Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich grüße Sie sehr herzlich. Schönen Nachmittag!
Bitte nehmen Sie Platz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des unabhängigen Expertenkreises
Antisemitismus
Antisemitismus in Deutschland - Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze
- Drucksache 17/7700 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit
einverstanden.
Somit eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat als
Erster der Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter
Friedrich. Bitte schön, Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag hat in der 16. Wahlperiode die Bundesregierung
in einem Antrag aufgefordert, den Kampf gegen Antisemitismus weiter und verstärkt zu führen und jüdisches
Leben in Deutschland zu fördern. Im Zuge der Umsetzung dieses Antrags des Deutschen Bundestages ist ein
Expertengremium 2009 ins Leben gerufen worden, das,
wie ich meine, einen sehr fundierten, einen sehr facettenreichen und sehr gründlichen Bericht in zweijähriger Arbeit erstellt hat. Dieser Bericht ist eine gute Diskussionsgrundlage und ergänzt die eigenen Erkenntnisse, die die
Bundesregierung anhand von vielen Programmen, die
standardmäßig wissenschaftlich begleitet werden, gewonnen hat. Insofern hat sich dies gelohnt und sollte in
Zukunft fortgeschrieben werden.
Antisemitismus ist ein Thema, das nicht nur die jüdische Gemeinde in Deutschland angeht. Es berührt die
Grundfesten unserer Demokratie, unserer Freiheit, unseres Zusammenlebens. Der Kampf gegen Extremismus,
egal woher er kommt, ist eine Aufgabe, bei der dieser
Staat und diese Gesellschaft gemeinsam zusammenwirken.
({0})
Die Tatsache, dass die Zahl der antisemitischen Straftaten in den letzten Jahren stabil geblieben bzw. sogar
leicht gesunken ist, beruhigt uns nicht; denn das Niveau
ist nach wie vor sehr hoch. Allein die Tatsache, dass es
solche Straftaten gibt, zeigt, dass das Problem vorhanden
ist und dass wir das Problem gemeinsam lösen müssen.
Es gab erst vor wenigen Monaten hier in Berlin einen
Überfall auf den Rabbiner Daniel Alter. Ich glaube, dass
dieser Überfall ein Handlungsauftrag an alle war, nämlich sicherzustellen, dass es kein Stadtviertel in irgendeiner Stadt dieses Landes geben darf, in dem Menschen
um ihre Sicherheit oder gar um ihr Leben fürchten müssen, nur weil sie sich zu einer bestimmten Religion bekennen, weil sie eine bestimmte Hautfarbe haben oder
weil sie als anders erkennbar sind. Wir schulden es unserem Staat und unserer Demokratie, sicherzustellen, dass
Freiheit, dass Recht und Toleranz überall im Lande, in
jedem Stadtviertel durchgesetzt werden.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht
spricht davon, dass circa 20 Prozent der Bevölkerung in
Deutschland antisemitisches Gedankengut in irgendeiner
Weise haben. Nun ist ein Streit darüber ausgebrochen,
wie man auf diese 20 Prozent kommt.
Die einen sagen, es seien viel mehr, die anderen sagen, so viel könnten es gar nicht sein. Natürlich kommt
es immer darauf an, wie man die Fragen formuliert. Entscheidend ist jedoch nicht, welche Zahlenstatistiken vorliegen. Entscheidend ist vielmehr, dass es immer noch
oder schon wieder Ressentiments, Klischees und Verschwörungstheorien gibt, die mit unserer Demokratie
und der freiheitlichen Grundordnung nicht vereinbar
sind und gegen die wir mit aller Konsequenz vorgehen
müssen.
Das Thema Antisemitismus wird aber auch von außen
an unser Land herangetragen. Für islamistische Aktivisten und Organisationen weltweit sind Antisemitismus
und Ressentiments gegen Juden ein nahezu selbstverständlicher Bestandteil ihrer Propaganda und ihrer Ideologie. Das gilt auch für die Gruppierungen, die in
Deutschland tätig sind und die von unserem Verfassungsschutz beobachtet werden.
Das Lagebild, das der Verfassungsschutz zeichnet,
zeigt, dass auch für die Neonazis und die rechtsextremistischen Gruppen in Deutschland Antisemitismus ein verbindender und fester Bestandteil ihrer Propaganda und
ihrer Ideologie ist. Es ist wichtig, dass man die Erkenntnisse, die der Verfassungsschutz gewonnen hat, einarbeitet in die politische Bildung und in die Aufklärungsaktionen, die wir jetzt und in der Zukunft gemeinsam auf
den Weg bringen müssen.
Das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass
heutzutage 90 Prozent der antisemitischen Straf- und
Gewalttaten von den Neonazis begangen werden.
Schauen wir einmal, wie das konkret abläuft: Die Neonazis nehmen jedes tagespolitische Ereignis sofort zum
Anlass, um Verschwörungstheorien über die Juden in
Deutschland, aber auch weltweit, zu verbreiten. Das alles zeigt, dass wir gegen diese Volksverhetzung durch
die Neonazis mit aller Konsequenz vorgehen müssen.
50 Prozent aller rechtsextremistischen Straftaten sind
Volksverhetzungsstraftaten. Das macht deutlich, dass
unser Staat und jeder Demokrat gefordert ist, den Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen - egal in welcher
Maske er daherkommt - und ihm entgegenzutreten.
({2})
Es gibt zahlreiche Bundesprogramme, die aufzeigen
sollen, mit welchen Mechanismen die antisemitische
Propaganda der Neonazis vorgeht, um junge Leute auf
ihre Seite zu ziehen und sie für sich zu gewinnen. Wir
stellen fest, dass das Internet inzwischen zu einer bevorzugten Plattform für diese Propagandisten geworden ist;
denn es eröffnet - allen Propagandisten übrigens - weltweit völlig neue Möglichkeiten, an junge Menschen, die
in bestimmten Lebensphasen ein wenig anfällig sein
können, heranzukommen.
Im Dezember 2011 haben wir das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus gegründet. Ein
Schwerpunkt der Arbeit dieses Zentrums besteht in der
Auseinandersetzung mit der Frage, welche Erscheinungsformen des Antisemitismus und des Rechtsextremismus es im Internet gibt und welche Gegenmaßnahmen man im Rahmen der politischen Bildung auch im
Internet auf den Weg bringen kann, um diesen Propagandamustern und -strukturen etwas entgegenzusetzen.
Etwas entgegensetzen - das bedeutet auch, dass wir
die Zivilgesellschaft stärken müssen. Ein Programm aus
dem Bundesinnenministerium, das sich „Zusammenhalt
durch Teilhabe“ nennt, setzt genau an dieser Stelle an. Es
geht dabei darum, Vereine und Organisationen zu stärken, Demokratietrainer auszubilden, die die Propagandastrukturen und die Argumentationsmuster der Antisemiten ausfindig machen, entlarven und dann entsprechend
dagegen argumentieren können.
In der Deutschen Islamkonferenz steht das Thema
Antisemitismus ebenfalls auf der Tagesordnung. Seit
2010 gibt es die Arbeitsgruppe „Präventionsarbeit mit
Jugendlichen“, die sich mit Extremismus und Gewalt
phänomenübergreifend beschäftigt und die insbesondere den religiös begründeten und begleiteten Extremismus zum Gegenstand hat.
Wir haben vor, bei der nächsten Islamkonferenz im
März/April nächsten Jahres konkrete Handlungsempfehlungen auf den Tisch zu legen, wie diese Präventionsarbeit mit Jugendlichen in Zukunft verstärkt und weiter
verbessert werden kann.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland - das ist
die positive Botschaft - wächst, und sie wächst stärker
als sonst wo in Europa. Die Bundesregierung unterstützt
mit finanziellen Mitteln, aber auch ideell die Entwicklung insbesondere der überregionalen Einrichtungen, die
Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden in
Deutschland und den Aufbau des jüdischen Lebens in
Deutschland. Ich glaube, wir beobachten da seit vielen
Jahren eine sehr positive Entwicklung, und sie ist es
wert, dass alle Ebenen des Staates sie unterstützen.
({3})
Der Bericht der Experten enthält viele Empfehlungen,
die wir sorgfältig prüfen und die wir, soweit sie sinnvoll,
notwendig, finanzierbar und nicht schon durchgeführt
sind, unmittelbar umsetzen werden.
({4})
Entscheidend ist, dass wir diesen Bericht aktualisieren; ich würde vorschlagen, dass wir ihn mindestens einmal pro Wahlperiode auf den neuesten Stand bringen.
Der vorliegende gründliche Bericht bildet hierfür ein gutes Fundament.
Ich bedanke mich bei den Professoren, den Wissenschaftlern und den Experten, die mitgemacht haben, für
ihre Arbeit. Ich bedanke mich bei allen im Land, die es
sich zur Aufgabe gemacht haben, aktiv und leidenschaftlich dem Antisemitismus entgegenzutreten.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dr. Wolfgang Thierse. Bitte
schön, Kollege Dr. Wolfgang Thierse.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
November 2011 liegt nun der erste Antisemitismusbericht dem Bundestag vor. Am 23. Januar 2012 habe ich
ihn mit Kollegen aller Fraktionen und Mitgliedern des
Expertenkreises der Öffentlichkeit vorgestellt. Heute erst
debattieren wir darüber im Bundestag; das ist wahrlich
etwas spät. Der Bericht hat größere Aufmerksamkeit als
bisher verdient.
({0})
Denn es gibt schlechten, bedrückenden aktuellen Anlass:
In den letzten Wochen wurde in Berlin ein Rabbiner
überfallen. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland wurde bedroht. Das sind nur zwei
Beispiele für den alltäglichen Antisemitismus in
Deutschland.
Auch im Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte sind antisemitische Untertöne unüberhörbar. Ich zitiere nur einen Satz aus vielen polemischen, ja hasserfüllten Zuschriften an mich wörtlich: Ich bin kein
Rechtsradikaler, aber irgendwann muss mal Schluss sein
mit dem ewigen Ducken vor den Juden. - Ein geradezu
prototypischer antisemitischer Satz.
Wie viele in Deutschland mögen genau so denken?
Seitdem der Bericht vorliegt, wissen wir es: bis zu einem
Fünftel der Bevölkerung; ein erschreckender Befund.
Der Bericht macht auf beunruhigende Weise deutlich,
dass antisemitische Einstellungen bis weit in die Mitte
der Gesellschaft reichen. Erscheinungsformen, Wirkungsweisen und Ausbreitung dieser Menschenfeindlichkeit genau zu kennen und zu beobachten, ist die Vorbedingung für ein energisches und nachhaltiges
Handeln. Das macht den Bericht so wichtig. Wir sollten
gemeinsam Konsequenzen aus ihm ziehen; denn - auch
das will ich, so wie der Herr Minister, betonen - der
Kampf gegen Antisemitismus ist nicht zuvörderst und
schon gar nicht allein eine Sache der Juden in Deutschland, sondern unsere Sache, die Sache aller Demokraten,
aller Anständigen im Lande.
({1})
Die Konsequenzen: Erstens. Wir brauchen Kontinuität und Stetigkeit in Analyse und Berichterstattung; hier
besteht, denke ich, Konsens. Der Bundestag hat schon in
seiner Entschließung vom 4. November 2008 zum Ausdruck gebracht, dass er sich seiner Verantwortung bewusst ist, jeder Form von Antisemitismus in Deutschland entgegenzuwirken. Regelmäßige Berichte über
Antisemitismus in Deutschland erstellen zu lassen,
wurde interfraktionell beschlossen. Alle Beteiligten waren sich einig: Eine intensive und vor allem kontinuierliche Berichterstattung ist notwendig. Deshalb sollte das
deutsche Parlament in jeder Legislaturperiode über einen
solchen Bericht und die Konsequenzen daraus debattieren.
({2})
Zweitens. Antisemitismus ist kein gänzlich isolierbares Problem. Er ist eingebettet in und Teil von Rechtsextremismus, Rassismus, Islamismus, Israelfeindschaft,
Minderheitenfeindlichkeit. Diesen Zusammenhang gilt
es mehr denn je zu beachten.
({3})
Sie kennen die Zahlen: 90 Prozent aller antisemitischen Straf- und Gewalttaten werden von Rechtsextremisten begangen. Gerade weil wir das Phänomen, das
Problem nicht isolieren können und dürfen, halte ich
eine Ausweitung des Fokus auf weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit - diesen Begriff
verwendet Wilhelm Heitmeyer, um die unterschiedlichen Formen von Menschenfeindlichkeit zu erfassen für dringend erforderlich; denn unterschiedliche Vorurteile und Feindbilder greifen eben ineinander und bilden
ein gefährliches Konglomerat.
({4})
Dass genau dies lange nicht erkannt wurde, zeigen auf
dramatische Weise auch die Taten des NSU. Wer über
Antisemitismus angemessen und folgenreich sprechen
und wer handeln will, der darf über die anderen Erscheinungsweisen menschenfeindlichen Verhaltens nicht
schweigen.
({5})
Drittens. Erkenntnisse allein reichen nicht aus. Sie
müssen in Strategien und Aktivitäten zur Überwindung
von Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit übersetzt werden. Der wissenschaftlichen Beobachtung müssen aktive Schritte folgen. Erforderlich ist, wie auch von
den Experten empfohlen, eine Verstetigung der Bundesprogramme. Momentan sind dies vor allem Modellprojekte. Da aber gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit,
Rassismus, Antisemitismus keine punktuellen, sondern
andauernde Probleme und Herausforderungen sind, bedarf es auch keiner nur punktuellen, sondern eben einer
dauerhaften Bekämpfung. Nur wenn dauerhafte Programme gefördert werden, kann die Arbeit ohne effizienzmindernde Förderlücken gesichert werden. Aus
dem Nebeneinander und der zeitlichen Begrenztheit ver23734
schiedener Aktionen und Programme, die stets neu initiiert und aufgestellt werden, müssen Institutionen und
Initiativen werden, die tatkräftig und verlässlich arbeiten, damit sie nachhaltige Wirkung entfalten können.
({6})
Meine Damen und Herren, es ist ein bedauernswerter
Zustand, dass nach einer Schreckensmeldung in den Medien die öffentliche Erschütterung zwar groß ist, aber
selten lange anhält. Es ist ein bedauernswerter Zustand,
dass engagierte Menschen Projekte aufbauen, Netzwerke installieren und dass, kaum haben diese begonnen, zu arbeiten und zu funktionieren, die Förderung
ausläuft und die Projekte enden. Diese Zyklen medialer
Konjunktur und kurzfristigen staatlichen Engagements
gilt es zu durchbrechen.
Über die genaue Form der Unterstützung und auch
der Finanzierung der Bundesprogramme - ich persönlich
plädiere dafür, dass wir endlich eine Bundesstiftung einrichten ({7})
wird man trefflich streiten können. Wichtig aber ist ein
Konsens über deren Notwendigkeit. Eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe Antisemitismus hat bereits gut
zusammenarbeitet und sollte sich jetzt daranmachen, einen gemeinsamen Antrag in dieser Richtung zu erarbeiten.
Der Beschluss von 2008 hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt, wie wir immer wieder neu auf erschreckende Weise sehen.
({8})
Er ist zu erneuern und mit den Erkenntnissen dieses Berichts anzureichern und umzusetzen. Wie 2008 ist es
auch heute wünschenswert und dringend erforderlich,
dass der Bundestag geschlossen Gesicht zeigt, dass gemeinsam eine regelmäßige Berichterstattung über antisemitische und andere Formen der Menschenfeindlichkeit
etabliert wird, dass eine Verstetigung der Bundesprogramme festgelegt wird und wir allen Menschen in
Deutschland zeigen: Wir nehmen diese moralische und
politische Herausforderung ernst. Wir tolerieren antisemitische Menschenfeindlichkeit nicht, und wir stehen
dafür nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten ein nicht punktuell, nicht zeitlich begrenzt, sondern fortwährend.
({9})
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Thierse. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Dr. Stefan Ruppert. Bitte schön, Kollege Dr. Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin ausgesprochen dankbar dafür, dass uns eine
wissenschaftlich begleitete Erfassung des Phänomens
des Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland
vorliegt. Wir haben in diesem Hause schon häufiger über
dieses Phänomen diskutiert. Ich finde, die Vielschichtigkeit, die dieser Bericht offenbart, hilft uns, unseren analytischen Blick nochmals zu schärfen.
Ich will drei Aspekte hervorheben: Lange Zeit vertraten Wissenschaftler und große Teile der Zivilgesellschaft
in Deutschland die Vorstellung, dass die Bekämpfung
des Antisemitismus gelingt, wenn man die Gräuel der
deutschen Geschichte aufarbeitet, wenn man, um es mit
Norbert Frei zu sagen, eine Vergangenheitspolitik betreibt. Man glaubte, das Phänomen so überwinden zu
können. Diese Schritte waren richtig und notwendig,
aber wir stellen fest: Das allein reicht nicht aus. Der Antisemitismus stirbt nicht biologisch aus, sondern er
kommt, wie es in dem Bericht ausgedrückt wird, in Wellenbewegungen wieder. Das hat mich, offen gesagt,
schon beunruhigt, weil ich eigentlich stolz auf die Art
und Weise bin, wie sich dieses Land seiner Vergangenheit, insbesondere den begangenen Gräueltaten und dem
Holocaust, gestellt hat, wie es diese Vergangenheit aufgearbeitet hat. Aber das allein reicht, wie gesagt, nicht
aus. Wir müssen uns dem Phänomen auf leider unabsehbare Zeit jeden Tag neu stellen.
Wir stellen auch fest, dass es nicht ausreicht, zu sagen, dass dieses Phänomen ein Aspekt des Rechtsextremismus ist. Leider - auch das wird in diesem Bericht
aufgezeigt - ist das Phänomen des Antisemitismus tief in
der Gesellschaft verwurzelt, auch in bürgerlichen Gruppen, wahrscheinlich auch bei Wählergruppen unserer
Parteien. Auch auf dieser Ebene müssen wir uns diesem
Phänomen stellen und es wirksam bekämpfen.
Der Bericht ist gut, allein es ist nicht einfach, die
Handlungsoptionen, die sich daraus ergeben, zu definieren. Ich bin ein Anhänger von Extremismusbekämpfungsprogrammen. Ich bin dafür, dass wir Ausstiegsprogramme bewusst finanzieren. Das ist aber ein sehr
punktueller Ansatz, und am Ende ist das Problem nur
durch die Gesamtheit der Bürger, durch die Zivilgesellschaft zu lösen und nicht durch einzelne Programme, so
wichtig sie auch sind. Die Lösung dieses Problems ist
und bleibt also unser aller Aufgabe.
({0})
Ich gebe meinem Vorredner durchaus recht: Wir sollen uns zu diesen Programmen bekennen. Das Konzept
muss aber breiter angelegt sein, und deswegen sollten
wir nicht, wie in so mancher Extremismusdebatte, in ein
Links-Rechts-Schema verfallen und irgendwelche Dinge
gegeneinander aufrechnen. Ich finde, in der heutigen Debatte findet dies erfreulicherweise nicht statt. Nein, diese
Debatte führt uns Demokraten über Parteigrenzen hinweg zusammen, bis weit in die Partei der Linken hinein.
Es ist gut, dass wir das zusammen machen, dass wir als
Demokraten die Gemeinsamkeiten betonen und sagen,
was wir hier gemeinsam verteidigen wollen. Ich glaube,
für solche Debatten sollten wir uns öfter Zeit nehmen,
auch wenn sie keinen Raum für parteipolitische Reflexe
bieten, den Gesetzmäßigkeiten der Parteipolitik nicht
folgen und auf den ersten Blick keine politische Attraktivität entfalten. Ich glaube, wir tun gut daran, häufiger
eine solche breiter angelegte Debatte zu führen, in der
wir die Gemeinsamkeiten betonen.
({1})
Ohne konkret auf die Beschneidungsdebatte einzugehen, möchte ich einen Punkt nennen, der mir in diesem
Zusammenhang besonders aufgefallen ist: In der Bevölkerung in Deutschland geht die Sensibilität für die identitätsstiftende Funktion von Religion leider mehr und
mehr verloren. Religion, nicht nur jüdischer Glaube,
wird häufig als etwas wahrgenommen, das in einem
Spannungsverhältnis zur Moderne steht. Ich glaube,
diese Betrachtung ist zutiefst falsch, weil Religion für
viele Menschen ein ganz wichtiger Teil ihrer Identität
ist. Es gilt, dies im Sinne von Art. 4 unseres Grundgesetzes gemeinsam zu schützen.
({2})
Es ist eben nicht so, dass die Moderne sozusagen den
Glauben überwindet. Ich glaube auch, dass die rigide
Trennung von Staat und Kirche oder von Staat und Religionsgemeinschaften, die von manchen gefordert wird,
dem Problem nicht gerecht wird. Warum zahlen wir
denn an den Zentralrat der Juden? Wir zahlen, weil wir
über jüdisches Leben in Deutschland glücklich sind,
weil wir froh sind, dass dieses Leben wieder erstarkt und
präsenter wird. Alle laizistischen Konzepte würden einer
solchen Konstruktion sicherlich eher zuwiderlaufen.
Deswegen bin ich ein großer Anhänger des Kooperationsverhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften.
Dieser Bericht ist ein guter Auftakt. Er darf nicht das
Ende, sondern er muss ein erneuter Aufbruch zur Bekämpfung des Antisemitismus sein. Er muss fortgeschrieben werden. Wir alle müssen uns fragen, auf welchen Ebenen wir dem Phänomen, das leider tiefer in
unserer Gesellschaft verwurzelt ist, als wir alle es uns
wünschen, begegnen können.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Dr. Ruppert. - Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Petra Pau. Bitte schön, Frau Kollegin Petra Pau.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnern wir uns: Ignatz Bubis war lange Jahre Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er starb
1999. Sein Resümee war bitter - ich zitiere -:
Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort
Juden, weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht
schaffst du es, daß die Menschen anders über einander denken, anders miteinander umgehen. Aber,
nein, ich habe fast nichts bewegt.
Ignatz Bubis ließ sich in Israel beerdigen - aus Angst,
sein Grab werde in Deutschland geschändet wie das von
Heinz Galinski, weil er Jude war.
Diese Geschichte fiel mir jüngst wieder ein. Ein Rabbiner wurde im Beisein seiner Tochter krankenhausreif
geschlagen, weil er Jude ist. Ein Taxifahrer verweigert
einer Familie die Fahrt zur Synagoge. Beides geschah im
Jahr 2012 in Berlin. In Göppingen skandierten Nazis:
„Ein Baum, ein Strick, ein Judengenick.“ Die Polizei
griff nicht ein. Ich könnte noch mehr Beispiele nennen.
Der Deutsche Bundestag hat im November 2008 einen Beschluss gefasst: „Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter
fördern“. Auch ich hatte damals dafür geworben. Wir
beschlossen einmütig sieben konkrete Aufträge an die
Bundesregierung. Über einen davon reden wir heute:
über die Analyse einer Expertenkommission zum Antisemitismus in Deutschland. Ich bedauere ebenso wie der
Kollege Thierse, dass wir das nicht dringlich auf die Tagesordnung gesetzt haben, sondern fast ein Jahr danach.
Eine zentrale Aussage der Expertise ist: Nazis und Judenhass gehören zusammen. Dies ist kein Verweis auf
vorgestern, sondern auf heute. Kurzum: Gegen Antisemitismus heißt primär gegen Rechtsextremismus.
({0})
Aber der Bericht belegt auch: Judenfeindlichkeit gibt
es quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und politischen Lager. Deshalb mahne auch ich - da haben Sie,
Kollege Ruppert, recht -: Wir sollten uns hüten, das parteipolitisch auszuschlachten; denn das hilft letztendlich
nur Antisemiten. Wir müssen Antisemitismus parteiübergreifend ächten und viel mehr zur Prävention tun.
({1})
Im vorliegenden Bericht werden ausführlich Quellen
und Formen von altem und neuem Antisemitismus beschrieben. Er grassiert beim Sport, in Medien, auf Schulhöfen, unter Deutschen und Migranten, in Ost und West.
Dass er anderswo stärker ausgeprägt ist - ich verweise
zum Beispiel auf Ungarn -, sollte uns endlich gemeinsam beunruhigen.
Antisemitismus ist ein drängendes EU-Problem. Aber
er bleibt ein nicht delegierbares deutsches Problem. Es
gibt engagierte gesellschaftliche Initiativen gegen Antisemitismus; die Amadeu-Antonio-Stiftung, die Initiative
„Gesicht Zeigen!“ und das Internetportal haGalil gehören zu den bekannteren. Die Schwarzkopf-Stiftung
bringt Jugendlichen den europäischen Gedanken und
zugleich den Kampf gegen Antisemitismus nahe. Anwärterinnen und Anwärter der Berliner Polizei pflegen
Patenschaften zum Denkmal für die Kindertransporte
1938/39 und zu noch Lebenden unter den damals so geretteten Jüdinnen und Juden. So weit, so beispielhaft.
Zugleich gibt es aber immer mehr Initiativen gegen
Antisemitismus, die finanziell ausbluten, weil sie bundespolitisch alleingelassen werden. Wir kennen das aus
Berlin-Kreuzberg. Ähnliche Beispiele gibt es vielerorts:
hehre Beschlüsse hier und verheerendes Versagen da.
Das muss sich ändern. Das müssen wir, auch wir im
Bundestag, ändern.
({2})
Das mahnende Fazit im Expertenbericht lautet: Es
gibt kein schlüssiges Gesamtkonzept gegen Antisemitismus. Gemeint ist hier die Bundespolitik. Ich finde, dasselbe trifft auf den Kampf gegen Rechtsextremismus zu.
Es ist also höchste Zeit, dass wir heute über den Bericht
reden. Aber es hilft nichts, wenn es folgenlos bleibt.
Deshalb schließe ich mich den Vorschlägen, die hier
schon gemacht wurden, an und schlage vor:
Erstens. Das Mandat für die unabhängige Expertenkommission ist zu verlängern, verbunden mit hinreichenden Arbeitsbedingungen.
Zweitens. Das gesellschaftliche, wissenschaftliche
und staatliche Engagement gegen Antisemitismus muss
endlich koordiniert werden.
Drittens. Das Thema Antisemitismus sollte in der
Ausbildung von Pädagogen, Journalisten, Polizisten und
Juristen viel präsenter sein.
Viertens. Die europäische Dimension des Antisemitismus muss stärker eingeblendet und als gemeinsames
Problem angenommen werden.
Fünftens. Gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sind endlich verlässlich zu fördern.
Drei Schlusssätze, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich weiß, dass ob der jüngsten Vorkommnisse Jüdinnen
und Juden erwägen, Deutschland zu verlassen. Ihre
Flucht wäre für uns alle ein Armutszeugnis.
({3})
Umso mehr werde ich weiter gegen Antisemitismus
kämpfen und jüdisches Leben fördern. Wir sollten uns in
der hier schon angeregten weiteren Debatte bzw. den bereits angeregten weiteren Debatten auch den anderen
sechs Beschlusspunkten aus dem Jahre 2008 zum Thema
„Förderung jüdischen Lebens“ zuwenden.
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen Dank, Kollegin Petra Pau. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen unser Kollege Volker Beck. Bitte schön,
Kollege Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zunächst die Mitglieder der Expertenkommission auf der Tribüne begrüßen. Da niemand daran gedacht hat, haben wir dafür gesorgt, dass sie der Debatte
heute beiwohnen können.
({0})
Ich begrüße auch die Vertreterinnen und Vertreter der
Amadeu-Antonio-Stiftung, des American Jewish
Committee, des Zentralrates der Juden in Deutschland
und der jüdischen Gemeinde von Berlin. Ich glaube, die
Wertschätzung derjenigen, die sich tagein, tagaus - und
nicht nur einmal im Jahr in einer Debatte über einen
Bericht - im Kampf gegen den Antisemitismus engagieren, ist ein wichtiger Punkt bei der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung mit diesem Thema.
({1})
2011 gab es in Deutschland laut Bundesinnenministerium 1 239 antisemitische Straftaten und 29 Gewalttaten,
davon allein 10 Gewalttaten in Nordrhein-Westfalen.
Alle sieben Stunden eine antisemitische Straftat, an jedem zwölften Tag eine antisemitische Gewalttat. Das
heißt, Antisemitismus - da muss ich Ihnen widersprechen, obwohl ich sonst mit vielem einverstanden bin,
Herr Ruppert - kommt nicht in Wellen. Antisemitismus
in Deutschland ist Teil des Alltags.
An diesen Alltag dürfen wir uns nicht gewöhnen. Wir
müssen offensiv etwas dagegensetzen. Wir dürfen die
Situation in dieser Debatte nicht nur beklagen, sondern
wir müssen klare Handlungsempfehlungen geben und
Konsequenzen ziehen; sonst sind diese Debatten ein
Stück weit wertlos. Wir sind uns einig: Wir finden Antisemitismus in allen Fraktionen gleichermaßen verurteilenswert. Entscheidend ist, welche Konsequenzen wir
daraus ziehen.
({2})
Meine Damen und Herren, normalerweise sucht sich
der Antisemitismus einen Vorwand, um sich politisch zu
entladen. Häufig sind es politische und militärische Konflikte im Nahen Osten, die von Antisemiten auch innenpolitisch instrumentalisiert werden. In diesem Jahr gab
es die Beschneidungsdebatte. Es gibt viele Menschen in
diesem Land und auch hier im Hohen Haus, die sagen:
Der Weg, den das Justizministerium oder die Mehrheit
des Bundestages beschritten haben, ist der falsche Weg;
den kann ich nicht mitgehen. - Diese Menschen tragen
dafür aber respektable Gründe vor.
Allerdings was für Mails ich in diesem Zusammenhang als Reaktion auf meine öffentlichen Interventionen
bekommen habe - nicht nur von Rechtsextremisten -,
das hat mich wirklich erschüttert. Ich muss sagen: Zum
ersten Mal habe ich viele jüdische Freunde verstanden,
die manchmal darüber nachdenken, ob sie in diesem
Volker Beck ({3})
Land weiterhin leben wollen und weiterhin leben können. Ich zitiere nur einige dieser Zuschriften: Das sei das
schlimmste Verbrechen seit Auschwitz. - Juden seien
Babymetzler. - Der Zentralrat der Juden lenke die deutsche Politik, und ich sei ein Judenknecht. - Es gibt Vergleiche der Beschneidungen mit den Medizinversuchen
des Naziarztes Mengele.
Solche Dinge lehnen wir alle hier im Hause gemeinsam ab; das ist klar. Aber wir müssen uns dem stellen;
denn das kommt aus der Mitte der Gesellschaft, das
kommt nicht nur von politisch organisierten Rechtsextremisten. Das ist das Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Da reicht es nicht - obwohl es
absolut notwendig ist -, dass wir auf die Straße gehen,
dahin, wo die NPD und andere Organisationen hetzen,
sondern wir müssen nachhaltig auch etwas für den Einstellungswandel mitten in unserer Gesellschaft tun.
({4})
Das ist die offene Frage, die hier auf dem Tisch liegt.
Die Expertenkommission hat ja nicht nur einen Sachstandsbericht verfasst, sondern sie hat auch viele Empfehlungen erarbeitet. Da muss ich schon sagen: Schade,
dass wir so spät darüber diskutieren; denn der Bericht
war schon im November 2011 fertig. Aber wenn wir
schon so spät darüber diskutieren, hätte ich von Ihnen,
Herr Bundesinnenminister, schon erwartet, dass die
Bundesregierung uns in dieser Debatte eine Antwort auf
die Empfehlungen gibt, aus der hervorgeht, was sie davon wann und wie umsetzen will.
({5})
Ich hätte mir nicht gewünscht, dass sie nur sagt: Das
werden wir alles prüfen. Wir schauen einmal; vielleicht
ist manches auch finanzierbar. - Nein, Herr Bundesinnenminister, wir, Fraktionen und Bundesregierung, müssen uns nach dieser Debatte zusammensetzen und
schauen, wie wir diese Dinge auf den Weg bringen.
({6})
Wir haben hier schon nach den NSU-Morden eine
Resolution verabschiedet. Darin haben wir die Bundesregierung aufgefordert, zu überprüfen, wie wir die
Hürden, die es gegenwärtig bei den unterschiedlichen
Programmen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus gibt - diese Programme machen eine gute Arbeit -,
stabilisieren können und wie wir dafür sorgen können,
dass die Arbeit auch in den Regionen stattfinden kann,
wo sie am nötigsten ist.
Ich habe von der Familienministerin bis heute nichts
dazu gehört, was aus der Überprüfung geworden ist.
Kein Punkt hat sich geändert. Der Bericht kritisiert ausdrücklich das Problem der Kofinanzierungen. In den
Regionen, in denen wir ein besonders starkes Problem
mit Rechtsextremismus und Antisemitismus haben, sind
leider auch bei den kommunalen Akteuren die Sensibilität und das Problembewusstsein für die Problemlage
zuweilen entsprechend schlecht ausgeprägt. Das heißt,
die Bereitschaft der Kommunen, in die Kofinanzierung
einzusteigen, ist gerade dort oftmals nicht vorhanden,
wo die Projekte am notwendigsten sind. Deshalb muss
die Kofinanzierungspflicht weg,
({7})
und wir müssen das ganze Verfahren auch entbürokratisieren.
Wir müssen in dieser Debatte auch zum Ausdruck
bringen, dass wir, was ich eingangs gesagt habe, die
Leute, die diese Arbeit tun - das sind Menschen, die viel
freie Zeit, viel private Energie, oftmals auch viel Geld in
diese Arbeit stecken -
Kollege Volker Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reinhard Grindel?
Ja.
Herr Kollege Beck, im Lichte der Diskussion, die wir
jetzt geführt haben: Sind Sie wirklich der Auffassung,
dass es diesem Thema und dieser Debatte angemessen
ist, einen derartig parteipolitisch-kleinteiligen Redebeitrag zu halten?
Ich habe überhaupt nicht über Parteien geredet; insofern erstaunt es mich, wenn Sie hier von Parteipolitik
reden. Ich habe dazu aufgefordert, dass wir uns fraktionsübergreifend gemeinsam an einen Tisch setzen, um
die Empfehlungen abzuarbeiten.
Wenn wir in den Debatten zu den NSU-Morden, zur
Frage der Bekämpfung von Rechtsextremismus und
Antisemitismus im Hohen Hause übereinstimmend zu
Aufforderungen an die Bundesregierung kommen, erwarte ich schon, dass das nicht leere Worte sind, sondern
dass das Konsequenzen hat.
({0})
Diese stehen aus.
Es geht nicht darum, Herr Grindel - darauf antworte
ich Ihnen wirklich sehr gerne -, dass wir eine Debatte
nach der anderen über Antisemitismus führen und uns
am Holocaust-Gedenktag unserer Geschichte erinnern,
aber für die Zukunft daraus keine Konsequenzen im
Sinne von Prävention ziehen.
({1})
Wir sollen uns hier nicht als Demokraten selbst beweihräuchern, sondern wir müssen die Demokratinnen
und Demokraten, die sich draußen in der Gesellschaft
den Rechten entgegenstellen, ihnen widersprechen, mit
Volker Beck ({2})
den Jugendlichen arbeiten, damit der Einfluss der
Rechtsextremen auf die Köpfe abnimmt, tatkräftig unterstützen. Daran sind wir zu messen und nicht daran, wer
im Deutschen Bundestag die schönste Rede zu diesem
Thema gehalten hat. Am Ende geht es um das, was wir
gemeinsam zustande bringen, um die Welt und unser
Land in die richtige Richtung zu verändern. 20 Prozent
Antisemiten in Deutschland, das kann uns doch nicht ruhen lassen.
({3})
Überlegen Sie, wie viele das hier im Haus wären, wenn
wir uns einrechnen würden. Daran sieht man: Das ist
eine gewaltige Quantität in der Anhängerschaft aller Parteien, aller gesellschaftlichen Organisationen. Dem müssen wir uns stellen. Mit Verlaub, Herr Kollege: Wenn wir
uns über diese Sachen nicht ernsthaft unterhalten - gegebenenfalls auch streiten -, kommen wir keinen Schritt
voran.
({4})
Ich will dazu beitragen, dass wir hier die entsprechenden Dinge auf den Weg bringen. Dazu gehört für mich
die Beseitigung der Extremismusklausel. Dazu gehört
für mich, dass die Projekte, die vor Ort arbeiten, nicht
immer nur eine Finanzierung auf drei Jahre bekommen,
und danach ist Schluss, dann muss man sich ein neues
Projekt ausdenken, oder das Geld geht in eine andere
Stadt, zu einem anderen Träger. Wenn wir verstanden
haben, dass Rechtsextremismus und Antisemitismus ein
kontinuierliches und dauerhaftes Problem in unserem
Land sind, dann muss unsere Gegenstrategie doch
genauso nachhaltig sein. Wir können nicht davon ausgehen, dass nach drei Jahren Projektarbeit das Problem
gelöst ist und wir uns dem nächsten Thema zuwenden
können. Ich glaube, das sind wir vor dem Hintergrund
unserer Geschichte unserem Land und den Menschen in
unserem Land schuldig.
Meines Erachtens ist die Arbeit gegen Antisemitismus nicht vordringlich die Aufgabe der Juden. Nein, es
ist die Aufgabe aller Nichtjuden. Wir können dankbar
sein, dass sich die jüdischen Gemeinden und Organisationen trotzdem - obwohl es nicht ihre Aufgabe ist - so
engagiert um dieses Thema kümmern, und wir müssen
sie dabei unterstützen.
({5})
Vielen Dank, Kollege Volker Beck. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Dr. Hans-Peter Uhl. Bitte schön,
Kollege Dr. Hans-Peter Uhl.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Beck, ich habe das Gefühl,
dass Sie der Erste sind, der in die Debatte einen etwas
anderen Zungenschlag hereingebracht hat, in diese doch
sehr einvernehmliche Struktur des Umgangs mit diesem
hochkomplexen Thema.
({0})
Wenn Sie hier der Bundesregierung Vorwürfe machen, auf Bundesebene werde zu wenig getan, darf ich
mir wenigstens formal den Hinweis erlauben, dass es
noch keine Bundesregierung gegeben hat, die so viel
Geld zumindest für dieses Thema ausgegeben hat wie
die jetzige Bundesregierung. Auch dies muss in diesem
Zusammenhang gesagt werden.
({1})
Man hat die Mittel der Bundeszentrale für politische
Bildung für den Kampf gegen Antisemitismus um
1,4 Millionen Euro erhöht, und man hat die Mittel für
die Arbeit des Zentralrats der Juden in Deutschland von
5 Millionen Euro auf 10 Millionen Euro erhöht. Wenn
wir also diese formale Diskussion führen - das will ich
aber nicht tun -, dann kann man dieser Bundesregierung
wirklich keinen Vorwurf machen.
Meine Damen und Herren, Charlotte Knobloch fragte
anlässlich des sogenannten Beschneidungsurteils des
Kölner Landgerichts in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung: „Wollt ihr uns Juden noch?“ Wenn
Charlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und langjährige Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses, eine solche
Frage stellt - wollt ihr uns Juden noch? -, dann muss uns
das aufschrecken.
Wir haben in München jüdische Nachbarn. Gleich
nach seiner Verkündung haben sie mir dieses Urteil zur
Lektüre herübergereicht. Ich muss ehrlicherweise zugeben: Ich habe dieses Urteil gelesen und hatte als Jurist
am Anfang auch fast Sympathie für die Gedankenabfolge, weil wir in der Juristerei ja gelernt haben, dass
selbst der lebensrettende Einsatz des Skalpells durch den
Arzt formalrechtlich zunächst einmal eine Körperverletzung ist, die dann aber ihren Rechtfertigungsgrund findet usw. usf. Das heißt, die rechtstechnische Art des Umgangs mit dem Thema Beschneidung ist für die Juristen
zunächst einmal nichts Außergewöhnliches.
Kurze Zeit später wurde ich von unseren Nachbarn zu
einer Bar-Mizwa, einer großen Familienfeier, eingeladen, die in etwa der Firmung im Katholizismus entspricht. Dort habe ich Charlotte Knobloch wieder getroffen, und ich habe dabei eine ganz außergewöhnlich
aufgeregte Frau erlebt, die in ihrer Rede gesagt hat: Die
Beschneidung gibt es bei uns seit Tausenden von Jahren.
Sie gab es immer, sie gibt es heute, und sie wird es immer geben, solange es Juden gibt.
Ich habe erst dann, nachdem ich auch mit ihr darüber
geredet und sie mir von den E-Mails und Hinweisen aus
der Bevölkerung berichtet hatte, die sie bekommen hatte
- Herr Thierse hat recht: in der sich daran anschließenden Debatte in Deutschland gab es subkutane antisemitische Untertöne -, langsam verstanden und die nötige
Sensibilität im Umgang mit diesem Urteil bekommen.
Ich glaube, das sollte jeder von uns sehen.
({2})
Auch der Kollege Ruppert hat ja angesprochen, dass
wir vielleicht nicht mehr das Feingefühl für die identitätsstiftende Bedeutung eines solchen Rituals für eine
Religion wie das Judentum haben. Es fehlt uns dieses
Bewusstsein; sonst könnten wir mit diesen Dingen nicht
so rechtstechnisch umgehen.
Ich meine, wir sollten solch irritierende Botschaften
an die bei uns lebenden Juden vermeiden. Insofern ist es
gut, dass wir alles tun, um das jüdische Leben in
Deutschland zu stärken. Wir haben damals sofort einen
Antrag gestellt, und ich hoffe, dass es hier eine große Einigkeit geben wird, wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der im Kabinett ja schon verabschiedet
wurde, im Parlament beschlossen werden wird. Hier darf
es keine Rechtsunsicherheit geben. Das ist sehr, sehr
wichtig.
Wir alle sollten Frau Charlotte Knobloch auf ihre
Frage „Wollt ihr uns Juden noch?“ auch von dieser Stelle
aus gemeinsam zurufen: Jawohl, wir wollen jüdisches
Leben in Deutschland!
({3})
Nun zu der sehr schwierigen Frage: Wie geht man mit
dem subkutan vorhandenen Antisemitismus in Teilen der
Gesellschaft um? Was ist das probateste Mittel? Was
kann der Bund, was können die Länder, was können die
Kommunen tun? Was kann oder muss die gesamte Gesellschaft tun? Wir haben ein Expertengremium einberufen. Dessen Bericht, ein sehr umfangreiches Kompendium mit einem sehr großen analytischen Teil, liegt vor.
Seien wir aber ehrlich: In dem Teil - im Fazit -, in dem
es um ganz konkrete Projekte und ganz konkrete Vorschläge dafür geht, was wir auf Bundesebene jetzt tun
können, um dieses Problem einigermaßen in den Griff
zu bekommen, sind die Vorschläge des Expertenkreises
etwas dünn.
Das ist auch der Grund, warum man dem Innenminister keinen Vorwurf machen kann, irgendetwas aus dem
Expertenkreis nicht umgesetzt zu haben. Das ist nicht
das Thema. Vielmehr sind wir alle etwas zögerlich,
wenn es darum geht, konkrete Projekte auf Bundesebene
zu starten. Ich glaube, es ist ohnehin viel mehr Aufgabe
der Kommunen, den Antisemitismus zu bekämpfen. Wir
sollten assistieren - natürlich! - und alles dazu beitragen, was man tun kann.
Trotz des Angriffs auf den Rabbiner Daniel Alter und
seine Tochter, der entsetzlich und scheußlich ist - der
Rabbiner muss selbstverständlich von allen bestärkt werden -, haben wir in der Kriminalitätsstatistik in Deutschland, die wir alle kennen, im ersten Halbjahr 2012 glücklicherweise nur 13 Fälle von Gewalttaten gegen Juden zu
verzeichnen. Zu diesen 13 Fällen zähle ich nicht die
Schmierereien usw., die wir von Nazihand kennen. Ich
meine nur wirkliche Gewalttaten gegen jüdische Menschen. Es ist gut so, dass es nur 13 Fälle sind, auch wenn
natürlich jeder einzelne Fall einer zu viel ist.
Ich möchte Wert darauf legen, dass wir in den Kommunen, dort, wo am Stammtisch immer wieder Antisemitismus aufflackert, sofort zivilgesellschaftlich tätig
werden müssen, dass wir in den Schulen für Aufklärung
sorgen müssen und dass wir in den Ländern vielleicht
auch die Lehrerausbildung verbessern müssen, um ein
waches Gespür für Antisemitismus zu bekommen.
Ich komme aus München. München hat auf dem Gebiet des Antisemitismus eine ganz besonders unrühmliche Rolle als ehemalige sogenannte Hauptstadt der Bewegung gespielt. Ich bin immer wieder glücklich, wenn
ich in der Synagoge in München bin; übrigens ein ganz
außergewöhnlicher, architektonisch bedeutender Sakralbau, der wirklich sehenswert ist. Ich bin auch glücklich
über den Umstand, dass nur einen Steinwurf weit entfernt vom Alten Rathaussaal, wo zur Reichskristallnacht
aufgerufen wurde, mit dieser Synagoge wieder jüdisches
Leben entstanden ist. Genau dahin gehört es. Inmitten
der Stadt muss der Treffpunkt für jüdisches Leben sein.
So ist es in München, und so sollte es in jeder größeren
Stadt sein. Das heißt gut gelebte Nachbarschaft zwischen uns und den Juden.
In der Adventszeit und in der Weihnachtszeit ist es
vielleicht gut, einmal jüdische Nachbarn und Freunde zu
sich einzuladen. Wir haben das letztes Jahr getan. Es war
sehr bereichernd, was das Verständnis für jüdisches Leben anlangt, diese Nachbarschaft gerade an einem solchen Tag zu erleben.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Hans-Peter Uhl. - Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unsere Kollegin Gabriele Fograscher.
Bitte schön, Frau Kollegin Gabriele Fograscher.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir sollten uns hüten, in dieser Debatte alles
Mögliche miteinander zu vermengen und zu vermischen.
Herr Uhl, die Zuwendungen an den Zentralrat der Juden
sind keine Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus.
({0})
Auch die Diskussion um die Beschneidung muss an anderer Stelle geführt werden.
({1})
Wir sprechen leider erst heute, fast ein Jahr nach seinem Erscheinen, über den ersten Bericht der unabhängigen Expertenkommission. Ich möchte diesem Gremium
für seine umfangreiche, fundierte Vorarbeit und für diesen differenzierten Bericht sehr herzlich danken.
({2})
Mein Dank geht auch an den Vizepräsidenten
Wolfgang Thierse, der zu einer Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung dieses Berichts geladen hatte. Damit
wurde der Blick der Öffentlichkeit nochmals verstärkt
auf das Problem des Antisemitismus in Deutschland und
die damit verbundenen Herausforderungen an Politik
und Gesellschaft gelenkt.
Der vorliegende Bericht fasst unterschiedliche, bereits vorhandene Studien zusammen und kommt zu dem
besorgniserregenden Fazit - ich zitiere -:
Was die Verbreitung antisemitischer Einstellungen
in der Bevölkerung anbelangt, so geben die durch
den Expertenkreis ausgewerteten demoskopischen
Untersuchungen übereinstimmend eine Größenordnung von etwa 20 Prozent latentem Antisemitismus
an.
In dem Bericht wird auch festgestellt, dass es eine
weitverbreitete Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken in der Mitte der Gesellschaft
gibt.
Dieses Ergebnis ist erschreckend; denn es zeigt: Antisemitische Einstellungen gibt es nicht nur an den Rändern, in der rechtsextremistischen und in der islamistischen Szene, sondern eben auch in der Mitte unserer
Gesellschaft. Allein im zweiten Quartal 2012 gab es in
Deutschland 197 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund, darunter sechs Gewalttaten und 39 Propagandadelikte. Dies zeigt, dass es mehr als an der Zeit ist, entschlossen Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Dass etwa ein Fünftel der Bevölkerung antisemitische
Einstellungen hat, ist nicht nur eine Zahl, sondern es beschreibt auch, dass dies der Nährboden für Pöbeleien,
Schmierereien, Drohungen und Angriffe auf Menschen
jüdischen Glaubens auf offener Straße ist. Besonders in
Berlin hat es in letzter Zeit brutale Angriffe auf Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens gegeben.
Am 28. August 2012 wurde der Rabbiner Daniel
Alter, der mit seiner kleinen Tochter in Berlin-Schöneberg unterwegs war, brutal angegriffen. Er wurde gepeinigt und geschlagen. Sein Jochbein wurde zertrümmert.
Laut Polizei sollen die Täter Jugendliche, vermutlich
arabischer Herkunft, sein. Daniel Alter wurde angegriffen, weil er eine Kippa trug und dadurch als Jude zu erkennen war.
Kurz darauf, am 25. September, kam Stephan Kramer,
Generalsekretär des Zentralrates der Juden, in BerlinCharlottenburg mit seinen Kindern aus der Synagoge
und wurde bedroht, weil er sein Gebetsbuch sichtbar
trug. Er zeigte seine Waffe, die er als besonders gefährdete Person tragen darf. Nun wird auch gegen ihn wegen
wechselseitiger Bedrohung ermittelt.
Das sind nur die Fälle, die in die Medien gelangen.
Doch das alltägliche Leben sieht noch anders aus. Viele
Vorfälle werden nicht erfasst, nicht angezeigt und nicht
als antisemitisch motiviert eingestuft. Die Dunkelziffer
ist hoch.
Wir nehmen diese Übergriffe nicht hin. Es sind Angriffe auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Es sind Angriffe auf die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit. Es sind Angriffe gegen jeden
Einzelnen von uns.
({3})
Es kann nicht sein, dass in Deutschland jeder anziehen
kann, was er will, aber eine Kippa nicht. Es kann nicht
sein, dass in Deutschland jeder ein Buch bei sich tragen
kann, aber ein jüdisches Gebetsbuch nicht. Das wollen
und das können und das werden wir als Demokratinnen
und Demokraten nicht zulassen. Deshalb ist es notwendig, dass wir über alle Fraktionsgrenzen hinweg das
Thema Antisemitismus und Judenfeindlichkeit weiter im
Blick behalten, weiter hier im Deutschen Bundestag diskutieren und uns auf präventive Maßnahmen einigen,
um den Antisemitismus in Deutschland wirksam einzudämmen.
Das Expertengremium selbst gibt schon Hinweise,
was zu tun ist. Wir brauchen weiter gehende, tiefer gehende Untersuchungen, Forschungen und Studien auch
zu Teilaspekten, zum Beispiel zu Fragen: Wie tradiert
sich Antisemitismus? Welche Rolle spielt Antisemitismus im Internet? Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders anfällig? Wie kann man diese erreichen? Deshalb
braucht der Deutsche Bundestag weiterhin die Unterstützung und Zuarbeit von externen Experten. Diese Experten brauchen dann für ihre Arbeit eine ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung.
Wir wollen, dass dem Bundestag auch in Zukunft regelmäßig Berichte vorgelegt werden, die wir dann zeitnah
diskutieren können. Wir brauchen eine nachhaltige und
verstetigte Finanzierung der erfolgreichen Projekte gegen
Antisemitismus und gegen Rechtsextremismus. Nur mit
befristeten Modellprojekten werden wir des Problems
nicht Herr werden. Was wir nicht brauchen, ist eine Demokratieerklärung der zivilgesellschaftlichen Projektträger als Voraussetzung für Förderung. Das schafft Misstrauen statt Vertrauen.
({4})
Unser Ziel ist es, einen gemeinsamen Antrag aller
Fraktionen dieses Hauses zu erarbeiten, der unser aller
Anliegen bestärkt und auch weiterentwickelt. Im Anschluss an diese Debatte werden wir das erste Gespräch
dazu führen. Ich hoffe sehr, dass wir gemeinsam einen
kräftigen Schritt weiterkommen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gabi Fograscher. Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Serkan Tören. Bitte schön,
Kollege Serkan Tören.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, diese Debatte ist wirklich nicht geeignet, hier einen Parteienstreit anzufangen. Aber lassen
Sie mich trotzdem etwas dazu sagen, Herr Beck.
Wer hier in schönen Reden und auch in Aufsätzen in
überregionalen Zeitungen immer vom jüdischen Leben
in Deutschland spricht und die Bundesregierung auffordert, so schnell wie möglich einen Gesetzentwurf zur
Beschneidung vorzulegen, gleichzeitig aber keinen
Rückhalt von der eigenen Fraktion bekommt und im
Entschließungsantrag nicht einmal namentlich erscheint
- das Abstimmungsverhalten zu dem Entschließungsantrag, den wir gemeinsam verfasst haben, zeigt, dass die
Grünen da durchaus gespalten waren -,
({0})
der hat, glaube ich, nicht das Recht, sich in irgendeinem
Parteienstreit zu verfangen. Ich bin gespannt, ob Ihre
Fraktion gemeinsam den Antrag dann auch fraktionsübergreifend unterstützen wird.
Bei der Gelegenheit möchte ich mich auch bei der
Justizministerin für den Gesetzentwurf bedanken.
Herr Kollege Tören, Sie haben sicherlich geahnt, dass
der Kollege Volker Beck jetzt eine Zwischenfrage an Sie
richten möchte. Gestatten Sie sie?
Das gestatte ich, ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Eigentlich will ich, wie
es die Geschäftsordnung auch ermöglicht, an diesem
Punkt eine Zwischenbemerkung machen.
Ich habe diese Entschließung des Bundestages mit
unterstützt, und ich habe auch begrüßt, dass es den Gesetzentwurf aus dem Justizministerium gibt. Aber ich
weise ausdrücklich für alle Mitglieder meiner Fraktion,
die diesen Gesetzentwurf nicht unterstützen wollen, weil
sie entweder meinen, es wäre besser, das der Rechtsprechung zu überlassen, oder in der Grundrechtsabwägung
zu einem anderen Ergebnis kommen, den Vorwurf zurück. Dass man sie aus diesem Grund in die Nähe des
Antisemitismus rückt, finde ich eine Ungeheuerlichkeit.
({0})
Ich habe eine dezidiert andere Auffassung als viele
bei uns, die im Namen des Kinderschutzes zu einer anderen Abwägung kommen. Aber ich habe großen Respekt vor ihren Argumenten, und ich möchte mich im
parlamentarischen Verfahren auch darum bemühen, dass
wir möglichst viel von dieser Motivlage noch im Gesetzgebungsverfahren klären und in den Gesetzestext oder in
die Begründung aufnehmen können.
Ich finde es ungeheuerlich, wenn wir diese Debatte
mit solchen Argumenten führen und Leute in eine Ecke
stellen, in die gewiss niemand aus meiner Fraktion und
den Fraktionen der SPD und der Linken gehört, obwohl
es in diesen Fraktionen andere Meinungen gibt. Wie ich
vernommen habe, gibt es auch aus Ihrer Fraktion den
Ruf, die Abstimmung freizugeben, weil es auch bei Ihnen Menschen gibt, die aus respektablen Gründen zu einem anderen Ergebnis kommen als ich, die Mehrheit des
Hauses und die Justizministerin.
Ich kämpfe für meine Überzeugung, und ich glaube,
dass es richtig ist, jüdisches und muslimisches Leben in
dem Punkt Beschneidung nicht zu bestrafen. Aber man
kann doch nicht Menschen die Ehre abschneiden und sie
zu Antisemiten machen, wenn sie aus Kinderschutzgründen und Respekt vor der körperlichen Unversehrtheit zu
einem anderen Ergebnis kommen.
({1})
Ich bitte Sie, sich bei den Leuten, die Sie gerade beleidigt haben, zu entschuldigen.
({2})
Herr Beck, wenn Sie richtig zugehört hätten, dann
hätten Sie feststellen können, dass ich Sie und Ihre Fraktion nicht mit Antisemitismus in Verbindung gebracht
habe, sondern ich habe festgestellt, dass Sie zu einem
Parteienstreit Ausführungen gemacht und uns angegriffen haben, aber selbst in Ihrer Fraktion anscheinend die
Reihen nicht halten können.
({0})
Ich möchte mich bei den Mitgliedern des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus ganz herzlich für
die von ihnen geleistete Arbeit bedanken. Es ist schade,
dass wir auch heute, mehr als 60 Jahre nach dem Ende
des Naziregimes, über Antisemitismus sprechen müssen.
Aber es ist wichtig, richtig und erfreulich, dass wir uns
dieser gesellschaftlichen Herausforderung nach wie vor
entschieden stellen.
Der Bericht des unabhängigen Expertenkreises leistet
dazu einen bedeutenden Beitrag. Eine besondere Bedeutung nimmt er in meinen Augen ein, da er sich nicht nur
mit den alten Formen des Antisemitismus - dem rechtsextremen und linksextremen - beschäftigt. Er setzt sich
darüber hinaus auch mit einer in Deutschland neuen
Form auseinander: dem islamistischen Antisemitismus.
Die Experten haben darauf verwiesen, dass in diesem
Bereich des Antisemitismus noch sehr vieles unklar ist.
Wir brauchen noch viele weitere Studien, um zu verstehen, wie ausgeprägt der islamistische Antisemitismus in
Deutschland tatsächlich ist. Dabei gilt es, mit Vernunft
und Redlichkeit vorzugehen. Der islamistische Antisemitismus als neue und damit für die Öffentlichkeit besonders interessante Form des Antisemitismus darf den
Fokus nicht vom rechten und linken Antisemitismus ablenken.
Gerade im rechtsextremen Bereich werden weit mehr
antisemitische Gewalttaten verübt als im islamistischen.
Nichtsdestotrotz darf aber auch keine falsch verstandene
Toleranz gegenüber Muslimen im Allgemeinen dazu
führen, dass der islamistische Antisemitismus ausgeblendet wird.
Zur Lage in Deutschland. Es gibt islamistischen Antisemitismus in Deutschland, und er hat auch ein Potenzial, zu wachsen; denn mit einer Radikalisierung von
Muslimen geht in der Regel eine stärkere Abneigung gegenüber Juden einher. Auch wenn der Islamismus in
Deutschland weit weniger verbreitet ist als in der Öffentlichkeit angenommen, so bietet er doch Anknüpfungspunkte für antisemitische Einstellungen und Gewalt.
Dem gilt es vorzubeugen und, wo vorhanden, entschieden entgegenzutreten.
({1})
Muslime sind nicht wegen ihrer Religion, sondern
häufig wegen ihres Migrationshintergrunds eine Herausforderung für die Antisemitismusarbeit in Deutschland.
Anders als viele andere Deutsche und genauso wie andere Einwanderer haben sie in der Regel keine Vorfahren, die die Judenverfolgung im nationalsozialistischen
Deutschland als Täter oder Opfer erlebt haben. Es stellt
sich daher die Frage: Wie gehen wir mit Deutschen und
anderen Einwohnern in unserem Land um, die diese Erfahrung nicht teilen?
Ich möchte kurz auf meine persönliche Erfahrung und
meinen Umgang mit diesem Thema im Geschichtsunterricht in der Schule eingehen. Für mich als Einwandererkind war es natürlich nicht einfach, die Geschichte
Deutschlands als eigene Geschichte anzunehmen und die
daraus resultierende Verantwortung zu sehen. Es hat
aber geklappt, weil ich später ein Zugehörigkeitsgefühl
beispielsweise in Vereinen oder in der Nachbarschaft
entwickelt habe. So bin ich zu der Erkenntnis gekommen: Die Geschichte Deutschlands und die Geschichte
des Naziregimes sind auch Teil meiner eigenen Geschichte und Identität. - Ich konnte daraus die richtigen
Lehren ziehen. Aber das ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daran müssen sich die Schulen,
aber auch viele andere beteiligen, damit das funktioniert.
Ich freue mich, dass sich bereits zahlreiche Vereine
von Migranten und Muslimen für die Überwindung und
Vorbeugung antisemitischer Einstellungen engagieren.
Sie schützen und respektieren damit nicht nur das jüdische Leben in Deutschland. Nein, sie bekennen sich dadurch zu unserer vielfältigen Gesellschaft und unterstützen aktiv ihren Erhalt.
Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie uns den
Bericht des unabhängigen Expertenkreises zum Anlass
nehmen, über die alten und die neuen Herausforderungen in der Antisemitismusarbeit zu diskutieren. Lassen
Sie uns gemeinsam Lösungen entwickeln, die ein friedliches und respektvolles Miteinander in Deutschland auf
Dauer ermöglichen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Serkan Tören. - Letzte Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unsere Kollegin Frau Dr. Maria Flachsbarth. Bitte
schön, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Gäste! Es ist schon gesagt worden: Die heutige Debatte hat eine schockierende Aktualität bekommen durch
die Angriffe auf Herrn Rabbiner Alter und seine kleine
Tochter sowie auf Sie, sehr verehrter Herr Generalsekretär Kramer. Das zeigt das hohe Erfordernis, entschieden
gegen Antisemitismus einzutreten. Aber auch die Debatte über die Beschneidung muslimischer und jüdischer
Söhne zeigt dieses hohe Erfordernis. Ich bekomme im
Moment viele Zuschriften zu dieser Problematik. Die
Form der verbalen Auseinandersetzung verletzt zum Teil
die Gefühle der jüdischen und in diesem Fall auch die
der muslimischen Bürgerinnen und Bürger. Manchmal
wird billigend in Kauf genommen, dass jüdische Menschen sich fragen, ob sie mit ihrem Glauben hier in
Deutschland wirklich zu Hause sein können. Es handelt
sich oft um Stereotype, Klischees, Vorurteile und ein
großes Maß an Unkenntnis. Hier gibt es wieder diese unselige und ungute Mischung, die der Expertenbericht zu
Recht anprangert.
Erfreulicherweise gab es jedoch nach diesen negativen Ereignissen eine Welle der Solidarität gerade von
Vertretern der Religionen, aber auch aus der Politik. Es
gab einen Schulterschluss mit der jüdischen Gemeinde.
Ich möchte diesen Menschen zurufen: Selbstverständlich
sind Sie hier willkommen, und selbstverständlich sind
Sie hier in Deutschland zu Hause! - Ich hoffe, dass Demokraten und gläubige Menschen verschiedener Konfessionen nicht nur in dieser Ausnahmesituation zueinanderstehen, sondern dass sie auch weiterhin beherzt
für den Dialog, die Rechte und die Freiheiten anderer
eintreten.
Antisemitismus muss überall da, wo er auftritt, klar
erkannt werden. Er muss klar benannt werden, und er
muss deutlich bekämpft werden. Dazu hat der Antisemitismusbericht mit seiner erweiterten Definition des AntiDr. Maria Flachsbarth
semitismus, seinen Ausarbeitungen zu den verschiedenen Erscheinungsformen und Begründungsmustern
wichtige Erkenntnismerkmale an die Hand gegeben.
Der Bericht hat wachgerüttelt, weil er zeigt, dass es
Antisemitismus nicht nur im rechtsextremen Milieu gibt,
sondern auch in der Breite der Gesellschaft. Er hat uns allen den alarmierenden Auftrag gegeben, alle staatlichen
und zivilgesellschaftlichen Institutionen zu fördern, wenn
es darum geht, sich dagegen einzusetzen, aber auch die
Forderung nach mehr Zivilcourage erhoben; denn es gilt
- das will ich hier auch ganz deutlich sagen -, ein großes
und unverdientes und unerwartetes Geschenk der jüdischen Gemeinden an unser Land zu verteidigen, nämlich
dass nach dem Grauen der Schoah jüdische Menschen
wieder hier in Deutschland leben möchten, dass es wieder
jüdisches Leben in all seinen Strömungen hier in
Deutschland gibt. Es bereichert unsere Gesellschaft, dass
jüdische Gemeinden ihre Bräuche, ihre Traditionen sichtbar leben und mit ihrer Religion hier präsent sind.
({0})
Es ist gut, dass Jüdinnen und Juden als Bürgerinnen und
Bürger die Zukunft Deutschlands mitgestalten möchten,
wobei ich mir persönlich wünschen würde, dass dies
noch mehr als bislang auch im Rahmen zum Beispiel
von politischen Mandaten auf allen Ebenen geschieht.
Dieses Bekenntnis, Antisemitismus zu bekämpfen
und jüdisches Leben zu fördern, ist nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern es ist auch Anlass, in dieser Debatte
zu bilanzieren, was denn seit der letzten Legislaturperiode geschehen ist. Die Einsetzung des Expertenkreises
und die Aufstockung der jährlichen Mittel für die Arbeit
des Zentralrats sind hier schon mehrfach genannt worden. Um Antisemitismus aber wirksam entgegentreten
zu können, muss das Wissen um das Judentum an die
Stelle von stupiden Vorurteilen treten. Deshalb ist es
richtig und gut, dass erst vor wenigen Monaten in Anwesenheit von Ministerin Annette Schavan das Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg eröffnet wurde, mit
dem die drei Universitäten Berlins, die Universität
Potsdam, das Moses-Mendelssohn-Zentrum und das
Abraham-Geiger-Kolleg gemeinsam die Forschung und
Lehre in diesem Bereich verstärken. Der Bund gibt dafür
eine Anschubfinanzierung von fast 7 Millionen Euro.
Ebenso werden die Hochschule für Jüdische Studien
in Heidelberg und das Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam weiter gefördert. Es ist ein großer Gewinn für unser
Land, dass die Ordination von 14 Rabbinerinnen und
Rabbinern, die in Potsdam ausgebildet worden sind, gefeiert werden konnte.
Mit ganz besonders großer Freude verfolge ich persönlich die Entwicklung des noch recht jungen ErnstLudwig-Ehrlich-Studienwerks, in dem derzeit 200 junge
Studierende und Promovierende materiell und ideell gefördert werden, die als aktive Bürgerinnen und Bürger
jüdischen Glaubens an wissenschaftlich relevanten Positionen die Geschicke unseres Landes mitgestalten werden.
Wir sind uns einig: Dieser Bericht hilft, dem Antisemitismus wirksam entgegenzutreten, indem er eine Bestandsaufnahme vorlegt. Deshalb sollte in jeder Legislaturperiode ein solcher Bericht erstellt werden, der
ausweist: Wo treten antisemitische Ressentiments vorrangig auf? Was können wir dagegen tun? Wo zeigen
Präventionsmodelle Erfolg, wo nicht? Wo haben wir
Zielgruppen noch zu wenig erreicht? Wie können Präventionsprogramme effektiv weiterentwickelt werden?
Es geht meiner Meinung nach aber nicht darum, ein
weiteres Gremium zu verstetigen. Was wir brauchen,
sind eine kontinuierliche Überprüfung der Befunde und
praxisorientierte Empfehlungen. Daher plädiere ich dafür, dass künftig durch die Bundesregierung eine solche
Berichterstattung erfolgt, zu der die Evaluation der Bundesprogramme zur Extremismusprävention herangezogen werden und bei Bedarf auch weitere wissenschaftliche Expertise von externen Gutachtern angefordert wird.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch einmal
auf die vielen kleinen und lokalen Initiativen hinweisen;
denn oft sind es gerade diese ehrenamtlich getragenen
Initiativen, die vor Ort Großartiges leisten, zum Beispiel
der Verein „Begegnung - Christen und Juden“ in Niedersachsen oder auch die bundesweit tätigen Gesellschaften
für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die an vielen
Orten mit wenigen Menschen, aber mit viel Herzblut
ganz wichtige Ergebnisse erzielen, weil sie es nämlich
sind, die die Begegnung in der Nachbarschaft ermöglichen, die Unkenntnis, Fremdheit und Vorurteile überwinden und persönliche Freundschaften entstehen lassen. Dafür möchte ich ihnen sehr herzlich danken.
({1})
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache. Wir haben eine wichtige und wertvolle Debatte geführt. Danke für all Ihre Beiträge und Ihre Teilnahme.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir gemeinsam die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin der Justiz, unsere Kollegin
Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Bitte schön,
Frau Bundesministerin.
Recht herzlichen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in zwei Entscheidungen aus den Jahren 2010 und 2011 festgestellt, dass es
mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht
vereinbar ist, den leiblichen, also den biologischen Vater,
der keine enge Bezugsperson des Kindes ist, kategorisch
vom Recht auf Umgang mit dem Kind und vom Recht
auf Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse auszuschließen, dies also ohne Rücksicht auf die individuellen Kindesinteressen und ohne Rücksicht darauf zu tun,
ob ihm das Fehlen einer sozial-familiären Beziehung zugerechnet werden muss oder nicht.
Mit dem heute vom Bundeskabinett beschlossenen
Gesetzentwurf wird das Umgangs- und Auskunftsrecht
des biologischen Vaters konventionskonform ausgestaltet und in einen angemessenen Ausgleich mit den Interessen der sozialen Familie gebracht. Im Zentrum steht
dabei das Wohl des Kindes.
Der Entwurf stärkt in einer eigenen Bestimmung die
Rechte des biologischen Vaters in zweierlei Hinsicht:
Erstens soll es für das Umgangsrecht des leiblichen
Vaters künftig nicht mehr darauf ankommen, ob bereits
eine enge Beziehung zum Kind besteht, also ob der Vater
über längere Zeit mit dem Kind in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, ob er einmal Verantwortung übernommen hat oder sich sonst um das Kind gekümmert hat.
Entscheidend wird vielmehr sein, ob der leibliche Vater
ein nachhaltiges Interesse an seinem Kind zeigt und ob
der Kontakt auch dem Wohl des Kindes dient. Das Kriterium eines nachhaltigen Interesses, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seinen Entscheidungen entwickelt wurde, stellt darauf ab, ob die
Bereitschaft des leiblichen Vaters zur Zuwendung zum
Kind im Einzelfall tatsächlich manifest geworden ist. Da
gibt es unterschiedlichste tatsächliche Situationen, die
man gar nicht alle im Einzelnen aufzählen kann. Dazu
gehören die räumliche Nähe zum Kind, überhaupt der
Versuch der Kontaktaufnahme, eine frühere enge Beziehung - vielleicht auch in Vorbereitung der Geburt - zum
Kind und zur Mutter. Dieses bewusst offen gewählte Tatbestandsmerkmal soll den Gerichten die Möglichkeit geben, im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob hinter dem
gestellten Antrag auf Umgang mit dem Kind wirklich
ein echtes nachhaltiges Interesse des leiblichen Vaters
am Kind steht. Anders als nach bisheriger Rechtslage hat
der leibliche Vater zukünftig auch dann die Möglichkeit,
Kontakt zu seinem Kind aufzubauen, wenn die rechtlichen Eltern - das ist ja die Ausgangskonstellation für
diese neue gesetzliche Bestimmung - ohne Rücksicht
auf das Kindeswohl jeglichen Kontakt verweigern.
Zweitens erhält der leibliche Vater, wenn er tatsächlich Interesse an seinem Kind zeigt, das Recht, von den
rechtlichen Eltern Auskunft über die persönlichen Verhältnisse und die Entwicklung des Kindes zu erhalten.
Aber auch hier gilt, dass das dem Wohl des Kindes dienen muss. Bisher haben nur die rechtlichen Eltern ein
gegenseitiges Auskunftsrecht.
Die rechtliche Stärkung des leiblichen Vaters durch
Umgangs- und Auskunftsrecht ist an die Bedingung geknüpft, dass der Antragsteller wirklich der leibliche Vater ist. Steht die biologische Vaterschaft nicht fest, weil
sie zum Beispiel von den rechtlichen Eltern, von der
Mutter oder auch vom rechtlichen Vater, bestritten wird,
muss sie im gerichtlichen Verfahren geklärt werden,
möglicherweise auch im Rahmen einer Beweiserhebung.
Deshalb sehen wir auch noch eine entsprechende verfahrensrechtliche Regelung vor.
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir also das verständliche Anliegen des leiblichen Vaters hinsichtlich
des Umgangs mit seinem Kind, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, in Einklang bringen mit den schützenswerten Interessen der sozialen Familie, die daraus
erwachsen, dass die rechtlichen Eltern mit dem Kind
oder den Kindern lange zusammenleben und den Kindern damit Rückhalt und Geborgenheit geben. Das alles
ist sehr schwierig in solchen persönlichen, emotional behafteten Beziehungen. Ich denke, wir tragen hiermit den
Interessen des leiblichen Vaters in vorsichtiger, zurückhaltender Form Rechnung.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. - Wir kommen
zunächst zu den Fragen, die zu diesem Themenbereich
gehören. Eine erste Wortmeldung habe ich schon. Die
Frage stellt Frau Kollegin Sonja Steffen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Zunächst einmal vorweg: Ich denke, wir alle hier begrüßen die Stärkung der
Rechte des leiblichen Vaters. Sie haben vorhin aber auch
dargestellt, worin die Probleme liegen, nämlich die Interessen der möglicherweise gewachsenen Familie angemessen zu berücksichtigen und dabei das Kindeswohl
nicht außer Acht zu lassen.
Wir haben, wenn es um das Anfechtungsrecht des
leiblichen Vaters geht, schon eine Regelung im Gesetz.
Das ist § 1600 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 1600
Abs. 4 BGB. Dort heißt es, dass das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater, der Mutter und dem Kind das Anfechtungsrecht des
leiblichen Vaters ausschließt. Diese Bestimmung kommt
mitunter zum Tragen. In Ihrem bisherigen Entwurf habe
ich sie nicht gefunden. Deshalb meine Frage: Ist beabsichtigt, der sozial-familiären Beziehung eine größere
Bedeutung beizumessen?
Wir gehen in unserem Gesetzentwurf einen anderen
Weg, indem wir im Zusammenhang mit dem jetzt geschaffenen Recht auf Umgang und Auskunft inzidenter
die Möglichkeit bei Streitigkeiten eröffnen, die Abstammung zu klären. Wir gehen nicht den Weg, dem leiblichen Vater generell ein eigenes, neues Anfechtungsrecht
zu geben, wenn es rechtliche Eltern gibt. Ein solches
selbstständiges Anfechtungsrecht hieße, in die sozial intakte Familie hineinzuregieren. Deshalb stellen wir das
Anfechtungsrecht nicht neben die Möglichkeiten, die
wir dem leiblichen Vater eröffnen - wovon er bisher,
wenn die rechtlichen Eltern es so wollen, komplett ausgeschlossen ist, wenn er keine enge Bezugsperson des
Kindes werden will -; denn wir wollen keine Aufweichung oder Erweiterung von Anfechtungsrechten.
Vielen Dank. - Ich habe jetzt eine ganze Fülle von
Wortmeldungen. Ich bitte um Nachsicht, wenn mein
Versuch, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen,
misslingt; dafür entschuldige ich mich gleich von vornherein.
Die nächste Fragestellerin, die ich gesehen habe, ist
Frau Kollegin Mechthild Dyckmans.
Frau Minister, Sie hatten es schon erwähnt, aber ich
möchte es etwas genauer wissen. Wenn die leibliche Vaterschaft des Antragstellers nicht feststeht, können dann
die rechtlichen Eltern verhindern, dass diese festgestellt
wird? Das ist ja oftmals ein Problem. Sie haben es zwar
schon erwähnt, aber vielleicht können Sie darauf noch
einmal genauer eingehen.
Diese Konstellation ist sicherlich häufig anzutreffen:
Eine dritte Person kommt hinzu und sagt, sie sei der leibliche Vater. Diese Person hat vielleicht längere Zeit überhaupt keinen Kontakt zum Kind oder zur Mutter gehabt
und beansprucht nun Rechte, in diesem Fall - darauf
konzentrieren wir uns - Umgangsrecht und Auskunftsrecht.
Wenn dann die Mutter bestreitet, dass diese Person
der leibliche Vater ist, muss er, wenn er Rechte erhalten
möchte, in jedem Fall durch eine eidesstattliche Erklärung zum Ausdruck bringen - das ist eine neue Bestimmung im FamFG -, dass er der Mutter in der fraglichen
Zeit beigewohnt hat. Dies ist immer Grundlage für die
Geltendmachung eines Anspruchs auf Umgang.
Es ist bekannt, dass die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Erklärung Konsequenzen nach sich zieht.
Wenn das Gericht für den Fall, dass diese Erklärung seitens der Mutter bestritten wird, die Notwendigkeit der
Klärung der Abstammung sieht, kann dies im gleichen
Verfahren vorrangig - bevor man zur Frage des Kindeswohls kommt - geprüft werden. Dann entsteht die Verpflichtung - das regeln wir in dieser Verfahrensbestimmung im FamFG -, dass entsprechende Untersuchungen
angestellt werden, um die Abstammungsfrage zu klären.
Sowohl das Kind als auch die Mutter müssen dann diese
Untersuchung über sich ergehen lassen.
Nächste Fragestellerin ist unsere Kollegin Ingrid
Hönlinger.
Frau Ministerin, vielen Dank für die Einführung in
diesen Gesetzentwurf. Es freut mich sehr, dass wir mit
diesem Gesetz die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte zum Umgangs- und
Auskunftsrecht des leiblichen Vaters umsetzen wollen.
Ich habe eine Frage zu den unbestimmten Rechtsbegriffen, die sich in der Vorschrift befinden. Zum einen
wird gesagt, der Vater müsse durch sein Verhalten gezeigt haben, dass er Verantwortung übernehmen will,
zum anderen muss ein „berechtigtes Interesse“ vorliegen. Könnten Sie bitte Beispielmaterial liefern, was Sie
darunter verstehen?
Es geht um ein nachhaltiges Interesse, das in § 1686 a
BGB, der neuen Vorschrift, geregelt ist. In der Begründung haben wir einige Beispielfälle angeführt, die Anhaltspunkte liefern können, ohne eine abschließende
Aufzählung darzustellen.
Dieses Interesse kann beispielsweise darin liegen,
dass sich der Vater über längere Zeit intensiv um Kontakt zum Kind und Informationen bemüht, sich vielleicht
auch zum Zeitpunkt der Geburt bemüht hat, indem er
beispielsweise in der Nähe der Mutter und des Kindes
wohnte oder Hilfestellungen angeboten hat, also im
Grunde sein gesamtes Verhalten zum Ausdruck bringt,
dass er wirklich ein Interesse am Kind hat. Es geht darum, dass er eben nicht - das hat uns auch sehr beschäftigt - vielleicht aufgrund rein emotionaler Verfasstheit
die rechtliche Elternschaft und die Beziehung innerhalb
der Familie stören möchte, und zwar aus ganz anderen
Gründen, die nichts mit dem Interesse am Kind und dem
Kindeswohl zu tun haben.
Vielen Dank. - Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Ute Granold.
Im Anschluss an die Frage der Kollegin Dyckmans
habe ich eine Frage zum Verfahren: Wäre es, weil ja das
Umgangsrecht dem Wohle des Kindes dienen soll, nicht
sinnvoll, dass zunächst die Vaterschaft verbindlich festgestellt wird, bevor gegebenenfalls ein gerichtliches Verfahren auf Umgangsregelung eingeleitet wird? Wäre es
dem Vater nicht zumutbar, zunächst in einem separaten
Verfahren auf eigenes Risiko die Vaterschaft feststellen
zu lassen und erst danach gegebenenfalls sein Umgangsrecht gerichtlich klären zu lassen?
Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden,
und zwar aufgrund folgender Überlegungen: Wenn seitens des Vaters gar nicht erst nachhaltig vorgetragen
wird, dass ein wirkliches Interesse vorliegt, oder wenn
aufgrund der Gesamtumstände das Umgangsrecht mit einer dritten Person - neben den rechtlichen Eltern - nicht
dem Kindeswohl entspricht, dann wollen wir gar nicht,
dass losgelöst von diesen Voraussetzungen ein Prozess
zur Feststellung der tatsächlichen Abstammung geführt
wird. Vielmehr soll gerade mit Blick auf das Kind und
das Kindeswohl nicht die ausschließliche Klärung der
Abstammung ermöglicht werden; dies soll immer nur
mit Bezug auf das Interesse am Kind und auf das Kindeswohl möglich sein. Alles andere sehen wir als eine
zusätzliche Belastung an.
Wir wollen auch Männern die Chance der Fragestellung geben. Kollege Jörn Wunderlich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Justizministerin,
Sie sagten, Sie gingen einen anderen Weg. Der Gesetzentwurf betrifft nur die Fälle der leiblichen Väter, die
nicht rechtliche Väter sind, also nach geltender Rechtslage die Fälle jener leiblichen Väter, die weder Ehemann
noch durch Vaterschaftsanerkennungsurkunde anerkannte Väter sind. Das FamFG wollen Sie dahin gehend
ändern, dass letztendlich eine eidesstattliche Erklärung
ausreicht, um eine Prüfung durchführen zu lassen, inwieweit ein Umgang gewährt werden muss. Nach der UNKinderrechtskonvention hat jedes Kind das Recht, seine
Herkunft, seine Abstammung zu erfahren.
In Ihrem Gesetzentwurf sind aber viele unbestimmte
Begriffe enthalten - es ist schon gesagt worden -, zum
Beispiel „nachhaltiges Interesse“, „berechtigtes Interesse“. Erst in der zweiten oder gar dritten Stufe folgt
das Kindeswohl. Es kann sogar zu Blutentnahmen bei
Mutter und Kind und beim erklärten leiblichen Vater
kommen. Da frage ich: Muss die Kindeswohlfrage nicht
in den Vordergrund gerückt werden, gerade bei sozial intakten Familien, bei denen plötzlich von außen - ich
sage es einmal so, ohne dass ich irgendwelchen leiblichen Vätern zu nahe treten will - ein „Eindringling“
kommt?
Wir sagen ja gerade, dass es dem Gericht bei dieser
Prüfung überlassen ist, zu sagen: Es ist offenkundig,
dass es nicht dem Kindeswohl dient. - Dann wird das
Gericht nicht in andere Prüfungen einsteigen. Wir wollen eine losgelöste, vorangestellte Feststellung der Abstammung generell nicht vorsehen. Das war ein Aspekt
im Zusammenhang mit der Beteiligung der Länder; ein
entsprechender Vorschlag ist in verschiedenen Formulierungen eingebracht worden. Gerade mit Blick auf das
Kindeswohl sehen wir eine losgelöste Feststellung nicht
vor. Wir geben dem Gericht Möglichkeiten, zu prüfen
und zu entscheiden, wie prioritär das Kindeswohl bei der
Frage einer weiteren Beweiserhebung zu beurteilen ist;
denn das Kindeswohl spielt für uns eine entscheidende
Rolle. Dass ein Antrag nur dann zulässig ist - das besagt
der neue § 167 a -, wenn der Antragsteller an Eides statt
erklärt, er habe beigewohnt, soll von vornherein vermeiden helfen, dass Umgangsanträge einfach ins Blaue gestellt werden, und diese unzulässig machen. In einem
entsprechenden Fall braucht man in andere Prüfungen
nicht mehr einzusteigen. Ich glaube, auch das wird dem
Kindeswohl wirklich gerecht.
Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Katja Dörner.
Vielen Dank, Frau Ministerin, für Ihre Ausführungen.
Sie haben schon einiges zur durchaus heiklen Angelegenheit der Feststellung der leiblichen Vaterschaft gesagt, die unter bestimmten Voraussetzungen - auch das
haben Sie ausgeführt - sehr wohl verlangt werden kann.
Ich würde Sie bitten, auszuführen, wie sich das aus Ihrer
Sicht in Relation dazu verhält, dass die bestehenden
sozial-familiären Beziehungen im Interesse des Kindeswohls durchaus schützenswert sind; das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich festgestellt.
Gerade der Aspekt, dass hier die intakte sozial-familiäre
Beziehung nicht gefährdet werden soll, hat uns bei der
Formulierung des Gesetzes geleitet. Auf der anderen
Seite können wir nicht an der geltenden Rechtslage
festhalten, die den leiblichen Vater sehr grundsätzlich
weitestgehend von jeglicher Form des Umgangsrechts
ausgeschlossen hat, es sei denn, er ist schon enge Bezugsperson. Das können die rechtlichen Eltern nach geltendem Recht verhindern, indem sie sagen: Nein, wir
lassen es nicht zu, dass ein Kontakt besteht.
Wir machen einen, wie ich finde, sehr vorsichtigen
Schritt, weil wir es auch im Interesse des Kindeswohls
für sehr wichtig halten, dass die intakte Familienbeziehung bestehen bleibt. Deshalb stellen wir Anforderungen an die Zulässigkeit des Antrages, Stichwort Beiwohnung. Wir schaffen mit dem Gesetz aber nicht ein neues,
losgelöstes Anfechtungsrecht. Das ist in vielen Zusammenhängen immer wieder erörtert worden. Denn dann
würde dem Kind in einem gerichtlichen Anfechtungsverfahren vielleicht der rechtliche Vater genommen, und
das hätte zur Folge, dass die über Jahre bestehende sozial intakte Familie dahin wäre. Das Kind hätte den
rechtlichen Vater verloren, und der leibliche Vater hätte
möglicherweise gar kein nachhaltiges Interesse, Rechte
und Pflichten zu übernehmen.
Ich denke, deshalb ist es gut, dass wir die zurückhaltende Herangehensweise gewählt haben, nur das Umgangs- und Auskunftsrecht zu gewähren - darauf bezog
sich auch die EGMR-Entscheidung; wir gehen also nicht
darüber hinaus -, dies an bestimmte Voraussetzungen zu
knüpfen und dem Gericht im Verfahren die Möglichkeit
zu eröffnen, eine Beweiserhebung hinsichtlich der Abstammung vorzunehmen. Schonender geht es meiner
Ansicht nach eigentlich nicht bei der Abwägung zwischen den Gesichtspunkten der sozial intakten Familie
einerseits und gewissen Rechten des leiblichen Vaters
andererseits.
Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker.
Danke schön für die Möglichkeit zur Fragestellung. Frau Ministerin, sowohl beim Recht auf Umgang als
auch beim Recht auf Auskunft ist das Kindeswohl das
maßgebliche Kriterium. Sie haben hier allerdings unterschiedliche Maßstäbe angelegt. Beim Recht auf Umgang
muss der Umgang dem Kindeswohl dienen. Beim Recht
auf Auskunft hingegen ist eine negative Kindeswohlprüfung erforderlich; die Ausübung des Rechts auf
Auskunft darf dem Wohl des Kindes also nicht widersprechen.
Vielleicht können Sie noch einmal erklären, welche
Aspekte zu diesen unterschiedlichen Maßstäben geführt
haben. Inwiefern ist an diesen beiden Stellen ein mögliches Schutzinteresse der sozial intakten Familie mit zu
berücksichtigen, da dies ja kein eigenständiges Prüfkriterium ist?
Wir haben das Umgangsrecht und das Auskunftsrecht
an unterschiedliche Anforderungen geknüpft. Beim
Recht auf Umgang geht es unmittelbar darum, dass direkter Kontakt zum Kind bestehen soll. Insofern muss
das Kindeswohl bei einer Endabwägung des Gerichts
das ausschlaggebende Kriterium sein.
Bei dem Anspruch auf Auskunft über die persönlichen Verhältnisse geht es darum, von den rechtlichen Eltern Einzelheiten zur Entwicklung des Kindes zu erfahren, ohne dass damit bereits der Anspruch auf Umgang
begründet wird. Der Antragsteller muss hieran ein berechtigtes Interesse haben und kann nicht einfach ins
Blaue hinein sagen: Jetzt will ich alles Mögliche wissen.
Wir haben hier eine etwas schwächere Formulierung
gewählt. Es heißt nicht: „muss dem Kindeswohl dienen“,
sondern: „dem Kindeswohl nicht widerspricht“. Es sollen keinerlei Auskünfte gegeben werden, die aus Sicht
der rechtlichen Eltern dem Kindeswohl widersprechen
würden.
Aus diesen Gründen haben wir uns für eine etwas unterschiedliche Gewichtung entschieden. Aber beide
Fälle haben wir mit Anforderungen versehen, die zwar
ziemlich große Hürden darstellen, die ich aber für richtig
halte.
Vielen Dank. - Nächste Fragestellerin ist unsere Kollegin Marlene Rupprecht.
Das Kindeswohl wurde jetzt mehrmals erwähnt. Normalerweise sind die Eltern für das Kindeswohl zuständig, und ich finde, da ist es auch gut aufgehoben. Ich
frage mich allerdings, ob es in einer Situation, in der sich
oftmals zwei oder drei Parteien streiten - ob leiblicher
Vater, rechtlicher Vater oder leibliche Mutter -, dort
wirklich gut aufgehoben ist. Schließlich können die Interessen der genannten Parteien mit denen des Kindes
kollidieren, und möglicherweise treffen die Parteien untereinander eine Regelung, die nicht unbedingt dem Kindesinteresse - ich sage jetzt bewusst nicht „Kindeswohl“, sondern „Kindesinteresse“ - entspricht.
Für mich stellt sich daher folgende Frage: Wäre es
nicht sinnvoll, dem Kind von Anfang an einen Interessenvertreter zur Seite zu stellen? Ich glaube nämlich,
dass - ich will es vorsichtig formulieren - die anwaltschaftliche Vertretung des Kindes vor den Familiengerichten nicht immer so sehr im Mittelpunkt steht, wie
es eigentlich notwendig wäre, um die Interessen des
Kindes zu vertreten. Meine Frage lautet: Gibt es in diesem Fall eine Vertretung, zum Beispiel in Form eines
Rechtsbeistandes?
Die Wahlfreiheit, die wir schenken - Auskunft geben
oder nicht -, führt gegebenenfalls zu Pflichten. Wenn
wir die Biologie hoch einstufen - das tun wir mit dem
Begriff des biologischen Vaters -, dann darf es auch
keine Wahlfreiheit geben, wenn es darum geht, ob ich
meinen Pflichten nachkomme oder nicht. Vielleicht habe
ich Sie falsch verstanden. Ich möchte Sie bitten, das zu
erklären. - Danke.
Die Frage ist, glaube ich, angekommen.
Vielleicht zuerst zu Ihrem letzten Punkt, Frau
Rupprecht: Wir wollen auf keinen Fall eine Pflicht zum
Umgang. Auch bezogen auf andere Personen - wir
haben eine Personengruppe aufgeführt, für die ein Umgangsrecht möglich ist - haben wir keine Verpflichtung
zum Umgang vorgesehen. Beim biologischen Vater wollen wir eine solche Verpflichtung schon gar nicht. Wir
wollen nur prüfen, ob es aufgrund bestimmter Voraussetzungen vertretbar ist - das geht nicht voraussetzungslos -,
dass der biologische Vater Umgang mit dem Kind hat.
Wir wollen auf keinen Fall eine Verpflichtung zum Umgang. Das würde auch eine ganz andere Art der Prüfung
bedeuten. Das haben wir ganz bewusst nicht gemacht.
Das ist auch ansonsten nicht im Familienrecht verankert.
Zu Ihrer anderen Frage. Im Gegensatz zu anders gelagerten Familienrechtsstreitigkeiten haben wir hier die Situation, dass es rechtliche Eltern bzw. eine sozial intakte
Familie gibt. Das Kind, das möglicherweise nicht vom
rechtlichen Vater gezeugt wurde, lebt also, vielleicht zusammen mit Geschwistern, in dieser Familie. So war der
Sachverhalt in dem einen Fall, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugrunde lag.
Ich denke, in diesem Fall haben zuallererst die rechtlichen Eltern die Entscheidungskompetenz, so sage ich
es einmal. Ich glaube nicht, dass man dieser besonderen
Interessenlage und insbesondere dem Interesse des
Kindes Rechnung trägt, wenn man eine gesetzliche
Verpflichtung vorsieht, nach der dem Kind immer ein
Anwalt zur Seite gestellt werden muss.
Im Verfahren haben wir viele andere Möglichkeiten,
da dann die allgemeinen Regelungen für das familiengerichtliche Verfahren, FamFG, gelten. Wir schaffen hier ja
nur eine zusätzliche Möglichkeit im Hinblick auf diese
besondere Konstellation. Dabei geht es um die Feststellung der leiblichen Vaterschaft, also der Abstammung.
Ansonsten bietet das FamFG Möglichkeiten, wenn sich
das Kind selbst einbringen will bzw. soll. Dabei geht es
immer um das Kindeswohl: Dient das dem Kindeswohl?
Wir haben inzwischen, nach langem Kampf, in gewissem Umfang Ausgestaltungsmöglichkeiten verankert Stichwort Anwalt des Kindes -, die diesem Anliegen
Rechnung tragen.
Vielen Dank. - Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Ewa Klamt.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, auch ich möchte auf
das Umgangsrecht eingehen, nicht auf die Pflicht zum
Umgang, sondern auf das Recht auf Umgang. Wie muss
ich mir das vorstellen? Wie regle ich das für ein relativ
kleines Kind? Wie hat das auszusehen? Wird das angelehnt an das, was Familiengerichte zum Beispiel nach einer Scheidung entscheiden? Kann das in diesem Fall ein
begleitetes Umgangsrecht sein, da das Kind bei sogenannten rechtlichen Eltern lebt?
Dazu machen wir bewusst keinerlei weitere Ausführungen im Gesetz selbst. Es kommt auf die konkrete Situation an. Zu berücksichtigen ist aber auch, was bereits
jetzt im Rahmen des Umgangsrechts möglich ist. Es gibt
vielfältige Möglichkeiten zur Ausgestaltung des
Umgangsrechts in der konkreten Situation. Wenn die
Voraussetzungen zur Gewährung des Umgangsrechts
vorliegen, wenn dies kindesgerecht und altersgerecht ist,
dann kann man es anordnen. Dabei geht es auch um die
Frage - Sie haben das angesprochen -, inwieweit jemand dabei sein soll oder nicht. In diesem Zusammenhang gilt all das, was auch ansonsten hinsichtlich der
Ausgestaltung des Umgangsrechts gilt. Das ist Sache des
zuständigen Gerichts.
Vielen Dank. - Die nächste Frage stellt unsere Kollegin Katja Keul.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, ich habe nach Ihren
Ausführungen jetzt durchaus den Eindruck, dass Sie das
Kindeswohl tatsächlich bestmöglich berücksichtigen
wollen. Mich treibt aber noch eine andere Sache um. Sie
haben gesagt, dass die biologische Vaterschaft in diesem
Verfahren gegebenenfalls inzident überprüft und festgestellt werden muss. Das würde zu einer völlig neuen Situation führen. Wenn die biologische Vaterschaft eines
Mannes festgestellt würde, ohne dass die Vaterschaft des
rechtlichen Vaters angefochten wird, würde das dazu
führen, dass es in Zukunft zwei gerichtlich festgestellte
Väter für ein Kind geben kann. Dies galt bisher als ausgeschlossen. Es würde also einen gerichtlich festgestellten Vater geben, der rechtlicher Vater ist, und dann
würde es - das wäre systemwidrig - einen weiteren gerichtlich festgestellten Vater geben, der nicht rechtlicher
Vater sein soll. Das wäre etwas völlig Neues. Habe ich
das richtig verstanden?
Wir begehen Neuland, indem wir den biologischen
Vater ein Stück weit in eine Beziehung zum Kind und zu
den rechtlichen Eltern bringen. Nehmen wir an, dass
rechtliche Elternschaft gegeben ist und es Streit um die
biologische Vaterschaft gibt, dass die Mutter die leibliche Vaterschaft des Mannes zum Beispiel vehement bestreitet und sagt, das stimme nicht, dieser Mann könne
nicht der biologische Vater sein. Es kann ja nicht sein,
dass wir das ungeprüft lassen und auf der Grundlage dieses ungelösten Streits sagen: Ob er nun der biologische
Vater ist oder nicht, er bekommt kein Umgangsrecht.
Das würde dann auch nicht im Einklang mit dem Konventionsrecht der EMRK stehen. Daher sehen wir in
§ 163 a Abs. 2 vor, dass zur Klärung der leiblichen Vaterschaft die entsprechenden Untersuchungen, wie wir
sie an anderen Stellen im geltenden Recht schon geregelt
haben, vorzunehmen sind.
In anderen Fällen kann die biologische Vaterschaft
auch unstreitig sein. Es kann natürlich auch sein, dass
die Mutter sagt: Jawohl, das ist der leibliche Vater. Auch
dann gibt es einen leiblichen Vater und einen rechtlichen
Vater. Im Falle des Streits um den leiblichen Vater erfolgt im Rahmen dieses neu geschaffenen Umgangsrechtes die Feststellung, ob er es ist oder nicht.
Natürlich haben wir damit eine neue Situation, aber
dadurch kommt es nicht zur Anfechtung des rechtlichen
Vaters. Es wäre etwas anderes, wenn ich generell ein Anfechtungsrecht schaffen würde. Gerade das machen wir
ganz bewusst nicht; denn die neue Regelung soll nicht
dazu führen, dass das Kind seinen rechtlichen Vater verliert.
Vielen Dank. - Nächster Fragesteller - wieder aus
dem männlichen Bereich - ist der Kollege Stephan
Thomae.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Ministerin, eine
Frage zum Verfahren: Was gilt während der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes? Müssen
oder können nationale Gerichte die Rechtsprechung des
EGMR in solchen Verfahren bereits jetzt anwenden, bevor das neue Gesetz in Kraft tritt?
Es gibt einen Grundsatz: Die nationale Justiz muss
prüfen, inwieweit eine Entscheidung des EGMR EinBundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
gang finden kann in nationales Recht, ohne dass es bisher eine gesetzliche Umsetzung gibt. Wir haben uns das
genau angesehen; sonst hätten wir vielleicht gar keine
Regelung schaffen müssen. In § 1684 BGB, also im geltenden Recht, ist festgelegt, wann es ein Umgangsrecht
Dritter geben kann, nämlich dann, wenn der Betreffende
eine enge Bezugsperson ist. Hier kann man das Gesetz
also nicht entsprechend der Entscheidung des EGMR
auslegen. Die bisherige Regelung im BGB steht dem
entgegen, was wir jetzt hier schaffen. Deshalb brauchen
wir diese neue Regelung. Bis wir sie verabschiedet haben, wird es real keinen Weg geben, dass ein leiblicher
Vater ein Umgangs- oder Auskunftsrecht bekommt.
Vielen Dank. - Nächste Fragestellerin ist unsere Kollegin Sonja Steffen.
Vielen Dank. - Wir haben jetzt viel über das Kindeswohl geredet und auch viel über die soziofamiliären Zusammenhänge, die man beachten muss. Ich will jetzt
noch einmal den Blick auf den leiblichen Kindesvater
wenden. In dem Gesetzentwurf heißt es: Das Recht auf
Umgang und das Auskunftsrecht können dann ausgeübt
werden, wenn - jetzt kommt die Tatbestandsvoraussetzung - der Vater „durch sein Verhalten gezeigt hat, dass
er für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen will“.
Jetzt stellen wir uns einmal den Normalfall vor. Dieser könnte so aussehen: Es gibt eine Familie - zumindest
nach außen hin intakt - mit ein, zwei oder drei Kindern.
Eines dieser Kinder ist nicht das biologische Kind des
rechtlichen Vaters; davon weiß der rechtliche Vater möglicherweise gar nichts. Wenn der leibliche Vater dann
früher oder später sein Recht einfordert - es kann ja eine
ganze Weile dauern, bis er auf diese Idee kommt -, muss
er durch sein Verhalten zeigen, dass er tatsächlich Verantwortung für das Kind übernehmen will. Es besteht
keine Unterhaltspflicht, und er kann kein Anfechtungsverfahren durchführen.
Sie haben in Ihren Erläuterungen vorhin, glaube ich,
gesagt, dass solch ein verantwortungsbewusstes Verhalten möglicherweise nur durch räumliche Nähe oder eine
Kontaktaufnahme unter Beweis gestellt werden kann.
Ich stelle mir das in der Praxis sehr schwierig vor. In diesen Fällen ist oft sogar von Stalking die Rede, und es
wird gesagt: Da kommt jemand, der in unsere Familie
eindringt. - Könnten Sie vielleicht ein paar Beispiele
nennen, um deutlich zu machen, was der leibliche Vater
tun muss, damit er sein Verantwortungsbewusstsein unter Beweis stellen kann?
Vielleicht darf ich noch einmal kurz auf den Gesetzestext eingehen. In § 1686 a Abs. 1 wurde die Formulierung gewählt, dass, solange die Vaterschaft eines anderen Mannes besteht, der leibliche Vater nachhaltiges
Interesse an dem Kind gezeigt hat. Es heißt nicht, dass
der leibliche Vater bereits Verantwortung übernommen
hat. Auch diese Überlegung hatten wir ursprünglich einmal angestellt; aber das wäre ja eine noch größere
Hürde, als nachhaltiges Interesse zu zeigen. Wenn ein
Vater, der sein Kind zehn Jahre lang nicht gesehen hat,
anruft und sagt: „Ich bin zwar in Nigeria, stelle aber einen Umgangsantrag“, wird dies nicht Ausdruck eines
nachhaltigen Interesses am Kind sein.
Aber es gibt natürlich auch andere Situationen. Im
Falle von Stalking und Ähnlichem kann von einem nachhaltigen Interesse natürlich keine Rede sein. Das hatte
ich vorhin so umschrieben: wenn eher Rache und andere
emotionale Gründe eine Rolle spielen, die sich gegen die
Mutter richten, aber gar nichts mit wirklichem Interesse
am Kind zu tun haben. Von daher kann dieses Verhalten
nur durch den ernsthaften Versuch einer Kontaktaufnahme unter Beweis gestellt werden. Der Vater darf natürlich nicht versuchen, den Kontakt zum Kind heimlich
in einem Hinterhof aufzunehmen, sondern er muss bei
den rechtlichen Eltern um Gespräche ersuchen; ich
meine, da ist die Realität vielfältiger, als man es sich als
Gesetzgeber jemals vorstellen kann. Das wäre dann ein
Anhaltspunkt, den das Gericht zu bewerten hat.
Wir haben uns, nachdem wir auch Stellungnahmen
vom Bundesrat und von den Ländern bekommen haben,
bewusst für die Formulierung „nachhaltiges Interesse
gezeigt hat“ und gegen die Formulierung „Verantwortung übernommen hat“ entschieden. Denn Verantwortung kann der leibliche Vater nicht übernehmen, weil er
in die rechtliche Familie - so nenne ich das einmal nicht eindringen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Sie damit einverstanden, dass wir diese wichtige Befragung der Bundesregierung verlängern? - Das ist der Fall.
Die letzte Frage stellt unsere Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker. Gibt es noch weitere Fragen? Nein. Bitte, Frau Kollegin Elisabeth WinkelmeierBecker.
Vielen Dank für die weitere Fragemöglichkeit. - In
der Tat haben wir jetzt zum ersten Mal die Situation,
dass es einen rechtlichen Vater und einen biologischen
Vater geben kann; das war in der Vergangenheit ausgeschlossen. Bisher gab es in allen Rechtszusammenhängen immer nur einen Vater, auch was den Unterhalt und
das Erbrecht angeht. Welche Konsequenzen hat die neue
Situation, dass es zukünftig zusätzlich einen biologischen Vater geben kann, für andere zu regelnde Bereiche? Kann er in irgendeinem Zusammenhang selber
unterhaltspflichtig werden? Gibt es in diesem Zusammenhang eventuell auch ein Erbrecht des Kindes oder irgendwelche Rechtsansprüche des Kindes gegenüber
dem biologischen Vater?
Nein. Wenn der biologische Vater nicht auch der
rechtliche Vater wird - dafür gäbe es das Anfechtungs23750
verfahren -, gibt es über das hinaus, was wir geregelt haben, keine weiteren Konsequenzen. Wir schaffen also
nicht etwa, verbunden mit weiteren Folgerungen, ein
Rechtsinstitut des biologischen Vaters neben dem des
rechtlichen Vaters. Da dies komplizierteste Auswirkungen hätte, wurde eine ganz beschränkte Regelung getroffen.
Wir haben abgewartet, bis der EGMR seine beiden
Entscheidungen getroffen hat; die zweite Entscheidung
im September 2011 war ja absehbar. Wir haben dann natürlich überlegt, ob wir vor diesem Hintergrund den Auftrag haben, dem leiblichen Vater generell eine ganz andere Stellung einzuräumen. Ich hielte das insgesamt für
sehr problematisch und schwierig. Wir haben bewusst
den Weg gewählt, uns sehr eng an dem, was sich aus den
Entscheidungen ergeben hat, zu orientieren. Es muss
eine Abwägung getroffen werden, um entscheiden zu
können: Soll der leibliche Vater neben dem rechtlichen
Vater ein Umgangsrecht und ein Auskunftsrecht bekommen oder nicht? Das ist die Möglichkeit, die wir schaffen - mehr nicht. Vielleicht werden wir in ein paar Jahren ganz anders darüber debattieren. Aber ich halte das
in der jetzigen Situation und Lage so für absolut ausreichend. Wir müssen nicht mehr machen, wir handeln
konventionskonform. Aber ich halte es auch für richtig,
wenn wir nicht mehr machen.
Vielen Dank. - Das war dieser wichtige Themenbereich.
Jetzt stelle ich die Frage: Gibt es Fragen zu anderen
Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist nicht
der Fall. - Doch, Entschuldigung, ich bitte um Nachsicht. Bitte schön, Frau Kollegin Ingrid Hönlinger.
Vielen Dank. - Wir haben uns sehr eng im Bereich
des Familienrechts bewegt. Es gibt beim Familienrecht
aber noch einen weiteren Punkt, bei dem aus meiner
Sicht dringender Handlungsbedarf besteht, und zwar ist
das das Betreuungsrecht. Insoweit gibt es eine Rechtsprechung dazu, dass eine Behandlung, die möglicherweise im Interesse des Betreuten ist, gegen dessen Willen aber nicht durchgesetzt werden kann. Hierfür müssen
wir dringend eine Regelung schaffen. Ich möchte jetzt
gerne wissen, ob es Gegenstand der Kabinettsbesprechung war bzw. welche Schritte Sie hier in welchem
Zeitraum planen.
Ich würde gern, Herr Präsident, darauf antworten. Das war nicht Gegenstand der heutigen Kabinettssitzung. Ich möchte Sie an dieser Stelle aber gerne kurz
informieren. Wir sehen da ganz dringenden Handlungsbedarf; denn durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die bisher als ausreichend angesehene
Rechtsgrundlage in § 1906 ff. BGB nicht mehr ausreichend. Sie wurde als zu unbestimmt für Zwangsmaßnahmen psychisch Kranker angesehen, sodass weder durch
Betreute noch durch Gerichtsersetzung diese Behandlungen vorgenommen werden können. Die müssen in einem
bestimmten Umfang vorgenommen werden, weil das für
die psychisch Erkrankten teilweise von ganz gravierender gesundheitlicher Auswirkung sein kann, wenn sie
nicht behandelt werden. Im Moment können sie verwahrt werden, sediert werden. Man wird in die Gefahr
von Fixierung und anderen Dingen kommen, die wir
lange überwunden hatten mit dem neuen Betreuungsrecht, das jetzt 20 Jahre gilt.
Deshalb haben wir im Ministerium Formulierungen
erarbeitet, die den Rechtszustand bis zu diesen beiden
BGH-Entscheidungen wieder herstellt und die auf dieser
rechtsstaatlichen Ebene, immer auch mit Zuständigkeit
des Gerichts, dann wieder auch die entsprechenden Behandlungen psychisch Erkrankter, die selbst nicht einwilligen können, ermöglichen. Wir haben nicht besondere Regelungen für Gefahr im Verzuge vorgesehen,
sondern wir wollen das Gericht entscheiden lassen auf
dem Niveau, das wir hatten, solange diese Bestimmungen als ausreichend angesehen wurden.
Wir wollen dann auch gerne mit den Abgeordneten
nach Wegen suchen, wie wir das in das bestehende anhängige Gesetzgebungsverfahren einbringen können. Es
ist ein dringendes Anliegen auch der Länder, hier zügig
zu einer Regelung auf Bundesebene zu kommen, zumal
teilweise auch die Unterbringungsmöglichkeiten in psychiatrischen Einrichtungen nach Landesgesetz für verfassungswidrig erklärt wurden, zum Beispiel in BadenWürttemberg im Jahre 2011.
Wir haben also aufgrund dieser Dringlichkeit eine Regelung erarbeitet, und wir versuchen jetzt, Wege zu finden, über die wir uns dann auch im Einzelnen intensiv
werden unterhalten können, um das in das anhängige
Gesetzgebungsverfahren mit einzubringen, und zwar
ausnahmsweise mal, weil wir das für absolut eilbedürftig
halten.
Vielen Dank. - Mit Ihrem Einverständnis beende ich
nun die Themenbereiche der heutigen Kabinettssitzung.
Gibt es darüber hinaus noch Fragen an die Bundesregierung? - Das ist nicht der Fall, sodass ich die Befragung
beende.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
- Drucksache 17/10967 Ich rufe auf die mündlichen Fragen aus Drucksache
17/10967 in der üblichen Reihenfolge.
Der erste Geschäftsbereich ist der Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht
uns unsere Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin
Katherina Reiche zur Verfügung.
Die erste Frage stellt unsere Kollegin Dr. Bärbel
Kofler:
Plant die Bundesregierung ebenso wie die dänische Regierung ein nationales Verbot für das Inverkehrbringen von vier
Vizepräsident Eduard Oswald
als fortpflanzungsgefährdend oder reprotoxisch eingestuften
Phthalaten, und wird sich die Bundesregierung auf EU-Ebene
dafür einsetzen, dass wie geplant im Frühjahr 2013 über eine
entsprechende EU-weit geltende Regelung entschieden wird?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Herr Präsident! Frau Kollegin Kofler! Ich beantworte
Ihre Frage wie folgt: Der zuständige Ausschuss für Risikobeurteilung, RAC, der Europäischen Chemikalienagentur ECHA hat die von Dänemark eingereichten
REACH-Beschränkungsvorschläge für vier Phthalate
geprüft und die vorgeschlagene Beschränkung einstimmig als nicht berechtigt beurteilt.
Deshalb und weil eine Zulassungspflicht für diese
Phthalate ab dem Jahr 2015 bereits feststeht, erwägt die
Bundesregierung derzeit keine zusätzlichen nationalen
Verbotsmaßnahmen. Sie geht ferner davon aus, dass die
EU-Kommission keinen Beschränkungsvorschlag vorlegen wird.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herzlichen Dank. - Ich habe eine generelle Nachfrage
zu diesem Themenkomplex. Sie sagen, für die Phthalate
seien vonseiten der Regierung keine weiteren Maßnahmen geplant. Wie sehen Sie das denn generell? Das
UNO-Umweltprogramm UNEP hat vor gut einem Monat einen Bericht Global Chemicals Outlook vorgelegt,
in dem die internationale Gemeinschaft noch einmal aufgefordert wurde, mehr für den Schutz der Bevölkerung
vor negativen Auswirkungen chemischer Produkte zu
tun. UNEP mahnt rasches Handeln an - es geht schließlich um die Auswirkungen auf das Leben von Menschen -,
auch vor dem Hintergrund, dass oft die Produktion von
Industrieländern in Entwicklungsländer verlagert wird,
wo der Schutzgedanke vielleicht nicht immer so zum
Tragen kommt, wie wir uns das wünschen würden.
Ich frage Sie nun: Wie bewertet die Bundesregierung
diesen UNEP-Bericht über die Auswirkungen von chemischer Produktion und den Schutz der Bevölkerung,
und welche Maßnahmen würden Sie gegebenenfalls ergreifen?
Frau Kollegin, der Gegenstand ist jetzt nicht der
UNEP-Bericht, sondern das Verfahren selbst. Das Verfahren bei REACH ist zweistufig: Da ist zum einen der
ECHA-Ausschuss für Risikobeurteilung und zum anderen der ECHA-Ausschuss für sozioökonomische Analyse. Darin sitzen unabhängige Experten. Der RAC-Ausschuss hat ganz klar festgestellt, dass gegenwärtig kein
Risiko abgeleitet werden kann. Deshalb sehen wir hier
keinen Handlungsbedarf - im Gegensatz zu Dänemark,
wo ein eigenes, länderspezifisches Verfahren eingeleitet
wurde. Für Deutschland und die gesamte EU gilt ab
2015 ohnehin, dass Phthalate in das Zulassungsverfahren müssen.
Sie verzichten auf die zweite Nachfrage? - Dann rufe
ich die Frage 3 des Kollegen Frank Schwabe auf:
Hält die Bundesregierung nach den Ergebnissen der Fracking-Studien des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und des Landes NordrheinWestfalen eine derzeitige Anwendung des Fracking-Verfahrens für vertretbar, und bis wann will die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Rechtsrahmens vorlegen?
Herr Kollege Schwabe, die Ergebnisse der beiden
Gutachten sowie der Studie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe werden derzeit ausgewertet. Nach Abschluss dieser Prüfung, die auch den Änderungsbedarf wasserrechtlicher und bergrechtlicher
Vorschriften betrifft, werden die weiteren Schritte mit
den Betroffenen zu erörtern sein.
Ihre erste Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, ich darf noch einmal nachfragen. Heißt das, dass es einen Zeitplan dafür nicht gibt?
Wir sind ja in der Situation, dass bald die nächste Bundestagswahl stattfindet, und wir wissen, irgendwann
wird es schwierig mit bestimmten Gesetzgebungsvorhaben. Es ist allerdings so, dass sich in vielen Teilen des
Landes die Menschen Sorgen machen und im Moment
nicht klar ist, auf welcher Grundlage Untersuchungen
stattfinden, ob Fracking durchgeführt werden kann oder
nicht. Sehe ich es richtig, dass Sie heute nicht in der
Lage sind, einen Zeitplan zu nennen, wann wir allerspätestens mit einem neuen Gesetzgebungsrahmen rechnen
können?
Das sehen Sie falsch. Die beiden Gutachten dienen
dazu, zunächst einmal eine Fakten- und Datenbasis aufzustellen.
Zweitens findet am 5. Dezember ein großer Workshop mit allen Beteiligten statt, auch mit internationaler
Beteiligung, auf dem Erfahrungen und Ergebnisse ausgewertet werden.
Der Minister hat klargemacht, dass Transparenz bei
solchen Vorhaben, auch bei Bohrungen und Probebohrungen, wichtig ist. Er hat ebenfalls klargemacht, dass es
in Bezug auf Trinkwasserschutzgebiete einen Handlungsbedarf gibt. Diesen besprechen wir gerade innerhalb der Regierung.
Frau Staatssekretärin, es ist schön, dass wir das
Thema besprechen - das Thema ist ja auch nicht ganz
neu, sondern zwei Jahre alt - und dass der Minister
Dinge erkannt hat. Das habe ich ja alles gelesen, aber am
Ende sind wir hier, der Deutsche Bundestag, der Gesetzgeber. Erst dann, wenn wir hier gehandelt haben, kann
man auf dieser Grundlage in Deutschland entsprechend
agieren.
Wir haben jetzt eine große Rechtsunsicherheit und
eine Unsicherheit in der Bevölkerung. Deswegen frage
ich Sie noch einmal: Sind Sie in der Lage, ein Datum zu
benennen, bis zu dem allerspätestens ein Gesetzentwurf
vorgelegt wird? Ist zumindest davon auszugehen, dass
das noch in dieser Legislaturperiode geschieht?
In zwei Bundesländern gibt es ein De-facto-Moratorium, andere Bundesländer gehen damit anders um. Es
ist eine Reihe von Fragen zu beantworten. Zu nennen
sind zum Beispiel die Frage der Beteiligungsrechte der
Umwelt- und Wasserverbände und die Frage, ob es richtig ist, eine UVP-Pflicht für Fracking-Bohrungen einzuführen. Die Ausgestaltung muss sorgfältig geprüft werden, und es ist guter Brauch, zunächst anzuhören und
Expertenmeinungen einzuholen. Dazu dient dieser
Workshop.
Da unter anderem das Bergrecht tangiert ist, das nicht
im BMU ressortiert, sind Abstimmungen mit anderen
Häusern notwendig. Wie lange die dauern, kann ich Ihnen nicht sagen.
Wir kommen nun zur Frage 2 des Kollegen Schwabe:
Wann stehen Entscheidungen der Europäischen Union im
Umgang mit Öl aus Teersanden an, und hat die Bundesregierung dazu mittlerweile eine klare Haltung entwickelt?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Schwabe, Deutschland hat sich am
23. Februar 2012 bei der Abstimmung im Ausschuss für
Kraftstoffqualität über den Vorschlag der Kommission
für eine Richtlinie zur Konkretisierung der Anforderungen von Art. 7 a der Kraftstoffqualitätsrichtlinie enthalten.
Die Europäische Kommission hat angekündigt, dass
vor der Übersendung des Vorschlags an den Rat eine
Folgenabschätzung durchgeführt werden soll. Mit einer
Vorlage der Folgenabschätzung und Übersendung des
Vorschlags an den Rat ist nicht vor Anfang 2013 zu rechnen. Die Bundesregierung wird diesen Vorschlag dann
im Lichte der Ergebnisse der Folgenabschätzung prüfen.
Ihre erste Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, es ist ja schön, dass Sie etwas
Zeit für Ihre Positionsfindung in der Regierung gewonnen haben, aber es ist hier leider so wie bei allen energiepolitischen Themen. Mir fällt keines ein, bei dem die
Bundesregierung eine klare Position hat, die sie in Brüssel vertritt.
Die Frage ist schlichtweg, ob wir in Brüssel eigentlich
in irgendeiner Richtung eine Rolle spielen wollen. Wir
sind ja nicht das kleinste Land der Europäischen Union.
Man wartet darauf, dass Deutschland seine Position vertritt.
Alle Fakten beim Thema Teersande liegen auf dem
Tisch. Ich darf auch hier noch einmal feststellen, dass es
bisher keine Positionierung der Bundesregierung gibt
und Sie uns auch nicht ein Datum nennen können, bis
wann die Bundesregierung eine Position entwickelt hat,
und dazu nachfragen.
Wie ich Ihnen das eben und auch schon auf viele Fragen hin bereits mitgeteilt habe, haben wir uns zum damaligen Zeitpunkt enthalten. Wir warten jetzt die Folgenabschätzung ab und werden uns dann positionieren.
Damit das richtig zugeordnet werden kann, halten wir
für das Protokoll fest, dass im Einvernehmen zwischen
Staatssekretärin und fragendem Abgeordneten die
Frage 3 als Erstes und dann die Frage 2 beantwortet
wurde.
Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Oliver Krischer
werden schriftlich beantwortet. Auch die Frage 6 der
Kollegin Britta Haßelmann, die Fragen 7 und 8 des Kollegen Ulrich Kelber und die Fragen 9 und 10 des Kollegen Hans-Josef Fell sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 11 des Kollegen Marco Bülow auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung für ihr Handeln bezüglich der Sicherheit von Atomkraftwerken, AKW,
auf europäischer Ebene aus dem vom EU-Kommissar für
Energie, Günther Oettinger, vorgestellten abschließenden
AKW-Stresstestbericht, und plant die Bundesregierung, sich
für mehr AKW-Sicherheit in Europa zu engagieren?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Danke schön. Damit sind wir wieder in der richtigen
Reihenfolge. - Der eigentliche Stresstest, Herr Kollege
Bülow, der europäischen Kraftwerke ist bereits im April
2011 abgeschlossen worden und hat Einblicke in wichtige sicherheitstechnische Merkmale der europäischen
Kraftwerke und in die Notfallschutzmaßnahmen gebracht.
Die kontinuierliche Verbesserung der Sicherheit ist
ein gemeinsames Ziel aller europäischen atomrechtlichen Aufsichtsbehörden. Das ist in der europäischen
Richtlinie zur nuklearen Sicherheit als Ziel für alle Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung vorgegeben. Die
Bundesregierung begrüßt es deshalb, dass die Ergebnisse
zu einem Aktionsplan der atomrechtlichen Behörden geführt haben. Nach diesem Aktionsplan sind bis zum
Jahresende nationale Aktionspläne für Verbesserungsmaßnahmen aufzustellen.
Die Bundesregierung wird diesen Plan zusammen mit
den zuständigen atomrechtlichen Behörden der Länder
aufstellen. Alle nationalen Aktionspläne werden im
Frühjahr des kommenden Jahres in einem erneuten Prozess der gegenseitigen Überprüfung gemeinsam diskutiert werden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Erst einmal vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Einige Mängel wurden schon offenbar. Gibt es daher bereits konkrete Pläne? Zum Beispiel ist die Erdbebensicherheit kein unwichtiger Faktor. Planen Sie, darauf
zumindest in Norddeutschland und in Nordeuropa ein
besonderes Augenmerk zu legen? Ich gehe davon aus,
dass man zunächst auswertet und dann irgendwann zu
nationalen Plänen kommt. Aber richten Sie jetzt bei diesem Test oder bei den nationalen Plänen ein besonderes
Augenmerk auf diesen Faktor oder auf andere?
Vielleicht eine Vorbemerkung zu Ihrer konkreten
Frage, auf die ich natürlich noch komme. - Deutschland
hat diesen EU-weiten Stresstest von Anfang an unterstützt, weil wir es notwendig fanden, ein Gesamtbild aller Kraftwerke in der Europäischen Union zu bekommen. Es ist aber am Ende so gewesen, dass der Bericht
von der Kommission ohne Rückabstimmung mit den nationalen Atomaufsichtsbehörden erarbeitet wurde. Es
wurden auch nicht alle Ergebnisse mit einbezogen. Dadurch kam es an manchen Stellen - lassen Sie es mich so
formulieren - zu einigen Verzerrungen.
Eine Verzerrung betrifft unter anderem die Auslegung
deutscher Kernkraftwerke in Bezug auf seismische Gefährdungen. In einer Ad-hoc-Untersuchung unmittelbar
nach den Ereignissen in Fukushima haben wir seitens
der Bundesregierung die Länderbehörden aufgefordert,
noch einmal unmittelbar festzustellen, ob es in den deutschen Anlagen Risiken gibt. Es gibt standortspezifische
Bemessungsgrundlagen. Diese liegen über den üblichen
Anforderungen. Auch was die Erdbebeninstrumentierung betrifft, haben wir das längst erledigt. Insofern sind
wir ein bisschen traurig, dass das die Kommission so
nicht aufgenommen hat.
Gleichwohl werden wir jetzt in Abstimmung mit den
Länderbehörden noch einmal die Dinge zusammentragen, den Aktionsplan entwickeln. Aber genau diese beiden Punkte, die auch von der Presse aufgegriffen worden
sind - das ist das Notfallhandbuch, das es seit den 90erJahren gibt, und das ist die seismische Auslegung - sind
in Deutschland erfüllt. Das werden wir sicherlich auch in
dem Bericht schreiben.
Ihre zweite Nachfrage? - Sie verzichten.
Dann rufe ich die Frage 12 des Kollegen Marco
Bülow auf:
Hat die Erkenntnis, dass bei den Überprüfungen im Rahmen der europaweiten AKW-Stresstests im direkt angrenzenden Frankreich, dem Land mit den meisten Atomkraftwerken
in Europa, besonders viele Schwächen bei den dortigen
Atomkraftwerken und ihrer Aufsicht festgestellt wurden,
Konsequenzen für das Handeln der Bundesregierung und,
wenn ja, welche?
Die Bundesregierung engagiert sich in den europäischen Gremien und Gruppierungen, insbesondere in
ENSREG, der Gruppe der für nukleare Sicherheit zuständigen Behördenchefs aller europäischen Staaten, und
wirkt daraufhin, dass in allen Ländern hohe Standards
der nuklearen Sicherheit verwirklicht werden.
In bilateralen Gremien mit den Nachbarländern
Frankreich, Schweiz, Tschechien, den Niederlanden und
mit Österreich, in denen auch die jeweils angrenzenden
Bundesländer vertreten sind, führt das Umweltministerium eine gegenseitige Information und Diskussion über
alle anstehenden Fragen zur kerntechnischen Sicherheit
der grenznahen Anlagen durch. Dabei bleibt die Verantwortung für den sicheren Betrieb der Anlagen in der Zuständigkeit der jeweiligen Staaten. Die Bundesregierung
überzeugt sich durch ihre Mitwirkung in den Gremien
und Kommissionen vom jeweiligen Stand der Sicherheit
und wirkt auch auf Verbesserungen hin.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, können Sie den letzten Satz ein
bisschen konkretisieren, weil gerade in Bezug auf Frankreich die Sorgen nicht unberechtigt sind? Gerade dort
stehen Atomkraftwerke nahe der Grenze, die nun wirklich erhebliche Sicherheitsmängel aufweisen, die schon
ziemlich alt sind und über die wir wenig Informationen
haben.
Sie werden sicher zugeben, dass bei einem Unfall in
diesen Atomkraftwerken Deutschland wahrscheinlich
stärker betroffen sein wird als Frankreich, weil der Wind
häufig aus dem Westen kommt und weil sie an Ländergrenzen stehen. Deswegen gibt es, glaube ich, auch in
Deutschland in Bezug darauf ein sehr hohes Sicherheitsbedürfnis und ein sehr hohes Informationsbedürfnis. Da23754
her noch einmal die Fragen: Können Sie konkretisieren,
in welchem Kontakt Sie stehen und welche Informationen Sie bekommen? Können Sie sicherstellen, dass der
Dialog mit den Franzosen das Ziel verfolgt, genau über
diese Atomkraftwerke, die an der deutschen Grenze stehen, noch einmal speziell zu sprechen?
In dieser Fragestellung gibt es zwei Ebenen. Zur ersten Ebene: Selbstverständlich hat auch Frankreich seinen
Bericht durch die Kommission bekommen, wertet diesen
aber für sich aus und zieht auch eigene Schlüsse daraus.
Zur zweiten Ebene: Ich kann sehr wohl die Sorgen
verstehen, wenn es Nachrichten aus Frankreich gibt, die
in der Region zu Besorgnis Anlass geben. Wir haben
eine regelmäßig tagende deutsch-französische Konsultationsgruppe, in die wir unsere Expertise einfließen lassen. Es gibt aber keine Möglichkeit bzw. keine rechtliche
Handhabe, Frankreich zu bestimmten Maßnahmen aufzufordern.
Ziel des Stresstests war es aber, zum Beispiel durch
Offenlegung unserer Standards und durch einen möglichst objektiven Vergleich, andere Länder, die möglicherweise Nachrüstbedarf haben, nicht nur zu animieren,
sondern auch auf sie Druck auszuüben, diesem nachzukommen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage. - Sie verzichten, aber die Kollegin Ute Vogt hat noch eine Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, wann die
französische Regierung beabsichtigt, das Atomkraftwerk
Fessenheim vom Netz zu nehmen? Ist es im Interesse der
Bundesregierung, das Vom-Netz-Nehmen dieses alten
Kraftwerks zu beschleunigen? Wenn ja, was tun Sie dafür?
Frau Kollegin, diese Frage hinsichtlich des Zeitpunktes kann ich Ihnen nicht beantworten. Aber noch einmal:
Die unmittelbare Aufsicht und Verantwortung für die
Kernkraftwerke in Frankreich liegen bei der französischen Regierung. Die regelmäßigen Konsultationen des
deutsch-französischen Gremiums sind auch ein Mittel,
um Informationen auszutauschen und zum Beispiel auf
unsere Standards und auf das hinzuweisen, was wir nach
dem Unfall in Fukushima noch einmal zusätzlich gemacht haben. Darüber hinaus gibt es die regelmäßig tagende ENSREG. Auch das ist ein Gremium des Austausches. Sie wissen aber so gut wie ich: Die französischen
Kernkraftwerke stehen nun einmal in Frankreich unter
unmittelbarer Aufsicht, und dort muss gehandelt werden.
({0})
Das Fragerecht ist leider nicht übertragbar, Kollegin
Vogt. Insofern hatten Sie nur eine Nachfrage.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Manfred Nink auf:
Welche Erkenntnisse zieht die Bundesregierung aus den
Ergebnissen des europäischen Stresstests für Atomkraftwerke
in Bezug auf das französische Atomkraftwerk Cattenom, und
welche Auswirkungen haben die Erkenntnisse auf die Bewertung der Risiken für die deutsche Bevölkerung in der grenznahen Region und auf Szenarien zur Gefahrenabwehr?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Nink, der Stresstest der europäischen
Kernkraftwerke hat Einblick in wichtige sicherheitstechnische Merkmale der europäischen Kraftwerke und in
die Notfallschutzmaßnahmen erbracht. Die kontinuierliche Verbesserung der Sicherheit - das hatte ich auch
gerade eben in der Antwort ausgeführt - ist ein gemeinsames Ziel aller europäischen atomrechtlichen Aufsichtsbehörden. Es ist in der Europäischen Richtlinie zur
nuklearen Sicherheit als Ziel für alle Mitgliedstaaten in
eigener Verantwortung vorgegeben. Die Umsetzung der
notwendigen Maßnahmen ist danach von der zuständigen französischen Aufsichtsbehörde zu überwachen.
Das Bundesumweltministerium - auch das hatte ich
erwähnt - wird im Rahmen der Deutsch-Französischen
Kommission für die Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen, in der auch die grenzanliegenden Länder BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland vertreten sind, die in beiden Staaten aufgezeigten Verbesserungsmöglichkeiten fachlich diskutieren und auf ihre zügige Umsetzung hinwirken. Das ist in etwa das, was ich
auch schon gerade Herrn Kollegen Bülow und Frau Vogt
gesagt habe.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Schönen Dank, Frau Staatssekretärin. - Das ist nichts
Neues. Sie haben uns das auch schon vor etwa einem
halben Jahr in gleicher Weise gesagt. Das heißt, dass ich
davon ausgehen muss, dass die Bundesregierung ignoriert, dass das Atomkraftwerk Cattenom mittlerweile regelmäßig mit Störfällen behaftet ist, zum Beispiel noch
vergangene Woche Montag. Da Sie immer wieder darauf
hinweisen, dass das eine nationale Angelegenheit Frankreichs ist, interessiert mich Ihre Meinung, warum das
luxemburgische Parlament fraktionsübergreifend einen
Protestbrief an die Nationalversammlung Frankreichs
geschrieben hat. Dort scheint mir der Schutz der Bevölkerung eine wesentlich größere Rolle zu spielen als in
der deutschen Bundesregierung.
Die Bundesregierung kann nicht für Parlamentsaktivitäten sprechen. Ich habe bereits ausgeführt, was die
Bundesregierung ihrerseits macht, um mit Frankreich im
Gespräch zu bleiben und sich bei der Erstellung der Nationalen Aktionspläne möglichst eng abzustimmen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Sie haben vorhin bei der Beantwortung einer Frage
des Kollegen Schwabe zu einem anderen Thema ausgeführt, dass sich die Bundesregierung zuerst über eine Expertenrunde sachkundig macht und dann handelt. Wir
haben jetzt eine Expertenmeinung zu den Kraftwerken.
Jetzt haben Sie hier ausgeführt, dass Sie lediglich darüber beraten werden und Verbesserungen ins Auge fassen. Diese wollen Sie allerdings im Gegensatz zu Ihrer
vorigen Aussage auch den anderen nationalen Parlamenten oder Regierungen nahelegen.
Sind Sie der Ansicht, dass man nur durch Verbesserungen die derzeitige Sicherheitssituation am AKW Cattenom
verbessern und damit die Bevölkerung schützen kann,
oder sind Sie der Ansicht, dass man wie hier in Deutschland auch die anderen Nationen im europäischen Verbund dazu animieren müsste, einen Ausstieg aus der
Atomkraft voranzutreiben?
Herr Kollege, jetzt reicht leider die Zeit nicht, die verschiedenen Ebenen und vor allem Fachbereiche vom
Fracking bis zur Kernkraft, die Sie angesprochen haben,
als eine Frage zu beantworten. Deshalb antworte ich wie
folgt: Sie wissen, dass die Zusammensetzung des Energiemixes in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten unterschiedlich gehandhabt wird. So, wie wir uns dazu entschieden haben, aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie
auszusteigen und auf deutlich mehr erneuerbare Energien zu setzen, tun dies andere europäische Staaten auch.
Andere entscheiden sich für andere Wege oder setzen
sich längerfristige Ziele.
Europäische Räte und die Europäische Kommission
dienen dazu, sich in diesem Punkt auszutauschen. Wir
haben eine große Zahl von Gemeinsamkeiten, wenn es
zum Beispiel um EU-weite Ziele zur Erreichung von
Klimaschutzzielen, CO2-Reduktionsziele und den Ausbau der erneuerbaren Energien geht, aber die individuelle Energiestrategie bestimmt jedes Mitgliedsland für
sich.
Wir haben für unsere Kernkraftwerke hohe Sicherheitsstandards festgelegt und überprüfen sie auch permanent. Wir sind bei der Erstellung des Nationalen Aktionsplans auf eine enge Zusammenarbeit mit den
atomrechtlichen Aufsichtsbehörden nicht nur angewiesen, sondern suchen diese. Wir haben bilaterale Kommissionen und treffen uns auch auf EU-Ebene, um über
Sicherheits- und Risikofragen zu sprechen. Das ist eine
Menge Informationsaustausch, aber am Ende steht die
nationale Souveränität der Mitgliedstaaten in ihren individuellen Energiestrategien.
Auch die Frage 14 wird vom Abgeordneten Manfred
Nink gestellt:
Welche konkreten Ziele verfolgt die Bundesregierung mit
der Initiierung eines Klubs von Ländern, „der sich der Durchsetzung der erneuerbaren Energien verschreibt“, wie es der
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Peter Altmaier, verkündet hat ({0}), und verfolgt die Bundesregierung dabei
insbesondere auch das Ziel, Frankreich von einem schnellen
Ausstieg aus der Atomenergie zu überzeugen und das AKW
Cattenom möglichst bald endgültig vom Netz zu nehmen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Nink, die erneuerbaren Energien haben
in den letzten Jahren ein beeindruckendes Wachstum
verzeichnet, begleitet von großem technologischem Fortschritt und verbunden mit drastischen Kostensenkungen.
Deutschland war eines der Vorreiterländer bei dieser
Entwicklung. Gegenwärtig greifen immer mehr Staaten
erneuerbare Energien auf und diskutieren die Neuausrichtung ihrer Energiepolitik.
Das ist ein idealer Zeitpunkt für Deutschland, um mit
weiteren Vorreiterstaaten den Schulterschluss zu suchen,
politisches Momentum für den weiteren Ausbau zu erzeugen und in einem Renewables Club - das ist sozusagen der Arbeitstitel - die Fragen zu thematisieren, die
für eine moderne Energieversorgung von zentraler Bedeutung sind. Die Bundesregierung möchte mit einem
solchen Klub auf internationaler Ebene neue politische
Akzente setzen und die Chancen, aber auch die Herausforderungen einer zukünftigen modernen und klimaverträglichen Energieversorgung, die zu einem wachsenden
Anteil auf erneuerbaren Energien beruht, aufzeigen und
international diskutieren. Der Renewables Club kann andere weltweit davon überzeugen, dass verstärkte Investitionen in erneuerbare Energien wirtschaftliches Wachstum und damit gesamtgesellschaftlichen Nutzen bringen.
Die Initiative kann außerdem Wege aufzeigen, wie
ein kosteneffizienter Ausbau erfolgen kann und die Herausforderungen der System- und Marktintegration der
Erneuerbaren bewältigt werden können. Die Nutzung
der Kernenergie ist nicht Gegenstand des Renewables
Club.
Ihre erste Nachfrage.
Schönen Dank, Frau Staatssekretärin. - Könnten Sie
bitte etwas mehr konkretisieren, wie bei der Initiierung
dieses Klubs der Länder beispielweise das Europäische
Parlament, der Bundestag oder der Ausschuss der Regionen eingebunden sind, oder wird das eine reine Regierungsangelegenheit?
Um es vorweg zu sagen: In der Tat ist dieser Klub
nicht als Konkurrenzveranstaltung zu bestehenden international sehr erfolgreichen Institutionen wie der IRENA
gedacht. Er ist vielmehr als ein Ort des Austauschs gedacht und soll politische Impulse setzen und politisches
Agenda-Setting betreiben. Die Grundidee ist das Zusammenbringen von Regierungen, die eine positive Haltung
gegenüber den erneuerbaren Energien haben und diese
voranbringen wollen. Es handelt sich also um eine Ergänzung zu bestehenden internationalen Organisationen.
Wie ich sehe, Herr Nink, verzichten Sie auf Ihre zweite
Nachfrage.
Dann kommen wir zur Frage 15 der Kollegin
Waltraud Wolff:
Welche Rolle spielt in den Überlegungen der Bundesregierung zur Endlagerung radioaktiver Abfälle die Möglichkeit,
eine europäische Lösung zu finden und von einer nationalen
Einlagerung Abstand zu nehmen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Wolff, es entspricht der nationalen Verantwortung, dass die in kerntechnischen Anlagen in
Deutschland angefallenen radioaktiven Abfälle auch in
Deutschland entsorgt werden. Diese klare Positionierung
wurde beim Beginn des Konsultationsprozesses betreffend die Entwicklung eines Auswahlverfahrens für einen
Endlagerstandort für insbesondere wärmeentwickelnde
radioaktive Abfälle im Dezember 2011 zwischen der
Bundesregierung und den Bundesländern getroffen.
Frau Wolff, wie ich sehe, verzichten Sie auf eine
Nachfrage. - Frau Kollegin Ute Vogt hat eine Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, streben andere europäische Länder eine europäische Lösung des Problems der Endlagerung bzw. der Lagerung von hoch radioaktiven Abfällen
an?
Ja, solche Länder gibt es. Ich habe es so verstanden,
dass es eine Arbeitsgruppe der Europäischen EndlagerEntwicklungs-Organisation gibt. Daran sind wir aber
nicht beteiligt, weil wir uns verpflichtet haben, selbst für
die Verbringung und die Lagerung kerntechnischen Abfalls zu sorgen.
Damit kommen wir zur Frage 16 der Kollegin
Waltraud Wolff:
Wie ist der Stand der Diskussion über eine europäische
Lösung für radioaktive Abfälle derzeit in Brüssel, und welche
Vorschläge wurden bisher konkret unterbreitet?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Wolff, im Rahmen der Entsorgungsrichtlinie 2011/70/Euratom hat der Rat der Europäischen
Union die nationale Verantwortung für die Entsorgung
der radioaktiven Abfälle bekräftigt und die Mitgliedstaaten verpflichtet, nationale Lösungen für die Entsorgung
dieser Abfälle voranzutreiben. Die Richtlinie geht aber
auch davon aus, dass Mitgliedstaaten eine gemeinsame
Nutzung von Endlagern vorsehen können, wenn sie sich
auf eine Vereinbarung zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten stützt. Ein gemeinsames Endlager kann insbesondere für Mitgliedstaaten mit wenig Abfall oder ungeeigneten geologischen Formationen zweckmäßig sein.
Konkret wurde die ERDO-Arbeitsgruppe - danach hat
Frau Vogt eben gefragt - gegründet, die die Option eines
gemeinsamen Endlagers untersucht. Mitglieder dieser
Arbeitsgruppe sind Österreich, Irland, die Niederlande,
Polen, Slowakei, Bulgarien, Italien, Litauen, Rumänien
und Slowenien, aber nicht Deutschland.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung. - Sie haben ausgeführt, welche Länder sich an dieser Arbeitsgruppe beteiligen. Wie wir wissen, sind mit
dem Atomausstieg in Deutschland die Probleme nicht
gelöst. Die Bundesregierung hat erneut verlauten lassen,
sich um die Endlagerung radioaktiver Abfälle zu kümmern. Ein Atomendlagersuchgesetz ist auf dem Weg. Sie
suchen also nach einem geeigneten Endlager.
Frau Staatssekretärin, radioaktiver Abfall macht ja
nicht vor Grenzen halt. Wenn man mit dem Atomausstieg in Deutschland auf europäischer Ebene verantwortlich umgehen will, dann würde mich schon interessieren,
wie die Bundesregierung, wenn sie auf europäischer
Ebene in den Arbeitsgruppen außen vor ist, diese Verantwortung in Europa wahrnehmen möchte.
Die Frage finde ich in mehrfacher Hinsicht interessant. Wir haben uns verpflichtet, unseren Abfall selbst
zu entsorgen. Leider ist es nicht so, dass das Gesetz auf
dem Weg wäre; denn Rot-Grün sperrt sich gegen eine
Lösung bzw. erhebt immer neue Forderungen.
Wir haben gesagt: Wir als Land, das die Kernenergie
über lange Zeit genutzt hat, müssen Verantwortung für
eine sichere Endlagerung dieses Abfalls übernehmen.
Würde Deutschland jetzt in eine solche Arbeitsgruppe
eintreten - es ist übrigens keine EU-Arbeitsgruppe, sondern ein Zusammenschluss von Vertretern aus EU-Ländern; diese Gruppe ist nicht von einer EU-Ebene, etwa
der Europäischen Kommission oder dem Parlament, eingesetzt -, würde wahrscheinlich sofort, postwendend,
der Vorwurf kommen: Aha, jetzt will sich Deutschland
elegant seines Abfallproblems entledigen.
Es gibt hinreichend Arbeitsgruppen zur Entsorgung,
zum Beispiel die ENSREG. Das ist die Ebene, auf der
wir über Sicherheit sprechen. Sicherlich werden auch
Fragen der Endlagerung diskutiert. Aber wir wollen unsere Probleme tatsächlich selbst anpacken und sehen uns
auch in der Verpflichtung, dies zu tun, was nicht heißt,
dass wir uns aus Diskussionen ausklinken.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Ja, ich habe noch eine zweite Nachfrage. - Wenn Sie
an diesen Arbeitsgruppen auch nicht beteiligt sind: Ist
der Bundesregierung bekannt, ob in den Arbeitsgruppen
nach einem Endlager auf europäischem Gebiet gesucht
wird oder ob es auch Diskussionen gibt, europäischen
radioaktiven Müll in anderen Teilen der Welt zu lagern?
Solche Überlegungen sind mir nicht bekannt. Noch
einmal: Momentan werden die Mitglieder von interessierten staatlichen Stellen dorthin delegiert. Es ist keine
EU-Arbeitsgruppe. Die IAEA und die Kommission haben lediglich Beobachter geschickt. Vermutungen, wie
Sie sie jetzt anstellen, kann ich nicht bestätigen; sie sind
mir nicht bekannt.
Damit kommen wir zur Frage 17 des Kollegen
Dr. Matthias Miersch:
Wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag vor
dem 20. Januar 2013 einen Gesetzentwurf zur bundesweiten
Suche nach einem Atommüllendlager in Deutschland vorlegen und, wenn nein, warum nicht?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Miersch, die Bundesregierung hat in
dieser Legislaturperiode einen Konsultationsprozess mit
den Ländern und den politischen Parteien in Gang gesetzt, um einen Konsens über das weitere Vorgehen bei
der Suche und der Festlegung eines Endlagerstandorts
für insbesondere wärmeentwickelnde radioaktive Abfälle zu erzielen. Dieser Prozess ist noch nicht beendet.
Eine Aussage dazu, ob und, wenn ja, wann ein Gesetzentwurf eingebracht werden wird, ist daher derzeit nicht
möglich.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, es gab in der letzten Woche
mehrere Pressemeldungen - sie sind durch das Bundesumweltministerium nicht dementiert worden; jedenfalls
ist mir das nicht bekannt -, wonach der Bundesminister
Altmaier gesagt habe, er bringe ein Gesetz ein, sodass
eine Gesetzesberatung und Beschlussfassung des Deutschen Bundestages bis zum 20. Januar 2013, dem Tag
der niedersächsischen Landtagswahl, möglich sei. Wie
sehen Sie diese Verlautbarungen in der Presse? Gibt es
eine solche Verlautbarung durch das Ministerium?
Presseverlautbarungen kommentiere ich hier schon
mal gar nicht. Aber so viel: Das, was ich aus dem Prozess beobachte, stimmt mich eher pessimistisch in der
Frage, ob seitens der SPD und der Grünen noch ein
ernsthaftes Interesse an einem solchen Konsens besteht.
Acht Termine haben stattgefunden. Ein grüner Ministerpräsident sagt, er sei bereit, diesen Weg jetzt zu gehen,
wird dann vom Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin gestoppt. Auf unserer Seite - das ist meine persönliche Beobachtung - stellt sich eher die Frage, ob Rot-Grün an
einem solchen Konsens interessiert ist. Es war ja nicht
Ziel, einfach nur einen Gesetzentwurf einzubringen; Ziel
war ja, einen nationalen Konsens nicht nur über den
Ausstieg aus der Kernenergie, sondern auch über das
Lösen der Endlagerfrage zu erzielen. Unser Angebot
liegt auf dem Tisch. Es ist jetzt an Ihnen, der Opposition
sowie den von SPD bzw. von den Grünen geführten Ländern, zu sagen, ob Sie diesen Weg mitgehen wollen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Nun geht es ja um einen Gesetzentwurf und nicht um
ein Konsultationspapier. Es wäre ja möglich, wenn ein
Gesetzentwurf seitens der Bundesregierung vorliegt,
dass der Bundesumweltminister diesen Gesetzentwurf
nun einbringt. Habe ich Sie richtig verstanden, dass der
Bundesumweltminister nicht an die Einbringung eines
Gesetzentwurfs denkt, sondern nach wie vor den Konsultationsprozess als Voraussetzung für die Einbringung
dieses Gesetzentwurfs ansieht?
Der Minister denkt sehr wohl an einen konkreten Gesetzesvorschlag; das war ja auch verabredet. Es ging ja
nicht um Konsultationspapiere, sondern es ging am Ende
des Tages darum, ein Gesetz zu verabschieden, nämlich
ein Standortauswahlgesetz, bei dem jeder einzelne
Schritt mit parlamentarischer Abstimmung und der Beteiligung von Bundestag und Bundesrat erfolgt. Es wurden sogar konkrete Angebote an Herrn Trittin und Herrn
Gabriel geschickt. Das Endergebnis war, dass neue Forderungen gestellt wurden. Insofern sage ich noch einmal: Es liegt nicht an uns. Gehen Sie davon aus, dass wir
unsere Verantwortung kennen. Die Bundesregierung
hofft allerdings auch, dass andere Beteiligte - wie die
Länder - ihre Verantwortung ebenfalls kennen.
Damit kommen wir zur Frage 18 des Kollegen
Dr. Matthias Miersch:
Wie sieht die weitere Planung der Bundesregierung - sowohl zeitlich als auch verfahrenstechnisch - in Bezug auf die
frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit und des Deutschen
Bundestages an der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs zur
Endlagersuche für radioaktive Abfälle aus?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Miersch, die Antwort ist relativ kurz;
denn die Beantwortung dieser Frage hängt von weiteren,
in der Antwort zu Frage 17 genannten Fragestellungen
ab.
Damit haben Sie das Wort zu Ihrer ersten Nachfrage.
Deswegen würde ich da gern nachfragen. Es gibt ein
verfassungsrechtlich sauberes Verfahren: Man kann das
aus dem Parlament heraus machen; man kann das von
der Bundesregierung aus machen. Es geht um einen Gesetzentwurf. Die Frage, die sich einfach stellt, ist: Inwieweit gedenkt die Bundesregierung, nun den Bundestag
zu befassen? Setzt der Bundesumweltminister sozusagen
auf ein Küchengespräch, oder setzt er auf einen Gesetzentwurf, und können wir mit diesem Gesetzentwurf in
diesem Jahr noch rechnen?
Herr Kollege Miersch, Ziel war es, einen möglichst
breiten Konsens hinzubekommen, um Bundestag und
Bundesrat gleichermaßen einzubinden. Noch hat der
Bundesumweltminister die Hoffnung, dass dies möglich
sein wird, nicht aufgegeben. Sollte sich zeigen, dass die
Opposition diesen Weg nicht mitgeht, werden wir einen
völlig normalen parlamentarischen Prozess beginnen.
Ihre zweite Nachfrage.
Können Sie dies noch einmal zeitlich - darum ging es
mir in meiner Frage - einordnen? Wann beginnen Sie
mit dem parlamentarischen Verfahren? Wie lange will
der Bundesumweltminister ausloten, ob es Ergebnisse
von Küchengesprächen bei einem guten Essen - oder
wie auch immer - gibt?
Herr Kollege Miersch, gutes Essen hat noch niemanden daran gehindert, zu guten Ergebnissen zu kommen.
({0})
Fakt ist, wir loten aus, ob ein Konsens möglich ist
und, wenn ja, welcher. Dann gehen wir ins Verfahren.
Sie haben allerdings vorhin ein Datum genannt, das bei
mir den Verdacht aufkommen lässt, Ihnen als Opposition
ginge es tatsächlich nur um die niedersächsische Landtagswahl und nicht um das Erreichen eines nationalen
Konsenses. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass eine
Wahlauseinandersetzung in einem Bundesland von Ihnen dazu instrumentalisiert werden könnte, diesen Konsens zu torpedieren. Ich hoffe und setze immer noch darauf, dass wir gemeinsam zu einer Lösung kommen.
Die Kollegin Vogt hat das Wort zu einer Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, ich möchte gerne konkret wissen, wann der Bundesumweltminister in der Lage ist, einen Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag einzubringen; denn ich denke, über die wesentlichen Eckpunkte
besteht in der Tat schon an vielen Stellen Einigkeit.
Frau Kollegin Vogt, der Eindruck ist eben nicht, dass
Einigkeit besteht. Die Einigkeit bestand, bis sie Jürgen
Trittin aufgekündigt hat. Insofern laufen jetzt noch Gespräche, um festzustellen, ob die Zustimmung auch seitens der Länder und der Oppositionsparteien möglich ist.
Ist dies nicht möglich, gehen wir in das von mir skizzierte Verfahren.
Die Frage 19 stellt die Kollegin Ute Vogt:
Wie bewertet die Bundesregierung die Zeugenaussagen
der ehemaligen Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,
vor dem 1. Untersuchungsausschuss „Gorleben“ des Deutschen Bundestages am 27. September 2012: „Ich kann nach
wie vor nicht einsehen, warum man einen Standort, den man
so weit erkundet hat, nicht mal auf seine Eignung erkunden
will“ und: „Ich sage noch mal, dass ich zum damaligen Zeitpunkt und auch heute sagen würde …, … warum nicht mal
Vizepräsidentin Petra Pau
gucken, ob Gorleben geeignet oder nicht geeignet ist“, vor
dem Hintergrund der öffentlichen Aussagen des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Peter
Altmaier, neben Gorleben auch alternative Standorte in einem
ergebnisoffenen Verfahren untersuchen zu wollen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Die Ankündigung des Bundesministers für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit Peter Altmaier, alternative Standorte für die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle in einem ergebnisoffenen Verfahren untersuchen zu wollen, bedeutet, dass sich alle
potenziellen Standorte der Prüfung und dem Vergleich
anhand festgelegter wissenschaftlicher Kriterien zu unterziehen haben. Werden die noch festzulegenden Kriterien von einem Standort - das schließt Gorleben ein nicht erfüllt, scheidet dieser aus dem weiteren Auswahlverfahren aus.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, die Bundeskanzlerin hat unter
anderem erklärt - ich zitiere -:
… warum nicht mal gucken, ob Gorleben geeignet
oder nicht geeignet ist.
Sie sagte:
Ich kann nach wie vor nicht einsehen, warum man
einen Standort, den man so weit erkundet hat, nicht
mal auf seine Eignung erkunden will.
Sehen Sie darin nicht ein Prä der Bundeskanzlerin,
zuerst Gorleben zu untersuchen, bevor man andere
Standorte untersucht?
Nein, das sehe ich nicht. Im Übrigen hat die Bundeskanzlerin recht.
({0})
Ich habe noch eine Nachfrage: Ist die Strategie des
Bundesumweltministers mit der Bundeskanzlerin abgestimmt?
Wir stimmen solch wichtige Fragen selbstverständlich ab. Im Übrigen haben sowohl der Bundesumweltminister als auch die Kanzlerin darauf hingewiesen, dass
nicht festgestellt ist, dass Gorleben nicht geeignet ist.
Das steht nicht fest. Insofern muss man zunächst Kriterien festlegen, und dann kann man ausschließen oder
einschließen. Das ist der Weg, den wir jetzt miteinander
gehen wollen.
Das Wort hat der Kollege Miersch zu einer Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, die Regierungschefin behauptete vor 14 Tagen in einem Ausschuss des Deutschen
Bundestages, sie sehe nicht ein, warum man einen
Standort nicht erst einmal zu Ende erkundet. Ist das nicht
genau das, was augenblicklich gerade von den Menschen in Niedersachsen befürchtet wird, dass Gorleben
nämlich Referenzstandort bleibt, und zwar bis zum
Schluss?
Den Begriff „Referenzstandort“ haben Sie gerade verwandt. Wir haben gesagt, wir wollen ein Gesetz vorlegen - das haben wir gerade miteinander besprochen -,
das zunächst wissenschaftliche Kriterien festlegt. Wenn
diese wissenschaftlichen Kriterien feststehen, wird man
sehen, welche Standorte geeignet oder nicht geeignet
sind. Die Bundeskanzlerin hat völlig zutreffend festgestellt, dass nicht festgestellt worden ist, dass Gorleben
nicht geeignet ist. Insofern Gorleben aus politischen
Gründen - das versuchen Sie gerade - herauszunehmen,
widerspricht unserem wissenschaftsbasierten Ansatz.
Die Kollegin Flachsbarth hat auch eine Nachfrage.
Bitte.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir zustimmen,
dass der damalige Bundesumweltminister Gabriel Gorleben als Referenzstandort definieren wollte? Können Sie
meiner Auffassung zustimmen, dass die derzeitige Bundesregierung auf das Ersuchen der Opposition sehr weit
zugegangen ist, Gorleben als einen von anderen Standorten zu definieren und nach den Kriterien zu bewerten,
die gemeinsam erarbeitet werden müssen? Und: Geben
Sie mir recht, dass es nur noch kleiner Anstrengungen
bedürfen würde - wenn man es denn wollte -, einen
Konsens herzustellen?
Ich gebe Ihnen recht, Frau Kollegin - das besprechen
wir schon seit gut einer Viertelstunde miteinander -: Es
ist die Auffassung von Herrn Gabriel gewesen. Ob er sie
jetzt noch teilt, kann ich nicht mehr erkennen, zumindest
nicht bei der Art und Weise, wie er sich auf unsere Vorschläge nicht eingelassen hat. Deshalb kann ich hier nur
noch einmal unser Angebot wiederholen, in ein gemein23760
sames Verfahren zu gehen und zu einem Konsens zu
kommen.
Die letzte Nachfrage dazu stellt die Kollegin Wolff.
Frau Staatssekretärin, Sie haben den Begriff „Referenzstandort“ nicht in den Mund genommen. Dennoch
ist Gorleben von Anbeginn in diesem Verfahren. Können
Sie ausschließen, dass Gorleben als Referenzstandort
Gegenstand der Beratung ist?
Frau Kollegin Wolff, wir wollen eine ergebnisoffene
Suche. Gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag wollen wir Schritt für Schritt Kriterien dafür festlegen, wie
gesucht wird und was geeignet erscheint.
Gorleben kommt als einer von mehreren möglichen
Standorten infrage. Solange nicht festgestellt ist, dass
Gorleben nicht geeignet ist, kann Gorleben im Verfahren
bleiben und sollte nicht aus politischen Gründen - es
sind ausschließlich politische Gründe, die hier angeführt
werden - herausgenommen werden.
Wir kommen zur Frage 20 der Kollegin Ute Vogt:
Wie bewertet die Bundesregierung diese Aussagen - siehe
Frage 19 - der ehemaligen Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel, vor dem Hintergrund des Haushaltsentwurfs der Bundesregierung, der 76 Millionen Euro zur Erkundung des Projekts Gorleben für das Jahr 2013 vorsieht ({0}) und in dem für die
„Erkundung weiterer Standorte für die Endlagerung radioaktiver Abfälle“ hingegen nur 3,5 Millionen Euro bereitgestellt
werden ({1})?
Frau Kollegin Vogt, die Bundesregierung strebt einen
parteiübergreifenden Konsens zur Auswahl des Endlagerstandortes an. Die Konsultationen sind noch nicht
abgeschlossen. Insofern berücksichtigt der Haushaltsentwurf für das Jahr 2013 die bisherigen Planungen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, dass „Referenzstandort“ bedeuten würde, dass man alle neuen
Standorte mit Gorleben vergleicht, während „ergebnisoffene Erkundung“ bedeuten würde, dass alle Standorte
inklusive Gorleben sich einer Prüfung nach den gleichen
Kriterien unterziehen müssten? Würden Sie in Kenntnis
dieses Unterschieds bestätigen, dass für eine Untersuchung unter gleichen Kriterien ein Erkundungsstopp in
Gorleben notwendig wäre und damit das Geld nicht erforderlich sein würde?
Frau Kollegin Vogt, auch ein erneuter Versuch macht
die ganze Sache nicht besser.
Ich wollte es Ihnen erklären.
Man kann es ja noch einmal versuchen. - Der Haushaltsentwurf ist so aufgestellt worden, dass er die derzeitige gesetzliche Grundlage abbildet. Sollte sich der
gordische Knoten tatsächlich durchschlagen lassen,
muss man verschiedene Aspekte berücksichtigen.
Hierzu gehört nicht nur die Frage, wie das Verfahren
hinsichtlich seiner Abläufe gestaltet wird, sondern sicherlich auch die Frage einer finanziellen Beteiligung
derer, die kerntechnischen Abfall produzieren.
Es gibt viele Fragen, die noch zu klären wären. Diese
Fragen brauchen wir momentan aber nicht zu klären,
weil es noch keine gesetzliche Grundlage gibt. Hieran
versuchen wir, wie gesagt, weiterhin konsensual zu arbeiten.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Ich habe keine weiteren Fragen mehr.
Sie verzichten.
Da die Fragen 21 und 22 der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl schriftlich beantwortet werden sollen, sind
wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Frage 23
des Kollegen Willi Brase, die Frage 24 des Kollegen
Klaus Hagemann und die Frage 25 des Kollegen Swen
Schulz sollen schriftlich beantwortet werden.
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Auch hier sollen die Fragen schriftlich beantwortet werden. Es geht um die Fragen 26 und 27 des
Kollegen Dr. Sascha Raabe und um die Frage 28 des
Kollegen Thilo Hoppe.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie auf. Die Frage 29
der Kollegin Katja Keul und die Fragen 30 und 31 der
Kollegin Bärbel Höhn sollen schriftlich beantwortet
Vizepräsidentin Petra Pau
werden, wie auch die Frage 32 der Kollegin Lisa Paus
und die Frage 33 des Kollegen Manuel Sarrazin.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht die
Staatsministerin Cornelia Pieper zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 34 des Kollegen Uwe Kekeritz auf:
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Gewalt
und Arbeitsrechtsverletzungen gegen Minenarbeiter in
Marikana, Südafrika, und inwieweit sind nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung deutsche Unternehmen und deren
Zulieferer- und Tochterunternehmen in die aktuellen Vorkommnisse involviert?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich beantworte die
Frage des Abgeordneten Kekeritz wie folgt: Im Rahmen
eines Polizeieinsatzes gegen illegal streikende Bergarbeiter am 16. August dieses Jahres wurden im südafrikanischen Marikana mindestens 34 Menschen getötet
und mehrere Dutzend zum Teil schwer verletzt.
Bereits im Vorfeld waren bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zehn Menschen umgekommen, darunter
zwei Polizisten. Staatspräsident Zuma hat am 23. August
2012 eine unabhängige Untersuchungskommission mit
richterlichen Befugnissen eingesetzt. Diese verfügt über
ein umfassendes Mandat einschließlich der Untersuchung von Rechtsverletzungen. Die Ergebnisse der
Kommission werden für Anfang nächsten Jahres erwartet. Ein interministerieller Ausschuss kümmert sich um
die Belange der Betroffenen bzw. ihrer Hinterbliebenen.
Herr Abgeordneter, ich will auch noch erwähnen,
dass deutsche Unternehmen nach Kenntnis der Bundesregierung nicht in die Vorgänge in Marikana involviert
waren.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke schön für die Beantwortung. - Sie sagten eben:
„illegal Streikende“. Sind Sie sich sicher, dass es sich
hier um einen illegalen Streik handelte? Wenn Sie sich
dessen sicher sind: Woran machen Sie das eigentlich
fest? Was ist die Rechtsvoraussetzung, um es als „illegalen Streik“ zu bezeichnen?
Herr Abgeordneter, wie Sie wissen, kämpft Südafrika
noch mit dem sozioökonomischen Erbe der Apartheid.
Die hohe Arbeitslosigkeit und die soziale Ungleichheit
in dem Land bilden eine schwere Hypothek. In Südafrika wird über Strategien zur Lösung dieser Herausforderungen kontrovers diskutiert. Deutschland ist bestrebt,
im Rahmen einer umfassenden bilateralen Partnerschaft
zur friedlichen, stabilen Entwicklung des Landes beizutragen. Sie haben gehört, dass die südafrikanische Regierung gewillt ist, an einer lückenlosen Aufklärung der
Geschehnisse zu arbeiten. Ich habe Ihnen den Sachstand
wiedergegeben, der uns von der südafrikanischen Regierung so bekannt ist.
Ihre zweite Nachfrage?
Ja.
Bitte.
Die Vorfälle wurden weltweit diskutiert. Da stellt sich
schon die Frage, ob von Deutschland oder - besser noch
- auf europäischer Ebene Initiativen ergriffen werden,
um soziale Standards bei der Beschaffung von Rohstoffen durchzusetzen. Inwieweit denken Sie in diese Richtung? Verfolgen Sie vielleicht schon konkrete Ansätze,
um demnächst soziale Standards beim Bezug von Rohstoffen oder Lebensmitteln einzuführen?
Herr Abgeordneter, Sie haben genau wie ich verfolgt,
dass Staatspräsident Zuma dieses Thema anlässlich des
fünften EU-Südafrika-Gipfels am 18. September dieses
Jahres von sich aus in sehr offener Weise angesprochen
hat. Ähnliche Erfahrungen machte der Bundesminister
für Wirtschaft und Technologie, Dr. Rösler, anlässlich
seiner Reise nach Südafrika am 4. und 5. Oktober dieses
Jahres. Natürlich begrüßen wir den Willen zur Aufklärung. Wir sind dabei, Südafrika mit entsprechenden
Maßnahmen und Projekten zu unterstützen. Ich denke,
es wird auch auf EU-Ebene weiterhin darüber diskutiert.
Der Kollege Schwabe hat eine Nachfrage.
Darf ich einmal nachfragen? Ich habe es einfach nicht
verstanden; Sie haben da etwas vorgelesen. Die Frage
war, ob die Bundesregierung über soziale Standards bei
der Rohstoffbeschaffung nachdenkt. Ich war vor kurzem
in Kolumbien und habe mir angeschaut, woher zum Beispiel die Steinkohle kommt, die in deutschen Steinkohlekraftwerken verbraucht wird; ich habe mich mit den
Arbeitsbedingungen beschäftigt. Es wäre für die Menschen vor Ort sehr hilfreich, wenn es Kriterien zum Beispiel beim Import von Steinkohle gäbe. Es wäre gut,
wenn es zumindest Transparenzrichtlinien gäbe, damit
klar wird, woher die Rohstoffe eigentlich kommen. Gibt
es solche Überlegungen in der Bundesregierung?
In erster Linie ist es die Aufgabe der südafrikanischen
Regierung - Herr Abgeordneter, das wissen Sie -, für
Normalität, soziale Stabilität, aber auch soziale Standards in diesem Bereich zu sorgen. Natürlich sind wir,
auch die Bundesminister, die Südafrika besuchen, mit
der dortigen Regierung im Gespräch - das habe ich gerade gesagt -, damit Grundlagen für bessere Arbeitsbedingungen geschaffen werden können, gerade auch in
den Minen, in denen solche schrecklichen Dinge passieren.
Die Fragen 35 und 36 des Kollegen Tom Koenigs sollen schriftlich beantwortet werden, wie auch die Fragen 37 und 38 der Kollegin Inge Höger. Auch die
Frage 39 der Kollegin Viola von Cramon-Taubadel soll
schriftlich beantwortet werden. Die Fragen 40 und 41
des Kollegen Omid Nouripour werden ebenfalls schriftlich beantwortet.
({0})
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Auswärtigen Amts. Danke, Frau Staatsministerin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen
steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph
Bergner zur Verfügung.
Die Frage 42 der Kollegin Haßelmann und die Fragen
43 und 44 des Kollegen Ströbele werden schriftlich beantwortet. Auch die Frage 45 des Kollegen Hunko soll
schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 46 der Kollegin Dr. Martina Bunge
auf:
Welche Positionen aus welchen Landesregierungen in den
neuen Bundesländern lagen der Aussage des Bundesministers
des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich, am 26. September 2012
bei der Befragung der Bundesregierung zugrunde, es gebe
„bisher keine einheitliche Haltung der Landesregierungen in
den neuen Ländern in der Frage der Angleichung des Rentensystems“ ({1})?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Bunge, ich beantworte Ihre Frage,
welche Positionen aus welchen Landesregierungen bezüglich der Rentenangleichung der Bundesregierung
vorlagen, wie folgt:
Bei der Befragung der Bundesregierung zum Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit hat der Bundesminister des Innern dem Wunsch der Bundesregierung Ausdruck verliehen, dass in der Frage der
Vereinheitlichung der Rentensysteme Ost und West ein
Konsens auch mit den Ländern herbeigeführt wird. Die
bislang diskutierten Modelle sind derzeit nicht geeignet,
eine Lösung im Sinne aller Beteiligten herbeizuführen.
Das heißt, eine entsprechende Konsenslösung lag nicht
vor, und dies war die Grundlage der Aussage des Ministers in der Fragestunde.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke, Herr Bergner. - In Reaktion auf diese Antwort
des Bundesinnenministers in der letzten Sitzungswoche
hat sich auch die Ministerpräsidentin von Thüringen - in
Klammern: CDU -, die zugleich Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz ist, zu Wort gemeldet und gesagt, sie sehe hier die Bundesregierung in der Pflicht.
Laut Pressemeldung hat sie ihr sogar Arbeitsverweigerung vorgeworfen. Sehen Sie in einer solchen rentenrechtlichen Frage nicht auch die Bundesregierung bzw.
generell die Bundesebene in der Verantwortung, einen
Vorschlag vorzulegen, den die Länder zunächst diskutieren? Erst danach kann entschieden werden: Gibt es eine
einheitliche Meinung?
Frau Kollegin Bunge, ich gebe Ihnen unumwunden
recht, dass die Verantwortung - auch die gesetzgeberische Verantwortung - beim Bund liegt. Gleichwohl hat
auch der Amtsvorgänger von Minister Friedrich schon
sehr früh zu Anfang dieser Wahlperiode im Gespräch
mit der Ministerpräsidentin und den Ministerpräsidenten
der neuen Länder keinen Zweifel daran gelassen, dass er
sich bei dieser sensiblen Frage einen Konsens mit den
Ministerpräsidenten als gewissermaßen politischen Repräsentanten der neuen Bundesländer wünscht, und genau das ist der Hintergrund der Diskussion.
Es gibt verschiedene Modelle: Sie selbst haben im
Deutschen Bundestag ein Modell eingebracht; der Sachverständigenrat hat ein Modell eingebracht, dem sich die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen weitgehend angeschlossen hat. Wir können zum gegenwärtigen Zeitpunkt
feststellen, dass keines dieser Modelle zu einem Konsens
mit den neuen Bundesländern - übrigens auch nicht mit
dem Beauftragten für die neuen Bundesländer - führen
könnte. Dies ist der Grund dafür - das haben wir im Bericht zum Stand der Deutschen Einheit zum Ausdruck gebracht -, dass wir gesagt haben: Unter diesen Umständen
sollte am bewährten System festgehalten werden. Dieses
verhindert ja, dass das jetzt in den neuen Bundesländern
herrschende niedrigere durchschnittliche Lohnniveau
den heutigen Beitragszahlern, wenn sie in 10 oder 20 Jahren in Rente gehen, bei der Ermittlung der Entgeltpunkte
nachträglich zum Nachteil gereicht.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Diesbezüglich vertreten wir unterschiedliche Standpunkte. Ich meine Folgendes: Auch wenn das Einkommen vergleichbar ist, werden unterschiedliche Rentenwerte berechnet.
Der Bundesinnenminister spricht von einem regionalen Unterschied, da das Lohnniveau im Osten niedriger
ist. Diese Begründung findet sich auch in anderen Publikationen der Bundesregierung. Würden Sie als Ostbeauftragter mir zustimmen, dass das niedrigere Lohnniveau
in Ostdeutschland auch mit dem Verlauf des EinigungsDr. Martina Bunge
prozesses in wirtschaftspolitischer Hinsicht - Stichworte: verlängerte Werkbank, kaum Forschung und Entwicklung, weniger Wertschöpfung - zusammenhängt?
Würden Sie mir zustimmen, dass die Tatsache, dass wir
in Ostdeutschland im Durchschnitt ein niedrigeres Lohnniveau und damit einhergehend auch ein niedrigeres
Rentenniveau haben, Folge eines strukturellen Problems
ist? Würden Sie mir zustimmen, dass Ostdeutschland insofern nicht mit Ostfriesland zu vergleichen ist, wie der
Bundesminister es getan hat? Würden Sie mir zustimmen, dass die Bundesregierung in der Verantwortung
steht, wenn es Verwerfungen sozialer Art gibt?
Frau Kollegin Bunge, Ihre Analyse, der ich durchaus
zustimme, ist doch gerade ein Plädoyer für das bestehende System.
({0})
Wenn wir davon ausgehen - diesbezüglich stimme ich
Ihnen ja durchaus zu -, dass die Ursache für das im Vergleich zum durchschnittlichen Lohnniveau im Westen
niedrige Lohnniveau in den neuen Bundesländern teilungsbedingt ist - dabei geht es auch um die wirtschaftliche
Ausgangslage der DDR -, dann sind wir gewissermaßen
auch verpflichtet, ein selbstständiges Erfassungssystem
zu nutzen, das sich nach dem jeweiligen Lohnniveau
richtet. Wenn wir durch politische Entscheidungen den
Rentenwert angleichen, dann sind die Aufwertungen der
Beitragsleistungen in den neuen Bundesländern erklärungsbedürftig. Das würde nämlich sofort zu einem Vergleich mit Regionen in den alten Bundesländern führen,
in denen das Lohnniveau ebenfalls niedrig ist. Dieser
Aspekt führt im Ergebnis dazu, dass man sagt: Wenn
man kein besseres Konsensmodell findet, bleibt man bei
dem bestehenden, weil es unter diesen Umständen das
gerechteste ist.
({1})
- Ich wäre dankbar, wenn Frau Enkelmann diese Behauptung in eine Frage kleiden würde.
({2})
Ich würde sie nämlich gerne zurückweisen.
Es sieht im Moment nicht so aus, als würde sie Ihnen
diesen Wunsch erfüllen.
Vielleicht stellt Ihnen aber die Kollegin Behm eine
Frage, die Ihnen die Möglichkeit gibt, das, was Sie noch
loswerden wollten, zu sagen, Herr Bergner. - Bitte.
Ich weiß nicht, was die Kollegin Dagmar Enkelmann
fragen wollte. Ich habe zu diesem Komplex eine Fülle
von Fragen.
Was mich beschäftigt, ist Folgendes: Die Kanzlerin
hat zu Beginn der Legislaturperiode versprochen, in dieser Legislaturperiode eine Rentenangleichung zwischen
Ost und West hinzubekommen. Das hat ihr natürlich eine
ganze Menge Zuspruch von Ostdeutschen eingebracht.
Jetzt sagt sie bzw. die Bundesregierung: Nein, wir haben
kein Modell. Wir können uns mit den Bundesländern
nicht einigen. Deswegen bleibt alles beim Alten. - Dies
führt zu einem großen Vertrauensverlust. Gleichzeitig
zeigt das eine gewisse Unfähigkeit der Bundesregierung,
sich dem Thema mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu
widmen; denn es gibt Modelle, zum Beispiel das Modell
der Grünen. Unser Modell zur Rentenangleichung würde
für sozialen Frieden sorgen - in dieser Frage steht der
soziale Friede in Ostdeutschland wirklich auf der
Kippe - und helfen, Altersarmut zu verhindern, und
zwar sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. Ich
würde Sie gerne fragen, warum die Bundesregierung es
nicht schafft, sich mit den Oppositionsfraktionen, die gut
durchgerechnete und sehr sinnvolle Modelle vorgelegt
haben, an einen Tisch zu setzen, um diese Sache noch im
Laufe dieser Legislaturperiode zu einem guten Ende zu
bringen.
({0})
Frau Kollegin, ich habe meine Argumente bereits in
meiner Antwort auf die Frage der Kollegin Bunge vorgetragen. Ich habe gesagt, warum ich das Modell, das die
Linke vorgeschlagen hat, für nicht konsensfähig halte.
Möglicherweise ist es auch verfassungsrechtlich nicht
tragfähig.
Ich sage Ihnen auch gerne, weshalb ich das Modell,
das Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen haben und
das auf dem Votum des Sachverständigenrats beruht, für
nicht konsensfähig halte. Ich selbst als Beauftragter der
Bundesregierung für die neuen Bundesländer müsste
Ihnen schon allein deshalb den Konsens verweigern,
weil es zu einer maßlosen Enttäuschung der jetzigen Bestandsrentner in den neuen Bundesländern führen würde.
({0})
Ich weiß nicht, wie genau Sie sich mit Ihrem eigenen
Modell auseinandergesetzt haben. Sie wollen gewissermaßen die Angleichung des Rentenwertes durch eine
Gegenrechnung bei den Entgeltpunkten kompensieren.
Unter dem Strich blieben die Renten in den neuen Bundesländern praktisch gleich, wobei zumindest ein Bezug
zur allgemeinen Lohnentwicklung hergestellt wird.
Ich will darauf aufmerksam machen, dass die Erwartungshaltung der allermeisten Rentnerinnen und Rentner
in den neuen Bundesländern dem diametral entgegensteht. Dort erwartet man von einer wie auch immer be23764
gründeten Anhebung des Rentenwerts auch eine vergleichbare Anhebung der Rentenleistung. Insofern kann
ich mich mit Blick auf diese Erwartungshaltung Ihrem
Vorschlag nicht anschließen.
({1})
Es gibt jetzt eine weitere Meldung zu einer Nachfrage, nämlich durch den Kollegen Wunderlich.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
sehen Sie vielleicht eine Möglichkeit, einen Konsens
herbeizuführen, darin, dass man als Grundlage für die
Rentenwertberechnung, für die Rentenpunkte nicht das
Bundesdurchschnittseinkommen, sondern nach Ost und
West differenzierte Durchschnittseinkommen nimmt?
Denn die Höherpunktung durch das Bundesdurchschnittseinkommen, durch diese verfälschten Einkommenswerte führt ja letztlich zu diesem Gefälle. Könnte
man da einen Schnitt machen und das ostdeutsche
Durchschnittseinkommen als Grundlage für die Berechnung der Rentenwerte nehmen?
Sie meinen, dass man das ostdeutsche Durchschnittseinkommen auch für die Berechnung des Rentenwerts
West als Grundlage nehmen sollte? Ich würde sagen,
dass ein solcher Beschluss rentenrechtlich und möglicherweise auch verfassungsrechtlich vollkommen angreifbar ist. Ich wüsste im Übrigen auch nicht, worin der
Wert dieser Entscheidung läge. Ich habe diesen Vorschlag noch nicht geprüft,
({0})
aber ich habe große Zweifel, dass dies renten- und verfassungsrechtlich möglich ist; denn das bedeutete einen
Eingriff in die Leistungen der Bestandsrentner in den alten Bundesländern.
({1})
Es haben sich noch die Kollegin Haßelmann und die
Kollegin Gleicke gemeldet. Diese zwei Fragen lasse ich
noch zu. - Bitte, Frau Haßelmann.
Ihre Aussage zu den Bestandsrenten stimmt doch so
überhaupt nicht; das haben Sie nicht richtig dargestellt.
Sie haben durch meine Frage die Gelegenheit, diese
Aussage in Ihrer Antwort zu korrigieren. Die von Ihnen
hier vertretene Auffassung ist jedenfalls nicht zutreffend; aber bei meiner Frage an Sie geht es um etwas anderes.
Es ging meiner Kollegin Cornelia Behm nicht darum,
dass Sie die Vorschläge der Grünen oder die Vorschläge
der SPD bewerten. Ich möchte Sie fragen, wann CDU/CSU
und FDP und die von ihnen getragene Bundesregierung
endlich einen Vorschlag für die Lösung dieses Problems
vorlegen.
({0})
Sie haben in dieser Legislaturperiode hier im Haus immer wieder betont, dass es ein Problem gibt, das man lösen muss. Wir nähern uns jetzt dem Ende der Legislaturperiode und sind bisher mit keinem Vorschlag von CDU/
CSU und FDP konfrontiert worden.
({1})
Wann gedenken Sie, etwas vorzulegen?
Frau Kollegin, ich habe in meiner Position als Beauftragter für die neuen Bundesländer nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich nach Prüfung aller mir bekannten
und auch in der Bundesregierung erörterten Modelle
({0})
unter dem Gesichtspunkt, dass ich in den neuen Bundesländern keine Verlierer haben möchte bzw. keine zusätzliche Enttäuschung verursachen möchte, bei der Beibehaltung des bestehenden Modells bleibe.
Es kommt noch ein zweiter Gesichtspunkt hinzu, den
ich als Beauftragter für die neuen Bundesländer nicht
unerwähnt lassen möchte. Das bisherige Modell geht davon aus, dass sich im Zuge einer Entwicklung die Löhne
in den neuen Bundesländern an die in den alten Bundesländern weitgehend angleichen werden. Ich gebe zu,
dass die Entwicklung der letzten Jahre in dieser Hinsicht
nicht sehr ermutigend war. Aber wenn wir gewissermaßen aus dem System aussteigen und einen einheitlichen
Rentenwert schaffen, ist das meiner Auffassung nach das
Signal, dass wir die Hoffnung auf eine Angleichung der
Lohnverhältnisse aufgegeben haben. Das möchte ich als
Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer nicht tun.
({1})
- Für mich ist das bestehende System nach Prüfung aller
Umstände noch immer das gerechteste, das wir gegenwärtig anbieten können.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Gleicke.
Herr Kollege Bergner, gerade Ihr letzter Satz veranlasst mich zunächst einmal zu der Feststellung, dass
auch im neuen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit, den wir demnächst debattieren wollen, darauf hingewiesen wird, dass die Einkommensunterschiede in Ost
und West wieder weiter auseinanderklaffen. Das heißt,
die Situation ist noch dramatischer geworden. Das Niveau der Einkommen im Osten lag schon einmal bei
83 Prozent des Westdurchschnitts; unterdessen sind es
nur noch 80 Prozent. Sie haben die ganzen Jahre zusammen mit Ihren Parteifreunden die Auffassung vertreten,
dass es ganz toll ist, dass die Löhne in Ostdeutschland
niedriger sind. Insofern frage ich Sie erstens, was Sie tun
werden, um die Tarifbindung und die Zahlung von Tariflöhnen in Ostdeutschland voranzutreiben, damit sich
diese Lücke schließt.
Zweitens. Zu diesem Thema liegen ja mehrere Vorschläge auf dem Tisch. Alle drei Oppositionsfraktionen
haben dazu unterschiedliche Vorschläge gemacht. Wir
haben einen Härtefallfonds für bestimmte Berufsgruppen und Betroffene gefordert. Im Rahmen eines Härtefallfonds könnte man zum Beispiel für in der DDR Geschiedene eine sozialverträgliche Lösung finden. Wir
haben gesagt: Was man sofort machen könnte, ist, die
pauschal bewerteten Versicherungszeiten für Kindererziehung und Pflege von Angehörigen oder für Wehr- und
Zivildienstzeiten anzurechnen.
Wir machen uns zu diesem Thema Gedanken; denn
wir alle wissen, dass ein geteiltes Rentenrecht 22 Jahre
nach der deutschen Einheit keine Akzeptanz mehr hat.
Man muss sich Folgendes vor Augen halten: Jemand,
der im September dieses Jahres zu arbeiten angefangen
hat, dessen Arbeitsbiografie also gerade erst begonnen
hat, wird, wenn er im Jahre 2057 in Rente geht, in seiner
Rentenbiografie noch immer DDR-Rentenbezüge finden. Das ist doch wirklich nicht mehr hinzunehmen.
Wann tun Sie hier endlich etwas?
Aber das ist doch gar nicht so.
Natürlich ist es so.
Frau Kollegin, Sie nannten gerade das Beispiel eines
jungen Mannes, der im Osten zu arbeiten beginnt.
({0})
- Oder das Beispiel einer jungen Frau. - Sie unterstellten, der Umstand, dass man zu niedrigeren Löhnen im
Osten zu arbeiten begonnen hat, werde noch im Jahre
2057 in der Rentenbiografie abgebildet. Wenn Sie diese
Behauptung aufstellen, haben Sie das gegenwärtige System nicht verstanden.
({1})
Das gegenwärtige System beruht gerade darauf, dass
sich das im Osten gegenwärtig niedrigere Lohnniveau in
30 oder 40 Jahren, wenn man in Rente geht, nicht in den
Entgeltpunkten niederschlägt. Das ist der große Vorteil
des gegenwärtigen Systems, der in der Öffentlichkeit leider nicht hinreichend bekannt ist.
({2})
Was Ihre zweite Bemerkung angeht, will ich darauf
hinweisen, dass der Härtefallfonds, den Sie vorgeschlagen haben, jedenfalls nach meiner Kenntnis an eine andere Problematik anknüpft, nämlich an die offenen Fragen im Bereich der Sonderversorgungssysteme. Die
Frage von Frau Bunge betraf allerdings die allgemeine
Angleichung.
({3})
Insofern müsste man darüber in einem anderen Zusammenhang diskutieren.
Die Antwort auf die Frage, ob es eine isolierte Anrechnung bzw. Angleichung der unterschiedlichen Erziehungszeiten gibt, wird einer weiteren Prüfung vorbehalten sein. Das ist ein Vorschlag, für den ich durchaus ein
gewisses Verständnis habe, weil er nicht in die Systematik insgesamt eingreift.
Was die niedrigeren Löhne im Osten betrifft, haben
Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass sie darauf zurückzuführen sind, dass in den neuen Bundesländern niedrigere Tarife herrschen. Die meisten Tarife sind allerdings
angeglichen. Für mich ist jedoch nicht immer erklärlich,
warum die Tarifpartner für den Mindestlohnbereich noch
immer unterschiedliche Regelungen für Ost und West
treffen; aber das ist Sache der Tarifpartner. Hier handelt
es sich tatsächlich um strukturelle Nachteile, die aus
meiner Sicht, technisch ausgedrückt, einigungsbedingt
sind, die also noch immer den Strukturwandel in den
neuen Bundesländern im Einzelnen abbilden. Diese
Schwierigkeiten sind zu überwinden. Der Ansatzpunkt,
um die Voraussetzungen für ein gleiches Lohnniveau in
Ost und West zu schaffen, sind strukturelle Maßnahmen,
die sich auch im Rentenniveau niederschlagen sollten.
Ich weiß nicht, wen Sie zitieren, wenn Sie sagen,
meine Parteifreunde oder ich hätten gesagt, es sei toll,
dass die Löhne im Osten niedriger seien.
({4})
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass im Strukturwandel die Lohnstückkosten eine entscheidende Rolle
für die Wettbewerbsfähigkeit spielen. Aber toll haben
wir das nie gefunden.
Ohne Zweifel ist das eine Debatte, die fortgesetzt
werden muss. Herr Staatssekretär, ich muss Ihnen mittei23766
Vizepräsidentin Petra Pau
len, dass es noch eine weitere Nachfrage gibt, und zwar
vom Kollegen Lemme.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär
Bergner, ich frage Sie noch einmal nach der Anrechnung
der pauschal bewerteten Versicherungszeiten für Kindererziehung, Pflege, aber natürlich auch für den Wehr- und
Zivildienst. Sie hatten ja eben angekündigt, das zu prüfen. Um konkret zu sein: Wie lange dauert denn Ihre
Prüfung?
Ich habe gesagt, dass dies prüfenswert ist. Ich persönlich habe auch ein gewisses Verständnis für diesen Ansatzpunkt. Ich möchte aber auf Folgendes aufmerksam
machen: Politisch befinden wir uns hier in der Schwierigkeit, dass mit einer Entscheidung unter der Überschrift
„Angleichung“ ganz andere Erwartungen geweckt werden und dass die Personengruppe, die von dem von Ihnen
angesprochenen Problem berührt ist, vergleichsweise
klein ist, gemessen an den allgemeinen Erwartungen, die
mit dem Begriff „Angleichung“ verbunden werden.
Die Frage 47 des Kollegen Volker Beck wird schriftlich beantwortet. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums des Innern. Herzlichen
Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Die Frage 48 des Kollegen
Volker Beck und die Frage 49 der Kollegin WalterRosenheimer werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Die Frage 50 des Kollegen
Sarrazin, die Frage 51 des Kollegen Hunko, die Frage 52
der Kollegin Paus und die Frage 53 der Kollegin
Tackmann sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe auf den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Frage 54 des Kollegen Brase wird schriftlich beantwortet ebenso wie die
Frage 55 des Kollegen Gehring. Auch die Frage 56 des
Kollegen Gehring soll schriftlich beantwortet werden.
Die Frage 57 der Kollegin von Cramon-Taubadel wird
ebenfalls schriftlich beantwortet.
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Zur Beantwortung der Fragen steht der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerd Müller zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 58 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
Welche Vorschläge zur Priorisierung der Fördergrundsätze
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“, GAK, hat die Bundesregierung den
Ländern vorgelegt, und wann ist die Beschlussfassung im
Planungsausschuss für Agrarstruktur und Küstenschutz,
PLANAK, vorgesehen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Damit sind wir beim
Lebensministerium. Wir kommen zu Fragen des ländlichen Raumes und der Feldmäuse. Wir sind ganz nah
- das sage ich auch den Zuhörerinnen und Zuhörern - an
den Themen, die Mensch, Tier und Umwelt berühren.
Die Kollegin Behm hat eine Frage gestellt, die ich wie
folgt beantworte: Das Bundesministerium hat einen Priorisierungsvorschlag für den Rahmenplan ab 2014 erarbeitet, der mit den Ressorts und den Ländern abgestimmt
wird. Danach sollen von den insgesamt 87 Fördertatbeständen etwa ein Viertel gestrichen, die Hälfte modifiziert
und ein Viertel beibehalten werden. Die Priorisierung erfolgte anhand eines mit den Ländern abgestimmten Kriterienkatalogs. Gründe für die Streichungsvorschläge
sind insbesondere eine geringe Inanspruchnahme, vergleichsweise geringe Zielbeiträge zur Agrarstrukturverbesserung usw. Diese Priorisierungsvorschläge sind in
zwei Anhörungen mit den Verbänden diskutiert worden.
Zurzeit werden insbesondere die zu modifizierenden
Maßnahmen fachlich beraten mit dem Ziel, Ende November/Anfang Dezember den überarbeiteten Rahmenplan
dem PLANAK zur Beschlussfassung vorzulegen. Soweit
es die Beratungen der Legislativvorschläge für die
ELER-Verordnung zulassen, ist die Beschlussfassung des
Rahmenplans 2014 durch den PLANAK für den 12. Dezember 2012 geplant.
Frau Kollegin Behm wird sicher nachfragen. Dann
kann man das eine oder andere vielleicht noch so darstellen, dass es auch verstanden wird.
Dann hat die Kollegin Behm das Wort zur ersten
Nachfrage.
Da hat Ihnen wohl jemand Antworten aufgeschrieben,
mit denen Sie selber nicht so zufrieden sind.
Wir haben in der Tat wahrgenommen, dass Verbändeanhörungen durchgeführt worden sind. Sie haben gesagt,
es habe sogar zwei gegeben. Ich frage Sie, warum die
Fraktionen nicht auf den gleichen Wissensstand gebracht
worden sind, warum sie die Vorlage zur Priorisierung
der Fördergrundsätze nicht in die Hand bekommen haben, und ob Sie bereit sind, uns diese Vorlage jetzt auszuhändigen.
Frau Kollegin, mit „dass es auch verstanden wird“
habe ich im Zusammenhang mit PLANAK gemeint,
dass wir uns angesichts der dankenswerterweise vielen
Zuhörerinnen und Zuhörer einmal nicht in Beamtendeutsch ausdrücken, sondern so, dass es auch für jemanden von außen verständlich ist.
Sie sind eine hochinteressierte Kollegin; natürlich
kann Ihnen die Vorlage zugeleitet werden. Es handelt
sich hierbei allerdings um Regierungshandeln im Verhältnis zu den Ländern; dies muss selbstverständlich zunächst einmal auf Beamtenebene abgestimmt werden.
Sie können aber kompletten Einblick bekommen.
Wenn Sie mich jetzt fragen, wie die Priorisierungsvorschläge aussehen, dann antworte ich darauf.
Die Kollegin Behm hat das Wort zu ihrer zweiten
Nachfrage.
Danke schön. - Dieses Regierungshandeln hat in der
Tat Auswirkungen auf die Agrarpolitik. Da das Parlament die Regierung und damit das Regierungshandeln
zu kontrollieren hat - und nicht umgekehrt -, wäre es
wohl angemessen, dass wir entsprechend informiert werden.
Wenn Sie gerne konkret werden wollen, möchte ich
wissen, wie mit den priorisierten Fördergrundsätzen Herausforderungen wie dem Erhalt der Biodiversität - ich
erinnere daran, dass die Agrarvogelwelt auf 50 Prozent
zurückgegangen ist -, dem Klimawandel und der wachsenden Nachfrage nach Bioprodukten Rechnung getragen wird.
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Behm, ich unterstreiche Ihre Aussage:
Das Regierungshandeln hat Auswirkungen. Da wir eine
gute Regierung haben, haben wir eine gute Agrarpolitik.
({0})
Biodiversität ist eines der zentralen Ziele. Wir haben
eine Biodiversitätsstrategie, über die wir schon verschiedentlich miteinander diskutiert haben und die natürlich
auch im Rahmen des PLANAK weiterhin ein zentraler
Punkt ist. Im Unterschied zu der Regierung, die unter
Einbeziehung Ihrer Fraktion gebildet wurde, haben wir
die Mittel für die GAK nicht gekürzt, sondern wieder
aufgebaut. Wir geben damit das klare Signal, dass wir Ja
sagen zur zukunftsorientierten Landwirtschaft und zur
Entwicklung der ländlichen Räume.
Jetzt ist es an der Zeit, neue Schwerpunkte zu setzen.
Der Ökolandbau bzw. die Biobetriebe sind ein wichtiger
Bereich. Im Unterschied zu Ihren Planungen haben wir
das Bundesprogramm Ökologischer Landbau vollinhaltlich und in voller Höhe weiterfinanziert. Wir würden uns
freuen, wenn wir im nächsten Jahr in Deutschland mindestens 10 000 neue Ökobetriebe bekämen; denn die
Nachfrage ist groß, und wir wollen nicht unbedingt, dass
die Nachfrage aus ausländischen Quellen gedeckt wird.
Heimische Produktion ist das Beste.
Danke.
Die Frage 59 der Kollegin Dr. Tackmann wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 60 des Kollegen Harald Ebner auf:
Auf der Basis welcher Risikobewertungen durch welche
Fachbehörden hat die Bundesregierung eine Ausnahmegenehmigung für den breitflächigen Einsatz des Rodentizids Ratron
({0}) in Thüringen erteilt, obwohl die
erhebliche Toxizität dieses Wirkstoffes für zahlreiche Nichtzielorganismen und für einheimische Beutegreifer oder Zugvögel, die an Chlorphacinon verendete Nagetiere verzehren,
wissenschaftlich belegt ist und das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit deshalb 2010 verschiedenen Pestiziden mit dem Wirkstoff Chlorphacinon die Zulassung entzogen hatte?
Jetzt sind wir bei den Feldmäusen. Wir haben eine
große Feldmausplage in Thüringen, mit 30 bis 70 Prozent Ernteausfall. Jetzt ist die Frage: Wie kann man das
wirksam bekämpfen? Das BVL hat nach Prüfung eine
Notfallzulassung für den Einsatz des Rodentizids Ratron
für 120 Tage ausgesprochen.
Die Alternative wäre, wie der Naturschutzbund und
vielleicht auch Sie, Herr Ebner, vorschlagen, eine gezielte Bekämpfung in den Mäusebauen. Ich erinnere
mich hier an meine Kindheit; ich könnte fast als Fachexperte dazu angehört werden. Wir haben als Kinder Feldmäuse gefangen und dafür 1 D-Mark bekommen. Wenn Sie sich freiwillig zur Verfügung stellen, das per
Hand zu machen, dann können wir vielleicht auf den
Einsatz von Ratron verzichten.
({0})
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
ich teile natürlich Ihre Auffassung hinsichtlich der Bedeutung des Ministeriums, das Sie als „Lebensministerium“ beschrieben haben. Es geht dort sehr stark um
Ökologie und Artenvielfalt; die Bedeutung ist enorm.
Gerade aufgrund dieser hohen Verantwortung möchte
ich noch einmal nachfragen.
Sie sind in Ihrer Antwort nicht auf meine Frage eingegangen, auf Basis welcher Risikobewertungen die Bundesregierung die Ausnahmegenehmigung für den breitflächigen Einsatz erteilt hat. Die Risikobewertung ist
wichtig, weil das BVL die Zulassung für Pestizide mit
diesem Wirkstoff 2010 widerrufen hat, und zwar aus gutem Grund. Deshalb frage ich Sie noch einmal nach den
Risikobewertungen. Ich füge hinzu: Trifft es zu, dass das
zuständige BVL die Ausnahmegenehmigung aus fachlichen Gründen nicht erteilen wollte, und, wenn ja, inwie23768
weit hat die Bundesregierung auf eine Erteilung hingewirkt oder gedrängt?
Herr Ebner, das Bundesamt hat diese Notfallzulassung nach Prüfung und Risikoeinschätzung für 120 Tage
erteilt. Ich kann Ihnen das Gutachten dazu zuleiten; ich
habe es im Augenblick nicht vorliegen. Ich glaube aber,
das können wir unter vier Augen mit den zuständigen
Wissenschaftlern diskutieren.
({0})
Darüber hinaus wurde die Frage, welche alternativen
Methoden es gibt, in einem Expertenworkshop in Sachsen-Anhalt diskutiert. Auch die Agrarministerkonferenz
hat sich mit der Feldmausplage in Thüringen auseinandergesetzt. Länderübergreifend wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die klären soll, ob und welche anderen Methoden es gibt.
Faktum ist aber - ich habe mir das noch einmal angeschaut -: Im Augenblick sind über 300 Betriebe mit Tausenden von Hektar durch Ernteausfälle von 30 bis
70 Prozent betroffen. Deshalb ist in diesem Fall die Notfallzulassung der Mäuseköder zur Bekämpfung erteilt
worden.
Ansonsten könnten wir mit Fallen über die Felder gehen. Das wäre eine Alternative.
Sie haben das Wort zur nächsten Nachfrage.
Danke schön für die Wiederholung Ihrer Antwort. Ich muss trotzdem noch einmal nachfragen: Wie bewerten Sie das Risiko einer breitflächigen Streuausbringung
von Ratron für Haustiere und für spielende Kinder, und
wie wird die Bevölkerung über den Einsatz dieses Köders informiert? Wie will die Bundesregierung verhindern, dass stark bedrohte Rote-Liste-Arten in Thüringen
wie die Wiesenweihe, der Steinkauz oder der Feldhamster durch den Einsatz von Ratron in ihrer Existenz gefährdet werden?
Die Abwägung des Einsatzes müssen wir den Wissenschaftlern und den Experten vor Ort überlassen. Auf der
einen Seite steht die Mäuseplage, auf der anderen Seite
in der Tat natürlich eine mögliche Gefährdung. Wir sind
ja so weit gegangen, Erhebungen darüber durchzuführen, ob der Tod von sieben Feldhasen - Sie hören richtig - mit dem Mittel „Ratron Feldmausköder“ in Verbindung zu bringen ist. Wir können das Monitoring auch
noch ausweiten, aber es gibt natürlich Grenzen.
Man muss auch Vertrauen in unter Abwägung der
Wissenschaftler und Behörden getroffene Entscheidungen haben und eine vor-Ort-bezogene Einzelfallentscheidung dann auch einmal akzeptieren. Wir sollten uns
nicht die Arroganz erlauben, zu meinen, dass wir im Plenum des Deutschen Bundestages besser beurteilen können, wie man eine Feldmausplage in einem Landkreis in
Thüringen bekämpft.
Wir kommen zur Frage 61 des Kollegen Harald
Ebner:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der aktuellen Studie des US-Agrarökonomen Charles
Benbrook ({0}), basierend auf Daten des US-Agrarministeriums, wonach in den
USA durch den Anbau von herbizidtoleranten gentechnisch
veränderten Organismen ein Anstieg des Herbizidverbrauchs
um 239 Millionen Kilogramm im Zeitraum 1996 bis 2011 erfolgt ist, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass einige in der
Europäischen Union bald zu erwartende Anbauzulassungen
gentechnisch veränderter Pflanzen ebenfalls eine Herbizidtoleranz gegen Glyphosat ({1}) oder Glufosinat ({2}) besitzen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frage 61: Schade, dass Loriot nicht mehr lebt. ({0})
Herr Ebner, in der Frage 61 geht es, wenn ich kurz einführen darf, um das Thema, welche Schlussfolgerungen
die Bundesregierung aus der aktuellen Studie des USAgrarökonomen Charles Benbrook, basierend auf bestimmten Daten, zieht.
Ich komme zur Antwort, sonst sind meine 60 Sekunden für die Antwort schon vorbei: Bei der Zulassung
gentechnisch veränderter Organismen sowohl auf EUals auch auf nationaler Ebene muss sichergestellt sein,
dass auch langfristig negative Folgen für die Gesundheit
von Mensch, Tier oder Umwelt durch den Einsatz solcher GVO mit Sicherheit ausgeschlossen werden können.
Deshalb wird die Haltung der Bundesregierung zu
eventuellen Anträgen auf Anbauzulassungen unter Einbeziehung aller vorliegenden wissenschaftlichen Gutachten
und Stellungnahmen für den Einzelfall erarbeitet. Hierbei werden alle verfügbaren Erkenntnisse berücksichtigt.
Aus diesem Grund werden auch die mit der Studie vorgelegten Hinweise auf einen Anstieg des Herbizidverbrauchs nach mehrjährigem Anbau nach entsprechender
Prüfung in das weitere Verfahren bei der Festlegung einer Position zu Anbauzulassungen herbizidtoleranter
Pflanzen selbstverständlich einfließen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Das freut mich zu hören, Herr Staatssekretär; denn
bislang wurde diese Verbindung von der Bundesregierung immer wegdiskutiert. Man hat gesagt: Das eine hat
mit dem anderen nichts zu tun.
Ich frage angesichts dessen nach, dass Sie gesagt haben, Sie machten eine gute Agrarpolitik. - Heute Morgen im Agrarausschuss hat die Ministerin zum Thema
gute Agrarpolitik gesagt, was den Antibiotikaeinsatz angeht, halte sie eine Reduktion des Mengeneinsatzes als
Ziel für nicht sinnvoll. - So viel zum Thema gute Agrarpolitik.
Ich halte eine Reduktion des Pestizideinsatzes für ein
gutes, notwendiges und sinnvolles Ziel. Deshalb meine
Frage: Wie gedenkt die Bundesregierung dann mit diesen Erkenntnissen umzugehen, sobald die Abstimmung
im StALuT über die Roundup-Ready-Sojabohne, nämlich eine glyphosatresistente Sojabohne, ansteht, angesichts dessen, dass 70 Prozent des erwähnten Anstiegs
des Herbizidverbrauchs in den USA allein auf diese herbizidresistente Sojabohne zurückzuführen ist?
Auch an dieser Stelle ist ganz klar: Die Politik muss
sich auf die Wissenschaft verlassen und wissenschaftsbasierte Entscheidungen treffen, unabhängig von politischer Couleur, ob nun links oder rechts, vorne oder hinten. Das sind die wissenschaftlichen Vorgaben.
So erfolgt das Zulassungsverfahren im europäischen
und nationalen Rahmen. Das heißt, im Augenblick werden mehrere Anträge bearbeitet. Die EFSA hat ihre Stellungnahme noch nicht abgegeben. Es werden alle auch
von Ihnen genannten wissenschaftlichen Erkenntnisse
einfließen. Dann gibt es eine Empfehlung. Anschließend
gibt es eine Bewertung durch unsere Wissenschaftler
und leitenden Beamten, eine politische Vorgabe und
dann die Abstimmung im StALuT.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Wenn wir die Frage des Pestizideinsatzes im Zusammenhang mit GVO ernst nehmen und auch hier eine
langfristige Reduktion erreichen wollen, dann müssen
wir uns auch vor Augen führen, dass in den letzten Jahren zunehmend Schädlingspopulationen aufgetreten sind
und sich ausbreiten, die gegen die gentechnisch veränderten Bt-Pflanzen, also welche, die einen Bacillus-thuringensis-Toxin produzieren, resistent sind und in diesen
Fällen eben auch zusätzliche Pestizide über das in den
Pflanzen gebildete Toxin hinaus eingesetzt werden.
Wie bewerten Sie denn diese Tatsache? Wie bewerten
Sie das insbesondere im Zusammenhang mit der Tatsache, dass damit das Bacillus-thuringensis-Präparat für
den ökologischen Landbau völlig wirkungslos wird?
Sollten Ihnen neue wissenschaftliche Untersuchungen
oder Erkenntnisse vorliegen, die ich jetzt nicht habe - so
viel Wissenschaftlichkeit muss sein, dass man sich das
erst anschaut, bevor man Ja oder Nein sagt -, dann berücksichtigen wir dieses gerne. Sie bekommen dann eine
Stellungnahme unserer Bundesämter.
Wir haben im Bundesinstitut für Risikovorsorge und
im BVL die besten Wissenschaftler. Darauf sind wir
stolz. Diese Wissenschaftler sind unabhängig. Wir stützen uns bei politischen Entscheidungen auf diese unabhängigen Gutachten. Das ist die absolut wichtige Grundlage.
Die Vorgabe in der Agrarpolitik ist klar; dieses Ziel
erreichen wir auch. Zur nachhaltigen Produktion gehört
auch eine Reduzierung des Pestizideinsatzes in der Fläche, in der Breite und in der Quantität. Auch dies konnten wir in den letzten Jahren Zug um Zug bzw. Schritt
für Schritt, aber sehr effektiv umsetzen. Ich lade Sie ein.
In einer Stunde bin ich bei der FNR. Dort geht es um
nachhaltige Entwicklung und Produktion. Wir behandeln
da genau dieses Thema.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz. Danke, Herr Staatssekretär.
Die Frage 62 der Kollegin Keul zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung wird,
wie auch die Frage 63 der Kollegin Bellmann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer zur Verfügung. Allerdings werden die Fragen 64 der Kollegin Bellmann,
65 des Kollegen Hofreiter und 66 ebenfalls des Kollegen
Hofreiter schriftlich beantwortet.
Ich rufe auf die Frage 67 der Kollegin Cornelia
Behm:
Welchen Güterschiffsverkehr ({0}) erwartet die Bundesregierung auf der Havel angesichts der durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung angekündigten
modifizierten Ausbauplanungen, und welche konkreten Baumaßnahmen stehen im Rahmen der Ausbaupläne noch an?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Staatssekretär Müller wird mir verzeihen, wenn ich sage: Auch das Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist ein bedeutendes
Lebensministerium der Bundesregierung, weil 82 Mil23770
lionen Bürgerinnen und Bürger fahren, wohnen und/oder
bauen.
Frau Behm möchte eine Frage zum Thema Güterschiffsverkehr - aufgeschlüsselt nach Schiffsklassen und
auf der Havel transportierte Mengen - beantwortet haben. Da werden modifizierte Ausbauplanungen gemacht.
Darauf jetzt die Antwort: Infolge der modifizierten Ausbauplanungen werden keine signifikanten Auswirkungen auf die künftige Flottenstruktur und die Transportmengen erwartet. Aktuell wird die Verkehrsprognose
2025 zugrunde gelegt. Ich möchte Sie, Frau Kollegin
Behm, mit Rücksicht auf unsere Kolleginnen und Kollegen bitten, dass ich Ihnen die beiden Tabellen zu Flottenstrukturen und Mengen schriftlich geben kann. Denn ob
uns die Kolleginnen und Kollegen richtig zuhören, wenn
es bei der Flottenstruktur darum geht, zu Berg zu fahren,
zu Tal zu fahren und die Anteile der Motorschiffe und
der Schubleichter aufgeschlüsselt zu bekommen, ist
fraglich. Sie verzeihen mir, dass ich Ihnen diese Tabellen
gebe. Dann sind wir ein bisschen zeitökonomischer unterwegs. Gleiches gilt für die Güterstruktur der Ladungsmengen für 2025. Das geht von landwirtschaftlichen Erzeugnissen über Futtermittel bis hin zu mineralischen
Brennstoffen, Erdöl, Mineralölerze, Metalle etc. Auch
diese Aufstellung möchte ich Ihnen gerne geben.
Ich komme zum Schlusssatz. Um das Verkehrsprojekt
Deutsche Einheit Nr. 17 zu vollenden, werden die Flusshavel, der Sacrow-Paretzer-Kanal und die Berliner
Nordtrasse ausgebaut. Der Umfang der Baumaßnahmen
hat sich - das wird Sie interessieren - durch die bedarfsgerechte Überarbeitung der Pläne erheblich reduziert.
Ich nehme an, dass die Kollegin Behm einerseits dieses Angebot akzeptiert, aber sicherlich jetzt ihre erste
Nachfrage stellt.
Ich habe nur eine Nachfrage. - Vielen Dank. Natürlich ist es sinnvoll, die Leute hier nicht mit so vielen
Zahlen, Daten und Fakten zu belasten, wenn wir zeitökonomisch sein wollen.
Wir haben die Informationen, auf deren Basis ich jetzt
nachgefragt habe, nur aus der Zeitung. Deswegen würde
ich gerne folgende Fragen beantwortet haben: Wann und
wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen? In welcher
Form werden die veränderten Planungen verbindlich?
Also, wann kann man da etwas in die Hand nehmen oder
vor die Augen gehalten bekommen?
Natürlich sind wir anhand dieser Flottenstruktur und
der Güterstruktur auch gerade von Ihrer Fraktion aufgerufen, das anzupassen, wenn Optimierungsmaßnahmen
durchgeführt werden.
Wir sparen damit auch Geld. Wir reduzieren gerade
die Investitionskosten an dieser Stelle durch verschiedene bauliche Veränderungen von 45 Millionen Euro auf
27 Millionen Euro. Es geht dabei auch um die Reduzierung der Ausbautiefe und der Baggermengen und die
entsprechenden Kostenreduktionen.
Die Öffentlichkeit wird über die konkreten Planungen
rechtzeitig informiert. Die Planungen der WSV sind so
weit fortgeschritten, dass erste Abstimmungen mit den
Landesbehörden, den Verbänden und den Betroffenen in
Brandenburg bereits begonnen haben bzw. unmittelbar
bevorstehen.
Mitte 2013 soll für die Fahrrinnenanpassung das erforderliche Planfeststellungsverfahren eingeleitet werden.
Wie Sie wissen, werden bei den Planungen und Planfeststellungsverfahren alle Belange abgefragt und verschiedene Erörterungstermine durchgeführt. Dann liegen die
konkreten Planungen vor. Jetzt über nicht vollständige
oder lückenhafte Planungen zu reden, wäre verfrüht. Wir
sind deshalb gerade im Abstimmungsprozess.
({0})
Die Frage 68 des Kollegen Dr. Ilja Seifert wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen 69 und 70 des Kollegen
Michael Groß. Der Kollege ist offensichtlich nicht anwesend. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung
vorgesehen.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundestages bis 16.45 Uhr. Dann fahren wir fort mit der Aktuellen Stunde.
Ich bekomme gerade einen Hinweis. Damit jeder
weiß, woran er ist: Für vier Minuten ist die Sitzung des
Bundestages unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Finanzielle Belastungen der Geringverdienerhaushalte durch die von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Ökostromsubventionen
Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Marie-Luise Dött für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bislang
war ich der Auffassung, dass wir hier im Parlament eiMarie-Luise Dött
nen weitgehenden Konsens haben, dass wir unsere Energieversorgung schrittweise auf erneuerbare Energien
umstellen. Wenn ich mir allerdings die vielfältigen Wortbeiträge in der Presse der letzten Tage ansehe, dann gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass die Opposition
diesen Konsens entweder nie ernst genommen hat oder
ihn jetzt aufkündigen will.
Vielleicht wollen Sie aber nur von Fehlern und Fehlsteuerungen, die Sie wesentlich mitverursacht haben,
ablenken. Wer hat denn die erneuerbaren Energien mit
völlig überzogenen Vergütungssätzen gefördert? Ich erinnere: Das war Rot-Grün. Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, haben dafür gesorgt, dass Strom aus
Photovoltaik mit über 50 Cent pro Kilowattstunde gefördert wurde. Wir haben dafür gesorgt, dass dieser Strom
die Bürger heute nur noch 19 Cent kostet. Damit sich
einige die Taschen füllen konnten, haben Sie dafür gesorgt, dass diese überteuerten Anlagen die Stromrechnungen der Bürger auch noch die nächsten Jahre belasten
werden. Sie, Frau Höhn und Herr Trittin, und Sie, Herr
Gabriel und Herr Kelber, haben den Bürgern damit einen
Kostenrucksack hinterlassen.
({0})
Heute tun Sie so, als hätten Sie damit nichts zu tun, als
wären alle Anlagen erst in den letzten drei Jahren gebaut
worden. Das ist unredlich.
({1})
Was aber noch schlimmer ist: Sie bringen mit Ihrer
Polemik die Förderung der erneuerbaren Energien bei
den Bürgern zunehmend in Misskredit.
({2})
Sie laufen herum und stellen das EEG als Subventionsmaschine für Golfplätze und Imbissketten dar. Es ist ja
richtig, dass wir dafür sorgen, dass energieintensive Unternehmen von hohen Strompreisen entlastet werden;
dazu stehen wir. Wir wollen Tausende Arbeitsplätze in
der Chemieindustrie, der Metallverarbeitung oder der
Glasindustrie schützen.
({3})
Wir stehen dazu, weil wir auch künftig die gesamte
Wertschöpfungskette in Deutschland behalten wollen,
weil wir Deutschland als Industriestandort erhalten und
ausbauen wollen. Es ist wirklich unlauter, dass Sie verschweigen, dass wir es waren, die dafür gesorgt haben,
dass gerade Golfplätze, Imbissketten oder Rechenzentren seit dem 1. Januar dieses Jahres nicht mehr von der
Umlage befreit werden, dass wir es waren, die gesetzlich
festgelegt haben, dass nur noch Unternehmen des produzierenden Gewerbes
({4})
berechtigt sind, die Umlagebefreiung zu beantragen,
({5})
und dass wir damit die von Ihnen eingeführten unbegründeten Ausnahmen für Unternehmen abgeschafft haben.
({6})
Sie werfen uns einen Fehler vor, den Sie gemacht und
den wir korrigiert haben.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, stimmen
dem zu. Dabei waren Sie es, die in der Zeit der Großen
Koalition unsere Vorschläge für die Einführung der
Marktprämie blockiert haben.
({7})
Das ist ein Instrument, das jetzt erfolgreich dafür sorgt,
dass die erneuerbaren Energien endlich aus der Subventionierung in den Markt gebracht werden können.
({8})
Die Kosten für die Bürger spielten für Sie in der Diskussion niemals eine Rolle. Das ist die Wahrheit.
({9})
Meine Damen und Herren, unser Anliegen war es von
Beginn an, die erneuerbaren Energien mit möglichst hoher Effizienz, also möglichst geringen Kosten für die
Bürger, zu fördern. Deshalb haben wir die Förderung immer nachjustiert. Wir haben zum Beispiel bei der Förderung von Photovoltaikanlagen in mehreren Schritten erhebliche Vergütungsreduzierungen vorgenommen.
({10})
Aber immer dann, wenn wir das getan haben, gerade um
die Kosten für die Bürger zu reduzieren, waren Sie es,
die sich vehement dagegen gewehrt haben;
({11})
da waren Ihnen die Kosten für die Bürger, die Sie jetzt
mit Krokodilstränen beklagen, egal; da haben Sie jedes
noch so absurde Argument bemüht, um die Förderung
möglichst hoch zu halten.
({12})
Was war von Ihnen nicht alles ins Feld geführt worden,
um die hohen Vergütungssätze zu retten, Herr Kelber?
Sie haben den Zusammenbruch der gesamten Photovoltaikbranche vorhergesagt. Sie haben einen Ausbaustopp
bei PV-Anlagen prognostiziert. Nichts davon ist einge23772
treten. Wenn Sie sich durchgesetzt hätten, dann würden
wir heute über ganz andere Größenordnungen bei der
EEG-Umlage reden.
({13})
Vielleicht sollten Sie sich einmal mehr Zeit zum Nachdenken über Ihre Politik lassen, bevor Sie die Förderung
der Erneuerbaren kritisieren.
Meine Damen und Herren, wo wir gerade beim Nachdenken sind: Schön wäre es, wenn Sie statt Polemik konstruktive Vorschläge für die Weiterentwicklung der Förderung der erneuerbaren Energien machen würden.
({14})
Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört.
Vielen Dank.
({15})
Nun hat der Kollege Rolf Hempelmann für die SPDFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich gehört habe, dass Schwarz-Gelb diese Aktuelle Stunde mit dem Titel „Finanzielle Belastungen der
Geringverdienerhaushalte durch die von der rot-grünen
Bundesregierung beschlossenen Ökostromsubventionen“
auf die Tagesordnung gebracht haben, habe ich gedacht:
Da muss sich jemand verschrieben haben. Als ich dann
hörte: „Nein, da hat sich niemand verschrieben; die meinen das ernst“, wollte ich es immer noch nicht glauben.
Ich habe jetzt wirklich den Eindruck: Sie haben da sozusagen einen Anfall von Masochismus. Sie wollen offenbar leiden
({0})
und diese Aktuelle Stunde heute über sich ergehen lassen.
Meine Damen und Herren, wie sieht es denn wirklich
aus mit Ihren Ambitionen für die Geringverdienerhaushalte? Schauen wir uns doch einmal Ihren „record“ an:
Das Bundesverfassungsgericht musste Sie zwingen,
die Hartz-IV-Sätze nach oben hin anzupassen.
({1})
Das haben Sie nicht von sich aus getan, weil Sie ein
Herz für die Geringverdiener haben;
({2})
Sie mussten dazu genötigt werden.
Heizkostenzuschüsse für Geringverdiener haben Sie
abgeschafft.
({3})
Mindestlöhne lehnen Sie nach wie vor ab.
({4})
Reichensteuer - wenn wir einmal auf das andere Ende
schauen - lehnen Sie auch ab.
({5})
Also, Ihre neue Ambition für die Geringverdiener ist
so glaubhaft wie Sie, Frau Dött, als Sie gerade versucht
haben, in machiavellistischer Weise Ihre Position darzustellen.
Das Zweite. Es war die Rede von „Beschlüssen der
rot-grünen Bundesregierung, die Belastungen produzieren“. Ja, mein lieber Freund! Jetzt müssen wir doch einmal nachrechnen: Wann war denn Rot-Grün zu Ende?
War das nicht 2005? Danach gab es - wenn ich mich
richtig erinnere - vier Jahre lang Schwarz-Rot. Da hätte
der Partner der Sozialdemokraten, die Union, vier Jahre
lang Gelegenheit gehabt, die Dinge zu ändern. Das haben die aber nicht gemacht. Anscheinend war man ganz
zufrieden mit dem Fördersystem.
Anschließend gab es drei Jahre lang Schwarz-Gelb.
Auch da stellt sich die Frage: Was ist denn geschehen?
({6})
Es ist also völlig klar: Sie versuchen heute von Ihrem
eigenen Versagen abzulenken. Sie haben die Anhebung
der Erneuerbare-Energien-Umlage auf 5,3 Cent zu verantworten. Daran führt nun wirklich kein Weg vorbei.
({7})
Meine Damen und Herren, wenn Sie von Ökostromsubventionen sprechen, dann sprechen Sie ja auch ganz
gerne davon, was in diesem Zusammenhang für die Industrieunternehmen so passiert. Da muss ich Ihnen sagen: Wir, Rot-Grün, haben in der Tat, beginnend im
Jahre 2000, Ausnahmetatbestände für besonders energieintensive Unternehmen geschaffen, und das aus gutem Grund. Wir wollten nämlich verhindern, dass die
ihre Produktionsstätten in Länder mit weniger strengen
Auflagen verlagern, in Länder ohne Emissionshandel
beispielsweise, ohne EEG und anderes. Das hatte also einen guten Grund.
Dieses Instrument hatte zehn Jahre lang eine hohe
Akzeptanz. Warum? Weil wir das gezielt und sehr begründet für wenige Unternehmen gemacht haben, die
wirklich im internationalen Wettbewerb standen.
({8})
Was haben Sie gemacht? Sie haben dieses Instrument
klientelpolitisch ausgeweitet.
({9})
Wenn man sich einmal anschaut, wer da heute alles
drin ist - Kartoffelverarbeiter, Futtermittelhersteller,
Schlachtbetriebe, Erfrischungsgetränkehersteller, Milchverarbeiter, Obstverarbeiter, Gemüseverarbeiter -,
({10})
dann muss ich sagen: Ich kann nicht so richtig erkennen,
wo denn da eigentlich die im internationalen Wettbewerb befindlichen energieintensiven Unternehmen sind.
({11})
Wenn ich sehe, dass Sie bei den Netzentgelten durch
die Senkung der Schwelle ohne weitere Konditionierungen mittlerweile auch Hotels - wieder einmal Hotels -,
aber auch Rechenzentren und Golfplätze befreien, dann
frage ich mich wirklich: Wo ist hier eigentlich die Abwanderungsgefahr? Haben Sie Sorge, dass Ihr heimischer Golfplatz nach Asien abwandert, oder warum machen Sie solche Sachen?
({12})
Das führt dazu, dass vernünftige Instrumente an Akzeptanz in der Öffentlichkeit verlieren. Das ist in Ihrer
Verantwortung. Deswegen sage ich: Seien Sie vorsichtig
mit einer solchen Aktuellen Stunde.
({13})
Machen Sie Ihre Hausaufgaben. Kündigen Sie nicht
nur ständig Maßnahmen an, zum Beispiel zur Systemintegration der erneuerbaren Energien, sondern tun Sie
etwas. Darauf mache ich Sie aufmerksam, weil Sie eben
so gegen die Photovoltaik vorgegangen sind, bei der wir
übrigens durchaus Angebote gemacht haben, auch zur
Absenkung der Förderung. Schauen Sie einmal sehr genau hin, was Sie gerade bei der Offshorewindenergie
machen. Was Sie da zurzeit machen, bringt Kosten für
alle Verbrauchergruppen, die unüberschaubar sind; Sie
wissen es auch selbst.
Kollege Hempelmann, achten Sie bitte auf die Zeit.
Bei Ihnen gibt es im Moment hektischste Reaktionen.
Sie versuchen gerade, Lasten auf die Endverbraucher zu
verteilen, Haftungstatbestände zu den Verbrauchern zu
verschieben, weil Sie nicht mehr wissen, wie Sie weitermachen sollen.
({0})
Seien Sie also ehrlich und geben Sie zu, dass Sie keinen Plan haben. Dann sind wir auch bereit, Ihnen zu helfen.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael
Kauch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Hempelmann hat gefragt, was diese Koalition für die
Geringverdiener getan hat. Die Geringverdiener - das
verwechseln Sie offensichtlich einmal wieder - sind
nicht identisch mit den Hartz-IV-Empfängern.
({0})
Bei diesen wird nämlich ein Teil der steigenden Energiekosten kompensiert. Die Geringverdiener sind diejenigen, die in diesem Land hart arbeiten, sich anstrengen
und trotzdem nicht viel verdienen.
({1})
Wir setzen uns für diese Menschen ein. Seit diese Koalition regiert, haben wir so viele Beschäftigte wie seit der
deutschen Einheit nicht mehr.
({2})
Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist die beste Sozialpolitik für die Menschen.
({3})
Die Geringverdiener sind in der Tat davon betroffen,
dass Strompreise steigen, und zwar durch ein Gesetz, das
nicht Schwarz-Gelb eingeführt hat. Wir haben es reformiert.
({4})
Eingeführt wurde es von Rot-Grün. Deshalb entlassen
wir Sie, meine Damen und Herren, nicht aus der Verantwortung. Die Grenze ist für viele Menschen erreicht. Es
ist nicht wieder nur eine Erhöhung von 1,5 Cent pro
Kilowattstunde, sondern wir haben nahezu eine Verdoppelung der Haushaltsstrompreise seit zehn Jahren. Herr
Trittin hat damals gesagt, das EEG koste nicht so viel. Es
koste einen Cappuccino im Monat. Diese Erhöhung kostet schon zwei Cappuccino im Monat.
({5})
Das ist der Latte-Macchiato-Fraktion der Grünen vielleicht egal, aber für die normalen Menschen in diesem
Land sind auch das Beträge.
({6})
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat die Vergütungssätze gesenkt. Seit unserem Regierungsantritt sind
die Vergütungssätze für die Solaranlage auf dem Eigenheimdach von 43 Cent auf 19 Cent gesunken.
({7})
Sie werden weiter fallen, und zwar nicht, weil Sie uns
gedrängt haben; denn die Entscheidung wurde gegen Ihren erbitterten Widerstand, gegen Ihre Verzögerungstaktik im Bundesrat getroffen.
({8})
Ihre Verzögerungstaktik ist der Grund dafür, dass die Solarförderung und der Solarausbau explodiert sind.
({9})
Immer mehr Leute haben den Schlussverkauf genutzt.
Das ist der Grund, warum die Umlage in diesem Maße
steigt. Das ist Ihre Verantwortung. Das ist Ihre Verzögerungstaktik, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
({10})
Sie haben die Ausnahmebestimmungen angesprochen. Diese Ausnahmebestimmungen sind in der zweiten Wahlperiode von Rot-Grün eingeführt worden.
({11})
Sie haben energieintensive Unternehmen von der Umlage befreit, und zwar aus gutem Grund.
({12})
Man wollte nämlich die Arbeitsplätze erhalten und Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, nicht außer Landes treiben.
({13})
Wir haben an diesen Kriterien der Energieintensität
nichts, aber auch gar nichts geändert.
({14})
Wir haben die Schwellenwerte für die Unternehmensgröße gesenkt.
({15})
Meine Damen und Herren, Sie können johlen, wie Sie
wollen, das ist eine richtige Maßnahme;
({16})
denn Sie sind die Genossen der Bosse. Sie sind diejenigen, die nur an die Großunternehmen denken. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP denkt an den Mittelstand,
an den industriellen Mittelstand und an die Menschen,
die dort arbeiten. Darauf sind wir stolz.
({17})
Sie können hier so viel lügen, wie Sie wollen.
({18})
Wenn Sie sagen, es seien Golfplätze von der Ökoumlage
befreit, dann sage ich Ihnen: Kein einziger Golfplatz in
Deutschland ist davon befreit. Es gibt einen Golfplatz,
der einen Antrag gestellt hat.
({19})
Es gibt aber keine Genehmigung. Diese Genehmigung
wird auch nicht erteilt werden. Das ist die Wahrheit zu
den Golfplätzen.
({20})
Die Hähnchen, von denen Sie reden und die hier gegessen werden, kommen nicht alle nur aus Deutschland,
die kommen auch aus Polen, aus Frankreich. Auch die
kann man nämlich über die Grenze schicken. Deshalb
sind auch diese Unternehmen natürlich im internationalen Wettbewerb, auch wenn die Hähnchen hier in
Deutschland gegessen werden.
({21})
Ihre Ausflüchte sollten darüber hinwegtäuschen, dass
Sie am Erneuerbare-Energien-Gesetz nichts ändern wollen. Deshalb sage ich Ihnen, was wir tun wollen.
({22})
Wir wollen das EEG reformieren, und zwar so, dass die
Bürgerinnen und Bürger für jeden Euro, den sie für die
erneuerbaren Energien bezahlen, möglichst viel Strom
bekommen,
({23})
dass nicht nur die teuersten Technologien eine Marktchance haben, sondern auch die billigen Technologien.
Deshalb setzen wir uns stärker für die Direktvermarktung ein. Im Übrigen hält es die FDP-BundestagsfrakMichael Kauch
tion für nötig, dass wir als Sofortmaßnahme die zusätzlichen Mittel, die der Bund aus der Mehrwertsteuer auf
die erhöhte Umlage erzielt, an die Bürgerinnen und Bürger zurückgeben. Der Staat darf sich nicht dadurch bereichern, dass die EEG-Umlage steigt. Deshalb sind wir
dafür, über die Stromsteuer eine Absenkung herbeizuführen.
({24})
Vielen Dank.
({25})
Herr Kollege, das Wort „Lüge“ ist unparlamentarisch.
Hier im Hause findet dies ohnehin nicht statt, weil jeder,
der hier Aussagen trifft, immer davon ausgeht, dass
seine Argumente die richtigen sind und diese nach bestem Wissen und Gewissen vorgebracht werden.
Auch bei größter Leidenschaft in der Debatte kann
ich die Verwendung dieses Wortes nicht akzeptieren. Ich
rüge deshalb Ihre Aussage.
({0})
Als Nächste hat aus der Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Eva Bulling-Schröter das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
halte die ganze Debatte für ein Medienspektakel. Ausgerechnet Union und FDP machen sich Sorgen um den
Strompreis.
({0})
Ausgerechnet Sie wollen sozial sein.
({1})
Da kann ich eigentlich nur lachen.
({2})
Senkung der Rente, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung,
Dumpinglöhne überall, auch bei mir in Bayern, wo ja angeblich alles so toll ist. Diese Parteien haben nichts mit
sozialem Bewusstsein am Hut.
({3})
Aber sie haben den Strompreis in die Höhe getrieben.
Dieser Preisanstieg stellt ein großes Problem dar.
Auch Rot-Grün hat seinerzeit kräftig daran gearbeitet,
die Lasten der Energiewende bei den Geringverdienern
und kleinen Unternehmen abzuladen. Dieser Hinweis ist
richtig. Aber die Koalition plagt nicht das soziale Gewissen; vielmehr macht sie sich Sorgen um die fossil-atomare Wirtschaft, um die „großen Vier“. Diese Unternehmen verlieren nämlich jeden Tag Marktanteile an die
Produzenten der erneuerbaren Energien. Das findet die
Koalition Mist, das soll ausgebremst werden. So schaut
es nämlich aus.
Fakt ist: Der Haushaltsstrompreis ist seit dem Jahr
2000 viermal so schnell gestiegen wie der Verbraucherpreisindex. Eine vierköpfige Familie zahlt heute jährlich
inflationsbereinigt rund 260 Euro mehr als damals. Fakt
ist aber auch, dass die Umlage für die erneuerbaren
Energien daran nur einen Anteil von etwa 30 Prozent
hat. 30 Prozent - und selbst davon hat ein Viertel nichts
mit Ökostrom zu tun. Das muss man immer wieder betonen.
Der übrige Strompreisanstieg resultiert vielmehr aus
einer Mischung aus Marktmacht, großzügigen Privilegien für die Industrie sowie Steuern. Diese Schieflage
begann tatsächlich bereits unter Rot-Grün. Die Ökosteuer wurde seinerzeit mit der Absenkung der Rentenbeiträge verbunden, was vor allem den Beziehern hoher
Einkommen nutzte.
Parallel wurde die energieintensive Industrie vollständig von der Steuer befreit, der Rest der größeren Unternehmen wurde über den Spitzenausgleich privilegiert.
Mit beiden Maßnahmen wurde eine einflussreiche
Lobby ruhiggestellt: Die Sozialdemokraten konnten bei
der großen Industrie punkten, die Grünen bei gut verdienenden Akademikern. Arme Familien dagegen zahlen
bis heute drauf.
({4})
Als die PDS damals den sozialen Ausgleich forderte,
welchen SPD und Grüne versprochen hatten - ich war
damals hier im Bundestag -, wurde sie von beiden als
„Ökobremser“ beschimpft. Daran kann ich mich noch
erinnern.
Die Ausnahmeregelungen bei der EEG-Umlage sind
nun einmal ein Werk von Jürgen Trittin und Sigmar
Gabriel. Auch die kostenlose Vergabe der CO2-Emissionsrechte wurde damals eingefädelt. Dadurch gehen
den Haushalten Milliarden Euro verloren - die Kosten
werden nämlich eingepreist, obwohl die Unternehmen
noch gar nichts bezahlen -, während sich die Energieversorger dumm und dämlich verdienen. Und wer bezahlt? Natürlich die Haushaltskunden.
Schwarz-Gelb hat nun die Befreiung der Industrie
von der EEG-Umlage weiter vorangetrieben. Heute gab
es wieder eine Anhörung zur Ökosteuer. Sie können es
doch nicht leugnen: Sie machen mit den Befreiungen
weiter. Hinzu kommen Ermäßigungen bei Netzentgelten.
Zudem wird die Industrie noch bis 2020 beim Emissionshandel beschenkt. Auch das können Sie nicht leugnen.
Ich sage: Das alles muss ein Ende haben.
({5})
Es kann nicht sein, dass vor allem jene die Energiewende bezahlen, die jeden Monat neu rechnen müssen,
wie sie über die Runden kommen. Fragen Sie doch endlich einmal die Leute!
Wir Linken wollen die Energiewende mit einem Sieben-Punkte-Programm sozial gestalten. Wir haben dazu
Vorschläge: Die Privilegien sollen abgebaut werden. Zudem fordern wir eine effektive Strompreisaufsicht, eine
wirkliche Aufsicht, die auch einmal Nein sagt, und die
Reduzierung der wirkungslosen Stromsteuern; denn das
EEG ist das Lenkungsinstrument für die Energiewende,
und dieses gilt es zu schützen und zu bewahren.
({6})
Katja Kipping hat schon im Sommer eine Abwrackprämie für Energiefresser vorgeschlagen; wir freuen uns,
dass die Grünen sie jetzt auch vorschlagen. Daneben
müssen Stromsperren verboten werden. 600 000 bis
900 000 Haushalten wird einfach der Strom abgestellt.
Dies betrifft auch Mütter mit kleinen Kindern. Das ist
absolut asozial. Da muss etwas passieren.
({7})
Nicht zuletzt wollen wir mit unserem Sockelmodell
beim Strompreis den Energieverbrauch nicht nur sozial
gerechter, sondern auch ökologischer gestalten.
Es muss endlich etwas getan werden. Das ist sozial,
und nicht das, was Sie wollen.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Eva Bulling-Schröter. Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Bärbel Höhn. Bitte schön,
Frau Kollegin Bärbel Höhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hatte heute Mittag eine Diskussion bei der Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft zum Thema „Rettet die
Energiewende“. Dieselbe Initiative - diejenigen, die ab
und zu S- und U-Bahn fahren, haben es wahrscheinlich
schon mitbekommen - startet momentan für viel Geld
eine große Kampagne und klebt Plakate zum Stopp des
EEG, also zum Stopp des Herzstücks der Energiewende.
Da gibt es viel Heuchelei. Das, was wir heute vonseiten
der Koalition erleben, ist auch nicht viel besser.
({0})
Auch CDU/CSU und FDP haben in ihrer Mehrheit
die Energiewende nicht gewollt. Sie wollten Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke und haben sie auch
durchgesetzt. Erst die Katastrophe von Fukushima hat
Sie zum Kurswechsel gezwungen. Jetzt bekennen Sie
sich zur Energiewende; aber den Ausbau der erneuerbaren Energien wollen Sie abbremsen. Das geht nicht zusammen, meine Damen und Herren.
({1})
Sie sagen, der Ausbau sei zu teuer; aber die Kosten
haben Sie selbst durch Ihre Politik systematisch in die
Höhe getrieben.
({2})
Das, was Sie hier treiben, ist ein doppeltes Spiel, und damit kommen Sie nicht durch.
({3})
Fakt ist: 2009, als die schwarz-gelbe Koalition ins Amt
kam, lag die EEG-Umlage knapp über 1 Cent; heute ist
sie fünfmal so hoch und beträgt 5,3 Cent.
({4})
Die Verantwortung dafür können Sie nicht auf andere
schieben, meine Damen und Herren.
({5})
Natürlich hat der Anstieg der EEG-Umlage auch eine
Menge mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien zu
tun; Investitionen in die Zukunft kosten Geld. Aber die
Bundesregierung hat den Ausbau unnötig teurer gemacht: 1 Cent der EEG-Umlage und der Netzdurchleitungsgebühren geht auf Geschenke an die Industrie zurück, die in der Regierungszeit von Angela Merkel
verteilt wurden.
({6})
- Ich komme dazu. - Verbraucher und Mittelstand zahlen deshalb fast 4 Milliarden Euro mehr als nötig.
({7})
Das ist der Merkel-Mehrpreis der Energiewende, und
diesen Merkel-Zuschlag wollen wir abschaffen.
({8})
Lassen Sie uns das einmal durchgehen. Wie ist denn
dieser Merkel-Zuschlag zustande gekommen? Angefangen hat es mit Wirtschaftsminister Glos, der in der Großen Koalition die Aufnahme neuer Industriesubventionen in das EEG durchdrückte. Seine Klientelpolitik
kostet die Verbraucher heute 1 Milliarde Euro im Jahr.
Philipp Rösler war da nicht besser: Er setzte im
EEG 2012 eine weitere Ausweitung der Ausnahmen für
die Industrie durch. Das Ergebnis ist: Statt der 250 privilegierten Unternehmen, die es 2005, am Ende der Regierungszeit von Rot-Grün, gab, haben wir mittlerweile
über 700,
({9})
darunter sind Schlachthöfe, Zuckerbäcker, Futtermittelhersteller und der Flughafen von Stuttgart. Für das
nächste Jahr, für 2013, gibt es mehr als 2 000 Anträge.
({10})
Das ist ein ungerechtes Ergebnis Ihrer Politik, nicht der
Politik von Rot-Grün.
({11})
Fast alle dieser Anträge entsprechen den Kriterien
und werden deshalb genehmigt werden müssen.
({12})
Das gilt auch für die Anträge zu Netzentgelten der beiden Golfplätze, die Sie hier herunterzuspielen versuchen. Diese Anträge erfüllen die Kriterien, die Sie selber
aufgestellt haben.
({13})
Herr zu Guttenberg hat die Netzentgelte für die Großindustrie 2009 abgesenkt, und Herr Brüderle hat sie 2011
ganz abgeschafft. Mehrkosten für die Verbraucher:
500 Millionen Euro. Herr Röttgen hat das EEG mit der
teuren und ineffizienten Marktprämie befrachtet.
Auch Herr Altmaier ist nicht besser; denn die weitere
Verteuerung aufgrund der Liquiditätsreserve im Rahmen
der EEG-Umlage wird von den Verbrauchern gezahlt
werden. Die ganze schwarz-gelbe Bundesregierung hat
mitgemacht, die Kosten für Verbraucher und gerade für
den Mittelstand, für die kleinen und mittelständischen
Betriebe,
({14})
in die Höhe zu treiben. Jetzt vergießen Sie Krokodilstränen wegen der steigenden EEG-Umlage. Das glaubt
Ihnen niemand, meine Damen und Herren.
({15})
Wir Grüne wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien zu fairen Kosten fortführen. Deshalb wollen wir
erstens den Merkel-Zuschlag abschaffen und die Industrieprivilegien auf schutzbedürftige Unternehmen beschränken, also auf diejenigen, die im internationalen
Wettbewerb stehen und bei denen Arbeitsplätze wegfallen könnten. Zweitens gehören alle Vergütungssätze und
Boni im EEG auf den Prüfstand, und drittens brauchen
wir ein neues Marktdesign für den Strommarkt, damit
immer mehr erneuerbare Energien auch außerhalb des
EEG ihren Platz finden.
„Rettet die Energiewende“ ist eigentlich ein gutes
Motto. Aber dafür müssen wir das EEG weiterentwickeln und dürfen es nicht abschaffen.
({16})
Dafür müssen wir die erneuerbaren Energien kostengünstig ausbauen und dürfen sie nicht ausbremsen. Und
wir müssen die Energiewende fair und nicht einseitig zulasten der Verbraucher und zulasten der kleinen und mittelständischen Betriebe finanzieren.
Deswegen werden wir auch an diesem Punkt nachhaken. Wir werden Sie treiben, damit Sie das tun, was
Angela Merkel schon gestern verkündet hat: Sie will
diese ungerechten Ausnahmen überprüfen, weil wir sie
aufgedeckt haben und Sie letzten Endes damit getrieben
haben.
({17})
Danke.
({18})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bärbel Höhn. - Nächster
Redner ist für die Bundesregierung Herr Bundesminister
Peter Altmaier. Bitte schön, Herr Bundesminister Peter
Altmaier.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Werte Frau Kollegin Bärbel Höhn, ich habe den
Eindruck,
({0})
dass Sie mit Ihrer Rede die Energiewende nicht verteidigen, sondern schlechtreden wollten. Bei allen Fehlern
und Schwächen, die es gibt: Das hat die Energiewende
nicht verdient.
({1})
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,
sollten wir uns gemeinsam daran erinnern, dass wir diese
Energiewende hier an dieser Stelle vor anderthalb Jahren
({2})
gemeinsam beschlossen haben.
({3})
Es stimmt, dass wir damals bei der Frage der Laufzeiten
für Kernkraftwerke unterschiedliche Auffassungen hatten, aber es stimmt auch, dass wir gemeinsam für den
Ausbau und die Förderung von erneuerbaren Energien
eingetreten sind. Das war seit den Zeiten von Peter
Harry Carstensen und Dietrich Austermann ein parteiübergreifender Konsens in diesem Haus.
({4})
Wir haben das Erneuerbare-Energien-Konzept im Jahre
2010 beschlossen. Wir haben es die ganzen Jahre gemeinsam getragen.
({5})
Liebe Frau Höhn, wir sollten das, was wir gemeinsam
erreicht haben, nicht schlechtreden.
({6})
Ich komme viel herum im Land, und ich rede mit den
Menschen. Das, was insbesondere Ihr Fraktionsvorsitzender Trittin, aber auch andere Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen und auch - es tut mir leid, es zu sagen von der SPD in den letzten Tagen zum Thema „Ausnahmeregelungen für die Industrie“ an falschen, an unrichtigen Behauptungen,
({7})
an Unterstellungen verbreitet haben, hat der Akzeptanz
dieser Energiewende mehr geschadet als alle Kampagnen.
({8})
Ich will Ihnen eines sagen:
({9})
Man kann doch möglicherweise jenseits Ihrer unzutreffenden Behauptungen etwa im Hinblick auf Golfplätze
und anderes über einzelne Anträge, die vielleicht abgelehnt werden, und über einzelne Anträge, die vielleicht
sogar genehmigt werden, durchaus mit Argumenten
streiten. Aber Sie wissen doch selbst: Wenn man die
möglichen Missbrauchsfälle tatsächlich identifiziert und
abstellt - und ich habe gesagt, dass ich das prüfen
werde -, dann wird die EEG-Umlage weder wesentlich
sinken noch wesentlich steigen.
({10})
Sie wird im Wesentlichen gleich bleiben.
({11})
Das ist die Situation. Das müssen Sie den Menschen
sagen.
({12})
Sie wissen doch ganz genau: Auch wenn wir sämtliche Ausnahmeregelungen für energieintensive Unternehmen streichen würden, würde die EEG-Umlage zum
1. Januar 2013 steigen.
({13})
Daran zeigt sich doch der Erfolg des Ausbaus des Bereichs der erneuerbaren Energien. Das zeigt doch, was
erreicht worden ist.
Wir sollten uns auch darüber klar werden, dass wir
ein Interesse daran haben, den Konsens aufrechtzuerhalten, der seit dem Jahr 2000 zwischen uns allen herrscht:
({14})
Wir sollten die Energiewende so gestalten, dass der
Wirtschaftsstandort Deutschland dadurch nicht schwächer, sondern stärker wird und wir die Grundstoffindustrien in Deutschland halten können. Dieser Konsens
muss Bestand haben und darf in diesem Hohen Hause
nicht infrage gestellt werden, von niemandem.
({15})
Liebe Frau Höhn, ich hätte mir gewünscht, dass in
dieser Debatte ein Stück weit Gemeinsamkeiten deutlich
geworden wären.
({16})
Sie haben uns vorgeworfen, wir würden den Ausbau des
Bereichs der erneuerbaren Energien bremsen.
({17})
Was für ein Unsinn! Liebe Frau Höhn, wir haben im
Sommer eine deutliche und regelmäßige Absenkung,
eine Degression der Einspeisevergütung für Photovoltaikanlagen beschlossen, um das Ausbautempo wieder zu
dem ursprünglich vorgesehenen Korridor zurückzubringen. Wir haben auch beschlossen, dass die Einspeisevergütung generell ausläuft, wenn eine Gesamtleistung von
52 Gigawatt erreicht ist. Diesen Beschluss haben wir gemeinsam mit den Stimmen aller Vertreter der Grünen in
Bundesrat und Bundestag gefasst. Wenn Sie uns jetzt
vorwerfen, dass wir den Ausbau im Bereich der Photovoltaik bremsen,
({18})
obwohl Sie diese Beschlüsse mitgetragen haben, weil
Sie wussten, dass sie richtig sind, dann ist das intellektuell unredlich. Das lassen wir Ihnen in dieser Debatte
nicht durchgehen.
({19})
Seit der Zeit der schwarz-grünen Pizza-Connection
habe ich ein sehr großes Herz für meine grünen Freunde.
Vieles von dem, worüber wir damals gemeinsam diskutiert haben, haben wir erreicht. Peter Harry Carstensen
war einer der Ersten, die erkannt haben, welches Potenzial in den erneuerbaren Energien steckt. Bei Ihnen und
uns gab es einige, die das erkannt haben, aber wir waren
in der Minderheit. Wir haben zwar viel erreicht, aber wir
müssen uns die Frage stellen, ob wir unsere Argumente
wirklich alle paar Wochen ändern wollen.
Lieber Herr Kollege Hempelmann, das, was Sie zum
Thema Offshorewindenergie gesagt haben, hat mich sehr
betroffen gemacht.
({20})
Wissen Sie, alle Regierungen seit der rot-grünen Koalition haben gesagt - das gilt für die Große Koalition und
die jetzige Koalition -, dass wir den Bereich Offshorewindenergie entwickeln wollen. Das haben wir alle
miteinander gesagt. In Norddeutschland sind mit Blick
auf den Ausbau des Bereichs der Offshorewindenergie
inzwischen Tausende von Arbeitsplätzen in Küstennähe
entstanden. Ein neuer Hafen wurde gebaut. Es wurden
Firmen gegründet, die sich dort angesiedelt haben. Zehntausende Menschen arbeiten in diesem Bereich.
({21})
Darf ich Ihre Aussagen so verstehen, dass Sie uns einladen, gegen die Nutzung der Offshorewindenergie zu
arbeiten, und Sie diese Arbeitsplätze aufs Spiel setzen
wollen?
({22})
Denken Sie daran, dass der Erfolg dieser Initiativen davon abhängt, dass der Konsens Bestand hat. Das, was
wir gemacht haben, ist im Prinzip richtig.
({23})
- Lieber Herr Hempelmann, ich kann es doch nicht ändern. Im Sommer befand sich dieses Projekt in keiner
guten Verfassung.
({24})
Dafür ist nicht irgendeine Regierung verantwortlich,
sondern das ist Folge der Tatsache, dass viele die
Schwierigkeiten und Herausforderungen, die mit diesem
Projekt in finanzieller, technologischer und anderer Hinsicht verbunden sind, unterschätzt haben.
({25})
In so einer Situation muss die Regierung handeln.
Jetzt komme ich zu dem entscheidenden Punkt: Wir
haben im Jahre 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz
verabschiedet.
({26})
- Dieser Bundestag hat es verabschiedet.
({27})
Dieses Gesetz ist inzwischen seit rund zwölf Jahren in
Kraft. Alle Probleme, mit denen wir heute zu kämpfen
haben, das Problem, dass der Netzausbau nicht nachkommt, alle Probleme im Hinblick auf die Frage, wie
man die erneuerbaren Energien speicherungsfähig machen kann, alle Probleme, die damit zusammenhängen,
dass wir für ein vernünftiges Ausbautempo sorgen müssen, und die Probleme zwischen Nord und Süd und Ost
und West, die gelöst werden müssen, all diese Probleme
hätten Sie in den neun Jahren, in denen Herr Trittin und
Herr Gabriel Umweltminister waren, klären können.
({28})
Ich habe in meinem Ministerium die Aktenschränke
durchwühlt. Ich habe kein einziges Konzept aus der Zeit
Ihrer Regierungsverantwortung gefunden, das aufzeigt,
wie man diese Energiewende vernünftig umsetzt und zu
einem Erfolg macht.
({29})
Ich glaube, in den letzten Wochen ist deutlich geworden, dass alle in diesem Haus die Energiewende wollen
und für ihren Erfolg arbeiten. Ich halte daran fest: Wir
können gemeinsam einen Konsens erreichen.
({30})
Dazu gehört, dass die Energiewende in einem vernünftigen Tempo vorangetrieben wird, dass sie mit dem Ausbau der Netze abgestimmt wird, dass wir neue technologische Möglichkeiten entwickeln und dass wir dafür
sorgen, dass es öffentliche Akzeptanz gibt. Ich möchte
Sie herzlich einladen, daran mitzuwirken. Mäßigen Sie
sich etwas in Ihrer Rhetorik,
({31})
und verstärken Sie Ihre Anstrengungen in der Sache.
Vielen Dank.
({32})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Matthias Miersch. Bitte
schön, Kollege Matthias Miersch.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister, man fragt sich, wer sich hier mäßigen muss. Wenn im Jahr 2012 von der Regierungskoalition eine Aktuelle Stunde mit einem solchen Titel
beantragt wird, dann, glaube ich, ist das angesichts der
seit Monaten bekannten Problematik eine Bankrotterklärung der Regierung und der Koalition.
({0})
Lieber Herr Minister Altmaier, Sie sind es, der hier
und heute einmal hätte sagen können, was Sie vorhaben.
Sie sind für vier Jahre gewählt worden, um unter anderem die Energiepolitik zu gestalten. Was hören wir?
Nichts, nichts und wieder nichts.
({1})
Frau Dött fleht uns in dieser Aktuellen Stunde an, Vorschläge zu machen. Ich frage Sie: Wo sind Ihre Vorschläge als Regierung der Bundesrepublik Deutschland?
({2})
Die Probleme sind seit Monaten bekannt. Das, was
Sie bei der Befreiung energieintensiver Unternehmen
von der EEG-Umlage angerichtet haben, war keine
Reform des Gesetzes, sondern die Deformierung einer
guten Absicht von Rot-Grün.
({3})
Das ist nicht der rote, sondern der schwarz-gelbe Faden,
der sich durch diese Legislaturperiode zieht. Sie haben
keine Linie in der Energiepolitik. Sie haben keinen Plan
in der Energiepolitik.
({4})
Sie wissen gar nicht, wohin Sie wollen, und ich unterstelle sogar einem Teil dieses Hauses, dass insgeheim
gehofft wird, dass die Energiewende scheitert, damit
sich das alte Denken, das sich noch in einigen Köpfen
hier befindet, wieder durchsetzt.
({5})
Energiepolitik war immer eine Frage der politischen
Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland. Die
Energieerzeugung mit Kohle, Gas und Atom war nie billig, war nie sozial adäquat, sondern sie wurde sozial adäquat und ökonomisch sinnvoll gestaltet. Wir könnten
auch die Energiewende ökonomisch und sozial gerecht
gestalten. Aber dazu muss man handeln, und da haben
Sie nichts zu bieten.
({6})
Wir sind nun in der Situation - die Vorlagen sind da;
Sie kennen sie -, dass durch Ihre Gesetzesänderung eine
exorbitante, inflationäre Befreiung der energieintensiven
Unternehmen und auch solcher Unternehmen, die es
nicht sind, stattgefunden hat.
({7})
Herr Kauch, dafür zahlen müssen die Mittelständler, von
denen Sie sprechen, und die Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie leiden unter Ihren Fehlschüssen.
({8})
Wenn Sie das feststellen - das können wir, glaube ich,
alle unisono feststellen -, dann frage ich Sie: Wann ändern wir diesen Zustand? Herr Döring, beantworten Sie
mir einmal diese Frage. Wann machen Sie diesen kolossalen Fehler - er ist nachlesbar - rückgängig? Wann
beenden Sie diese Privilegierung von Unternehmen, die
nicht im internationalen Wettbewerb stehen und die
eigentlich nicht in diesen Topf gehören? Herr Döring,
Sie haben gleich die Möglichkeit, darauf zu antworten;
Sie reden ja nach mir. Ich hoffe, dass Sie nicht in irgendwelche Prüfungsrunden verfallen. Sie hatten Monate
Zeit, sich mit diesem Tatbestand zu beschäftigen.
({9})
Es geht um politische Gestaltung, Herr Minister. Da
bitte ich Sie doch sehr, nicht bei RWE anzuklopfen und
zu fragen: Könntet ihr mal? Das ist, wie gesagt, eine
Frage der politischen Gestaltung. Vor dem Hintergrund
der Strompreisgestaltung - ich wende mich jetzt von den
Privilegierungstatbeständen ab - frage ich Sie: Warum
geben die Stromkonzerne die gesunkenen Großhandelspreise momentan wohl nicht an die Verbraucherinnen
und Verbraucher weiter? Wäre es nicht an der Zeit, damit aufzuhören, „Bitte, bitte!“ zu machen? Sollte man
nicht endlich Pflöcke einschlagen, politisch steuern, wie
die Energiepreise entstehen, und Fehlentwicklungen entgegentreten? Das ist Ihre Aufgabe als Bundesumweltminister. Es ist aber nicht Ihre Aufgabe, bei den Stromkonzernen „Bitte, bitte!“ zu machen, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
({10})
Ich komme zu einem weiteren Gesichtspunkt, den ich
in die Diskussion einbringen will. Frau Dött, Sie haben
Vorschläge verlangt.
({11})
Wie ist das eigentlich? Ist es gerechtfertigt, dass Stromkonzerne Zertifikate, die sie frei zugeteilt bekommen haben, bei der Strompreisbildung so behandeln, als hätten
sie dafür bezahlen müssen?
({12})
- Verweisen Sie nicht auf Trittin, auf Helmut Schmidt
oder auf Helmut Kohl! Sie sind diejenigen, die jetzt steuern können, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({13})
Warum setzen wir uns nicht heute oder morgen zusammen und beraten, wie diese Dinge geändert werden
können und wie politisch gesteuert werden kann? Das
wäre jetzt angebracht. Dann könnten wir die Energiewende sozial gerecht und ökonomisch sinnvoll gestalten.
Aber dazu sind Sie nicht in der Lage. Insofern hoffe ich,
dass Ihre Regierungszeit bald vorbei ist.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Vielen Dank, Kollege Matthias Miersch. - Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Patrick Döring. Bitte schön, Kollege Patrick Döring.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! All denjenigen in diesem Haus, die von
Rot und Grün gesprochen haben, sage ich: Geldverbrennung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist keine Form
der regenerativen Energieerzeugung; das nur zur Erinnerung.
({0})
Zu den Steigerungen bei der EEG-Umlage kommt es,
weil Sie vor zwölf Jahren
({1})
eine Fördersystematik etabliert haben, die da lautet: Wir
versprechen den Menschen, die in diese Erzeugungsformen investieren, für 20 Jahre feste Vergütungssätze. Das ist die Lizenz zum Gelddrucken,
({2})
die brutalste Umverteilung von unten nach oben, die es
unter rot-grünen Regierungen je gegeben hat.
({3})
Im vergangenen Jahr - das führe ich einmal aus - sind
allein die Zusagen für den Bereich der Photovoltaik um
5 Milliarden Euro gestiegen, und dies sogar garantiert
für eine Dauer von 20 Jahren. Diese 100 Milliarden
Euro, die zulasten der deutschen Stromkunden gehen,
verdanken wir Ihrer Systematik und Ihrer Verweigerungshaltung, wenn es darum geht, diese Systematik infrage zu stellen.
({4})
Sie haben bei der Frage, wie wir das EEG reformieren
können, verzögert und blockiert.
({5})
Sie waren nicht bereit, die Vergütungssätze abzusenken,
als es nötig war.
({6})
Sie haben bei der letzten Novelle viel, viel Zeit ins Land
gehen lassen.
({7})
Sie haben viel Zeit ins Land gehen lassen, um so dafür
zu sorgen, dass in Deutschland ein unkontrollierter Zubau stattfindet - zulasten der normalen Stromkunden.
({8})
Davon wollen Sie jetzt ablenken. Das lassen wir Ihnen
aber nicht durchgehen.
({9})
Interessant sind die Vorschläge, die man dieser Tage
hört. Da sagt die Energie- und Umweltministerin des
Landes Rheinland-Pfalz, Frau Lemke - in Klammern:
Bündnis 90/Die Grünen -: Wenn die Leute mit dieser
Strompreissteigerung nicht zurechtkommen, sollten sie
seltener Licht anmachen.
({10})
Man kann sich das sehr schnell ausrechnen: Will ein normaler Haushalt diese Strompreissteigerung kompensieren, indem er weniger elektrische Energie verbraucht,
darf er acht handelsübliche Glühbirnen fünf Stunden am
Tag nicht anknipsen.
({11})
Wenn man Ihren Ratschlägen folgt, dann sitzt man im
Dunkeln, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das
ist die Politik, die Sie machen wollen. Wir wollen sie
aber nicht, weil wir an die Menschen in Deutschland
denken.
({12})
Ich finde es spannend, wie der Kollege Miersch gerade argumentiert hat. Dazu kann ich nur sagen: Ich
würde gerne wissen, ob Sie sich an den Werkstoren der
87 Unternehmen der chemischen Industrie, die derzeit
von der EEG-Umlage befreit sind, dafür einsetzen wür23782
den, die Arbeitsplätze in diesen Unternehmen zu gefährden. Dann will ich einmal sehen, welche Papierfabriken
bald von Sozialdemokraten aufgesucht werden, um den
Arbeitnehmern zu sagen, dass deren Arbeitsplatz in Gefahr ist.
({13})
Das ist ein Punkt, der einfach unredlich ist. Von den
734 derzeit von der EEG-Umlage befreiten Unternehmen betreibt kein einziges einen Golfplatz, betreibt kein
einziges einen Flughafen.
({14})
Dies hier zu behaupten, ist ein starkes Stück. Sie wollen
diese Ausnahmen in Wahrheit nicht. Mit Ihrer Politik gefährden Sie bis zu 900 000 Arbeitsplätze. Wenn man so
wie Sie argumentiert, dann muss man auch den nötigen
Mut haben.
({15})
Dann will ich einmal den Kollegen Miersch sehen.
Wegen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sollte
die Sozialdemokratie in 51 Großstädten Deutschlands
sofort die Befreiung der Straßenbahn- und Schienenbahnunternehmen von der EEG-Umlage einfordern, weil
natürlich keines dieser Unternehmen dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt ist.
({16})
Trotzdem ist es richtig, diese Unternehmen von dieser
Umlage zu befreien, damit auch die einfachen Leute
weiterhin den Nahverkehr nutzen können. Wenn Sie den
Nahverkehr in Deutschland flächendeckend teuer machen wollen, dann müssen Sie es hier auch sagen und
nicht immer mit Exotenbeispielen kommen. Sie stellen
die Energiewende infrage, nicht wir.
({17})
Insofern ist es schon bemerkenswert, wenn immer
wieder der Eindruck erweckt wird, diejenigen, die sich
redlich dafür einsetzen,
({18})
Marktwirtschaft in dieses System zu bringen - Marktwirtschaft heißt keine festen Preise; Marktwirtschaft
heißt, das Geld am Markt zu verdienen -, diejenigen, die
wie wir das EEG mit degressiven Fördersätzen, mit realistischen Ausbauzielen schnell reformieren wollen,
seien die Bremser der Energiewende. Ihre Politik führt
dazu, dass Strom unbezahlbar wird. Das lassen wir Ihnen
nicht durchgehen. Darum werden wir für eine schnelle
Reform des EEG sorgen.
Herzlichen Dank.
({19})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Thomas Bareiß.
Bitte schön, Kollege Thomas Bareiß.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meines
Beitrags in Erinnerung rufen, auf welchem fachlichen
Niveau sich die Grünen in den letzten Tagen wieder einmal in die Energiewende eingeschaltet haben. Herr Fell
- er ist heute ebenfalls hier - schrieb auf seiner Homepage: „Erneuerbare Energien weisen weniger externe
Kosten auf als fossile und nukleare Energien.“
({0})
Herr Kretschmann, mein neuer Ministerpräsident in
Baden-Württemberg, sagt: „Die Sonne schickt uns keine
Rechnung …“
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie versuchen,
bei den Menschen den Eindruck zu erwecken, dass erneuerbare Energien keine Mehrkosten verursachen. Sie
zerstören in dieser Energiedebatte unglaublich viel Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Wenn einmal über höhere
Kosten gesprochen wird, dann führen Sie hier in Deutschland eine Verteilungsdebatte. So schaffen Sie kein Vertrauen in die Energiewende, keine Glaubwürdigkeit.
Wenn Sie so weitermachen, werden wir Stück für Stück
die Akzeptanz und die Bereitschaft für die Energiewende in Deutschland verlieren. Das ist Ihre Schuld,
nicht unsere.
({2})
Wir versuchen, die Energiewende engagiert voranzutreiben. Wir haben im Sommer 2011 den Ausstieg aus
der Kernenergie beschlossen. Aber im Gegensatz zu
dem, was Sie vor zehn Jahren gemacht haben, haben wir
den Einstieg in das regenerative Zeitalter vollführt.
({3})
Wir haben beschlossen, dass wir in die Energieeffizienz einsteigen. Wir haben sieben Energiepakete auf
den Weg gebracht, und wir sagen, wo wir einsteigen was Sie nicht geschafft haben.
({4})
Wir haben Gesetze zum Ausbau von Netzen in
Deutschland verabschiedet. Wir haben die Speicherkapazität ausgebaut und werden sie im nächsten Jahr weiter ausbauen. Wir haben die Speicherförderung mit ins
Leben gerufen. Wir haben Energieforschung betrieben,
und zwar in einem Maße, wie es keine Bundesregierung
vor uns gemacht hat. Wir haben Intensivierungen im Bereich der Energieeffizienz vorgenommen. Wir haben den
Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung vorangetrieben.
Wir haben die nachhaltige Finanzierung durch den
Klima- und Energiefonds auf den Weg gebracht, und wir
haben den Einstieg in die Wettbewerbsfähigkeit erneuerbarer Energien ebenfalls mit auf den Weg gebracht. Das
sind alles Punkte, die wir in den letzten zwölf Monaten
gemeinsam bewältigt haben.
Sie haben in sieben Jahren Rot-Grün nichts getan für
den Einstieg.
({5})
Sie haben die Energiewende verschleppt und sie damit
auch ein Stück weit verteuert. Das ist ein Problem, an
dem wir heute zu schleppen haben. Jetzt müssen wir die
Energiewende umso schneller gestalten.
Ich möchte ganz klar sagen, wo die Gründe dafür liegen, dass die erneuerbaren Energien so teuer geworden
sind, warum der Umbau so teuer wird: Die Grünen machen die erneuerbaren Energien immer teurer.
Beispiel Netzausbau. Sie fordern vor Ort immer nur
die Erdverkabelung.
({6})
Das kostet vier- bis sechsmal mehr als Überlandleitungen. Sie fordern immer größere Abstände zu Siedlungsflächen. Auch das würde ein Mehrfaches kosten.
Beispiel Offshorewindparks. Alle Anträge der letzten
Monate zum Bereich Offshore gehen in Richtung Verteuerung; ein Thema ist beispielsweise die Schweinswalpopulation, die Sie immer ansprechen, die Ihnen ja so
enorm wichtig ist. Jede Windfarm wird 6 bis 8 Millionen
Euro teurer werden, wenn es nach den Anträgen geht,
die Sie die letzten Monate gestellt haben.
({7})
Beispiel Biogas. Wir brauchen den Energieträger Biogas. Jetzt wird über Flächenkonkurrenz diskutiert. Sie
sollten mit uns gemeinsam dafür sorgen, dass mehr Biogasanlagen entstehen, dass für die Energiewende verstärkt Biomasse eingesetzt wird. Stattdessen gehen Sie
nach Brüssel und versuchen, die Flächenstilllegung voranzubringen und in Deutschland 700 000 Hektar stillzulegen. Auch damit machen Sie die Energiewende teurer.
Beispiel Wasserkraft. Die Wasserkraft kann einen
kostbaren Beitrag zur Energiewende leisten. Wo immer
Sie vor Ort Verantwortung übernehmen, wird eine Nutzung der Wasserkraft verhindert. Wasserschutzgesetze,
Fischschutzgesetze, Fischtreppen: alles Punkte, durch
die die Wasserkraft teurer und teurer gemacht wird.
Bei Kohle- und Gaskraftwerken ist es ebenso: Vor Ort
treiben Sie die Kosten in die Höhe. Dadurch wird die
Energiewende Stück für Stück teurer.
({8})
Wenn wir all diese Kosten aufsummieren würden,
würden wir sehen, dass die Energiewende ohne Probleme ein Stück weit bezahlbarer gemacht werden
könnte. Dadurch ließe sich mehr einsparen als durch
eine stärkere Belastung energieintensiver Industrien. Wir
sollten sehen, dass wir vorankommen. Wir gehen die
Energiewende engagiert an. Ich kann Sie nur immer wieder auffordern: Machen Sie mit bei diesem Projekt, anstatt immer wieder auf die Bremse zu treten.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Gabriele Groneberg. Bitte schön, Frau Kollegin Gabriele
Groneberg.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatte, die die Kollegen der Regierungsfraktionen hier heute organisieren, gleicht schon einer Posse. Das ist, als wenn jemand, der stiehlt, ganz laut
schreit: Haltet den Dieb!
({0})
Ihre chaotische Politik, Ihr abstruses Hin und Her, Ihre
Unfähigkeit, die Energiewende zu gestalten, muss der
Verbraucher jetzt ausbaden. Sie versuchen, zu suggerieren, wir seien es gewesen.
Herr Döring, irgendwie habe ich das Gefühl, Sie haben die letzten Jahre verpasst oder durch einen Nebel
wahrgenommen.
({1})
Die dramatische Steigerung der EEG-Umlage in Höhe
von 4 Cent pro Kilowattstunde, über die wir heute disku23784
tieren, haben Sie in den letzten Jahren verursacht, nicht
wir.
Herr Bareiß, zehn Jahre lang haben Sie den Umbau
des Energiesystems erfolgreich verhindert. Sie haben die
Unternehmen durch Ihre atomfreundliche Politik auf
eine falsche Fährte geführt. Damit haben Sie den Umbau
in Richtung erneuerbare Energien letztendlich verhindert.
({2})
Das gilt genauso für den Netzausbau. Das gilt genauso
für den Ausbau von Speichersystemen und alles andere
auch.
({3})
Herr Altmaier, wenn Sie heute meinen, Sie seien im
verkehrten Film,
({4})
dann sollten Sie einen Blick auf die Tagesordnung werfen: Die Aktuelle Stunde ist nicht von uns aufgesetzt
worden, sondern von Ihren Kollegen. Machen Sie sich
einmal klar, was hier heute so verzapft wird.
Der Verbraucher ist mündig, und er weiß, dass er die
Energiewende nicht zum Nulltarif bekommt. Aber dass
die Strompreise geradezu davonlaufen, das kann er und
will er sicher auch nicht verstehen. Noch weniger Verständnis hat er für das, was Sie mit den Ausnahmeregelungen veranstalten. Die Ausnahmeregelungen sind
heute schon viel zitiert worden; ich will sie gar nicht beschreiben. Für diejenigen, die diese Debatte verfolgen,
kann man aber sagen, dass man sich diese Liste ganz legal aus dem Internet - von der Homepage des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle - herunterladen
kann. Tut man das, dann kommt man aus dem Staunen
nicht heraus.
Der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Grünen
dürfen wir im Übrigen entnehmen, dass im Antragsjahr
2006 bis zum Stichtag 30. Juni 406 Unternehmen mit
543 Abnahmestellen Anträge auf Vergünstigungen beim
Strompreis gestellt haben. Man höre und staune: 2012
haben bis zum Stichtag 30. Juni 2012 gar 2 023 Unternehmen mit 3 172 Abnahmestellen Anträge gestellt. Was
sagen Sie denn dazu, Herr Döring? Das haben Sie offensichtlich wohl nicht mitbekommen.
({5})
Sie toppen die ganze Geschichte aber noch: Sie haben
die Investitionen in die Stromspeicher verschleppt - das
wurde gerade schon gesagt -, Sie haben den Netzausbau
verschleppt und damit die Netzanbindung von Offshoreanlagen gefährdet.
({6})
Das Ungeheuerliche ist: Die Haftung für dieses Risiko
wollen Sie jetzt auch noch durch eine neue Umlage auf
die Verbraucher umwälzen. Das ist nun wirklich abstrus.
({7})
Ich finde es überhaupt nicht gerecht, dass der Verbraucher die Zeche für das zahlen soll, was Sie hier die
ganzen Jahre versäumt haben. Warum geben Sie nicht
offen zu, dass Ihnen das Ganze entglitten ist, Sie hier
einfach gepennt haben und hier dringend eine Umkehr
erforderlich ist? Der letzte Satz von Herrn Döring war in
dieser Beziehung schon interessant: dass das EEG jetzt
reformiert werden muss. Ich bin einmal gespannt, welche Deformationen Sie sich hier wieder einfallen lassen.
({8})
Rund 60 Euro Mehrkosten für einen normalen Haushalt: Das hört sich im Moment vielleicht gar nicht einmal
so viel an. Aber das summiert sich ja. Ich denke an die
Haushalte der Arbeitnehmer, die wenig verdienen, die
stagnierende Lohneinkommen haben und die prekäre Beschäftigungsverhältnisse hinnehmen müssen. Da fasse
ich mir natürlich schon an den Kopf, wenn Sie auf einmal
Ihr Herz für die Geringverdiener entdecken. Das glaubt
Ihnen irgendwie keiner. Herr Hempelmann hat dazu umfangreiche Ausführungen gemacht. Was er gesagt hat,
das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Fakt ist, dass die Ausgleichsregelungen für energieintensive Betriebe durch die letzte EEG-Novelle, die Sie
letztendlich zu verantworten haben, ein enormes Ausmaß angenommen haben - ich habe die Zahlen genannt und dass Sie die Last nun fast allein auf den Normalverbraucher und auf die kleinen Unternehmen umlegen.
Herr Kauch, ich schätze Sie zwar sehr, aber dass ausgerechnet Sie den Bürgerinnen und Bürgern die Mehreinnahmen durch die Mehrwertsteuer als Entlastung zukommen lassen wollen, mögen Sie für sich vielleicht
kalkuliert haben; allerdings haben Sie hier die Rechnung
vollkommen ohne Ihre Kollegen aus der Regierungskoalition gemacht. Sie werden Ihnen einen Strich durch die
Rechnung machen. Fast könnte man meinen, dass Ihnen
die Erhöhung der Umlage ganz gelegen kommt. Ich
denke einmal daran, dass Sie vielleicht vorhaben, damit
die Finanzierung des unseligen Betreuungsgeldes sicherzustellen. Das ist nämlich eine ganz andere Nummer.
({9})
Selbst Kanzlerin Merkel - Ihre Parteikollegin - zweifelt daran, ob es richtig ist, dass so viele Unternehmen
diese Vergünstigungen erhalten. Gut, dem kann man
nichts hinzufügen. Sie können das selber nachlesen,
wenn Sie mir nicht glauben. Das hat sie auf dem Deutschen Arbeitgebertag gesagt.
Die Energiewende kostet Geld; das ist richtig. Die Investitionen zahlen sich auf Dauer aber sicherlich aus.
Wir wollen bezahlbare Energie, nicht zu verwechseln
mit billiger Energie. Wir wollen einen Umbau des Energiesystems. Sie haben aber offensichtlich nicht den Mut
dazu, die dringend notwendige Änderung des EEG so
durchzuführen, dass wir in Deutschland vernünftig damit leben können. Deshalb versuchen Sie mit dieser Aktuellen Stunde, uns als Sündenbock zu benutzen. Ich
sage Ihnen: Diese Rechnung wird nicht aufgehen.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Groneberg. - Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen hat sich zu Wort gemeldet. Bitte schön, Frau
Haßelmann, ich gebe Ihnen das Wort zur Geschäftsordnung.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie mir das Wort in
der Aktuellen Stunde geben. - Ich möchte gerne darum
bitten, dass meine Kollegin Bärbel Höhn am Ende der
Debatte das Wort für eine persönliche Erklärung bekommt, da sie von Herrn Altmaier in dieser Aktuellen
Stunde mehrfach angesprochen worden ist und sie vor
ihm, dem Vertreter der Bundesregierung, gesprochen
hat.
Bitte schön, zur Geschäftsordnung, Herr Manfred
Grund.
Herr Präsident, ich weise darauf hin, dass der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen zur Geschäftsordnung weder durch die Geschäftsordnung noch durch den Verlauf
der heutigen Debatte gedeckt ist. Wir werden diesem
Antrag nicht zustimmen.
({0})
Ich hatte gehofft, dass es hier zu einer einvernehmlichen Regelung kommt. Die Mehrheit widerspricht Frau
Haßelmann, sodass ich jetzt in der Debatte fortfahre.
({0})
- Nein. Ich habe das nicht so verstanden, dass das ein
Antrag ist.
({1})
- Dann unterbreche ich kurz, bis wir das hier geklärt haben. ({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich entscheide, um
den Frieden dieses Hauses insgesamt sicherzustellen,
dass diese persönliche Erklärung jetzt abgegeben wird.
Frau Kollegin Bärbel Höhn, Sie können Ihre persönliche Erklärung jetzt bitte abgeben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Herrn
Altmaier leider nicht mehr sehen. Er ist sonst nicht zu
übersehen; aber gerade jetzt sehe ich ihn nicht.
Er ist entschuldigt. Das ist geregelt.
Okay.
({0})
Ich will trotzdem sagen: Ich finde die Rede von Herrn
Altmaier nicht in Ordnung, und zwar deshalb, weil er
speziell zu uns gesagt hat, wir hätten den einen oder anderen konstruktiven Vorschlag machen sollen.
({1})
Gleichzeitig wurde aber von der Regierungskoalition
eine Aktuelle Stunde beantragt, in der die Koalition
sämtliche Belastungen Rot-Grün und mir zusammen mit
Herrn Trittin anrechnet. Das ist nicht in Ordnung.
({2})
Es entspricht genau dieser Heuchelei, die wir hier
mehrfach erlebt haben:
({3})
Auf der einen Seite wird versucht, so zu tun, als würde
man die Energiewende vorantreiben, und auf der anderen Seite wird sie konterkariert.
({4})
- Herr Döring, Sie sollten sich erst einmal um Ihre Nebentätigkeiten kümmern, bevor Sie hier den Mund aufmachen.
({5})
Angesichts dessen sage ich Ihnen hier sehr deutlich:
({6})
Das, was Sie hier vorgeführt haben, ist ein Widerspruch,
der nicht hinnehmbar ist.
({7})
Die einen sagen, Herr Bareiß: Nichts ist verändert worden. Die anderen sagen, sie hätten schon 2000 zugestimmt. Meine Damen und Herren, so lassen wir mit uns
nicht verfahren.
({8})
Zunächst einmal haben wir jetzt diese persönliche Erklärung gehört. Ich weise darauf hin, dass das Wort
„Heuchelei“ unparlamentarisch ist.
({0})
- Gut.
({1})
Ein Zweites, Frau Kollegin: Wir sollten verschiedene
Tatbestände nicht vermischen. Ich glaube, es war falsch,
dass wir so verfahren sind. Sie haben in Ihre persönliche
Erklärung auch noch einen anderen Tatbestand, bezogen
auf Herrn Döring, aufgenommen. Auch das sollte man
nicht tun, wenn es nur um die Sache gehen soll. Die Geschäftsordnung ist damit ausgeschöpft.
Ich möchte jetzt gerne sachlich in der Debatte fortfahren. Ich gebe dem Herrn Kollegen Franz Obermeier das
Wort.
({2})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, jetzt nehmen wir ein bisschen Dampf aus dem
Kessel und kommen zu dem, worum es eigentlich geht:
Diese Aktuelle Stunde wurde beantragt, um der Opposition ein bisschen mehr Gründlichkeit beizubringen.
({0})
Herr Präsident, Sie haben vorhin die Frage gestellt, ob
wir hier im Plenum das Wort „Lüge“ verwenden dürfen.
Selbstverständlich hat hier vor diesem Rednerpult noch
nie ein Abgeordneter gelogen.
Unabhängig davon tische ich Ihnen jetzt folgenden
wahren Sachverhalt auf. Am 2. Oktober dieses Jahres
gab es in einer Berliner Zeitung einen Namensartikel,
geschrieben von Staatssekretär a. D. Rainer Baake,
Grüne, seinerzeit Staatssekretär unter Bundesminister
Jürgen Trittin.
In diesem Namensartikel sind all die Vorwürfe, die
die Opposition erhoben hat - der Herr Krischer war besonders laut -, enthalten: dass diese Bundesregierung
Kinobetreiber, Geflügelhöfe, Spielbanken, Bekleidungsketten, Hotels, Golfplätze und Pflegeheime von der
EEG-Umlage ausnimmt. Das stand in dem Namensartikel des Herrn Baake. Daraufhin hat sich der Herr Bundesminister a. D. Trittin erdreistet, öffentlich zu behaupten, dass wir Hähnchenmastanlagen von der EEGUmlage ausnehmen.
({1})
- Lieber Rolf Hempelmann, Vorsicht, Vorsicht!
({2})
- Nein, nein. Sie müssen abwarten. Schreien Sie nicht zu
früh.
Heute hat der Staatssekretär a. D. Baake alles schriftlich zurückgenommen.
({3})
Er bittet die Presse, das Ganze richtigzustellen. Er entschuldigt sich für all das, was ich hier vorgelesen habe.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten ein bisschen herunterfahren. Auch Sie, Frau Höhn,
sollten ein bisschen herunterfahren.
({4})
Denn das, was der Bundesminister zu den Ausnahmen
vorgetragen hat, ist richtig und wahr. Frau Groneberg,
diese Liste steht im Internet; aber Sie müssten sie auch
lesen.
({5})
Dann würden Sie wissen, dass an den Behauptungen, die
hier von Ihnen vorgetragen wurden, nichts dran ist.
({6})
- Haben Sie den Geflügelhof gefunden? Haben Sie die
Hähnchenmast gefunden?
({7})
Nein, die haben Sie nicht gefunden. Ich habe diese Liste
dabei. Sie können es mir dann zeigen.
Also, liebe Opposition, kehren wir zurück. Wenn wir
die Energiewende in unserem Land zum Erfolg führen
wollen, dann hören Sie mit der Krakeelerei auf.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist der
Kollege Ingbert Liebing. Bitte schön, Kollege Ingbert
Liebing.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das, was wir seitens der Opposition in der aktuellen
Energiedebatte und auch heute Nachmittag in dieser Aktuellen Stunde erlebt haben, ist widersprüchlich und
doppelzüngig, um nicht zu sagen: verlogen. Ich will Ihnen dies auch gerne konkret belegen.
({0})
Ich fange mit Ihnen, Frau Höhn, an, da Sie sich so
aufgeblasen haben. Sie wissen doch selber gar nicht, wie
Sie argumentieren wollen. Auf der einen Seite sagen Sie:
Das ist eine hysterische Strompreisdebatte und alles halb
so wild. Macht ein bisschen früher das Licht aus, dann
könnt ihr das alles bezahlen.
({1})
- Das sagen Sie selber. Ihre Ministerin in RheinlandPfalz argumentiert genau so. ({2})
Wir haben das alles heute schon gehört. Ich komme noch
zu anderen Zitaten. Auf der anderen Seite kritisieren Sie
bestimmte Steigerungen.
Ich schaue aber auch auf das, was im Energiesektor
noch passiert. Die Steigerungen des Benzinpreises an
der Tankstelle - das ist das Dreifache dessen, worüber
wir hier reden - sind Ihnen recht.
({3})
Sie wollten noch viel höhere Preissteigerungen des Benzinpreises. 5 D-Mark, das war Ihr Ziel; 2,50 Euro, das ist
Ihr Ziel. Sie freuen sich über steigende Spritpreise, weil
Sie noch viel höhere Preise wollen. Das ist alles widersprüchlich.
Einerseits beklagt die Opposition die hysterische
Kostendebatte. Dazu gibt es ein Zitat von Herrn Heil,
dem stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden, vom
6. Oktober auf Zeit Online, der die hysterische Kostendebatte kritisiert. Andererseits beteiligen Sie sich selber
an dieser Debatte, indem Sie die Befreiungen, die wir
vorgenommen haben, um den Standort zu sichern, kritisieren. Sie fordern doch Sozialtarife und Ähnliches.
({4})
Außerdem fordern Sie einen Masterplan für die Energiewende. Sie kritisieren das Nebeneinander von
16 Bundesländern. Wiederum Herr Heil fordert eine
Koordination der Ausbaupläne.
({5})
Wir wollen das. Der Umweltminister hat genau das jetzt
zum Thema gemacht,
({6})
und Sie sind diejenigen, die es kritisieren, und es sind
die SPD-Ministerpräsidenten, die jetzt dagegen sind,
({7})
Herr Albig in Kiel vorneweg, dem ich vielleicht noch
zugutehalten kann, dass er von dem ganzen Thema keine
Ahnung hat. Aber trotzdem: Das passt nicht zusammen,
und das ist widersprüchlich.
({8})
Sie kritisieren die Härtefallklausel im EEG. Das ist,
mit Verlaub, eine Regelung, die wir gemeinsam in der
Großen Koalition beschlossen haben. Jetzt aber kritisieren Sie sie.
Wir suchen nach Lösungen, auch beim Thema Offshore, und dann kritisieren Sie das wieder, Herr
Hempelmann. Das alles passt nicht zusammen.
({9})
Sie fordern eine stärkere Synchronisation des Ausbaus der erneuerbaren Energien mit dem Netzausbau wiederum Herr Heil auf Zeit Online am 6. Oktober. Das
ist genau das gleiche Thema, das der Minister angesprochen hat. Er hat nämlich gesagt: Mit dieser Thematik
müssen wir uns auseinandersetzen. - Dann tut er es, und
wiederum sind Sie diejenigen, die es kritisieren und
dann zusammen mit den Ministerpräsidenten Ihrer Partei
blockieren.
({10})
Dies alles passt vorne und hinten nicht zusammen. Deswegen ist das, was Sie heute Nachmittag geboten haben
und was Sie in den letzten Tagen und Wochen in dieser
Energiedebatte geleistet haben,
({11})
widersprüchlich, doppelzüngig und passt vorne und hinten nicht zusammen.
({12})
Es gibt zwei mögliche Interpretationen, meine Damen
und Herren, warum Sie dies alles machen. Entweder
wissen Sie gar nicht oder ist Ihnen nicht bewusst, wie
widersprüchlich Sie argumentieren ({13})
das wäre schlimm genug -, oder Sie tun es bewusst, um
das eine und das andere und auf allen Feldern alles abzudecken, egal wie diskutiert wird.
({14})
Das eine ist so schlimm wie das andere. Verantwortungsvolle Politik ist weder das eine noch das andere.
({15})
Deswegen ist es von vorne bis hinten nicht verantwortungsvoll, was Sie in dieser Energiedebatte leisten und
was Sie heute Nachmittag in dieser Debatte geleistet haben.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kaum zu glauben, aber wir haben nur noch eine Rednerin, und der hören wir jetzt auch gemeinschaftlich zu. Das Wort hat
Frau Kollegin Dr. Maria Flachsbarth. Bitte schön, Frau
Kollegin Dr. Flachsbarth.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank für Ihre
freundlichen Worte. - Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt wieder einmal eine Energiedebatte im Deutschen
Bundestag, und ich wundere mich.
({0})
Wir haben vor nicht allzu langer Zeit eine Debatte geführt, in der wir gemeinsam erklärt haben: Das EEG ist
eine Erfolgsstory, und sie gehört ganz selbstverständlich
dem ganzen Haus.
({1})
- Nun mal ganz vorsichtig. Ich versuche gerade, etwas
Nettes zu sagen. Kann ich das vielleicht auch tun?
Heute ist der Ausdruck Erfolgsstory noch nicht gefallen,
({2})
und tatsächlich schauen wir heute ein wenig mehr als
sonst auf die Kosten.
Das EEG hat den Ausbau der Erneuerbaren effektiv
vorangetrieben - das ist richtig -, aber möglicherweise
nicht an jeder Stelle effizient. Darum streiten wir, und es
ist richtig, dass wir darüber streiten, dass wir über den
besten Weg streiten. Allerdings sollten wir dabei freundlicherweise redlich bleiben.
({3})
Die Redlichkeit hat mir in der heutigen Debatte an der
einen oder anderen Stelle gefehlt.
({4})
Wenn man zum Beispiel über die Privilegierung redet, dann ist das sicherlich richtig. Sie ist 2003/2004 unter Rot-Grün eingeführt worden - das stimmt -, inklusive des Schienenbonus, einer verkehrspolitischen
Maßnahme, die mal eben mit ins EEG aufgenommen
wurde. Alles prima, wir haben das weitergeführt. Von
daher kann man nichts dagegen sagen.
Auch dagegen, dass wir dann diese Privilegierung auf
mittelständische Betriebe ausgedehnt haben
({5})
- wir haben doch selber in unserem Wahlkreis einen solchen Betrieb, Herr Miersch -, ist nichts zu sagen.
({6})
Dass man aber dann in dieser Debatte Äpfel mit Birnen
vergleicht, indem man sagt, bislang seien um die
700 Betriebe privilegiert gewesen und demnächst würden es über 2 000 sein, ist nicht richtig; das stimmt so
nicht. Zwar sind die 700 Betriebe tatsächlich privilegiert, aber bei den über 2 000 gibt es bisher nur die Anträge der Betriebe, von denen man noch nicht weiß, ob
sie privilegiert werden. Das stellt sich am Ende des Jahres heraus.
({7})
Der nächste Punkt: Ihr Kollege Trittin spricht beim
Thema Golfplätze von einer großen Schweinerei und
sagt: Dass sie privilegiert sind, geht gar nicht. - Ehrlich
gesagt, finde auch ich das ausgesprochen unverständlich.
({8})
Unser Kollege Thomas Gebhart hat im Büro von Herrn
Trittin angerufen und gefragt - wir sind immer bereit, etwas zu lernen -: Wie verhält es sich nun mit den Golfplätzen? Um welchen Golfplatz handelt es sich denn um
Gottes willen? - Darauf hat er die Antwort bekommen:
Es gibt keinen Golfplatz, der von der EEG-Umlage befreit ist.
({9})
- Dann muss sich allerdings Ihr Fraktionsvorsitzender
geirrt haben; denn das ist die Antwort, die unser Kollege
Thomas Gebhart aus dem Büro des Fraktionsvorsitzenden Trittin bekommen hat.
Wir sollten versuchen, das Ganze in einen gemeinsamen Kontext zu stellen und die Energiepolitik im Zusammenhang zu sehen, anstatt über solche Punkte zu
streiten und die Menschen im Land, die hier zuschauen
und sich wundern, durch eine solche Debatte wie die
heutige völlig zu verunsichern.
({10})
Wir sollten die Erhöhungen, die sich nun aus der
EEG-Umlage ergeben, ins Verhältnis setzen. Die Stromkosten machen in einem durchschnittlichen Haushalt
maximal 20 Prozent der Energiekosten aus. 40 Prozent
sind Mobilitätskosten - ich erinnere an die gestiegenen
Preise an den Tankstellen -, weitere 40 Prozent sind
Heiz- und Wärmekosten. Von 2002 bis 2011 sind der
Rohölpreis um 210 Prozent, der Erdgaspreis um 123 Prozent und der Strompreis um insgesamt 56 Prozent gestiegen. Dabei ist nicht zu vergessen: Die Wertschöpfung
findet bei Rohöl und Erdgas in erster Linie nicht in
Deutschland, sondern in Saudi-Arabien, Russland und
anderen Ländern statt. Bei den erneuerbaren Energien
findet die Wertschöpfung hingegen sehr wohl bei uns in
Deutschland statt.
({11})
Dabei geht es auch um Importunabhängigkeit. Vor diesem Hintergrund wundere ich mich über die eine oder
andere Facette in dieser Debatte
({12})
und auch darüber, dass dies nicht stärker in den Mittelpunkt gestellt wird.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, worauf es jetzt ankommt und woran wir gemeinsam arbeiten sollten, ist
der Ausbau der Netze. Die Netze müssen intelligent gemacht werden. Die Erneuerbaren brauchen mehr Marktnähe und müssen sich ihre Kunden suchen. Da hilft
keine Verweigerungshaltung, wie wir sie über lange
Jahre in der Großen Koalition leider erleben mussten.
({14})
Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, die Akzeptanz
erneuerbarer Energien in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Seien wir doch gemeinsam verliebt ins Gelingen,
und seien wir nicht nur verliebt in den eigenen parteipolitischen Vorteil!
({15})
Herzlichen Dank.
({16})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nicht
glauben, aber die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 18. Oktober 2012,
9 Uhr, ein.
Damit ist die heutige Sitzung geschlossen.
Vielen herzlichen Dank.