Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/29/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt, die Frist für die Einreichung von Fra- gen für die Fragestunde am Dienstag, dem 9. Februar 2010, auf Donnerstag, den 4. Februar 2010, 10 Uhr, vor- zuverlegen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung der Finanzlage der Sozialversicherungssysteme und zur Einführung eines Sonderprogramms mit Maßnahmen für Milchviehhalter sowie zur Änderung anderer Gesetze ({0}) - Drucksache 17/507 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE Versicherte in der Krise schützen - Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit entschärfen - Drucksache 17/495 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Steffen Kampeter das Wort. ({3})

Steffen Kampeter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001062

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die soziale Marktwirtschaft als die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik ist keine Schönwetterveranstaltung. Sie hat sich in ihrer mehr als 60-jährigen Geschichte vor allen Dingen bei großen Herausforderungen bewährt. Dabei kam es uns allen zugute, dass unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung kein statisches System ist, sondern sich ständig fortentwickelt hat. Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war die Geburtsstunde und zugleich die erste Bewährungsprobe einer Ordnung, die Freiheit und Verantwortung miteinander verknüpft. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass viele von dieser Phase als der Zeit des Wirtschaftswunders sprechen. Diese Ordnung hat Staat und Markt so miteinander verknüpft, dass die Verheißung vom „Wohlstand für alle“ sich nicht lediglich für wenige erfüllte. Die Wiedervereinigung war eine große Bewährungsprobe, aber auch eine Bestätigung für das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, in dem Maß und Mitte eine zentrale Rolle spielen. Mit der Wirtschafts-, Währungsund Sozialunion wurde die soziale Marktwirtschaft als die Ordnung für das gesamte Deutschland fortentwickelt. In einer beispiellosen Solidaritätsaktion wurden die Folgekosten des Sozialismus übernommen und der Grundstein für eine Erfolgsgeschichte der Ideen von Ludwig Erhard, Wilhelm Röpke und Alfred MüllerArmack gelegt. ({0}) Wie zu den Zeiten der beiden ersten großen Herausforderungen unserer Ordnung ist es wiederum eine christlich-liberale Regierung, die die soziale Marktwirtschaft als Maßstab für ihre Handlungen in der Krise Redetext nimmt, dieses Mal für die Wiedererlangung von Wachstum und Stabilität nach der weltweit größten Wirtschafts- und Finanzkrise nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Rezession ist vorbei; die Gefahr von Rückschlägen kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. In jedem Falle sind die Krisenfolgen allerorten noch deutlich spürbar. Dies gilt nicht nur für die Finanzmärkte, die durch eine internationale Aktion stabilisiert wurden; dies gilt auch für die sozialen Sicherungssysteme, die krisenbedingt unter einem erheblichen Stress stehen. Wir, die christlich-liberale Regierung, wollen die Anpassungslasten in den sozialen Sicherungssystemen nicht ausschließlich den Beitragszahlern aufbürden. In einer sozialen Marktwirtschaft, so wie wir sie verstehen, gilt es jetzt, Beschäftigung und die sozialen Sicherungssysteme in einer gleichwohl ungewöhnlichen Solidaritätsaktion zu stabilisieren. Diesem Ziel, dieser Fortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft, dient der heute eingebrachte Gesetzentwurf. ({1}) Wir wollen konjunktur- bzw. krisenbedingte Mindereinnahmen in der Arbeitslosenversicherung und in der gesetzlichen Krankenversicherung mit Steuermitteln auffangen und damit sowohl die Lohnzusatzkosten als auch die Nettoeinkünfte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stabilisieren. Das heißt, im Bereich der Bundesagentur für Arbeit soll das nach bisheriger Rechtslage im Haushaltsjahr 2010 zu gewährende Darlehen in einen Zuschuss an die Bundesagentur umgewandelt werden. Der Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2010 sieht hierfür einen Betrag in Höhe von 16 Milliarden Euro vor. Ausschlaggebend ist: Ohne diesen Zuschuss des Bundes müsste der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung spürbar erhöht werden. Nur so würde die Bundesagentur für Arbeit in die Lage versetzt werden, das sonst notwendige Darlehen zeitnah zurückzuzahlen. Ich bin sicher, dass Sie meine Meinung teilen: Eine signifikante Erhöhung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung wäre in der gegenwärtigen arbeitsmarkt- und konjunkturpolitischen Lage gelinde gesagt mehr als kontraproduktiv. Sie gilt es zu vermeiden. ({2}) Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung soll der Gesundheitsfonds im laufenden Jahr einen einmaligen zusätzlichen Zuschuss in Höhe von 3,9 Milliarden Euro erhalten. Ohne diesen einmaligen Zuschuss zur Kompensation krisenbedingter Einnahmeausfälle im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung würde sich der Druck auf die gesetzlichen Krankenkassen - Stichwort Zusatzbeiträge - noch weiter erhöhen, als es zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedauerlicherweise der Fall ist. Unter Berücksichtigung dieses zusätzlichen Zuschusses erhält der Gesundheitsfonds im laufenden Jahr Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt in Höhe von fast 16 Milliarden Euro; das sind rund 5 Prozent der von der Regierung veranschlagten Ausgaben für das Jahr 2010. Nehmen wir die Bereiche Arbeitslosenversicherung und gesetzliche Krankenversicherung zusammen, wird deutlich, dass jeder zehnte Euro dieses Bundeshaushalts für Maßnahmen zur Stabilisierung der Beiträge in den sozialen Sicherungssystemen ausgegeben wird. Das zeigt, wo derzeit der Schwerpunkt unserer Aktivitäten als Reaktion auf die Finanzmarktkrise liegt. ({3}) Zur Unterstützung der milcherzeugenden Landwirte schaffen wir einen Ausgleich der konjunkturell bedingt schwierigen Einnahme- bzw. Liquiditätssituation der deutschen Landwirte. Es geht auch darum, im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung leistungsfähige Betriebe am Markt zu erhalten. Uns ist es besonders wichtig, die Milchproduktion an sogenannten Grünlandstandorten zu bewahren. Auf Grünland besteht häufig keine Alternative zur Milchproduktion. Gleichzeitig ist Grünland aus ökologischen, aber auch aus landschaftskulturellen Aspekten ein Milcherzeugungsstandort, der in der gegenwärtig schwierigen Situation auch unter konjunkturellen Gesichtspunkten einer besonderen Beachtung bedarf. ({4}) Neben dem Grünlandmilchprogramm, dessen wesentlicher Bestandteil das Milchsonderprogramm ist und für das der Bund im laufenden Jahr ungefähr 300 Millionen Euro aufbringt, wird der Bereich Landwirtschaft mit weiteren Maßnahmen unterstützt. Wir stabilisieren durch einen Zuschuss die landwirtschaftliche Unfallversicherung. Zudem gibt es Liquiditätshilfen für Landwirte. Im Jahr 2010 sind für die Landwirtschaft insgesamt 425 Millionen Euro zusätzlich vorgesehen. Es bleibt bei unserer Festlegung, die wir im Koalitionsvertrag getroffen haben: Wir werden den Bereich der Landwirtschaft in diesem und im kommenden Jahr auf Initiative der Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner mit insgesamt 750 Millionen Euro zusätzlich unterstützen. ({5}) Neben diesen drei finanziellen Unterstützungsmaßnahmen enthält der Entwurf dieses Gesetzes auch Änderungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik; denn soziale Marktwirtschaft bedeutet auch, in dieser Krisensituation die Lebensleistung der Menschen zu berücksichtigen. Konkret: Wir verdreifachen das Schonvermögen für Langzeitarbeitslose von 250 auf 750 Euro pro Lebensjahr. ({6}) Die Menschen, die infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise ihre Arbeit verlieren, sollen nicht gezwungen sein, ihre private Altersvorsorge aufzulösen, um damit ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, und dies im schlimmsten Fall mit der möglichen Folge, dass sie im Alter unterstützungsbedürftig werden. Demgegenüber erfordert die von uns vorgeschlagene gerechtere Vermögensanrechnung mehr Eigenverantwortung. Sie ist ein wichtiger Beitrag zur Vermeidung von Altersarmut. Sie stärkt in allen Bevölkerungsgruppen die Anreize, für das Alter vorzusorgen. Sie ist gelebte soziale Marktwirtschaft, so wie sie die christlich-liberale Koalition versteht. ({7}) Bundesminister Schäuble hat bereits in der vergangenen Haushaltswoche bekräftigt: Der Bundeshaushalt 2010 ist ein wichtiger und zentraler Meilenstein zur Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir schreiben die Konjunkturpakete I und II und das Bürgerentlastungsgesetz fort, und wir entwickeln das Sofortprogramm der christlich-liberalen Koalition weiter. Aber erst mit dem Inkrafttreten des heute vorgelegten Entwurfs des Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes können die Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden. Der Bundeshaushalt auf der einen und dieses Gesetz auf der anderen Seite sind eng miteinander verzahnt. Beide tragen dazu bei, dass die Lasten bei der Bewältigung der großen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht einseitig und ungerecht verteilt werden. Zulasten der öffentlichen Haushalte haben wir das Überleben des Finanzsektors unseres Landes gesichert. Jetzt wollen wir der Gesamtheit der Beitragszahler zu den sozialen Sicherungssystemen in einer entsprechenden Weise Teile der Lasten abnehmen. Das ist die Zielsetzung dieses Gesetzesvorhabens. So richtig und wichtig es ist, in der gegenwärtigen Krise zu stabilisieren, so richtig und wichtig ist es auch, auf eine konsistente und geordnete Strategie für den Ausstieg aus den staatlichen Stabilisierungsmaßnahmen zu achten und diese - das haben wir angekündigt - entschieden durchzusetzen. Das heißt auch: Wir müssen uns jetzt mit Bedacht mit den Strukturen des Bundeshaushaltes und mit den Strukturen unserer sozialen Sicherungssysteme beschäftigen. Wir müssen gerade im Hinblick auf die neue Schuldenregel im Grundgesetz ganz genau hinschauen: Wo gibt es Ineffizienzen? Was können wir besser machen? Wo besteht über dieses Gesetz hinaus ordnungspolitischer Handlungsbedarf? Dabei ist für uns die soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert Maßstab des Handelns zur Wiedererlangung von Wachstum und Stabilität. Das bedeutet für diese Bundesregierung: Wir lassen die Menschen nicht im Stich. Konsolidierung und Gerechtigkeit sind kein Widerspruch, nein, sie bedingen einander. Auf unsere Wirtschaftsordnung, die sich in der Krise so handlungs- und reaktionsfähig zeigt, sollten wir stolz sein. In diesem Sinne werbe ich um die Zustimmung zu diesem Gesetz. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bettina Hagedorn für die SPDFraktion. ({0})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Kampeter, ich bin Ihnen eigentlich sehr dankbar dafür, dass Sie gerade darauf hingewiesen haben, dass zwischen diesem Gesetzentwurf und dem Entwurf für den Bundeshaushalt 2010, über den wir hier vor einer Woche diskutiert haben, eine enge Verzahnung besteht. Allerdings meine ich das ganz anders, als Sie das gerade suggeriert haben. Es ist nämlich so: Wenn man sich den Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2010 genau anschaut, dann könnte man zu der Erkenntnis kommen, dass sich in diesem Gesetz ein Zuschuss der Steuerzahler an verschiedene Gruppen der Gesellschaft, vor allen Dingen aber an die BA und den Gesundheitsfonds von 20,6 Milliarden Euro verbirgt. Das ist aber nicht so. Um das zu erkennen, muss man das Kleingedruckte in diesem Gesetzentwurf lesen. In Wahrheit werden wir am Ende dieses Haushaltsjahres gemeinsam feststellen, dass es ungefähr, wenn überhaupt, 14 Milliarden Euro sein werden. Die 6 Milliarden Euro Differenz, die dazwischenliegen, werden nur bei einem Träger eingespart, so werden Sie es jedenfalls nennen - Sie werden von „Einsparungen“ reden -, und das wird die Bundesagentur für Arbeit sein. Wenn irgendeiner von den Kollegen hier das nicht so ganz nachvollziehen kann, bin ich gerne bereit, ihm das auf Nachfrage näher zu erläutern. ({0}) Wir reden heute über den Entwurf eines Gesetzes mit dem prägnanten, aber leicht irreführenden Titel „Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz“. Die Gesetzesbegründung gibt vor, die in der Wirtschaftskrise notleidenden sozialen Sicherungssysteme bei Arbeitslosigkeit und Krankheit jeweils mit einem einmaligen Steuerzuschuss absichern zu wollen - ich sprach schon davon: 20 Milliarden Euro sollen es laut Haushaltsentwurf der Regierung sein -, um Beitragserhöhungen mitten in der Krise zu vermeiden und die Lohnnebenkosten stabil zu halten. Ein prinzipiell guter und richtiger Gedanke, dem sich auch die SPD prinzipiell sofort anschließen kann. Aber Achtung: Nur weil jemand einen richtigen Gedanken zu haben vorgibt oder ein richtiges Ziel wie eine Monstranz vor sich herträgt, will er noch lange nicht die richtigen Instrumente gesetzlich festlegen, um dieses Ziel auch tatsächlich zu erreichen. ({1}) Mit den Namen von Gesetzen ist es bei dieser schwarz-gelben Koalition ja so eine Sache, wie wir schon in den ersten Regierungsmonaten lernen mussten. Auf der Verpackung steht manchmal etwas ganz anderes, als drin ist. ({2}) Gemeinhin ist dieser Tatbestand als Etikettenschwindel bekannt. Das war schon beim Wachstumsbeschleunigungsgesetz so, ({3}) von dem alle Sachverständigen der Republik übereinstimmend sagen, dass es weder zu wirtschaftlichem Wachstum führt noch dieses etwa beschleunigt. ({4}) Schuldenbeschleunigungsgesetz oder Hotelierfördergesetz wären zutreffendere Namen. ({5}) Wie dem auch sei, wer keinem Etikettenschwindel aufsitzen will, der ist gut beraten, sich den Inhalt kritisch anzuschauen und auch das Kleingedruckte zu lesen. Was also steckt im sogenannten SozialversicherungsStabilisierungsgesetz? Es steckt ein ganzer Bauchladen drin, ein Maßnahmebündel, das teilweise gut und richtig ist ({6}) und teilweise in die falsche Richtung geht. Da ist zunächst das Sonderprogramm für Milchviehhalter in Höhe von knapp 200 Millionen Euro pro Jahr. Da sind die Gründland- und die Kuhprämie, für die im Gesetzentwurf minutiös 54 Rinderarten aufgelistet sind. Das ist sicherlich weder ein Beitrag zum Bürokratieabbau à la FDP noch einer zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme. ({7}) Mein Kollege Wilhelm Priesmeier wird noch im Detail darauf eingehen. Als weitere Maßnahme sieht der Gesetzentwurf die Verdreifachung des sogenannten Schonvermögens vor, das Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen, zur Vorsorge für das Alter absichern soll. Dieser Maßnahme stimmt die SPD mit ganzem Herzen zu. Schade ist nur, liebe Kollegen der CDU/CSU, dass Sie solche vernünftigen sozialen Maßnahmen, solange wir gemeinsam regiert haben, stets blockierten und erst jetzt auf solche vernünftigen Vorschläge kommen. ({8}) Das könnte mit dem sozialeren Teil Ihrer Partei und mit bevorstehenden Wahlen in NRW zu tun haben. Ein Schelm, der Böses dabei denkt! Wie dem auch sei, mit dieser Maßnahme helfen wir zu Recht einer Bevölkerungsgruppe. Leider ist dies nur eine sehr kleine; denn nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit aus dem dritten Quartal 2009 können nur 0,2 Prozent der Antragsteller auf Arbeitslosengeld II von dieser Regelung profitieren. Immerhin, für diejenigen, die jahrzehntelang gearbeitet, gespart oder geerbt haben und jetzt gerade in der Krise - entgegen der Unterstellung von Ministerpräsident Koch meist trotz großer Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz - ohne Chance auf einen Job bleiben, ({9}) ist es tröstlich und gerecht, dass ihnen dieser stattliche Betrag zur zusätzlichen Altersvorsorge bleibt. ({10}) Ferner sieht dieser Gesetzentwurf einen steuerfinanzierten einmaligen Zuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung von 3,9 Milliarden Euro vor. Auch das ist eine grundsätzlich positive und richtige Maßnahme. Allerdings bleibt die Frage, warum in diesem Gesetzentwurf krisenbedingte Einnahmeausfälle im Bereich Gesundheit in Höhe von 3,9 Milliarden Euro genannt werden und bei der Bundesagentur für Arbeit der komplett gleiche Sachverhalt nicht mit einer klaren Zahl wie im Haushaltsentwurf, nämlich 16 Milliarden Euro, beschrieben wird, sondern mit einer ausgesprochen komplizierten Formulierung. Dies wird automatisch dazu führen, dass die Bundesagentur für Arbeit bis Ende dieses Jahres ihre momentane Rücklage von 3 Milliarden Euro komplett plündern muss. Denn uns wurden niedrigere Arbeitslosenzahlen prognostiziert; dies wurde uns im Jahreswirtschaftsbericht diese Woche gezeigt. ({11}) Wenn man das zugrunde legt, dann kommen wir auf einen steuerfinanzierten Zuschuss an die BA nicht von 16 Milliarden Euro, wie Sie uns glauben machen wollen, sondern von ungefähr 10 Milliarden Euro. (Georg Schirmbeck ({12}): Das ist doch etwas Schönes! Oder wollen wir das bedauern? Dass die Bundesagentur für Arbeit durch dieses Gesetz gezwungen wird, ihre Rücklagen auf null zu schrauben, eröffnet ihr ganz schwierige Perspektiven für die Jahre ab 2011. Es ist zu vermuten, dass diese Koalition das so will. Wenn die Bundesagentur für Arbeit in schwierige Zeiten kommt, lässt dies Übles befürchten hinsichtlich einer möglichen Anhebung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages ab 2011. In dieser Koalition wird die BA als Steinbruch benutzt. Dafür kommt nur ein Titel der Bundesagentur für Arbeit infrage: Das ist der Eingliederungstitel. Beim Eingliederungstitel geht es um nichts anderes als aktive Arbeitsmarktpolitik. Es ist in der Finanz- und Wirtschaftskrise und angesichts des drohenden Fachkräftemangels genau das falsche Signal, der BA die Möglichkeit zu nehmen, Instrumente einzusetzen, um die Arbeitslosigkeit zu vermeiden. ({13}) Den Arbeitslosenversicherungsbeitrag haben wir in der Großen Koalition gemeinsam gesenkt. ({14}) Es war durchaus das Ziel unserer gemeinsamen Bemühungen, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 6,5 Prozent auf aktuell 2,8 Prozent zu senken. Dadurch sind ArBettina Hagedorn beitnehmer und Arbeitgeber in den letzten Jahren um 70 Milliarden Euro entlastet worden. ({15}) Diese 70 Milliarden Euro haben dann aber logischerweise der Bundesagentur für Arbeit gefehlt. Wenn Sie nicht ab 2011 wieder einen angemessenen Arbeitslosenversicherungsbeitrag erheben oder Steuerzuschüsse über 2011 hinaus gewähren, werden Sie - das wollen Sie offensichtlich - die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesagentur für Arbeit an die Wand fahren. ({16}) Das Problem ist doch: Der Zuschuss, über den hier heute beraten wird, ist einmalig, das Defizit aber nicht. Als Herr Weise im Dezember im Haushaltsausschuss den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit für 2010 vorgestellt hat, hat er, auf Nachfrage, auch gesagt, dass die BA in Krisenzeiten wie den jetzigen, um auskömmliche Einnahmen zu haben, einen Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 4,5 Prozent bis 4,8 Prozent bräuchte. Bei dem Berichterstattergespräch, das vor ein paar Tagen im Bundesministerium für Arbeit stattfand - auch Frau Winterstein und Herr Fischer waren dabei -, hat Herr Weise gesagt: Auch wenn wir keine Krise hätten, bräuchte er, um auskömmlich wirtschaften zu können, einen Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 3,25 Prozent. Da der Arbeitslosenversicherungsbeitrag aber bei 2,8 Prozent liegt und der von Ihnen vorgeschlagene Zuschuss ein einmaliger Zuschuss sein soll, ist eines klar: Dieses Gesetz trägt die Beitragserhöhung ab 2011 schon in sich. ({17}) Mehr netto vom Brutto entpuppt sich unter diesem Gesichtspunkt als reine Augenwischerei. ({18}) Die Koalition hat dieses Ziel insbesondere im Wahlkampf wie eine Monstranz vor sich her getragen. In Wahrheit wird mit den Differenzen zwischen Haushalt und Gesetz, die ich gerade zu erläutern versucht habe, der Wählerbetrug offenbar. Was Sie ab 2011 machen, bedeutet doch nichts anderes, als dass - das ist hier angelegt - der Arbeitslosenversicherungsbeitrag massiv steigen muss. Sie wollen es nur noch nicht zugeben, vor allen Dingen nicht vor der Wahl in NRW. Den Gesundheitsbereich stützen Sie einmalig mit 3,9 Milliarden Euro aus Steuermitteln. Ab 2011 wollen Sie aber die Arbeitgeberbeiträge deckeln. Auch das geht zulasten der Arbeitnehmer; denn in dieser Maßnahme ist versteckt, dass die Zusatzbeiträge - im Moment ist davon die Rede, dass ein Zusatzbeitrag von 8 Euro erhoben werden soll - massiv steigen müssen. Hinzu kommt, dass Sie wollen, dass auch für die Pflege privat vorgesorgt wird. Rechnet man all das zusammen, erkennt man, dass für die normale Familie, für den normalen Arbeitnehmer in Deutschland spätestens ab 2011 erheblich weniger netto vom Brutto übrig bleiben wird. ({19}) Ich komme zum Schluss. ({20}) Dieses Gesetz stabilisiert die sozialen Sicherungssysteme leider nur für ein Jahr. Dieses Gesetz verhindert Beitragserhöhungen bei Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung leider nur für ein Jahr. ({21}) Dieses Gesetz ist eine unehrliche Antwort auf die Unterfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Diese Unterfinanzierung wird zwar, wie wir alle wissen, durch den demografischen Wandel verursacht; durch die massiven Steuersenkungen, die Sie vornehmen wollen, verschlimmern Sie diese Unterfinanzierung aber mutwillig. ({22}) Zu diesem Gesetzentwurf muss - da sind wir uns bei diesem Volumen und dieser Brisanz für unseren Staat und für die sozialen Sicherungssysteme sicherlich einig eine Anhörung stattfinden. Ich sage abschließend: Mit diesem Gesetz spannen Sie tatsächlich, wie Sie es dargestellt haben, einen Schutzschirm auf - allerdings für die Kälte, die Sie selbst erzeugen. ({23}) Das ist mitnichten eine Solidaritätsaktion, Kollege Kampeter. In Wahrheit ist es so, als würden Sie einen Radiator gegen die Kälte anstellen und gleichzeitig den Strom abschalten. Ich danke Ihnen. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Claudia Winterstein für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befassen uns hier mit dem zweiten Teil der Sofortmaßnahmen der Koalition, nämlich - Frau Hagedorn hat es schon gesagt - dem Schutzschirm für Arbeitnehmer. Nach der steuerlichen Entlastung zum Jahreswechsel durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz werden hiermit weitere Punkt aus der Koalitionsvereinbarung umgesetzt. Frau Hagedorn, haben Sie eine Glaskugel, oder legen Sie Karten? ({0}) Ich frage mich, wie Sie zu Ihrem Urteil über das Wachstumsbeschleunigungsgesetz kommen, das gerade einmal seit vier Wochen in Kraft ist. Warten Sie es doch einfach ab! Sie werden ganz sicher positiv überrascht werden. ({1}) Das geplante Darlehen an die Bundesagentur für Arbeit wird in einen Zuschuss umgewandelt. Der Gesundheitsfonds erhält einen zusätzlichen Bundeszuschuss. Das Gesetz beinhaltet eine besonders gute Nachricht für die Menschen - das ist schon gesagt worden -, die derzeit vielleicht Sorge um ihren Arbeitsplatz haben oder seit einiger Zeit arbeitslos sind und möglicherweise in die Lage kommen, Arbeitslosengeld II beziehen zu müssen: die Anhebung der Freibeträge für die Altersvorsorge. Diese Freibeträge werden - wie vor der Wahl versprochen und in der Koalitionsvereinbarung festgelegt von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr erhöht und damit verdreifacht. Hierzu wird mein Kollege Johannes Vogel nachher Näheres berichten. Das Gesetz beinhaltet außerdem zwei gute Nachrichten für alle Beitragszahler in der Sozialversicherung: Die konjunkturell bedingten Mindereinnahmen in der Krankenversicherung und der Arbeitslosenversicherung werden nicht in vollem Umfang den Beitragszahlern aufgebürdet, sondern mit einem Zuschuss vom Bund aufgefangen. Beide Versicherungen müssen 2010 mit einem erheblichen Defizit rechnen; das ist uns allen klar. Der Bund deckt das erwartete Defizit bei der Krankenversicherung mit seinem Zuschuss zu mehr als der Hälfte ab - Frau Hagedorn, das ist ein festgelegter Betrag in Höhe von 3,9 Milliarden Euro -, bei der Arbeitslosenversicherung sogar in vollem Umfang. Insofern ist hier nicht von einer Kürzung die Rede. Es gibt diese unterschiedlichen Beträge, weil wir eben noch nicht genau wissen, wie hoch das Defizit ausfallen wird. Die Höhe des Zuschusses richtet sich nach der Größe des Defizits. ({2}) Wirtschaftskrisen wirken sich bei der Bundesagentur für Arbeit immer besonders stark aus, weil sie sowohl bei den Einnahmen wie auch bei den Ausgaben betroffen ist: Die Einnahmen brechen weg, weil es weniger Beschäftigte gibt und die Versicherung somit geringere Einzahlungen erhält; die Ausgaben steigen, weil es mehr Arbeitslose gibt, von denen Leistungen bezogen werden. Mit dem Defizit aus dem Jahr 2009 in Höhe von 13,9 Milliarden Euro ist die Bundesagentur ja noch selber zurechtgekommen, weil sie Geld aus der Rücklage entnehmen konnte. Im Jahr 2010 sieht das anders aus: Wir müssen von einem Defizit von bis zu 17,8 Milliarden Euro ausgehen. Wir wissen aber noch nicht, ob das Defizit so hoch sein wird, und warten die weitere wirtschaftliche Entwicklung ab. Dementsprechend wird der Zuschuss ausfallen: ({3}) vielleicht 16 Milliarden, 14 Milliarden oder 17 Milliarden Euro. Wir wissen es noch nicht. Frau Hagedorn, ich denke, als Haushälterin sollten Sie sich freuen, wenn es letztendlich ein Zuschuss von nur 13 oder 14 Milliarden Euro wird, weil sich die Konjunktur so positiv entwickelt hat. ({4}) Schon von der vorherigen Regierung war im ersten Haushaltsentwurf für 2010 verankert worden, dass die Bundesagentur ein entsprechendes Darlehen bekommt. Insofern sind wir einen Schritt weitergegangen: Wir haben gesagt, dass ein Darlehen zum jetzigen Zeitpunkt sicher ein Problem wäre, weil die Bundesagentur nicht in der Lage wäre, dieses zurückzuzahlen, es sei denn - das wollen wir nicht -, die Beiträge würden erhöht. Daher haben wir uns entschlossen, hier einen Zuschuss zu gewähren. Das ist zwar eine hohe Belastung für den Bundeshaushalt - das muss man ganz klar sehen -; aber ich denke, es ist die einzige praktikable Lösung, die es in diesem Jahr gibt. Es ist aus meiner Sicht wichtig, hinzuzufügen, dass diese Entlastungsmaßnahmen natürlich für das Jahr 2010 gelten und nicht auf Dauer angelegt sind. Ich habe auch schon in der Beratung zum Einzelplan 11 deutlich gesagt: Wir wollen, dass die im Koalitionsvertrag vereinbarte Aufgabenkritik sehr bald zu konkreten Ergebnissen und damit eben auch zu Kostensenkungen bei der Bundesagentur führt; denn wir wollen eine Erhöhung der Beitragssätze vermeiden. Auch beim Gesundheitssystem strahlt die Krise ins Jahr 2010 aus. Die Einnahmen aus den Versichertenbeiträgen werden nicht ausreichen, um alle Gesundheitskosten abzudecken. Deswegen müssen wir nun zusätzlich und - ich betone - einmalig 3,9 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung stellen. Der Steuerzuschuss an den Gesundheitsfonds wächst damit im Jahr 2010 auf 15,7 Milliarden Euro an. Bedenklich ist, dass damit das Geld für die Krankenkassen noch immer nicht ausreicht. Millionen Versicherte werden Zusatzbeiträge an ihre Kassen zahlen müssen. Das ist kein Betriebsunfall und schon gar nicht die Schuld des jetzigen Gesundheitsministers. ({5}) Der Zusatzbeitrag in Kombination mit dem Gesundheitsfonds war der faule Kompromiss in der Gesundheitspolitik der Großen Koalition, zwei völlig gegensätzliche Konzepte zu vereinen. ({6}) - Nein, nein. ({7}) Die Ausgabeseite wurde dabei von Ulla Schmidt völlig vernachlässigt. Als Folge davon wurden die Ausgaben der Kassen - das muss man sich einmal vorstellen von 144 Milliarden Euro im Jahre 2005 auf über 167 Milliarden Euro im Jahre 2009, also um 23 Milliarden Euro, angehoben. Die Zeche zahlen jetzt die Versicherten. Durch die jetzt entstandene Situation wird überdeutlich gezeigt, dass wir die Gesundheitsfinanzierung dringend neu organisieren müssen. Die Regierungskommission wird hierzu ja auch Vorschläge unterbreiten. Es geht aber natürlich auch darum, Effizienzreserven im System ausfindig zu machen. Wir wollen die Ausgaben durch mehr Wettbewerb dämpfen und müssen prüfen, ob wir durch bessere Organisationsstrukturen effektiver mit den Beitragsgeldern umgehen können. ({8}) Auch die Kassen sind aufgefordert, ihre Ausgaben auf Einsparpotenziale zu durchforsten. ({9}) Immer mehr Steuermittel in ein nicht funktionierendes System zu leiten, ist keine Lösung. Das letzte Element dieses Gesetzentwurfs ist ein Sonderprogramm mit Hilfen für Milcherzeuger, das sogenannte Grünlandmilchprogramm. In diesem Sonderprogramm sind für die Jahre 2010 und 2011 besondere Grünlandprämien vorgesehen, wodurch den Milchbauern geholfen wird, die existenziellen Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu überwinden. Noch eine letzte Bemerkung. Alle Belastungen, die dieser Gesetzentwurf für den Bundeshaushalt mit sich bringt, sind im Haushaltsentwurf 2010 bereits berücksichtigt. Die Nettoneuverschuldung musste gegenüber dem ersten Haushaltsentwurf von Finanzminister Steinbrück nicht erhöht werden. Wir satteln also nicht drauf. ({10}) Dies ist aus Haushältersicht eine durchaus positive Nachricht. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Kathrin Senger-Schäfer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Senger-Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004154, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Rösler, welch ein Glück für Sie: Sie haben Ihre medizinische Ausbildung bei der Bundeswehr erhalten. Dort haben Sie gelernt, sich zu tarnen - eine Fähigkeit, die Ihnen heute sehr zugutekommt. ({0}) Sie tarnen den radikalen Bruch in der gesetzlichen Krankenversicherung als notwendige Reform. ({1}) Damit wollen Sie Millionen von Krankenversicherten täuschen. Das ist unverantwortlich. ({2}) Zu diesem Vorgehen passt dann auch das Konzept von Herrn Schäuble, das er zur Sicherung der Sozialsysteme auf den Weg bringen will. Der von ihm geplante Schutz der Arbeitnehmer ist in Wirklichkeit ein Schirm zum Schutz der Arbeitgeber. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lässt er in der Finanzkrise in unchristlicher Art im Regen stehen. ({3}) Das ist unredlich. Es ist unsozial und entspricht auch nicht dem Gedanken, dass starke Schultern mehr tragen sollten als schwache. ({4}) Das ist typisch für diese Regierung. Herr Rösler, Sie wollen in der gesetzlichen Krankenversicherung die Ausfälle des Gesundheitsfonds mit 3,9 Milliarden Euro aus Steuermitteln auffangen. ({5}) Mir ist schleierhaft, wie Sie mit 3,9 Milliarden Euro ein voraussichtliches Finanzloch von sage und schreibe 7,9 Milliarden Euro stopfen wollen. Ich sage Ihnen jetzt schon voraus, dass diese Regierung den Rest den Versicherten aufs Auge drücken wird. Zur Wahrheit gehört auch, dass der Gesundheitsfonds nicht ausschließlich durch die Finanzkrise in die derzeitige schlechte Lage gebracht wurde. Der Gesundheitsfonds war und ist von Anfang an - ich behaupte: bewusst - mit unzureichenden finanziellen Mitteln ausgestattet worden. Im Übrigen handelt es sich hierbei um eine Hinterlassenschaft der Großen Koalition, also auch der SPD. ({6}) Von Anfang an war gewollt, dass einzelne Krankenkassen über die sprichwörtliche Klinge springen sollten, um damit den Wettbewerb zu verschärfen. Diese Wettbewerbsverschärfung führt aber weder zu einem fruchtbaren Wettstreit um die besten Leistungsangebote noch zu einer besseren Qualität der Versorgung. Weil die Kassen in diesem Fall das Sonderkündigungsrecht ihrer Versicherten fürchten, sind sie sich mehrheitlich einig, Zusatzbeiträge zu erheben. Wir erleben dazu nun einen großen Aufschrei, und selbst Frau Merkel verzieht dabei die Miene und ruft jetzt nach dem Kartellamt. Aber: Gesundheit ist keine Ware. Dabei bleibt die Linke. ({7}) Alle Menschen in unserem Land haben einen Anspruch auf eine gute, solide und gerechte Gesundheitsversorgung. Wettbewerb hat im Gesundheitswesen nichts verloren. ({8}) Ich frage auch Sie: Wer muss Ihre grandiosen Wettbewerbsideen bezahlen? Das sind die 70 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung und auch die Arbeitslosengeld-II-Beziehenden, die ohnehin jeden Cent zweimal umdrehen müssen. Das ist, mit Verlaub, zutiefst unsozial. ({9}) Zweifellos gibt es zusätzliche Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, die wir auch wollen. Dazu gehört zum Beispiel die spezialisierte ambulante Palliativversorgung, also die Betreuung und Versorgung von todkranken Menschen. Das ist aber nur dann möglich, wenn man sich vorher überlegt hat, wie man das bezahlen will. Der Gesundheitsfonds ist aber chronisch unterfinanziert. Genau dieses Dilemma ließe sich durch den Antrag meiner Fraktion Die Linke verhindern. ({10}) Zurzeit zahlt der Staat einen festgelegten Pauschalbetrag von derzeit 126 Euro im Monat für alle Arbeitslosengeld-II-Beziehenden als Beitrag zur Krankenversicherung. Das reicht längst nicht, und das wissen Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Wir haben vorgeschlagen - und dabei bleiben wir auch -, diesen Betrag auf circa 260 Euro im Monat und pro Mitglied zu erhöhen. Das brächte rund 5 Milliarden Euro mehr für die gesetzliche Krankenversicherung, was zweifelsohne die gesundheitliche Versorgung verbessern würde. ({11}) Das wäre jedenfalls ein sinnvolleres Sofortprogramm für die Krankenversicherung als die unsinnige Einführung von kleinen oder großen Kopfpauschalen, getarnt als Zusatzbeitrag bzw. Gesundheitsprämie. Damit erübrigte sich jede Diskussion um die Zusatzbeiträge und auch darüber, ob die Arbeitslosengeld-II-Beziehenden die Zusatzbeiträge selber zu tragen hätten. Für die Linke bleibt aber im Grundsatz die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, in die alle einzahlen, die Abgeordnete genauso wie die Mitarbeiterin in der Kantine, die einzig denkbare und wirksame Alternative. ({12}) Denn für uns, die Partei Die Linke, ist der Mensch das Maß der Dinge. ({13}) Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Werte Kollegin, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Gratulation und alle guten Wünsche für Ihre weitere Arbeit in diesem Hause! ({0}) Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Allein der Titel des Gesetzentwurfes, über den wir heute in erster Lesung beraten, ist ein Täuschungsmanöver: Gesetz zur Stabilisierung der Finanzlage der Sozialversicherungssysteme. Das, was Sie von der Regierung als Stabilisierung bezeichnen, ist in Wahrheit nicht mehr als das notdürftige Verpflastern von Wunden am Sozialstaat, die größtenteils oder jedenfalls zu einem nicht geringen Teil erst durch Sie und die Vorgängerregierung gerissen wurden. ({0}) Beginnen wir mit dem Zuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung. Sie von der Union haben doch die strukturelle Unterfinanzierung der gesetzlichen Krankenkassen in die Wege geleitet, indem Sie gemeinsam mit der SPD den Gesundheitsfonds beschlossen und die mutwillige Senkung der Beitragssätze in der GKV vorgenommen haben. ({1}) Frau Aigner, dass Sie jetzt über die Erhebung von Zusatzbeiträgen jammern, ist schon scheinheilig genug. Aber dass Sie sich nun selbst für einen Steuerzuschuss loben, der zumindest in dieser Höhe gar nicht notwendig gewesen wäre, wenn Sie nicht den Gesundheitsfonds mit seinen Unterdeckungsregeln beschlossen hätten, ist dreist. Ein besonderes Licht auf Ihren Stil der Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme wirft etwa die Entlassung von Herrn Sawicki, dem Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Anstatt die Voraussetzung für eine Dämpfung des Kostenanstiegs etwa bei den Arzneimitteln zu schaffen, nehmen Sie das Geld der Steuerzahler. Die Steuerzahler sollen nach Ihrem Willen für die Interessen von Pharmaindustrie bis hin zu Apothekern aufkommen. Wir dürfen vielleicht schon auf die Spendenzahlungen des Jahres 2010 gespannt sein. ({2}) Kommen wir zur Arbeitslosenversicherung. Auch bei der Arbeitslosenversicherung ist ein Großteil des bisherigen Defizits der erheblichen Senkung des Beitragssatzes auf bis zu 2,8 Prozent geschuldet, die ebenfalls mit der SPD beschlossen wurde, zu einem Zeitpunkt, als die Krise bereits am Horizont erschien. Sei’s drum! In der gegenwärtigen Situation gibt es natürlich keine Alternative zum Defizitausgleich durch den Bund. Sie bleiben aber jegliche Aussage schuldig, wie es ab 2010 weitergehen soll. Wie soll denn die Bundesagentur für Arbeit das für 2011 erwartete Defizit in Höhe von 11,3 Milliarden Euro decken? ({3}) Wie soll denn das in der mittelfristigen Finanzplanung der Bundesagentur für Arbeit vorgesehene Gesamtdefizit in Höhe von 25,4 Milliarden Euro gedeckt werden? Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, dass die Bundesagentur dies als Darlehen schultert oder sogar zurückzahlt. Sie wissen genauso gut wie ich, dass man ein Defizit in diesem Umfang, selbst wenn man hart einschneidet, nicht durch Einsparungen auffangen kann. ({4}) Was also mit Sicherheit kommen muss, ist eine Erhöhung des Beitragssatzes. Nach unseren Berechnungen ist ein Anstieg auf 4,5 Prozent notwendig, um den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit dauerhaft zu stabilisieren. Aber dazu schweigen Sie natürlich. Es wäre ja auch zu peinlich, wenn Sie bereits wenige Wochen nach Ihrem merkwürdigen Klientelbegünstigungsgesetz zugeben müssten, dass etwa die Kindergelderhöhung bei den Beitragszahlern gar nicht ankommt, weil Sie ihnen das durch Beitragssatzsteigerungen wieder wegnehmen. Also wird munter mit Steuerzuschüssen weiter geflickt, um über den Termin der Landtagswahl in NordrheinWestfalen hinwegzukommen. ({5}) Damit Sie das Ganze als Wohltat verkaufen können, garnieren Sie Ihre Mogelpackung noch mit zwei Zückerchen: der Erhöhung des Schonvermögens für die Altersvorsorge im Rahmen des Arbeitslosengeldes II und einem Sonderprogramm für Milchviehhalter. ({6}) Zu Letzterem wird nachher mein Kollege Friedrich Ostendorff etwas sagen. Deshalb kann ich mich jetzt auf die Erhöhung des Schonvermögens konzentrieren. So sinnvoll das im Grundsatz natürlich ist, so sehr geht es doch an den Sorgen und Nöten der Masse der Langzeitarbeitslosen vorbei; ({7}) denn nur ein Bruchteil der Arbeitslosengeld-II-Beziehenden erhält aufgrund zu großer Vermögen keine Leistungen. Die meisten Langzeitarbeitslosen haben doch in ihrem Leben nie die Chance gehabt, ein Vermögen von rund 50 000 Euro für die Altersvorsorge anzusparen und festzulegen. ({8}) Der Masse der Langzeitarbeitslosen wäre sehr viel mehr etwa durch eine Erhöhung des Regelsatzes geholfen, und diese Erhöhung hätte überdies auch noch positive konjunkturelle Effekte, weil sie unmittelbar der Steigerung der Binnennachfrage zugute käme. ({9}) Vollends absurd wird Ihre Behauptung einer Stabilisierung des Systems der sozialen Sicherung, wenn man sich anschaut, was Sie sonst noch planen und bereits tun. Sie deckeln etwa die Mittel für das Programm „JobPerspektive“ und verringern damit die beinahe einzige Chance für Langzeitarbeitslose mit besonderen Vermittlungshemmnissen, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bekommen. Die Arbeitsministerin bereitet die Zerschlagung der Jobcenter vor, die vor Ort wirklich niemand will, weil absehbar ist, dass sich die Betreuung der Betroffenen vor Ort verschlechtern und die Bürokratie sich verdoppeln wird. ({10}) Meine Damen und Herren von der Regierung, was Sie mit diesem Gesetz stabilisieren, sind Ihre Klientelinteressen. ({11}) Was Sie mit diesem Gesetz stabilisieren, ist ein berechtigtes Misstrauen mit Blick auf die Zukunft. Sie versuchen, den Patienten Sozialstaat noch einmal mit Pflastern aufzuhübschen, aber Sie wissen schon genau, dass Sie ihn nach der NRW-Wahl amputieren wollen. ({12}) Wir vom Bündnis 90/Die Grünen werden dafür kämpfen, dass dieses Manöver nicht aufgeht; denn die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land und besonders diejenigen in Nordrhein-Westfalen wollen mehr vom Sozialstaat als nur einen Torso. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Georg Schirmbeck für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Abgeordneter Kelber, auf diesen Punkt kommen wir noch bei der zweiten und dritten Beratung des Bundeshaushaltes zurück. Dann werden Sie den Saal hier unter Tränen verlassen; das verspreche ich Ihnen jetzt schon. ({0}) Das Pulver wird trocken gehalten. Sie können mich heute nicht provozieren, das schon jetzt zu verschießen. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man sich die Debatte hier eine Zeit lang anhört, könnte man depressiv werden, und man hat den Eindruck, wir wären hier in einem Entwicklungsland, einem Land jedenfalls, das mit Deutschland überhaupt nichts zu tun hat. Können wir auf diesen Sozialstaat, so wie wir ihn heute ganz konkret erleben, nicht stolz sein, darauf, dass wir es gemeinsam geschafft haben, dass wir fleißige Bürgerinnen und Bürger haben? ({1}) Wo ist die Krankenversicherung wesentlich besser als in Deutschland? Wo ist die Unfallversicherung wesentlich besser als in Deutschland? Wo wird sich um Arbeitslose wesentlich besser gekümmert als in Deutschland? Das haben wir doch gemeinsam auf den Weg gebracht. Haben wir nicht wirklich Grund, darauf stolz zu sein? Was wir als Große Koalition jetzt machen, ist Folgendes: Wir helfen im ländlichen Raum den Bauern - ({2}) - Meine sehr geehrten Damen und Herren, man ist ja manchmal nicht so auf den neuesten Terminus eingestellt; das ändert sich auch manchmal. Die liberal-christliche Koalition, das kriegen wir ja auch gut hin. Was wir konkret gemacht haben und was wir konkret tun, besteht darin, dass wir bei unseren Bauern die Beiträge für die landwirtschaftliche Unfallversicherung durchschnittlich um 45 Prozent senken. Das ist doch ein Ergebnis für alle im ländlichen Raum. ({3}) - Frau Hagedorn, Sie haben ja schon nicht verstanden, was Sie vorhin vorgetragen haben. Deshalb kann ich auch nicht erwarten, dass Sie das verstehen, was ich jetzt vortrage. Das ist eben ein bisschen zu schwierig. ({4}) Ich sage Ihnen dazu eines. Es ist nach wie vor wahr: Wenn die Bauern, auch wenn es wenige geworden sind, im ländlichen Raum gute Stimmung haben, wenn sie sich unternehmerisch etwas vornehmen, dann ist gute Stimmung im ganzen Dorf. Es führt dazu, dass in den Dörfern etwas unternommen wird, dass dort investiert wird, dass sich etwas bewegt, und dann haben viele im ländlichen Raum Arbeit. Das ist es doch, was wir wollen. Wenn nämlich viele Arbeit haben, bekommen wir viele Beiträge für die verschiedenen Sozialversicherungssysteme. Dann brauchen wir uns auch nicht mehr vorzuhalten, ob der Zuschuss des Staates an die Kassen größer oder kleiner ist. Wir brauchen nicht mehr zu spekulieren, was 2011 oder 2012 sein wird. Bei Ihren Formulierungen, so wie Sie sie hier vortragen, habe ich manchmal den Eindruck, dass Sie ganz erschüttert sind, dass die Arbeitslosenzahlen nicht um 1 Million höher sind. Über die tatsächlichen Zahlen sollten wir uns doch freuen. Wir können uns doch freuen, dass im vorigen Jahr das Staatsdefizit um 15 Milliarden Euro geringer war, als es noch vor Weihnachten prognostiziert wurde - das ist doch schon einmal ein Ergebnis -; denn Sie hätten sich doch auch mit den negativen Zahlen auseinandersetzen müssen, wenn die Prognose eingetreten wäre. Jetzt wollen wir für den ländlichen Raum etwas machen, weil besonders die Grünlandbetriebe, also die Milchbauern, erhebliche Probleme haben. Daraufhin überlegen wir uns: Wie kann man da helfen? Dabei müssen wir uns eingestehen, dass in der Agrarpolitik ein sehr ausgeprägtes Gemeinschaftsrecht gilt und dass wir deshalb nicht einfach sagen können: Wir Deutschen haben eine Idee und setzen diese um. Wir müssen uns nun fragen: Wie kann man beispielsweise 100 Millionen Euro für eine Gründlandprämie konkret zur Verfügung stellen? Da stellen wir fest, dass man erst 2 Millionen Euro EU-Zuschüsse aktivieren muss, um national überhaupt handeln zu können. Man kann jetzt an der einen oder anderen Stelle beklagen, dass das alles sehr kompliziert ist. Aber dann muss man einen Weg finden, diese Schwierigkeiten zu überwinden, damit ganz konkret Geld zur Verfügung gestellt werden kann. Jetzt darf man aber nicht nur das sehen, was wir für die Grünlandbetriebe tun. Wir haben auch im Hinblick auf die Gasölverbilligung etwas getan. Ich habe eben gesagt, dass wir im Bereich der landwirtschaftlichen Unfallversicherung etwas getan haben. Wenn man dieses gesamte Maßnahmenpaket sieht, dann bedeutet das für die landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland ein Plus von durchschnittlich 4 500 Euro. Nun kann man sagen: 4 500 Euro sind nicht die Welt. Andererseits ist das doch eine Menge Geld. Eine alte Frau muss schon sehr lange stricken, bis sie das verdient hat. ({5}) Ich sage noch einmal: Es geht gar nicht so sehr um den absoluten Betrag, der zur Verfügung gestellt wird. Viel entscheidender ist, dass die Betroffenen sehen, dass der Staat die Betriebe in dieser schwierigen Situation nicht alleine lässt, sondern dass er sich entschieden für sie einsetzt. ({6}) Ich sage aber auch deutlich: Sosehr wir überzeugt sind, dass hier konkret gehandelt werden muss, so sehr muss die liberal-christliche Koalition darauf hinweisen, dass diese Maßnahmen Strukturentscheidungen, die im landwirtschaftlichen Bereich getroffen und umgesetzt werden müssen, nicht ersetzen. Auf Dauer kann der Staat unternehmerischen Erfolg und gute Preise in der Landwirtschaft durch Maßnahmen wie diese, die wir hier beschließen wollen, nicht ersetzen. Dies ist eine Übergangshilfe in einer schwierigen Zeit, die aber nicht die richtigen unternehmerischen Entscheidungen für die Zukunft ersetzt. Ich habe bei der ersten Lesung des Einzelplanes 10 in der vorherigen Woche schon gesagt: Ich bin nicht sicher, dass wir alle Ansätze so, wie wir sie in der Vergangenheit gewohnt waren, zukünftig halten können. Ich sage das in der Öffentlichkeit, damit sich die Betroffenen darauf einstellen können. Das gehört mit zur Redlichkeit. Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen: Es kommt nicht darauf an, hohe Zuschüsse zu geben, sondern es kommt darauf an, dass diese Zuschüsse zielgenau erfolgen, dass wir den Leuten Mut machen, dass wir einen Beitrag dazu leisten, dass Unternehmer etwas unternehmen, damit die Leute in unserem Staat Arbeit bekommen. Jeder kann hier an seinem Platz in den Ausschüssen, aber auch in seinem Wahlkreis ganz gezielt Maßnahmen ergreifen, damit in den nächsten Jahren nicht die Zahl der Arbeitslosen, sondern die Wirtschaft wächst. Wenn nämlich unsere Wirtschaft wächst, dann werden damit auch die Probleme unserer Volkswirtschaft gelöst. Das muss man mit einer gesunden Portion Optimismus machen. Man darf nicht alles schlechtreden; denn Optimismus, das Bauchgefühl, etwas für die Zukunft zu gestalten, macht mindestens 50 Prozent des Erfolges unserer Volkswirtschaft aus. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ewald Schurer für die SPD-Fraktion. ({0})

Ewald Schurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Erst einmal möchte ich - das wird Sie wundern - den Herrn Minister Rösler vor den giftigen Pfeilen der Kollegin von der Linken in Schutz nehmen. ({0}) Der Grund ist, dass das, was Sie gesagt haben, so nicht stimmt. Der Herr Minister Rösler ist bisher offen gewesen und hat auch hier in diesem Hause klar gesagt: Er ist für einen Ausstieg aus einer einkommensabhängigen Finanzierung; er will für die Zukunft eine einkommensunabhängige Finanzierung. Er will mehr oder minder aus dem Prinzip der Parität in der Krankenversicherung aussteigen und in das System der Kopfpauschale einsteigen. Das ist eine gravierende Veränderung. ({1}) - Der Sozialausgleich - danke für diesen netten Zwischenruf - sieht so aus, dass der Ausgleich - so sagt der Minister, und das nehme ich ihm ab - nicht mehr über die Sozialbeiträge, sondern über Steuern erreicht werden soll. ({2}) - Hören Sie zu, dann lernen Sie noch etwas! ({3}) Herr Schäuble aber sagt: Dafür habe ich kein Geld, es sei denn, wir würden eine Sondersteuer zur Finanzierung des Gesundheitssystems einführen. Das ist die aktuelle Faktenlage. Hinzu kommt, dass ab Februar 2010 eine Kommission zur Gesundheitsreform tagen wird. Die Arbeit dieser Kommission kann sich hinziehen. Das Ergebnis dieser Arbeit wird auf jeden Fall nicht dazu führen, dass wir in den nächsten Monaten und Jahren eine größere Orientierung bekommen. Bekanntlich braucht aber das Gesundheitssystem jetzt Orientierung. Von daher sehe ich das ein bisschen anders. Der Herr Minister hat eine klare Botschaft verkündet. Er will in eine neue Richtung marschieren, aber er weiß noch nicht, wie das umgesetzt werden soll. Das schafft bei den Akteuren im Gesundheitswesen nicht mehr Vertrauen, sondern Unsicherheit en masse. ({4}) Es geht um die 3,9 Milliarden Euro, die innerhalb der 15,7 Milliarden Euro Gesamtzuschüsse an den Gesundheitsfonds geleistet werden sollen. Dieser Betrag ergibt sich ja aus drei Komponenten: zum ersten die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder und der Jugendlichen in Ausbildung, zum zweiten die zum 1. Juli 2009 noch von der Großen Koalition - Herr Kollege Schirmbeck, Sie sehnen sich danach zurück; ich kann es auch verstehen - induzierte Beitragssatzsenkung von 15,5 Prozent auf 14,9 Prozent. Der dritte Bestandteil ist die krisenbedingte Komponente in Höhe von 3,9 Milliarden Euro, die in der Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgesehen ist. Aber es geht um mehr. Diese Woche ist von der Debatte über die Zusatzbeiträge beherrscht, die allerorten für Aufmerksamkeit sorgen. Der Presse habe ich entnommen, dass die Bundeskanzlerin, Frau Angela Merkel, mit einem großen Unwohlsein auf diese Zusatzbeiträge reagiert hat. Das Ganze ist schon ein Riesenproblem. Dem werten Kollegen von den Grünen muss man es noch einmal erklären: Wir als Sozialdemokraten wollten bekanntlich damals die Regelung nicht, nach der bis zu 8 Euro Zusatzbeitrag in einem vereinfachten Verfahren erhoben werden können. Wir wollten den Zusatzbeitrag paritätisch finanziert haben. Wir wollten, dass im Rahmen eines Prüfverfahrens nachgewiesen werden muss, dass die Kassen einen solchen Zusatzbeitrag unbedingt benötigen, weil sie sonst mit ihrer Finanzierung nicht mehr zurechtkommen; immerhin geht es um 71 Millionen Versicherte und Mitversicherte der GKV in Deutschland. ({5}) Es gab dann in der Großen Koalition, die der Herr Schirmbeck noch so emotional in sich trägt, einen sehr schwierigen Kompromiss mit gewissen Hilfskrücken, den wir - Sie haben an der Stelle recht - mitgetragen haben. Herr Minister, Sie müssen in der Zukunft einen wirklichen Dialog mit den Kassen führen. Sie müssen die Steuerungsfunktion der Krankenkassen ernsthaft einfordern. Es geht darum, ein Kostenmanagement in den Sektoren des Gesundheitswesens zu etablieren, in denen die Kosten seit Jahren und Jahrzehnten steigen, etwa in der Medizintechnik oder bei den verordneten Medikamenten. ({6}) Sie müssen versuchen, die Steuerungsfunktion der gesetzlichen Krankenkassen, der Volkskassen, zu aktivieren. Sie müssen mit den Krankenkassen auch darüber diskutieren, welche Instrumente sie brauchen, um genügend Substanz zu haben, um wirklich steuern zu können. Das sind die Fragen, die anstehen. Es geht nicht darum, darüber zu reden, wie wir künftig vielleicht mit irgendwelchen Zusatzbeiträgen agieren, die letztendlich den Leuten mit geringem Einkommen zum Nachteil gereichen, weil sie die Zusatzbeiträge nicht von der Steuerlast absetzen können und damit erneut eine soziale Benachteiligung erfahren. Zum Schluss, meine werten Kolleginnen und Kollegen, Folgendes: Es gilt, in der Gesundheitspolitik wieder Orientierung zu geben. Das vermag die derzeitige Regierung nicht zu leisten. ({7}) Wenn man ein bewährtes Finanzsystem an Haupt und Gliedern reformieren will, dann muss man auch sagen, wie das gehen soll. Ich sage Ihnen voraus, Herr Minister, bei aller persönlichen Sympathie: Sie werden eine Kommissionsarbeitszeit von ein, zwei Jahren nicht durchhalten. Sie werden schon eher sagen müssen, wie Sie das machen wollen. Sie werden eine riesige Hürde zu überwinden haben. Die Bundeshaushalte 2011 und 2012 mit den strukturellen Defiziten werden Ihnen nicht mehr Spielräume geben, sondern weniger. Das heißt, das Umswitchen von der Beitragsfinanzierung auf eine Steuersubvention wird so nicht funktionieren. Die 3,9 Milliarden Euro werden heute von Ihnen vorgeschlagen. Sie sind - das gebe ich zu - eine Hilfsmaßnahme. Sie werden aber große Mühe haben, uns davon zu überzeugen, wie es nach Ihrem Willen weitergehen soll. Ich hoffe jedenfalls, dass sich der Arbeitsmarkt so gut entwickelt, dass in den nächsten Jahren nicht ein höherer, sondern ein geringerer Zuschussbedarf entsteht, um die GKV im Sinne der Versicherten mit genügend finanziellen Mitteln auszustatten. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schurer, ich fand es interessant, dass Sie gesagt haben: Wir müssen in der Gesundheitspolitik wieder Orientierung geben. - Ich glaube auch, dass wir das tun müssen. ({0}) Es muss nur eine andere Orientierung sein als die von der früheren Gesundheitsministerin Schmidt; denn die hat das System überhaupt erst an die Wand gefahren, und das hat zu den Problemen geführt, die wir heute lösen müssen. ({1}) Schauen wir doch einmal, was die Regierung vorhat! Natürlich geht es beim vorliegenden Gesetzentwurf auch darum, kurzfristig einen Zuschuss an den Gesundheitsfonds zu geben, um die Einnahmeausfälle zu kompensieren. Aber es ist nicht so, dass wir darüber hinaus nichts machen. Wir sind nämlich der Meinung, dass es keinen Sinn macht, in ein Gefäß mit einem Leck Wasser nachzuschütten, damit vorübergehend wieder Wasser drin ist. Ohne dass das Leck gestopft wird, werden die Probleme dieses Systems nicht gelöst. Wir führen eine grundlegende Reform durch, damit dieses System an sich wieder funktioniert. Liebe Frau Kollegin Senger-Schäfer, ich glaube, Sie machen einen Denkfehler: Sie sind davon überzeugt - das war auch bisher ihr Problem im Hinblick auf das Gesundheitswesen -, dass Wettbewerb dort nichts verloren hat. Ich sehe das anders. Wettbewerb ist genau das Instrument, das dieses System und damit die beste Gesundheitsversorgung für alle langfristig finanzierbar hält. Deshalb ist mehr Wettbewerb zwischen den Kassen, also das, was Gesundheitsminister Rösler vorhat, genau das Richtige für das Gesundheitssystem. ({2}) Immer wieder wird kritisiert, das sei sozial ungerecht. Es ist sehr sozial, den Faktor Arbeit weniger als bisher zu belasten; denn das schafft Arbeitsplätze. Außerdem Johannes Vogel ({3}) wollen wir den Sozialausgleich über das Steuersystem organisieren. In das Steuersystem zahlen nämlich alle ein, auch diejenigen, die besonders viel verdienen, weil es da keine Beitragsbemessungsgrenze gibt. Das kann ich nur als gerecht empfinden. Das Gesundheitssystem, wie es bisher besteht, ist ungerecht, weil der Solidarausgleich nicht vollständig funktioniert. Insofern würde die Umsetzung unserer Vorschläge das System gerechter machen. ({4}) Ich möchte auf einen anderen Aspekt dieses Gesetzes eingehen, nämlich auf den Zuschuss an die Bundesagentur für Arbeit. Frau Kollegin Hagedorn, ich habe mich sehr darüber gewundert, dass Sie die Regierung quasi dafür kritisiert haben, dass sie möchte, dass die Bundesagentur für Arbeit erst einmal ihre Reserven aufbraucht und dass erst dann über die Höhe des Zuschusses entschieden wird. Sie tun so, als ob das ein Problem wäre. Wenn der Zuschuss niedriger ausfällt, als im Bundeshaushalt angesetzt - mit 16 Milliarden Euro -, dann heißt das doch nur eines: Die Konjunktur ist wieder angesprungen, und weniger Menschen als befürchtet sind arbeitslos. Das kann ich nur als gute Nachricht empfinden. Wie Sie daraus Kritik ableiten, ist mir völlig schleierhaft. ({5}) - Herr Poß, lassen Sie mich doch ausreden. - Dass wir diesen Zuschuss gewähren, ist Ausweis dessen, dass die Kritik, diese Regierung entlaste die Bürger auf der einen Seite bei den Steuern und belaste sie auf der anderen Seite bei den Abgaben - diese Kritik wird gelegentlich vorgebracht -, nicht richtig ist. Die Sicherstellung dieses Zuschusses ist der Ausweis dafür, dass dieser Vorwurf absurd ist. Wir wollen die Bürger entlasten, statt sie zu belasten. ({6}) - Ja, daran können sie mich gerne erinnern, Herr Kurth. Das zeigt sich in diesem Gesetz. ({7}) - Herr Kurth, es ist schön, dass Sie dazwischenrufen. Ich will auf einen weiteren Aspekt dieses Gesetzentwurfs zu sprechen kommen, nämlich auf die Verdreifachung des Schonvermögens. Ich freue mich sehr, dass Sie diesen Punkt gelobt haben. Sie haben ihn als grundsätzlich sinnvoll bezeichnet. Das hörte sich im letzten Herbst noch anders an. Man konnte damals der Presse entnehmen, dass Sie das als Symbolpolitik gegeißelt haben. Ich will Ihnen sagen, warum ich glaube, dass das eine ganz entscheidende Maßnahme ist und keine Symbolpolitik. Es wird immer wieder das Argument geäußert, das betreffe so wenige Menschen. Dieses Argument grenzt in meinen Augen an Hohn. Wer dies sagt, vergisst, dass die private Vorsorge in Zukunft noch viel wichtiger werden wird, gerade zur Verhinderung von Altersarmut. Um Altersarmut entgegenzuwirken, müssen wir diese Maßnahme durchführen. Sie übersehen auch, dass es schon heute viele Menschen gibt, die Hartz IV gar nicht erst beantragen - neben einer Dunkelziffer gibt es dokumentierte Fälle; das wissen Sie so gut wie ich -, weil sie Angst haben, dass ihre Altersvorsorge angetastet wird. An dieser Stelle geht es ein Stück weit aber auch darum, welche Ethik in unserem System, in unserem Sozialstaat herrscht. ({8}) Kann es sein, dass jemand, der eigenverantwortlich für das Alter vorsorgt, dafür bestraft wird? ({9}) Das ist doch eine völlig falsche Herangehensweise. ({10}) An so einer Stelle spürt eine Gesellschaft, welche Wertvorstellungen ihr zugrunde liegen. Diese Wertvorstellungen sind entscheidend dafür, ob etwas Akzeptanz findet und ob die Solidargemeinschaft funktioniert. Es kann nicht sein, dass jemand, der bedauerlicherweise in Hartz IV rutscht, also die Unterstützung der Solidargemeinschaft braucht, dazu gezwungen wird, Geld, das er für das Alter angespart hat - vielleicht hat er sich mühsam eine kleine Rentenversicherung abgespart -, möglicherweise sogar mit Verlust antasten muss und später in Altersarmut rutscht. Es ist nicht fair, Menschen dafür zu bestrafen, dass sie für das Alter vorgesorgt haben. Wir müssen Eigenverantwortung belohnen. Selbst wenn die Erhöhung des Schonvermögens noch wenige Menschen betrifft - in Zukunft wird sich das ändern -, ist sie genau das richtige Signal an die Gesellschaft; denn dadurch machen wir das Grundsicherungssystem, das Hartz-IV-System, fairer, und wir korrigieren so die Fehler, die die rot-grüne Bundesregierung in das System eingeführt hat. ({11}) Diese Maßnahme der Regierung ist insofern völlig richtig. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihre Aussage, dass das grundsätzlich sinnvoll ist, aufrechterhielten. Vielleicht trägt die Tatsache, dass auch Sie, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das in Ihrem Wahlprogramm stehen hatten, nur in den letzten Jahren, als Sie Regierungsverantwortung trugen, nicht die Kraft gehabt hatten, das auch durchzuführen, dazu bei, dass Sie dem Gesetzentwurf in dritter Lesung zustimmen. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Matthias Birkwald, Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für dieses Jahr rechnet die Bundesagentur für Arbeit mit einem Defizit in Höhe von gut 18 Milliarden Euro. ({0}) Das ist ein trauriger Nachkriegsrekord. Nur einen Bruchteil davon kann die Bundesagentur selbst aus ihren Rücklagen ausgleichen. Wie konnte es dazu kommen? Die Krise sei schuld gewesen, sagt die Bundesregierung. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Die Politik der ganz großen Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP hat es vermasselt. ({1}) Sehenden Auges hat diese ganz große Koalition die Finanzen der Bundesagentur an die Wand gefahren. Meine Damen und Herren von der Union, Sie haben, in wechselnder Besetzung, grob fahrlässig gehandelt, indem Sie die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung mehr als halbiert haben. Sie haben die Gewitterwolken aufziehen sehen. Sie haben alle Unwetterwarnungen von Experten in den Wind geschlagen. Jetzt stellen Sie sich hin, beklagen die Löcher im Dach der Bundesagentur und spannen Schutzschirme für die Banken. Gerecht geht anders! ({2}) Die Bundesregierung will die Beiträge stabil halten. Das waren sie doch. 14 Jahre lang, bis Ende 2006, lagen sie bei 6,5 Prozent. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die ersten Anzeichen der Krise für jede und jeden sichtbar wurden, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wurde der Beitragssatz auf unter 3 Prozent gesenkt. Das ist der niedrigste Wert seit 1975. Doch wer hier Beiträge kürzt, hat Sozialabbau im Sinn. ({3}) Beim Arbeitslosengeld war es zunächst andersherum, aber nicht anders: Rot-Grün hat die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I massiv verkürzt und die Arbeitslosenhilfe gleich komplett gestrichen. Dann wurden die Beitragssätze gesenkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb: Wer heute auf Teufel komm raus niedrige Beiträge sät, wird morgen größere Defizite ernten. Und was machen Sie dann? Das Arbeitslosengeld I kürzen? Wir Linken sagen: Das Gegenteil ist richtig. In der Krise muss die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld verlängert werden, und zwar auf zwei Jahre für alle. Das hilft den Beschäftigten, die jetzt entlassen werden, ({4}) zum Beispiel bei Siemens, wo jetzt, wie heute Morgen in den Nachrichten zu hören war, 2 000 Stellen gestrichen werden sollen. Der Gesetzentwurf, den Sie nun vorlegen, ist reine Flickschusterei. Die Linke sagt: Die Bundesagentur muss grundsätzlich wieder solide finanziert werden. Wir brauchen eine Staatsgarantie für die Sozialversicherungen, keinen einmaligen Zuschuss, sondern eine dauerhafte Defizithaftung. ({5}) Heute Morgen konnte man einer Pressemitteilung der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel: „Koalitionshaushälter wollen Zuschüsse für Sozialkassen kürzen“ - sie lief auch über den Ticker - entnehmen, dass Ihnen der Zuschuss von 16 Milliarden Euro zu hoch ist und auf 11 Milliarden Euro gesenkt werden soll und dass dafür unter anderem Qualifizierungsprogramme der BA gestrafft werden sollen. Ich sage Ihnen: Es ist komplett der falsche Weg, auch noch bei den Qualifizierungsmaßnahmen zu sparen. Auch hier wäre der umgekehrte Weg richtig; denn wir brauchen mehr Bildung und bessere Qualifikation. ({6}) Mit dem sogenannten Eingliederungsbeitrag werden letztendlich die Beitragszahler mit 5 Milliarden Euro dafür haftbar gemacht, dass es Langzeiterwerbslosigkeit gibt. Das darf nicht sein; denn die Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme muss auch von der gesamten Gesellschaft finanziert werden. Das Schonvermögen für die Altersvorsorge von Hartz-IV-Betroffenen deutlich anzuheben, ist richtig. ({7}) Mit dieser Forderung ist die Linke bei der Wahl angetreten. Bleiben Sie uns treu: Heben Sie die Vermögensfreigrenzen an! Erhöhen Sie den Hartz-IV-Regelsatz auf 500 Euro! Streichen Sie die unwürdigen Sanktionen und Schikanen für Hartz-IV-Betroffene und führen Sie endlich - das ist ganz dringend - eine eigenständige Mindestsicherung für Kinder ein! Im Übrigen bin ich der Meinung: Hartz IV muss überwunden werden. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ministerin Aigner musste leider schon gehen. Das vorliegende Artikelgesetz enthält als zweiten Teil das Sonderprogramm mit Maßnahmen für Milchviehhalter, besser bekannt unter dem Namen „Kuhschwanzprämie“. Herr Schirmbeck, dieses Programm bringt einem durchschnittlichen Milchviehbetrieb mit 30 Milchkühen, der in 2009 Milchgeld in Höhe von 13 Cent pro Liter bzw. insgesamt 20 000 Euro verloren hat, zwei Jahre lang jährlich 1 600 Euro bzw. 1 Cent pro Liter Milch mehr. Natürlich sagen die Bäuerinnen und Bauern, auch meine Frau daheim, nicht Nein, wenn der Staat ihnen Geld schenken will, so wie auch der Autokäufer letztes Jahr nicht Nein gesagt hat, als er für das Auto, das er sowieso verschrotten wollte, noch 2 000 Euro geschenkt bekam. Aber so wie die Abwrackprämie für Autos der Wirtschaft insgesamt geschadet hat, wird auch diese Abwrackprämie für Milchbauern dem Milchsektor mehr schaden als nützen. ({0}) Dieses Grünlandprogramm zeigt erneut das vollkommen widersprüchliche Vorgehen der Bundesregierung. Sie gerieren sich als Vertreter der reinen Marktlehre, doch sieht ihre Realpolitik ganz anders aus. Dort zünden Sie erst einmal eine Subventionsrakete, wie ich sie in 40 Jahren Agrarpolitik selten erlebt habe - 750 Millionen Euro extra, einfach so, ohne Qualifizierung, ohne Fokussierung, ohne Lenkungswirkung. Das Problem ist nicht, auf Marktkräfte zu bauen, und auch nicht, gesellschaftliche Solidarität in einer Notsituation zu leisten. Beides ist richtig und notwendig. Das Problem ist, wie Sie es machen. Ihre sogenannte Marktorientierung basiert auf einer vollkommen falschen Marktanalyse. Bei Ihrer Förderpolitik vergessen Sie das Wichtigste, nämlich die Lenkungswirkung der Fördergelder zu bedenken. ({1}) Wenn Sie sich den Milchmarkt einmal ansehen würden, so wie es das Bundeskartellamt gerade getan hat, so würden Sie feststellen, dass dieser Markt total verzerrt ist ({2}) und eine eklatante Benachteiligung der Milcherzeuger gegenüber den Molkereien besteht. Diesen Markt sich selbst zu überlassen, hieße nicht, die Marktkräfte zum Zuge kommen zu lassen, sondern hieße, allein die Monopolisten zu stärken, meine Damen und Herren Marktexperten von der FDP. ({3}) Wir brauchen jetzt Maßnahmen, um diesen Markt erst einmal wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wir müssen die Erzeugerseite stärken und in gesunde regionale Marktstrukturen investieren. Das bedeutet: Wir brauchen jetzt eine Bündelungsinitiative zur Förderung bäuerlicher Erzeugergemeinschaften, ({4}) wie es das Bundeskartellamt empfiehlt. Die Bundesregierung ist hier gefordert, mit einer gezielten bundesweiten Kampagne den Zusammenschluss der Milcherzeuger unabhängig von Molkereien und Genossenschaften zu unterstützen. Als Beispiel kann hier die bestehende bundesweite Milcherzeugergemeinschaft, das Milch Board, dienen. Das wäre ein marktorientierter und solidarischer Ansatz zugleich und würde den Steuerzahler keine 750 Millionen Euro, sondern gerade mal 1 Prozent davon kosten. ({5}) In Wahrheit wollen Sie der bäuerlichen Landwirtschaft eben nicht helfen. In Wahrheit wollen Sie mit diesem Mammutprogramm Ihre politische Haut retten; ansonsten verfolgen Sie ganz andere Ziele. ({6}) „Wir haben die Antworten für die Probleme der Welt“, hat der selbsternannte CSU-Export-Staatssekretär Müller diese Woche im Agrarausschuss großspurig erklärt. ({7}) Das klingt wie eine Drohung gegenüber den ärmsten Ländern der Welt und ist wohl auch als Drohung gemeint, wie man annehmen muss, wenn man sich ansieht, wie Sie mit Ihrer Exportstrategie die Welt mit billigem Fleisch und billiger Milch überschwemmen wollen. ({8}) Was Sie hier treiben, zerstört das, was der Weltagrarbericht als das Zukunftsmodell zur Lösung der globalen Herausforderungen im ländlichen Raum bezeichnet: die bäuerliche Landwirtschaft, die nachhaltig Umwelt, Natur und Tiere schont und schützt. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf dieses Gesetzes führen wir Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise fort, mit denen wir in der Großen Koalition begonnen haben. Gestern haben wir hier über den Jahreswirtschaftsbericht debattiert und zur Kenntnis genommen, dass es erste Anzeichen einer langsamen Erholung gibt. So erfreulich das Ende der Abwärtsdynamik auch ist: Die deutsche Wirtschaft befindet sich weiterhin in einem tiefen Tal. Die leicht positiven Signale für das laufende Jahr geben keinen Anlass zu euphorischen Einschätzungen. Jetzt ist es von besonderer Bedeutung, die beginnende Erholung in ihren Kräften zu stützen und weitere Impulse in Richtung Wachstum zu setzen. Richtig war es, dass wir in der Großen Koalition gemeinsam den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung gesenkt haben. Richtig war es, dass wir den Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung festgeschrieben haben. Aus dieser nicht in Deutschland verursachten internationalen Krise konnten wir etliche Erkenntnisse gewinnen; internationale Handlungsnotwendigkeiten zur Verhinderung einer erneuten Krise dieses Ausmaßes wurden deutlich. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft hat sich als durchaus krisenfest erwiesen. Deutschland hat diese Krise deutlicher besser überstanden als viele andere Länder. ({0}) Frau Kollegin Senger-Schäfer, wie sozial und wie gerecht ein System ist, das ohne Wettbewerb funktioniert, mussten viele Menschen in unserem Land viele Jahrzehnte ertragen. Ich glaube nicht, dass wir in diese Richtung wollen. ({1}) Eines ist ganz klar und deutlich geworden: Unsere sozialen Sicherungssysteme sind in erheblichem Maße konjunkturabhängig. Dieser Gesetzentwurf enthält neben dem Sonderprogramm mit Maßnahmen für Milchviehhalter, der Anhebung des Schonvermögens und dem Zuschuss für die Bundesagentur für Arbeit auch den Zuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung, auf den ich mich jetzt konzentrieren möchte. Gerade wegen der hohen Konjunkturabhängigkeit ist es richtig, die gesetzliche Krankenversicherung zunehmend von dem Faktor Arbeit zu entkoppeln. Dafür haben wir die Einrichtung einer Regierungskommission beschlossen, die uns den Weg für eine neue Basis für eine gerechte und solidarische Finanzierung unseres Gesundheitssystems erarbeiten wird. Herr Kollege Schurer, Sie können ganz sicher sein, dass die christlich-liberale Koalition ({2}) auf diesem Weg die Orientierung hat und die Richtung weiter vorgeben wird. Noch in der Großen Koalition haben wir beschlossen, den Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung stabil zu halten. Wir alle waren erleichtert, dass im Jahr 2009 das im zweiten Nachtragshaushalt beschlossene überjährige Liquiditätsdarlehen des Bundes an den Gesundheitsfonds zur Kompensation ebendieser krisenbedingten Mindereinnahmen nicht benötigt wurde. Im Rahmen des zweiten Konjunkturpakets ist der Bundeszuschuss 2010 zur Finanzierung der Beitragssatzsenkung von 6,3 Milliarden Euro auf 11,8 Milliarden Euro erhöht worden. Mit diesem Gesetz wollen wir die Grundlage für einen zusätzlichen Bundeszuschuss in Höhe von 3,9 Milliarden Euro schaffen. Dies ist als gesamtgesellschaftliche, flankierende Maßnahme in diesem Jahr notwendig; sonst wird der Druck auf unsere gesetzliche Krankenversicherung noch größer, und das wollen wir verhindern. ({3}) Wir haben schon in der ersten Lesung des Bundeshaushalts letzte Woche über die Etatisierung dieser Mittel geredet. Derzeit berät der Haushaltsausschuss über den Etat. Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf ebenfalls an den Haushaltsausschuss überweisen. Meine Damen und Herren vor allen Dingen von der SPD, aber auch von den Grünen, dieser Schutzschirm, den wir jetzt aufspannen, ist, um im Farbenspiel zu bleiben, ein schwarzgelber Schutzschirm. ({4}) - Frau Kollegin, er ist ein Schutzschirm für 2010. Wir warten ab und schauen, wie sich die Lage entwickelt. Wir alle können das nicht vorhersehen oder Prognosen abgeben. - Ich glaube, dass es der Kontinuität Ihres Handelns und der Verantwortung, die Sie in Ihren Wahlkreisen Ihren Bürgerinnen und Bürgern gegenüber haben, entsprechen würde, wenn Sie ganz gründlich darüber nachdenken würden, ob ein solcher Schutzschirm nicht auch rote und grüne Farbpunkte tragen sollte. Danke. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier für die SPDFraktion. ({0})

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer bislang noch nicht gewusst hat, was ein Kuhschwanz wert ist, dem sei gesagt: Die Regierung hat Maßstäbe gesetzt, es sind 20 Euro, ({0}) unabhängig davon, wie lang er ist, unabhängig davon, zu welcher Kuh er gehört, unabhängig davon, ob die Kuh 3 000 Liter oder 10 000 Liter Milch gibt. All das wird über einen Kamm geschoren. Jede Kuh in Deutschland kann jetzt froh sein: Vor dem Gesetz sind sie alle gleich. - Hervorragend! Kompliment, das habt ihr gut gemacht! Ihr habt das Fass in Feierlaune aufgemacht. Da wird Party gefeiert, Geld ausgeteilt, und keiner kümmert sich um die Rechnung. Das ist die derzeitige Politik im Agrarbereich. Ihr verschenkt heute die finanziellen Spielräume, die ihr in den nächsten Haushaltsjahren noch dringend brauchen werdet. ({1}) Es wurde angesprochen: Die Agrarhaushalte 2011, 2012 und 2013 werden von drastischen Einsparungen nicht verschont werden; das ist jedem klar. ({2}) Heute feiert ihr noch einmal kräftig, heute teilt ihr noch einmal Geschenke aus. Kollege Ostendorff hat gerade deutlich gemacht, wo die strukturellen Schwächen dieses Programms liegen. Das, was hier geplant ist, ist für die Agrarpolitik ordnungspolitisch ein Super-GAU sondergleichen. ({3}) Die FDP sitzt daneben und hat die Prinzipien der Agrarpolitik, die sie sonst vertreten hat, grundlegend verraten. ({4}) Geschuldet ist dies dem Kompromiss, den man eingehen musste, nachdem im Vorwahlkampf in Bayern schon mal eine hauseigene Prämie gezahlt wurde. Das hat nicht viel genutzt; die Bauern sind trotzdem von der CSU weggelaufen. Jetzt will man nachlegen, die Dimension vergrößern, in der Hoffnung, man könne die Bauern kaufen. Das ist keine Strategie. Langfristig kann man die Bauern nicht kaufen; auch die CSU in Bayern kann das nicht. Frau Ministerin Aigner ist nicht mehr da. Sie kann jetzt mit der Gießkanne durch Bayern fahren und jeden Hektar begießen. Die Frage ist, was dies nützt. Das hat nichts mit strukturierter Agrarpolitik zu tun. Wir brauchen den Strukturwandel, wir müssen ihn begleiten; das ist unabdingbar. Das Programm, das hier aufgelegt worden ist, begleitet nichts, erzeugt nur Mitnahmeeffekte und hat unterm Strich keine strukturellen Folgewirkungen. Der Strukturwandel wird aufgeschoben und behindert. ({5}) Dabei wäre es doch notwendig, dafür zu sorgen, das umzusetzen, was im Vorbericht zur Sektoruntersuchung seitens des Bundeskartellamts - Kollege Ostendorff hat es angesprochen - klar und deutlich gesagt worden ist, um den Milchsektor zu stärken. ({6}) Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit der Milcherzeuger stärken. Wir müssen ihre Position auf dem Markt stärken. Da können Sie ins Volle greifen. Nach den Vorgaben der EU dürfen Sie jede Erzeugergemeinschaft mit 500 000 Euro fördern. Legen Sie ein entsprechendes Programm auf! Fördern Sie die Strukturen auf dem Markt, fördern Sie die Wettbewerbsfähigkeit und fördern Sie die Marktgerechtigkeit! Dieser Ansatz wird zukünftig im Bereich der Milchpolitik notwendig sein und nicht die Größenordnung des Programms hier. Das Programm an sich ist löchrig wie ein deutscher Käse. Die Verteilungsungerechtigkeit ist eklatant. Der bayerische Landwirtschaftsminister rühmt sich, dass über ein Viertel der Mittel des Gesamtprogramms nach Bayern fließt. Das ist mehr, als den Bayern in der Relation zu der Milchmenge, die sie normalerweise produzieren, zusteht. Ich weiß nicht, ob dies bei den Betrieben in Schleswig-Holstein oder in den neuen Bundesländern viel Zustimmung gefunden hat; denn da gibt es Kappungsgrenzen aufgrund der De-minimis-Regelung; bei 187 Kühen ist Schluss. Aber auch das sind Betriebe, die Arbeitnehmer beschäftigen und Arbeit sichern. Sie gehen bei diesem Programm, so wie es gestrickt ist, zwar nicht leer aus, werden aber erheblich benachteiligt. Das ist nicht der richtige Ansatz. Die Politik, die hier offenkundig betrieben wird, ist ein Anachronismus. Dies ist der Rückfall in die Agrarpolitik der 60er-Jahre, als es eine Abschlachtprämie und andere Dinge gab. Das kann man nicht gutheißen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schirmbeck?

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Priesmeier, Sie sind eigentlich ein sehr sachlicher Kollege und beschäftigen sich inhaltlich mit diesen Themen. Ich weiß nicht, welche Zahlen man Ihnen vorgelegt hat. Ich weiß aber, dass der zuständige Beamte im Landwirtschaftsministerium sehr solide rechnet. Sieht man sich die mir vorliegenden Zahlen vor dem Hintergrund des Pakets an, das wir geschnürt haben, wozu natürlich auch die Gasölverbilligung und die Zuschüsse zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung gehören, dann ergibt sich, dass Bayern einen Anteil von 25,63 Prozent an der Milchproduktion in Deutschland und einen Anteil von 26,35 Prozent an den Mitteln hat, die der Landwirtschaft jetzt zur Verfügung gestellt werden. Jetzt zu behaupten, das sei zugunsten eines Bundeslandes, das geht an diesen Zahlen vorbei. Ich frage Sie, ob Sie andere Zahlen haben und ob die Zahlen, die mir das Ministerium zur Verfügung gestellt hat, falsch sind.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Schirmbeck, fragen Sie einmal in MecklenburgVorpommern nach, warum es im Bundesrat gegen das Gesetz gestimmt hat. ({0}) Das Missverhältnis zwischen den süddeutschen Bundesländern wie Baden-Württemberg und Bayern und den norddeutschen ist belegbar. Sobald ich Zeit habe, suche ich die Zahlen heraus. Dann können wir uns später gerne darüber unterhalten. Die Beweisführung scheue ich nicht. Sie konstruieren hier Gesamteffekte aus dem Bereich Agrardiesel und anderen Einzelmaßnahmen im Rahmen der Unfallversicherung. Die Aussage, die ich getroffen habe, bezieht sich allein auf das GrünlandMilchprogramm, das Sie vorgelegt haben. ({1}) - Vielen Dank, Herr Kollege. Genau darum geht es.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Haben Sie eine Nachfrage? - Gestatten Sie das, Herr Kollege?

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Priesmeier, wenn wir fair miteinander umgehen wollen, dann müssen wir das Gesamtkonstrukt sehen, das wir für den ländlichen Raum vorgesehen haben. Meine Frage: Die Zahlen für die neuen Bundesländer belegen, dass sie einen Milchanteil von 22,57 Prozent haben; ihre Zuschüsse belaufen sich auf 21,18 Prozent. Ich weiß nicht, ob Sie sich einen Schlüssel vorstellen können, der diese Mittel bei den zugegebenermaßen unterschiedlichen Strukturen, die wir in Deutschland haben, noch gerechter aufteilt; es ist ohnehin schwierig, das mit einem einheitlichen Maßstab auf den Weg zu bringen.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zugegebenermaßen ist es so, dass die Milchviehbetriebe in der Relation weniger Agrardiesel beziehen als die Ackerbaubetriebe. Allein daraus ergibt sich, dass Ihre eben vorgetragene Annahme nicht ganz richtig sein kann. ({0}) Ich kann nur an Sie appellieren: Streichen Sie die 300 Millionen Euro für das Grünlandprogramm aus dem Haushalt und kommen Sie Ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung nach! Diese 300 Millionen Euro sind schuldenfinanziert. In der jetzigen desaströsen Haushaltslage ist es nicht angemessen, diese Form von Geschenken zu machen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Happach-Kasan.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sowohl in der letzten Debatte als auch durch die Fragen und Antworten der Kollegen Schirmbeck und Priesmeier ist deutlich geworden, worum es in dieser Debatte geht. Es geht um das Sonderprogramm Landwirtschaft, das wir, die christlich-liberale Koalition, gemeinschaftlich im Koalitionsvertrag vereinbart haben, ({0}) weil wir der Auffassung sind, dass gerade Milchviehbetriebe durch die Wirtschaftskrise, durch den absolut niedrigen Milchpreis geschwächt worden sind und dass sie eine Unterstützung brauchen, damit sie durchhalten können, damit sie die Chance haben, zu überleben. ({1}) Unsere Maßnahmen umfassen drei Teile. Zum einen gibt es das Grünlandprogramm. Ich finde es schon etwas seltsam, dass der grüne Abgeordnete sein umweltpolitisches Gewissen total aufgegeben und verloren hat. ({2}) Sie alle wissen, dass Grünland gebraucht wird. Die Nutzung von Grünland ist nur durch Milchviehhaltung, durch Tierhaltung möglich. Deswegen ist es richtig, wenn wir ein Umbruchverbot für Grünland haben, dass wir die Betriebe stärken, die es nutzen. ({3}) Zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Wir wissen, dass gerade tierhaltende Betriebe mehr Unfälle haben und dass sie gestützt werden, wenn wir die landwirtschaftliche Unfallversicherung stärken. Wir haben auch eine „Kuhschwanzprämie“ vorgesehen. ({4}) - Vielen Dank für die Heiterkeit im Plenum, aber für die Betriebe ist das eine ernste Angelegenheit. - Es ist in der gesamten Diskussion ein Wermutstropfen für uns Liberale, dass sie auf 178 Kühe begrenzt wird. Wir kritisieren an dieser Kuhprämie, dass sie strukturkonservativ ist, dass sie keine lenkende Aufgabe hat und letztendlich der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ entgegenwirkt. Auf ihrer Grundlage wurden Programme entwickelt, die gewährleisten, dass gute Betriebe gestärkt werden und schwache Betriebe eine Möglichkeit zum Ausstieg bekommen, damit wir einen sozialverträglichen Strukturwandel haben. Das kritisieren wir. Hier sehen wir Verbesserungsbedarf im Bereich der KuhpräDr. Christel Happach-Kasan mie. Wir hoffen auf Unterstützung, insbesondere aus der Opposition. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Priesmeier.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Kollegin Happach-Kasan, vielen Punkten Ihrer Analyse kann ich ohne Weiteres zustimmen. Das würde ich ohne Weiteres unterschreiben. Ich weiß, wie sich die Situation der FDP in den Koalitionsverhandlungen dargestellt hat. Es war sicherlich nicht einfach, diese Kröte zu schlucken. Es war sicherlich nicht einfach, auf die Begehrlichkeiten der Bayern in dieser Weise eingehen zu müssen. Das entspricht an sich nicht der agrarpolitischen Tradition der FDP. Ich kann Ihnen versichern, dass wir bei dem Szenario, das Sie aufgezeigt haben, wenn es um die Linie und die Strukturpolitik geht, durchaus kompromissfähig sein können. Zu dem vorgelegten Programm, wie es sich jetzt darstellt, gibt es aber nur ein ganz klares Nein. Ich kann Sie unterstützen: Hoffentlich setzen Sie sich mit Ihrer Position innerhalb der Koalition durch. Das wäre zum Vorteil für die deutsche Landwirtschaft. Da würde Ihnen einiges an Ärger und Folgekosten erspart bleiben. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Bisher hat Deutschland die Wirtschaftsund Finanzkrise im Vergleich mit anderen von der Krise betroffenen Staaten verhältnismäßig gut überstanden. Das entschlossene Handeln der Bundesregierung im letzten Jahr hat den Finanzmarkt stabilisiert und die Talfahrt der Wirtschaft gestoppt. Offensichtlich greifen die Maßnahmen zur Konjunkturbelebung. Positiv hat sich in Deutschland vor allem die Ausweitung der Regelung für das Kurzarbeitergeld ausgewirkt. Wir haben erst gestern Abend hier darüber diskutiert. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte so stark begrenzt werden wie in keinem anderen Industrieland weltweit. Der zu Beginn der Wirtschaftskrise vorausgesagte Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 4 Millionen ist erfreulicherweise nicht eingetreten. ({0}) - Dass die SPD einen bescheidenen Beitrag dazu geleistet hat, will ich nicht in Abrede stellen. Es wäre allerdings ein Fehler, sich jetzt auf den positiven Entwicklungen auszuruhen. Die Krise reißt spürbare Lücken in die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Ihre Folgen für die Wirtschaft, besonders für den Arbeitsmarkt, sind noch längst nicht überwunden. Mit dem Ziel, Beschäftigung möglichst zu sichern, hat die Bundesregierung durch ihre Sofortmaßnahmen zwar viele Härten abfedern können, es gibt aber immer noch Schieflagen, die wir beseitigen, und Entwicklungen, denen wir gegensteuern müssen. Viele Menschen, die für ihr Alter mit einer Lebensversicherung oder dem Bau eines Eigenheims vorgesorgt haben, sehen sich mit einer Situation konfrontiert, in der ihr sichergeglaubter Arbeitsplatz bedroht ist. Ihre Selbstvorsorge soll bei länger dauernder Arbeitslosigkeit nicht umsonst gewesen sein. Deshalb gliedern wir sie in den Schutzschirm für Arbeitnehmer ein, den wir mit dem Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz, über dessen Entwurf wir hier und heute debattieren, aufspannen. Wir erhöhen den Freibetrag beim Schonvermögen im SGB II, der verbindlich der Altersvorsorge dient, deutlich, von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr; einige der Vorredner haben bereits darauf hingewiesen. Bedingung dafür ist, dass das Altersvorsorgevermögen erst mit Eintritt in den Ruhestand verfügbar ist. Erwerbslose wären so seltener gezwungen, ihre Ersparnisse für das Alter anzugreifen. Für einen 50-Jährigen läge der Freibetrag dann immerhin bei 37 500 Euro. Ansprüche aus Rürup- und Riester-Renten werden nicht mit diesem Freibetrag verrechnet. Sie bleiben generell verschont. Sehr geehrter Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen, als die Sätze für das Schonvermögen 2004 festgeschrieben wurden, reichte es aus, dass jeder, der Arbeitslosengeld II beantragte, für sich und seinen Partner je 150 Euro pro Lebensjahr behalten durfte. Das SGB II ist aber ein lernendes System. Wir haben registrieren müssen - dafür haben wir sogar Applaus von der Linkspartei bekommen -, dass die Vorsorge fürs Alter etwas stärker geschützt werden muss, um jungen Leuten, die im Berufsleben stehen, die Motivation zu geben, selbst Werte fürs Alter zu schaffen, sei es das Eigenheim, sei es eine entsprechende Altersvorsorge. ({1}) Die Rahmenbedingungen sind heute jedoch schwieriger als noch vor sechs Jahren. Viele Mittelständler, Kleinunternehmer und Selbstständige, sind widrigen wirtschaftlichen Umständen ausgesetzt und mitunter von längerer Arbeitslosigkeit bedroht. Diesen Menschen wollen wir helfen, damit sie nicht ihr Erspartes schon einsetzen müssen, bevor sie Arbeitslosengeld II bekommen. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, dass sie nicht im Alter auf Sozialleistungen angewiesen sind, nur weil der Freibetrag für die Altersvorsorge zu gering war. Im Übrigen - auch darauf muss einmal hingewiesen werden - entlasten wir langfristig die öffentliche Hand, wenn wir das Schonvermögen erhöhen und durch den Behalt des Eigenheims zukünftige Leistungen für Wohn1756 kosten im Zusammenhang mit der Alterssicherung nach dem SGB XII bereits jetzt vermeiden. ({2}) Ein wichtiges Ziel unserer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik war immer, die private Altersvorsorge zu fördern, um einer möglichen Altersarmut von breiten Bevölkerungsschichten rechtzeitig vorzubeugen. Auch aus diesem Grund wird innerhalb unserer Partei schon lange gefordert, das Schonvermögen zu erhöhen. So haben wir in der christlich-liberalen Koalition ({3}) - ich habe es bewusst gesagt, Herr Kollege, damit Sie Ihren Zuruf machen können - beschlossen, als eine der ersten Maßnahmen den Freibetrag beim Schonvermögen im SGB II deutlich anzuheben. Ich freue mich ganz besonders, dass dieser Beschluss in den Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP Eingang gefunden hat. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner haben wir uns darauf geeinigt, die Freibeträge für das Altersvorsorgevermögen von 250 auf 750 Euro je vollendetem Lebensjahr zu verdreifachen. Kollege Vogel von der FDP hat in seiner Rede darauf hingewiesen. Unsere Botschaft lautet: Wer für das Alter vorsorgt, hat auch für den Fall der Arbeitslosigkeit richtig gehandelt. ({4}) Ich weiß, auch vonseiten der Opposition gab und gibt es Forderungen und Anträge in diese Richtung. Wir aber wollten einen vernünftigen und ordentlich ausgearbeiteten Gesetzentwurf. Dieser liegt Ihnen jetzt vor. Damit haben wir unser Versprechen eingelöst. Noch einen weiteren Aspekt, der für die Arbeitsmarktpolitik von Bedeutung ist, wird das Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz regeln. Durch die krisenbedingten Einnahmeausfälle und steigenden Ausgaben verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit für das vergangene Jahr ein Defizit von 10,9 Milliarden Euro. Die Rücklage der BA ist zum Jahresende 2009 auf rund 1,9 Milliarden Euro gesunken. Für das Haushaltsjahr 2010 erwartet die BA bei einem unveränderten Beitragssatz in Höhe von 2,8 Prozent ein Defizit in Höhe von rund 17,9 Milliarden Euro. Dies entspricht einem Fehlbestand von rund 16 Milliarden Euro am Jahresende. Wenn Herr Kollege Birkwald von der Linkspartei hier ausführt, es sei ein Fehler gewesen, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge von damals 6,5 Prozent auf heute 2,8 Prozent zu reduzieren, so sei Ihnen, aber auch den Zuschauern auf den Tribünen und am Fernseher gesagt: Wenn wir die Beitragssätze bei 6,5 Prozent belassen hätten, wäre die Konsequenz gewesen, dass jeder Arbeitnehmer und natürlich jeder Arbeitgeber - das Ganze ist ja paritätisch finanziert - Monat für Monat 3,7 Prozentpunkte mehr an Sozialabgaben hätte zahlen müssen. Wenn Sie den Wunsch erfüllen wollen, müssen Sie den Forderungen der Linkspartei folgen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich. Ich bitte darum.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Lehrieder, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Wunsch der Linken ist, dass alle Erwerbslosen in der Krise 24 Monate Arbeitslosengeld erhalten? Dafür braucht man Geld, und es ist sinnvoller, höhere Beiträge zu zahlen, damit man dann, wenn man auf das Pflaster geworfen wird, einen gewissen Schutz hat und erst später in das unsoziale Hartz-IV-System gelangt.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Birkwald, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir genau diesen Schutzschirm haben und dass wir in diesem Gesetzentwurf vorsehen, die Beiträge zur Bundesagentur stabil zu halten und den Ausgleich des Defizits aus steuerfinanzierten Mitteln zu übernehmen? Es ist ja auch ein Wunsch, den Sie als Umverteilungspartei hier regelmäßig vortragen, dass wir über steuerfinanzierte Leistungen die Arbeitnehmer, all diejenigen, die im Berufsleben stehen, ein Stück weit entlasten sollen. Da sind wir mit Sicherheit sozialer als die Linkspartei. ({0}) Dieser Fehlbestand soll nun nicht als zurückzuzahlendes Darlehen, sondern als einmaliger Bundeszuschuss zur Verfügung gestellt werden. Wie wir auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, muss die Auszahlung dieses Zuschusses selbstverständlich an strenge Kriterien gebunden werden. Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir einen weiteren Markstein auf dem Weg zur Überwindung der Krise und ihrer Folgen. Aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz und dem Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz ergeben sich steuerliche Erleichterungen. Allein mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz entlasten wir die Bürger und Unternehmen um insgesamt rund 8,5 Milliarden Euro. Wir wollen die Sozialbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern stabil halten - hier unterscheiden wir uns von den Linken - und die Lohnnebenkosten nicht zusätzlich belasten. Es gilt, im Rahmen des haushaltspolitisch Verantwortbaren zusätzliche Impulse zu geben. Nur so werden wir das Vertrauen von Investoren und Konsumenten in die Kontinuität der künftigen Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik stärken und damit langfristig die Weichen für mehr Wachstum und Beschäftigung stellen. ({1}) Nur so wird es uns gelingen, dabei zu helfen, dass die Unternehmen die Krise meistern, Beschäftigungsverhältnisse erhalten und mehr Arbeitsplätze schaffen. Wir können es uns nicht leisten, in der konjunkturellen Talsohle zu verharren und sehenden Auges zuzulassen, dass die Unternehmen und damit die Arbeitsplätze immer stärker unter Druck geraten. Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie das eigentlich genauso sehen. Deshalb möchte ich Sie einladen, uns auf unserem Weg zu unterstützen und diesen Gesetzentwurf mitzutragen. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/507 und 17/495 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta- gesordnungspunkte 19 a bis 19 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicolette Kressl, Joachim Poß, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Maßnahmenbündel gegen Spekulationen auf den Finanzmärkten und ungerechtfertigte Banker-Boni - Drucksache 17/526 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Nicolette Kressl, Joachim Poß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Lasten der Krise gerecht verteilen, Spekulationen eindämmen - Internationale Finanztransaktionsteuer einführen - Drucksache 17/527 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Finanztransaktionsteuer international vorantreiben und national einführen - Drucksache 17/518 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß für die SPD-Fraktion. ({3})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Finanzmarktkrise, in der wir seit gut zwei Jahren stecken, ist für uns insgesamt eine große Zäsur, und zwar eine gesellschaftliche Zäsur und nicht nur eine vordergründig politisch-ökonomische. Wir mussten erfahren, dass unsere Abhängigkeit von Banken und Finanzindustrie größer und tiefer ist, als wir bis dahin vielleicht gedacht hatten. Die Verantwortungslosigkeit und Gier, die Risikobereitschaft und manchmal sogar die Dummheit von Bankern, Finanzmanagern und auch von Verwaltungsräten öffentlicher Landesbanken sprengen das bisher Vorstellbare. Hier setzt unsere gemeinsame Aufgabe ein, meine Damen und Herren, die Aufgabe der Politik: Wir müssen diese Leute aus der Parallelwelt holen, in der sie sich - jede Äußerung dieser Tage macht das deutlich - noch immer befinden. ({0}) - Ich rede von denen, die offenkundig auch im Namen anderer sprechen. Ich halte überhaupt nichts von Ackermann-Bashing; aber Herr Ackermann ist nun einmal ein Sprecher der ganzen Branche, ({1}) und jede Äußerung von ihm belegt, dass wir die Branche aus ihrer Parallelwelt holen müssen. ({2}) Nehmen wir als Beispiel nur die Diskussion über die Boni. Welche Rechtfertigung gibt es denn für ein solches Bonisystem? Arbeiten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die es kein solches System gibt, nicht auch motiviert? Solche Fragen muss man stellen. Einige haben sich eingerichtet in diesem System und haben po1758 litische Unterstützer gefunden. Da müssen wir umkehren. ({3}) Nur dadurch, dass die Notenbanken und die Staaten bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und Mittel gegangen sind, konnte ein flächendeckender Kollaps der Finanzmärkte verhindert werden. Uns allen, meine Damen und Herren, muss klar sein: Noch eine solche Krise, wie wir sie in den letzten zwei Jahren erlebt haben, könnte auch Deutschland nicht mehr bewältigen. Daraus lässt sich nur eine Konsequenz ziehen: Die Strukturen in der Finanzindustrie, die Bankenwelt und die Finanzmärkte insgesamt sind so zu verändern, dass sich eine solche Krise möglichst nicht mehr wiederholt. ({4}) Wenn man die Berichte aus Davos verfolgt, bekommt man mit, dass - polemisch gesprochen - beim Champagner schon wieder gesagt wird: Das darf aber nicht zu weit gehen. Nach der Obama-Rede haben Herr Ackermann und andere aus der Branche in die gleiche Richtung argumentiert - Originalton -: Die Regierungen werden jetzt doch nicht die falschen Schlussfolgerungen ziehen, weltweit und europäisch! ({5}) Angesichts dessen muss man sich fragen: In welcher Welt leben diese Menschen? Sie sollten Davos schnell verlassen und sich einmal die soziale Realität, zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland, anschauen. ({6}) Das ist eine der zentralen Gestaltungsaufgaben dieses Hauses: Wir müssen uns nicht den Kopf zerbrechen, ob und wie wir für diesen oder jenen noch mehr Steuern senken können; das aber machen Sie in dieser Koalition hauptsächlich. Sie müssen endlich zu Potte kommen und eine Strategie entwickeln, wie wir mit nationalen, europäischen und internationalen Maßnahmen die Aufgabe, die ich beschrieben habe, endlich in den Griff bekommen. ({7}) Da ist bei Ihnen Pause, Ende der Durchsage. Warum denn? Es ist doch ein Skandal, dass sich diese schwarzgelbe Koalition in einer der zentralen Fragen unserer Zeit nicht verständigen kann, ({8}) bei der Finanzmarkttransaktionsteuer unterschiedlicher Meinung ist. Frau Merkel äußert Verständnis. Aus der CSU kommen sozialdemokratische Töne. ({9}) Die FDP sagt wie üblich Nein, weil sie am engsten mit dem Finanzmarkt verflochten ist. Das Ganze offenbart ein erschreckendes Defizit im Hinblick auf ein ernsthaftes Politikverständnis. ({10}) Was wurden hier, auch während der Zeit der Großen Koalition, für Reden gehalten, von Frau Merkel, philosophisch von Ihrem Herrn Röttgers - ({11}) - Röttgen. Röttgers ist die Mischung aus Rüttgers und Röttgen; denn die beiden tun sich da nicht viel: Große Reden, nichts dahinter! ({12}) Die Rede von Herrn Röttgen war philosophisch angelegt, blieb aber ohne Konsequenzen. Wenn es um Konkretes geht: Ende der Durchsage. Sie sind in diesem Politikfeld blank, so wie in der Gesundheitspolitik und in anderen Politikfeldern. Sie haben für die Zukunft unseres Landes konzeptionell nichts zu bieten. Das ist die Realität; darüber wird hinweggetäuscht. ({13}) Eine solche Haltung können wir uns nicht mehr leisten: Es werden immer nur Fensterreden von Frau Merkel oder von Herrn Schäuble gehalten. Jetzt wird eine Finanzmarktkonferenz abgehalten, aber nicht erst im Mai, sondern schon im April, ({14}) rechtzeitig vor einer wichtigen Landtagswahl, um zu sagen: Irgendwann werden wir uns um die Probleme kümmern. Was ist das für eine Regierung, die in dieser Situation nicht die Ärmel aufkrempelt! ({15}) Man kann fast den Eindruck haben, dass in dieser Koalition nicht die schwäbische Hausfrau Merkel, sondern die schwäbische Drossel Homburger das Sagen hat. ({16}) Da fragt man sich doch, welche speziellen Interessen sich hier durchsetzen. Wir werden einmal recherchieren, welche Spenden da vielleicht unterwegs sind oder waren. ({17}) Wir haben es doch nicht vergessen: Kurz vor der Wahl kamen einige ganz dicke Spenden aus der Finanzindustrie bei den jetzigen Koalitionspartnern an. Da wird doch wohl kein Zusammenhang zu dem konkreten Nichthandeln bestehen? Sie sind von der letzten Obama-Rede aufgeschreckt worden. Erst muss der amerikanische Präsident kommen und etwas zur Begrenzung von Bankenmacht und hochriskanten Finanzgeschäften ausführen; dann kommt die deutsche Regierung und sagt: Wir halten eine Konferenz zu diesem Thema ab. Das ist in der Tat ein Armutszeugnis. Es muss wirklich anders gehen. Wir brauchen dringend so etwas wie einen deutschen Aktionsplan, ein konkretes Konzept, wie Deutschlands Beitrag zur nachhaltigen und dauerhaften Stabilisierung der Finanzmärkte und des Bankensektors aussehen soll. Viel Zeit wurde vertan. Wir haben diese Diskussion schon in der Großen Koalition geführt, auch über eine Sonderabgabe des Bankenbereichs. Da haben Sie blockiert. Ich habe mit Ihnen in einer Gruppe zur Begrenzung von Managergehältern verhandelt. Ein Dreivierteljahr lang mussten wir Ihnen Stück für Stück notwendige gesetzliche Veränderungen regelrecht aus der Nase ziehen, je nachdem, wie hoch der Druck in der Finanzmarktkrise gerade war. Bei der Frage der Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Gehältern und Abfindungen - dazu zählen Boni - haben Sie sich von vornherein verweigert. Was ist denn das für eine Haltung! Auch da müssen Sie sich bewegen. ({18}) Sie müssen doch auf nationaler Ebene machen, was auf nationaler Ebene möglich ist. Diese Chance nutzen Sie nicht. Sie machen unverbindliche Gedanken- und Meinungsaustausche und gehen die Probleme nicht an. Wir haben auch auf nationaler Ebene Regelungsbedarf. Sie sind nicht glaubwürdig. Auch Frau Merkel, die ein internationales Renommee hat - wer wollte das denn bestreiten! -, kann mit ihrem europäischen oder internationalen Renommee überhaupt nichts anfangen, weil sie gar nicht weiß, wofür sie sich bei den Gipfeltreffen in Europa oder den G-20-Treffen in der Welt nachhaltig einsetzen soll; denn sie hat kein eindeutiges Mandat dieser Koalition. Dieser Zustand muss sich ändern. Um Ihnen da auf die Sprünge zu helfen, haben wir zwei Anträge formuliert, die heute im Einzelnen noch gut begründet werden. Wir werden dann ja sehen, wie Sie sich dazu verhalten. Die Zeit des Stillstands auf einem zentralen Politikfeld in Deutschland muss vorbei sein. Ihre Zeit ist in diesem Punkt jedenfalls abgelaufen. Bewegen Sie sich bitte! ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Leo Dautzenberg für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Poß, durch Ihren Beitrag haben Sie im Grunde wieder bekundet, dass Sie sich hier unter Wert darstellen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf das, was wir bereits in der Großen Koalition auf den Weg gebracht haben; denn das war stimmig. Die Argumente und Vorwürfe, die Sie heute hier dargestellt haben, entbehren jeder Grundlage. In der neuen Koalition, in der christlich-liberalen Koalition, führen wir jetzt die Dinge zielgenau fort, mit denen wir bereits im Finanzmarktstabilisierungsgesetz und durch weitere Maßnahmen begonnen haben. ({0}) Ich darf vielleicht daran erinnern, was wir beispielsweise hinsichtlich der Vergütungsstrukturen schon auf den Weg gebracht haben, was wir gemeinsam beschlossen haben. Wir waren eben nicht bereit - das ist nach wie vor richtig -, bei den Vergütungsstrukturen unter steuerlichen Gesichtspunkten zwischen guten und schlechten Bezügen bzw. Einkünften und Ausgaben zu differenzieren. Das ist der falsche Ansatz. Man setzt zu spät an, wenn man damit anfängt - das wurde auch in England teilweise vollzogen -, Boni zu versteuern. Diese Boni dürfen den Bereich der Banken im Grunde gar nicht verlassen, sondern sie sollten dafür genutzt werden, die Eigenkapitaldecke der Banken zu stärken. Das wäre der bessere Beitrag als der, hier zu einem späteren Zeitpunkt eine Besteuerung herbeizuführen, die über andere Vergütungssysteme teilweise wieder so ausgeglichen wird, dass Sie das, was Sie damit eigentlich beeinflussen wollen, gar nicht erfassen. ({1}) Deshalb geht es darum, systematisch die Dinge fortzusetzen, mit denen wir bereits begonnen haben. Die Verabschiedung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes, dem bis auf die Linke alle Fraktionen in diesem Hause zugestimmt haben, war national der richtige Weg, um eine Stabilisierung zu erreichen. Das muss fortgesetzt werden. Wenn wir uns anschauen, was auf europäischer Ebene und international momentan diskutiert wird und was wir national in der Pipeline haben, dann sehen wir, dass dies von folgenden Zielen gekennzeichnet ist: Wir stimmen Ihnen zu, dass sich die Krise, die sich jetzt mit all ihren Folgen ereignet hat, so nicht wiederholen darf. Sie können nie ausschließen, dass es immer wieder Krisen geben wird, aber aufgrund der Erkenntnisse, die man aus der aktuellen Krise gewonnen hat, muss man jetzt die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit sich eine solche Krise mit den entsprechenden Folgen nicht wieder ereignet. Mit allen Anträgen, die hier von den Oppositionsfraktionen gestellt worden sind, greifen Sie im Grunde zu kurz, da Sie nur über Abgabesysteme und Belastungen reden. Es wird nicht gesagt, wie wir systematisch und zielgenau die Erkenntnisse aus der Krise ziehen, die erforderlich sind, um die entsprechenden Maßnahmen durchführen zu können. Als weiteres Ziel gilt es deshalb in der Tat, bestimmte Banken - die, die gerettet wurden; über die Rettung er1760 folgte eine Stabilisierung und wurde ein Nutzen erzielt an den Kosten zu beteiligen. Man muss nur fragen, mit welchen Instrumenten dies geschehen soll. Dies muss auch differenziert geschehen. ({2}) - Wie lange wir brauchen? Wir sind jetzt seit einem bzw. zwei Monaten dabei. Durch Schnellschüsse, wie Sie sie fordern, wird uns hier nicht weitergeholfen, sondern das muss durch eine nationale, europäische und internationale Vereinbarung im System verankert werden. ({3}) Deshalb war es richtig, dass Herr Obama zumindest Vorschläge unterbreitet hat. Das ist die Grundlage dafür, dass man annehmen kann, dass sich etwas bewegt. Bisher war es das größte Problem bei der internationalen Abstimmung, dass man das Stichwort „Regulierung“ den Vertretern des angelsächsischen Raums gegenüber im Grunde gar nicht ansprechen konnte. Herr Steinbrück ({4}) und Frau Merkel haben doch das Thema Regulierung mit Recht immer betont. In Heiligendamm ist vereinbart worden, dass wir auch im angelsächsischen Bereich eine stärkere Regulierung erreichen müssen. Wenn der Obama-Vorschlag etwas Gutes enthält, dann ist es die Öffnung für Maßnahmen. Dabei müssen wir uns aber fragen, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen in unserer europäischen und nationalen Bankenstruktur, Finanzmarktstruktur und auch Finanzmarktkultur adaptierbar und umsetzbar sind. Müssen wir nicht besser von der nationalen Ebene ausgehend bis hin zur europäischen Ebene Maßnahmen in die Diskussion einbringen, die unserer Finanzmarkt- und Bankenstruktur entsprechen? ({5}) Obamas Vorschlag bedeutet nämlich eine Rückkehr zum Trennbankensystem. Dadurch werden die Investmentbanken und damit die Banken begünstigt, die uns teilweise mit in die Krise geführt haben. Universalbanken aber dürfen keinen Eigenhandel mehr machen. Es geht doch nicht um die Frage, ob Eigenhandel zugelassen wird, sondern darum, in welchem Umfang er zulässig ist. Das muss aufsichtsrechtlich mit Eigenkapitalanforderungen geregelt werden. ({6}) Je risikoreicher und systemisch relevanter, desto höher sollte die Eigenkapitalunterlegung sein, Herr Poß. Das ist die richtige Antwort, um Krisen und Blasenbildung in diesem Bereich zu verhindern, ({7}) statt über die Schaffung von Besteuerungsgrundlagen zu diskutieren. Dabei sind wir auf einem guten Weg, der zwischen den beteiligten Häusern abgestimmt wird. Wichtig ist für uns auch die Effizienzsteigerung der Aufsicht. Dazu haben wir vorgeschlagen, dass die BaFin insgesamt mit ihren Strukturen bei der Bundesbank andocken kann. ({8}) - Richtig. - Der vom Bundesbankvorstand unterbreitete Vorschlag, nicht nur die Bankenaufsicht, sondern auch die Solvenzaufsicht über die Versicherungen zu übernehmen, war im Grunde zu kurz gesprungen, ({9}) Zudem wurde in der Frage der Eingriffsverwaltung betont, dass in schwierigeren Fällen weiterhin das BMF für die Rechts- und Fachaufsicht zuständig sein soll. Das ist nicht zu akzeptieren. ({10}) Wir können die Unabhängigkeit der Bundesbank sicherstellen, Kollege Poß. Es lässt sich organisatorisch gestalten, indem einzelne Teile voneinander getrennt werden und dadurch die Aufsicht ausgeklammert wird. Darin sind wir nicht weit auseinander. Das lässt sich machen. Ferner muss die Aufsicht mit mehr präventiven Kompetenzen ausgestattet werden. Im HRE-Untersuchungsausschuss wurde immer wieder vorgetragen, dass die Aufsicht auf das Geschäftsmodell keinen Einfluss nehmen kann. Wenn aber Geschäftsmodelle in den Ruin führen, dann muss die Aufsicht die Möglichkeit haben, präventiv auf die Tätigkeit der Bank Einfluss zu nehmen. ({11}) Das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind. Der regulatorische Ansatz ist besser geeignet. ({12}) - Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Damit werden wir schon klarkommen. Ich wünsche mir nur, dass Sie mit Ihren Vorschlägen konsistent zu dem stehen, was wir sinnvollerweise gemeinsam gemacht haben. Dann wären wir schon einen wesentlichen Schritt weiter. ({13}) Nun kommen wir zu Obamas weiterem Vorschlag des Trennbankensystems. Wir haben ein UniversalbankenLeo Dautzenberg system. Das ist unsere Kultur bis hin zu den kleinsten Einheiten der Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Wollen Sie die alle mit der von Ihnen gewünschten Finanztransaktionsteuer erfassen? Sie waren doch an den Ursachen der Finanzkrise gar nicht beteiligt. ({14}) Lassen Sie uns doch die systemischen Banken heranziehen, die entsprechend gesichert worden sind. Damit sind wir wieder bei der Frage der Eigenkapitalunterlegung. Gleichzeitig müssen wir in Basel dafür kämpfen, dass eine bestimmte Qualität des Eigenkapitals, was das Kernkapital anbelangt, erhalten bleibt. Wenn nämlich Mezzanine-Kapital, also stille Beteiligungen, demnächst nicht mehr zum Kernkapital gehören, ist das ein Schlag gegen unsere Finanzierungskultur bei den Banken sowohl auf nationaler als auf europäischer Ebene. Hier müssen wir dem angelsächsischen Raum etwas entgegensetzen, der hier zum Nachteil des deutschen und des europäischen Bankensystems interessengeleitet ist. Wenn Sie bereit sind, dabei mitzumachen, sind wir wiederum einen Schritt weiter. ({15}) Herr Kollege Poß, mit der Reform der Finanzaufsicht muss ein Insolvenzrecht für Finanzinstitute einhergehen. ({16}) - Nein, hier können wir auf das aufbauen, was schon während unserer Zeit in den Häusern erarbeitet wurde. ({17}) Es dürfen hier keine Verzögerungen entstehen, nur weil man sich in den Ministerien nicht einig ist, wer hier die Führung übernehmen soll. ({18}) Wir werden parallel dazu im Parlament darüber befinden, welcher Ausschuss dafür zuständig ist. ({19}) Da wir im Insolvenzrecht für Finanzinstitute, im Grunde abgehoben vom gewerblichen Teil des Insolvenzrechts, im Wesentlichen Besonderheiten für Finanzinstitute brauchen, werden sich die Änderungen überwiegend auf das KWG konzentrieren. Die entsprechenden Arbeiten laufen bereits. Aber der Gesetzentwurf muss seriös erarbeitet sein. Nach wie vor muss nämlich die Leitmaxime in der sozialen Marktwirtschaft gelten, dass auch Finanzinstitute scheitern können. Sie dürfen nicht immer aufgrund von „too big to fail“ oder der Systematik vom Steuerzahler gerettet werden müssen. ({20}) Aber dann braucht man neben einem Insolvenzrecht für Finanzinstitute eine Einrichtung wie den SoFFin, der Zahlungsströme sicherstellen kann. Im Insolvenzrecht für Finanzinstitute ist die Möglichkeit, Sicherungen, Abwicklungen und Neustrukturierungen vorzunehmen, das Wichtigste. Die entsprechenden rechtlichen Grundlagen kann man nicht innerhalb eines Monats legen. Das bedarf längerer Beratungen. Die Arbeiten werden bereits in den Häusern geleistet. Wir sind auf gutem Weg, die internationale Diskussion nicht nur mit Absichten, sondern mit konkreten Maßnahmen und Zielsetzungen zu begleiten. ({21}) Kollege Poß, wir haben aus der Krise gelernt und werden die richtigen Maßnahmen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer und internationaler Ebene ergreifen. Herr Zöllmer, mit Schnellschüssen ist uns nicht gedient. Wir werden uns an unseren Leitgedanken orientieren. ({22}) - Ich war doch schon konkret genug. Sie haben offenbar nicht zugehört oder haben eine selektive Wahrnehmung, weil Sie vielleicht das, was ich vorgeschlagen habe, nicht erwartet haben. ({23}) Mit den drei Anträgen, die sich alle nur auf eine Maßnahme konzentrieren, können Sie die vor uns liegenden Herausforderungen jedenfalls nicht bewältigen. Wir sind mit unseren Vorstellungen auf einem besseren Weg. Vielen Dank. ({24})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Diskussion stehen zwei Anträge zur Finanztransaktionsteuer. ({0}) Das ist in der Tat nicht alles, worum es geht. Aber es handelt sich zumindest um eine ganz konkrete Maßnahme. Wer die zwei Anträge der SPD und der Linken zu dieser Steuer genau liest, wird eine sehr große Übereinstimmung feststellen, und das ist auch gut so. ({1}) Wir Linken begrüßen insbesondere die Analyse, die sich die SPD in ihrem Antrag zu eigen gemacht hat. Ich möchte kurz zitieren: Die Ursachen der Krise liegen in weltweit liberalisierter Regulierung und Aufsicht als Ergebnis einer marktradikalen Ideologie, bei der es nur um die Maximierung von Profit, Kapitalrenditen und höchstmögliche Boni ging und die die ursprünglich dienende Funktion von Finanzmärkten und deren Funktionen für das Gemeinwohl oft vollständig ignorierte. ({2}) Sehr wohl, das ist das, was die Linke hier in den letzten Jahren immer gesagt hat. ({3}) Wir sind froh, dass sich bei der SPD diese Erkenntnis jetzt auch durchgesetzt hat, ({4}) und wir hoffen, dass die Politik jetzt auch entsprechend ausfallen wird, wenn auch erst in der Opposition. In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung zu Folgendem auf. Erstens: Die Bundesregierung soll sich in internationalen Organisationen wie UNO und Internationalem Währungsfonds, in einzelnen Staatengruppen wie G 20 und OECD und in der Europäischen Union nachdrücklich für die Einführung der Finanztransaktionsteuer einsetzen. ({5}) Zweitens: Über den Fortgang dieser Verhandlungen soll die Bundesregierung das Parlament und die Öffentlichkeit regelmäßig informieren. Drittens: Während diese Verhandlungen laufen, soll die Bundesregierung parallel einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer in Deutschland vorlegen. ({6}) Wenn die Verhandlungen sich dann in die Länge ziehen, sollen wir gemeinsam, Bundesregierung und Bundestag, unsere Glaubwürdigkeit dadurch unter Beweis stellen, dass die Finanztransaktionsteuer mit einem niedrigeren Steuersatz im Alleingang bereits eingeführt wird. ({7}) Wir wissen, es kommen immer wieder zahlreiche Gegenargumente; auf zwei davon will ich eingehen: Erstens wird vorgebracht, eine solche Steuer treffe Unschuldige und die kleinen Leute. Wenn man sich das in unserem Antrag genau ansieht, so ist zu erkennen, dass wir davon ausgehen, dass bei einem nationalen Alleingang ein Steuersatz von 0,01 Prozent umgesetzt wird. Im Maximum ist ein Steuersatz von 0,1 Prozent in der Diskussion. Das bedeutete, dass Sparerinnen und Sparer, die ein Depot mit Aktien oder festverzinslichen Wertpapieren von zum Beispiel 10 000 Euro anlegen, einmalig mit einem Euro bzw. im Höchstfall mit zehn Euro belastet würden. Bei 100 000 Euro wären es zehn Euro oder 100 Euro. Wenn man das mit den Bankgebühren für solche Depots vergleicht, die in der Größenordnung von 1 000 bis 2 000 Euro bei 100 000 Euro liegen - ({8}) - Das ist doch ganz einfach. Das sind 1 bis 2 Prozent des Volumens, und das ist das, was an Bankgebühr verlangt wird. ({9}) - Nein, das ist einmalig; beim Erwerb wird dies fällig, und unabhängig davon, ob ich jeden Monat 100 Euro spare oder einmal 10 000 Euro, ergibt die Summe mathematisch immer das Gleiche, Herr Kollege. Zweitens wird immer wieder gesagt, das gehe nur global. Das war sicherlich früher ein weit verbreitetes Gegenargument. Heute ist es aus unserer Sicht nur noch eine ignorante Schutzbehauptung, denn es gibt inzwischen viele Untersuchungen, die die Einführung auf EUEbene für machbar und für funktional halten. ({10}) Hinzu kommt, dass sich weltweit Regierungen positiv zur Finanztransaktionsteuer äußern, gerade auch von Ländern mit großen Finanzzentren, zum Beispiel Großbritannien. Ich appelliere daher an alle in diesem Haus, insbesondere an diejenigen, die immer wieder sagen, wir brauchten eine weltweite Finanztransaktionsteuer - ich wende mich also insbesondere an die Kollegen in der CDU -, die gegenwärtige Gunst der Stunde zu nutzen, dass der Premierminister Großbritanniens, Gordon Brown, sich im Augenblick so weit hervorgewagt hat. ({11}) Wir halten es für sinnvoll, auch ins deutsche Parlament einen entsprechenden Vorratsbeschluss einzubringen, wie ihn das belgische und das französische Parlament gefasst haben. Nur zur Information: Das belgische Parlament hat am 1. Juli 2004 ein Gesetz beschlossen, in dem sich Belgien mit einem Vorratsbeschluss selbst verpflichtet, eine Tobinsteuer einzuführen, sobald die EU einen entsprechenden Beschluss fasst. ({12}) Die französische Nationalversammlung hat das Gleiche bereits im Herbst 2001 gemacht. Beide Staaten - das war die damalige Diskussion - haben jetzt schon entweder eine Besteuerung auch von Börsenumsätzen wie in Belgien oder aber wie in Frankreich einen Präsidenten Sarkozy, der sich ganz eindeutig für die Einführung der Finanztransaktionsteuer einsetzt. ({13}) Die G 20 haben in Pittsburgh den Internationalen Währungsfonds beauftragt, nach Möglichkeiten zu suchen, wie der Finanzsektor stärker zur Finanzierung der Krisenkosten herangezogen werden kann. Das ist aus unserer Sicht eine etwas salomonische Umschreibung der Tatsache, dass geprüft werden soll, ob eine Einführung einer solchen Finanztransaktionsteuer möglich ist und wie sie entsprechend umgesetzt werden könnte. Wir glauben, dass die gegenwärtige Situation dafür reif ist, eine solche Steuer wirklich national und international einzuführen. ({14}) Bitte denken Sie daran: Es geht nicht darum, der SPD, der Linken oder den Grünen einen Gefallen zu tun. Es geht um sinnvolle Regulierung. Es geht um dringend benötigte Staatseinnahmen. Es geht um nachholende Gerechtigkeit, nämlich die Beteiligung der bisherigen Profiteure des Finanzmarktkapitalismus an den Kosten der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1930. ({15}) Wenn Sie sich für eine solche Finanztransaktionsteuer entscheiden, tun Sie uns allen einen Gefallen, denn unsere traurigen Staatsfinanzen können Einnahmen gut gebrauchen. Wir gehen davon aus, dass selbst bei einem minimalen Steuersatz von 0,01 Prozent - ich sage es noch einmal - insgesamt jährliche Mehreinnahmen in der Größenordnung von 15 bis 18 Milliarden Euro entstehen. ({16}) Dabei ist zum Teil ein Rückgang bis zu 80 Prozent, zum Beispiel im Bereich der Derivate, unterstellt. Das ist auch gut so, denn es geht eben nicht nur um die Einnahmen, sondern auch um eine Entschleunigung. ({17}) Es darf bei diesen Einnahmen aus unserer Sicht nicht nur um die Bedürfnisse des Inlandes gehen. Wir schlagen deswegen vor, die Mehreinnahmen zur Hälfte für den sozial-ökologischen Umbau zu verwenden und die andere Hälfte für Umwelt- und Klimaschutz sowie für die Finanzierung von Entwicklung und Armutsbekämpfung in Ländern des Südens. ({18}) Deshalb unser dringender Appell: Werden Sie Ihrer Verantwortung in dieser besonderen Konstellation gerecht und nutzen Sie die Chance, einen internationalen Prozess nicht nur anzustoßen, sondern ihn auch mitzugestalten. Denken Sie bitte auch daran, dass sich über 65 000 Bürgerinnen und Bürger in einer Petition für die Einsetzung der Finanztransaktionsteuer ausgesprochen haben, ({19}) dass viele gewerkschaftliche und kirchliche Organisationen, Hilfswerke, Nichtregierungsorganisationen und auch Attac die Bundesregierung in einem offenen Brief aufgefordert haben, entsprechende Aktivitäten zu entwickeln. ({20}) Wenn man sich mit Vertretern der Finanzbranche ein bisschen unterhält, dann weiß man auch, dass diese mit der Einführung einer solchen Steuer durchaus rechnen. Ich habe vor zwei Tagen ein Gespräch mit einer Vertreterin der Deutschen Börse geführt, die schon davon ausgeht, dass diese Diskussion ganz konkret auf sie zukommt. Viele von uns waren gestern beim parlamentarischen Abend des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, wo Herr Haasis genau diese Frage angesprochen und deutlich gemacht hat: Wenn man Maßnahmen ergreift, um die Finanzwirtschaft an diesen Kosten zu beteiligen - ({21}) - Herr Dautzenberg, Sie sagen immer wieder, Sie wollen im Prinzip die Finanzindustrie an den Kosten beteiligen. ({22}) Wenn die Einführung dieser Steuer die geringste der schlimmen Maßnahmen ist, dann lassen Sie uns diese doch ergreifen. ({23}) Die Alternative ist, dass Sie gar nichts machen. Das ist doch der Punkt. Deswegen der dringende Appell an die Kolleginnen und Kollegen von der CDU: Befreien Sie sich endlich von dem Blockadegriff der FDP, die jede Art von Maßnahme auf diesem Gebiet verhindern will. Es kann auf Dauer nicht sein, dass der Schwanz, in diesem Fall die FDP, mit dem Hund - das ist der Rest des Parlaments wackelt und sagt: Wir wollen die Einführung einer solchen Steuer nicht. Angesichts der letzten Umfrage würde ich sagen: Der Schwanz ist inzwischen ein kleiner Stummelschwanz geworden. Danke schön. ({24})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Frank Schäffler das Wort. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Debatte verfolgt, die jetzt zum wiederholten Male hier im Parlament stattfindet - in der nächsten Sitzungswoche wird sie übrigens noch einmal geführt -, ({0}) dann erkennt man: Sie beschäftigen sich viel mit den Wirkungen der Finanzkrise, aber mit den Ursachen beschäftigen Sie sich, ehrlich gesagt, viel zu wenig. Wir tun das. ({1}) Die Justizministerin hat angekündigt, ein neues Insolvenzrecht, insbesondere für den Bankenbereich, vorzulegen, um letztendlich dem Ordnungsrahmen in Europa und vor allem in unserer sozialen Marktwirtschaft wieder Geltung zu verschaffen. Das heißt, derjenige, der Risiken eingeht, hat nicht nur die Früchte zu ernten, sondern, wenn es schiefgeht, im Zweifel auch zu haften. Das ist die andere Seite der sozialen Marktwirtschaft. Wir werden dafür eintreten, dass das in Deutschland wieder zusammengehört. ({2}) Es gibt noch einen Bereich, mit dem wir uns beschäftigen werden. Die Bankenbranche muss für das, was sie bei HRE und WestLB verursacht hat ({3}) - die Commerzbank nehme ich gern hinzu -, wofür bisher der Steuerzahler eintritt, im Rahmen eines Versicherungssystems geradestehen und dafür entsprechende Gebühren und Beiträge entrichten, sodass am Ende diejenigen, die von den Rettungsaktionen profitiert haben, auch dafür bezahlen. Darüber müssen wir uns in den nächsten Wochen und Monaten unterhalten. Da ist ein Schnellschuss nicht möglich. Vielmehr müssen wir uns darüber Gedanken machen, inwieweit wir den SoFFin dahin gehend weiterentwickeln können. Entscheidend ist, dass Sie viel über die Symptome und zu wenig über die Ursachen der Krise sprechen. Die Ursache der Krise ist eine Kredit- und Geldschöpfung aus dem Nichts. Um es einfacher zu sagen: Die Ursache der Krise ist das verstärkte Gelddrucken der Notenbanken und hier vorneweg der amerikanischen Fed. ({4}) - Ich will das auch mit Zahlen belegen. Zwischen 1998 und 2009 stieg das reale Bruttoinlandsprodukt in Amerika - in Europa war es ähnlich - um rund 20 Prozent. ({5}) Die Geldmenge in Amerika ist im gleichen Zeitraum um 200 Prozent gestiegen. Das Kreditvolumen, das die Banken ausgereicht haben, ist in Amerika um 250 Prozent gewachsen. Im Euroraum sind die Zahlen, wie ich schon gesagt habe, nahezu identisch. Die heutige Weltfinanzkrise ist eine Überschuldungskrise der Banken. Das Kernproblem besteht darin, dass im heutigen Geldsystem Kredite geschaffen werden, die nicht durch Ersparnisse gedeckt sind. Diese Politik des billigen Geldes hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Finanzwirtschaft sich von der Realwirtschaft abkoppeln konnte. ({6}) Nowendig ist deshalb eine marktwirtschaftliche Geldordnung, die gutes und werthaltiges Geld ermöglicht und Kredite, die nicht durch Ersparnisse gedeckt sind, also schlechtes Geld, verhindert. ({7}) In der modernen Ökonomik greift zunehmend die Erkenntnis Platz, dass billiges Geld, das nicht aus Ersparnissen besteht, zu Fehlinvestitionen führt, die Investitionsblasen entstehen lassen und am Ende Finanzkrisen verursachen. ({8}) Es ist auch nicht so, dass dies von niemandem erkannt wurde. ({9}) Schon vor der Weltwirtschaftskrise 1929 haben Ökonomen wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek dieses Phänomen beschrieben. ({10}) So war es auch in dieser Krise. Ökonomen haben vor der Politik des billigen Geldes gewarnt. So schwer es ist, wir müssen diese Politik des billigen Geldes beenden. ({11}) Ihr Vorschlag ist ein Ablenkungsmanöver und letztendlich der falsche Weg, weil es damit nicht an die Ursachen geht. ({12}) Wenn die von Ihnen gewünschte Steuer so richtig ist, wie Sie es beschrieben haben, ({13}) dann frage ich Sie: Wieso haben Sie die Finanztransaktionsteuer in den letzten elf Jahren im Deutschen Bundestag nicht durchgesetzt? Wenn es mit der Union nicht gegangen ist, hätten Sie es immerhin mit den Grünen umsetzen können. Sie haben es nicht gemacht. Sie haben kurz vor der Bundestagswahl die Kurve gekriegt und sind jetzt in der Opposition angekommen. ({14}) Herzlichen Glückwunsch! ({15}) Völlig absurd ist jedoch, dass Sie sich im Zweifel für einen nationalen Alleingang aussprechen und als besonderes Beispiel England, also Großbritannien, anführen. Wer sich mit der in Großbritannien eingeführten Stempelsteuer beschäftigt hat, weiß, dass damit zig Ausnahmen verbunden sind - nicht ohne Grund -: ({16}) Ausländische Wertpapiere werden nicht berücksichtigt; britische Staatsanleihen werden nicht berücksichtigt; neue Wertpapiere werden nicht berücksichtigt; Derivate werden nicht berücksichtigt. ({17}) Schweden hat 1984 die Börsenumsatzsteuer eingeführt. Eine Woche nach Einführung dieser Steuer ging der Handel mit Rentenpapieren um 85 Prozent zurück. ({18}) Das Handelsvolumen von Futures und Optionen sank um 98 Prozent. Das Handelsvolumen der wichtigsten schwedischen Wertpapiere ging in der gleichen Zeit um 50 Prozent zurück und hat sich nach England verlagert. ({19}) Dennoch wollen Sie eine solche Steuer bei uns einführen. Wenn Sie die Arbeitsplätze von 75 000 Menschen, die in Frankfurt im Bankbereich arbeiten, vernichten wollen, dann müssen Sie diese Steuer einseitig einführen, so wie es in zweien Ihrer Anträge gefordert wird. ({20})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie am Ende Ihrer Redezeit eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schäffler, Sie haben die Finanztransaktionsteuer eben als Ablenkungsmanöver bezeichnet. Sie haben jetzt gerade mit Ihren Worten wiederum deutlich gemacht, dass Sie die Finanztransaktionsteuer ablehnen. Ich bemühe mich seit Dezember, die Position der Bundesregierung zu diesem Vorhaben herauszufinden. Ich habe mehrere schriftliche Anfragen zu diesem Thema gestellt. Ich habe hier in einer Debatte im Dezember dazu gesprochen. Vor kurzem habe ich wiederum Fragen an die Bundesregierung gerichtet - Bundesminister Niebel war im Gespräch mit einem Vertreter der Weltbank nämlich auf einmal für eine solche Steuer, obwohl er vorher immer dagegen war -: Wie steht die Bundesregierung zur Einführung der Finanztransaktionsteuer? Haben es sich einzelne Mitglieder der Bundesregierung zur Übung gemacht, immer die Meinung desjenigen zu teilen, mit dem sie zuletzt gesprochen haben? Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls bei Herrn Niebel. Eine Antwort auf meine Fragen habe ich vom Kollegen Koschyk bekommen. Er hat mich auf seine Rede verwiesen, die er hier am 17. Dezember 2009 gehalten hat; ({0}) darin sei die Position der Bundesregierung dargestellt. ({1}) Jetzt frage ich Sie, Kollege Schäffler - Sie sind schließlich Mitglied dieser Koalition -: Wollen Sie der Bundesregierung gerade hier ganz bewusst in den Rücken fallen? ({2})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Hendricks, Sie waren lange genug Mitglied der Bundesregierung ({0}) und wissen, dass es durchaus einen Unterschied zwischen Bundesregierung und Parlament gibt. Ich bin Parlamentsvertreter. Die Regierung sitzt dort auf der Bank. ({1}) Entscheidend ist in einer Koalition, was im Koalitionsvertrag steht. Für die christlich-liberale Koalition gilt - so steht es im Koalitionsvertrag -: ({2}) Was wir den Wählerinnen und Wählern vor der Bundestagswahl versprochen haben, gilt auch danach; Steuererhöhungen zur Krisenbewältigung kommen für uns nicht infrage. ({3}) Deshalb bin ich ganz entspannt, was dieses Thema betrifft. Wir wollen keine Steuererhöhungen. Wir sind vielmehr angetreten, um in Deutschland Steuern zu senken. Wir wollen die Kleinsparer und die Kleinverdiener in Deutschland nicht mit zusätzlichen Steuern belasten. Sie wollen mit einer Transaktionsteuer - die etwas verkürzte mathematische Betrachtung von Herrn Troost lasse ich einmal außen vor - Kleinsparer abzocken. Das wollen wir nicht, und deshalb werden wir ein solches Ansinnen ablehnen. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute seitens der Koalition erlebt haben, war nichts als Herumgeeiere. ({0}) Was ist die Position der Bundesregierung zur Finanzumsatzsteuer? Wir wissen es nach wie vor nicht. ({1}) Wie sinnvolle internationale Verhandlungen möglich sein sollen, wenn die Bundesregierung keine Ahnung hat, was ihre Position ist, das müssen Sie uns erst einmal erläutern. ({2}) Es geht hier um konkrete Maßnahmen. Der geschätzte Kollege Schäffler hat über die Währungsordnung philosophiert. Wenn die FDP politisch relevant ist, dann müssten die Börsen jetzt verrücktspielen, weil Sie gerade den Euro zur Disposition gestellt und ein wettbewerbliches Währungssystem vorgeschlagen haben. Ich glaube allerdings, dass die Börsen davon unbeeindruckt sind, weil die FDP in dieser Frage zum Glück irrelevant ist. ({3}) Aber es ist ja noch schlimmer. Sie sind völlig getrieben von den internationalen Entwicklungen. Was sind die eigenen Beiträge? Praktisch nichts. Erst musste der amerikanische Präsident Barack Obama auf die massiven Widerstände der Bankenlobby reagieren und verkünden: Ich packe den Stier bei den Hörnern und will etwas tun. Genau das passiert doch in den USA. Angesichts der Millionenspenden der Banken, die dazu dienen, sinnvolle Finanzregeln zu verhindern, ({4}) sagt die dortige Regierung: Wir werden uns nicht niederringen lassen, sondern wir vertreten die Interessen der Bürgerinnen und Bürger gegen diese Branche und sehen zu, dass sich wirklich etwas ändert. ({5}) Was passiert aber in der Bundesregierung? Hektisch aufgeschreckt davon, dass jetzt in den USA etwas passiert, ({6}) kündigt der Bundesfinanzminister an, wir werden eine Konferenz veranstalten ({7}) und daraufhin weitere Maßnahmen verkünden. Man ist nun ganz stolz darauf, dass es die Ankündigung gibt, dass ein Gesetzentwurf zum Thema „Insolvenzrecht für Banken“ erarbeitet werden soll. Meines Wissens hatten wir im Sommer schon zwei entsprechende Entwürfe vorliegen. Jetzt wird ein neuer angekündigt - ein großes Ereignis! ({8}) Man kann nun sagen: Wenigstens im nationalen Bereich wird Großartiges getan. - Ja, bevor noch irgendein konkretes Ergebnis des ersten Kreditklemmegipfels vom November letzten Jahres vorliegt, wird schon der zweite Kreditklemmegipfel für März angekündigt. Auch das ist irgendwie leer. Was tun Sie denn wirklich konkret? ({9}) Zur Bonusbesteuerung sagen Sie: Es sei nicht Ihr Ansatz, so vorzugehen, wie wir es vorschlagen. Aber wie sieht denn Ihr Ansatz aus? Wir würden ihn gerne sehen. ({10}) Es macht mir richtig Sorgen, Herr Dautzenberg, dass sich diese Regierung auf dem zentralen Politikfeld der Finanzmarktpolitik treiben lässt und bisher nichts vorgelegt hat. ({11}) - Ja, Herr Dautzenberg, Sie wollen keinen Aktionismus. Außerdem haben Sie gesagt, die Opposition lege nur Vorschläge zu einzelnen Punkten vor. ({12}) Entschuldigung, das Wesen eines parlamentarischen Antrages ist häufig, dass man eine Idee aus einem Gesamtkonzept, das man verfolgt, in den Vordergrund stellt. ({13}) Schauen wir doch einmal in den Koalitionsvertrag, in dem Sie in einer umfassenden Sicht ganz systematisch zusammengeschrieben haben, was Sie vorhaben. ({14}) Da werden erst schöne Prinzipien genannt, und dann kommt der entscheidende Satz: Dazu werden wir insbesondere folgende Maßnahmen ergreifen: … ({15}) Dann schaut man, und dann schaut man, aber von Maßnahmen ist nicht die Rede. ({16}) Da stehen dann Aussagen wie: … die Kreditwirtschaft muss sich ihrer Verantwortung als Finanzierungsgeber der deutschen Wirtschaft bewusst sein. Eine sehr konkrete Maßnahme! ({17}) Weiter steht da: Wir wollen verhindern, dass Staaten in Zukunft von systemrelevanten Instituten zu Rettungsmaßnahmen gezwungen werden können. Aber wie wollen Sie es tun? ({18}) Deswegen würde ich sagen: Gehen Sie noch einmal auf „Start“! Legen Sie uns einmal vor, welches Bild Sie aus der Ursachenanalyse gewonnen haben und welche Richtung in Bezug auf die Finanzmärkte eingeschlagen werden soll. Eines sage ich Ihnen für meine Partei ganz deutlich: Nur ein paar Regeln für den Finanzmarkt von gestern zu schrauben, damit es dann wieder wie vorher weitergehen kann, das darf es nicht geben, und das wird es mit uns nicht geben. ({19}) Konkret zur Finanzumsatzsteuer, zu der ja zwei Anträge vorliegen: Unsere Fraktion hat dazu ja schon in der letzten Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt. ({20}) - Dass die damals nicht zustimmen konnte, hatte sicherlich etwas mit der CDU/CSU zu tun. Das will ich gar nicht anprangern. ({21}) Aber man kann Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, nicht durchgehen lassen, dass es dazu noch nicht einmal ein Gutachten aus dem Hause Steinbrück gab. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, warum es das nicht gab und man nicht einmal die entsprechende Idee vorangetrieben hat. Daran hätte Sie kein Koalitionspartner hindern können. ({22}) - Die Kollegin Wieczorek-Zeul hat etwas gemacht, aber nicht Herr Steinbrück. - Vielmehr hat Herr Steinbrück als Erbe in dieser Frage nur eine leere Schublade hinterlassen, und Sie müssen jetzt in der Opposition ziemlich bei Null anfangen. ({23})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sieling? ({0})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Selbstverständlich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, bitte.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Dass wir nichts gemacht hätten, ist eines der Zerrbilder, die in diesen Debatten gerne gebracht werden. Kollege Troost nimmt den Steuervorschlag für die Linke in Anspruch. Darum will ich an dieser Stelle einmal sagen, dass auch das Argument des fehlenden Gutachtens nicht stimmt. Die SPD hat schon 1999 auf einem Bundesparteitag die Einführung einer Finanztransaktionsteuer auf den internationalen Finanzmärkten gefordert und beschlossen. Eine solche Steuer ist schon damals geprüft worden. ({0}) Die Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hat 2005 in ihrem Ministerium ein Gutachten dazu erstellen lassen, um das zu prüfen. ({1}) Bundeskanzler Schröder hat 2005 dafür geworben, zum Beispiel in Davos. Die Problematik war, dass dafür keine Mehrheiten zu finden waren, ({2}) übrigens auch, als wir gemeinsam in einer Koalition waren. Deshalb frage ich Sie: Worauf beziehen Sie das? Ich bitte Sie, diese Falschdarstellung zu beenden.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Sieling, ich habe sehr bewusst formuliert, wie Sie feststellen konnten, wenn Sie zugehört haben. Ja, die Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hat damals ein Gutachten bei Herrn Spahn in Frankfurt in Auftrag gegeben, das den alten Gedanken der Tobinsteuer in einer bestimmten Weise weiterentwickelt hat. Ihr heutiger Antrag hat allerdings mit dem damaligen Gutachten relativ wenig zu tun. ({0}) Vielmehr ist es ein anderes Konzept. ({1}) - Richtig. Aber genau diese Weiterentwicklung wurde im Hause Steinbrück nicht vorangetrieben. Das ist das, was ich kritisiert habe. Im Hause Steinbrück wurde - das ist das schwere Erbe, das Sie zu tragen haben - noch bis weit in die Finanzkrise hinein das alte Paradigma der Deregulierung und der Finanzmarktförderung im Interesse der Finanzindustrie und nicht der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes vertreten. Das hat übrigens Herr Steinbrück mit einem Hauch von Selbstkritik im Untersuchungsausschuss zur Hypo Real Estate auch eingeräumt. ({2}) Es ist ja richtig, in der Opposition jetzt einen Neustart zu machen. Aber Sie hätten wesentlich mehr tun können; dann hätten wir jetzt eine andere Grundlage. In Österreich hat die Große Koalition ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gegeben, auf das wir uns jetzt beziehen können und das der Debatte weiterhilft. Aus dem Hause Steinbrück gab es so etwas nicht. ({3}) Ich will noch einmal zu dem zentralen Argument kommen, das viele FDP-Vertreter und auch Teile der Union immer wieder vorbringen, wenn es um die Finanzumsatzsteuer geht. Sie sagen, diese treffe den Kleinanleger. ({4}) Mit dieser Aussage schenken Sie den Leuten keinen reinen Wein ein, sondern machen ihnen etwas vor. Schauen Sie sich doch einmal die Statistiken an. Wie sieht es bei der Altersvorsorge aus? Die Produkte, die bei den deutschen Lebensversicherern - im Wesentlichen die Kategorie, in denen ein Großteil der Altersvorsorge läuft; dazu gehören auch die Riester-Produkte gewählt werden, bestehen zu unter 30 Prozent aus Pfandbriefen, zu etwa 18 Prozent aus Rentenfonds, aus ein paar Hypotheken, zu 10 Prozent aus Aktien und zu 26 Prozent aus Darlehen. Das sind fast alles Produkte mit einer sehr geringen Umschlaghäufigkeit. Auch Aktien können gerade in diesem Bereich sehr langfristig angelegt werden, sodass hier nur eine minimale Kostenbelastung entsteht. ({5}) Die wirklichen Umsätze im Finanzmarkt liegen in anderen Bereichen. Die Spot-Market-Umsätze im Bereich Aktien und Bonds machen genau 2 Prozent der Gesamtumsätze aus. Deswegen wird die Hauptbelastung dort entstehen, wo Futures, Optionen und andere Derivate zwischen institutionellen Anlegern hin und her gehandelt werden. Das wird den Kleinanleger nur in einer so minimalen Größenordnung belasten, dass es den positiven Aspekt auf jeden Fall nicht überkompensieren kann. Sagen Sie da endlich einmal die Wahrheit, nämlich dass Sie genau diese Elemente des Finanzmarktes nicht zur Kasse bitten wollen, obwohl von ihnen große Instabilitäten ausgehen! Das Argument, dass der Kleinanleger zahlt, ist falsch. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, der Herr Kollege Schäffler würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie diese? - Ja. Bitte.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schick, die Rechnung, die Sie aufgestellt haben, kann ich nicht nachvollziehen. ({0}) Lebensversicherungssparer, Fondssparer oder auch Riester-Sparer sparen nicht nur einmal und lassen dann das Geld liegen, sondern sie sparen jeden Monat beispielsweise 50 oder 100 Euro. ({1}) Dieses Geld wird immer wieder neu angelegt. Wenn Sie von diesem Geld jedes Mal 0,05 Prozent wegnehmen, dann ergibt sich über den Zinseszinseffekt langfristig eine erheblich geringere Wertsteigerung. Das bayerische Finanzministerium hat zusammen mit dem damaligen Generalsekretär der CDU ausgerechnet, ({2}) dass ein Riester-Sparer, der langfristig über 20 Jahre anspart, am Ende 5 000 Euro weniger in der Tasche hat. Nehmen Sie das zur Kenntnis? ({3})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich glaube, dass wir uns damit einmal intensiver auseinandersetzen müssen, ({0}) da Sie die wesentlichen Grundzüge, wie am Finanzmarkt angelegt wird, noch nicht zur Kenntnis genommen haben. ({1}) Wenn ich im Rahmen eines Fondssparplans jeden Monat etwas einzahle, dann heißt das nicht, dass jedes Mal alles umgeschlagen wird. Das entscheidende Problem, über das sich auch viele Anleger kritisch mit ihren Fonds auseinandersetzen, ist, dass in manchen Fonds zulasten der Anleger eine viel zu hohe Turn-over-Ratio herrscht, das heißt, dass viel zu häufig umgeschlagen wird. ({2}) Gerade das wollen wir dadurch korrigieren, dass wir den Anlegerschutz verbessern. Damit bleibt folgender Effekt: Über 90 Prozent der Einnahmen aus einer Finanztransaktionsteuer werden aus den Bereichen der derivativen Geschäfte kommen, ({3}) die für die langfristige Anlage eine vernachlässigbare Rolle spielen. ({4}) Machen wir folgende Rechnung auf - auch Sie wissen, dass man als Finanzwissenschaftler sauber rechnen muss -: ({5}) Wenn Sie die Einnahmen nicht über eine Finanzumsatzsteuer erzielen, sondern über die allgemeine Umsatzsteuer - irgendwoher muss das Geld kommen, wenn wir Aufgaben finanzieren -, dann würden Sie den Normalbürger wesentlich mehr belasten. Unser Instrument der Finanzumsatzsteuer ist wesentlich gerechter als das, was Sie durch Kürzungen und Gebührenerhöhungen auslösen. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Die Finanzumsatzsteuer wird die Gerechtigkeitsteuer sein. ({6}) - Herr Dautzenberg, wenn Sie eine Frage haben, dann richten Sie sie direkt an mich. ({7}) Ich will auf den Punkt zurückkommen, den Herr Dautzenberg zu Recht angesprochen hat. Wir brauchen ein Leitbild, wie die Finanzmärkte von morgen wirklich aussehen sollen, und wir müssen die verschiedenen Maßnahmen genau darauf abstimmen. ({8}) Ich höre aber von diesem Leitbild nichts. ({9}) Auch von der Regierung höre ich nur Diskussionen über Instrumente. Wollen Sie wirklich einen Finanzmarkt, in dem es weniger komplex zugeht? Wenn Sie das wollen, dann müssten Sie gerade einer Finanzumsatzsteuer zustimmen. ({10}) Wollen Sie einen Finanzmarkt, der weniger kurzfristig orientiert ist und auf dem nachhaltiges, langfristiges Handeln belohnt wird? Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie endlich etwas hinsichtlich der Boni tun. Dann müssten Sie hier zustimmen. Wollen Sie wirklich, dass in Zukunft die Banken kleiner sind, damit das Haftungskriterium wieder funktionieren kann und damit der Steuerzahler nicht gezwungen ist, große Banken retten zu müssen? Wenn dem so ist, dann müssten Sie als CDU sagen, dass wir das Instrument der Entflechtung brauchen, um gegebenenfalls große Banken entflechten zu können. Wenn Sie wirklich wollten, dass der Finanzmarkt in Zukunft wieder Dienstleistungen für die reale Wirtschaft erbringt, dann müssten Sie schauen, dass er in seiner Größe und Bedeutung ein wenig zurückgeht und wirklich wieder Investitionen in die Realwirtschaft im Vordergrund stehen und nicht das Hin- und Herschieben wie beispielsweise bei Carry Trades. Dann müssten Sie der Finanzumsatzsteuer zustimmen. Sie verweigern sich dieser Leitbilddiskussion, indem Sie alle möglichen Diskussionen führen und über die verschiedensten Instrumente bis hin zur Währungsordnung debattieren. ({11}) Sagen Sie, was Ihr Leitbild ist. ({12}) Sie werden erkennen: Wenn Sie am Finanzmarkt wirklich etwas ändern wollen, dann werden Sie genau die Vorschläge, die wir vortragen, in Zukunft auch zu den Ihren machen müssen, sonst geht alles so weiter wie bisher - aber mit uns nicht. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Der Finanzmarkt ist im Rahmen der Globalisierung außer Kontrolle geraten. Die globale Wirtschaftsund Finanzkrise stellt Deutschland wie die internationale Staatengemeinschaft vor eine gewaltige Herausforderung. Die schwerste und gefährlichste Finanzkrise hat die Welt der Banken nachhaltig verändert. Sie hat Vertrauen, Kapital und Arbeitsplätze in hoher Zahl zerstört und insbesondere das Ansehen der Marktwirtschaft in hohem Maße beschädigt. Zweifellos zerstört es unsere Gesellschaftsordnung, wenn Gewinne im Finanzsektor privatisiert, Verluste sozialisiert sowie Risiken und Haftung immer weiter entkoppelt werden. Deshalb sollten wir uns darüber einig sein, dass jetzt gezielte Maßnahmen mit fachlicher Kompetenz und sachlicher Vernunft notwendig sind; denn die Exzesse, die wir auf den Finanzmärkten erlebt haben, dürfen sich nie mehr wiederholen. Der Schaden, der zulasten des normalen Bürgers hervorgerufen wurde, war zu groß. Was wir aber nicht brauchen - das sage ich hier deutlich -, sind Einzelmaßnahmen, Placebos, nationale Alleingänge und unqualifizierte Schnellschüsse, wie dies in den Anträgen der Opposition zum Ausdruck kommt. ({0}) Wir brauchen gezielte, nachhaltige und vor allem differenzierte Lösungen für die einzelnen Säulen im Finanzmarkt. Sie können doch die Regionalbanken nicht in einen Topf mit den Investmentbanken werfen. Hier braucht es differenzierte Lösungen, die letzten Endes der Realwirtschaft helfen. ({1}) Zunächst möchte ich in Erinnerung rufen, dass wir bereits einige wichtige Maßnahmen umgesetzt haben. Ich denke dabei an das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht, das im August 2009 in Kraft getreten ist. Hier haben wir die Befugnisse der Finanzaufsicht und damit ihre Durchschlagskraft wesentlich gestärkt. Ich denke an das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, das auch im August in Kraft getreten ist. Hier haben wir die Vergütungsstruktur auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung ausgerichtet ({2}) und beschlossen, dass variable Vergütungsbestandteile eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben sollen. ({3}) Das haben Sie mit uns zusammen gemacht. ({4}) Sie verstecken sich heute dahinter; das ist doch die Situation. ({5}) Denken Sie an das Bilanzmodernisierungsgesetz, das ein antizyklisches Sicherheitspolster vorsieht. ({6}) Im Rahmen des Bilanzmodernisierungsgesetzes haben wir als Gesetzgeber Lehren aus der Finanzkrise gezogen. Das gilt für die Bewertung von Finanz- und Finanzierungsinstrumenten und für Konzernabschlüsse. Im Anhang und im Lagebericht müssen jetzt genauere Angaben zu entsprechenden Risiken gemacht werden. Das war unser Weg. Natürlich muss dieser Weg weiterbeschritten werden. Natürlich ist die Krise noch nicht vorbei. Deshalb sind die Vorlage eines Maßnahmenkatalogs und die Aufarbeitung der Krise in Form von weiteren Finanzmarktreformen nötig. ({7}) Wir hatten einen klaren Ansatz und haben konkrete Maßnahmen ergriffen. Wir wollen keinen Aktionismus, sondern ein Gesamtkonzept. Herr Schick, Sie wollen einfach nicht verstehen, dass Einzelmaßnahmen nicht ausreichend sind. ({8}) Ich darf Ihnen sieben Punkte, die der CDU/CSU wichtig sind, verdeutlichen: Erstens die Umsetzung der geänderten Banken- und Kapitaladäquanzrichtlinie sowie weitere Reformen in diesem Zusammenhang. Schwerpunkt wird hierbei die Verschärfung der Kapitalanforderungen für das HandelsDr. h. c. Hans Michelbach buch und für Verbriefungen sein. Aber auch ein neues Insolvenzrecht für Finanzinstitute gehört dazu, damit Banken geordnet in die Insolvenz gehen können, ohne dass der gesamte Finanzmarkt wieder in Mitleidenschaft gezogen wird. ({9}) Zweitens. Die EU-Ratingverordnung mit Regulierung und Beaufsichtigung der Ratingagenturen wird national umgesetzt. ({10}) Drittens. Die Finanzaufsichtsstruktur wird auf nationaler und europäischer Ebene effektiver und weitreichender gestaltet. Viertens. Die Regulierung und Beaufsichtigung der Hedgefonds-Manager wird EU-weit ausgeweitet. Fünftens. Die Vergütungsstrukturen auf dem internationalen Finanzsektor sollen mithilfe der G-20-Staaten stärker auf längerfristigen Erfolg ausgerichtet werden. Es nutzt doch nichts, wenn wir auf nationaler Ebene etwas regeln und die Bankentochter im Ausland das Gegenteil macht. ({11}) Sechstens. Das grenzüberschreitende Krisenmanagement im Bankensektor und die Konsultation zur Eigenkapitalreform im Baseler Ausschuss soll im Laufe des Jahres 2010 eine Festlegung erfahren. Die Verhandlungen sollen natürlich - darauf müssen wir Wert legen unter Parlamentsvorbehalt geführt werden. Bei Basel III müssen wir uns ebenso einmischen wie bei Basel II. ({12}) Das ist ein notwendiger Auftrag, damit keine Überforderung unserer Realwirtschaft stattfindet. Eigeninteressen, insbesondere aus den USA, dürfen nicht zulasten unserer Kreditwirtschaft gehen. Das ist ein wesentliches Kriterium, auf das wir achten müssen. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte noch den siebten Punkt im Zusammenhang bringen, sonst behauptet Herr Schick wieder, es gebe kein Gesamtkonzept. Siebtens die Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten der Krisenbewältigung. Zur Diskussion steht unter anderem eine Finanztransaktionsteuer. So etwas ist aber nach meiner Ansicht nur international denkbar. Die Auswirkungen müssen intensiv geprüft werden. Es ist auch eine Tatsache, dass Deutschland der Motor in dieser Sache ist. Der IWF hat einen Prüfauftrag bekommen, der G 20 einen Bericht und eine Analyse der Auswirkungen vorzulegen. ({0}) Ich habe Ihnen die sieben Leitlinien genannt. Auf sie können sich die Leute verlassen. Jetzt kann die Frau Kollegin Hendricks ihre Zwischenfrage stellen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Hendricks, bitte sehr.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Michelbach. - Ist Ihnen klar, dass all die Punkte, die Sie genannt haben, sich entweder in der Planung bzw. in der Umsetzung befinden oder schon längst umgesetzt sind? Alle Punkte beruhen auf Vorschlägen des sozialdemokratisch geführten Finanzministeriums ({0}) und der Fraktion, insbesondere was die Managervergütungen angeht. Unsere Fraktion hat ein Jahr lang mit Ihrer Fraktion verhandeln müssen, ({1}) um die Punkte durchsetzen zu können, die nach unserem Dafürhalten noch nicht ausreichend berücksichtigt waren. Es wurde dann im August verabschiedet. Das haben Sie richtig gesagt. Aber es hat uns ein Jahr gekostet. Ist Ihnen bekannt, dass alle diese Vorschläge letztendlich auf den G-20-Gipfel im September des vergangenen Jahres hin von Peer Steinbrück und seinen verantwortlichen Mitarbeitern erarbeitet worden sind ({2}) und die Kanzlerin sich dies zu eigen gemacht hat? Sind Sie sich mit mir einig, dass das Dilemma dieser Regierung darin besteht, dass die FDP das alles noch nicht akzeptieren will und Sie als CDU/CSU das alleine nicht umsetzen können? Das ist doch das Dilemma, vor dem wir stehen. ({3}) Das wird auch auf internationaler Ebene offenbar, weil diese Regierung nicht handelt. ({4})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hendricks, ich kann Ihnen nur sagen: Das Schlimme an der ganzen Sache ist, dass Sie sich von den richtigen Ansätzen des Herrn Steinbrück verabschiedet haben und auf den Kurs der Linken einschwenken. ({0}) Das ist die Situation. Lesen Sie Ihren Antrag. ({1}) In Ihrem Auftrag, Frau Kollegin Hendricks, heißt es zum Beispiel: Reiche lenken ihr Geld am Fiskus vorbei. ({2}) Das ist doch eine unsägliche Pauschalverurteilung. Sie können doch leistungsbereite Menschen nicht verurteilen, so wie die Linken das tun. ({3}) Das Problem ist doch, Frau Kollegin Hendricks, dass Sie letzten Endes mit uns die Herausforderung einer guten, konsequenten und erfolgreichen Krisenbewältigung, vor der wir standen, gemeistert haben. Darauf können Sie - auch Sie als Staatssekretärin - mit Recht stolz sein. Aber es geht doch nicht an, dass Sie sich in einem Antrag davon lückenlos verabschieden. ({4}) Das ist das Problem, das Sie haben. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. ({5}) Sie fordern eine 50-prozentige Besteuerung auf Boni bei den Bankern. In Großbritannien, wo das eingeführt wurde, wird das natürlich von den Banken übernommen. Das heißt, für die handelnden Personen ergibt sich überhaupt keine Veränderung. Solche Placebos bringen uns doch nicht weiter. Wenn die 50-prozentige Besteuerung auf Boni - das ist Ihr Ziel - von den Banken übernommen wird, dann ist das letzten Endes ein Nullsummenspiel. Das schafft keine Veränderungen. ({6}) Natürlich dürfen Sie nicht grundsätzlich gegen Anreizsysteme sein. Ihr Antrag erweckt aber den Eindruck, dass Sie grundsätzlich gegen Gewinne von Banken sind. Das ist ein Anschlag auf die Ordnungspolitik der sozialen Marktwirtschaft. Das ist die Situation. ({7}) Das passt mehr oder weniger zu dem Weg, den Herr Steinbrück damals gegen die Schweiz gefahren ist: Er wollte die Kavallerie dort hinschicken. Das ist genauso Unsinn gewesen, wie dies Unsinn ist. ({8}) Auch die Begrenzung der Absetzbarkeit von Gehältern ist Willkür. Was sind denn gute Einnahmen, und was sind schlechte Einnahmen des Staates? Wenn wir im Steuerrecht so verfahren, entsteht im deutschen Steuerrecht noch mehr Wald, als es ohnehin schon der Fall ist. Deswegen appelliere ich: Neben der Regulierung sie ist wichtig; sie ist ein wesentlicher Teil der Problemlösung ({9}) geht es auch um die Wirtschaftsethik, die wir hier anmahnen müssen. Ohne Eigenverantwortung ist das freiheitliche System der sozialen Marktwirtschaft nicht vorstellbar. Wir müssen auch daran denken, dass es auch eine Verantwortung für unsere Eliten gibt. Auch diese Eliten müssen sich den Regeln der sozialen Marktwirtschaft unterordnen. Das ist das, was wir im Bereich der Wirtschaftsethik anmahnen müssen. ({10}) Zu dem Thema, das hier immer wieder besonders reizt, zur Einführung einer neuen Steuer, zum Beispiel einer Finanztransaktionsteuer, muss ich Ihnen deutlich sagen: ({11}) Auch Herr Tobin hat letzten Endes nur grenzüberschreitende Maßnahmen besteuern wollen. Wohlgemerkt, der Anhänger einer Besteuerung von Finanzdienstleistungen hat immer gesagt: Meine Steuer, mein System funktioniert nur grenzüberschreitend. ({12}) Das heißt, das, was Sie auf nationaler Ebene fordern, kann gar nicht funktionieren. Deswegen stehe ich dieser nationalen Besteuerung sehr kritisch gegenüber. Finanzmarktakteure hätten es leicht, ihre Geschäfte in andere Länder zu verlagern. ({13}) Nationale Alleingänge und neue Wettbewerbsverzerrungen sind doch das Falscheste, was wir uns wünschen können. ({14}) Schlechte und gute Kapitalbewegungen müssten durch bürokratische Regulierungen unterschieden werden. ({15}) Deswegen dürfen wir immer wieder bemerken: Das Ganze muss auf Wirksamkeit überprüft werden. Die Auswirkungen auf die Realwirtschaft müssen überprüft werden; denn zum Schluss dürfen nicht die Falschen die Zeche zahlen. In Europa haben sich einige wenige Länder dazu bekannt. Die USA und Kanada dagegen haben derartige Pläne bisher abgelehnt. Es wird sehr spannend sein, zu beobachten, was geschieht, wenn der Bundesfinanzminister im April mit seinen Fachleuten zusammenkommt und er auf dem G-20-Gipfel einen Lösungsvorschlag einbringt, ({16}) und zu sehen, welche Konsequenzen gezogen werden können. Wichtig ist, dass wir die Attraktivität der Aktie und die steigende Volatilität an den Märkten ernst nehmen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, der Kollege Poß würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Michelbach, wie stehen Sie denn zu den Vorschlägen Ihres CSU-Vorsitzenden, des Ministerpräsidenten Seehofer, der sich in den letzten Monaten mehrfach öffentlich dahin gehend eingelassen hat, dass er sowohl den SPD-Vorschlag zur Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Gehältern und Abfindungen begrüßt - allerdings ist dieser Aussage keine Initiative im Bundesrat gefolgt - als auch die Finanztransaktionsteuer für ein sinnvolles Instrument hält? Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie wirtschaftspolitischer Sprecher der CSU. Wie stehen Sie zu den Vorschlägen Ihres CSU-Vorsitzenden?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Poß, die CSU hat eine hohe Wirtschaftskompetenz, ({0}) und deswegen haben wir natürlich auch hier eine einheitliche Meinung. Ich kann Ihnen sagen, dass unser Parteivorsitzender im Parteivorstand klargemacht hat, dass er sich diese Maßnahmen international vorstellen kann ({1}) und den Finanzplatz Deutschland durch einen nationalen Alleingang nicht schädigen oder gefährden möchte. ({2}) Deswegen sage ich ganz klar: Internationale Maßnahmen sind hier angedacht und nicht nationale Alleingänge, wie Sie das in Ihrem Antrag leider fordern. ({3}) Eines ist sicher: Die Einführung einer Finanztransaktionsteuer kann nur bei weltweiter Erhebung effektiv sein. Davon bin ich überzeugt. Gerade angesichts globaler Finanzmärkte würden die Marktteilnehmer ansonsten auf Finanzplätze ohne Finanztransaktionsteuer ausweichen. Damit würde im Ergebnis eine Schwächung unseres inländischen Finanzmarktes einhergehen. ({4}) Abschließend möchte ich Ihnen anbieten, dass wir konkrete Ziele gemeinsam vorantreiben, um Exzesse in der Zukunft zu vermeiden. Ich warne noch einmal vor nationalen Alleingängen. ({5}) Seien Sie bitte bereit, davon Abstand zu nehmen. Nationale Lösungen greifen zu kurz. Vielmehr müssen sie, um erfolgreich zu sein, international abgestimmt werden. Deutsche Alleingänge bringen nichts und wird es mit dieser Bundesregierung in dieser Form nicht geben. Es geht nicht um die Frage des passenden Etiketts, sondern darum, wie wir unsere Ziele gemeinsam erreichen können. Wir müssen Maß und Mittel wahren; ansonsten gerät die Kreditversorgung unserer Realwirtschaft in Gefahr. Das Wesentliche ist, dass wir bei Basel III und letzten Endes bei allen Vorsorgemaßnahmen die Schraube nicht überdrehen. Denn auch bei den Banken gilt der kaufmännische Grundsatz: Eigenkapital kann man nur einmal ausgeben. Die Banken sollen insbesondere Eigenkapital schaffen, um ihrem Ziel für die Realwirtschaft nachkommen zu können, eine klare, volkswirtschaftliche und gute Kreditversorgung für die Zukunft zu schaffen, damit Arbeitsplätze in unserem Land sicher bleiben. Herzlichen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat für die SPD-Fraktion das Wort der Kollege Dr. Carsten Sieling. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befinden uns mitten in der größten Finanzund Wirtschaftskrise. Wir diskutieren am heutigen Freitagmorgen über das zentrale Problem dieser Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir haben in Deutschland, so sagt man zumindest, eine neue Regierung, die sich viel vorgenommen hat. ({0}) - Ja, Herr Dautzenberg, wenn ich das einmal gehört hätte. Wir haben hier eine Debatte geführt, in der sich die Koalitionsvertreter als Parlamentsvertreter von ihrer eigenen Regierung distanziert haben. ({1}) Sie haben philosophiert und allgemeine Grundprinzipien dargelegt, ({2}) aber keinen konkreten Vorschlag gemacht, wo es hingeht. So eine Regierung brauchen wir in dieser Zeit nicht. ({3}) Ich darf vielleicht einmal darauf hinweisen, dass es hier um eine wichtige Frage geht. Herr Schäffler und Herr Dautzenberg, wir sind uns doch einig, dass dies eine zentrale Frage ist. Erklären Sie mir bitte, wie sich die Bundesregierung bei der Debatte über diese Frage so präsentieren kann, wie sie sich hier präsentiert. Sie zeigt kaum Präsenz; hier ist niemand. ({4}) Das geht so nicht. Ich befürchte, Herr Schäffler, die Vertreter der Bundesregierung sind nicht zur Debatte gekommen, weil sie sich nicht anhören wollen, wie Sie hier sagen, Sie seien Parlamentsvertreter, und das, was die Regierung macht, sei nicht Ihr Thema. Was ist das für eine Koalition, was ist das für ein vielstimmiger Chor, von dem Deutschland regiert werden will? ({5}) - Bitte.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Dautzenberg, bitte.

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sieling, teilen Sie meine Auffassung, dass wir eine Parlamentsdebatte haben, dass wir uns aufgrund Ihrer Anträge verständigt haben, diese Debatte hier im Parlament zu führen? Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie, dass die CDU/CSU-Fraktion viele Vorschläge gemacht hat. ({0}) Ich betone nochmals: Wenn Sie das nur an den Anträgen festmachen, die Sie hier vorlegen, ist das zu eng. ({1}) - Herr Kollege Poß, das, was Sie hier fordern, muss aber Teil eines stimmigen Gesamtkonzepts sein. ({2}) Das halten Sie der Regierung doch immer vor. Deshalb lassen wir uns von Ihnen nicht vorhalten, was wir zu diskutieren haben. ({3}) Vieles von dem, was die Prüfaufträge angeht, ist - das ist betont worden - auf Herrn Steinbrück zurückzuführen. Herr Kollege Sieling, wäre diese Regierung und wären wir als Fraktionen nicht gut beraten, ({4}) im Hinblick auf die Finanztransaktionsteuer einen Prüfauftrag an den IWF zu geben mit der Bitte, die weltweiten Auswirkungen dieser Maßnahme zu untersuchen und Vorschläge zu unterbreiten? ({5}) - Auch wenn Sie das schon alles wissen, Herr Kollege Poß, auch wenn Sie schon wissen, wie sich eine solche Steuer auswirkt, ist es doch sinnvoll, zuerst abzuwarten, bis das Ergebnis vorliegt, ehe man die Bewertung überLeo Dautzenberg nimmt, dass eine solche Steuer ein Instrument, eine Option für ein mögliches Vorgehen darstellt. ({6}) Sie hätten zuhören sollen, was wir als Fraktion - damit bin ich wieder im parlamentarischen Bereich - vorgeschlagen haben, nämlich ein Gesamtpaket: Finanzinstitute, Insolvenzrecht für Finanzinstitute und dessen Absicherung, Verbesserungen in der Aufsicht, das alles sind Punkte, wo wir national etwas umsetzen wollen und wo Vorarbeiten gemacht worden sind. Zu Regelungen für die Begrenzung von Vergütungen liegt ein Referentenentwurf vor, den Sie schon zur Kenntnis genommen haben müssten. Alles das, was wir national beeinflussen können, ist also schon auf den Weg gebracht. ({7}) Was international gemacht wird, Herr Kollege Sieling, muss von dem Ergebnis bestimmter Prüfaufträge abhängig gemacht werden. Wenn Sie ohne die Grundlage von Analysen Entscheidungen treffen wollen, werden Sie damit fehlgehen. ({8})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, das war ein bisschen der Versuch, Ihre Rede zu wiederholen und diese Punkte anzubringen. ({0}) - Sie haben mehrere Fragen gestellt. Ich will sie gerne nacheinander aufrufen. ({1}) Die erste, wichtige Frage betrifft Ihren Hinweis, dass dies eine Parlamentsdebatte sei. Ich habe bisher nicht gewusst, dass es üblich ist, dass in einer Parlamentsdebatte die Bundesregierung nicht dabei sein muss. ({2}) - Natürlich ist die Bundesregierung vertreten - gar keine Frage -; aber normalerweise erwartet man bei wichtigen Fragen die entsprechenden Repräsentantinnen und Repräsentanten und eine Vertretung in größerer Breite. Das ist doch ein relevanter Punkt, Herr Dautzenberg. Deshalb würden wir uns wünschen, dass die Ministerinnen und Minister, die Kabinettsmitglieder der Debatte beiwohnen. Das ist jedenfalls meine Auffassung. ({3}) Ich will ganz klar sagen, dass wir Sozialdemokraten natürlich der Auffassung sind, dass wir ein breites Bündel an Maßnahmen brauchen. ({4}) - Da meine ganze Rede eine Antwort auf Sie ist, dürfen Sie sich gerne setzen, Herr Dautzenberg. ({5}) Aber ich kann das nicht entscheiden. Ich will auch sehr deutlich sagen, dass Bundesfinanzminister Peer Steinbrück derjenige war, der im letzten Jahr die Vorschläge für entsprechende Maßnahmen gemacht hat. ({6}) Das ist die Grundlage, auf der wir jetzt aufbauen können. Sie werden bei den Sozialdemokraten in diesem Hause keinen finden, der zu dem, was Peer Steinbrück letztes Jahr angeschoben hat, nicht steht. Das will ich ein für allemal festhalten. ({7}) Der zweite Vorwurf, der ausgeräumt werden muss - hier werden immer wieder Missverständnisse aufgebaut -: Natürlich schlagen wir ein Gesamtkonzept vor. Wir wissen - Kollege Poß hat das bereits gesagt -, dass es ein Bündel von Maßnahmen geben muss: Natürlich müssen Bonizahlungen durch eine strengere Besteuerung angegangen werden. Und natürlich müssen wir im Zusammenhang mit Basel III die Eigenkapitalproblematik hart angehen. Da sind wir uns einig. ({8}) Das gehört dazu. Es gehört auch dazu, die Finanzaufsicht mit mehr Schlagkraft zu versehen. Das ist gar keine Frage; da sind wir nah beieinander. Das allein reicht aber nicht. Sie müssen auch den Mut haben, zum Beispiel das Thema Steueroasen ({9}) und viele andere Dinge anzugehen. Es reicht überhaupt nicht aus, hier Präsident Obama für sein mutiges Vorgehen zu loben und dann seine Vorschläge Strich für Strich und Punkt für Punkt zu zerreden. ({10}) Das geht nicht; das offenbart Ihre fehlende Ernsthaftigkeit an dieser Stelle. Sie beziehen sich nur auf zwei Vorschläge: zur Finanzaufsicht und zum Eigenkapital. So wird man diese Finanzkrise nicht in den Griff kriegen; das wird nicht ausreichen, um die Probleme zu lösen. Deshalb schlagen wir heute in unserem Antrag eine ganze Reihe von Maßnahmen vor, legen den Fokus dabei aber auf die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Ich will an dieser Stelle sagen: Was ich hier gehört habe, sind verzweifelte Versuche, von Aussagen wegzurudern, die aus der eigenen Koalition stammen. ({11}) Das ist nichts anderes als der verzweifelte Versuch, an dieser Stelle abzulenken. Viele Kolleginnen und Kollegen im Hause haben gestern erlebt, wie der Präsident des Deutschen Sparkassenund Giroverbandes, Herr Haasis, die verschiedenen Punkte aus seiner Sicht diskutiert hat. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der internationalen Finanztransaktionsteuer natürlich nicht um ein unkompliziertes Instrument handelt - wer will das behaupten! -, dies aber der Weg ist, der beschritten werden müsse. ({12}) Wir fordern Sie dazu auf: Hören Sie auf die Stimmen aus der Finanzwirtschaft! Folgen Sie den Vorschlägen, die breite Unterstützung finden! ({13}) Herr Dautzenberg, ich sage noch einmal: Sie retten sich nicht damit, dass Sie immer wieder dieselben zwei Vorschläge machen und den Kernpunkten ausweichen. Sie können das hier nicht wegfilibustern. Man muss sich vor Augen führen - das ist in diesem Zusammenhang noch nicht ausreichend geschehen -, worum es dabei geht: Erstens. Die Finanztransaktionsteuer ist ein Instrument, das nicht nachsorgend reagiert, sondern die Bedingungen dafür schaffen würde, dass bestimmte Spekulationsentwicklungen nicht wieder erfolgen könnten. ({14}) Sie ist eine Steuer, die dem Wort „Steuer“ wirklich gerecht wird: Sie ist zum Steuern da; sie greift in die wirtschaftlichen Abläufe ein und nimmt schädlichen Spekulationen den Schwung. Das führt dazu, dass wir einen volkswirtschaftlichen Nutzen auch im Bereich der Finanzindustrie erzielen. Darum ist der Vorschlag richtig, darum wird er weitreichend unterstützt. ({15}) Sie können rufen und schreien, wie Sie wollen: Wir müssen ein Problem lösen. Heute läuft dasselbe Wertpapier 100-mal um den Globus, ohne einen Deut zur Wertschöpfung beizutragen. ({16}) Wer kann denn sagen, dass das sinnvoll ist? Lassen Sie uns zusammen vorangehen und uns sagen: Deutschland schließt sich als große Industrienation dem Vorschlag an; wir wollen das einschränken. ({17}) - Das können Sie vielleicht auch über Regulierung erreichen; aber diese Krise ist so komplex, dass man ein Bündel, einen Komplex von Maßnahmen braucht. Deshalb dürfen Sie den einzelnen Punkten nicht ausweichen. Zweitens. Die Finanztransaktionsteuer - das ist mehrfach diskutiert worden - greift erheblich weiter als die bisher diskutierten Instrumente wie die Tobin-Tax und die Börsenumsatzsteuer. ({18}) Sie umfasst alle Finanztransaktionen. Deshalb ist sie das richtige Mittel, insgesamt Wirkung zu entfalten und keine Schlupflöcher offenzulassen. ({19}) Drittens: die Höhe der Steuer. Es wird über einen Steuersatz zwischen 0,01 und 0,05 Prozent diskutiert. Das heißt, bei einer Transaktion in Höhe von 100 000 Euro - ich nenne eine Summe, die man mit normalem Menschenverstand überschauen kann - geht es um eine steuerliche Belastung von 50 Euro. ({20}) So viel kostet eine Taxifahrt aus dem Obertaunus bis nach Frankfurt; diese Belastung wird man bei schädlichen Investitionen hinnehmen können. ({21}) Auch deshalb ist die Steuer vertretbar und richtig. Es gibt das Argument - das muss ich noch einmal aufgreifen -, dass insbesondere die Kleinanleger betroffen sein werden. ({22}) Herr Schäffler, Sie haben sich hier noch einmal auf die Aussagen von Herrn Pofalla und - ich glaube - Herrn Staatsminister Fahrenschon bezogen. Ich würde wirklich gerne einmal wissen, was genau dahintersteckt. ({23}) Erstens. Bei 80 Prozent aller Riester-Verträge sind die Gelder überhaupt nicht fondsbezogen angelegt. Dafür spielt das also überhaupt keine Rolle. Zweitens. Sie haben das Beispiel genannt, dass die relevante Summe bei einem Riester-Sparer ein Betrag von circa 30 000 Euro sei. Aufgrund Ihrer Tätigkeit - Sie haben wahrscheinlich schon viele Verträge persönlich vermittelt; hoffentlich nicht im gefährlich-spekulativen Bereich - werden Sie wissen, dass der Sparer bei den in Ihrem Beispiel gewählten 30 000 Euro im Monat einen Sparbeitrag in Höhe von 87 Euro hat. Bei unserer niedrig angesetzten Finanztransaktionsteuer wäre das innerhalb von 20 Jahren eine Belastung von 10 bis 20 Euro. ({24}) - Natürlich. Wenn Sie den Dreisatz beherrschen, dann werden Sie das sehen. ({25}) Sie reden hier von 4 700 Euro. Wissen Sie, wann Sie die Zahl erreichen? In 9 000 Jahren! Sie machen hier eine Milchmädchenrechnung. Fragen Sie in der Branche nach! Keiner wird Ihnen diese Rechnung bestätigen. ({26}) Ich sage Ihnen hier: Sie verschrecken die Leute und machen ihnen Angst, ({27}) und das nur, damit dieses richtige Instrument, die Finanztransaktionsteuer, verhindert wird. Das können wir nicht akzeptieren. ({28}) Ich will an dieser Stelle sagen, dass in der Tat ein weiteres sozusagen nichtfachliches Element nötig ist, wenn man eine Steuer neu einführen will. Das Argument spielt bei vielen Menschen eine große Rolle. Natürlich muss man weitere Steuerbelastungen und neue Steuern gut begründen. Es geht darum, dass man für einen solchen Vorschlag nicht nur gute Argumente, sondern auch Unterstützung braucht. Ich will an dieser Stelle einmal sagen, dass ich hier auch deshalb argumentiere und wir als SPD-Fraktion auch deshalb einen Antrag in dieser Richtung vorgelegt haben, weil es in Deutschland eine Petition mit 60 000 Unterschriften gibt, in der das gefordert wird, ({29}) und es sind noch viel mehr Menschen, die das fordern. Das ist keine isolierte Sache, sondern das wird gesellschaftlich breit getragen. Das geht weit in die Gesellschaft hinein - auch in Ihr Spektrum, also auch in den Bereich der CDU und der CSU. Ob jemand von der FDP dabei ist, weiß ich nicht. Sie wissen auch, dass weite Teile der Wissenschaft das mittragen. Amerikanische Ökonomen, Nobelpreisträger: Alle stehen dahinter. Der Bundespräsident ({30}) - Horst Köhler, CDU - hat uns aufgefordert, eine internationale Finanztransaktionsteuer einzuführen. ({31}) Darum frage ich mich, warum Sie hier so lange reden und darum herumgehen. ({32}) Wir schlagen hier einen Dreistufenplan vor. ({33}) - Ich glaube, wenn wir die Politik in Deutschland so anlegen, dass wir ständig nur Prüfungen durchführen und auf das Ergebnis dieser Prüfungen warten, ({34}) dann kommt die nächste Finanzkrise schneller, als wir gucken können. Herr Kollege Dautzenberg, wir haben gar keine Zeit mehr, zu prüfen. Wir müssen handeln. ({35}) Es muss ein Konzept auf dem Tisch liegen, damit die G 20 dieses umsetzen kann. Das ist der Kern unseres Antrags. Deshalb will ich das einmal herunterdeklinieren: Die internationale Finanztransaktionsteuer: Relativ wenige hier - Herr Schäffler tut das immer, aber für andere gilt das weniger - haben dagegen geredet. Diese Maßnahme auf internationaler Ebene wird breit gestützt. Herr Michelbach hat sich als Einziger aus der Koalition positiver dazu geäußert, weil er wahrscheinlich auch das Interview mit Herrn Dobrindt, Ihrem Generalsekretär, gelesen hat, der sehr, sehr deutlich gesagt hat, dass wir eine internationale Finanztransaktionsteuer brauchen. ({36}) Schließen Sie sich diesem Punkt in unserem Antrag deshalb doch bitte an.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ich darf Sie auf die Redezeit hinweisen.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Ende. ({0}) Wenn man auf der internationalen Ebene nicht zu einer Einigung kommt, dann - das sagte Bundesfinanzminister Schäuble in einem weiteren Interview in den letzten Tagen - einigen wir uns eben auf europäischer Ebene. ({1}) Das ist der zweite Punkt, den wir Ihnen vorschlagen. Warum schließen Sie sich auch dem nicht an, ({2}) damit wir in Deutschland einmal wissen, wo es hingeht? ({3}) Wenn die einzige Kontroverse darüber besteht, dass wir Sozialdemokraten meinen, dass man im Notfall auch national handeln muss, dann bitte ich Sie und fordere Sie auf, Herr Dautzenberg - ich bin gespannt, ob Herr Schäffler auch dabei ist -: Lassen Sie uns aus dem Vorschlag einen Gruppenantrag machen. Lassen Sie uns in diesem Parlament etwas Gemeinsames auf den Weg bringen, damit wir die Finanztransaktionsteuer hinbekommen, ({4}) statt die ganze Zeit nur drumherum zu reden und zu philosophieren. Nur Argumente dafür zu suchen, dass Sie nicht handeln wollen, sondern immer nur prüfen, ist keine Politik. Die Finanzkrise braucht mehr. Auch Deutschland braucht mehr. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Björn Sänger das Wort. ({0})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Poß, Sie haben von einer Parallelwelt gesprochen, in der der eine oder andere aus der Finanzbranche lebt. Darauf, dass es im Internet eine Gruppe gibt, die in ihrer eigenen Welt lebt, habe ich an dieser Stelle schon einmal hingewiesen. Ich gebe Ihnen sogar recht darin, dass der eine oder andere in einer Parallelwelt lebt. Ich habe aber den Eindruck, dass auch die SPD zumindest seit der Bundestagswahl in einer Parallelwelt lebt. ({0}) Ich weiß nicht, was Sie zu sich nehmen, um Ihre Wahlergebnisse zu verarbeiten, aber Sie sollten besser damit aufhören. Denn es scheint Ihr Erinnerungsvermögen insbesondere bezogen auf die letzten elf Jahre erheblich zu beeinträchtigen. ({1}) Ich möchte Ihnen deshalb ein bisschen auf die Sprünge helfen. Sie schreiben sehr zu Recht, dass eine Fehlregulierung des Finanzmarktes gepaart mit Gier krisenursächlich ist. ({2}) - Ich bin seit 19 Jahren in der Freien Demokratischen Partei, und ich muss ehrlich sagen, dass ich sehr stolz darauf bin. ({3}) Dass der Markt falsch reguliert worden ist, ist richtig. Aber wer hat denn den Markt falsch reguliert? Das waren doch Sie. ({4}) In Person war es der Kollege Eichel als Bundesfinanzminister, der, im Übrigen mithilfe der tatkräftigen Unterstützung von Lobbyisten, die die Gesetzentwürfe geschrieben haben, ({5}) die Märkte nicht richtig reguliert hat. ({6}) Zum Thema Gier möchte ich noch anmerken, dass es derselbe Hans Eichel ist, der als Ministerpräsident und ehemaliger Bundesminister derzeit eine Rente von 7 151,05 Euro pro Monat bezieht und noch einen zusätzlichen Rentenanspruch von 5 900 Euro aus seiner Zeit als Oberbürgermeister der Stadt Kassel einklagen möchte. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn es der Wahrheitsfindung dient.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass es in diesem Hause Mindestanforderungen an das Niveau gibt? Das gilt übrigens auch für Ihren Kollegen aus Berlin, der gestern gesprochen hat. ({0}) Auch er hat die Mindestanforderungen an das Niveau dieses Hauses nicht eingehalten. Wollen Sie bitte auch zur Kenntnis nehmen, dass es Ihnen höchstwahrscheinlich auch mit Unterstützung erfahrener Kollegen aus Ihrer Fraktion nicht gelingt, nachzuweisen, dass die FDP in den vergangenen elf Jahren irgendwann einen Antrag zur schärferen Regulierung der Finanzmärkte eingebracht hat? ({1})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Hendricks, herzlichen Dank für die Fragen. Wenn ich die Debatten verfolge, brauche ich mir, glaube ich, von der linken Seite des Parlaments nichts über das Niveau erzählen zu lassen. ({0}) Wir sind bei der Frage, wie wir die Krise in den Griff bekommen wollen. Wir alle haben das Ziel, Vorsorge zu treffen, dass sich ein derartiges Desaster nicht wiederholt. Sie aber servieren uns jetzt, 14 Tage vor Karneval, eine ziemlich angegammelte Kamelle, nämlich die Finanztransaktionsteuer. Das ist ein gänzlich untaugliches Mittel zur Bewältigung dieser Krise. Denn die Krise ist nicht durch Spekulationen vorangetrieben worden, sondern durch Wertpapiere, die nicht nachhaltig waren, und von Ratingagenturen, die Fehler gemacht haben. ({1}) Das muss zwar angegangen werden, aber das erreicht man nicht mit einer Finanztransaktionsteuer. Mit der Finanztransaktionsteuer treffen Sie auch die Kleinsparer, Herr Kollege Schick. Das ist wieder typisch: Es wird über Menschen geredet, die in der Lage sind, 30 000 oder 100 000 Euro anzulegen. Die stört das nicht. Darin gebe ich Ihnen völlig recht. ({2}) Aber die Mitte der Gesellschaft, die Leistungsträger, die Riester-Verträge abschließen, werden über Gebühr belastet.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Raabe?

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Das bringt nichts. ({0}) Folglich müssen wir darüber nachdenken, welches Instrument besser als eine Finanztransaktionsteuer in der Lage ist, steuernd einzugreifen. Ich greife das auf, was der Kollege Schäffler richtigerweise gesagt hat. Ein Versicherungssystem ist deutlich besser; ({1}) denn dann sind die Einlagen der Sparerinnen und Sparer abgesichert und ist das System stabilisiert. Notwendig ist zudem, ein Insolvenzrecht für Banken einzuführen, damit ein Institut aus dem Markt geordnet ausscheiden kann. Wir haben im Koalitionsvertrag den Aufbau einer wirksamen Aufsicht vereinbart. Obwohl die christlich-liberale Regierung noch nicht einmal 100 Tage im Amt ist und Sie elf Jahre alle Gelegenheiten haben verstreichen lassen, entsprechende Regelungen zu treffen, sollen wir schon gehandelt haben. Ich denke, hier muss man ein bisschen auf die Relationen achten. Ein weiteres Thema ist - das greifen Sie richtigerweise auf - die Bekämpfung von Steueroasen. Auch hierzu werden wir Vorschläge machen. Durch ein einfaches und gerechtes Steuersystem mit niedrigen Sätzen wird es überhaupt nicht mehr attraktiv sein, Geld am deutschen Fiskus vorbei in irgendwelche Steueroasen zu verschieben. ({2}) Lassen Sie mich nun zu den Bankerboni kommen. Der eine oder andere in der Branche hat den Schuss nicht gehört. ({3}) Dabei sind Boni, also Leistungsanreize in der Vergütung auf breiter Ebene, nicht das schlechteste Instrument, wenn man Leistung fördern will. ({4}) Aber das muss mit einer entsprechenden Verantwortung hinterlegt sein. Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille; sie gehören zusammen. Es wird gesagt, es helfe nichts, wenn ein Bankmanager mit seiner Villa im Tessin genauso wie der Bäckermeister oder der Elektromeister vor Ort mit ihren Häuschen haften müssen. Aber die Aussicht, dass das Häuschen oder - beim Bankmanager - die Villa im Tessin weg sein könnte, wird den einen oder anderen sicherlich dazu bewegen, Entscheidungen, bevor er sie trifft, gründlicher zu überdenken und das eine oder andere Papier etwas genauer zu lesen. Hier muss ein Zusammenhang zwischen Boni auf der einen Seite und Verantwortung und Haftung auf der anderen Seite geschaffen werden. Das werden wir leisten müssen; denn nur so können wir die dienende Funktion der Finanzdienstleistungsbranche aufrechterhalten. ({5}) Der Bundesbankpräsident Weber hat vollkommen recht: Es ist außerordentlich ratsam für die Finanzbranche, die Gewinne, die momentan wieder erzielt werden, in das Eigenkapital anstatt in Boni zu stecken; denn die Eigenkapitalanforderungen werden sicherlich nicht geringer werden. In eine Kreditklemme wollen wir nicht hineinlaufen. Es gibt schon entsprechende Hinweise aus dem Markt, aus der Realwirtschaft. Die Bosch GmbH beendet - ich unterstütze das ausdrücklich - Geschäftsbeziehungen mit Banken, die Boni zahlen. Das ist ein sehr gutes marktwirtschaftliches Instrument, um zu einer Verhaltensänderung zu kommen. ({6}) Ich komme zum Schluss. Die Linken in Nordrhein-Westfalen verkaufen T-Shirts, auf denen steht: Wir wollen linke Spinner sein. - Vorher hatte ich noch Hoffnung, aber nach der heutigen Diskussion kann ich nur empfehlen: Kaufen Sie sich diese T-Shirts und ziehen Sie sie an! Mit Ihren Anträgen haben Sie das eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Herzlichen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort zu einer Kurzintervention der Kollege Dr. Raabe.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich will zwei Feststellungen treffen. Die erste ist: Sie haben gesagt, dass die Idee einer Finanztransaktionsteuer eine olle Karnevalskamelle sei. Da die Bundeskanzlerin diese Idee aber unterstützt, frage ich mich, ob sie in Ihren Augen eine Fastnachtsnärrin ist. Es ist erstaunlich, dass die Bundeskanzlerin immer bekundet, für die Einführung einer solchen Steuer zu sein, dies aber von Ihrer Seite dermaßen ins Lächerliche gezogen wird. Das liegt auf der Linie Ihres Entwicklungsministers Niebel, der im Entwicklungsausschuss wörtlich gesagt hat: Was interessiert mich, was die Kanzlerin sagt? Ich habe eine andere Meinung. Ich komme zu meiner zweiten Feststellung. Mein Kollege Sieling hat zu Recht auf die Petition verwiesen, in der 60 000 Menschen die Einführung einer Finanztransaktionsteuer fordern. Sie fordern sie deshalb, weil sie sagen: Wir brauchen Geld für die Entwicklungszusammenarbeit, um die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise gerade für die ärmsten Menschen abmildern zu können. Deswegen ist das selbstverständlich ein ganz wichtiger Schritt, der auch dazu dient, die vereinbarten Stufensteigerungen des sogenannten ODA-Plans realisieren zu können, also den Anteil der Mittel für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit am Bruttonationaleinkommen, der eigentlich in diesem Jahr 0,51 Prozent betragen müsste, bis zum Jahr 2015 auf 0,7 Prozent zu steigern, wozu wir uns verpflichtet haben. Ich frage mich, wie Sie das erreichen wollen, wenn Sie eine solche Finanztransaktionsteuer ablehnen. Sie brechen ja bereits mit diesem Haushalt Ihr Versprechen, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit zu steigern. Es ist doch völlig unglaubwürdig, ohne eine solche Steuer eine Quote von 0,7 Prozent im Jahr 2015 erreichen zu wollen. Das spricht für die fehlende Glaubwürdigkeit dieser Regierung und dafür, dass Sie auf dem Rücken der ärmsten Menschen dieser Erde eine Politik zugunsten der Multimillionäre betreiben. Das wird mit uns nicht zu machen sein. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Sänger, bitte.

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich fange mit der Petition an. Mittlerweile mehr als 65 000 Petenten nehmen wir natürlich sehr ernst. Uns geht es ja auch darum, die Branche entsprechend an der Bewältigung der Krise zu beteiligen. ({0}) Was Sie wollen, ist das, was der Erfinder dieser Steuer, James Tobin, selbst als einen Fehler erkannt hat, nämlich zusätzliche Einnahmen generieren. Sie möchten hierbei nicht steuernd eingreifen, denn dann müssten Sie über andere Maßnahmen nachdenken. ({1}) Das wollen wir an dieser Stelle nicht, sondern wir wollen, dass die Branche an den Kosten dieser Krise adäquat beteiligt wird. Wir sind der Auffassung, dass diese Steuer nicht das richtige Mittel ist. So steht es auch im Koalitionsvertrag - der Kollege Schäffler hat darauf hingewiesen -, und danach handelt die Bundesregierung. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort der Kollege Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe eben einmal zur Tribüne hochgeblickt - da waren noch Ihre Vorgänger -, und da war Kopfschütteln. Ich glaube, das Bild, das wir als Parlament hier heute abgeben, rechtfertigt dieses Kopfschütteln: Wir debattieren hier sicherlich die dringendste, die wichtigste Aufgabe, die wir neben denjenigen hinsichtlich des Klimawandels in dieser Legislaturperiode zu erfüllen haben, und streiten uns darüber, wer wann was gesagt hat, in welchem Papier was stand, darüber, wer welche T-Shirts anziehen soll. ({0}) Ich halte das für nicht angemessen; denn die Menschen sind zu Recht ziemlich sauer, ({1}) und ich habe großes Verständnis dafür. Es ist ein Skandal, dass wir als Staat letztlich mit dem Volumen von zwei Bundeshaushalten in die Haftung für das Bankensystem gehen müssen. Als Mitglied des Gremiums gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes sehe ich das jeden Freitagmorgen. Es ist ganz gut, dass man es jeden Freitagmorgen sieht, Herr Kollege Sieling, um sich das ganze Ausmaß des Skandals noch einmal vor Augen zu führen. ({2}) Es ist auch völlig unverständlich, dass wichtige Teile der internationalen Finanzwirtschaft den Eindruck erwecken, dass es so weitergehen kann wie bisher. Wir sehen es an der Art der Geschäfte und auch an den Vergütungsmodellen. Es ist beschämend - das muss auch einmal gesagt werden -, dass es der gesamten Branche scheinbar an dem Willen oder der Kraft fehlt, aus sich selbst heraus umfassende Reformen zur Eigenregulierung und zur Systemstabilität zu organisieren. ({3}) Die Maßstäbe, die wir an einen Hartz IV-Empfänger anlegen, müssen wir auch an die Bankenwelt anlegen. ({4}) Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass wir alle - vielleicht mit wenigen Ausnahmen - selbst an den Ursachen dieser Krise in irgendeiner Art und Weise beteiligt waren, denn weder die Politik noch die Verwaltung, weder die Wissenschaft noch die Medien haben die Risiken in dieser Form richtig eingeschätzt und entsprechend gehandelt. Wir alle haben als Konsumenten von den guten Zinsen profitiert. Ich frage einmal hier in den Saal hinein, wer 2007 nicht zu seinem Bankberater gegangen ist und gesagt hat: Zwei Prozent mehr, oder ich bin weg. ({5}) Wir alle haben als Kreditnehmer davon profitiert - sei es im privaten Bereich zum Beispiel für Eigenheime oder in der Industrie -, dass wir unsere Investitionen günstig finanzieren konnten. Wir haben als Staat gern die hohen Steuereinnahmen mitgenommen. Allein die Deutsche Bank hat 2007 ein Steueraufkommen von mehr als 3,5 Milliarden Euro gehabt. Es ist also nicht so einfach, wie man vielleicht meint. Abseits jeder Moral, des Bedürfnisses nach Rechenschaft für die Verantwortlichen oder der Strafe für diejenigen, die scheinbar nichts gelernt haben, bleibt doch eine Erkenntnis: Es gibt keine absolute Sicherheit im Finanzsystem. Niemand hat den Masterplan. Unwahrscheinliche Ereignisse, die nicht denkbar waren, treten ein. Weil die Welt so komplex ist, meine Damen und Herren, hege ich tiefes Misstrauen gegenüber denjenigen, die jetzt ganz genau wissen, was zu tun ist, ({6}) gegenüber denjenigen, die jetzt sagen, die Steuer A, die Abgabe B oder die Regulierung C ist es, die das Finanzsystem sicher macht. Meine Damen und Herren, es gibt nicht das Instrument, das absolute Sicherheit verschafft. ({7}) Es gibt auch keine Garantie dafür - auch das gehört mit zur Ehrlichkeit -, dass der Staat das Bankensystem nie mehr mit Steuergeldern stabilisieren muss. ({8}) Das ist ernüchternd. Trotzdem glaube ich aber, dass es uns gelingen kann, ein besseres Finanzsystem zu organisieren, als wir es in der Vergangenheit gehabt haben. Nur darum geht es. Insofern ist es wichtig, ein Maßnahmenpaket zu schnüren; der Kollege Michelbach hat es eben schon gesagt. Dieses Maßnahmenpaket ist auf den Weg gebracht worden, und zwar mit einer gewissen Systematik, Herr Kollege Schick. Es geht darum, eine konsequente Internationalisierung der Problemlösungsstrategien voranzutreiben. Die G 20, nicht allein die nationalen Parlamente, sind der richtige Platz. ({9}) Ich sage aber auch an die Adresse der Bundesregierung, an Herrn Koschyk: Wir haben hohe Erwartungen an den nächsten G-20-Gipfel in Kanada. Dabei muss etwas herauskommen. Es reicht nicht, wenn wir weiter im Unverbindlichen bleiben. ({10}) Es ist auch wichtig, dass wir ein Frühwarnsystem einrichten. Wir sehen eine ganz zentrale Rolle beim Europäischen Ausschuss für Systemrisiken. Dieser muss in enger Zusammenarbeit mit der EZB frühzeitig Probleme identifizieren und Handlungsempfehlungen ausgeben, und zwar möglichst schnell. Wir müssen auch die aktuellen Risikofelder, über die momentan wieder niemand redet, im Auge behalten. Dazu gehören die Inflation, die Überhitzung der Rohstoffmärkte, die spekulativen Geldmengen, die in die Entwicklungs- und Schwellenländer fließen, und auch der Zustand von Volkswirtschaften hier in der EU. Im Auge behalten allein reicht jedoch nicht. Wir müssen aus der Identifikation der Risiken Handlungen erwachsen lassen; denn das sehe ich momentan leider zu wenig. Wir brauchen einen starken Ordnungsrahmen. Dazu gehört die Beseitigung von regulierungsfreien Bereichen des Kapitalmarktes. ({11}) Insofern ist es zu begrüßen, dass die Europäische Kommission das Projekt Gewährleistung sicherer Derivatemärkte auf den Weg gebracht hat. Ich wünsche mir, dass wir darüber mehr sprechen. Es ist gut, dass wir mit der Regulierung von Hedgefonds durch die AIFM-Richtlinie angefangen haben. Es ist auch richtig, dass die EURichtlinie zur Regulierung von Ratingagenturen schnell in deutsches Recht umgesetzt wird. ({12}) Ein Ordnungsrahmen muss aber auch stringent überwacht werden. Dazu ist im August 2009 das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht in Kraft getreten. Es ist darüber hinaus nachhaltig zu begrüßen, dass Ecofin das neue Konzept zur europäischen Finanzaufsicht, über das wir noch zu diskutieren haben, in diesem Jahr auf den Weg gebracht hat. Wir brauchen aber auch - das ist der Kern - ein ganzes Paket von Eigenkapitalmaßnahmen. Dazu gehört nicht nur die Umsetzung der geänderten Banken- und Kapitaladäquanzrichtlinie. Dazu gehören auch die durch die G 20 angestoßenen Aktivitäten des Baseler Ausschusses zur stärkeren Unterlegung von Eigenkapital; denn die Verknüpfung von Eigenkapitel und Risiko ist sicherlich einer der entscheidendsten Faktoren zur Sicherung der Finanzmärkte. ({13}) Wir müssen die Angemessenheit der Vergütungsstrukturen sicherstellen. Hierzu ist im August 2009 das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung in Kraft getreten. Wichtig war auch die Einigung auf Vergütungstandards auf dem G-20-Gipfel in Pittsburgh, durch das BaFin-Rundschreiben vom Dezember 2009 umgesetzt und auch für deutsche Unternehmen verbindlich. Wir müssen uns aber auch vor Augen halten, dass es immer wieder zur Krise kommen kann. Deswegen brauchen wir ein Instrumentarium zum Krisenmanagement. Hier hat die EU-Kommission die Initiative zur Schaffung eines grenzüberschreitenden Krisenmanagements auf dem Bankensektor ergriffen. Das ist gut und richtig. Was aber dringend notwendig ist - das ist eine unserer vordinglichen Aufgaben in dieser Legislaturperiode -, ist die Schaffung eines nicht nur finanzmarktspezifischen Insolvenz-, sondern auch Abwicklungsrechtes; denn es muss möglich sein, dass eine Bank oder ein Finanzdienstleister geordnet abgewickelt oder in eine geordnete Insolvenz überführt wird. ({14}) Weiterhin werden wir auch über grenzüberschreitende Sicherungsfonds diskutieren müssen. Ich möchte dieses Thema aber nicht überschätzen. Die Krise hatte diesmal eine Dimension, die kein Sicherungsfonds hätte auffangen können. Ich fasse zusammen: internationale Lösungen, Frühwarnsystem, starker Ordnungsrahmen, stringente Überwachung dieses Rahmens, ein Bündel von Eigenkapitalmaßnahmen, angemessene Vergütungsstrukturen, effektive Maßnahmen zum Krisenmanagement. All diese Dinge sind jetzt schon auf den Weg gebracht worden. Frau Hendricks, bei allem Lob für den Kollegen Steinbrück, es ist völlig egal, wer für diese Maßnahmen verantwortlich ist; denn es geht um die Lösung. Diese Lösung müssen wir hier gemeinsam entwickeln. Ich glaube, dass die Bundesregierung an all diesen Projekten mit Hochdruck arbeitet. Eine Menge Menschen auf der Welt versuchen, dieses Finanzsystem auf eine bessere Basis zu stellen. Dabei sollten wir mitmachen. Es ist manchmal auch so, dass die Bundesregierung in der Rolle des Kritikers ist. Auch das ist gut. Nicht alles ist richtig, was hier und heute vorgeschlagen worden ist. Offen sind noch die Fragen nach einer Beteiligung an den Kosten der Finanzkrise. Auch hier müssen wir über Ansätze diskutieren, wobei mittlerweile Konsens besteht, dass eine Beteiligung zumindest der großen systemrelevanten Institute und eben nicht der Sparkassen und Volksbanken an den noch entstehenden Kosten erfolgen muss. ({15}) Es geht um die noch entstehenden Kosten. Was wir bisher bezahlt haben, ist angesichts des Risikos sehr wenig. Aus den USA kommen Vorschläge zur Regulierung, zum Eigenhandel und zur Aufspaltung von Banken. Diese Impulse müssen aufgenommen werden. Ich sage aber auch ganz offen: Die USA wären mit ihren Vorschlägen glaubwürdiger, wenn sie Basel II umgesetzt hätten. Insofern muss man alles im Zusammenhang betrachten. ({16}) Sie haben heute Ihren Beitrag als Opposition geleistet. Darüber müssen wir diskutieren. Wir wissen, dass wir mit Ihnen nicht immer einer Meinung sind. Für die CDU kann ich sagen: Mit einer nationalen Transaktionsteuer haben wir mächtige Probleme. Sie wissen, warum. Aber wir müssen eines schaffen, von der einen bis zur anderen Seite dieses Hauses, weil das die Erwartungshaltung der Bevölkerung ist und weil das unsere Aufgabe in diesem Parlament ist: Wir müssen gemeinsam ein Maßnahmenpaket organisieren, das die Finanzmärkte stabilisiert. ({17}) Wir müssen dieses Paket auch im Konsens organisieren; denn die Bundesregierung, auch wenn es jetzt eine CDU/CSU-FDP-Regierung ist, braucht ein starkes Mandat in den internationalen Verhandlungen. Wenn wir dieses Paket nicht gemeinsam organisieren, ({18}) werden wir uns als Parlamentarier sagen lassen müssen, dass wir die wichtigste Frage, die sich in dieser Legislaturperiode stellt, nicht beantwortet haben. ({19}) Es wäre wirklich gut, meine Damen und Herren, wenn wir es schaffen würden, diese Aufgabe gemeinsam zu bewältigen. Ich möchte zum Schluss noch einen Aspekt ergänzen. Ich habe am Anfang meiner Ausführungen Kritik an den Banken geübt. Bei aller Kritik an den Banken: Wir stehen zu unseren Banken in Deutschland, zu den kleinen, die in der Fläche tätig sind, aber auch zu den Großbanken. Die deutsche Exportwirtschaft braucht große Banken, die sie international begleiten. Wir sollten das nicht Banken aus anderen Ländern überlassen. Eines ist aber auch klar: Wir als Politik stoßen mit unseren Aufsichts- und Regulierungsmaßnahmen, mit unseren Systemvorschlägen an Grenzen, wenn sie nicht mit einer neuen Kultur der Verantwortung im Bankenbereich einhergehen. ({20}) Diese, meine Damen und Herren, ist bisher leider viel zu wenig ersichtlich. Vielleicht wäre ein Vorschlag, dass Bankvorstände mit ihrem persönlichen Vermögen für ihr Tun haften, so wie es bei Freiberuflern üblich ist. ({21}) Eines ist wichtig: Die deutsche Kreditwirtschaft ist aufgefordert, mehr zu tun, national, aber auch in internationalen Gremien, um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, um eine Wiederholung der Krise aus dem Herbst 2008 wirklich zu einem sehr unwahrscheinlichen Ereignis werden zu lassen. Die Zeit dafür drängt. Ganz ehrlich: Wir können uns nicht leisten, dass noch einmal das passiert, was damals passiert ist, denn dann sind wir alle weg. ({22})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/526, 17/527 und 17/518 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe: Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vermögensteuer als Millionärsteuer wieder erheben - Drucksache 17/453 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe: Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der Debatte hat der Kollege Harald Koch für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Ich habe es bei meiner Arbeit als stellvertretender Landrat viele Jahre hautnah erlebt: Nicht nur den Kommunen steht das Wasser finanziell immer öfter bis zum Hals; auch viele Menschen können sich, wenn überhaupt, gerade mal das Allernötigste zum Leben leisten, während andere in Luxus schwelgen. 10 Prozent der Bevölkerung besitzen hierzulande 61 Prozent des Vermögens. 70 Prozent der Bevölkerung teilen sich nur 9 Prozent des Vermögens. Konkret spüren das immer mehr Menschen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht drastisch weiter auseinander. Dass Kinder heute von der Schule in HartzIV-Lebensläufe gehen, ist ein Skandal. ({0}) Die ungerechte Einkommens- und Vermögensverteilung in vielen Ländern ist eine zentrale Ursache der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Diejenigen, die über große Vermögen verfügen, geben es ja nicht aus. Die Binnennachfrage wird durch sie kaum gestärkt. Stattdessen fördert die Vermögenskonzentration Spekulationen und eine übertriebene Renditeerwartung. Um die aktuelle Krise zu bewältigen und die in Mitleidenschaft gezogenen öffentlichen Haushalte sowie die Nachfrage zu stärken, fordert die Linke, genau diejenigen an der Deckung der Krisenkosten zu beteiligen, die von der Zockerei auf den Finanzmärkten am meisten profitiert haben und noch profitieren. ({1}) Ein deshalb überfälliger Schritt ist aus Sicht der Linken, die Vermögensteuer als eine Millionärsteuer wieder einzuführen. Zum Vermögen zählen wir in unserem Antrag die Gesamtheit privater Geldvermögen und der Verkehrswerte der privaten Immobilien- und Sachvermögen. Private Kredite werden abgezogen. Nur das oberhalb von 1 Million Euro liegende Nettovermögen einer Person soll mit 5 Prozent versteuert werden. Angesichts dessen, dass 1 Million Euro steuerfrei bleiben soll, kann nun wahrlich niemand behaupten, die Linke wolle Vermögende armmachen. Die Vermögensteuer übt eine Finanzierungs- und Umverteilungsfunktion aus, weil nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert wird, die sich durch Vermögen nun einmal erhöht. Wer die derzeitige Krise und die wachsende Armut bekämpfen will, muss eben Reichtum begrenzen. ({2}) Die Länder und Kommunen pfeifen finanziell auf dem letzten Loch. Das sollten auch die Vertreter der Koalition einmal zur Kenntnis nehmen. In dieser Situation wollen Sie, die Mitglieder der Koalition, die mit der Einführung einer Vermögensteuer verbundenen Möglichkeiten nicht nutzen? Wir, die Linke, gehen davon aus, dass durch die Erhebung einer Vermögensteuer langfristig pro Jahr bis zu 80 Milliarden Euro zusätzliche Steuereinnahmen zur Verfügung stehen. ({3}) Nehmen Sie doch dieses Geld. Das ist besser, als es nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen noch stärker als bisher Normal- und Geringverdienenden, Rentnerinnen und Rentnern sowie sozial Benachteiligten aus der Tasche zu ziehen, was wir alle erwarten. ({4}) - Glauben Sie mir ruhig. Wir brauchen eine deutliche Umverteilung von oben nach unten. Reiche und Superreiche müssen aus guten Gründen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen und an ihre soziale Verantwortung erinnert werden. In Art. 14 Abs. 2 unser aller Grundgesetzes heißt es: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, halten Sie sich doch ganz einfach ans Grundgesetz. Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Koch, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu, verbunden mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit. ({0}) Nun hat das Wort der Kollege Christian von Stetten für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte, nehmen Sie bequem Platz und streichen Sie sich diesen Tag dick in Ihrem Kalender an; denn heute will uns die Linke in einer eigentlich völlig überflüssigen Debatte mit einem dreiseitigen Antrag erklären, wie sie die Haushaltsprobleme aller 16 Bundesländer lösen will. Ich gehe davon aus, dass die Vermögensteuer als Ländersteuer wieder eingeführt werden soll. Die Linke geht von zusätzlichen Steuereinnahmen in Höhe von 80 Milliarden Euro aus - dieses Geld soll zusätzlich von den Ländern kassiert werden -, und das bei einem Steuersatz von 5 Prozent, was fast einer Enteignung gleicht. Sie wollen uns mit Ihrem dreiseitigen Antrag weismachen, dass so alle Haushaltsprobleme gelöst werden können. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die CDU/CSUBundestagsfraktion hält es für selbstverständlich, dass starke Schultern generell mehr als schwache Schultern tragen. ({0}) Diese Auffassung hat sie übrigens nicht nur mit Beginn der Krise vertreten, sondern auch schon vorher. Der sozialpolitischen Verantwortung wird man in Deutschland durch die Progression der Einkommensteuer gerecht. 10 Prozent der großen Vermögen tragen heute rund 54 Prozent der gesamten Einkommensteuerlast. Die oberen 50 Prozent der Einkommen tragen insgesamt über 94 Prozent der kompletten Einkommensteuerlast. Wenn die Linke angesichts dessen von einer sozialpolitischen Schieflage spricht, dann muss man festhalten, dass sie die Realität in Deutschland nicht erkannt hat. ({1}) Sie, meine Damen und Herren von der Linken, wollen die Bundesländer durch die Einführung dieser Steuer verpflichten, zusätzlich 80 Milliarden Euro - wohlgemerkt: jährlich und nicht einmalig - einzuziehen, obwohl die Länder im letzten Jahr insgesamt nur Steuern in Höhe von 16 Milliarden Euro eingezogen haben. Mit dem Antrag, den Sie hier einbringen, würde also eine Verfünffachung des Betrages einhergehen, den die Länder bisher selber an Steuern einziehen. In den 16 Milliarden Euro eingeschlossen sind übrigens schon die umstrittenen Erbschaftsteuern, die Lotteriesteuern und auch die Grunderwerbsteuern. Sie wollen also die Steuern, die die Länder einziehen, auf insgesamt 86 Milliarden Euro erhöhen. Ich frage mich schon, in welchem Land Sie leben. Sie betreiben - das zeigen Sie wieder einmal sehr deutlich - eine Politik des Neides, des Klassenkampfes und jetzt auch noch der Enteignung. ({2}) Sie haben den Bezug zur Realität völlig verloren. ({3}) Schauen wir uns einmal den Inhalt Ihres Antrags an. Vom Vorredner haben wir dazu ja nicht allzu viel gehört. Sie fordern, dass auf das private Geldvermögen, die Verkehrswerte aller privaten Immobilien- und Sachvermögen nach Abzug eines Freibetrages jährlich ein Steuersatz in Höhe von 5 Prozent erhoben wird. Diese Maßnahme ist konjunkturpolitisch völlig falsch und fördert sicherlich nicht private Investitionen, sondern sorgt für das Gegenteil. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995, mit dem die damalige Besteuerung von Vermögens- und Betriebswerten für verfassungswidrig erklärt wurde, ist angesprochen worden. Deshalb wird seit 1997 keine Vermögensteuer mehr erhoben. Damit stehen wir auch nicht allein da. Zahlreiche andere europäische Länder haben zu dieser Zeit auch die Vermögensteuer abgeschafft, und das aus gutem Grund. Die Vermögensteuer ist nämlich eine reine Substanzsteuer. Sie fällt auch an, wenn der Betroffene in einem Jahr überhaupt kein Einkommen hat. Sie fällt sogar an, wenn der Betroffene in einem Jahr die Hälfte seines Vermögens verliert. Selbst dann schnappt die Steuerfalle zu. ({4}) Substanzsteuern sind Gift für unser Land und auch für die Betroffenen. Deshalb haben auch viele unserer Nachbarländer aus gutem Grund keine Vermögensteuer. ({5}) Das, was Sie heute in den Bundestag einbringen, ist nicht nur ideologisch falsch, sondern stellt auch eine volkswirtschaftliche Geisterfahrt dar. Sie würden doch nicht die Vermögenden treffen, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, sondern Sie würden vielfach gerade Mieter treffen. ({6}) - Wir können uns gerne den Antrag näher anschauen und auf den Punkt kommen. Schauen wir uns einmal an, was noch im Antrag steht. Sie wollen die privaten Geldvermögen und die Verkehrswerte der privaten Immobilienvermögen und der privaten Sachvermögen mit 5 Prozent besteuern. Zu Betriebsvermögen und zu land- und forstwirtschaftlichem Besitz habe ich übrigens nichts gelesen. Offenbar lassen Sie beides außen vor. Dass das mit dem Spruch des Verfassungsgerichts zur Erbschaftsteuer vereinbar wäre, kann ich mir nicht vorstellen. Noch vor zwei Monaten haben Sie uns übrigens von dieser Stelle hier angegangen, weil wir bei der Erbschaftsteuer für bestimmte Betriebsvermögen Freibeträge eingeführt haben, hier also auch nicht alles der Steuerpflicht unterworfen haben. Damals haben Sie versucht, uns klarzumachen, dass eine ganzheitliche Besteuerung gesichert sein muss. Jetzt erwähnen Sie in Ihrem Antrag weder Betriebsvermögen noch land- und forstwirtschaftlichen Besitz. Ich glaube, das Bundesverfassungsgericht würde da nicht mitmachen. Die Steuer soll stichtagsbezogen eingeführt werden. Nachdem Sie bestimmte Vermögensformen außen vor lassen und nicht besteuern, können Sie doch nicht im Ernst glauben, dass bei einer Substanzbesteuerung der anderen Vermögen in Höhe von 5 Prozent auch nur ein einziger der Betroffenen nicht reagiert und vor dem Stichtag sein belastetes Vermögen nicht in unbelastetes Vermögen umschichtet. Es ist weltfremd, zu glauben, dass hier nicht reagiert wird. Jetzt kommen wir zu der Frage, wie sich Ihr Vorhaben auf den deutschen Wohnungsmarkt auswirken würde. Ich behaupte, dass Sie mit einer jährlich fälligen Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent den Wohnungsmarkt in Deutschland zerstören würden. ({7}) Nehmen wir als Beispiel einmal einen sehr vermögenden Immobilienbesitzer, der eine Rendite auf den Verkehrswert seines Besitzes von 3 bis 4,5 Prozent erzielt. Zusätzlich zu allen Ertragsteuern muss er jetzt noch 5 Prozent Steuern auf das Vermögen zahlen. Bei einer Rendite von 4 Prozent eine Substanzsteuer von 5 Prozent! Das kann nur ein vorgezogener Faschingsscherz sein, meine Damen und Herren. ({8}) Das ist völlig unglaubwürdig. ({9}) Wenn man es nun ernst nimmt, dass den Immobilienbesitzern durch diese Steuer jährlich gleichsam 5 Prozent ihres Vermögens weggenommen werden sollen, dann ist doch völlig klar, dass diese versuchen werden, ihre Immobilien sobald wie möglich zu verkaufen. Ob er einen Käufer finden wird, ist zweifelhaft. Wer kauft schon ein Renditeobjekt mit 4 Prozent Rendite, wenn er 5 Prozent Steuern zahlen muss? Ob er Einnahmen hat oder nicht, ist dabei völlig egal. Wenn er niemanden findet, der die Immobilie kauft, wird er dafür sorgen, dass die Belastung auf die Mieter abgewälzt wird, ({10}) die dann mit hohen Mieterhöhungen rechnen können. Damit wir wissen, wovon wir reden: Bei einer Refinanzierung der Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent bedeutet das eine glatte Verdoppelung der heutigen Mieten. Das ist nicht die Sozialpolitik, die die CDU/CSUFraktion sich vorstellt. Sie sollten sich schämen, hier solche Anträge einzubringen, ({11}) durch die die Mieter nur belastet würden. Wir wollen, dass auch in Zukunft billiger Wohnraum in Deutschland zur Verfügung gestellt wird. ({12}) Zusätzlich würde es auch ein bürokratisches Monster. Wir können uns vorstellen, was bei einer Bewertung herauskäme. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Kosten für die Erhebung der Vermögensteuer ein Drittel des Aufkommens - das ist ausreichend untersucht worden verschlungen haben. ({13}) Jetzt haben wir ein neues Bewertungsgesetz und klare Regeln des Bundesverfassungsgerichts. Sie glauben doch nicht, dass es damit günstiger wird. Das Gegenteil wird der Fall sein. Bei der Erbschaftsteuer ist es vielleicht gerade noch zumutbar, dass alle 30 Jahre ein umständliches und teures Bewertungsverfahren durchgeführt wird. Bei der Vermögensteuer wollen Sie es aber jährlich stichtagsbezogen, zum 31. Dezember, durchführen. Nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts müssen Sie die Vermögen erst einmal alle erfassen. Dann können Sie entscheiden, welche Bereiche Sie aus der Vermögensteuer herausnehmen oder welche Freibeträge Sie festlegen. Wenn Sie alle privaten Vermögen in Deutschland jährlich erfassen und dann Freibeträge festlegen wollen, wünsche ich Ihnen viel Erfolg. ({14}) Dann kommen Sie weit über die Kosten in Höhe von einem Drittel. Auf jeden Fall wird dieser Vorschlag nicht dazu beitragen, dass weiterhin in Deutschland investiert wird. Im Gegenteil: Es wird eine Flucht ins steuerbefreite Ausland stattfinden. Die Folgen der Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer sind die gleichen, mit fatalen Auswirkungen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die vielen Arbeitnehmer, die in den Familienbetrieben arbeiten. Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({15}) Dieser von den Kommunisten in den Bundestag eingebrachte Antrag ist verfassungswidrig. ({16}) - Da brauchen Sie sich nicht aufzuregen; das Wort „Kommunisten“ darf in diesem Zusammenhang durchaus gebraucht werden. Ich sehe Sahra Wagenknecht, die den Antrag mit unterschrieben hat. Auf ihrer Homepage wird darauf hingewiesen, dass sie die Sprecherin der Kommunistischen Plattform ist. Wenn Sie sich jetzt von dem Gedankengut der Kommunistischen Plattform distanzieren, dann nehme ich alles zurück. Aber wer dieses Gedankengut vertritt, darf sicher Kommunist genannt werden. Ich bin gerne bereit, Ihre Belehrungen entgegenzunehmen. ({17}) Ich kann Sie, Gregor Gysi und Ihre Fraktion, nur bitten, diesen Antrag zur Einführung einer Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent zurückzuziehen. Er ist volkswirtschaftlicher Irrsinn. Ansonsten sagen Sie den Bürgern, was Teile Ihrer Fraktion wirklich wollen. Wenn Sie wollen, dass erfolgreiche Bürger in unserem Land enteignet werden, dann können Sie das offen aussprechen. Allein aufgrund der von Ihnen geschätzten 80 Milliarden Euro Einnahmen ist das mit uns auf keinen Fall zu machen. Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen: Ziehen Sie diesen Antrag zurück! Herzlichen Dank. ({18})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr von Stetten, ich finde, ein bisschen weniger Ideologie und Panikmache hätte der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Sache gutgetan. Ich fand es nicht ganz angemessen, was Sie heute hier gemacht haben. ({0}) Es war vor allem deshalb nicht angemessen, weil die Menschen zu Recht von uns verlangen, dass wir uns mit Fragen bezüglich der Steuersysteme in aller Ruhe und fachlich auseinandersetzen. Steuersysteme werden - das müssen wir uns immer wieder klarmachen - von Menschen nur dann akzeptiert, wenn sie das Gefühl haben, dass es gerecht zugeht und dass Lasten fair verteilt werden. Nur dann wird das Zahlen von Steuern, die wir brauchen, um zum Beispiel die Bildungschancen zu erhöhen, akzeptiert. Ich bin davon überzeugt, dass die Auseinandersetzung über die Frage, ob Lasten fair verteilt werden, auch über das Steuersystem, gerade jetzt, in den Zeiten der Finanzmarktkrise, wichtiger denn je ist. ({1}) Übrigens sind die Überlegungen hinsichtlich fairer Lastenverteilung, Privilegien und Beteiligung an der Finanzierung des Allgemeinwohls nicht neu. Die Behauptung im Antrag der Linken, dass diese Fragen in den letzten Jahren nicht berücksichtigt worden seien, ist wirklich hanebüchen. Sowohl in den Zeiten der Regierung von Gerhard Schröder zusammen mit den Grünen als auch in Zeiten der Großen Koalition gab es immer wieder Abwägungen und wurden immer wieder Entlastungen auf der einen Seite mit Verschärfungen und Belastungen auf der anderen Seite verbunden. Ich will Ihnen dazu drei Beispiele nennen: Wenn Sie in Ihrem Antrag auf die Senkung des Spitzensteuersatzes hinweisen, dann sollten Sie wirklich nicht verschweigen, dass es die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung war, die zusammen mit den beiden Fraktionen dafür gesorgt hat, dass der Eingangssteuersatz so deutlich gesenkt worden ist wie nie zuvor in den letzten Jahren. ({2}) Es war die gemeinsame Regierung der Grünen und der SPD, die dafür gesorgt hat, dass es eine Mindestbesteuerung gab und ein Herunterrechnen auf null nicht mehr möglich war. ({3}) Auch das kommt in Ihrer Analyse nicht vor. Das halte ich für einen sträflichen Fehler. Es war die Große Koalition, die bei der letzten Unternehmensteuerreform dafür gesorgt hat, dass die Entlastung bei den Steuersätzen mit deutlichen Einschränkungen bei den Gestaltungsmöglichkeiten verbunden war. Wir haben sehr viele Schlupflöcher geschlossen. Wir haben immer auf Ausgewogenheit in diesem Bereich geachtet. ({4}) Wir erleben jetzt allerdings, dass auf Ausgewogenheit keinen Wert mehr gelegt wird und dass Schlupflöcher verschämt wieder geöffnet werden. Um ein Bild zu gebrauchen: Dieser Pullover wird Stück für Stück von der schwarz-gelben Regierung und der Koalition wieder aufgeribbelt. Von Ausgewogenheit kann jetzt natürlich keine Rede mehr sein. ({5}) Ich empfehle Ihnen dringend, Ihre Wünsche nicht in Umdrucken zu Gesetzentwürfen zu verstecken, sondern einen Gesetzentwurf vorzulegen, den Sie Entwurf eines Wunscherfüllungsgesetzes nennen. Das ist nämlich die Wahrheit. ({6}) Ich komme zur Lastenverteilung zurück. Herr von Stetten, Sie sollten einen kurzen Blick auf die Fakten, die uns die OECD liefert, werfen. Die Vergleiche, die Sie bei der Belastung durch die Einkommensteuer angestellt haben, können überhaupt nicht gezogen werden. Sie sprechen die Substanzbesteuerung überhaupt nicht an. Ich weiß auch, warum; denn wenn wir uns die Daten anschauen, die im November 2009 von der OECD gekommen sind, dann sehen wir, dass Deutschland deutlich weniger durch die Substanzbesteuerung einnimmt als fast alle anderen Staaten. Es handelt sich nämlich um nur 0,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während der OECD-Durchschnitt bei 1,9 Prozent liegt. Verstecken Sie sich also nicht hinter irgendwelchen Einkommensteuerstatistiken. Das ist eine ganz andere Art von Besteuerung. ({7}) Ich möchte den OECD-Bericht zitieren: „Nur Mexiko, Tschechien, Ungarn und die Slowakei … sowie Österreich erzielen weniger Einnahmen aus dieser Steuerart.“ Dass das unsere Benchmark in dem Bereich sein soll, glauben wir nicht wirklich. ({8}) Das bedeutet für uns Sozialdemokraten, dass eine Vermögensteuer sehr wohl ein Instrument zur fairen Besteuerung sein kann. Ich will betonen: ein Instrument. Die im Antrag der Linken genannten 5 Prozent jährlich und der Versuch, alle Finanzierungsprobleme damit zu lösen, halte ich für absurd. Wir müssen bestimmte Rahmenbedingungen beachten. Wir dürfen keine Substanzbesteuerung vornehmen, die zu einer Verminderung von Vermögen führt. ({9}) Es geht nicht darum, Vermögen wegzunehmen, sondern es geht um einen fairen Beitrag der Vermögenden bei der Verteilung von Steuerlasten. Das kann man nicht mit ideologischen Argumenten zurückweisen, wie Sie, Herr von Stetten, es getan haben, sondern damit muss man sich ernsthaft auseinandersetzen. ({10}) Wir müssen im Übrigen auch wahrnehmen, dass sich die Rahmenbedingungen verändert haben. Erstens. Der Halbteilungsgrundsatz, der sehr lange gegolten hat, gilt aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so nicht mehr. Das heißt, diese Rahmenbedingung hat sich deutlich verändert. ({11}) Zweitens. Auch die Reform der Erbschaftsteuer hat die Rahmenbedingungen verändert. Diese Belastungen, die früher im Rahmen einer Panikmache als Verwaltungskosten bezeichnet wurden, werden so nicht mehr anfallen, weil wir aufgrund entsprechender Bewertungsgesetze jetzt andere Ausgangsmöglichkeiten haben. Das sollte man nicht wegdrücken. Wenn sich Rahmenbedingungen verändern, dann sollte man über die eigene Position ruhig einmal nachdenken. Ich finde, zu einer verantwortungsbewussten Politik gehört, nicht immer wieder die alten Geschichten zu erzählen, die schon lange nicht mehr wahr sind. ({12}) Ich will darauf hinweisen, dass sich natürlich auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben. Wir wissen mehr denn je, wie wichtig Bildung nicht nur für unsere Kinder und die Schaffung von sozialer Gerechtigkeit, sondern auch für unseren wirtschaftspolitischen Erfolg ist. Das Aufkommen aus einer Vermögensteuer könnte dazu beitragen, dass die Länder Bildung besser finanzieren können. Die Zeit der Bildungsgipfel haben wir erlebt. Da wurde nur zu Papier gebracht, was man eigentlich tun müsste, und über Finanzierungsinstrumente wurde nicht ernsthaft geredet. Ich finde, es ist die Zeit der Bildungsgipfel und die Zeit, konsequent über Finanzierungsmöglichkeiten zu sprechen und in der Gesetzgebung entsprechende Konsequenzen zu ziehen. ({13}) Ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt, im Rahmen eines Gesamtkonzepts über eine sinnvolle Besteuerung von sehr hohen Vermögen nachzudenken und die Vermögensteuer als ein mögliches Instrument auf den Weg zu bringen. Ich sage es noch einmal - ich habe es vorhin schon erwähnt -: Im vorliegenden Antrag wurde alles richtig hingeschnuddelt; ich muss es so sagen. Mit einem Steuersatz von 5 Prozent will man weit in die Substanz hineingehen. Auch andere Dinge wurden hingeschnuddelt. Das kann keine Grundlage für eine seriöse Auseinandersetzung mit dieser Frage sein. Für uns Sozialdemokraten ist klar, dass, wenn jemand sein Vermögen für die Schaffung von Arbeitsplätzen einsetzt, dies selbst1788 verständlich berücksichtigt werden muss. Es geht nicht um Neid, sondern um eine faire Verteilung von Lasten und Chancen in unserer Gesellschaft. ({14}) Wir werden diese Punkte im Rahmen eines steuerlichen Gesamtkonzepts - dahin gehört es nämlich - aufgreifen und die Einführung einer Vermögensteuer einfügen. Ich hoffe, dass wir dann zu einer seriöseren Diskussion kommen, als wir sie gerade erlebt haben. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die linke Seite dieses Hauses ist sich offensichtlich sehr einig. Sie will jetzt ganz schnell eine Vermögensteuer in Deutschland einführen. Die Linkspartei hat uns einen Antrag vorgelegt, der, wie ich finde, nur als Faschingsscherz zu bezeichnen ist; Frau Kollegin Kressl hat das ein bisschen untermauert. Was Sie da vorhaben, können Sie nicht ernst meinen. Das kann man nur fordern, wenn man sicher ist, dass man nie die Verantwortung dafür bekommt, so einen Unsinn umsetzen zu müssen. Es ist schlicht und einfach nicht machbar, was Sie da fordern. ({0}) Die SPD ist eine große Anhängerin der Vermögensteuer, und zwar immer dann, wenn sie die Regierungsverantwortung verloren hat. ({1}) Ihre Partei hat elf Jahre lang den Bundesminister der Finanzen gestellt. Zu uns hat gerade die ehemalige Staatssekretärin aus dem Bundesministerium der Finanzen gesprochen und uns, nachdem all das nach elf Jahren Verantwortung der Sozialdemokraten nicht gemacht worden ist, erklärt, dass das für Deutschland dringend notwendig sei. Wie kann man sich das erklären? ({2}) Wir sind der Meinung, dass in Deutschland Erträge gerecht besteuert werden sollen. Wer höhere Erträge hat, der soll auch einen höheren Anteil finanzieren und höhere Steuern zahlen. ({3}) Das ist unsere Auffassung. Wie kommt man zu höheren Erträgen? Man erzielt höhere Erträge, indem man eine wachstumsorientierte Politik macht, damit die Unternehmen auf der Grundlage ihrer Vermögenswerte etwas erwirtschaften können, Arbeitsplätze entstehen können und der Staat die Gewinne angemessen und gerecht besteuern kann. Wieso fordern Sie jetzt etwas völlig anderes, als Sie in der Regierungsverantwortung gemacht haben? Ich erkläre mir das so: Sie haben es in diesen elf Jahren nicht geschafft, eine wachstumsorientierte Politik umzusetzen. ({4}) Jetzt glauben Sie, Wachstum sei nicht mehr möglich und man könne den Staat nur noch über eine Substanzbesteuerung finanzieren. Ich sage Ihnen: Man kann eine wachstumsorientierte Politik machen. Die christlich-liberale Koalition wird dies tun. Wir bleiben bei der Ertragsbesteuerung, weil wir an die Kraft dieses Landes glauben. Sie haben dieses Land offensichtlich aufgegeben. ({5}) Die Linksfraktion fordert eine Besteuerung der Substanz mit einem Steuersatz von 5 Prozent. Sie sagt, das sei ganz einfach. Aber Sie legen keine konkreten Vorschläge vor, die man tatsächlich umsetzen könnte. Sie werfen mehr Fragen auf, als Sie beantworten. Welches Vermögen wollen Sie konkret besteuern? Nur Geldwerte oder auch Sachwerte? Ist Opel für Sie ebenfalls ein Millionär? Soll auch dieses Vermögen besteuert werden? Wollen Sie die Industrie ausnehmen und nur die kleinen, mittelständischen Betriebe besteuern? Was genau haben Sie vor? Ist auch eine landwirtschaftliche Fläche ein Sachwert? Wollen Sie die ebenfalls besteuern? Wollen Sie den Bauern in Deutschland jedes Jahr 5 Prozent des Verkehrswertes ihres landwirtschaftlichen Vermögens abnehmen? Haben Sie das vor? Dann sagen Sie das konkret. Dann reden wir darüber. Dann reden wir auch über die Auswirkungen einer solchen Politik für unser Land. Aber einfach einen Antrag vorzulegen, in dem gefordert wird, dass 5 Prozent der Vermögenssubstanz von Millionären besteuert werden sollen, damit seien die Probleme unseres Landes gelöst, das ist, ich glaube, eine Ebene, auf der wir nicht wirklich sachlich diskutieren können. ({6}) Die Probleme des Landes sind viel zu groß, um eine derartig alberne Finanzpolitik machen zu können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Ludwig Erhard hat einmal gesagt: Wir brauchen Wohlstand für alle. ({7}) Das war die Leitlinie erfolgreicher Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie glauben, wenn man einigen eine Misere beschert, dann wäre dem Land insgesamt gedient. ({8}) Es gibt niemanden in Deutschland, der nicht dafür kämpft, dass es Ärmeren besser geht. Aber wenn Sie glauben, es ist jemandem geholfen, wenn Sie Leistungsträger, die Erfolgreichen in diesem Land schwächen, dann sind Sie auf dem falschen Weg. ({9}) Es gibt eine Alternative zu Ihrer Neidpolitik. Die machen Sie immer, wenn Sie in der Opposition sind. Wenn Sie regieren, wollen Sie davon nichts mehr wissen: ({10}) Die Vermögensteuer sei nie angegangen worden und nie aufgegriffen worden. ({11}) Kaum sind Sie in der Opposition, sagen Sie: Das wollen wir. Dass es eine Alternative zu dieser Politik gibt, zeigt die christlich-liberale Koalition. Wir haben nämlich - im Gegensatz zu Ihnen - in dieser Legislaturperiode vor, etwas für die unteren und mittleren Einkommen zu tun. ({12}) Wir wollen die kalte Progression abmildern. Wir wollen steuerliche Entlastungen. Bereits jetzt haben die Deutschen ein höheres Nettoeinkommen. Während Sie eine Reichensteuer beschlossen und die kalte Progression beibehalten haben, kümmern wir uns jetzt um die Versäumnisse und arbeiten sie in dieser Legislaturperiode Schritt für Schritt ab. ({13}) Sie waren es doch, die nicht davor zurückgeschreckt sind, die Pendlerpauschale auf verfassungswidrige Weise zu kürzen. ({14}) Dass die Menschen in den letzten Jahren immer weniger von ihrem Einkommen übrig hatten, war das Ergebnis Ihrer Politik. ({15}) Dass die Nettoeinkommen in den nächsten Jahren steigen werden, werden die Früchte der christlich-liberalen Finanzpolitik sein. ({16}) Sie können das Mantra der Vermögensteuer ruhig weiterhin singen. Sie können in Ihrem Stadium kreativer Neidpolitik verharren. In der Zwischenzeit hat Deutschland eine Regierung, die dafür sorgt, dass die Menschen mehr netto vom Brutto haben, ({17}) dass Leistungsanreize in Deutschland gesetzt werden, dass die Wachstumskräfte unseres Landes entfesselt werden, dass die Erträge, die die Unternehmen in Deutschland erwirtschaften, steigen werden, ({18}) dass das Steueraufkommen, das wir auf diese Erträge erheben, steigen wird - und das bei einer Entlastung der unteren und mittleren Einkommen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir brauchen diese nicht ganz ernstzunehmenden Anträge nicht. Herzlichen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort die Kollegin Lisa Paus von Bündnis 90/ Die Grünen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Steuerpolitik ist nicht der Umgang mit Zahlen, sondern Steuerpolitik ist Gesellschaftspolitik.“ ({0}) So die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung nach der Wiederwahl. ({1}) Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen. Ein Zehntel unserer Bevölkerung besitzt über 60 Prozent des Vermögens, während ein Viertel unserer Bevölkerung über nichts bzw. über weniger als nichts, nämlich über Schulden verfügt. ({2}) Die OECD attestiert uns: Nirgendwo in der industrialisierten Welt haben sich in den letzten Jahren die Einkommensunterschiede schneller verschärft als in Deutschland. ({3}) Noch eine Zahl: Mehr als 75 Prozent der Deutschen sind nach einer GfK-Umfrage der Meinung, es gehe in diesem Land nicht gerecht zu. ({4}) Das sind nur Zahlen, aber sie machen deutlich: In dieser Republik läuft gesellschaftspolitisch etwas verdammt schief. ({5}) Und was ist die Antwort von CDU/CSU und FDP? Statt einer gerechten Steuer von Mövenpick et al. gekaufte Steuergesetze, statt Gesellschaftspolitik politische Landschaftspflege. Das ist nur als armselig zu bezeichnen. ({6}) Die Finanzkrise hat an der Vermögensverteilung in Deutschland nichts geändert; so das DIW. Die Reichen sind dank öffentlicher Rettungsschirme unverändert reich. Die Finanzkrise hat aber eine neue Zahl hervorgebracht: Die Staatsverschuldung war noch nie so hoch wie heute; 1 Billion Euro - das sind 1 000 Milliarden Euro - Schulden hat jetzt allein der Bund. Wenn wir unser Steuer- und Abgabensystem nicht ändern, wenn wir nicht damit aufhören, nur die Niedrigverdiener und die arbeitende Mittelschicht zu belasten und die Reichen nicht zu belasten, dann führt unser ungerechtes System dazu, dass die Schere zwischen Arm und Reich noch schneller auseinanderdriftet. ({7}) Deswegen sagen wir: Außergewöhnliche Krisen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Deshalb ist die Idee, dass diejenigen, die an den entfesselten Finanzmärkten große Gewinne gemacht haben, auch in besonderem Maß die Kosten der Krise tragen sollen, richtig. ({8}) Deshalb begrüßen wir es, dass der Antrag der Linken zur Wiedereinführung der Vermögensteuer das Thema auf die Tagesordnung bringt. ({9}) Der vorliegende Antrag hat aus unserer Sicht aber wenig belastbare Substanz. Das können wir jedoch im Rahmen der parlamentarischen Beratungen weiter erörtern. Herr Dautzenberg, die Stoßrichtung „mehr Besteuerung von Vermögen“ ist richtig. ({10}) Wir Grüne haben uns in der aktuellen Situation dafür ausgesprochen, eine zweckgebundene Vermögensabgabe, die als Beitrag zur Bewältigung der Krise die hohen Vermögen in einem vertretbaren Maß belastet, einzuführen. Im Übrigen wäre das nicht das erste Mal. In der Tat, nicht die FDP, auch nicht die SPD hat das schon einmal gemacht, aber die Regierung Adenauer hat mit dem Lastenausgleichsgesetz eine Vermögensabgabe eingeführt. ({11}) Das war Gesellschaftspolitik in Steuern gegossen. ({12}) Die Zahlen von damals sprechen eine deutliche Sprache: Ohne den Lastenausgleich hätte es das deutsche Wirtschaftswunder damals niemals gegeben. ({13}) Eine Vermögensabgabe, wie wir sie uns vorstellen, schließt die Gerechtigkeitslücke, die wir in der Vermögensverteilung in Deutschland haben. Sie bürdet die Lasten der Krise denen auf, die sie tragen können. Deswegen ist die Erhebung einer Vermögensabgabe keine populistische Enteignung der sogenannten Leistungsträger unserer Gesellschaft, die deswegen angeblich scharenweise ins Ausland flüchten würden. ({14}) Es ist einfach so: Wer von unregulierten Finanzmärkten profitiert hat, der steht in besonderer Verantwortung, die Kosten ihres Zusammenbruchs zu schultern. Wie erklären Sie sich, dass es in diesem Land inzwischen Millionäre gibt, die öffentlich darum bitten, zur Verantwortung gezogen zu werden, weil sie wissen, dass sie Verantwortung übernehmen müssen und übernehmen können? Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis! ({15}) Da Sie immer noch von einer Neiddebatte sprechen, will ich dazu noch eines sagen: Milliardäre und Millionäre scheinen Ihnen von Schwarz-Gelb ähnliche Sorgen zu bereiten wie die Geldbeutel armer Hotelbarone. Aber das ist auch in diesem Fall überhaupt nicht nötig. Die vermögensbezogenen Steuern in Deutschland sind niedriger als in den USA, niedriger als in Luxemburg und niedriger als in der Schweiz. Auch das sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Deswegen ist diese Vermögensabgabe keine Zumutung, sondern ein wichtiger Baustein, um mehr als ein paar Zahlen wieder ins Gleichgewicht zu bringen, zum Beispiel das Verhältnis zwischen öffentlichen Schulden und privater Vermögensverteilung. Daher werden wir Grünen an diesem Thema weiterarbeiten und einen entsprechenden Antrag in dieses Haus einbringen. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Paus, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/453 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Jerzy Montag, Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({2}) - Drucksache 17/88 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({4}) - Drucksache 17/254 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({6}) - Drucksache 17/472 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({7}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen, dass es im Grundgesetz in Art. 3 Abs. 3 künftig heißt: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner sexuellen Identität, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Es geht darum, die Schwulen, Lesben und Transgender in unserer Verfassung endlich vor Benachteiligungen zu schützen. ({0}) Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz war so etwas wie die Negation der nationalsozialistischen Selektions- und Verfolgungspolitik. So haben ihn die Väter und Mütter des Grundgesetzes konzipiert. Aber auch sie waren nicht frei von Moralanschauungen und Vorurteilen und haben deshalb zwei Gruppen, die Opfer des Nationalsozialismus waren, vergessen: die Behinderten und die Homosexuellen. Die Behinderten haben wir in der Verfassungsreform 1994 endlich in den Diskriminierungsschutz der Verfassung aufgenommen. Für die Aufnahme von Schwulen, Lesben und Transgendern gab es damals keine Zweidrittelmehrheit, sondern nur eine einfache Mehrheit. Deshalb wurde dieses Ziel verfehlt. Die Geschichte der Schwulen und Lesben im Zusammenhang mit der Verfassung in diesem Land ist sehr widersprüchlich. 1957 hat das Bundesverfassungsgericht die menschenrechtswidrige strafrechtliche Verfolgung durch § 175 des Strafgesetzbuchs in nationalsozialistischer Fassung für vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Es dauerte viele Jahrzehnte, bis das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2009 erstmals in einer Entscheidung die Rechte von Lesben und Schwulen aufgrund der Verfassung ausgeweitet hat. Ich denke, es ist wichtig, dass wir in unserer Verfassung jetzt endlich ein für alle Mal zum Ausdruck bringen, dass Lesben, Schwule und Transgender Bürgerinnen und Bürger wie alle im Lande sind, mit gleichen Rechten, mit gleichen Pflichten und ohne jeglichen Abstand. ({1}) Das gebieten Respekt und Würde, wie es unsere Verfassung vorsieht. In Europa haben wir seit dem Amsterdamer Vertrag eine Klausel, die Maßnahmen der Kommission gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung erlaubt. Seit 2009 steht in der EU-Grundrechtecharta der Diskriminierungsschutz für Lesben, Schwule und Transgender. In den Landesverfassungen von Berlin, Brandenburg, Thüringen und Bremen findet sich eine solche Klausel. Im Saarland wurde vereinbart, die saarländische Volker Beck ({2}) Verfassung in dieser Legislatur entsprechend zu erweitern. ({3}) Es ist an der Zeit, dass wir als Bundestag auf Bundesebene diese Entscheidungen nachvollziehen. Es gab im letzten Jahr eine Bundesratsinitiative von den Ländern Bremen, Hamburg und Berlin, die im Bundesrat leider keine Mehrheit gefunden hat. Welche Argumente wurden von der Gegenseite vorgetragen? Ich zitiere den Justizminister aus Hessen von der FDP: Im Interesse einer möglichst schlanken und übersichtlichen Verfassung sollen nur zwingend erforderliche Änderungen des Textes vorgenommen werden. So werden eine Verwässerung und ein damit einhergehender Bedeutungsverlust durch Überregulierung und die Aufnahme immer neuer Schutzaspekte vermieden. Etwas hineinzuschreiben, was letztlich schon europäischer Konsens ist, drei weitere Wörter in der Verfassung, das kann mit solchen Argumenten nicht pariert werden, ({4}) und schon gar nicht von einer Koalition, die verabredet hat, sie wolle die Selbstverständlichkeit, dass man in Deutschland Deutsch spricht, ins Grundgesetz schreiben. Wer sich anschickt, solche Dinge auf den Weg zu bringen, kann beim Schutz vor Diskriminierung wohl nicht ernsthaft gegen eine Klärung der Sache argumentieren. ({5}) Minister Busemann aus Niedersachsen sagte in der Bundestagsdebatte: Vielmehr bedarf es noch verstärkter praktischer gesellschaftlicher Aufklärung, sei es durch die Medien oder durch öffentliche Einrichtungen wie Schulen, um langfristig jeder Form von Diskriminierung entgegenzuwirken. Eine Verfassungsänderung lehnt er ab. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Wenn in Zukunft im Sozialkundeunterricht oder im Politikkurs über die Grundrechte und das Grundgesetz aufgeklärt wird, dann soll man auch darüber aufklären, dass eine Diskriminierung von Lesben und Schwulen verboten ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Beck!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn wir Ausländerinnen und Ausländern in Integrationskursen die Werte unserer Verfassung vermitteln, dann soll man sagen, dass Lesben und Schwule hier nicht diskriminiert werden dürfen. Das soll man aber im Grundgesetz nachlesen können und nicht im 123. Band der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich weiß nicht, wie gut Sie sich in Berlin auskennen. Ich selber habe meinen Wahlkreis in Berlin-Tempelhof/Schöneberg. Der Stadtteil Schöneberg ist bekannt dafür, dass er, vielleicht mit Ausnahme von Köln, die höchste Konzentration von Schwulen und Lesben in ganz Deutschland hat. Ich weiß daher um die Probleme, denen Schwule und Lesben in der gesellschaftlichen Realität begegnen. Ja, es gibt Diskriminierung, und es gibt Anfeindungen und Übergriffe gegen Homosexuelle, und das nehme ich sehr ernst. Lassen Sie mich deswegen gleich zu Anfang meiner Rede klar und unmissverständlich formulieren: Das Ziel, das Anliegen, das mit dem vorgelegten Antrag verfolgt wird, teile ich uneingeschränkt. ({0}) Deutschland ist ein modernes und weltoffenes Land. Eine Diskriminierung von Anderslebenden oder Andersliebenden ist nicht akzeptabel, und wir nehmen sie nicht hin. ({1}) Die Frage ist allerdings: Was können wir dagegen tun? Brauchen wir, wie die Opposition es vorschlägt, eine Verfassungsänderung, um Diskriminierung wirksam begegnen zu können? ({2}) Meine Damen und Herren, wenn Sie eine ehrliche Bestandsaufnahme machen, werden Sie feststellen: Es gibt bereits einen umfassenden Schutz. Das Grundgesetz selbst gewährleistet die sexuelle Selbstbestimmung, und das nicht nur durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Es ist vor allen Dingen der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1, der vor Diskriminierung schützt. ({3}) Er besagt bekanntlich, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind. Es ist schlicht unrichtig, wenn Sie in Ihrem Antrag behaupten, dass dieser Artikel keinen ausreichenden Schutz gewährt. ({4}) Ihr Versuch - auch der Herr Kollege Beck hat das gerade wieder angeführt -, diese Behauptung durch Verweis auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1957 zu belegen, geht an der Sache vorbei. ({5}) Damals hat das Bundesverfassungsgericht - das ist richtig - die Strafbarkeit der sexuellen Unzucht zwischen Männern nach § 175 StGB noch als verfassungsgemäß eingestuft. ({6}) Zum Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter hat es seinerzeit ausgeführt: Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hinnahme bereite Funktion hin. Anders als der Mann würde die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper daran erinnert, daß das Sexualleben mit Lasten verbunden sei. Damit möge es zusammenhängen, daß bei der Frau die körperliche Begierde ({7}) und zärtliche Empfindungsfähigkeit ({8}) fast immer miteinander verschmolzen sind, während beim Manne, und zwar gerade beim Homosexuellen, beide Komponenten vielfach getrennt bleiben. Meine Damen und Herren, Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, dass das Bundesverfassungsgericht auch heute noch in einer solchen Art und Weise argumentieren würde! ({9}) Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Das belegt die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - der Kollege Beck hat es angesprochen -, in der das Bundesverfassungsgericht die Reichweite des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes noch einmal verdeutlicht hat. Danach ist bei der Prüfung von Ungleichbehandlungen ein strenger Kontrollmaßstab anzulegen, wenn die Ungleichbehandlung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft, die denen von Art. 3 Abs. 3 vergleichbar sind. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft bei der Hinterbliebenenversorgung mit Art. 3 Abs. 1 nicht in Einklang steht. Das Gericht bestimmt also den Schutzinhalt von Art. 3 Abs. 1 genau so, als ob das Merkmal der sexuellen Identität in Art. 3 Abs. 3 ausdrücklich genannt wäre. Insofern ist das, was Sie hier mit Ihrem Antrag erreichen wollen, nämlich dass der einfachrechtliche Gesetzgeber durch das Grundgesetz eine klare und verbindliche Vorgabe erhält, bereits immanenter Bestandteil der Verfassung. ({10}) Das spiegelt sich auch in den umfangreichen einfachrechtlichen Vorschriften wider, die eine Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Identität ausdrücklich verbieten: im Beamtenrecht, im Arbeitsrecht oder nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Man sieht: Es kommt nicht allein auf den Text der Verfassung an, sondern auf die gelebte Verfassungswirklichkeit. Ich glaube nicht, dass der Deutsche Bundestag, also wir alle miteinander, Nachhilfe in Sachen Diskriminierungsschutz benötigt. ({11}) Im Übrigen lohnt es sich - das hat Kollege Beck auch schon angeführt -, einen Blick nach Europa zu werfen. Nicht nur nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wird ein entsprechender Schutz gewährt; auch die Verträge sowie Art. 21 der Grundrechtecharta zählen die sexuelle Ausrichtung ausdrücklich zu den Merkmalen, bei denen das Diskriminierungsverbot gilt. All diese Regelungen sind in Deutschland unmittelbar geltendes Recht, nach der Rechtsprechung des EuGH sogar mit Anwendungsvorrang gegenüber unserer Verfassung. Wieso also eine Verfassungsänderung, wenn die sexuelle Ausrichtung gemäß europäischer Vorgaben ausdrücklich als ein Merkmal benannt wird, bei dem das Diskriminierungsverbot gilt? - Sie schweigen, weil Sie wissen, dass es tatsächlich keine Notwendigkeit und keine Rechtfertigung für eine Änderung der Verfassung gibt. ({12}) - Sie können sich hier jetzt aufregen. Ich weiß natürlich, dass Sie diesen Antrag auch nutzen wollen, um vor allen Dingen uns von der Union in eine bestimmte Ecke zu drängen: in die Ecke einer Partei mit antiquierten, verstaubten und überkommenen Wertvorstellungen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Luczak, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. Ich finde es sehr gut, dass Sie eine Zwischenfrage zulassen, obwohl dies Ihre erste Rede ist. Wenn das alles so selbstverständlich ist, wie Sie sagen, wie kommt es dann, dass wir zum Beispiel beim Lebenspartnerschaftsgesetz, im Steuerrecht, bei der Frage der Beamtenversorgung immer noch ungleiches Recht haben? ({0}) Wie kommt es, dass die Koalition im Dezember im Zusammenhang mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Antrag ablehnen konnte, beim Erbschaftsteuerrecht endlich die gleichen Tarife für homosexuelle Lebenspartnerschaften einzuführen, wie sie bei Ehegatten gelten? Wenn das alles so selbstverständlich wäre, wie Sie behaupten, hätte es für Sie selbstverständlich sein müssen, im Dezember unserem Änderungsantrag zuzustimmen. ({1})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, vielen Dank für die Zwischenfrage. Wenn Sie mir noch einige Sekunden zugehört hätten, hätte ich dazu etwas gesagt. - Wenn Sie einen Blick in unseren Koalitionsvertrag werfen, ({0}) dann werden Sie feststellen, dass dort ausdrücklich steht: Die christlich-liberale Koalition will „gleichheitswidrige Benachteiligungen im Steuerrecht abbauen“ und die bestehenden Schutzlücken, zum Beispiel im Bereich des öffentlichen Dienstes, schließen. Das werden wir umsetzen. ({1}) Ich möchte an dieser Stelle eines betonen: Es bleibt beim Grundsatz des Art. 3 Abs. 1: Gleiches wird gleich behandelt. Soweit Sachverhalte aber ungleich sind, erlaubt unsere Verfassung Differenzierungen. Auch daran hält die Union fest. ({2}) So berechtigt das Anliegen in dieser Sache auch ist: Das, was die Opposition mit diesem Antrag macht, ist nichts weiter als Schaufensterpolitik. Sie wissen sehr genau, dass mit einer solchen Änderung der Verfassung unmittelbar gar nichts bewirkt würde. Wir brauchen also keine theoretischen Debatten, sondern praktische Ansätze. Wir müssen gesellschaftliche Akzeptanz schaffen. Wir brauchen Aufklärungsarbeit in den Schulen und müssen diejenigen stärken, die Zivilcourage zeigen, wenn sie sich für Menschen erheben, die wegen ihrer sexuellen Identität angefeindet werden. Das alles bewirkt weit mehr, als eine Änderung der Verfassung, wenn wir sie hier beschließen würden, bewirken könnte. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Unsere Verfassung hat sich in den letzten 60 Jahren bewährt. Wir sollten sie achten. Ich sage ganz bewusst: Wir sollten sie mehr achten. Das Grundgesetz ist seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1949 nicht weniger als 57-mal geändert worden. Das hat die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Verfassung nicht eben verbessert. Sehen Sie sich nur einmal die Regelungen zur Schuldenbremse an. Egal wie richtig sie in der Sache sind, verständlich sind sie in vielen Bereichen nicht. Ich erinnere auch an die Diskussion um die Reform der Jobcenter. Ich bin froh, dass wir nun nicht den Weg gehen wollen, die Verfassung an die Politik anzupassen; denn Politik hat sich nach den Vorgaben der Verfassung zu richten, nicht umgekehrt. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt kommen Sie aber bitte zum Schluss.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Ich kann also festhalten: Durch unsere Verfassung wird bereits ein umfangreicher Schutz gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität gewährleistet. Es gibt eine Fülle von einfachrechtlichen Vorschriften, mit denen solchen Diskriminierungen wirksam begegnet wird. Auch durch das Unionsrecht werden Ungleichbehandlungen verbindlich verboten. Lassen Sie mich deshalb mit den Worten des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Professor Papier, schließen: Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass … das Grundgesetz … die beste Verfassung ist, die Deutschland je hatte. Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Die Union will, dass dies auch so bleibt. ({0}) Wir wollen deshalb keine Verunklarung des Verfassungstextes durch neue Inhalte, durch die kein Mehr an Schutz geboten wird und die daher nicht erforderlich sind. Deswegen spricht sich die Union auch gegen die beantragte Änderung des Grundgesetzes aus. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Luczak, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich mache Sie aber gleich darauf aufmerksam, dass Sie bei Ihrer nächsten Rede nicht einen so großen Zeitzuschlag erhalten. ({0}) Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion. ({1})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche, am Mittwoch, haben wir hier im Plenarsaal der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, und wir sind von den Rednern gemahnt worden, Verantwortung zu übernehmen: Verantwortung nicht für das Geschehene, sondern Verantwortung dafür, dass solche Verbrechen, wie sie unter der Naziherrschaft geschehen sind, in unserem Land nicht wieder vorkommen. Genau dieser Verantwortung stellen wir uns mit diesem Antrag. Deswegen geht es nicht darum, die Verfassung aufzublähen und das Grundgesetz unübersichtlich zu machen, sondern darum, Verantwortung zu übernehmen. ({0}) - Ich werde Ihnen gleich erklären, was für ein passender Vergleich das ist. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben genau aus dieser Verantwortung heraus in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz genau die Merkmale aufgezählt, die Ursache bzw. Grund für die Verfolgung der Menschen waren. Alle Merkmale, die damals dazu geführt haben, dass Menschen zu Opfern wurden, sind aufgeführt worden, bis auf zwei - das ist schon angeführt worden -: die Behinderung und die sexuelle Identität. Genau diese beiden Merkmale, die viele Menschen zu Opfern des Nationalsozialismus werden ließen, werden in Art. 3 nicht aufgezählt. Eines dieser Merkmale ist 1994 im Zuge der Wiedervereinigung ergänzt worden. Damals wurde das Merkmal Behinderung mit aufgenommen, weil es die ganz klare Ansage gab: Wir wollen in Zukunft nicht mehr dafür stehen, dass eine Diskriminierung Behinderter möglich ist. Wir wollen von staatlicher Seite ein entsprechendes Signal geben. - Es war richtig so, dass das Grundgesetz damals entsprechend ergänzt wurde. ({1}) Aus genau dem gleichen Grund wäre es mehr als angebracht - die Mahnung der Opfer vom Mittwoch muss Ihnen doch noch präsent sein -, dass wir uns auch jetzt der Verantwortung stellen und das letzte noch fehlende Merkmal von Opfern des Nationalsozialismus, nämlich die sexuelle Identität, aufnehmen. ({2}) 1994 gab es dafür bereits eine Mehrheit, aber leider keine Zweidrittelmehrheit, sonst wäre das Merkmal heute schon längst aufgenommen. Wir haben jetzt die Möglichkeit - es gibt ja auch entsprechende Länderinitiativen; das ist kein rot-rot-grüner Gedanke, sondern das kommt ja auch aus Ländern, in denen die CDU an der Regierung beteiligt ist -, dieser Verantwortung, der wir uns stellen wollen, auch dadurch gerecht zu werden, dass wir drei Worte in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz aufnehmen, nämlich: die sexuelle Identität. Herr Luczak, wenn das stimmt, was Sie sagen, dass wir nämlich Art. 3 Abs. 3 eigentlich gar nicht brauchen, dann könnten wir ihn ja streichen. Es gäbe dann Art. 3 Abs. 1, und damit wäre die Sache erledigt. So einfach ist es aber nicht, und das wissen Sie auch. Sie wehren sich lediglich noch aus ideologischen Gründen gegen eine solche Aufnahme. Das finde ich wirklich unerträglich. ({3}) Ich finde es unerträglich, in Feierstunden zu nicken, wenn wir gemahnt werden, Verantwortung zu übernehmen, und später mit fadenscheinigen Gründen ein einziges Merkmal nicht ins Grundgesetz aufzunehmen, wenn man dies tun könnte. Ich finde, so etwas kann man auch bei einer ersten Rede nicht durchgehen lassen. ({4}) Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Lassen Sie uns in den anstehenden Ausschussberatungen darüber reden, wie wichtig es wäre, wenn unser Staat ein entsprechendes Signal geben würde. Ich setze große Hoffnung in die FDP. Die Justizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, hat dieses Jahr die Schirmherrschaft für den Christopher Street Day übernommen und hat damit auch eine gewisse Verantwortung diesem Thema gegenüber. Ich kann sie nur auffordern: Nehmen Sie diese Verantwortung entsprechend wahr! Lassen Sie es nicht durchgehen, dass die Möglichkeit vertan wird, ein solch wichtiges Signal auch in die ganze Welt zu senden, dass wir uns der Verantwortung aus der Vergangenheit stellen. Lassen Sie uns sachlich miteinander diskutieren und diesen Schritt gehen! Ich glaube, das würde dem Ansehen Deutschlands guttun. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Buschmann von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über eine mögliche Änderung des Grundrechtekatalogs des Grundgesetzes. Dieser Grundrechtekatalog ist für uns Liberale das Herz unserer Verfassung. Deshalb haben Anliegen mit dem Ziel, daran Änderungen vorzunehmen, für uns, wenn Sie den Vergleich erlauben, immer etwas von einer Operation am offenen Herzen. Solche Eingriffe darf man nicht leichtfertig vornehmen. Für uns als Liberale - das ist meine feste Überzeugung - ist es nur dann angemessen, einzugreifen, wenn es grundrechtliche Schutzlücken gibt, die wir schließen müssen. ({0}) Bei Ihrem politischen Anliegen, das Sie mit Ihrem Antrag verfolgen, ist Ihnen bewusst, dass Sie bei uns als FDP-Fraktion immer dann große Sympathie erfahren, wenn es darum geht, einen wirksamen Beitrag dazu zu leisten, dass Menschen ihre sexuelle Identität in Deutschland frei leben dürfen. Das wissen Sie auch deshalb, weil keine andere politische Kraft in der Geschichte unseres Landes so viel für dieses Anliegen getan hat wie die FDP-Fraktion. ({1}) Wir haben 1973 mit Ihnen zusammen den Anwendungsbereich des § 175 StGB minimiert und diesen dann 1994 mit der Union abgeschafft. Wir haben in den Koalitionsvertrag mit der Union aufgenommen, dass die Diskriminierung im Steuerrecht für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften beseitigt wird. ({2}) Wir haben in den Koalitionsvertrag aufgenommen und werden es auch in Kürze umsetzen, dass die ehe- und familienrechtlichen Regelungen im Beamtenrecht auf die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften übertragen werden. ({3}) Wir werden die Magnus-Hirschfeld-Stiftung einrichten, die sich gegen Diskriminierung wendet, und wir werden das Transsexuellengesetz auf die Höhe der Zeit bringen. ({4}) Selbst die CSU bzw. die bayerische Staatsregierung haben wir davon überzeugt, dass Homosexuelle fürsorgliche Stiefeltern sein können. Deshalb hat die bayerische Staatsregierung ihre Klage gegen das Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht zurückgezogen. ({5}) Kurzum: Auf die FDP ist Verlass, egal wann, egal wo und egal mit wem. Wir sorgen für Fortschritt in der Sache für die Menschen. ({6}) Daran können Sie von der SPD sich ein Beispiel nehmen. „Kannste was lernen“, um mit den Worten Bertolt Brechts zu sprechen. All die bleiernen Jahre in der Großen Koalition, in der auch Sie in Regierungsverantwortung standen und etwas hätten tun können, haben Sie immer gesagt: Wir würden ja gerne, aber die böse Union lässt uns nicht. Wir haben es zusammen mit der Union geschafft. ({7}) Das ist also möglich. Wir halten Wort. Nehmen Sie sich daran bitte ein Beispiel! ({8}) Bei aller Sympathie für das Anliegen: Auch für die im Antrag geforderte Grundgesetzänderung gilt der Prüfungsmaßstab, den ich eingangs erwähnt habe: Es ist nämlich die Frage zu stellen, ob es eine Schutzlücke gibt, die wir schließen müssen. Diese Frage ist zu verneinen. Denn in Deutschland fehlt es nicht am verfassungsrechtlichen Schutz der sexuellen Identität. Sie alle kennen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli letzten Jahres. Darin hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz einen entsprechenden grundrechtlichen Schutz abgeleitet, und zwar auf demselben Schutzniveau wie bei Art. 3 Abs. 3. Das ist kein Zufall. Wenn hier so getan wird, als ob das eine volatile Rechtsprechung sei, die jederzeit umkippen könnte, dann machen Sie den Betroffenen nur Angst. Denn Sie alle wissen, dass das Bundesverfassungsgericht nie wieder zu einer Entscheidung wie zu der von 1957 käme. Das wissen auch Sie, Herr Beck - Sie schreiben es sogar auf Ihrer Internetseite -, weil es Ihnen ja in Ihrem eigenen Seminar zu diesem Thema erklärt worden ist. ({9}) Wir haben auch neue Erkenntnisquellen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt sich zum Beispiel an Art. 21 Abs. 1 der Grundrechte-Charta an. Das Bundesverfassungsgericht zieht die Rechtsprechung des EGMR heran. Eine solche Entscheidung wie die von 1957 ist heute undenkbar und kann nie wieder passieren. Wer etwas anderes behauptet, macht den Menschen Angst, um politisches Kapital daraus zu ziehen. ({10}) Kurzum: Es wäre lediglich von symbolischer Wirkung, die vorgeschlagene Ergänzung vorzunehmen. Aber eine bloß symbolische Wirkung reicht uns nicht für eine Operation am offenen Herzen, nicht für einen Eingriff in den Grundrechtekatalog unseres Grundgesetzes. Zugleich reichen wir Ihnen aber die Hand, um die eigentliche Baustelle abzuarbeiten. Die eigentliche Baustelle ist, auf der einfachrechtlichen Ebene mögliche Unterschiede zu identifizieren und zu beseitigen. Hier haben wir die Möglichkeit, unser Land toleranter, offener und liberaler zu gestalten. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich konstruktiv einbringen würden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Buschmann, ich gratuliere im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. ({0}) Ich bitte Sie aber, jetzt noch ein bisschen aufmerksam zu bleiben, weil sich die Frau Kollegin Lambrecht zu einer Kurzintervention gemeldet hat, auf die Sie erwidern dürfen. Bitte schön, Frau Kollegin Lambrecht.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bei allem Respekt, dass das Ihre erste Rede ist, Herr Buschmann: Ich glaube, was Recht ist, muss auch Recht bleiben. Es war keineswegs die FDP, die in diesem Hause für die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften gekämpft hat. Es war Rot-Grün. Die FDP ist zum damaligen Zeitpunkt - da Sie neu dabei sind, können Sie das vielleicht nicht wissen; aber offensichtlich haben Sie sich auch nicht die Mühe der Recherche gemacht - sogar vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, weil sie die Verfassungswidrigkeit der Regelung festgestellt haben wollte. Darüber hinaus bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht die FDP war, die die Union zu der Einsicht gebracht hat, dass man eine Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe in bestimmten Teilbereichen akzeptieren muss, sondern es war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Daher bitte ich Sie, diese Tatsachen auch bei Ihrer ersten Rede zur Kenntnis zu nehmen und das, was Sie behauptet haben, nicht einfach so stehen zu lassen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Buschmann zur Erwiderung, bitte.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich mache es ganz kurz. ({0}) Selbstverständlich hat die FDP immer die Vorreiterrolle übernommen. Ich möchte Sie nicht daran erinnern müssen, dass es der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt ist, dem ein Diktum nachgesagt wird, das an diskriminierendem Inhalt nicht zu überbieten ist. ({1}) Sie alle wissen, was ihm nachgesagt wird. Ich erlaube mir, dieses Zitat nicht zu wiederholen. Die SPD hat sich an ganz vielen Stellen verweigert. Die FDP war stets die treibende Kraft. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Buschmann, so mancher überhebliche Reiter ist schon vom Pferd gefallen. Nur zu Ihrer Information: Im September 1991 hat die damalige Gruppe der PDS/Linke Liste als Erste die Diskussion über die ersatzlose Streichung des § 175 StGB angestoßen. Dass wir heute in erster Beratung über drei gleichlautende Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen sprechen, ist natürlich auch Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses. Das muss man zur Kenntnis nehmen. ({0}) Es geht nicht darum, wer sich welche Orden an die Brust heften kann. Es geht um den Schutz, den Respekt und die Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Transsexuellen, Transgendern, Bisexuellen, Intersexuellen und natürlich von heterosexuellen Frauen und Männern. Es geht um den Schutz der sexuellen Identität. Engagierte Lesben und Schwule haben es erneut auf die politische Agenda gesetzt. Sie sind dabei von Politikerinnen und Politikern aller Parteien unterstützt worden. Ole von Beust hat im Oktober im Bundesrat darüber gesprochen. Vom Münsteraner CDU-Oberbürgermeister, Berthold Tillmann, bis zum Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes, Theo Zwanziger, reicht die Unterstützung. Das ist bemerkenswert. Er hat sein Engagement in den letzten Tagen wiederholt, er als Chef des Deutschen Fußball-Bundes, der letzten „Bastion des heterosexuellen Mannes“; denn hier weiß Mann, was Diskriminierung bedeutet. ({1}) Ich erlaube, Theo Zwanziger zu zitieren: Ich habe in letzter Zeit mit einigen Leuten geredet, die in dieser Situation sind, und sie haben mir vermittelt, weshalb sie sich nicht outen wollen. Es hängt damit zusammen, dass für einen Homosexuellen im Fußball die persönlichen Bindungen, die Freude am Sport und auch das Geldverdienen verloren gehen können, wenn er sich outet. Das ist immer noch gesellschaftliche Realität in der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Schwule Fußballprofis heiraten dann eben mal zum Schein und versuchen alles Mögliche. Es nutzt eben nichts, dass es inzwischen lesbische Politikerinnen und schwule Politiker, homosexuelle Fernsehjournalistinnen und -journalisten oder vielleicht Künstler gibt. In der gesellschaftlichen Realität gibt es immer noch keine vollständige Gleichstellung. Auch wenn der Deutsche Bundestag mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz einen umfassenden Diskriminierungsschutz beschlossen hat und auch wenn im vergangenen Jahr das bekannte Urteil ergangen ist, nutzt dies nichts. Wir sind dennoch in der Verantwortung, hier Art. 3 des Grundgesetzes zu ändern. Dies hätte verschiedene Wirkungen. Die rückholende Wirkung nach hinten, die den § 175 betrifft, wurde schon genannt. Es geht aber auch um die Frage einer Normsetzung nach vorn, sowohl für den rechtlichen Bereich - dies hätte unmittelbare Wirkungen; das wissen Sie - als auch für den außerrechtlichen Bereich. Wir halten es für notwendig, hier tatsächlich eine Norm zu setzen. In der Debatte hier spielte es mehrmals eine Rolle, dass kaum noch offene Diskriminierungen vorkommen. Im Bundesrat gibt es jetzt die Initiative dreier Länder; Brandenburg hat sich angeschlossen. In einigen Bundesländern steht der Schutz schon in der Landesverfassung. Aber schauen Sie sich die Realität an! In Thüringen steht es in der Landesverfassung. Aber wenn sich dort ein schwules oder lesbisches Paar, vielleicht im schönsten Weiß, eintragen lassen will, muss es zum Ordnungsamt gehen und steht dann mit Leuten in einer Reihe, die vielleicht Geld bezahlen müssen, weil sie falsch geparkt haben. Ist das würdevoll? Das Antidiskriminierungsgebot steht dort in der Verfassung; es wird aber nicht umgesetzt. Jetzt hat die Fraktion Die Linke im Landtag in Thüringen eine Möglichkeit, dagegen zu klagen; wir tun es und hoffen, dass dann die Diskriminierung beseitigt wird. ({3}) Die Grundgesetzänderung, die wir verlangen und für die die einfache Mehrheit schon vorhanden war, ist jetzt notwendig. Für sie ist es Zeit, und sie steht uns allen einfach gut zu Gesicht, über alle politischen Parteien hinweg. Deshalb sollten wir das schnell und sachlich erledigen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stephan Harbarth von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist unnötig. Die von der Opposition vorgeschlagene Verfassungsänderung ist überflüssig. Der Bundesrat hat sie deshalb bereits völlig zu Recht abgelehnt, ({0}) und CDU/CSU werden sie auch im Deutschen Bundestag aus diesem Grunde völlig zu Recht ablehnen. ({1}) Über Fraktionsgrenzen hinweg eint uns das Ziel, gesellschaftliche Minderheiten zu schützen. Über Fraktionsgrenzen hinweg werben wir gemeinsam für Toleranz und wenden wir uns gemeinsam gegen die Diskriminierung von Teilen unserer Gesellschaft. Über Fraktionsgrenzen hinweg verurteilen wir gemeinsam die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität. Die christlich-liberale Koalition hat dies in ihrer Koalitionsvereinbarung sehr deutlich herausgestellt. Die Koalitionsvereinbarung sieht vor, dass die Ausgewogenheit von Rechten und Pflichten eingetragener Lebenspartnerschaften verbessert wird. Sie sieht vor, dass die familien- und ehebezogenen Regelungen über Besoldung, Versorgung und Beihilfe auf Lebenspartnerschaften erstreckt werden. Sie sieht vor, dass gleichheitswidrige Benachteiligungen im Steuerrecht abgebaut werden. Das sind die Themen, an denen wir arbeiten müssen, nicht an Schaufensterprojekten, wie Sie sie heute präsentieren, meine Damen und Herren. ({2}) Heute geht es nicht um die Frage: Wer ist gegen Diskriminierung? Heute geht es vielmehr um die Frage: Brauchen wir eine Änderung des Grundgesetzes? Unser Grundgesetz ist das Fundament unserer staatlichen Ordnung. ({3}) Deshalb sollten wir nicht leichtfertig nach Änderungen des Grundgesetzes rufen. Wir sollten nur dort Hand ans Grundgesetz anlegen, wo dies inhaltlich notwendig ist. Dies ist hier eindeutig nicht der Fall. ({4}) Wer unsere Verfassung als Ort für Symbolpolitik ansieht, wer unsere Verfassung als Versandhauskatalog zur Erfüllung politischer Wünsche betrachtet, der entwertet unsere Verfassung. ({5}) Genau das wollen wir nicht. ({6}) Schon heute ist klar: Wer andere diskriminiert, wer andere wegen ihrer sexuellen Identität in die gesellschaftliche Ecke drängt, wer andere wegen ihrer sexuellen Identität beleidigt, der verstößt schon heute gegen geltendes Recht. Diese Entscheidung unserer Rechtsordnung ist richtig. Unsere Verfassung enthält schon heute klare Vorgaben gegen Diskriminierung. Das im Grundgesetz verbürgte allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die persönliche Lebenssphäre. Es schützt damit auch die sexuelle Identität und die sexuelle Orientierung eines Menschen. In Art. 3 des Grundgesetzes ist es in Stein gemeißelt: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Dieser Maßstab bindet die öffentliche Gewalt und wirkt weit darüber hinaus in wichtige Teile unserer Privatrechtsordnung hinein. Vor Diskriminierung schützt aber nicht nur das Grundgesetz. Vor Diskriminierung schützt zugleich unser einfaches Gesetzesrecht: im Arbeitsrecht, im Beamtenrecht, im Sozialrecht und ebenso in weiteren Rechtsgebieten. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz wird sogar als Gesetzesziel ausdrücklich genannt, Benachteiligungen wegen der sexuellen Identität zu verhindern und zu beseitigen. Der Befund ist also eindeutig: Unser Grundgesetz und unsere einfachen Gesetze schützen klar und wirksam vor Diskriminierung. Sollten Gesetze den Vorgaben unserer Verfassung einmal nicht entsprechen, dann ist die Rechtsprechung gefordert. Wir sehen: Die Rechtsprechung erfüllt ihre Aufgabe zuverlässig und gewissenhaft. Dies belegt das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli vergangen Jahres zur betrieblichen Hinterbliebenenrente.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Harbarth, obwohl das Ihre erste Rede ist, möchte Ihnen Herr Beck gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck hatte heute schon genug Gelegenheit, sich zu produzieren. Ich möchte gerne in meiner Rede fortfahren. ({0}) Der Beschwerdeführer hatte die Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Hinterbliebenenrente gerügt. Das Bundesverfassungsgericht hat ihm gerade nicht gesagt: Es tut uns leid, aber Art. 3 des Grundgesetzes hilft hier nicht weiter. - Vielmehr hat es dem Beschwerdeführer recht gegeben, und zwar ohne dass es dazu die von Ihnen vorgeschlagene Verfassungsänderung benötigt hätte. Der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ war als Grundlage völlig ausreichend. Damit ist klipp und klar: Kein einziges der Argumente, die heute vorgetragen wurden, rechtfertigt eine Verfassungsänderung. Sie berufen sich zur Begründung Ihres Gesetzentwurfs auf das Unrecht, das Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund ihrer sexuellen Identität widerfahren ist. Gewiss, das erlittene Unrecht ist Verpflichtung zu wirksamem verfassungsrechtlichen Schutz vor einer Wiederholung solchen Unrechts. Aber genau dies leistet das Grundgesetz schon heute. Genau dies leistet auch unsere Verfassungswirklichkeit schon heute, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts belegt. ({1}) Sie berufen sich weiterhin auf die bewusstseinsprägende Wirkung einer Grundgesetzänderung. Aber Bewusstseinsprägung - lassen Sie sich das gesagt sein - ist nicht die wesentliche Aufgabe einer Verfassung. Das ist vielmehr Aufgabe aller, die sich im Sinne gesellschaftlicher Ziele einsetzen, also Aufgabe von uns allen. Deshalb sollten wir engagiert für unsere gesellschaftlichen Werte eintreten. Aber wir sollten am Grundgesetz nicht leichtfertig herumbasteln. Das sind wir unserer so erfolgreichen Verfassung schuldig. Dass Sie vonseiten der Opposition wieder einmal nach einer Verfassungsänderung rufen, entspricht Ihrem Politikansatz: Sie entdecken ein Übel und wollen es verbieten. Das ist bequem und lässt sich in Presseerklärungen gut verkaufen. Die Philosophie „Ich mache ein Gesetz, und die Welt wird ein besserer Ort“ ist aber zu dünn. ({2}) Deshalb machen Sie es sich mit Ihrem Gesetzentwurf zu einfach. ({3}) Das klare öffentliche Wort und die Zivilcourage eines jeden Einzelnen sind gefragt, nicht die Änderung des Grundgesetzes. Deshalb werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Harbarth, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Für Sie gilt ebenfalls, dass Sie weiterhin aufmerksam sein sollten; denn der Kollege Beck hat eine Kurzintervention beantragt. Er erhält jetzt die Gelegenheit dazu. Bitte schön, Herr Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Harbarth, bislang beschränkte sich die Zivilcourage der Unionsfraktion eigentlich darauf, alle Anträge und Vorstöße zur Gleichstellung von Lesben und Schwulen im Bundestag abzulehnen. Das haben wir in den letzten Jahrzehnten immer wieder erfahren. Sie haben hier wortreich erklärt, wie man Verfassungsrechtsänderungen diskutieren sollte: Es soll keine Klarstellungen im Text geben, und es soll auch keine symbolische Bedeutung haben. - Ich habe gehört, dass Sie in der Koalition vereinbart haben, „Deutsch“ ins Grundgesetz zu schreiben. Dazu gibt es eine Beschlusslage der CDU Deutschlands - auf Antrag des Landesverbands Saar -, die folgenden Wortlaut hat: Die CDU Deutschlands setzt sich für die Verankerung der deutschen Sprache im Grundgesetz ein. Dies soll durch einen Zusatz in Artikel 22 des Grundgesetzes erfolgen, mit dem Wortlaut: - man beachte das, weil der Satz zahlreiche neue Erkenntnisse enthält „Die Sprache der Bundesrepublik ist - raten Sie! Deutsch“. Wie wird das vom Landesverband der CDU begründet? Es heißt da: Durch die Erhebung der deutschen Sprache in den Verfassungsrang machen wir deutlich, welche Bedeutung und Wertschätzung wir unserer Sprache einräumen. Durch die Erhebung des Diskriminierungsschutzes für Lesben und Schwule in den Verfassungsrang wollen wir deutlich machen, dass der Respekt vor der Würde aller Menschen, auch der von Lesben und Schwulen, bei uns eben Verfassungsrang hat. Wir wollen das entsprechend hervorheben. Wenn Sie die Worte, die Sie hier geäußert haben, ernst meinen, müssten Sie sagen: Die Union lässt die Forderung, die ich gerade zitiert habe, fallen, weil das nicht in ihr verfassungsrechtliches Konzept passt. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Kollege Harbarth, zur Erwiderung.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege Beck, ich komme aus einem Bundesland, aus Baden-Württemberg, in dem führende Repräsentanten der CDU und Repräsentanten der Landesregierung beispielsweise Schirmherrschaften für Veranstaltungen von Schwulen und Lesben übernommen haben. ({0}) Lieber Herr Beck, das ist möglicherweise bei Ihnen noch nicht angekommen. Das passt nicht in das Bild, das Sie von der Union zeichnen wollen. Wir sind wesentlich weiter, als Sie denken. ({1}) Herr Beck, Sie können über Deutsch in der Verfassung lange fabulieren, es ändert nichts daran, dass in dem Punkt, den wir heute im Plenum diskutieren, der Schutz, den die Verfassung etabliert, völlig ausreichend ist. Daran ändern Ihre Ausführungen nichts! Deshalb lassen wir das Grundgesetz so, wie es ist. Es ist die beste Verfassung, und so soll es bleiben. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/88, 17/254 und 17/472 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einstieg in die Kopfpauschale - Weniger Netto vom Brutto für die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung ({0}) - Ich bitte die Kollegen, die dieser Debatte nicht folgen wollen, den Saal zu verlassen, damit die anderen ihre Aufmerksamkeit dem Redner widmen können. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Fritz Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil eine Reihe von gesetzlichen Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben werden. Ihre Wirtschaftspolitik folgt der Melodie „mehr netto vom Brutto“. Viele Menschen haben demnächst allerdings weniger netto vom Brutto; denn das, was die Leute als Zusatzbeiträge zu zahlen haben, fehlt ihnen im Geldbeutel. ({0}) Ich persönlich finde, dass ein gehörig Maß an Heuchelei in der Debatte ist. ({1}) Die Zusatzbeiträge, die jetzt erhoben werden, sind nämlich ein konstitutiver Teil des Gesundheitsfonds, den die Große Koalition vor einigen Jahren beschlossen hat. Sie haben einen strukturell unterfinanzierten Gesundheitsfonds beschlossen - so lautete unsere damalige Kritik und das Erheben von Zusatzbeiträgen einkalkuliert. Man darf sich deswegen jetzt nicht wundern und sagen: Huch, die Zusatzbeiträge kommen auch noch. Ich muss die Abgeordneten der Union fragen, ob sie bei der Inkraftsetzung des Meisterwerks Gesundheitsfonds von Frau Merkel eigentlich dabei waren. ({2}) Die Überraschung, die Frau Merkel jetzt an den Tag legt, ist doch nur geheuchelt. Diejenigen von der Union oder von der SPD, die sich an diesen Zusatzbeiträgen jetzt stören, müssen einmal deutlich sagen, dass es ein Fehler war, diesen Gesundheitsfonds einzurichten; schließlich ist das Erheben von Zusatzbeiträgen ein konstitutives Element dieses Fonds, durch das einer so einseitigen Verteuerung - nicht zulasten der Arbeitgeber, sondern ausschließlich zulasten der Arbeitnehmer und der Arbeitslosen - Tür und Tor geöffnet wird. Das haben Sie verursacht; also müssen Sie jetzt auch dazu stehen. ({3}) Es bedarf keines Verweises auf das Kartellamt oder etwas anderes; denn Sie haben den Gesundheitsfonds beschlossen. Das, was Sie beschlossen haben, können Sie ändern, wenn Sie es wollen. Für uns ist klar: Diese Zusatzbeiträge bedeuten eine weitere Entsolidarisierung des Gesundheitssystems. Sie führen dazu, dass die Parität weiter verschlechtert wird, und sie führen auch zu sozialen Schieflagen. Personen in Arbeitslosengeld-II-Haushalten müssen diese 8 Euro bezahlen; Gutverdiener können sie sogar von der Steuer absetzen. Das heißt, es entsteht eine zusätzliche Schieflage. Wir müssen mit diesem Unsinn Schluss machen. Sorgen Sie dafür, dass Zusatzbeiträge nicht mehr erhoben werden können! ({4}) Es gibt eine besondere Perfidie. Die SPD hat in diesem falschen System Gott sei Dank immerhin die 1-Prozent-Grenze durchgesetzt. Die CDU hat durchgesetzt, dass die 1-Prozent-Grenze als Belastungsobergrenze erst ab einem Zusatzbeitrag von 8 Euro gilt. Weil die Große Koalition diese Untergrenze eingezogen hat, verlangen einige gesetzliche Krankenkassen jetzt 8 Euro. Ohne diese Untergrenze wäre die Entwicklung ganz anders; das muss man der Wahrheit halber schon sagen. ({5}) Wir finden, dass diese Zusatzbeiträge als Teilelement des Gesundheitsfonds nichts anderes sind als der Einstieg in eine Kopfpauschale. Wenn man beim Gesundheitsfonds die 1-Prozent-Grenze und die 95-ProzentGrenze abschafft, kann man schrittweise zu einer Kopfpauschale übergehen. Wir halten eine Kopfpauschale für grundfalsch, weil sie eine Entsolidarisierung der gesetzlichen Krankenversicherung bedeutet. Vor allem wird durch sie das Prinzip geschwächt, dass diejenigen, die breitere Schultern haben, mehr einzahlen - bis zur Beitragsbemessungsgrenze -, damit alle Menschen in diesem Land vor den Kosten von Krankheit geschützt sind. ({6}) Gesundheitsminister Rösler hat erklärt, er wolle mit den Zusatzbeiträgen nichts zu tun haben; dafür macht er freundlich die CDU verantwortlich. Er hat gesagt, diese Beiträge seien nicht sozial. Das ist richtig. Was die Kopfpauschale angeht, setzt er auf eine Regelung über einen Steuerausgleich. Er möchte, dass Solidarität über das Steuersystem praktiziert wird. Wir halten das für falsch. Wenn Solidarität über das Steuersystem praktiziert wird, ist der Bezug viel indirekter als in der gesetzlichen Krankenversicherung. Herr Rösler, darüber müssen wir uns einmal unterhalten. Bis zur Beitragsbemessungsgrenze in die gesetzliche Krankenversicherung und damit in ein und denselben Topf einzuzahlen, ist doch etwas anderes, als abstrakt etwas mehr Steuern zu zahlen. ({7}) Unser Hauptkritikpunkt an Ihrem System ist, dass Sie die damit verbundenen Kosten von maximal 35 Milliarden Euro nicht decken können und dennoch so tun, als könnten Sie diese Politik betreiben. ({8}) Wir wollen nicht vergessen, was Sie in der Steuerpolitik vorhaben: Sie wollen die Progression aushebeln, einen Stufentarif schaffen, einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent beschließen und somit für die Spitzenverdiener eine Art steuerliche Flatrate herbeiführen. Wer wie die FDP so etwas befürwortet, der kann mir nicht erzählen, dass die Bestverdienenden nach Umsetzung dieser Pläne einen größeren Solidaritätsbeitrag leisten, als es gegenwärtig der Fall ist. Wenn Sie, Herr Rösler, Probleme mit der Solidarität haben, dann sollten Sie darüber nachdenken, ob die Beibehaltung der Beitragsbemessungsgrenze richtig ist, aber nicht solch einen Unsinn in diesem komplexen System machen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kuhn.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Aber selbst dann, wenn man das ablehnt, was Sie vorhaben, haben wir immer noch eine Zweiklassenmedizin und ein falsches Gesundheitssystem. Dagegen müssen wir sowohl auf der Ausgaben- wie auf der Einnahmeseite etwas tun. Wir haben ein vernünftiges Konzept. Wir schlagen eine Bürgerversicherung vor, die die Solidaritätsbasis verbreitert und damit Solidarität erneuert und nicht abschafft, wie von der FDP vorgesehen. Danke. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu dem, was Herr Kuhn gesagt hat, ist festzuhalten: Die christlich-liberale Koalition steht für mehr netto vom Brutto. ({0}) Wir sind es, die mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz jährlich für Entlastungen von Bürgern und Unternehmen in Höhe von 8,5 Milliarden Euro sorgen. Wir sind es, die einen Schutzschirm für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer spannen und die konjunkturbedingten Mindereinnahmen in der Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung mit Steuermitteln auffangen. ({1}) Von diesen Maßnahmen profitieren vor allem Familien und Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen, und mit diesen Maßnahmen, Herr Kuhn, helfen wir, die Lohnnebenkosten stabil zu halten. Dies tun wir, um in der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland Arbeitsplätze zu sichern. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung werden im Jahr 2010 die Einnahmen voraussichtlich um rund 7 Milliarden Euro übersteigen. Ursache dieses Defizits ist im Wesentlichen nicht eine Ausgabenexplosion, sondern die Einnahmeschwäche der gesetzlichen Krankenversicherung infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise. ({2}) Es ist die christlich-liberale Koalition - das ist entgegen dem, was Sie hier ständig behaupten, festzuhalten -, die in dieser Situation die Krankenversicherten nicht alleinlässt. Deshalb stellen wir der Krankenversicherung 3,9 Milliarden Euro mehr aus Steuermitteln zur Verfügung. ({3}) Damit werden 2010 rund 9 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung aus Steuermitteln finanziert. Dies ist gegenüber 2008 viereinhalbmal mehr und ein deutlicher Beleg für Solidarität; denn Gutverdiener tragen den Löwenanteil des Steueraufkommens. Dennoch wissen wir alle, dass so das erwartete Defizit in der Krankenversicherung nicht vollständig aufgefangen werden kann; denn wir haben natürlich auch Ausgabensteigerungen zu erwarten. Ich darf daran erinnern, dass in der letzten Legislaturperiode Verbesserungen bei der ambulanten Versorgung und im Krankenhausbereich und damit einhergehende Ausgabensteigerungen politisch und gesellschaftlich gewünscht waren. ({4}) Es bestand auch in diesem Hohen Hause ein ganz breiter gesellschaftlicher Konsens, im Zuge der Einführung des Gesundheitsfonds auch Leistungen auszuweiten. Denjenigen, die an all das nicht mehr erinnert werden wollen, sei gesagt: Ihr Platz ist zu Recht in der Opposition. Nutzen Sie diesen zur politischen Reha! Sie haben es nötig. ({5}) Fünf gesetzliche Krankenkassen haben nun angekündigt, Zusatzbeiträge einzuführen. Damit müssen von 70 Millionen Versicherten laut Medienberichten rund 7 Millionen zahlende Mitglieder mit einem Zusatzbeitrag von 8 Euro rechnen. Die Barmer GEK, die größte deutsche Krankenversicherung mit 8,5 Millionen Versicherten, macht dies beispielsweise nicht. Dies bestätigt: Die Erhebung von Zusatzbeiträgen kann durch wirtschaftliches Agieren vermieden werden. Die Erhebung von Zusatzbeiträgen in dieser Situation ist kein Naturgesetz. ({6}) Der kassenindividuelle Zusatzbeitrag stellt für die Krankenkassen ein zusätzliches Wettbewerbsinstrument dar. Jetzt ist es an den von der Erhebung von Zusatzbeiträgen betroffenen Versicherten, zu entscheiden, ob sie nach Abwägung aller Vor- und Nachteile in ihrer Kasse bleiben oder in eine andere Kasse wechseln. ({7}) Diese Entscheidung zu fällen, kann man wirklich jedem in dieser Bundesrepublik zumuten. Das ist Ausdruck eines mündigen, eigenverantwortlichen Patienten und Versicherten. Die Opposition - auch der Teil, der das GKV-WSG verfasst hat - ist selbstverständlich schnell mit abstrakten Hinweisen auf Einsparmöglichkeiten auf dem Markt, bezeichnenderweise auch die Krankenkassen selbst. Es wird Aufgabe der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode sein, konkrete Einsparpotenziale zu heben. Dabei ist auch das Instrument des Vertrages, des Gebens und Nehmens, sicherlich sinnvoll. Ich plädiere dafür, die möglichen Einsparpotenziale durch Effizienzsteigerungen gründlich zu erarbeiten und nicht auf die Schnelle etwas auf den Weg zu bringen. Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. In diesem Sinne wünsche ich dem Bundesgesundheitsminister und der Koalition bei ihren Bemühungen alles Gute. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Lauterbach von der SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Medien ist in diesen Tagen zu lesen, dass Gesundheitsminister Rösler jetzt den Kampf gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen aufnehmen möchte. ({0}) Gleichzeitig ist zu hören, dass er sofort zur schärfsten Waffe des neuen Politikstils greift: Man will sich mit den Lobbyisten der Pharmaindustrie am runden Tisch treffen. Vielleicht ist die Industrie tatsächlich bereit, eine Spende an den Bürger zu entrichten, nachdem der wichtigste Pharmakritiker, Professor Sawicki, geopfert wurde. ({1}) Aber wie viel wahrscheinlicher ist es, dass dabei nichts herauskommt als heiße Luft und ein paar salbungsvolle Absichtserklärungen? Nicht ein einziger Euro in diesem System wird durch Kuschelrunden mit den Lobbyisten aus der Pharmaindustrie gespart werden können. ({2}) Herr Kollege Rösler, wenn Sie sich mit der Pharmaindustrie an einen Tisch setzen und um Sparvorschläge bitten, dann ist das so ähnlich, als wenn Sie die Frösche bitten würden, Vorschläge zur Trockenlegung der Sümpfe vorzutragen. ({3}) Ist ein ehemaliger Wirtschaftsminister wirklich so naiv, zu glauben, die Industrie würde Vorschläge zur Beschränkung der eigenen Gewinne vortragen? Wir brauchen keine Kuschelrunden mit den Lobbyisten, sondern wir brauchen ganz konkrete Vorschläge, wie im Gesundheitssystem gespart werden kann. Dazu gehört zum Beispiel - statt der jetzt vorgesehenen Einschränkung der ohnedies nicht weitgehenden Vorschläge - die Erweiterung der Möglichkeiten der Kassen, Rabattverträge mit den Arzneimittelfirmen einzugehen. Zudem muss ermöglicht werden, dass die Arzneimittel in Deutschland billiger auf den Markt kommen. Unsere Arzneimittel werden nicht innovativer, nur weil sie zu höheren Preisen auf den Markt kommen. ({4}) Die Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Man braucht politisches Kapital, um sie umzusetzen. Wir benötigen nicht die Erlaubnis der Pharmaindustrie, in der Politik solche Vorschläge zu machen. ({5}) Bisher hören wir bei den Empfängen von den Apothekern, den Fachärzten und der Industrie, dass ein neuer Politikstil zu erwarten ist, auf den man sich freue. Der Bürger dagegen soll schrittweise an ein neues System der Kopfpauschalen gewöhnt werden. Er soll sozusagen über kleine Kopfpauschalen auf die großen Kopfpauschalen vorbereitet werden. Aber wie logisch ist das Prinzip, die kleine Kopfpauschale als ungerechten Murks abzutun, aber gleichzeitig für die große Kopfpauschale zu werben, für die man keinen sozialen Ausgleich konkret benennen und die man nicht bezahlen kann? Wie soll das funktionieren? Glaubt denn die Koalition tatsächlich, der Bürger wäre so dumm, zu glauben, dass die kleine Kopfpauschale ungerecht ist, die große Kopfpauschale sei es aber nicht? Für wie dumm hält man den Bürger? ({6}) Der Bürger wird genau sehen - Frau Merkel hat das längst bemerkt -, dass dafür weder Geld im Haushalt vorhanden ist noch die Unterstützung der Bevölkerung gegeben ist. Wer in der Bevölkerung verlangt denn derzeit eine einkommensunabhängige Kopfpauschale, bei der die Putzfrau so viel bezahlt wie der Bankkaufmann oder der Manager? Wer braucht das heutzutage? Worauf würden denn diese Vorschläge hinauslaufen? Die Vorschläge liefen doch nur darauf hinaus, dass die Arbeitgeber und die Gutverdiener mit einer Steuersubvention entlastet würden. Das wären die Einzigen, die davon profitieren würden. Weshalb brauchen wir in der Zeit von Minilöhnen, in der die Leute von ihrem Nettolohn kaum leben können, eine Belastung der Nettolöhne durch neue Pauschalen und eine zusätzliche Belastung der Steuerzahler, nur damit Arbeitgeber und Gutverdiener weiter entlastet werden? Das will doch niemand in Deutschland. ({7}) Die Wähler werden bei der Landtagswahl in NordrheinWestfalen der FDP für diese Vorschläge, die als Bedrohung empfunden werden, die Quittung geben. ({8}) Was wir derzeit brauchen, sind Vorschläge für echten Wettbewerb. Die FDP posiert gerne als Partei des Wettbewerbs. In Wahrheit aber sind die FDP und die Links1804 partei beim Wettbewerb Brüder im Geiste. Das sind die beiden Parteien, die den Wettbewerb im Gesundheitssystem am vehementesten ablehnen. ({9}) Niemand hat mehr Angst vor dem Wettbewerb im Gesundheitssystem als die Linkspartei und die FDP, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen; das ist ganz klar. ({10}) Aber Apotheker, Pharmaindustrie und Fachärzte haben hohe Erwartungen. Mein letzter Rat, da meine Zeit abgelaufen ist: ({11}) Die FDP tut den Staat als teuren Schwächling ab. Gleichzeitig soll dieser teure Schwächling den Sozialausgleich für die Entlastung der Gutverdienenden liefern. Nicht, dass zum Schluss die ersten Repräsentanten des Staates als die wirklichen Schwächlinge im Umgang mit den Lobbygruppen dastehen! Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Flach von der FDP-Fraktion. ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lauterbach, ich muss mich erst einmal im Namen der FDP-Fraktion für die ordnungsgemäße Übergabe des maroden Gesundheitssystems bedanken, das Sie uns im November hinterlassen haben. ({0}) Haben Sie eigentlich eine Erinnerung daran, was Sie uns hinterlassen haben? Wer hat denn dafür gesorgt, dass jetzt Zusatzbeiträge erhoben werden? ({1}) Wer hat denn dieses Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht? Wer hat denn für die Unterfinanzierung im System gesorgt? Das war doch von vornherein so gewollt. Sie wollten doch, dass Zusatzbeiträge erhoben werden. Jetzt erzählen Sie den Leuten, dass die FDP ({2}) oder die CDU daran schuld sei, dass so etwas passiert. Über unseren Koalitionspartner will ich jetzt gar nicht reden. ({3}) Aber über die FDP kann ich sehr gut reden; denn wir sind überhaupt keine Verfechter dieses Systems. Es ist unsozial, weil dieser Zusatzbeitrag jeden trifft. Genau das, was Sie uns vorwerfen, tun Sie doch mit Ihrem System. ({4}) Der Zusatzbeitrag wirkt natürlich bei jemandem, der wenig verdient, in einem ganz anderen Ausmaß als bei jemandem, der viel verdient. ({5}) Beide zahlen gleich viel. Wo ist denn da die Gerechtigkeit, die Sie einfordern? ({6}) Der Einzige, der etwas für die Menschen in diesem Land getan und dafür gesorgt hat, dass sie auf die Partei vertrauen können, die sie gewählt haben, weil sie dafür steht, dass mehr netto vom Brutto bleibt, ist doch Philipp Rösler. ({7}) Wer hat denn dafür gesorgt, dass der Zuschuss kam? Das war doch nach der Wahl, nicht vor der Wahl. Sie haben uns ein System überlassen, in dem genau diese 3,9 Milliarden Euro fehlen. ({8}) Natürlich kann man in jeder Fernsehsendung neu erzählen, die anderen seien schuld ({9}) und man hätte schon über Weihnachten Ausgabenstoppprogramme produzieren müssen. Aber, lieber Herr Lauterbach, wo waren denn Ihre Ausgabenstoppprogramme? ({10}) Sie haben doch vor der Wahl jede Menge Mehrkosten auf den Weg gebracht. ({11}) Wer war das denn? Das war nicht Herr Rösler. Herr Rösler muss in dieser Legislaturperiode ein System schaffen, das für die Menschen in Zukunft etwas Positives darstellt. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Wir sagen: Jeder soll eine einkommensunabhängige Prämie zahlen, und derjenige, der dies nicht kann, bekommt einen Sozialausgleich. ({12}) Genau das fehlt in Ihrem System. Dieses Element wird es in dem Konzept geben, das wir auf den Tisch legen werden. Sie sagen, Herr Rösler habe zu lange gewartet, bis er reagiert hat. Wir werden in diesen Tagen die Arbeit der Kommission in Angriff nehmen. Die Kommission wird uns bis Mitte des Sommers Vorschläge unterbreiten. Sie hat an erster Stelle den Auftrag, einen Sozialausgleich herbeizuführen, lieber Herr Lauterbach. Nicht den Reichen soll mehr gegeben werden, sondern es soll dafür gesorgt werden, dass es in Zukunft einen entsprechenden Sozialausgleich im Gesundheitssystem gibt. ({13}) Wir wollen das nicht auf die bürokratische Art und Weise machen - das posaunen Sie ja immer so wunderschön in der Welt herum -, wie der Gesundheitsfonds jetzt agiert. ({14}) - In einer Aktuellen Stunde kann man leider keine Zwischenfrage stellen. - Das jetzige System ist von Bürokratie geprägt. Der Gesundheitsminister hat allen ein unbürokratisches System versprochen. Der Sozialausgleich wird so einfach wie möglich gefasst. Das ist die Aufgabe der Kommission. Mit dieser Perspektive werden wir in die nächsten Monate gehen. Lieber Herr Lauterbach, zum Thema, wie wir mit Ausgabensteigerungen umgehen. Nicht nur, dass wir erst einmal damit umgehen müssen, was wir von Ihnen überlassen bekommen haben! Herr Rösler hat vor wenigen Tagen gesagt, dass jetzt Teilgebiet für Teilgebiet seziert wird. Es wird nachgedacht, und dann wird gehandelt, und zwar in überlegten Schritten, ({15}) nicht in hastigen Kostendämpfungsschritten, wie es unsere Freundin Ulla Schmidt über viele Jahre praktiziert hat. Alles, was schnell und mit heißer Nadel gestrickt wurde, haben wir wieder auf dem Tisch. Dies alles hat sich nicht bewährt, sondern zu einem System geführt, mit dem wir alle nicht zufrieden sind. Wir wissen, dass wir mit den Mitteln, die im Augenblick im Etat vorgesehen sind, nicht auskommen. Da ich auch als Haushälterin spreche, hoffe ich sehr, dass Sie vielleicht doch zu der Erkenntnis kommen, dass Sie den Vorschlägen der FDP folgen könnten. Wir machen noch ein paar Fernsehsendungen zusammen, lieber Herr Lauterbach; dann kann ich Sie vielleicht überzeugen. Ansonsten wünsche ich dem Minister alles Gute für die nächsten Monate. Es wird eine schwere Aufgabe. Aber wir sind an Ihrer Seite. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wir gerade gehört haben, werden in Kürze einige gesetzliche Krankenkassen einen Zusatzbeitrag von 8 Euro pro Versicherten einführen. Millionen Versicherte werden mit dem gleichen Eurobetrag zur Kasse gebeten, unabhängig von ihrem Einkommen. Diese kleine Kopfpauschale bereitet den Weg in die schwarz-gelbe Kopfpauschale, die dann dazu führt, dass die Rentnerin mit einer Rente von 600 Euro ebenso viel für die Krankenversicherung zahlen soll wie etwa ein Angestellter mit einem Einkommen von 3 500 Euro; das haben wir schon gehört. ({0}) - Ja, ich habe es nicht verstanden. Vielleicht erklären Sie mir das noch einmal in Ruhe. ({1}) - Herr Lanfermann, ich muss jetzt Herrn Lauterbach etwas sagen. ({2}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bei Ihnen läuft es ja immer so: Sie wollten eigentlich schon immer eine solidarische Bürgerversicherung. Aber in den sieben Jahren Rot-Grün haben Sie das nicht hinbekommen. Danach wollten Sie mit der dritten Partei, die das auch so sieht, nicht zusammenarbeiten. ({3}) Weil Sie dann mit der Union regiert haben, mussten Sie leider etwas machen, was Sie gar nicht wollten, in diesem Fall einen Gesundheitsfonds einführen, der so unterfinanziert ist, dass die gesetzlichen Krankenkassen in Schwierigkeiten kommen müssen. Weil Sie aber die Beiträge für die Arbeitgeber absolut nicht erhöhen wollten, müssen die Versicherten das Defizit alleine ausgleichen. Dafür bauen die Krankenkassen schon einmal einen Apparat auf, mit dem sie diesen Zusatzbeitrag direkt von den Mitgliedern kassieren können, inklusive Buchführung, Rechnungsstellung, Mahnverfahren und Inkasso. Damit liefern Sie die Steilvorlage für Herrn Dr. Rösler und seine FDP. Er braucht nur noch ein paar gesetzgeberische Schräubchen zu drehen und schon hat er seine große Kopfpauschale: eine Krankenversicherung, in der die Armen künftig mehr und die Reicheren weniger an Beitrag zahlen. Herr Kuhn, Herr Lauterbach, das haben Sie eindrucksvoll geschildert. So funktioniert das: Die SPD will das Soziale, aber leider kommt dann doch wieder das FDP-Modell heraus. Das ist - wir haben es von den Grünen und von der SPD gehört - ausgesprochen unsozial. ({4}) Auch in der Union wird momentan kräftig nach links geblickt, um dann umso steiler nach rechts abzubiegen. Wenn Sie, lieber Herr Kollege Spahn, im Gesundheitsausschuss unseren Antrag gegen die Kopfpauschale zur Abstimmung zugelassen hätten, dann hätte man gesehen: Sie sind gar nicht gegen die Kopfpauschale, auch wenn Herr Söder und die CSU immer mal wieder so tun als ob. Schließlich haben Sie schon alles dafür vorbereitet. In Ihrem Wahlprogramm heißt es - ich zitiere -: Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik von CDU und CSU stehen die Patienten und Versicherten. Gerade im Umgang mit Kranken, Älteren und Schwachen zeigt die Gesellschaft ihr soziales Gesicht und ihr Wertefundament. ({5}) Ihrem Wertefundament entspricht es also, dass Schwache ebenso viel schultern sollen wie Starke; denn darauf läuft das Ganze wohl hinaus. Wenn zum Beispiel Herr Dr. Rösler von Frau Dr. Merkel offenbar die klare Ansage bekommt, dass sein geplanter Sozialausgleich auf keinen Fall Kosten verursachen darf, dann bedeutet das Folgendes: Die FDP will die Kopfpauschale. Die Union will keine zusätzlichen Staatsausgaben. Das heißt, beide wollen die Kopfpauschale und keinen Sozialausgleich. ({6}) Das sagen Sie aber noch nicht, weil Sie im Mai in NRW noch gewählt werden wollen. ({7}) So viel zum Wertefundament der Union. Wir dagegen sagen: Kopfpauschalen, ob klein oder groß, sind unsozial, und deswegen lehnt die Linke sie ab. ({8}) Noch ein Wort zu Herrn Kuhn. Auch die Grünen teilen unsere Ablehnung von Zusatzbeiträgen und Kopfpauschalen. Aber erinnert sich noch jemand, wer damals die Praxisgebühr und die Zuzahlung bei Krankenhausaufenthalten oder in der Apotheke beschlossen hat? Da waren Sie doch dabei. ({9}) Damit haben Sie die Gesunden entlastet und die Kranken zur Kasse gebeten. Auch dass die Versicherten inzwischen 0,9 Prozentpunkte mehr zahlen müssen als die Arbeitgeber, geht zur Hälfte auf Ihr Konto. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, mit uns gegen die Kopfpauschale kämpfen wollen, dann ist das gut. Aber wenn Sie es ehrlich meinen, dann unterstützen Sie uns auch in unserem seit Jahren andauernden Kampf gegen Praxisgebühr, Zuzahlungen und Leistungsausschlüssen. Ich lade Sie ein: Streiten Sie mit uns für eine solidarische, paritätisch finanzierte Bürger- und Bürgerinnenversicherung, in die alle den gleichen Prozentsatz einzahlen, von der Friseurin bis zum Manager. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Herr Kuhn, Sie haben recht: Die Zusatzbeiträge waren politisch gewollt. Wir als Union stehen auch zu dem, was wir beschlossen haben und machen uns nicht wie Sie politisch vom Acker. ({0}) Herr Lauterbach, es ist schlicht und ergreifend schlechter politischer Stil, erst in der Großen Koalition etwas zu beschließen und sich dann so zu äußern, wie Sie es in den letzten Tagen getan haben. ({1}) Man muss nicht mit allem inhaltlich übereinstimmen, was Frau Schmidt getan hat. Aber an einem sollten Sie sich ein Beispiel nehmen: Sie hat zwar vieles beschlossen, was wir nicht wollten, aber sie hat immer zu dem gestanden, was sie beschlossen hat. Das ist Ihnen leider offensichtlich in Ihrem Oppositionschaos abhandengekommen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, Herr Kollege Lauterbach. ({2}) Im Übrigen zeigen Sie in einem weiteren Bereich politische Demenz. Sie sagen immer, wir sollten sparen, weil die Ausgaben stiegen. In den beiden großen Bereichen, in denen die Ausgaben steigen - bei den niedergelassenen Ärzten und in den Krankenhäusern -, haben wir gemeinsam in der Großen Koalition beschlossen, dass es zu Ausgabensteigerungen kommen soll, weil wir insbesondere für die hausärztliche Versorgung etwa in Ostdeutschland sowie für die Pflegesituation in Krankenhäusern, wo es zu Missständen gekommen ist, das nötige Geld zur Verfügung stellen wollten. ({3}) Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und sagen, dass wir sparen sollen, dann sagen Sie auch, wo zum Beispiel bei der hausärztlichen Versorgung oder beim Krankenhauspersonal gespart werden soll. Überschriften alleine lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({4}) Wir haben die lohnunabhängige Finanzierung eingeführt, weil wir die Arbeitskosten entlasten wollten. ({5}) Herr Kuhn, im Übrigen war das einmal die Argumentationslinie von Rot-Grün. Als Sie die Erhöhung um 0,9 Prozentpunkte den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allein aufgebürdet haben, war die Argumentationslogik von SPD und Grünen - als Opposition haben wir damals mitgemacht -: Wir wollen die Arbeitskosten in Deutschland entlasten, um im Wettbewerb mit anderen Ländern Arbeitsplätze dauerhaft in diesem Land zu sichern. Auch an diesem Punkt machen Sie sich langsam aber sicher vom Acker, Herr Lauterbach. ({6}) Sie sollten Ihre Argumentationslogik auch vor dem Hintergrund des Themas „Arbeitsplätze in Deutschland“ noch einmal überdenken. ({7}) Natürlich enthält der Zusatzbeitrag, so, wie er heute angelegt ist, bereits Elemente des sozialen Ausgleichs. Es gibt eine 1-Prozent-Überforderungsklausel ({8}) - insofern passt die Brutto-Netto-Debatte nicht so richtig -, bei der das Gesamteinkommen und nicht nur das lohnabhängige Einkommen berücksichtigt wird. ({9}) Das ist das Entscheidende. Es gibt viele Menschen mit kleinem Einkommen, die abhängig beschäftigt sind, die aber aus anderen Bereichen zusätzliche Einnahmen erzielen, die bis jetzt gar nicht berücksichtigt werden. Bei dieser Überforderungsklausel werden sie aber berücksichtigt. Sie haben die 8 Euro angesprochen. Früher gab es Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen. Der Beitragssatz betrug bei der einen Kasse 13 Prozent und zum Beispiel hier in Berlin 16,7 Prozent. 8 Euro entsprechen bei 1 000 Euro Einkommen einem Unterschied von 13,8 Prozent zu 14,6 Prozent Beitragssatz zu früherer Zeit. Das waren Unterschiede, die als ganz normal hingenommen wurden. Man sollte jetzt nicht so tun, als sei ein Beitragssatzunterschied der Untergang des Abendlandes. Vor zwei oder drei Jahren haben Sie solche Unterschiede zwischen den Kassen nicht so kritisiert, wie Sie es hier gerade getan haben. ({10}) Das Problem liegt darin - dieses Problems sollten wir uns in dieser Koalition annehmen -, dass der Beitrag bei der 1-Prozent-Überforderungsklausel einfach nur gekappt wird, das Geld, das dadurch nicht fließt, den Kassen aber tatsächlich fehlt. Deswegen wollen wir die Zusatzbeiträge so weiterentwickeln, ({11}) dass es zu einem Sozialausgleich aus Steuermitteln kommt. Dann sind tatsächlich alle an der Finanzierung beteiligt. Vor allem aber - das ist wichtig - kommt so bei den Kassen das entsprechende Geld an. ({12}) Wenn Sie wie vorhin die Dinge aufzählen, müssen Sie auch darauf hinweisen, dass bis jetzt erst wenige von den etwa 170 Kassen insgesamt einen Zusatzbeitrag nehmen. 50 Kassen in Deutschland - darunter auch sehr große Kassen - haben schon angekündigt, in nächster Zukunft, in diesem Jahr, keinen Zusatzbeitrag nehmen zu müssen. Vier Kassen haben sogar schon angekündigt, in diesem Jahr Prämien an ihre Versicherten ausschütten zu wollen. Wir haben für Transparenz im Versicherungsmarkt gesorgt. Die Zusatzbeiträge in Euro machen jetzt jedem den Unterschied deutlich, und jeder kann selbst entscheiden, ob ihm das Preis-Leistungs-Verhältnis der jeweiligen Kasse gefällt oder nicht. Wenn nicht, dann kann man wechseln. Genau das wollen wir im Wettbewerb der Kassen untereinander möglich machen. ({13}) Lieber Herr Kollege Lauterbach, machen Sie sich keine Sorgen über unsere Ergebnisse bei den Wahlen in Nordrhein-Westfalen oder woanders. Im Unterschied zu Ihnen haben wir im vergangenen Jahr vor der Bundestagswahl gesagt, was wir anschließend tun wollen. Wundern Sie sich nicht, wenn wir das jetzt tun, und wundern Sie sich vor allem nicht, wenn wir es in dieser christlichliberalen Koalition frohen Mutes tun. Danke schön. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Carola Reimann von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, ich verstehe ja, dass Sie sich in einer unangenehmen Situation befinden. ({0}) In nur wenigen Wochen haben Sie sich mit einer bislang beispiellosen Klientelpolitik dermaßen in eine Sackgasse manövriert, dass Sie es inzwischen mit einer ganz breiten Front der Kritik, nicht nur hier im Haus, zu tun haben. Selbst diejenigen, die wohlwollend gestimmt waren, können nur noch mit dem Kopf schütteln: erst die Klientelgeschenke für die Ärzte, für die private Krankenversicherung, für die Pharmalobby im Koalitionsvertrag - die kann man sich übrigens sparen, Herr Spahn -, dann die Berufung eines hochrangigen PKV-Vertreters an die Ministeriumsspitze und zuletzt die unrühmliche Rolle bei der Absetzung des pharmakritischen IQWiGChefs Sawicki. Jetzt holt Sie auch noch die gesundheitspolitische Realität ein. ({1}) Am Montag dieser Woche haben die ersten Kassen Zusatzbeiträge angekündigt. ({2}) Was machen Sie? Sie zeigen mit den Fingern auf die anderen: auf die Kassen und noch lieber auf die SPD. ({3}) Um es gleich vorwegzunehmen: Die SPD stiehlt sich nicht aus der Verantwortung. ({4}) Wir waren es, die die Gesundheitspolitik der letzten Jahre gestaltet haben, und natürlich haben wir nicht immer alles richtig gemacht. Darunter war vieles, das Kompromissen mit der Union geschuldet war. Nichts von dem, was beschlossen wurde, ist in Stein gemeißelt. Es ist doch selbstverständlich, dass sich eine Partei, die vom Wähler in die Opposition geschickt wurde, programmatisch weiterentwickelt und an manchen Stellen Korrekturen vornimmt. ({5}) Wir nehmen die Botschaften, die uns unsere Wählerinnen und Wähler im letzten Jahr mitgegeben haben, ernst. Es wäre gut, wenn auch Sie das täten; dann sähe Ihre Politik anders aus. Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, auch wenn es für uns und die 70 Millionen gesetzlich Versicherten unerfreulich ist: Schwarz-Gelb hat die Verantwortung in der Gesundheitspolitik. Die Wähler haben Sie in die Verantwortung gewählt. Sie können sich jetzt nicht davonstehlen. ({6}) Wenn Sie jetzt andere für Ihre eigenen Versäumnisse verantwortlich machen, machen Sie es sich zu leicht. Sie tun in den letzten Tagen gerade so, als sei der Zusatzbeitrag von der SPD erfunden worden. ({7}) Das ist grober Unfug, und das wissen Sie alle. ({8}) Dies war die Bedingung für die Zustimmung der Union zum verbesserten Risikostrukturausgleich, krankheitsorientiert, und zu weiteren wichtigen Strukturreformen. Außerdem war es die SPD - das ist auch schon angeklungen -, die darauf bestanden hat, dass es eine Überforderungsklausel gibt, dass bei 1 Prozent des Einkommens Schluss ist. Wäre es allein nach der CDU/CSU gegangen - Kollege Spahn hat es angekündigt -, hätten wir schon jetzt Zusatzbeiträge in ganz anderen Dimensionen. Für uns Sozialdemokraten war immer klar, dass es Aufgabe der Regierung ist, alle gesetzgeberischen Mittel zu nutzen, um die Erhebung von Zusatzbeiträgen zu vermeiden, beispielsweise auch durch Einsparungen im Pharmabereich. ({9}) Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Wäre die SPD noch an der Regierung, hätte sie dieser Entwicklung nicht tatenlos zugesehen, sondern Maßnahmen ergriffen, die die Zusatzbeiträge auf breiter Front verhindern. ({10}) Genau das hat Minister Rösler versäumt. Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben und niemand anderem, Herr Minister. Dass Sie sich jetzt aber auch noch hinstellen und scheinheilig die kleine Kopfpauschale beklagen, obwohl Sie selbst eine große einführen wollen, das schlägt dem Fass den Boden aus. ({11}) Ihr Ziel ist es doch, dass die Wohlsituierten künftig genauso viel zahlen wie all diejenigen, die den Euro zweimal umdrehen müssen. Das ist ungerecht und unsozial. ({12}) Der Sozialausgleich, den Sie angeblich einführen wollen, wird das Problem nicht beheben. In Wahrheit ist er nichts anderes als ein sozialpolitisches Feigenblatt, das Ihre Pläne zur Umverteilung von unten nach oben kaschieren soll. ({13}) Denn Sie wissen genauso gut wie ich - Sie sind Haushälterin -, dass Ihnen dafür schlicht das Geld fehlt. ({14}) Sie müssen allein 60 Milliarden Euro einsparen, um die Schuldenbremse einzuhalten. Woher sollen dann 25 bis 35 Milliarden Euro für einen Sozialausgleich kommen? ({15}) Das passt vorne und hinten nicht zusammen: „Das ist blanke Illusion.“ Das sind nicht meine Worte, sondern die Worte Ihres Regierungspartners Horst Seehofer, der das Ganze heute Morgen so bezeichnet hat. ({16}) Kolleginnen und Kollegen, fast 100 Tage ist Minister Rösler nun im Amt. Wir alle kennen das ungeschriebene Gesetz, dass demjenigen, der ein Amt übernimmt, eine Schonfrist zusteht. ({17}) Schonfrist bedeutet aber nicht Schlummerphase. Es reicht nicht, ein paar schön vorgetragene, aber im Kern substanzlose Reden zu halten und ansonsten alles andere laufen zu lassen, alle Weckrufe und Alarme zu ignorieren. Ich sage nur: Ergebnisse des Schätzerkreises. Das Gesundheitssystem wartet nicht, bis die Bundesregierung beschließt, mit dem Regieren zu beginnen. Die Zusatzbeiträge sind der beste Beweis: 100 Tage Rösler heißt für Millionen von gesetzlich Versicherten fast 100 Euro mehr im Jahr für ihre Krankenversicherung. Ein guter Start sieht anders aus. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jens Ackermann von der FDP-Fraktion. ({0})

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Zusatzbeitrag von 8 Euro ist keine Erfindung der FDP, sondern eine Erblast von Ulla Schmidt. ({0}) Die christlich-liberale Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, unser Gesundheitswesen zukunftsfest zu machen. Denn was mussten wir in der Vergangenheit nach jeder Wahl erleben? Nach jeder Wahl kam ein Kostendämpfungsgesetz und dann, zur Mitte des Legislaturperiode, eine große Reform, eine Jahrhundertreform des Gesundheitswesens. Das hat alles komplizierter gemacht und bürokratischer; besser - für die Versicherten - ist es aber nicht geworden. ({1}) Wir wollen eine grundlegende Reform. Wir wollen einen Krankenversicherungsschutz mit sozialem Ausgleich. Durch die Einführung des Gesundheitsfonds wurden die Probleme nicht gelöst, sondern versteckt. Um Beitragsgerechtigkeit zu gewährleisten, brauchen wir eine klare Trennung von Versicherungsleistung und Umverteilung. Die Absicherung für den Krankheitsfall soll über leistungsgerechte Prämien erfolgen. Im Gesundheitssystem unterstützt der gesunde Mensch den kranken Menschen, im Steuersystem unterstützt der reiche Mensch den armen Menschen; das ist echte Solidarität. ({2}) Die Bundesregierung, speziell der Finanzminister und unser Gesundheitsminister, hat schnell gehandelt: Zu dem Bundeszuschuss für die Krankenkassen, der schon bei 11,8 Milliarden Euro liegt, kommen 3,9 Milliarden Euro hinzu. Werte Kollegin Reimann, da kann ich nicht verstehen, wenn Sie Gesundheitsminister Rösler Untätigkeit vorwerfen. Wir konnten Anfang dieser Woche in der Berliner Zeitung lesen, dass Sie Philipp Rösler als Lurch im Winterschlaf bezeichnet haben. Ich möchte Sie bitten, persönliche Attacken zu unterlassen. ({3}) Wir können in der Sache hart miteinander streiten; aber wir sollten menschlich fair miteinander umgehen. ({4}) Ich habe selbst auf einer Krankenstation gearbeitet. Wir 6 Pflegekräfte waren für circa 30 Patienten verantwortlich. Eine von den 6 Pflegekräften war nur damit beschäftigt, sich um den Papierkram zu kümmern, die Bürokratie zu bewältigen. Das, was sie gelernt hat - Dienst am Menschen -, war nicht mehr möglich umzusetzen. Die christlich-liberale Koalition setzt sich dafür ein, den Menschen - den Ärzten, den Pflegerinnen - etwas mehr Vertrauen zu schenken, statt sie mit einer Kontrol1810 litis und einem überbordenden Bürokratiesystem zu gängeln und zu bevormunden. ({5}) Meine Damen und Herren von der Opposition, haben Sie auch etwas mehr Vertrauen in unsere Bevölkerung! Die Menschen wollen keine Zwangsbeglückung, sie wollen sich frei entscheiden - sie können es nämlich. ({6}) Ich will aber auch klar sagen: Unterstützung und Hilfe sind notwendig bei den Menschen, die dies nicht selbst können. Wettbewerb und Transparenz im Gesundheitswesen sind kein Teufelszeug, sondern die Voraussetzung für mehr Effizienz. Planwirtschaft und Einheitskasse - das hat die Geschichte gezeigt - führen in die falsche Richtung. Das ist nicht unser Ansatz in der Gesundheitspolitik. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Zusatzbeiträge. Einige Krankenkassen haben in dieser Woche angekündigt, sie notgedrungen zu erheben. Jetzt schallt es plötzlich aus Regierungskreisen und aus dem Kanzleramt: Abzocke! Haltet den Dieb! Es ist doch so: Die Zusatzbeiträge waren politisch gewollt und stehen deshalb im Gesetz. Im Übrigen sind diese Zusatzbeiträge auch von der Kanzlerin und von Frau Ministerin Aigner beschlossen worden. Ich sage: Der Versuch, anderen die Schuld zuzuschieben, ist schäbig und scheinheilig. ({0}) Die Union hat die Tatsache, dass Zusatzbeiträge vorgesehen wurden, schließlich als Einstieg in die Kopfpauschale gefeiert. Jetzt schieben Sie den Krankenkassen den Schwarzen Peter zu. ({1}) Sie sind doch für die Unterdeckung des Fonds mitverantwortlich. Mit dem Haushalt für dieses Jahr bürden Sie den Kassen sogar weitere Defizite auf; denn die von Ihnen kalkulierten krisenbedingten Einnahmeausfälle werden nur zu etwa 80 Prozent mit Steuermitteln ausgeglichen. Das heißt, es entsteht ein weiteres Defizit von 600 bis 700 Millionen Euro. Das ist eine große Zahl; es wurde von Ihnen verursacht. Sie sind offensichtlich nicht bereit, offen zu Ihren eigenen politischen Entscheidungen zu stehen. ({2}) Man kann also sagen: kein Schneid. Die Glaubwürdigkeit der Politik kann dadurch nur Schaden nehmen. ({3}) Die von Ihnen ermöglichten Zusatzbeiträge werden Bürgerinnen und Bürger mit geringen Einkommen besonders stark belasten. Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen. Der geringverdienende Wachmann in Schwerin mit einem Verdienst von weniger als 800 Euro muss mehr als 1 Prozent seines Einkommens für den Zusatzbeitrag aufwenden. ({4}) Die Überforderungsklausel funktioniert also ausgerechnet bei den Menschen nicht, die besonders darauf angewiesen sind. Glauben Sie mir: Geringverdiener gibt es nicht nur in Schwerin. Wer allerdings über ein ausreichend hohes Einkommen verfügt, kann neben dem Krankenversicherungsbeitrag auch den Zusatzbeitrag von der Steuer absetzen. Hier geht es um eine wirklich wichtige steuerpolitische Frage, mit der sich auch die FDP beschäftigen muss. So muss der verheiratete Ingenieur aus Sindelfingen mit einem jährlichen Bruttoeinkommen von beispielsweise 60 000 Euro letztlich einen Zusatzbeitrag von monatlich nur 5,50 Euro bezahlen. Die verheiratete Kassiererin in einem Supermarkt in Duisburg bezahlt den vollen Zusatzbeitrag von 8 Euro. Damit wird doch das Solidarprinzip auf den Kopf gestellt. ({5}) Der arbeitslose Werftarbeiter aus Rostock zum Beispiel soll den Zusatzbeitrag von 8 Euro aus eigener Tasche bezahlen; Hilfe von der Arbeitsagentur ist nicht in Aussicht. ({6}) - Ich komme darauf zu sprechen: Die Bundesregierung schlägt nun den Langzeitarbeitslosen vor, sie könnten zu einer Krankenkasse ohne Zusatzbeitrag wechseln. Ich halte das für zynisch; denn es ist nach Insidermeinung schon heute absehbar, dass spätestens im nächsten Jahr viel mehr Kassen von der Erhebung eines Zusatzbeitrags Gebrauch machen werden. Noch ein Wort zur FDP. Die Krokodilstränen, die die FDP und der Gesundheitsminister angesichts des Zusatzbeitrages vergießen, sind für meine Begriffe der Gipfel der Heuchelei; denn die Zusatzbeiträge sind doch nur der Einstieg, ({7}) ein Vorgeschmack auf die Kopfpauschale und andere gesundheitspolitische Pläne, die besonders die Menschen mit geringem Einkommen treffen werden. Da nützt es nichts, immer wieder zu sagen: Wir organisieren im Bereich der niedrigen Einkommen einen Sozialausgleich. ({8}) - Ja, ja. Ich sage Ihnen: In der Summe werden viele Bürgerinnen und Bürger deutlich mehr für Gesundheit zahlen müssen. ({9}) Anders als vor der Wahl von Union und FDP vollmundig angekündigt, werden die Menschen - vielleicht abgesehen von Hotelbesitzern, Steuerberatern und anderen Gutbetuchten - netto weniger haben als bisher. Ihre mit Glanz in den Augen beschworene christlichliberale Koalition läuft Gefahr, die elementarsten christlichen Werte auf den Kopf zu stellen, nach dem Motto: Nehmet den Armen und gebet den Reichen! ({10}) Ich sage: Nicht mit uns Bündnisgrünen! ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dietrich Monstadt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Uns allen dürfte klar sein, dass unsere demografisch alternde Gesellschaft einen wachsenden Bedarf an Gesundheitsleistungen haben wird. Gleichzeitig gibt es einen medizinischtechnischen Fortschritt, den wir begrüßen und für alle wollen. ({0}) Beides führt zu wachsenden Kosten. Zur Bewältigung dieser Herausforderung haben wir nur wenige Optionen. Wenn wir die Leistungen nicht kürzen oder gar streichen wollen, müssen wir die Einnahmesituation der gesetzlichen Krankenkassen verbessern. Niemand sollte die Illusion schüren, wir könnten bessere medizinische Leistungen vermehrt in Anspruch nehmen, ohne dass die Kosten steigen. ({1}) Ich darf den Hintergrund der heutigen Debatte noch einmal in Erinnerung rufen: Nach Medienberichten wird geschätzt, dass auf 7 Millionen der 70 Millionen gesetzlich Versicherten, also auf 10 Prozent, ein Zusatzbeitrag zukommt. Andere Krankenkassen teilen dagegen mit, dass sie keine Zusatzbeiträge erheben wollen. Vier Kassen wollen sogar Prämien zurückerstatten. Wir konnten in den letzten Tagen dauernd hören, dass die SPD Zusatzbeiträge jetzt prinzipiell und kategorisch ablehnt. Die Gesundheitsministerin, unter der diese Regelung in der letzten Legislaturperiode beschlossen wurde, heißt bekanntlich Ulla Schmidt. Ich habe hier ein Schreiben von Frau Schmidt aus der letzten Legislaturperiode, das an die Mitglieder der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD im Deutschen Bundestag gerichtet war. Einigen Kolleginnen und Kollegen der SPD könnte es ja noch bekannt sein. Unter der Überschrift „Mehr Wettbewerb durch Effizienz und Transparenz“ beschrieb Frau Schmidt darin die Vorzüge der Konzeption, die heute Gegenstand dieser Debatte ist. Ich zitiere: Jeder Versicherte kann künftig besser erkennen, ob seine Krankenkasse wirtschaftlich arbeitet oder nicht. Kommt eine Krankenkasse mit den ihr zugewiesenen Mitteln nicht aus, muss sie Effizienzreserven erschließen; reicht auch dies nicht aus, kann sie direkt von ihren Mitgliedern einen Zusatzbeitrag erheben. ({2}) Frau Schmidt schrieb weiter: Gut wirtschaftende Krankenkassen können an ihre Mitglieder Prämien auszahlen. Dies setzt ein transparenteres und wirksameres Preissignal als die gegenwärtigen, nur in Prozentpunkten benennbaren Unterschiede zwischen den verschiedenen Beitragssätzen der Krankenkassen, die vielfach bei den Versicherten unbekannt sind. ({3}) Dem ist nichts hinzuzufügen. ({4}) Herr Kollege Dr. Lauterbach, um Ihren entscheidenden Diskussionsbeitrag in der Talkshow am Mittwochabend anzusprechen: Damit, dass wir Ihnen das vorhalten, verstecken wir uns nicht hinter Frau Schmidt. Umgekehrt wird vielmehr ein Schuh daraus: Sie versuchen, zu verstecken, dass vor drei Jahren 187 SPD-Abgeordnete in namentlicher Abstimmung genau dieser Regelung mit Ja zugestimmt haben. ({5}) Das sind im Übrigen 41 Abgeordnete mehr, als Ihre heutige Fraktion stark ist, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. ({6}) Vielleicht sollten Sie auch Ihre stellvertretende SPDVorsitzende hiervon in Kenntnis setzen, damit Frau Schwesig die jetzige Bundesregierung nicht länger verantwortlich macht. Herr Dr. Lauterbach, in der letzten gesundheitspolitischen Debatte am 17. Dezember 2009 haben Sie konkrete Vorschläge der SPD angekündigt. Frau Bender, die, so glaube ich, heute nicht hier ist, hat damals mit Zwischenrufen dazu aufgefordert, dass Sie diese SPDVorschläge in Form eines Antrages vorlegen. ({7}) - Warten wir einmal ab, ob sie nächste Woche vorliegen, Herr Kollege. ({8}) Herr Kollege, gestatten Sie mir gleichwohl die Anmerkung: Wenn die Bürgerinnen und Bürger so großes Vertrauen in die konkreten Vorstellungen der SPD hätten, dann hätten sie die SPD mit einer größeren Zahl an Mandaten in diesen Bundestag geschickt. - So viel dazu. Meine Damen und Herren, von anderer Qualität als die angekündigten Vorschläge der SPD sind die von den Grünen im Dezember vorgelegten Eckpunkte, wenn ich auch die meisten nicht teile. Erstens sind sie konkret, zweitens wollen die Grünen ausdrücklich am morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich festhalten, den die CDU-geführte Koalition eingeführt hat, und drittens wollen die Grünen alle Einkommensarten unter Berücksichtigung von Freigrenzen und des Ehegattensplittings in den Solidarausgleich einbeziehen. Übersetzt bedeutet dies: Gleichsetzung mit der Einkommensermittlung durch die Finanzverwaltung. ({9}) Ich sage: Dann doch bitte gleich ein Sozialausgleich über Steuermittel! ({10}) Im Koalitionsvertrag haben wir die Richtung festgelegt: Es soll langfristig eine Entkopplung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten geben. Die einzelnen Schritte wird die Regierungskommission erarbeiten. So lange sollten wir den Arbeitsergebnissen der Regierungskommission nicht vorgreifen. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Monstadt, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat der Kollege Steffen-Claudio Lemme von der SPD-Fraktion. ({1})

Steffen Claudio Lemme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004090, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Rösler! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im aktuellen Spiegel ist zu lesen, dass Herr Dr. Rösler die Gesundheitsreform plant. Ich meine, das ist eine Operation am offenen Herzen. Er sagt von sich selbst - das hat ihm wohl sein letzter Chef attestiert -, er sei nie ein guter Chirurg gewesen, aber er sei immer der Fröhlichste. Insofern scheint das Motto dieser Gesundheitsreform zu lauten: „Lachen macht gesund“. Aber das reicht bei weitem nicht. ({0}) Die neue Bundesregierung ist fast auf den Tag genau drei Monate im Amt. Angetreten mit markigen Wahlversprechen, sind die schwarz-gelben Eheleute allerspätestens diese Woche auf dem harten Boden der Realität gelandet. Die öffentliche Schelte für ihre Politik reißt jedenfalls nicht ab. Mit der Berufung von Christian Weber vom PKVVerband und der Demontage von Peter Sawicki ist diese Regierung im Begriff, die gesundheitliche Absicherung von 70 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der privaten Versicherungswirtschaft zu überantworten. ({1}) Gleichzeitig signalisiert sie den Kostentreibern im System, insbesondere der Pharmaindustrie, dass sie zumindest in dieser Legislaturperiode vonseiten der Regierung keine Gefährdung ihrer Profite zu erwarten hat. ({2}) - Doch, doch. Nahezu anderthalb Monate ist es nun her, dass der Schätzerkreis beim Bundesversicherungsamt Berechnungen vorgelegt hat, wonach im Gesundheitsfonds mit einem 4-Milliarden-Euro-Loch zu rechnen ist. Das sind sechs Wochen, in denen von Bundesminister Rösler und seinem Stab rein gar nichts unternommen wurde, um das drohende Defizit abzuwenden. ({3}) - Bei mir nicht. In der Konsequenz führen dieses wochenlange Stillhalten und Ignorieren der Realitäten des Bundesministers nun zu Zusatzbeiträgen. Ich behaupte schlicht, Herr Dr. Rösler fährt hier eine Art Tabula-rasa-Strategie. ({4}) Er denkt wohl, er hält sich so lange Augen und Ohren zu, bis er die solidarische Krankenversicherung gegen die Wand gefahren hat. ({5}) Im Nachgang muss er dann nur noch mit der Abrissbirne ran und gibt dem Solidarsystem den Rest. Die Sache ist klar: Sein Vorgehen hat Methode. ({6}) Das umlagefinanzierte Gesundheitssystem mit der Solidarität der Versicherten untereinander sowie der paritätischen Beitragsaufbringung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist eine historische Errungenschaft und Tradition, um die uns andere Länder beneiden. ({7}) Lassen Sie uns dieses System zu einer solidarischen Bürgerversicherung weiterentwickeln. Schüren Sie mit der Kopfpauschale nicht die gesellschaftliche Spaltung! Ich fordere insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion auf, sich ihrer Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger als konservative Volkspartei zu erinnern. Ich sehe mich gezwungen, Ihnen die gemeinsamen Werte der sozialen - ich betone: der sozialen Marktwirtschaft erneut ins Gedächtnis zu rufen, wonach auch nach § 1 SGB V die Krankenversicherung eine Solidargemeinschaft ist. ({8}) Erinnern Sie sich bitte schnell, bevor Sie und Ihr Koalitionspartner einen schweren Fehler begehen! Zeigen Sie Vernunft und Einsicht! Was ich mich seit Tagen bezüglich der Kritik an der Bundesregierung frage, ist Folgendes: Wenn man so sehr und aus allen Richtungen unter Feuer genommen wird, gibt einem das nicht zu denken? ({9}) Sicher, Herr Rösler ist jung, folgt wie auch immer gearteten Idealen und ist voller Tatendrang. Aber sollten diesen stets so eloquent auftretenden Minister die zahlreichen Stimmen aus der Gesellschaft nicht wenigstens ein bisschen beeindruckt haben, ({10}) etwa die Kritik der Sozial- und Wohlfahrtsverbände, jener Organisationen, die diejenigen Menschen bei der Bewältigung ihres Alltags unterstützen, die von den finanziellen Auswirkungen Ihrer Politik betroffen wären? ({11}) Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, hat die Pläne gegenüber der Frankfurter Rundschau als unsozial bezeichnet. Der Bundesgeschäftsführer der Volkssolidarität, Bernd Niederland, hat erklärt: Zusatzbeiträge sind Ausdruck einer verfehlten Politik, die die Gesundheitskosten einseitig auf die Versicherten verlagert. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Steffen Claudio Lemme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004090, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hinzu kommen die Gewerkschaften. Der DGB-Vorsitzende, Michael Sommer, hat zu Recht an die Auswirkungen für Menschen mit kleinen Einkommen oder Renten erinnert, für die 8 Euro schlicht das Budget eines Lebensmitteleinkaufes darstellen. ({0}) Christine Clauß, die sächsische Sozialministerin, hat, wie Sie wissen, von einer unsäglichen Reform gesprochen. Ich erinnere außerdem daran, dass Herr Ministerpräsident Seehofer davor gewarnt hat. Der bayerische Gesundheitsminister tut es ihm gleich. Ich glaube, die CSU wird in diesem Haus sicherlich noch die zweite Runde einläuten und den zweiten Gong schlagen, damit Sie wieder zur Vernunft zurückkehren und auf diese unsolidarische Kopfpauschale verzichten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Lemme, ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat nun das Wort der Kollege Rudolf Henke von der CDU/CSUFraktion. ({1})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir schon immer gewünscht, am Ende einer Plenarwoche im Deutschen Bundestag das letzte Wort in einer Debatte zu haben; das ist sehr erfreulich. Das stimmt einen natürlich auch ein bisschen milde. Lieber Herr Lemme, ich finde Ihre Aussage, es gebe eine Verletzung der Parität, durchaus diskussionswürdig. Aber ich verstehe nicht, warum Sie von einem hohen moralischen Ross herab die Verletzung der Parität kritisieren; denn es war doch die rot-grüne Regierung Schröder, die im Jahr 2003 die Einführung des heutigen 0,9-prozentigen Sonderbeitrags im GKV-Modernisierungsgesetz beschlossen hat, und zwar mit den Stimmen von SPD und Grünen. ({0}) Es war die rot-grüne Regierung Schröder, die die Einführung der Kassengebühr beim Praxisbesuch beschlossen hat. Es war die rot-grüne Regierung Schröder, die die Erhöhung von Zuzahlungen unter anderem bei Arzneimitteln beschlossen hat. ({1}) Warum setzen Sie sich also auf dieses hohe moralische Ross und sagen, die Verletzung der Parität fange mit 8 Euro Unterschied an, verlieren aber kein Wort darüber, dass SPD und Grüne den Einstieg in die Veränderung der Parität selber herbeigeführt haben? Herr Terpe, ich danke Ihnen zwar für die wichtige Erinnerung an elementarste christliche Regeln. Aber zu diesen Regeln gehört auch ernst gemeinte Wahrhaftigkeit. Sie können doch angesichts der Tatsache, dass fünf Krankenkassen einen Zusatzbeitrag akzeptiert haben, nicht so tun, als gäbe es keinen Ausweg. Natürlich gibt es einen Ausweg; denn man kann entscheiden, ob man diesen Zusatzbeitrag zahlen will. 50 Krankenkassen haben erklärt, 2010 keinen Zusatzbeitrag zu erheben. Es gibt vier Krankenkassen, die sogar Geld an ihre Versicherten ausschütten. Bitte machen Sie es nicht zur Kernfrage der Glaubwürdigkeit christlich-liberaler Politik und religiöser Orientierung, dass in fünf Krankenkassen 8 Euro mehr gezahlt werden müssen. Ich fühle mich da an der falschen Stelle kritisiert, und ich sage dann auch: Zur Wahrhaftigkeit gehört es ebenso, ein Problem nicht größer, bedrohlicher und schlimmer darzustellen, als es wirklich ist. ({2}) Ich komme gern auf Ihren ursprünglichen Debattenansatz zu sprechen, Herr Kuhn. Er lautet: Wir setzen uns jetzt mit dem Zusatzbeitrag gar nicht deswegen auseinander, weil die 8 Euro so schlimm sind. Da hatten Sie selber in Ihrer eigenen Regierungszeit unter Andrea Fischer ganz andere Beitragsentwicklungen zu verantworten. Die 8 Euro sind nicht das Problem; Sie sagen vielmehr, das Kernproblem sei, dass diese 8 Euro der Einstieg sind und wir dann bei der Schaffung einkommensunabhängiger Beiträge eine größere soziale Ungerechtigkeit bekommen. Daher meine ich, man muss Sie jetzt doch noch einmal mit der tatsächlich geführten öffentlichen Diskussion konfrontieren. Ich habe unter der Überschrift „Gerechte Kopfpauschale“ einen Artikel aus der Süddeutschen Zeitung von Claus Hulverscheidt aus dieser Woche, und ich erlaube mir, daraus zu zitieren: … die Behauptung, - es sind nicht meine Worte, sondern die von Herrn Hulverscheidt die Putzfrau müsse beim Prämienmodell den gleichen Kassenbeitrag zahlen wie der Fabrikdirektor, löst in den Parteizentralen regelmäßig Panikattacken aus - dabei ist der Vorwurf hanebüchener Unsinn: ({3}) Zwar ist die Gesundheitsprämie zunächst tatsächlich für alle Versicherten gleich hoch, schließlich kostet die Kasse das Herausnehmen eines Direktoren-Blinddarms ja nicht mehr als die gleiche Operation bei der Putzfrau. Aber: Im Gegensatz zu ihrem Chef muss die Reinigungskraft die Prämie nicht alleine zahlen, sondern erhält einen Teil aus Steuermitteln erstattet. ({4}) Dazu sagen Sie jetzt, das werde vielleicht nicht gehen. Aber ist es denn nicht des Schweißes der Edlen wert, das zu versuchen? ({5}) Die Koalitionsvereinbarung ist klar und eindeutig: einkommensunabhängige Beiträge, die sozial ausgeglichen werden. Wir werden uns doch wohl an Worten dieses Bundesgesundheitsministers messen lassen, der die Identität der Beitragsbelastung bei 8 Euro als unsozial kritisiert. Dann werden wir doch keine einkommensunabhängige Prämie aufbauen, die dann nicht sozial ausgeglichen wird, denn das wäre ja total widersprüchlich. Deswegen machen Sie sich da einmal keine zu großen Sorgen. ({6}) Im Übrigen, auch Andrea Fischer, die bis 2001 die erste grüne Bundesministerin für Gesundheit dieser Republik war, hat sich im vergangenen Jahr zu dem Thema Prämie in einem Interview mit dem Tagesspiegel bemerkenswert geäußert. Ich zitiere: Es ist im Prinzip kein falscher Gedanke, mit einer solchen Prämie für jeden Menschen festzulegen, welchen Preis er für seine Gesundheit in einem solidarischen System aufbringen muss. Die Umverteilung ist eine sozialpolitische Aufgabe danach - und getrennt von der Gesundheitspolitik. ({7}) Mit diesem für alle gleichen Beitrag sollte niemand überfordert werden, nicht die Einkommensarmen, nicht die Menschen mit Familie. Das Steuersystem ist der Ort, an dem die gesamte finanzielle Situation eines Menschen erfasst und wo er entsprechend seiner Leistungsfähigkeit zu Abgaben verpflichtet wird. ({8}) Eigentlich - so Andrea Fischer also genau das richtige System, um Solidarität konkret werden zu lassen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einzige Bitte, die ich habe, ist, dass Sie nicht so tun, als hätten Sie ein Monopol auf die Definition von Solidarität und als wären wir davon ausgeschlossen, mitzudiskutieren, wenn es darum geht, was Solidarität tatsächlich ist. Verlassen Sie sich darauf: Wenn es einkommensunabhängige Prämien gibt, dann werden diese Prämien sozial ausgeglichen. Sonst werden CDU und CSU dem nicht zustimmen. Das ist eine Aussage, auf die Sie sich verlassen können. Hören Sie auf damit, Panik zu verbreiten. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Henke, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Sie haben damit, wie Sie schon angekündigt haben, die Debatte für heute abgeschlossen. Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 9. Februar 2010, 15 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.