokoll gegebene Reden
ren Nachrichten kaum mehr als eine kurze Notiz wert, es
ist zum Alltag geworden - für uns und beinahe auch
schon für die Betroffenen, die in ständiger Angst leben
müssen.
Die Bevölkerung des Gazastreifens wird durch die
Blockadepolitik der israelischen Regierung eines menschenwürdigen Lebens beraubt. Die von Israel verhängte
Land-, See- und Luftblockade des Gazastreifens ist völkerrechtswidrig und das daraus resultierende Leid der
Bevölkerung von Gaza völlig unverhältnismäßig. Die
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
erwähnen den sehr eindrucksvollen Bericht der Vereinten Nationen „Gaza in 2020 - A liveable place?“, nach
dem der Gazastreifen im Jahre 2020 praktisch nicht
mehr bewohnbar sein wird. Das Wasser wird nicht mehr
trinkbar sein, wir werden dann auch jegliche Chancen
verspielt haben, diese Entwicklung rückgängig zu machen. Es ist erschreckend, wie wenig sich die Weltgemeinschaft klarzumachen scheint, dass es bereits fünf
nach zwölf ist!
Auch ich fordere selbstverständlich und stellvertretend für die Fraktion Die Linke, die Blockade des Gazastreifens aufzuheben.
Genauso fordern wir die Abschaffung der Administrativhaft, sowohl durch israelische Sicherheitsbehörden
als auch ihre palästinensischen Counterparts. Die menschenverachtenden Praktiken sind erschreckend. Dass
Betroffene oft keine andere Möglichkeit sehen, als ihre
elementarsten Rechte mithilfe von Hungerstreiks durchzusetzen und damit ihr Leben aufs Spiel setzen, spricht
für sich. Insbesondere bereitet mir das Schicksal von
Kindern und Jugendlichen in den Haftanstalten Sorgen.
Die Menschenrechtsorganisation Addameer schätzt,
dass allein 2010 allein in Jerusalem 1 200 Minderjährige verhaftet wurden. Auch wenn sie nach einigen Stunden oder Tagen wieder freigelassen werden, verursacht
dies bleibende Schäden. Diese Kinder sind stark traumatisiert!
Zugleich bin ich kein Freund von Teillösungen: Nehmen wir einmal an, eine erhöhte Ausfuhr von Gütern aus
dem Gazastreifen und/oder der Import lebensnotwendiger Güter würden erlaubt. Die israelische Regierung
würde viele der Einschränkungen für die Bevölkerung
von Gaza in Kraft lassen - immer mit dem Verweis auf
die eigenen Sicherheitsinteressen -, zum Beispiel die
unilaterale israelische Bestimmung, dass keine Schiffe
und Boote weiter als drei nautische Meilen von der
Küste Gazas entfernt fischen dürfen. Den Fischern
wurde der Zugang zu 85 Prozent derjenigen Seegebiete,
die laut Abkommen von Oslo den Palästinensergebieten
zugehörig sind, versperrt, und 3 000 Fischern mitsamt
ihren Familien wurde die Lebensgrundlage entzogen.
Darüber hinaus hat die israelische Regierung die
fruchtbarsten 17 Prozent des Gazastreifens, welche für
die Landwirtschaft von elementarer Bedeutung sind, zu
„Pufferzonen“ erklärt. Wer sich in diese Gebiete oder
weiter als drei nautische Meilen aufs Meer begibt, wird
regelmäßig durch israelisches Militär angegriffen allein im Jahre 2012 gab es Hunderte solcher Angriffe
mit einer Vielzahl von Toten. Die palästinensischen Kinder können noch nicht einmal in Sicherheit in die Schule
gehen!
Am letzten Wochenende wurde wieder ein sich in internationalen Gewässern befindliches Schiff, das Hilfsgüter für die Bevölkerung des Gazastreifens geladen
hatte, durch die israelische Marine gestoppt; die Passagiere wurden unrechtmäßig festgehalten, den israelischen Aktivisten soll gar der Prozess gemacht werden.
Außerdem gibt es Berichte, die Marinesoldaten hätten
bei der Enterung Gewalt angewandt. Nicht vergessen
hat die Welt die blutige Enterung der Mavi Marmara im
Mai 2010, die mit neun Toten und vielen Verletzten
endete. Einer davon liegt bis heute im Koma.
Die israelische Regierung scheint es nicht sonderlich
zu stören, wenn sich ihr Image in der Welt mehr und
mehr verschlechtert. Der israelische Außenminister sagte
erst vor einigen Tagen, die EU solle sich um ihre eigenen
Probleme kümmern, anstatt sich mit der Frage der israelischen Siedlungen zu befassen. Netanjahu will der
israelischen Knesset ein Gutachten zur Abstimmung
vorlegen, welches die israelischen Siedlungen in der
Westbank als legal einstuft. Sowohl die EU als auch die
Bundesregierung haben aber mehrfach den Siedlungsbau auf besetztem Gebiet und die Blockade des Gazastreifens als völkerrechtswidrig bezeichnet. Kritisiert
wurde auch das Festhalten von Menschen ohne Begründung - die Administrativhaft.
Die Aufhebung der Gaza-Blockade ist wichtig - aber
sie ist nur ein Teilaspekt. Was haben wir gewonnen,
wenn die Siedlungen in Gaza zwar geräumt, in der Westbank aber gleichzeitig immer neue gebaut wurden und
werden? Was, wenn allein die Möglichkeit, irgendwann
in der Zukunft einen lebensfähigen palästinensischen
Staat zu gründen, durch Fakten sowohl in Form von
Siedlungen als auch zum Beispiel der irreparablen Verunreinigung von Trinkwasser zunichte gemacht wird?
Es muss darum gehen, eine ganzheitliche Lösung für
den Nahostkonflikt zu finden. Es ist zwar wichtig, an einzelnen Punkten anzusetzen, aber das reicht nicht aus! Israel muss endlich Verhandlungsbereitschaft zeigen und
zu echten Kompromissen bereit sein - sowohl gegenüber
den Palästinenserinnen und Palästinensern als auch den
arabischen Nachbarn. Die Signale der israelischen Regierung sind nicht besonders vielversprechend, im Gegenteil.
Wenn Israel sich nicht bereit zeigt, seinerseits
Schritte auf dem Weg zum Frieden zu gehen und sich
überhaupt erst einmal an völkerrechtliche Bestimmungen und die Respektierung der Menschenrechte zu halten, haben wir durchaus Möglichkeiten, zu handeln, ja,
wir müssen es sogar tun, wollen wir unsere Glaubwürdigkeit nicht völlig verspielen. Am Dienstag hat nun leider auch das Europäische Parlament für die Annahme
des ACAA-Zusatzprotokolls zum EU-Israel-Assoziierungsabkommen gestimmt. Folge ist eine eklatante Ausweitung der Handelsbeziehungen zwischen der EU und
Israel. Die Parlamentarier haben damit eine wichtige
Möglichkeit verspielt. Sie hätten deutlich machen müssen: Vorbedingung für eine solche Ausweitung muss die
Einhaltung des in allen Assoziierungsabkommen der EU
Zu Protokoll gegebene Reden
mit den Mittelmeerländern festgeschriebenen Art. 2
durch Israel sein. Dieser Artikel fordert von allen Partnern die Achtung der Menschenrechte und die Einhaltung demokratischer Grundprinzipien. Die EU-Parlamentarier haben die israelische Regierung stattdessen
für ihre völkerrechtswidrige und menschenverachtende
Politik belohnt. Solange die israelische Regierung Verträge nicht einhält, muss auch in Betracht gezogen werden, das bereits bestehende Assoziierungsabkommen
auszusetzen.
Wir reden heute über zwei Anträge meiner Fraktion,
die Menschenrechtsthemen in Israel und den palästinen-
sischen Gebieten betreffen. Lassen Sie mich deshalb mit
einer Bemerkung zum Verfahren beginnen. Wir haben
beide Anträge federführend im Ausschuss für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe angemeldet. Die Koalition
hat dem widersprochen und wollte, dass die Anträge fe-
derführend im Auswärtigen Ausschuss aufgesetzt wer-
den. Für uns ist das keine Kleinigkeit. Wir meinen, dass
der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
als Vollausschuss dieses Bundestages ein wichtiges Gre-
mium ist und eine Errungenschaft dieses Parlaments.
Wir meinen, dass es dem zentralen politischen Thema,
dem Menschenrechtsschutz, angemessen ist, dass es da-
für einen Vollausschuss gibt. Seine Bedeutung droht er
aber dann zu verlieren, wenn ihm keine Vorlagen mehr
in Federführung zugewiesen werden. Wir haben es wie-
derholt erlebt, dass die Koalition sagt, dieses oder jenes
Thema solle doch besser in diesem oder jenem Fachaus-
schuss behandelt werden. Nun ist klar, dass bei den
Menschenrechten als Querschnittsthema immer auch
die Belange anderer Ausschüsse mit berührt werden.
Aber es gibt doch zentrale menschenrechtliche Frage-
stellungen und Bereiche, in denen dann auch der Men-
schenrechtsausschuss primär zuständig sein muss. Es ist
äußerst bedauerlich, dass die Koalition diese Haltung
nicht teilt. Damit wertet sie einen wichtigen Bundestags-
ausschuss ab. Ich hoffe, dass sie für den Rest dieser Le-
gislatur ihre Einstellung dazu überdenkt und ändert.
Damit komme ich zum Inhalt unserer Anträge. Wir
haben uns dem Thema Administrativhaft gewidmet, weil
wir die Praxis dieser Haft für ein schwerwiegendes men-
schenrechtliches Problem halten - überall da, wo sie
auftritt. Es gibt leider viele Länder, in denen die Admi-
nistrativhaft angewendet wird. Administrativhaft bedeu-
tet, dass den Festgenommenen ihre grundlegenden
Rechte verwehrt bleiben. Sie werden eingesperrt, ohne
zu wissen, warum. Sie haben meist keine Möglichkeit,
mit einem Anwalt oder sogar ihren Familien Kontakt
aufzunehmen. Sie schmoren unter oft entsetzlichen Be-
dingungen in ihren Zellen, mitunter jahrelang. Dies ist
für die Betroffenen furchtbar, egal wo es passiert. Aus
unserer Sicht ist es umso schlimmer, wenn die Adminis-
trativhaft in einem Rechtsstaat angewendet wird; denn
das eine geht mit dem anderen nicht zusammen. Israeli-
sche Sicherheitskräfte verhängen die Administrativhaft
seit vielen Jahren. Die Bundesregierung muss gegen-
über der israelischen Regierung klarer Stellung bezie-
hen und diese Praxis kritisch ansprechen. Auch in den
palästinensischen Gebieten werden Menschen willkür-
lich verhaftet. Auch dort sind die Haftbedingungen zum
teil katastrophal. Es gibt hervorragende Nichtregie-
rungsorganisationen, die sich um die Rechte der Häft-
linge kümmern, wie die palästinensische Organisation
Addameer oder die israelische Organisation Betselem.
Es muss aber endlich ein Umdenkungsprozess in Gang
kommen auf Ebene der Regierenden in Israel und in der
palästinensischen Autonomiebehörde. Die Administrativ-
haft gehört abgeschafft. Inhaftierte müssen rechtsstaatli-
che Strafverfahren bekommen. Die Haftbedingungen
müssen vor allem hinsichtlich der Gesundheitsversor-
gung verbessert werden.
Unser zweiter Antrag befasst sich mit der Lage in
Gaza. Ich konnte bei einem Besuch dort im Juli dieses
Jahres mit der UNRWA sprechen, mit lokalen Menschen-
rechts-NGOs, mit jungen Bloggerinnen und Bloggern,
und alle haben einstimmig erklärt, dass die Blockade
des Gazastreifens durch Israel beendet werden muss.
Wir haben hier gemeinsam bereits im Jahr 2010 die Auf-
hebung der Gaza-Blockade und eine Verbesserung der
humanitären Lage in Gaza gefordert. Seitdem hat es ge-
wisse Lockerungen gegeben; die Blockade besteht je-
doch fort, und die Lockerungen reichen nicht aus, um
die humanitäre, menschenrechtliche und wirtschaftliche
Situation in Gaza grundlegend zu verbessern. Deshalb
bitte ich Sie alle, unseren Antrag zu unterstützen und da-
mit unsere Forderung von 2010 mit Nachdruck zu wie-
derholen. Sie alle werden den Bericht der Vereinten Na-
tionen vom Ende August 2012 gelesen haben; danach
wird der Gazastreifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohn-
bar sein, wenn bis dahin nicht grundlegende Verbesse-
rungen in den Bereichen Wasser- und Elektrizitätsver-
sorgung, Gesundheit und beim Bau von Schulen
unternommen werden. Wenn die Blockade aufrechter-
halten wird, dann wird die urbane Ökonomie des Gaza-
streifens zusammenbrechen. Lassen Sie uns gemeinsam
aus humanitären, aus menschenrechtlichen, aus außen-
und entwicklungs- und sicherheitspolitischen Gründen
ein Ende der Blockade fordern.
Und noch ein letztes Wort zu einem kontrovers disku-
tierten Thema: dem Kontaktverbot zur Hamas. Ich habe
auf meiner Reise von vielen meiner Gesprächspartner in
Gaza gehört, wie schwierig die humanitäre Arbeit dort
angesichts des bestehenden Kontaktverbots vieler Staa-
ten, auch von Deutschland, zur Hamas ist. Ich rege da-
her unter humanitären Gesichtspunkten an, die Sinnhaf-
tigkeit dieser Maßnahme zu überdenken. Verstehen Sie
mich nicht falsch: Es geht mir nicht um eine internatio-
nale Aufwertung der Hamas. Aber das Kontaktverbot er-
schwert die notwendige humanitäre Arbeit internationa-
ler Organisationen wie der UNRWA in Gaza erheblich.
Ich möchte deshalb anregen, zumindest eine Diskussion
darüber zu führen.
Tagesordnungspunkt 40 a. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/11166 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Federführung ist jedoch strittig.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Fe-
derführung beim Auswärtigen Ausschuss. Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder-
führung beim Ausschuss für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der CDU/
CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD und
Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
CDU/CSU und FDP abstimmen, also Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der CDU/CSU, FDP und Linken gegen die
Stimmen der SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 b. Die Vorlage auf Drucksa-
che 17/11167 soll an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Fe-
derführung strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen sie
beim Auswärtigen Ausschuss, Bündnis 90/Die Grünen
wünscht sie beim Ausschuss für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist
gegen die Stimmen der Grünen bei Zustimmung der
sonstigen Fraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist
gegen die Stimmen der Grünen mit den Stimmen der an-
deren Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkte 42 a und 42 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lars
Klingbeil, Martin Dörmann, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Potenziale von WLAN-Netzen nutzen und
Rechtssicherheit für WLAN-Betreiber schaffen
- Drucksache 17/11145 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})-
Innenausschuss-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Tourismus-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union-
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Nicole Gohlke, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes - Störerhaftung
- Drucksache 17/11137 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})Rechtsausschuss ({2})Federführung strittig
Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
Uns liegen heute zwei Initiativen der Opposition vor,
die auf den ersten Blick recht vernünftig erscheinen.
Aber wie so oft im parlamentarischen Leben liegt der
Teufel im Detail.
Im Kern geht es beiden Initiativen um die stärkere
Nutzung vorhandener WLAN-Netze für die Öffentlichkeit, die Beschränkung des Haftungsrisikos für WLANBetreiber und um Schutzmaßnahmen für die Betreiber
von WLAN-Netzen zur Vermeidung ihrer Verantwortlichkeit bei unbefugter Nutzung durch Dritte. Zentraler
Gegenstand ist die Debatte, ob die Haftungsbeschränkung für professionelle Access Provider gemäß § 8 TMG
auf andere WLAN-Betreiber ausgeweitet werden soll.
Was die Providerhaftung nach dem Telemediengesetz
anbelangt, so sind kleine Gewerbetreibende wie Internetcafés mit kostenfreiem WLAN-Angebot bereits jetzt
von der Haftung für Missbrauch durch Dritte befreit.
Denn in diesen Fällen - wie auch bei sehr großen Providern mit sehr vielen Nutzern - lässt sich der Verursacher
durch technische Nachweismöglichkeiten identifizieren.
Der Gewerbetreibende ist natürlich verpflichtet, bei ersten Anzeichen eines Missbrauchs geeignete Maßnahmen
zu ergreifen, um sich seine Freistellung von der Haftung
zu erhalten. Tut er dies nicht, muss auch er mit Konsequenzen rechnen.
Die Forderung nach einer Gleichstellung des privaten Bereichs mit dem gewerblichen Bereich erscheint jedoch nur auf den ersten Blick folgerichtig und sinnvoll.
Denn im privaten Bereich, beispielsweise wenn ein Dritter den privaten Internet-/WLAN-Zugang eines Nutzers
für strafrechtlich relevante Handlungen missbraucht,
kann mit technischen Mitteln nicht nachgewiesen werden, wer der eigentlich Schuldige ist. Die Tat wird dann
in der Regel dem privaten Nutzer zugerechnet, auf den
der Internet- bzw. WLAN-Anschluss angemeldet ist, es
sei denn, er kann nachweisen, dass er die Tat nicht begangen haben kann. Vom privaten Nutzer wird daher
auch eine gewisse Verantwortung für den sorgsamen
Umgang mit dem Internetzugang verlangt, egal ob er
fest installiert ist oder per WLAN erfolgt. Erfolgt der Zugang hingegen frei, kann auf dem WLAN-Anschluss jeder machen, was er will, ohne dass er mit etwaigen Konsequenzen rechnen muss. Strafrechtlich relevante
Handlungen können nicht verfolgt werden; der oder die
Täter können nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Aufgrund der laufenden und uneinheitlichen Rechtsprechung verschiedener Gerichte bearbeitet das Bundesministerium der Justiz derzeit die Frage, ob und in
welcher Form der angesprochene Aspekt der Störerhaftung rechtlich geregelt werden kann, um Rechtssicherheit zu gewährleisten. Ich hoffe da auf konstruktive Ergebnisse.
Neben diesen rechtlichen Aspekten wird aber das Potenzial des offenen WLAN überschätzt. Die große Mehrheit der Nutzer nutzt UMTS, 3G, als mobile Datenverbindung. Hier könnten WLAN zwar potenziell die
Mobilfunknetze entlasten. Allerdings bauen die Mobilfunkunternehmen gerade den nächsten Standard des
Mobilfunks LTE,4G, aus. LTE kann - noch theoretisch Bandbreiten erreichen, welche die Leistungen der DSLAnschlüsse, die ja auch die Grundlage für WLAN-Router bieten, übertreffen. Zusätzlich entlastet ein auf den
LTE-Standard aufgerüstetes Mobilfunknetz auch den
bisherigen Standard UMTS und wird auch im UMTSNetz die Leistungen verbessern. Vermutlich wird die
Notwendigkeit von WLAN-Angeboten für den öffentlichen Raum bald nachlassen.
Schließlich kann jeder Betreiber eines WLAN weiterhin, auch im von den Linken angesprochenen sozialen
Bereich, seinen Nutzern einen Zugangscode aushändigen und sich somit vor den möglichen Folgen von
Rechtsverletzungen schützen.
Bei diesem Thema sollte Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen. Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss.
Wenn ich mir den vorliegenden Gesetzentwurf der
Linken zur Änderung des Telemediengesetzes anschaue,
wird mir sofort klar, wohin die Reise mal wieder gehen
soll: Da gerieren sich die Genossen erneut zu Sozialaposteln par excellence, fordern freies Internet für alle,
freie I-Pads für alle, freie Rechner für alle. Ich muss
schon genau in den Text hineinlesen, um zu sehen, ob es
sich hier um eine Hartz-IV-Debatte handelt oder ob es
um die Haftungsfrage für WLAN-Betreiber geht.
Da lese ich: „Gerade für Menschen mit geringem
Einkommen sind beide Zugangswege“ - gemeint sind
kabel- und funkbasierte Internetanschlüsse - „jedoch
nur schwer zu finanzieren. Es bedarf kaum der näheren
Erörterung, warum bei einem monatlichen Regelsatz
von derzeit 374 Euro zzgl. Kosten der Unterbringung 10
bis 20 Euro für einen DSL-Zugang ganz erheblich ins
Gewicht fallen.“ Ich lese davon, dass „nicht hinreichend
verfügbare Internetzugänge … die … Abhängigkeit der
individuellen Bildungschancen vom sozialen Status der
Eltern“ verschärfen, ich lese von einer „Frage der sozialen Gerechtigkeit“ und davon, dass „ein Computer
zum soziokulturellen Existenzminimum gehört“. Ich jedenfalls will hier und heute keine linke Sozialdebatte à la
Linke führen, sondern mich der Haftungsfrage für
WLAN-Betreiber widmen.
Die grundlegende Frage, die sowohl in dem SPD-Antrag als auch in dem Gesetzentwurf der Linken gestellt
wird, hat im digitalen Zeitalter - auch vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung - durchaus seine
Berechtigung, nämlich die Frage: Müssen private und
kleingewerbliche WLAN-Anbieter wie Cafés dafür haften, wenn dritte Nutzer sich in ihrem Netz illegal verhalten, wenn solche Nutzer zum Beispiel illegal Musik oder
Videos downloaden und damit gegen das Urheberrecht
verstoßen? Warum sollte ein Kneipenwirt dafür belangt
werden können, wenn ein Internetpirat in seinem
WLAN-Netz Beute macht? Warum sollte der Kneipenwirt dafür kostenpflichtig abgemahnt werden und dafür
schließlich auch noch kräftig Schadensersatz gegenüber
dem geschädigten Rechteinhaber zahlen? Dass ein solcher Fall bei einem betroffenen gewerblichen WLANBetreiber nicht gerade ein Anreiz ist, das Netz weiterhin
anzubieten, und dass infolge solcher Vorkommnisse vielleicht der öffentlich zugängliche WLAN-Ausbau in
Deutschland ins Stocken geraten könnte, vermag auf den
ersten Blick denkbar zu sein. Schließlich ist die flächendeckende Versorgung von Kommunen und Städten mit
frei zugänglichem Internet, wie sie jetzt zum Beispiel
Kabel Deutschland und die Wall AG in Berlin mit der
Einrichtung von Hotspots realisieren, auch ein interessantes Geschäftsmodell für die Telekommunikationswirtschaft und macht Städte und Gemeinden für Besucher und Gäste attraktiver.
Nun sieht die Lösung der hellroten und der dunkelroten Genossen zunächst relativ einfach aus: Man erweitert einfach im Telemediengesetz den in § 8 definierten
Kreis von Diensteanbietern, die von der Haftungspflicht
ausgeschlossen sind - das sind im Wesentlichen die Accountbetreiber -, um die WLAN-Betreiber, ob gewerbliche oder private. Zusätzlich sollen WLAN-Betreiber
von der sogenannten Störerhaftung ausgenommen werden; das heißt, geschädigte Rechteinhaber, zum Beispiel
Musikverlage, sollen gegenüber dem Betreiber keinen
Anspruch auf Unterlassung mehr haben. Das ist die eine
Seite. Wie aber stehen dann die Rechteinhaber da, deren
geistiges Eigentum dem zwar immer noch illegalen, faktisch aber beliebigen Zugriff von Nutzern schutzlos ausgeliefert wäre? Denn wo keine Haftung, da kein durchsetzbarer Schadensersatzanspruch. Diese Regelung
würde bedeuten, dass Vergehen im Netz - seien sie zivilrechtlicher oder strafrechtlicher Art - erstens überhaupt
nicht mehr zurückverfolgt werden könnten und zweitens
nicht mehr geahndet werden könnten. Nach derzeitiger
Rechtslage kann wenigstens der Account des WLAN-Betreibers über dessen IP-Adresse zurückverfolgt werden,
die diesem Betreiber eindeutig zuzuordnen ist. Dies ist
bei den verschiedenen Nutzern, die sich mit dynamischen IP-Adressen in das WLAN-Netz einklinken, so nicht
möglich. Denn sie sind nur während ihres Aufenthalts im
Netz über ihre MAC-Adresse identifizierbar. Mit dieser
gerätebezogenen Adresse lässt sich die Aktivität des
Users nur nachweisen, während er noch im Netz ist.
Man müsste ihn also noch in flagranti beim illegalen
Download erwischen, um ihm ein Vergehen zum Beispiel
gegen das Urheberrecht nachweisen zu können.
Selbst wenn es technisch möglich wäre, die einzelnen
Nutzer im Nachhinein zu identifizieren - das heißt, wann
welcher Nutzer welche Aktivität im Internet vorgeZu Protokoll gegebene Reden
nommen hat -, wäre dies aus datenschutzrechtlichen
Gründen verboten. Dafür müsste der WLAN-Betreiber
sozusagen auf Verdacht für alle Nutzer regelrechte Datenbanken mit Personendaten anlegen und speichern.
Das Telekommunikationsgesetz untersagt jedoch - zu
Recht - die Erhebung nicht erforderlicher Daten. Darauf hat auch das Landgericht München in seinem Urteil
vom 12. Januar 2012 ({0})
abgestellt.
In Ihrem Gesetzentwurf verteufeln Sie, geschätzte
Linkskollegen, dass „Betreiber/innen von drahtlosen
Netzwerken … die Mit-Nutzung ihrer Netze in aller Regel durch Verschlüsselungsverfahren unmöglich“ machen. Die Betreiber versuchten, „ihre Netze so gut als
möglich abzuriegeln“. Ja, was sind das doch für böse
Menschen! Gar nicht so sozial wie die guten Linken, die
ja alles für alle öffnen wollen! Schlimm, so was! Ich
weiß nicht, ob Sie, Frau Wawzyniak, Sie, Herr Korte,
Sie, Frau Jelpke, oder Sie, Frau Pau, Ihr privates
WLAN-Netz zu Hause einfach so von Ihren Nachbarn
oder sonstigen Personen mitnutzen lassen wollen. Das
sehe ich jedenfalls schon mal aus ökonomischen Gründen nicht ein - soll sich der Nachbar doch einen eigenen
Zugang besorgen -, aber vor allem aus Sicherheits- und,
ja, aus Haftungsgründen.
Es ist schon heute so, dass „auch privaten Anschlussinhabern ... aber eine Pflicht“ obliegt, „zu prüfen, ob ihr
WLAN-Anschluss durch angemessene Sicherungsmaßnahmen vor der Gefahr geschützt ist, von unberechtigten
Dritten zur Begehung von Urheberrechtsverletzungen
missbraucht zu werden.“ Zwar muss der private Betreiber eines WLAN-Netzes seine Netzwerksicherheit nicht
ständig auf dem neuesten Stand der Technik halten.
„Ihre Prüfpflicht bezieht sich daher auf die Einhaltung
der im Zeitpunkt der Installation des Routers für den
privaten Bereich marktüblichen Sicherungen“. So hat
der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 12. Mai
2010 ({1}) gesprochen.
In diesem Verfahren ging es um einen WLAN-Betreiber, der sein WLAN nicht durch ein Passwort geschützt
hatte und damit seine Prüfpflicht im gerade zitierten
Sinne verletzt hatte. Der BGH hat hier angenommen,
dass der Beklagte - also der WLAN-Betreiber - „nach den
Rechtsgrundsätzen der sogenannten Störerhaftung auf
Unterlassung und auf Erstattung der Abmahnkosten“
- das sind nach geltendem Recht maximal 100 Euro haftet. Der BGH weiter: „Diese Haftung besteht schon
nach der ersten über seinen WLAN-Anschluss begangenen Urheberrechtsverletzung. Hingegen ist der Beklagte
nicht zum Schadensersatz verpflichtet. Eine Haftung als
Täter einer Urheberrechtsverletzung hat der Bundesgerichtshof verneint, weil nicht der Beklagte“ - also der
WLAN-Betreiber - „den fraglichen Musiktitel im Internet zugänglich gemacht hat. Eine Haftung als Gehilfe
bei der fremden Urheberrechtsverletzung hätte Vorsatz
vorausgesetzt, an dem es im Streitfall fehlte“, so der
BGH.
Die Rechteinhaber zum Beispiel von Musiktiteln oder
Filmen haben also gegenüber WLAN-Betreibern unter
bestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf
Unterlassung. Das ist die heißdiskutierte Störerhaftung
des WLAN-Betreibers bei rechtswidrigen Handlungen
Dritter. Wenn man den Rechteinhabern nach dem Willen
der heute parlamentarisch vereinigten Linksfront diesen
bereits eingeschränkten Rechtsanspruch nimmt, werden
die WLAN-Betreiber auf Kosten der Rechteinhaber bessergestellt. Die bleiben nämlich auf ihrem Schaden sitzen.
Das kann es ja auch nicht sein.
Jetzt folgert die Linke daraus: „Im Ergebnis führt insbesondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
dazu, dass Funknetzwerke verschlüsselt werden und für
die kostenfreie Mitnutzung nicht zur Verfügung stehen.“
Dabei gäbe es „eine Reihe guter Gründe … ihre Netze
zur Mitnutzung zu öffnen“, unter anderem: „Private
könnten ihre Netze insbesondere aus sozialen Motiven
heraus öffnen, um insbesondere sozial benachteiligten
Menschen den Zugang zum Internet zu ermöglichen.“
Wenn ich zwischen diesem Mutter-Teresa-Motiv 2.0
einerseits und den Risiken und Sicherheitsbedenken bei
unverschlüsseltem WLAN-Netz andererseits abzuwägen
hätte, wüsste ich schnell, dass ich mein Netz verschlüssele. Es geht bei privaten WLAN-Anbietern letztendlich
auch um Verantwortung: Will ich mein Netz für alle öffnen, muss dann aber auch mit den eventuellen negativen
Konsequenzen leben, oder sorge ich von vorneherein für
Einschränkungen für Dritte, damit aber auch für meinen
eigenen Schutz? Das muss letztlich jeder Einzelne für
sich entscheiden.
Ich denke, die wesentliche Problematik ist in dieser
Debatte klargeworden: hier Haftungsbürde bei unverschuldet schuldigen WLAN-Betreibern, da Anspruch von
Inhabern geistigen Eigentums im Netz auf Entschädigung im Missbrauchsfall. Die Entscheidung, ob und in
welchem rechtlichen Rahmen wir hier tätig werden müssen, sollte nicht übers Knie gebrochen werden. Gründlichkeit geht bei solchen Haftungsfragen klar vor
Schnelligkeit. Ob und wie das im Telemediengesetz geregelt werden muss, prüfen wir in nächster Zeit ausführlich. Hoppla hopp nach dem Willen von Sozialdemokraten
und Sozialisten ist sicherlich die falsche Entscheidung.
Wir wollen ja nicht für etwas haftbar gemacht werden,
was uns und den Betroffenen früher oder später auf die
Füße fallen kann, nicht wahr?
Auf Initiative des Senates von Berlin und des Senates
der Freien und Hansestadt Hamburg hat der Bundesrat
am 12. Oktober 2012 die Bundesregierung einstimmig
aufgefordert, zu prüfen, wie das Potenzial von öffentlichen WLAN-Netzen stärker nutzbar gemacht und wie
das Haftungsrisiko für WLAN-Betreiber beschränkt
werden kann, beispielsweise indem klargestellt wird,
dass sich die Haftungsbeschränkung für Access Provider gemäß § 8 TMG auch auf WLAN-Betreiber erstreckt.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Initiative
der beiden Stadtstaaten und des Bundesrates und fordert
die Bundesregierung auf, diese schnellstmöglich aufzugreifen und umzusetzen. Es ist nicht länger hinnehmbar,
dass das Potenzial von WLAN-Netzen für den NetzzuZu Protokoll gegebene Reden
gang im öffentlichen Raum aufgrund der bestehenden
Haftungsrisiken brachliegt. Drahtlose lokale Netzwerke
sind ein wichtiger Bestandteil der digitalen Infrastruktur, und diese können - insbesondere in Städten und Ballungsräumen, aber auch in öffentlichen Räumen - einen
Zugang zum Internet eröffnen und so die öffentlichen
Räume im Netz sicherstellen. Es muss endlich eine
Selbstverständlichkeit werden, dass in öffentlichen Einrichtungen wie Ämtern, Bibliotheken, Universitäten oder
Schulen sowie im öffentlichen Personenverkehr auch ein
öffentlicher Zugang zum Netz möglich ist. Zu erkennen
sind darüber hinaus auch die Potenziale von WLAN-Netzen, die ebenso brachliegen, weil Privatpersonen, Hausund Wohngemeinschaften, Familien, Nachbarschaftsinitiativen oder auch kleinere Vereine aufgrund der derzeitigen Rechtsprechung daran gehindert sind, ihre Internetzugänge mit anderen zu teilen. Damit wird digitale
Teilhabe gerade auch für sozial-schwache Schichten unnötig erschwert.
Hauptgrund des Stagnierens des Ausbaus von WLANZugängen ist die derzeit bestehende Rechtsunsicherheit.
Die Rechtsprechung hat hohe Hürden für das Betreiben
privater WLAN-Zugänge aufgestellt, die letztlich dazu
führen, dass es keine oder nur sehr wenige private offene
Netze gibt. Aber auch bei den gewerblichen Anbietern,
etwa im Hotel- und Gaststättenbereich, stellt der Betrieb
von frei und allgemein zugänglichen Funknetzen ein beträchtliches Risiko dar. Anders als bei den Access Providern ist die Frage der Haftung bei diesen gewerblichen
Anbietern oftmals unklar, da es sich nicht um klassische
Telekommunikationsdienstleister handelt und daher
nicht abschließend geklärt ist, ob und inwieweit sie sich
auf die Haftungsregelungen des Telemediengesetzes berufen können und ob und in welchem Umfang von ihnen
auch unter dem Gesichtspunkt der von den Gerichten
insbesondere bei Urheberrechtsverletzungen angenommenen Störerhaftung Schutzmaßnahmen verlangt werden.
Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass auch
die Justizministerkonferenz auf ihrer Frühjahrskonferenz vom 13. und 14. Juni 2012 das Bundesministerium
der Justiz gebeten hat, sich dieser Problematik anzunehmen und die sogenannte Störerhaftung für Inhaber von
offenen WLAN-Access-Points und mobilen Internetzugängen einer Überprüfung zu unterziehen. Gleichzeitig
soll mit einer entsprechenden Neuregelung „ein Beitrag
gegen den Abmahnmissbrauch geleistet werden“.
Die Fraktion Die Linke hat sich die Mühe gemacht
und den Gesetzentwurf des Vereins Digitale Gesellschaft
zur Änderung des Telemediengesetzes eingebracht.
Auch dieser Vorschlag zielt in die gleiche Richtung. Die
Fraktion der Grünen hat ebenfalls eine Initiative zur
Haftungsbegrenzung für WLAN-Betreiber angekündigt.
Wenn man sich das Abstimmungsergebnis im Bundesrat
und die heute vorliegenden Initiativen anschaut, dann
wäre dies doch ein bedeutendes Thema, welches die
Netzpolitikerinnen und Netzpolitiker in Abstimmung mit
den Wirtschafts- und Rechtspolitikerinnen und -politikern aller Fraktionen vielleicht auch als interfraktionelle Initiative auf den Weg bringen könnten.
Im Grunde verfolgen alle drei Initiativen das gleiche
Ziel, und es ist zu begrüßen, dass wir uns offensichtlich
fraktionsübergreifend einig sind, dass hier dringender
Handlungsbedarf besteht. Von daher bin ich zuversichtlich, dass wir auch gemeinsam Wege finden können, um
dieses Ziel zu erreichen. Das zeigt aber eben auch, dass
die Bundesregierung hier - wie in vielen anderen Bereichen der Netzpolitik - ihre Hausaufgaben nicht gemacht
hat. Mit großem Getöse werden immer wieder Gesetzgebungsvorhaben angekündigt, denen aber nie irgendwelche konkreten Initiativen folgen. Unmittelbar nach der
Regierungsübernahme sollte der Dritte Korb zur Novellierung des Urheberrechtes vorgelegt werden, um das
Urheberrecht weiter an die Herausforderungen der digitalen Gesellschaft anzupassen. Ergebnis: Fehlanzeige.
Das Bundesjustizministerium hat mehrfach angekündigt,
endlich die Initiative gegen den Abmahnmissbrauch zu
ergreifen. Ergebnis: Fehlanzeige. Das Bundesinnenministerium hat angekündigt, endlich Regelungen vorzulegen, um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und den Persönlichkeitsschutz auch im Internet zu
wahren. Ergebnis: Fehlanzeige. In ihrem Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien auch vereinbart, dass
sie „die Regelungen zur Verantwortlichkeit im Telemediengesetz fortentwickeln“ werden und dass es auch zukünftig darum gehe, „einen fairen Ausgleich der berechtigten Interessen der Diensteanbieter, der Rechteinhaber
und der Verbraucher zu gewährleisten“. Wenig überraschendes Ergebnis: Fehlanzeige.
Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, hier
endlich - unter Einbeziehung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages und auch der Zivilgesellschaft - tätig
zu werden. Natürlich werden wir uns über den Weg und
die Instrumente streiten, beispielsweise ob es ausreicht,
klarzustellen, dass sich die Haftungsbeschränkung für
Access Provider gemäß § 8 TMG auch auf WLAN-Betreiber erstreckt. Es geht auch um die Frage, welche
Verpflichtungen sich für WLAN-Anbieter - gegebenenfalls muss man zwischen privaten und gewerblichen Anbietern differenzieren - aus dem Telekommunikationsrecht ergeben. Und natürlich stellt sich auch die Frage,
wie die Rechtsverfolgungsmöglichkeiten und die Funktionsfähigkeit der Strafverfolgung gewahrt werden können und wie das mit Augenmaß gelingt.
Hier hilft es aber nicht, wenn - angesichts der Tatsache, dass alle Initiativen das gleiche Ziel verfolgen und
Rechtssicherheit für Betreiber herstellen wollen und das
Haftungsrisiko analog begrenzen wollen - dann mit Unterstellungen gearbeitet wird, denen zufolge mit der Initiative des Bundesrates den „Nutzerinnen und Nutzern
hinterhergeschnüffelt“ werden soll und „technisch sinnlose Sperrtechniken“ eingesetzt werden sollen. Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass darüber
hinaus auch in einer für gewerbliche sowie auch für
nichtkommerzielle Angebote handhabbaren Weise klargestellt werden muss, in welchen konkreten Grenzen die
Betreiber offener WLAN-Zugänge Vorkehrungen zur
Wahrung von Datensicherheit, Datenschutz und Kommunikationsgeheimnis zu treffen haben. Auch die Betreiber öffentlicher WLAN-Zugänge dürfen ihre Nutzer und
Nutzerinnen und ihr Surf- und KommunikationsverhalZu Protokoll gegebene Reden
ten nicht überwachen, und genauso wie wir uns - Stichwort: Warnhinweise - gegen eine solche flächendeckende Überwachung des Datenstroms zur Verfolgung
von Urheberrechtsverletzungen bei den Access Providern einsetzen, werden wir uns gegen eine solche im Bereich der Funknetze einsetzen. Maßnahmen zum Schutz
geistigen Eigentums müssen verhältnismäßig sein. Sie
dürfen die Bürgerinnen und Bürger nicht in ihren
Grundrechten, insbesondere nicht im Recht auf informationelle Selbstbestimmung und in Bezug auf das Fernmeldegeheimnis, unverhältnismäßig beschränken. Das
muss auch bei öffentlich zugänglichen Funknetzen gelten. Das bedeutet, dass es auch im Bereich der öffentlich
zugänglichen WLANs kein Deep Packet Inspection, Tracking oder keine Inhaltefilterung geben kann - und geben darf.
Ich hoffe, dass die Bundesregierung der Aufforderung
des Bundesrates und der Justizministerkonferenz und
natürlich unseres Antrages endlich folgt und eine entsprechende Gesetzesinitiative auf den Weg bringt. Ich
würde es auch sehr begrüßen, wenn wir den großen
Konsens des Bundesrates auch im Bundestag feststellen
könnten und - falls die Bundesregierung weiterhin untätig bleibt - eine entsprechende Initiative aus der Mitte
des Parlamentes auf den Weg bringen könnten.
Es geht um die erste Beratung des von der Fraktion
Die Linke eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Telemediengesetzes. WLAN-Anschlussinhaber werden neuerdings mit Klagen überzogen, oft für
Rechtsverstöße, die sie gar nicht begangen haben.
Schuld daran ist die sogenannte Störerhaftung, wonach
die Betreiber eines WLAN auch für Rechtsverstöße Dritter zur Verantwortung gezogen werden können. Eine Exkulpierung ist nur möglich, wenn sie ihr Netz gegen
„fremde Internetnutzung“ schützen oder sicherstellen,
dass der eigentliche Rechtsverletzer statt ihrer verfolgt
werden kann.
Übersetzt bedeutet das: Betreibt jemand ein ungesichertes WLAN und werden aus diesem WLAN Rechtsverstöße begangen, kann er dafür zur Kasse gebeten
werden. Und diese Verantwortlichkeit trifft ihn immer,
wenn er - egal ob absichtlich oder unabsichtlich - sein
Netz nicht gegen Zugriffe durch Dritte abgesichert hat.
Er kann dann von Rechteinhabern kostenpflichtig aufgefordert werden, dass zukünftig aus seinem Netz eben
keine Rechtsverletzungen mehr ausgehen. Die einzige
Lösung für WLAN-Betreiber ist also, dass sie ihr Netz
durch Verschlüsselung gegen den Zugriff Dritter sperren.
Das Anliegen der Rechteinhaber, die Verletzung ihrer
Rechte zu unterbinden, ist völlig verständlich und liegt
in einem Rechtsstaat auch klar auf der Hand. Das Anliegen der Nutzer von WLANs, eben nicht für jeden Rechtsverstoß teilweise völlig fremder Personen zur Verantwortung gezogen zu werden, ist auch verständlich. Hier
muss ein Ausgleich der Interessen möglich sein; denn
wir sprechen hier nicht nur von Privatpersonen, die
WLANs für ihre Familie bereitstellen, wir sprechen auch
über Netze, die von Hausgemeinschaften genutzt werden, oder auch von Cafébesitzern, die als Teil ihres
Geschäftsmodells WLANs für ihre Gäste anbieten. Eines
haben alle gemeinsam: Sie können kaum kontrollieren,
wer sich in ihrem WLAN befindet, und werden dann später zur Kasse gebeten.
Nun mag man zuerst denken, dass das vom Bundesgerichtshof eingeführte Rechtsinstitut der Störerhaftung
nur eine Lücke schließt und Rechteinhabern verhilft, zu
ihrem Recht zu kommen. Es ist aber anders: Es zeigt einen eklatanten Mangel im aktuellen System; denn
anonymes Surfen wird mit dieser Rechtsfigur praktisch
unmöglich gemacht, wenn sich der Anschlussinhaber
nicht horrenden Forderungen der Rechteinhaber gegenüber sehen möchte.
All diese Probleme lösen die vorliegenden Entwürfe
der Oppositionsfraktionen von SPD und Linken jedoch
bei weitem nicht. Ganz im Gegenteil: Sie werfen sogar
neue Fragen auf und zeigen so, dass hier nur einem
schnellen Trend gefolgt werden soll, anstatt durchdachte
Lösungen zu präsentieren. Die Anträge sind daher abzulehnen.
Die aktuelle Rechtslage muss an die geänderten
Nutzungsgewohnheiten angepasst werden. Gleichzeitig
muss sichergestellt werden, dass anonyme Internetnutzung noch möglich ist.
Klar ist für uns auf jeden Fall: Die Verpflichtung,
dass alle Nutzer des WLAN registriert werden müssen,
lehnen wir ab, da dies das Ende der Anonymität im
Internet bedeuten würde und das Fernmeldegeheimnis
und die Meinungsfreiheit erheblich einschränkt würden.
Keiner der Anträge stellt dies zu unserer Zufriedenheit
klar! Das ist es, was wir erreichen wollen.
Um sich keiner echten inhaltlichen Debatte stellen zu
müssen, hat sich der Antrag der SPD vorsichtshalber
nur auf Allgemeinposten bezogen, ohne konkrete Vorschläge zu machen. Dass die SPD mit Netzpolitik und
Bürgerrechten eh nichts am Hut hat, hat sie auch gerade
wieder im gestern erfolglos abgelaufenen Mitgliederbegehren „Sozis gegen die Vorratsdatenspeicherung“
gezeigt. Es stellt sich daher die Frage, ob die SPD hier
nur versucht, ihre nicht existente netzpolitische Kompetenz einmal wieder unter Beweis zu stellen, oder ob einfach nur Aktionismus gezeigt werden soll.
In ihrem altruistischen Antrag hat die Linke zwar
konkrete Änderungsvorschläge für das Telemediengesetz von der Digitalen Gesellschaft e. V. abgeschrieben, aber sie offensichtlich nicht den Pferdefuß daran
gesehen; denn welche Verpflichtungen Betreiber eines
WLAN nach dem Telekommunikationsgesetz und dem
Telemediengesetz haben, wenn wir sie einfach unter die
Privilegierung für Provider stellen, und wie diese gehandelt werden sollen, wird in dem Antrag nicht klar.
Wenn ein WLAN-Betreiber - wie im Vorschlag der
Linken - mit einem Diensteanbieter gleichgestellt wird,
stellt sich die Frage, ob er dann auch dessen Pflichten,
die sich aus § 13 TMG ergeben, übernehmen muss. Und
auch im Telekommunikationsgesetz finden sich zahlreiche Speicher- und Auskunftspflichten für DiensteanbieZu Protokoll gegebene Reden
ter, denen dann auch die privaten WLAN-Betreiber unterliegen könnten. Solche Kollateralschäden können nur
auftreten, wenn Vorschläge nicht zu Ende gedacht werden, und das darf uns im Sinne der Verbraucher nicht
passieren!
Dies alles muss geklärt werden, um sicherzustellen,
dass anonymes Surfen möglich ist, das den WLANBetreibern aber auch nicht zu viele Pflichten auferlegt.
Und so kann das Ansinnen, Internet von allen für alle
zur Verfügung zu stellen, ganz schnell nach hinten losgehen. Ich plädiere daher dafür, die vorliegenden Anträge
abzulehnen.
Stattdessen müssen wir eine breit angelegte Debatte
führen und dürfen nicht nur die Verantwortung immer
wieder auf andere schieben. Schnellschüsse bringen uns
hier nicht weiter! Die Opposition tut gut daran, sich mit
durchdachten Vorschlägen in die Debatte einzubringen,
anstatt populistische Forderungen aufzustellen.
Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, in dem sie die
Bundesregierung dazu auffordert, die in § 8 des Telemediengesetzes geregelte Haftungsfreistellung für Zugangsanbieter auch auf WLAN-Betreiber auszuweiten.
Damit wiederholt sie im Großen und Ganzen das, was
der Bundesrat am 12. September 2012 bereits der Bundesregierung aufgegeben hat. Wir halten nichts davon,
bereits erteilte Prüfaufträge zu wiederholen. Wir sind
wieder einmal einen Schritt weiter und bringen einen
Gesetzentwurf ein, der die bekannten Probleme nicht
prüft, sondern löst.
Was ist eigentlich das Problem? Das Problem ist die
sogenannte Störerhaftung. Konkret bedeutet das: Wer
sein WLAN nicht oder nur unzureichend schützt und damit für jede Person in der Nähe zugänglich macht, kann
zur Verantwortung gezogen werden, wenn diese Person
bei der Verwendung des Internetzugangs eine Straftat
begeht. Wenn ich also meiner Nachbarin mein WLAN
zur Verfügung stellen möchte, weil diese sich keinen
Internetzugang leisten kann, werde ich dafür zur Verantwortung gezogen, wenn sie sich illegal Musik oder
Filme aus dem Netz herunterlädt. Die Absurdität dieser
Regelung muss man sich einmal vor Augen führen. Das
wäre so, als wenn ich ein Restaurant betreibe und nach
einer Prügelei für die an den beteiligten Personen entstandenen Schäden zur Verantwortung gezogen werden
würde. Trotz dieser offenkundigen Absurdität wurde
diese Regelung von der Rechtsprechung bestätigt. Das
hat weitreichende Folgen. So gehen Bibliotheken, Cafés,
Kommunen oder private Personen ein großes Risiko ein,
wenn sie ihre WLANs bereitstellen. Im Zweifel werden
sie darauf verzichten, dieses Risiko einzugehen. Gerade
für Kommunen, die die Idee öffentlicher Freifunknetze
unterstützen, ist dies ein zentraler Hinderungsgrund.
Die Vorteile offener WLANs liegen auf der Hand.
Gewerbetreibende hätten zum Beispiel die Möglichkeit,
ihren Kunden einen weiteren Service anzubieten. Vor allem aus sozialen Gesichtspunkten sind offene WLANs
sinnvoll. Menschen mit geringem Einkommen, die sich
keinen Internetanschluss leisten können, hätten so die
Möglichkeit, das Internet kostenlos zu nutzen. Nach dem
({0})ONLINER-Atlas 2012 nutzen nur 54,2 Prozent der
Bevölkerung mit einem Einkommen von weniger als
1 000 Euro pro Monat das Internet, bei der Bevölkerungsgruppe mit einem Einkommen bis 2 000 Euro sind
es nur 66 Prozent. Das wirkt sich besonders auf die
Bildungschancen von Kindern aus; denn Kinder ohne
Internetzugang sind von online und kostenfrei verfügbarem Wissen abgeschnitten. Offene WLANs können
also einen Beitrag dazu leisten, die zunehmende digitale
Spaltung der Gesellschaft zu verringern.
Auf Basis eines Gesetzentwurfes, den die Digitale
Gesellschaft e. V. allen Fraktionen zur Verfügung gestellt hat, schlagen wir als Lösung vor, die im § 8 des
Telemediengesetzes geregelte Haftungsfreistellung auch
auf gewerbliche und nichtgewerbliche Betreiber von
WLANs auszuweiten. § 8 des Telemediengesetzes regelt,
dass Internetanbieter nicht für fremde Informationen,
die sie im Internet übermitteln oder zu denen sie den
Zugang zur Nutzung vermitteln, verantwortlich sind.
Die Anbieter können also nicht dafür zur Verantwortung
gezogen werden, wenn eine Nutzerin oder ein Nutzer mit
dem von ihnen zur Verfügung gestellten Internetanschluss eine Straftat begeht. Offensichtlich sah also
auch der Gesetzgeber ein Problem darin, jemanden für
Straftaten verantwortlich zu machen, die sie oder er
nicht begangen hat. Bisher ist § 8 des Telemediengesetzes aber besonders auf große kommerzielle Internetanbieter zugeschnitten. Es ist nicht nachvollziehbar,
warum die Haftungsfreistellung nur für diese gelten soll,
nicht aber für lokale oder private, die ein WLAN nicht
kommerziell oder nur als begleitenden Service anbieten.
Aus diesem Grund bezieht unser Gesetzentwurf letztere
ausdrücklich mit ein.
Unser Gesetzentwurf tut dabei zwei Dinge. Zum einen
stellt er klar, dass auch Betreiber von WLANs als
Diensteanbieter im Sinne des § 8 des Telemediengesetzes gelten und damit die dort aufgeführten Regelungen
ebenfalls für sie gelten. Dabei ist egal, ob sie den Zugang absichtlich oder aufgrund unzureichender Sicherungsmaßnahmen fahrlässig anbieten. Zum anderen
geht der Gesetzentwurf das bereits ausgeführte Problem
der Störerhaftung an, indem er die Haftungsfreistellung
auch für Ansprüche auf Unterlassung ausweitet. Bisher
ist nämlich unklar, ob die Haftungsfreistellung auch
Unterlassungsansprüche ausschließt. Das sind Fälle, in
denen der Anbieter eines WLAN dafür zur Verantwortung gezogen werden kann, was ein Nutzer mit dem
Zugang zum WLAN anstellt. Um hier die dringend notwendige Rechtssicherheit zu schaffen, schlagen wir vor,
Unterlassungsansprüche gegen Anbieter von WLANs
ausdrücklich auszuschließen.
Kurz und gut: Unser Gesetzentwurf würde die dringend benötigte Rechtssicherheit für Anbieter offener
WLANs schaffen. Außerdem beseitigen wir das absurde
Risiko, wegen Straftaten, die andere begehen, haftbar
gemacht zu werden, auch für Anbieter offener WLANs.
Damit würden die gesetzlichen Grundlagen geschaffen,
die einen umfassenden Aufbau eines offenen WLANNetzes ermöglichen. Wir täten deshalb gut daran, nicht
unnötig Zeit mit irgendwelchen Prüfaufträgen zu verZu Protokoll gegebene Reden
plempern, sondern die Rechtssicherheit endlich herzustellen, am besten auf Basis unseres Gesetzentwurfes.
In seinem „Sommer unseres Lebens“-Urteil aus dem
Mai 2010 vertritt der Bundesgerichtshof die Meinung,
dass der Betrieb eines offenen WLAN grundsätzlich eine
Gefahrenquelle ({0})
darstellt, und legt demjenigen, der ein WLAN in Betrieb
nimmt, gewisse Pflichten zu dessen Sicherung auf, um so
Rechtsverstöße zu vermeiden. Unterbleiben die geforderten Sicherungsmaßnahmen, greift die sogenannte
Störerhaftung. Und weil das für die Praxis und den
Alltag der Menschen viele Probleme aufwirft, diskutieren wir seit dem Urteil die Frage, inwieweit die Privilegierung für WLAN-Betreiber aus dem Telemediengesetz
Anwendung finden muss.
Kritiker des Urteils verweisen darauf, dass der BGH
sich nicht mit dem einschlägigen Paragrafen des TMG,
§ 8, beschäftigt hat. Die Ausblendung der im TMG vorgesehenen Privilegierung sei vor allem deswegen nicht
nachvollziehbar, da es sich im Zuge der Bereitstellung
eines WLAN lediglich um eine Durchleitung, nicht aber
die Speicherung von Informationen bzw. Daten Dritter
handle. Somit könne der Betreiber eines WLAN durchaus als Access Provider angesehen werden, weshalb
sich der BGH zwingend mit der Vorschrift des § 8 TMG
hätte beschäftigen müssen. Durch dieses Versäumnis sei
ein ursprünglich weder im TMG noch in der E-Commerce-Richtlinie der EU vorgesehenes Ungleichgewicht
zwischen gewerblichen und privaten Anbietern im Vergleich zu kommerziellen Internetprovidern entstanden.
Man kann diesen Kritikern und dieser Argumentation
nur recht geben.
Das „Sommer unseres Lebens“-Urteil hat zu einer
erheblichen Rechtsunsicherheit bei den Betreibern öffentlicher WLAN-Netzwerke geführt. Als direkte Folge
des Richterspruchs schränkten zahlreiche private Anbieter und Gewerbetreibende ihre Angebote entweder stark
ein oder stellten diese komplett ein. Um es Internetcafés,
Hotels, aber zum Beispiel auch der Freifunkgemeinde zu
erlauben, anderen Personen auch weiterhin Zugang zu
WLAN-Netzwerken anzubieten, erscheint es dringend
angeraten, die durch das Urteil hervorgerufene Rechtsunsicherheit zu beheben und die ursprünglich vorgesehene Gleichbehandlung von gewerblichen und privaten
Anbietern mit kommerziellen Internetprovidern wieder
herzustellen.
Das hat offenbar auch die Justizministerkonferenz
erkannt, die die Bundesregierung bereits im Juni dieses
Jahres aufforderte, hier für Rechtsklarheit zu sorgen.
Auch der Bundesrat hat sich vor kurzem dafür ausgesprochen und die Bundesregierung aufgefordert, zu
prüfen, inwiefern die geltende Gesetzeslage präzisiert
werden kann, um so das Potenzial vorhandener WLANNetze stärker gesellschaftlich nutzbar machen zu
können. So fordert der Bundesrat die Bundesregierung
ausdrücklich auf, zu prüfen, inwieweit das Haftungsrisiko für WLAN-Betreiber beschränkt werden kann, zum
Beispiel indem die Haftungsbeschränkung für Access
Provider gemäß § 8 TMG auf andere WLAN-Betreiber
erstreckt wird. Dies wäre ein richtiger Schritt und ist
ausdrücklich zu begrüßen.
Gleichzeitig wird die Bundesregierung in dieser
Initiative „zwecks Erhöhung der Rechtssicherheit und
unter Einbeziehung von Zumutbarkeitskriterien“ aufgefordert, „Schutzmaßnahmen, die die Betreiber von
WLAN-Netzen zur Vermeidung ihrer Verantwortlichkeit
für unbefugte Nutzung durch Dritte“ zu ergreifen haben,
so „zu konkretisieren, dass Betreiber bei Erfüllung
dieser Anforderungen ihre WLANs ohne Haftungs- und
Abmahnungsrisiken betreiben können“. Was genau
unter „technischen Maßnahmen“ oder „Zumutbarkeitskriterien“ zu verstehen ist, bleibt indes leider unklar.
Sosehr wir die Intention der Initiative einer Erhöhung
der Rechtssicherheit für Anbieter von WLAN-Netzwerken begrüßen, so fraglich ist, ob den Verfassern die möglichen Auswirkungen ihrer Formulierungen bei einer
- ob nun bewusst oder unbewusst - falschen Auslegung
im Klaren sind. Hierdurch, aber auch durch die vage
Formulierung von Prüfbitten in Richtung der Bundesregierung erscheint zumindest fraglich, ob die Initiative
trotz ihrer richtigen Intention letztendlich ihr eigentliches Ziel, einen Beitrag zur Verminderung der Rechtsunsicherheit für private und gewerbliche Betreiber von
WLAN-Netzen und einen verbesserten Zugang für Dritte
zu leisten, tatsächlich zu ermöglichen imstande ist.
Auch halten wir eine weitere Aufforderung in Richtung Bundesregierung nur für bedingt geeignet, das angestrebte Ziel auch tatsächlich zu verwirklichen; denn
„aufgefordert“ wird die Bundesregierung schon lange,
was sie nicht davon abgehalten hat, diese Aufforderung
schlichtweg nicht umzusetzen. Der Meinung, dass es
nicht schaden kann, sich in die Schlange derjenigen einzureihen, die die Bundesregierung auffordern, einen
Vorschlag zur gesetzlichen Klarstellung vorzulegen und
so für Rechtsklarheit zu sorgen, ist offenbar nun auch
die SPD, die heute noch einmal einen entsprechenden
Antrag vorgelegt hat.
Wie gesagt, wir hätten uns gewünscht, dieses für einen besseren Zugang zum wichtigsten Kommunikationsraum unserer Zeit so wichtige Thema im Rahmen einer
tatsächlichen Debatte auf einem attraktiven Tagesordnungsplatz zu führen. Darüber hinaus hätten wir es als
zielführender erachtet, hier heute über einen ganz konkreten Vorschlag zu debattieren.
Andererseits können wir das Ansinnen der SPD und
ihren Versuch, die Bundesregierung mit ihrem heutigen
Antrag doch noch zum Handeln zu bewegen, durchaus
nachvollziehen: So hat zwar die Bundesjustizministerin
im September dieses Jahres, also noch vor dem Beschluss des Bundesrats, im Rahmen des „Zukunftsforums Urheberrecht“ in Berlin angekündigt, tatsächlich
das Ansinnen der Justizministerinnen und Justizminister
aufzugreifen und prüfen zu wollen, welche Möglichkeiten bestehen, ein eventuell bestehendes Ungleichgewicht
bei der Störerhaftung für WLAN-Betreiber auszugleichen. Geschehen ist bislang jedoch nichts. Während die
schwarz-gelbe Bundesregierung ansonsten gerne einmal
Zu Protokoll gegebene Reden
Referentenentwürfe vorlegt, um anschließend zuzuschauen, wie diese im monatelangen Klein-Klein zwischen den Ministerien Stück für Stück zerrieben werden,
wagt man im Bereich der Störerhaftung bei WLANs
scheinbar noch nicht einmal die Vorlage eines solchen
ersten Entwurfs. Vor diesem Hintergrund und aufgrund
des bisherigen Totalausfalls der Bundesregierung im
Bereich des Urheberrechts sowie wegen der Erfahrungen bezüglich des bescheidenen Versuchs der Bundesjustizministerin, das Abmahnunwesen in Deutschland
endlich einzudämmen, ist auch vor dem Hintergrund
ganz erheblicher konservativer Beharrkräfte in dem Bereich insgesamt heute bereits mehr als fraglich, ob eine
solche Initiative tatsächlich in dieser Legislatur noch
kommt. Es steht zu befürchten, dass hier das nächste
netzpolitische Projekt floppt.
Statt nun nur eine weitere Aufforderung in Richtung
Bundesregierung vorzulegen und sich hierbei auf die bisherigen Aufforderungen mit den beschriebenen Schwächen zu beziehen, scheint es angeraten, lieber gleich einen konkreten Gesetzesvorschlag vorzulegen, der eine
solche rechtliche Klarstellung direkt vornimmt. Dies hat
die Fraktion der Linken heute getan, indem sie eine entsprechende Initiative der Digitalen Gesellschaft e. V.
vom Juni dieses Jahres aufgegriffen hat. Diese Initiative
aus der Mitte der Zivilgesellschaft begrüßen wir ausdrücklich und finden - das sagen wir hier in aller Deutlichkeit - auch nichts Verwerfliches daran, wenn eine
Fraktion des Deutschen Bundestages sich dafür entscheidet, eine solche gute Initiative zu übernehmen und
heute hier einzubringen - im Gegenteil.
Vielmehr begrüßen wir es, dass die Regierungsfraktionen durch die Vorlage eines konkreten Vorschlags
dazu gebracht werden, sich mit diesem für unsere moderne Wissens- und Informationsgesellschaft so wichtigen Thema endlich auseinanderzusetzen. Die Hoffnung,
dass auch die Bundesregierung die anschließenden Beratungen zum Anlass nimmt, tatsächlich noch in dieser
Legislatur einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten, geben wir indes nicht auf.
Dennoch behalten wir es uns vor, ebenfalls noch einen eigenen gesetzgeberischen Vorschlag einzubringen.
Dieser soll eine haftungsrechtliche Gleichstellung von
Bürgerinnen und Bürgern und Gewerbetreibenden, die
einen Internet-Zugang via WLAN anbieten, mit kommerziellen Internetprovidern zum Gegenstand haben und
das Ziel verfolgen, es privaten Nutzern, aber auch Betreibern von Cafés und Geschäften sowie Freifunkern zu
ermöglichen, ihre Netze anderen Personen zur Verfügung zu stellen, ohne dabei Haftungsrisiken in Kauf nehmen zu müssen. Dieser Schritt ist überfällig und eine
wichtige Voraussetzung für unseren Weg ins digitale Informationszeitalter.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11145 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/11137 soll an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Federführung wieder
umstritten. Wie dramatisch! Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Die Linke
wünscht Federführung beim Rechtsausschuss.
Ich lasse zuerst über den Linken-Antrag - Federführung beim Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Vorschlag ist gegen die
Stimmen der Linken von den übrigen Fraktionen des
Hauses abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
CDU/CSU und FDP - Federführung beim Wirtschaftsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der Linken von
den übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. Oktober 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
ruhige Nacht.